Niedriglohnbeschäftigung im Wohlfahrtsstaat: Der Einfluss von Ideen und Institutionen auf den Niedriglohnsektor [1. Aufl. 2019] 978-3-658-27639-3, 978-3-658-27640-9

Ist die Größe des Niedriglohnsektors ein Ergebnis staatlicher Arbeitsmarktpolitik und Arbeitsmarktregulierung? Und welch

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Niedriglohnbeschäftigung im Wohlfahrtsstaat: Der Einfluss von Ideen und Institutionen auf den Niedriglohnsektor [1. Aufl. 2019]
 978-3-658-27639-3, 978-3-658-27640-9

Table of contents :
Front Matter ....Pages i-xv
Eine politökonomische Perspektive auf den Niedriglohnsektor (Valeska Gerstung)....Pages 1-26
Konzeptionelle Grundlagen: Niedriglohnbeschäftigung und Wohlfahrtsstaat (Valeska Gerstung)....Pages 27-80
Ursachen der Niedriglohnbeschäftigung: Ein multidisziplinärer Überblick (Valeska Gerstung)....Pages 81-150
Makro-quantitative Untersuchung der Ursachen von Niedriglohnbeschäftigung (Valeska Gerstung)....Pages 151-216
Die Dimension des Wohlfahrtsstaates (Valeska Gerstung)....Pages 217-280
Das Puzzle der konservativen Wohlfahrtsstaaten (Valeska Gerstung)....Pages 281-338
Fazit: Niedriglohnbeschäftigung als politisches Phänomen (Valeska Gerstung)....Pages 339-346
Back Matter ....Pages 347-364

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Vergleichende Politikwissenschaft

Valeska Gerstung

Niedriglohnbeschäftigung im Wohlfahrtsstaat Der Einfluss von Ideen und Institutionen auf den Niedriglohnsektor

Vergleichende Politikwissenschaft Reihe herausgegeben von Steffen Kailitz, Dresden, Deutschland Susanne Pickel, Duisburg, Deutschland Claudia Wiesner, Fulda, Deutschland

Die Schriftenreihe „Vergleichende Politikwissenschaft“ wird im Auftrag der gleichnamigen Sektion der Deutschen Vereinigung für Politische Wissenschaft durch Steffen Kailitz, Susanne Pickel und Claudia Wiesner herausgegeben. Ziel der Reihe ist es, Themen, Fragestellungen, Inhalte, Konzepte und Methoden politikwissenschaftlicher vergleichender Forschung und Lehre in ihrer ganzen Breite zu diskutieren. Die Reihe nimmt nach einem Begutachtungsverfahren hervorragende Arbeiten aus allen theoretischen und methodischen Richtungen der Vergleichenden Politikwissenschaft auf. Die Sektion „Vergleichende Politikwissenschaft“ ist eine der größten und ältesten Sektionen der Deutschen Vereinigung für Politikwissenschaft (DVPW). Der Bereich der Vergleichenden Politikwissenschaft (Comparative Politics) deckt von der Vergleichenden Regierungslehre bzw. dem Vergleich politischer Systeme über die Vergleichende Demokratie-, Autokratie-, Transformations- und Demokratisierungsforschung sowie die vergleichende Forschung zu Parteien und Interessenverbänden bis hin zur Vergleichenden Policy- und Wohlfahrtsstaatsforschung ein sehr breites Feld ab. Die Vergleichende Politikwissenschaft ist dabei in der inhaltlichen, geographischen und methodischen Ausrichtung (qualitative und quantitative Methoden) per se pluralistisch angelegt. Die Schriftenreihe „Vergleichende Politikwissenschaft“ bietet entsprechend der Ausrichtung und den Zielen der Sektion ein Forum für alle Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die sich in Forschung und Lehre mit Themen und Fragestellungen aller Teilbereiche der Vergleichenden Politikwissenschaft befassen. Die Reihe steht damit explizit Beiträgen aus allen theoretischen und methodischen Zugängen der Vergleichenden Politikwissenschaft offen, und es sind sowohl theoretisch und/oder konzeptionell, empirisch und auch methodisch ausgerichtete Schriften willkommen. Entsprechend der Internationalität der Vergleichenden Politikwissenschaft versteht sie sich auch als ein internationales Forum des wissenschaftlichen Diskurses. In der Reihe erscheinen deutsch- wie englischsprachige Bänder. Die Qualität der Beiträge der Sektionsreihe sichert neben dem Herausgeberkreis ein wissenschaftlicher Beirat. Ihm dankt der Herausgeberkreis für seine engagierte Arbeit. Dem wissenschaftlichen Beirat gehören an: Dirk Berg-Schlosser (Philipps-Universität Marburg) Patrick Bernhagen (Universität Stuttgart) Claudia Derichs (Philipps-Universität Marburg) Rolf Frankenberger (Universität Tübingen) Michael Hein (Humboldt-Unversität Berlin) Niilo Kauppi (University of Jyväskylä) Marianne Kneuer (Universität Hildesheim) Michèle Knodt (Technische Universität Darmstadt) Sabine Kropp (Freie Universität Berlin) Ina Kubbe (Leuphana Universität Lüneburg) Hans-Joachim Lauth (Universität Würzburg) Anja Mihr (The Hague Institute for Global Justice) Clara Portela (University of Valencia, Valencia) Svend-Erik Skaaning (Universität Aarhus) Toralf Stark (Universität Duisburg-Essen) Brigitte Weiffen (Universidade de São Paulo) Stefan Wurster (Hochschule für Politik München)

Weitere Bände in der Reihe http://www.springer.com/series/13436

Valeska Gerstung

Niedriglohn­ beschäftigung im Wohlfahrtsstaat Der Einfluss von Ideen und Institutionen auf den Niedriglohnsektor

Valeska Gerstung Meersburg, Deutschland Dieses Buch wurde von der Fakultät Sozial- und Wirtschaftswissenschaften der Otto-­ Friedrich-Universität Bamberg als Dissertation mit dem Titel „Niedriglohnbeschäftigung im wohlfahrtsstaatlichen Vergleich – Der Einfluss wohlfahrtsstaatlicher Ideen und Institutionen auf die Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung“ genehmigt. Die Gutachter der Dissertation sind Prof. Dr. Thomas Rixen und Prof. Dr. Johannes Marx. Der Tag der mündlichen Prüfung war der 19.03.2019.

ISSN 2569-8672 ISSN 2569-8702  (electronic) Vergleichende Politikwissenschaft ISBN 978-3-658-27640-9  (eBook) ISBN 978-3-658-27639-3 https://doi.org/10.1007/978-3-658-27640-9 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen National­ bibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Springer VS © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informa­ tionen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Springer VS ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Abraham-Lincoln-Str. 46, 65189 Wiesbaden, Germany

Danksagung Das Schreiben einer Doktorarbeit ist ein langer, steiniger und oft sehr einsamer Weg. Ohne die Unterstützung, Kritik und Motivation vieler Menschen wäre es mir nicht möglich gewesen, diesen Weg bis zum Ende zu gehen. All denen, die mich davor bewahrt haben in Sackgassen zu laufen oder in Abgründe zu stürzen, danke ich an dieser Stelle sehr herzlich. Einige dieser Personen möchte ich namentlich hervorheben. Ganz besonders danke ich meinem Doktorvater Prof. Dr. Thomas Rixen, der mir die Möglichkeit zur Promotion geboten hat. Dabei hat er mir die Zeit und den Raum gegeben, meinen eigenen Ideen zu folgen und stand mir gleichzeitig immer ermutigend, unterstützend und beratend zur Seite. Ich danke meinen Freunden und Kollegen an der Universität Bamberg für Gedankenanstöße, Gespräche, Anregungen, konstruktive Kritik und Ermutigungen. Ihr habt in erheblichem Ausmaß zum Schärfen der theoretischen Argumentation und zur Verbesserung der empirischen Analysen dieses Buches beigetragen. Im Besonderen möchte ich mich bei Frank Bandau, Malte Lübker, Barbara Ott und Carolin Stange bedanken. Mein Dank geht auch an Leo Ahrens, Manuel Becker, Fabio Bothner, Julia Dinkel, Claudia Genslein, Leonard Geyer, Wolfgang Günther, Lukas Hakelberg, Nikolaus Jopke, Jana Kammerhoff, Simon Linder und Kevin Urbanski. Von ganzem Herzen danke ich meinen Eltern Jacqueline und Lutz Gerstung, meinem Bruder Yannic Gerstung sowie meinen Großeltern Helga und Dieter Beiße. Durch ihre beständige Liebe, Unterstützung und ihren Glauben an mich haben sie mir den Mut und die Stärke gegeben, all jene Lebensentscheidungen zu treffen, die schließlich in dieser Doktorarbeit mündeten. Meine tief empfundene Dankbarkeit hat mein Partner Andreas Jungherr. Sein Vertrauen in mich und den Wert meiner Arbeit, sein Zuspruch und Rückhalt haben mir die Kraft gegeben, dieses Forschungsprojekt zu einem guten Ende zu bringen. Auch die Qualität dieses Buches hat von seinen methodischen, konzeptionellen und stilistischen Ratschlägen enorm profitiert.

vi

Danksagung

Marlo du großer Empiriker: Durch teilnehmende Beobachtung hast Du meinen Schreibprozess mit Deinen braunen Knopfaugen begleitet. Du hast mir jeden Tag aufs Neue dabei geholfen nicht die Bodenhaftung zu verlieren, denn Du hast Deine Bedürfnisse (Gassi gehen, fressen, schmusen, spielen) immer ganz eindeutig über meine Dissertation gestellt. Vielen Dank mein pelziger Freund!

Meersburg, Juli 2019

Valeska Gerstung

Inhaltsverzeichnis Abbildungsverzeichnis .................................................................................................. xi Tabellenverzeichnis .................................................................................................... xiii 1 Eine politökonomische Perspektive auf den Niedriglohnsektor ..................................1 1.1 Theoretisches Grundargument und konzeptioneller Analyserahmen ..................... 4 1.2 Forschungslücke und Relevanz .............................................................................. 13 1.3 Methodisches Vorgehen und Forschungsergebnisse ............................................ 17 2 Konzeptionelle Grundlagen: Niedriglohnbeschäftigung und Wohlfahrtsstaat ........... 27 2.1 Niedriglohnbeschäftigung als lohnstrukturelles Arbeitsmarktphänomen ............. 27 2.1.1 Definition und normative Bewertung des Phänomens der Niedriglohnbeschäftigung ....................................................................... 28 2.1.2 Messung, Größe und Struktur des Niedriglohnsektors .................................. 34 2.2 Wohlfahrtsstaat und Wohlfahrtsstaatstypen ........................................................ 47 2.2.1 Konzeptionen des Wohlfahrtsstaates ............................................................ 47 2.2.2 Ideen und Institutionen im Wohlfahrtsstaat ................................................. 51 2.2.3 Wohlfahrtsstaatstypen .................................................................................. 55 2.2.3.1 Ideal- und realtypische Wohlfahrtsstaaten ............................................ 56 2.2.3.2 Charakteristika der Wohlfahrtsstaatstypen ........................................... 60 2.3 Niedriglohnbeschäftigung in unterschiedlichen Wohlfahrtsstaatstypen .............. 73 3 Ursachen der Niedriglohnbeschäftigung: Ein multidisziplinärer Überblick ................ 81 3.1 Akteursspezifische Ursachen ................................................................................. 84 3.2 Institutionelle Ursachen ........................................................................................ 95 3.2.1 Arbeitsmarktinstitutionen ............................................................................. 96 3.2.1.1 Staatliche Arbeitsmarktinstitutionen ..................................................... 99 3.2.1.2 Institutionen der industriellen Beziehungen ........................................ 115 3.2.1.3 Wirkungskanäle von Arbeitsmarktinstitutionen .................................. 129 3.2.2 Institutionen der Wirtschafts-, Finanz- und Familienpolitik ........................ 131 3.3 Strukturelle Ursachen .......................................................................................... 137

viii

Inhaltsverzeichnis

4 Makro-quantitative Untersuchung der Ursachen von Niedriglohnbeschäftigung .... 151 4.1 Bivariate Analysen ............................................................................................... 155 4.1.1 Akteursspezifische Ursachen ....................................................................... 157 4.1.2 Institutionen der staatlichen Arbeitsmarktpolitik........................................ 159 4.1.3 Institutionen der staatlichen Arbeitsmarktregulierung ............................... 161 4.1.4 Institutionen der industriellen Beziehungen ............................................... 175 4.1.5 Institutionen der Wirtschafts-, Finanz- und Familienpolitik ........................ 177 4.1.6 Strukturelle Ursachen .................................................................................. 179 4.1.7 Zusammenfassung der Analyseergebnisse .................................................. 185 4.2 Variablenreduktion durch Hauptkomponentenanalysen .................................... 186 4.2.1 Methodische Vorbemerkungen ................................................................... 186 4.2.2 Analyseergebnisse der Hauptkomponentenanalysen ................................. 192 4.3 Komponentenbasierte Regressionsanalysen ....................................................... 201 5 Die Dimension des Wohlfahrtsstaates .................................................................... 217 5.1 Die Erklärungskraft der Wohlfahrtsstaatstypen .................................................. 219 5.2 Wohlfahrtsstaatstypen und staatliche Arbeitsmarktregime ............................... 229 5.2.1 Staatliche Arbeitsmarktregime: Definition und Typen ................................ 230 5.2.2 Wohlfahrtsstaatscluster und Cluster staatlicher Arbeitsmarktregime im Vergleich................................................................................................. 235 5.3 Staatliche Arbeitsmarktinstitutionen im Spiegel wohlfahrtsstaatlicher Leitideen.............................................................................................................. 245 5.3.1 Hypothesen über Charakteristika staatlicher Arbeitsmarktinstitutionen .... 245 5.3.2 Untersuchung der Charakteristika staatlicher Arbeitsmarktinstitutionen ... 250 5.4 Zwischenfazit: Die empirische Evidenz des theoretischen Grundarguments ...... 274 6 Das Puzzle der konservativen Wohlfahrtsstaaten ................................................... 281 6.1 Arbeitsmarktinstitutionen und Arbeitsmarktregime im Ländervergleich............ 282 6.1.1 Arbeitsmarktinstitutionen im Ländervergleich ............................................ 288 6.1.1.1 Leistungsanspruchskriterien und Arbeitslosenunterstützung.............. 288 6.1.1.2 Mindestlohn ......................................................................................... 289 6.1.1.3 Allgemeinverbindlichkeitserklärung von Tarifverträgen ...................... 289 6.1.1.4 Institutionelle und strukturelle Dualisierung des Arbeitsmarktes ....... 290 6.1.2 Arbeitsmarktregime im Ländervergleich ..................................................... 301 6.1.2.1 Die (Un-)Ähnlichkeit konservativer Arbeitsmarktregime ..................... 301 6.1.2.2 Effektive institutionelle Bremsen für Niedriglohnbeschäftigung ......... 305 6.1.3 Zusammenfassende Bewertung der Analyseergebnisse.............................. 314

Inhaltsverzeichnis

ix

6.2 Der Fall Deutschland ............................................................................................ 316 6.2.1 Entwicklung der Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung ...................... 317 6.2.2 Entwicklung der Arbeitslosigkeit.................................................................. 320 6.2.3 Entwicklung der Arbeitsmarktinstitutionen ................................................. 323 6.2.4 Zusammenfassende Bewertung der Analyseergebnisse.............................. 337 7 Fazit: Niedriglohnbeschäftigung als politisches Phänomen ..................................... 339 Literaturverzeichnis ................................................................................................... 347

Abbildungsverzeichnis Abbildung 1.1

Niedriglohnbeschäftigung in entwickelten Volkswirtschaften .……………. 2

Abbildung 1.2

Konzeptioneller Analyserahmen .………………………………………………………… 5

Abbildung 1.3

Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung nach Wohlfahrtstaatstypen ………………………………………………………………………. 12

Abbildung 1.4

Journal-Artikel zum Thema Niedriglohnbeschäftigung nach Forschungsbereichen ….……………………………………………………………………. 14

Abbildung 2.1

Verhältnis ideal- und realtypischer Wohlfahrtsstaaten …………………….. 59

Abbildung 2.2

Hypothesen zur wohlfahrtsstaatstypenspezifischen Größe des Niedriglohnsektors .……………………………………………………………………. 79

Abbildung 3.1

Typologie der Arbeitsmarktinstitutionen ………………………………..………… 97

Abbildung 4.1

Niedriglohnbeschäftigung in Ländern mit und ohne gesetzlichen Mindestlohn ………………………………………………………………. 164

Abbildung 4.2

Institutioneller Dualismus der Beschäftigungsregulierung ……………… 169

Abbildung 4.3

Niedriglohnbeschäftigung und Wirtschaftswachstum …………………….. 181

Abbildung 4.4

Beschäftigtenanteil im Dienstleistungssektor und Niedriglohnbeschäftigung ………………………………………………………………. 184

Abbildung 4.5

Grundidee der Hauptkomponentenanalyse ……………………………………. 187

Abbildung 5.1

Clusteranalyse: Dendrogramm ……………………………………………………….. 238

Abbildung 5.2

Clusteranalyse: Screeplot der Fehlerquadratsummen ……………………. 242

Abbildung 5.3

Wohlfahrtsstaatstypen mit signifikanten institutionellen Unterschieden ………………………………………………………………………………… 273

Abbildung 6.1

Niedriglohnbeschäftigung und Arbeitslosigkeit in konservativen Wohlfahrtsstaaten …………………………………………………………………………. 283

Abbildung 6.2

Differenz der Beschäftigungsregulierung in konservativen Wohlfahrtsstaaten …………………………………………………………………………. 291

Abbildung 6.3

Dualismus und Niedriglohnbeschäftigung in konservativen Wohlfahrtsstaaten …………………………………………………………………………. 299

Abbildung 6.4

Anzahl effektiver institutioneller Bremsen und Niedriglohnbeschäftigung ………………………………………………………………. 314

xii

Abbildungsverzeichnis

Abbildung 6.5

Entwicklung der Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung in Deutschland ……………………………………………………………………………….. 318

Abbildung 6.6

Entwicklung der Arbeitslosenquote in Deutschland ……………………….. 321

Abbildung 6.7

Entwicklung von Arbeitsmarktinstitutionen in Deutschland ……………. 324

Abbildung 6.8

Entwicklung des gewerkschaftlichen Organisationsgrades in Deutschland ……………………………………………………………………………….. 336

Tabellenverzeichnis Tabelle 2.1

Die Größe des Niedriglohnsektors in entwickelten Volkswirtschaften …………………………………………………………………………….. 40

Tabelle 2.2

Niedriglohnschwelle und gruppenspezifische Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung ………………………………………………………….. 42

Tabelle 2.3

Niedriglohnbeschäftigung nach Wirtschaftszweigen ………………………… 46

Tabelle 2.4

Konzeptionen des Wohlfahrtsstaates und staatliche Arbeitsmarktinstitutionen ………………………………………………………………… 49

Tabelle 2.5

Charakteristika der Wohlfahrtsstaatstypen ………………………………………. 72

Tabelle 2.6

Arbeitsmarktpolitische Orientierungen der Wohlfahrtsstaatstypen …. 76

Tabelle 3.1

Matrix der Ursachen von Niedriglohnbeschäftigung …………………………. 82

Tabelle 3.2

Operationalisierung akteursspezifischer Ursachen …………………………… 94

Tabelle 3.3

Operationalisierung der Institutionen staatlicher Arbeitsmarktpolitik ………………………………………………………………………… 111

Tabelle 3.4

Operationalisierung der Institutionen staatlicher Arbeitsmarktregulierung ………………………………………………………………… 113

Tabelle 3.5

Operationalisierung der Institutionen der industriellen Beziehungen …………………………………………………………………………………… 127

Tabelle 3.6

Wirkungskanäle von Arbeitsmarktinstitutionen auf Niedriglohnbeschäftigung ………………………………………………………………. 130

Tabelle 3.7

Operationalisierung der Institutionen der Wirtschafts-, Finanz- und Familienpolitik ……………………………………….. 136

Tabelle 3.8

Operationalisierung struktureller Ursachen ……………………………………. 148

Tabelle 4.1

Einfachregressionen mit akteursspezifischen Einflussfaktoren ……….. 157

Tabelle 4.2

Einfachregressionen mit Institutionen staatlicher Arbeitsmarktpolitik ………………………………………………………………………… 160

Tabelle 4.3

Einfachregressionen mit Institutionen staatlicher Arbeitsmarktregulierung ………………………………………………………………… 161

Tabelle 4.4

Niedriglohnschwelle und Mindestlohn im Ländervergleich …………….. 163

Tabelle 4.5

Institutioneller Dualismus der Beschäftigungsregulierung und Niedriglohnbeschäftigung ……………………………………………………….. 171

xiv

Tabellenverzeichnis

Tabelle 4.6

Einfachregressionen mit Institutionen der industriellen Beziehungen …………………………………………………………………………………… 176

Tabelle 4.7

Einfachregressionen mit Institutionen der Wirtschafts- und Familienpolitik …………………………………………………….. 178

Tabelle 4.8

Einfachregressionen mit strukturellen Einflussfaktoren ………………….. 179

Tabelle 4.9

Hauptkomponentenanalyse mit akteursspezifischen Erklärungsfaktoren …………………………………………………………………………. 193

Tabelle 4.10

Hauptkomponentenanalyse mit Institutionen staatlicher Arbeitsmarktpolitik ………………………………………………………………………… 195

Tabelle 4.11

Hauptkomponentenanalyse mit Institutionen staatlicher Arbeitsmarktregulierung ………………………………………………………………… 196

Tabelle 4.12

Hauptkomponentenanalyse mit Institutionen der industriellen Beziehungen …………………..……………………………………. 197

Tabelle 4.13

Hauptkomponentenanalyse mit Institutionen der Familienpolitik …………………………………………………………………………. 198

Tabelle 4.14

Hauptkomponentenanalyse mit strukturellen Arbeitsmarktcharakteristika …………………………………………………………… 199

Tabelle 4.15

Hauptkomponentenanalyse mit Wohlstandskennzahlen ………………… 200

Tabelle 4.16

Theoretisch erwartete Effektrichtung der Komponenten ……………….. 202

Tabelle 4.17

Lineare Einfachregressionen mit Hauptkomponenten ……………………. 205

Tabelle 4.18

Komponentenbasierte multiple Regressionsanalysen …………………….. 207

Tabelle 4.19

Ursachen der geringen Erklärungskraft der Komponente zu industriellen Beziehungen ………………………………………………………….. 214

Tabelle 5.1

Regressionsanalysen mit Wohlfahrtsstaatstypen ……………………………. 220

Tabelle 5.2

Regressionsanalysen mit Wohlfahrtsstaatstypen und Arbeitsmarktinstitutionen ……………………………………………………….. 225

Tabelle 5.3

Post-hoc-Tests: Mittelwertdifferenzen der Wohlfahrtsstaatstypen … 228

Tabelle 5.4

Clusteranalyse: Agglomerationstabelle …………………………………………… 240

Tabelle 5.5

Zusammensetzung der Cluster staatlicher Arbeitsmarktregime ……… 243

Tabelle 5.6

Hypothesen über das Design staatlicher Arbeitsmarktinstitutionen ………………………………………………………………. 247

Tabelle 5.7

Ausgestaltung staatlicher Arbeitsmarktinstitutionen nach Wohlfahrtsstaatstypen …………………………………………………………… 252

Tabellenverzeichnis

xv

Tabelle 5.8

Erwartete und empirische institutionelle Designs staatlicher Arbeitsmarktinstitutionen …………………………………………….. 256

Tabelle 5.9

Wohlfahrtsstaatstypenspezifische Unterschiede staatlicher Arbeitsmarktinstitutionen …………………………………………….. 271

Tabelle 5.10

Empirische Evidenz des theoretischen Grundarguments ………………… 276

Tabelle 6.1

Arbeitsmarktinstitutionen und Niedriglohnbeschäftigung im konservativen Cluster ………………………………………………………………… 285

Tabelle 6.2

Atypische Beschäftigung in konservativen Wohlfahrtsstaaten ……….. 294

Tabelle 6.3

Dualisierungs-Indikator zu befristeten Beschäftigungsverhältnissen ………………………………………………………….. 298

Tabelle 6.4

Ähnlichkeitsmatrix konservativer Arbeitsmarktregime …………………… 303

Tabelle 6.5

Ähnlichkeit von Arbeitsmarktregimen und Niedriglohnbeschäftigung ………………………………………………………………. 304

Tabelle 6.6

Wirkungskanäle von Arbeitsmarktinstitutionen mit Niedriglohnbeschäftigung eingrenzenden Charakteristika ……………… 307

Tabelle 6.7

Effektive institutionelle Bremsen für die Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung ………………………………………………………… 311

1 Eine politökonomische Perspektive auf den Niedriglohnsektor „Jede Arbeit ist besser als keine Arbeit.“ So lautet das Credo von Lohnarbeitsgesellschaften (Engler 2005: 11). Politik nach diesem Credo will möglichst viele Menschen in Erwerbsarbeit bringen. Die Qualität der Arbeit hat dabei nicht unbedingt Priorität. Gebräuchliche arbeitsmarktpolitische Strategien zur Erreichung einer hohen Erwerbstätigenquote sind die Steigerung der Lohnflexibilität und die Förderung von Beschäftigung im Niedriglohnsektor. Obwohl alle entwickelten Volkswirtschaften Lohnarbeitsgesellschaften sind, weist die Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung extreme Unterschiede auf. Die Heterogenität dieses lohnstrukturellen Arbeitsmarktergebnisses kann durch unterschiedliche Wohlfahrtsstaatsmodelle und deren Spezifika in der Art und Intensität staatlicher Eingriffe in den Arbeitsmarkt erklärt werden. In diesem Buch wird theoretisch begründet und empirisch gezeigt, dass die Wechselbeziehung zwischen wohlfahrtsstaatstypenspezifischen Leitideen und Institutionen eine Ursache der heterogenen Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung in entwickelten Volkswirtschaften darstellt. Die Lohnarbeitsgesellschaft ist eine Gesellschaftsform, in der Erwerbsarbeit 1 sowohl von entscheidender Bedeutung für die soziale Sicherheit des Einzelnen als auch für die Organisation des Gemeinwesens ist. Unter diesen gesellschaftlich-strukturellen Rahmenbedingungen ist die Leistungsfähigkeit des Arbeitsmarktes ein wesentlicher Bestimmungsfaktor individueller Wohlfahrt und nationalen Wohlstands. Mit dem Ziel ebendiese Leistungsfähigkeit entweder zu bewahren oder herzustellen, greift die Politik mittels staatlicher Arbeitsmarktinstitutionen in die Funktionsweise des Arbeitsmarktes ein. Im Rahmen dieser staatlichen Eingriffe wird insbesondere dem wirtschaftspolitischen Ziel der Vollbeschäftigung eine hohe Bedeutung beigemessen (Beck 1986; Saint-Paul 1996, 2000; Senghaas-Knobloch 1999). Folglich ist in allen entwickelten Volkswirtschaften zu erwarten, dass die Beschäftigungsförderung im Niedriglohnbereich auf der politischen Agenda steht, um eine möglichst hohe Erwerbstäti-

1

Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird im Text verallgemeinernd das generische Maskulinum verwendet. Diese Formulierung umfasst gleichermaßen alle anderen Geschlechterbezeichnungen.

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 V. Gerstung, Niedriglohnbeschäftigung im Wohlfahrtsstaat, Vergleichende Politikwissenschaft, https://doi.org/10.1007/978-3-658-27640-9_1

2

1 Eine politökonomische Perspektive auf den Niedriglohnsektor

genquote zu realisieren und auch Erwerbspersonen mit geringem Humankapital in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Allerdings weist die länderspezifische Größe der Niedriglohnsektoren eine sehr starke Heterogenität auf. So hat Schweden im Jahr 2010 lediglich 2,5% Niedriglohnbeschäftigte, während in Lettland 27,8% der abhängig Beschäftigten im Niedriglohnsektor arbeiten (vgl. Abb. 1.1). Anteil der Niedriglohnbeschäftigten (in % aller abhängig Beschäftigten) 30 25 20 15 10 5 0

Niedriglohn : Stundenlöhne unterhalb von zwei Drittel des Medianlohns. Daten: Eurostat, OECD, ILO. Jahr: 2010.

Abbildung 1.1: Niedriglohnbeschäftigung in entwickelten Volkswirtschaften

Die Berücksichtigung der Tatsache, dass alle entwickelten Volkswirtschaften auch Wohlfahrtsstaaten sind, aber unterschiedlichen Wohlfahrtsstaatstypen angehören, bietet einen institutionalistischen und gleichzeitig ideenbezogenen Erklärungsansatz für die Varianz der Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung (Arts/Gelissen 2006). Jeder Wohlfahrtsstaatstypus ist gekennzeichnet durch charakteristische Leitideen über gesellschaftliche Solidarität, individuelle Freiheit, die Zentralität des Marktes, des Staates und der Familie in der Wohlfahrtsproduktion sowie die Stellung des Individuums in der Lohnarbeitsgesellschaft (Esping-Andersen 1990). Da staatliche Arbeitsmarktinstitutionen ein integraler Bestandteil des wohlfahrtsstaatlichen Institutionengefüges sind, steht ihre Ausgestaltung unmittelbar im Kontext wohlfahrtsstaatstypenspezifischer Leitideen

Theoretisches Grundargument und Analyserahmen 11.1 Eine politökonomische Perspektive aufkonzeptioneller den Niedriglohnsektor

3

2

(Bonoli 2003; Esping-Andersen 1990; Lessenich 1994, 2008). Somit bietet die Dimension des Wohlfahrtsstaates einen theoretisch fundierten Erklärungsansatz für länderspezifische Unterschiede in der Tendenz durch die Ausgestaltung staatlicher Arbeitsmarktinstitutionen dem Credo „Jede Arbeit ist besser als keine Arbeit“ Folge zu leisten. Die erklärungsbedürftig starke Varianz der Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung sowie der theoretisch zu erwartende Einfluss wohlfahrtsstaatlicher Ideen und Institutionen auf dieses lohnstrukturelle Arbeitsmarktergebnis führen zu folgender Forschungsfrage: Lässt sich die heterogene Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung in entwickelten Volkswirtschaften durch länder- und wohlfahrtsstaatstypenspezifische Unterschiede der Ausgestaltung staatlicher Arbeitsmarktinstitutionen erklären? Diese Frage lässt sich in zwei Teilfragen aufgliedern: 1) Inwiefern beeinflusst die Ausgestaltung staatlicher Arbeitsmarktinstitutionen die Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung? 2) Inwiefern besitzt die Zugehörigkeit von entwickelten Volkswirtschaften zu unterschiedlichen Wohlfahrtsstaatstypen Erklärungskraft für die Varianz der Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung? Mit diesem Erkenntnisinteresse ist die vorliegende Forschungsarbeit in zwei Forschungstraditionen verortet: Der Fokus auf den Einfluss des Staates auf die Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung rückt die Arbeit in die Forschungstradition der Vergleichenden Politischen Ökonomie im Sinne der Untersuchung der komplexen Wechselwirkungen zwischen Ökonomie und politischen und gesellschaftlichen Institutionen (Hall 1999: 136; Höpner/Schäfer 2008: 11). 2

Der Institutionenbegriff dieser Arbeit folgt der Definition von Streeck/Thelen 2005. Vor dem Hintergrund eines formellen Institutionenverständnisses definieren Streeck und Thelen Institutionen als Bausteine der sozialen Ordnung (building-blocks of social order). In diesem Sinne sind Institutionen formelle Regeln, die wechselseitige Rechte und Pflichten von bestimmten individuellen oder kollektiven Akteuren definieren. Verstößt ein Akteur gegen diese Regeln, führt dies zu einer zuverlässigen und berechenbaren Sanktion des Regelverstoßes durch Dritte. Somit erlauben Institutionen Akteuren Erwartungen über das Verhalten anderer Akteure zu bilden, da sie zwischen zulässigem bzw. erlaubtem und unzulässigem bzw. strafbarem Verhalten unterscheiden (Streeck/Thelen 2005: 9ff.).

4

1 Eine politökonomische Perspektive auf den Niedriglohnsektor

Die Einbeziehung von Wohlfahrtsstaatstypen als analytische Ordnungskategorie zur Erklärung der länderspezifischen Varianz der Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung verortet dieses Buch zusätzlich in der Forschungstradition der International Vergleichenden Wohlfahrtsstaatsforschung. 1.1 Theoretisches Grundargument und konzeptioneller Analyserahmen Zur systematischen Untersuchung der Forschungsfrage und Illustration des theoretischen Grundarguments wird ein konzeptioneller Analyserahmen entwickelt. Die Visualisierung des konzeptionellen Analyserahmens in Abbildung 1.2 bietet einerseits eine schematische Darstellung des Beziehungszusammenhangs aller Bestandteile des theoretischen Grundarguments. Andererseits dient die Visualisierung als strukturgebendes Element für den Aufbau dieses Buches. Der gestrichelte Kasten „entwickelte Volkswirtschaften“ bildet den Rahmen von Abbildung 1.2 und verweist damit auf den gemeinsamen strukturellen Hintergrund jener 36 Länder, die als entwickelte Volkswirtschaften klassifiziert werden. Der gemeinsame strukturelle Hintergrund zeichnet sich dadurch aus, dass alle Länder dieser Gruppe durch liberale marktwirtschaftliche Wirtschaftsordnungen gekennzeichnet sind, im internationalen Vergleich einen hohen wirtschaftlich-technischen Entwicklungsstand aufweisen (sie sind keine Entwicklungs- oder Schwellenländerländer) und als Demokratien westlicher Prägung zu 3 klassifizieren sind (ILO 2013) .

3

Für eine ausführlichere Darstellung des Konzeptes der entwickelten Volkswirtschaft siehe Kapitel 2.1.2.

2

Ausgestaltung der Institutionen des Wohlfahrtsstaates: a) staatliche Arbeitsmarktinstitutionen b) sonstige wohlfahrtsstaatliche Institutionen

Abbildung 1.2: Konzeptioneller Analyserahmen

Erklärungsfaktoren

sonstige Erklärungsfaktoren: Mikroebene (z.B. Humankapitalausstattung, Wettbewerbsstrategie) Mesoebene (z.B. Institutionen der industriellen Beziehungen) Makroebene (z.B. makroökonomischer Kontext, Globalisierung)

normative und regulative Leitideen eines Wohlfahrtsstaatstypus (sozialdemokratischer, konservativer, mediterraner, mittelosteuropäischer und liberaler Wohlfahrtsstaatstypus)

Wohlfahrtsstaatstypen

1

4

zu erklärendes Phänomen

Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung

3

entwickelte Volkswirtschaften

1.1 Theoretisches Grundargument und konzeptioneller Analyserahmen 5

6

1 Eine politökonomische Perspektive auf den Niedriglohnsektor

Innerhalb des gestrichelten Kastens ist ein Modell zu Erklärung der länderspezifischen Varianz von Niedriglohnbeschäftigung abgebildet. Das rechte Drittel von Abbildung 1.2 zeigt das zu erklärende Phänomen „Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung“. Die übrigen zwei Drittel bilden die Erklärungsfaktoren, ihre Beziehung untereinander sowie ihre Beziehung zu dem zu erklärenden Phänomen ab. Es wird zwischen zwei grundlegenden Kategorien von Erklärungsfaktoren differenziert: Einerseits jene Erklärungsfaktoren, die im Kontext des Wohlfahrtsstaates bzw. unterschiedlicher Wohlfahrtsstaatstypen stehen (gesammelt innerhalb des großen grauen Kastens „Wohlfahrtsstaatstypen“) und andererseits solche Erklärungsfaktoren, die sich außerhalb des wohlfahrtsstaatlichen Kontextes befinden (gesammelt innerhalb des Kastens „sonstige Erklärungsfaktoren“). Mit der zweiten Kategorie von Erklärungsfaktoren trägt der konzeptionelle Analyserahmen der Multikausalität struktureller Arbeitsmarktergebnisse Rechnung. Allerdings steht diese Kategorie von Erklärungsfaktoren nicht im Fokus des Forschungsinteresses, da sich das theoretische Grundargument des Buches auf wohlfahrtsstaatsbezogenen Erklärungsfaktoren bezieht. Um die Logik des theoretischen Grundarguments nachvollziehbar darstellen zu können, bedarf es zwei kurzer konzeptioneller Vorbemerkungen. Die erste Vorbemerkung bezieht sich auf das Verhältnis ideal- und realtypischer Wohlfahrtsstaaten: Alle Wohlfahrtsstaatstypologien identifizieren jeweils eine begrenzte Anzahl von ideal- und/ oder realtypischen Wohlfahrtsstaaten (Arts/Gelissen 2010). Im Sinne von Max Webers Definition eines Idealtypus ist ein idealtypischer Wohlfahrtsstaat als Abstraktion und Überspitzung real existierender Eigenschaften von Wohlfahrtsstaaten zu verstehen. Ihr abstrakter Charakter bzw. ihre Zwischenstellung zwischen Theorie und Empirie qualifiziert Idealtypen sowohl als Grundlage zur Hypothesenbildung als auch als Ordnungskategorie zur Strukturierung der empirischen Wirklichkeit (Weber 1988/1922: 190f.). Im Gegensatz zu idealtypischen Wohlfahrtsstaaten, die lediglich als abstrakte Konstrukte existieren, sind realtypische Wohlfahrtsstaaten empirisch beobachtbare Wohlfahrtsstaaten, die näherungsweise einem bestimmten Idealtypus zugeordnet werden können, diesem Idealtypus aber weder gänzlich entsprechen müssen noch können. Der idealtypische Bezug realtypischer Wohlfahrtsstaaten gestattet allerdings Hypothesen über ideelle, institutionelle und strukturelle Charakteristika der Realtypen zu bilden (Kluge 1999: 43f.). Die zweite Vorbemerkung bezieht sich auf das Verhältnis wohlfahrtsstaatlicher Leitideen und wohlfahrtsstaatlicher Institutionen: Jeder idealtypische Wohl-

1.1 Theoretisches Grundargument und konzeptioneller Analyserahmen

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fahrtsstaat besitzt typenspezifische normative und regulative Leitideen sowie institutionelle Charakteristika, von denen typenspezifische soziale Strukturierungseffekte ausgehen (Arts/Gelissen 2010). Die normativen und regulativen Leitideen eines Wohlfahrtsstaates sind definiert als grundlegende, politikfeldübergreifende Denkweisen bzw. Orientierungen hinsichtlich der Fragen, welche gesellschaftlichen Phänomene als durch den Wohlfahrtsstaat zu lösende Probleme wahrgenommen werden, welche Ziele der Wohlfahrtsstaat verfolgen sollte und welche grundsätzlichen Lösungen für Probleme des kollektiven Handelns im Bereich der Wohlfahrtsproduktion zu wählen sind. Somit spielen normative und regulative Leitideen eine wichtige Rolle für die Erklärung typenspezifischer Unterschiede im wohlfahrtsstaatlichen Institutionengefüge (EspingAndersen 1990: 21-28; Hall 1993: 279; Steinmo 2008: 130f.). Die meisten theoretischen Arbeiten zum Verhältnis zwischen Ideen und Institutionen konzeptualisieren dieses Verhältnis nicht als Kausalbeziehung, sondern als Wechselbeziehung. Diese Wechselbeziehung wird dadurch begründet, dass einerseits Ideen die Ausgestaltung von Institutionen prägen. Andererseits reproduzieren Institutionen bestimmte Ideen und können eine beschränkende Wirkung auf den Einfluss von (neuen) Ideen im Politikprozess ausüben (Blyth 2001; Lepsius 1990; 4 Lieberman 2002). Vor diesem typologischen und konzeptionellen Hintergrund wird nun das theoretische Grundargument erläutert. Das theoretische Grundargument wird in Abbildung 1.2 durch die Verbindungselemente 1 bis 3 dargestellt. Die Verbindungslinie mit der Ziffer 1 visualisiert die Erwartung, dass ein Zusammenhang zwischen Wohlfahrtsstaatstypen und der Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung besteht. Da es sich hierbei jedoch um keinen direkten, sondern einen über andere wohlfahrtsstaatstypenspezifische Variablen vermittelten Zusammenhang handelt, ist Verbindungselement 1 kein Pfeil, sondern eine Linie. Durch das Öffnen der „Black-Box“ des Wohlfahrtsstaatstypus lässt sich allerdings eine Ursache-Wirkungsbeziehung identifizieren, die diesen Zusammenhang theoretisch begründet. Die zwei Elemente dieser Ursache-Wirkungsbeziehung sind zum einen wohlfahrtsstaatliche Leitideen und zum anderen das Design wohlfahrtsstaatlicher Institutionen: Jeder Wohlfahrtsstaatstypus zeichnet sich durch typenspezifische normative und regulative Leitideen sowie typenspezifische Muster der Ausge4

Detaillierte Ausführungen zu den Konzepten des ideal- und realtypischen Wohlfahrtsstaats, sowie dem Verhältnis von Institutionen und Ideen im Wohlfahrtsstaat erfolgen in Kapitel 2.2.

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1 Eine politökonomische Perspektive auf den Niedriglohnsektor

staltung wohlfahrtsstaatlicher Institutionen aus. Zwischen den wohlfahrtsstaatlichen Leitideen und Institutionen besteht eine Wechselbeziehung, die sich darin ausdrückt, dass Leitideen Prägekraft auf die Ausgestaltung von Institutionen ausüben, während Institutionen wiederum typenspezifische Leitideen verfestigen bzw. die Wirkungsmacht konkurrierender Ideen begrenzen. Die Wechselbeziehung zwischen der ideellen und der institutionellen Dimension eines Wohlfahrtsstaatstypus wird in Abbildung 1.2 durch den Doppelpfeil 2 dargestellt. Von allen Institutionen des Wohlfahrtsstaates sollten staatliche Arbeitsmarktinstitutionen den größten Einfluss auf die Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung ausüben. Ihr genuiner Zweck besteht darin, verbindliche Regeln für die Interaktion der Arbeitsmarktakteure zu schaffen und somit die Funktionsweise und letztlich auch die Ergebnisse des Arbeitsmarktes zu beeinflussen (North 1990; Saint-Paul 1996, 2000). Zu den staatlichen Arbeitsmarktinstitutionen gehören sowohl die Institutionen der staatlichen Arbeitsmarktpolitik (passive, aktive und aktivierende Arbeitsmarktpolitik) als auch die Institutionen der Arbeitsmarktregulierung. Allerdings ist prinzipiell auch die Erwartung plausibel, dass Institutionen anderer wohlfahrtsstaatlicher Politikfelder (wie z.B. der Sozial- oder der Familienpolitik) Auswirkungen auf die Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung ausüben. Der Einfluss wohlfahrtsstaatlicher Institutionen auf das zu erklärende Phänomen wird in Abbildung 1.2 durch Pfeil 3 visualisiert. Die grafische Darstellung des theoretischen Grundarguments in Abbildung 1.2 verdeutlicht, dass die institutionelle Dimension des Wohlfahrtsstaates einen direkten Einfluss auf die Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung ausübt. Dahingegen haben normative und regulative Leitideen lediglich eine indirekte Wirkung, indem sie die Ausgestaltung wohlfahrtsstaatlicher Institutionen prägen und so die Herausbildung typenspezifischer institutioneller Designs befördern. Somit üben wohlfahrtsstaatliche Leitideen einen indirekten bzw. einen institutionell vermittelten Einfluss auf die Größe des Niedriglohnsektors aus.

1.1 Theoretisches Grundargument und konzeptioneller Analyserahmen

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Im Wesentlichen besteht das theoretische Grundargument aus drei theoretisch fundierten Annahmen: a)

Staatliche Arbeitsmarktinstitutionen üben einen substanziellen Einfluss 5 auf die Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung aus. b) Staatliche Arbeitsmarktinstitutionen stellen einen integralen Bestanteil des wohlfahrtsstaatlichen Institutionengefüges dar. c) Die Wechselbeziehung zwischen wohlfahrtsstaatlichen Leitideen und der Ausgestaltung wohlfahrtsstaatlicher Institutionen, impliziert eine Prägekraft wohlfahrtsstaatstypenspezifischer Leitideen auf die Ausgestaltung staatlicher Arbeitsmarktinstitutionen. Aus der Verknüpfung dieser Annahmen ergibt sich das theoretische Grundargument: Der institutionell vermittelte Einfluss wohlfahrtsstaatstypenspezifischer Leitideen auf strukturelle Arbeitsmarktergebnisse verursacht eine wohlfahrtsstaatstypenspezifische Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung. Das theoretische Grundargument stützt sich auf idealtypische Wohlfahrtsstaaten zur Hypothesenbildung über ideelle, institutionelle und strukturelle Charakteristika in realtypischen Wohlfahrtsstaaten (Weber 1988/1922: 191). Die Überprüfung der empirischen Evidenz des theoretischen Grundarguments ist allerdings nur auf Grundlage realtypischer Wohlfahrtsstaaten möglich. Unabhängig vom theoretischen Grundargument enthält Abbildung 1.2 zusätzlich den Kasten „sonstige Erklärungsfaktoren“, der durch Pfeil 4 mit dem zu 5

Aus funktionalistischer Perspektive (Wilensky 1975) könnte argumentiert werden, dass die Ausgestaltung wohlfahrtsstaatlicher Institutionen (und insbesondere staatlicher Arbeitsmarktinstitutionen) eine Reaktion auf die mit der Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung verbundenen Herausforderungen und Problemlagen darstellen. Demgemäß müsste in Abbildung 1.2 Pfeil 3 auch in umgekehrter Richtung eingezeichnet werden. Das Argument, dass Staatstätigkeit eine Reaktion auf die Größe des Niedriglohnsektors darstellt, besitzt allerdings kaum Plausibilität, da es sich bei der Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung nicht um eine klassische ökonomische Signalvariable bzw. keinen ökonomischen Performanzindikator wie z.B. die Höhe der Arbeitslosigkeit, das wirtschaftliche Entwicklungsniveau oder das Wirtschaftswachstum handelt. Obwohl die Größe des Niedriglohnsektors an sich kein politisches Ziel darstellt, fördern oder beschränken politische Akteure die Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung mitunter aktiv, um andere sozio-ökonomische Ziele wie zum Beispiel eine Reduktion der Arbeitslosigkeit zu erreichen. Aus funktionalistischer Perspektive ist dann allerdings die Arbeitslosigkeit das sozio-ökonomische Funktionsproblem auf das politische Akteure reagieren, während die Beeinflussung der Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung lediglich ein Mittel ist, um das Funktionsproblem zu beseitigen.

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1 Eine politökonomische Perspektive auf den Niedriglohnsektor

erklärenden Phänomen verbunden ist. In diesem Kasten werden all jene Ursachen von Niedriglohnbeschäftigung gesammelt, die nicht im Kontext des Wohlfahrtsstaates stehen, aber in der einschlägigen wirtschafts- und sozialwissenschaftlichen Literatur als theoretisch begründete Einflussfaktoren diskutiert werden. Diese Erklärungsfaktoren befinden sich auf unterschiedlichen systemischen Ebenen (Mikro-, Meso- und Makroebene). Auf institutioneller Ebene stellen insbesondere die Institutionen der industriellen Beziehungen ein konkurrierendes Bündel von Erklärungsfaktoren dar. Durch die Berücksichtigung nicht-wohlfahrtsstaatlicher Einflussfaktoren wird einerseits der grundsätzlichen Multikausalität struktureller Arbeitsmarktergebnisse Rechnung getragen. Andererseits verringern die Kontrollvariablen das Risiko, die Bedeutung staatlicher Arbeitsmarktinstitutionen für die Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung zu überschätzen. Aus dem theoretischen Grundargument leiten sich unmittelbar die zwei forschungsleitenden Hypothesen ab. Die erste Hypothese bezieht sich auf die politökonomischen Wurzeln dieser Forschungsarbeit. Sie lautet: (H1) Staatliche Arbeitsmarktinstitutionen beeinflussen die Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung in entwickelten Volkswirtschaften. Diese Hypothese basiert auf einer zentrale Annahme der Vergleichenden Politischen Ökonomie. Sie besagt, dass Institutionen mikro- und makroökonomische Outcomes eines Landes beeinflussen, indem sie einen Rahmen aus verbindlichen Regeln, Rechten und Pflichten setzten, der die Interaktion der Wirtschaftssubjekte strukturiert (North 1990). Die Übertragung dieser allgemeinen Annahme auf den spezifischen Kontext des Arbeitsmarktes impliziert, dass die Funktionsweise und die Ergebnisse des Arbeitsmarktes durch eine Reihe formeller Arbeitsmarktinstitutionen verändert werden. Formelle Arbeitsmarktinstitutionen können zum einen durch den Staat (staatliche Arbeitsmarktinstitutionen) und zum anderen durch Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände (Institutionen der industriellen Beziehungen) implementiert werden (Saint-Paul 1996, 2000). Die zweite Hypothese bezieht sich auf die Verortung dieses Buches im Kontext der Vergleichenden Wohlfahrtsstaatsforschung. Die Hypothese lautet: (H2) Die Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung unterscheidet sich zwischen unterschiedlichen Wohlfahrtsstaatstypen.

1.1 Theoretisches Grundargument und konzeptioneller Analyserahmen

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Diese Hypothese leitet sich aus Theorien und Typologien der vergleichenden Wohlfahrtsstaatsforschung ab. Da der Wohlfahrtsstaat die zentrale Instanz zur Konstitution und Gestaltung sozialer Beziehungsmuster in modernen Industriegesellschaften darstellt, setzt das wohlfahrtsstaatliche Institutionengefüge auch die wesentlichen Spielregeln für die Interaktion der Arbeitsmarktakteure. Folglich verändert der Wohlfahrtsstaat das Machtverhältnis zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern und beeinflusst dadurch auch strukturelle Arbeitsmarktergebnisse (Esping-Andersen 1990: 23; Korpi 1983: 18-20, 197f.). Allerdings unterscheiden sich sowohl die arbeitsmarktbezogenen Spielregeln als auch die daraus entstehenden Strukturierungseffekte zwischen verschiedenen Wohlfahrtsstaatstypen. Die Vergleichende Wohlfahrtsstaatsforschung hat verschiedene Wohlfahrtsstaatstypologien hervorgebracht (z.B. Esping-Andersen 1990, Ferrera 1996, Bonoli 1997). Diese Typologien identifizieren jeweils drei bis fünf Wohlfahrtsstaatstypen, die sich hinsichtlich ihrer normativen und regulativen Leitideen sowie ihren grundlegenden Mustern der Ausgestaltung wohlfahrtsstaatlicher Institutionen unterscheiden. Aufgrund ideeller und institutioneller Spezifika gehen von den Wohlfahrtsstaatstypen unterschiedliche soziale Strukturierungseffekte aus, die sich wiederum in unterschiedlichen strukturellen Outcomes wiederspiegeln (Arts/Gelissen 2006). Die am häufigsten rezipierte Wohlfahrtsstaatstypologie stammt von EspingAndersen. Er differenziert zwischen drei idealtypischen Wohlfahrtsstaaten: dem liberalen, dem konservativen und dem sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaatstypus (Esping-Andersen 1990). Allerdings umfasst weder Esping-Andersens Typologie noch eine andere Wohlfahrtsstaatstypologie ausreichend Länder, um alle entwickelten Volkswirtschaften einem Wohlfahrtsstaatstypus zuordnen zu können. Aus diesem Grund kombiniert dieses Buch Wohlfahrtsstaatstypen unterschiedlicher Typologien. Mit der Erweiterung von Esping-Andersens dreigliedriger Typologie um den mediterranen Typus (Ferrera 1996; Gal 2010) und den mittelosteuropäischen Typus (Cook 2010), können alle entwickelten Volkswirtschaften näherungsweise einem der fünf Wohlfahrtsstaatstypen zugeord6 net werden, so dass fünf realtypische Wohlfahrtsstaatscluster entstehen. 6

Die Vorgehensweise Wohlfahrtsstaatstypen unterschiedlicher Typologien zu kombinieren, um alle Analyseeinheiten (Länder) einem Typus zuordnen zu können, ist in der empirischen Wohlfahrtsstaatsforschung gängige Forschungspraxis (siehe zum Beispiel Oorschot 2006).

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1 Eine politökonomische Perspektive auf den Niedriglohnsektor

In Abbildung 1.3 wird die wohlfahrtsstaatstypenspezifische Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung im Jahr 2010 anhand eines Boxplot-Diagramms dargestellt. Der Vergleich der einzelnen Boxplots liefert einen ersten Hinweis auf die empirische Relevanz der zweiten Hypothese, da typen- bzw. clusterspezifische Ähnlichkeiten der Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung zu beobachten sind. Der Vergleich der Position der Mediane im Boxplot-Diagramm zeigt einerseits, dass einige Wohlfahrtsstaatscluster deutliche Unterschiede in ihrer Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung aufweisen. Andererseits zeigt die Streuung der Merkmalsausprägungen innerhalb der einzelnen Boxplots, dass die fünf Wohlfahrtsstaatscluster einen unterschiedlichen Homogenitätsgrad hinsichtlich ihrer Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung besitzen.

Abbildung 1.3: Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung nach Wohlfahrtstaatstypen

Anhand der Streuung der mittleren 50% der Daten sowie der Spannweite zwischen der minimalen und der maximalen Merkmalsausprägung wird deutlich, dass der sozialdemokratische Wohlfahrtsstaatstypus die höchste Prägekraft für die Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung hat. Obschon auch im konservativen Wohlfahrtsstaatscluster die Streuung innerhalb der Box vergleichsweise gering ist, besitzt der konservative Wohlfahrtsstaatstypus insgesamt die ge-

1.2 Forschungslücke und Relevanz

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ringste Prägekraft für die Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung. Diese Feststellung beruht auf der Beobachtung, dass das konservative Wohlfahrtsstaatscluster erstens die größte Spannweite zwischen der minimalen und der maximalen Merkmalsausprägung aufweist, zweitens die meisten Ausreißer zeigt, drittens das einzige Cluster mit Ausreißern an beiden Enden der Verteilung ist und viertens mit Deutschland den extremsten aller Ausreißer besitzt. Die geringe Prägekraft des konservativen Wohlfahrtsstaatstypus stellt aus theoretischer Perspektive ein Puzzle dar, das dieses Buch untersuchen wird. 1.2 Forschungslücke und Relevanz An sich ist Niedriglohnbeschäftigung kein untererforschtes Arbeitsmarktphänomen. So findet zum Beispiel der Social Sciences Citation Index (SSCI) für den Zeitraum von 1980 bis Juni 2018 insgesamt 232 Journal-Artikel, die den Suchbegriff “low wage” oder „low pay“ im Titel tragen. Die Aufteilung dieser Artikel nach Forschungsbereichen in Abbildung 1.4 zeigt, dass der Großteil der Veröffentlichungen zum Thema Niedriglohnbeschäftigung aus dem Bereich der Wirtschaftswissenschaften stammt. Auch die zwei eng miteinander verknüpften Forschungsbereiche der industriellen Beziehungen und Soziologie weisen relativ viele Artikel zum Thema Niedriglohnbeschäftigung auf. Der SSCI verortet allerdings nur zehn Artikel zum Thema Niedriglohnbeschäftigung in der Politikwissenschaft. Die inhaltliche Analyse der vom SSCI aufgelisteten Artikel offenbart, dass das Phänomen der Niedriglohnbeschäftigung in sehr unterschiedlichen Forschungs7 kontexten untersucht wird. In den Wirtschaftswissenschaften wird Niedriglohnbeschäftigung in so vielfältigen thematischen Zusammenhängen untersucht, dass an dieser Stelle nur kursorisch einige der besonders intensiv beforschten Themenkomplexe genannt werden können: Zahlreiche Studien richten ihr Forschungsinteresse auf den Dreiklang zwischen Niedriglohnbeschäftigung, der Existenz bzw. Höhe von Mindestlöhnen und Arbeitslosigkeit sowie die so genannte „Low-Pay/ No-Pay“ Falle (Fok et al. 2015; Machin et al. 2003; Stewart 2004, 2007; Wolfson/Belman 2003). Des Weiteren ist der Themenkomplex 7

Abbildung 1.4 listet ausschließlich Fachbereiche auf, die gemäß des SSCI mindestens fünf Artikeln zum Thema Niedriglohnbeschäftigung aufweisen. Die Summe der pro Forschungsbereich angegebenen Anzahl von Artikeln übersteigt die Gesamtzahl der Artikel zum Thema Niedriglohnbeschäftigung von insgesamt 232 Artikeln deutlich. Der Grund hierfür besteht darin, dass der SSCI viele Artikel mehreren Forschungsbereichen zuweist.

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1 Eine politökonomische Perspektive auf den Niedriglohnsektor

internationaler Handel bzw. internationaler Wettbewerb und Niedriglohnbeschäftigung ein häufig untersuchter Forschungsgegenstand (Bernard et al. 2006; Heintz 2006; Konings/Murphy 2006). Auch die Aufwärtsmobilität von Niedriglohnbeschäftigten sowie die Struktur und Entwicklung des Niedriglohnsektors werden in unterschiedlichen Artikeln analysiert (Cappellari 2002; Sloane/Theodossiou 1996; Stewart/Swaffield 1999). Economics Industrial Relations Labor Sociology Public Environmental Occupational Health Social Sciences Mathematical Methods Management Statistics Probability Social Issues Political Science Law Urban Studies Geography Environmental Studies Womens Studies Health Policy Services Social Sciences Interdisciplinary Area Studies Social Work Health Care Sciences Services 0

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20

30

40

50

60

70

80

90

Anzahl der Artikel

Abbildung 1.4: Journal-Artikel zum Thema Niedriglohnbeschäftigung nach Forschungsbereichen

In dem Forschungsbereich der industriellen Beziehungen und in der Soziologie richtet sich das Forschungsinteresse häufig auf die Analyse der Arbeitsbedingungen in Branchen, die durch einen hohen Anteil an Niedriglohnempfängern gekennzeichnet sind (Berg/Frost 2005; Dube/Kaplan 2010; Klaveren et al. 2009). Auch Studien über die sozio-ökonomische Zusammensetzung spezifischer Branchen innerhalb des Niedriglohnsektors und insbesondere dessen GenderDimension sind zahlreich vertreten (Killewald/Bearak 2014; Pager et al. 2009; Pavlopoulos/Fouarge 2010; Robson et al. 1999). Neben diesen eher explorativen oder deskriptiven Arbeiten beschäftigen sich zahlreiche Artikel mit den Ursachen von Niedriglohnbeschäftigung. Dabei fokussieren sie zwar primär

1.2 Forschungslücke und Relevanz

15

Institutionen der industriellen Beziehungen, aber auch staatliche Arbeitsmarktinstitutionen (insbesondere der Mindestlohn) werden mitunter in die Analysen integriert (Bazen/Benhayoun 1992; Bosch 2009; Grimshaw 2009; Lee/Sobeck 2012). Der Zusammenhang zwischen Gewerkschaften und Niedriglohnbeschäftigung stellt in diesem Kontext einen besonders häufig adressierten Themenkomplex dar (Cleveland et al. 2003; Dell‘Aringa/Lucifora 1994; Donohue/Heywood 2000). Die thematischen Schwerpunkte der zehn politikwissenschaftlichen Artikel sind sehr heterogen. Drei Artikel weisen allerdings darin eine Gemeinsamkeit auf, dass sie im Kern der Frage nachgehen, inwiefern die Politik durch spezifische Institutionen oder Instrumente die Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung in einer bestimmten Branche oder einem bestimmten Land beeinflussen kann (Arnold/Hartman 2006; Hout 1997; Lerman et al. 2014). Weder in den vom SSCI erfassten Studien zum Thema Niedriglohnbeschäftigung, noch in den zahlreichen anderen Artikeln, Monographien oder Sammelbandbeiträgen, die sich mit diesem Arbeitsmarktphänomen beschäftigen, wird systematisch und ländervergleichend der Einfluss des Staates auf die Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung untersucht. Dieses Versäumnis ist umso gravierender, als dass in allen entwickelten Volkswirtschaften staatliche Arbeitsmarktinstitutionen die institutionellen Rahmenbedingungen für die Interaktion der Arbeitsmarktakteure setzten und somit einen erheblichen Einfluss auf strukturelle Arbeitsmarktergebnisse wie die Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung ausüben (Saint-Paul 1996, 2000). Mit dem vorliegenden Buch wird diese Forschungslücke geschlossen, denn es bietet erstmalig eine systematische theoretische und empirische Aufarbeitung über den Einfluss des Staates auf die Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung. Neben der Vernachlässigung der Rolle des Staates weist die einschlägige Literatur auch einen blinden Fleck hinsichtlich der Verknüpfung des Phänomens der Niedriglohnbeschäftigung mit unterschiedlichen Modellen von Wohlfahrtsstaatlichkeit auf. Dieses Versäumnis ist insofern problematisch, als dass zahlreiche Ursachen der Niedriglohnbeschäftigung wohlfahrtsstaatliche Institutionen sind und ihre Ausgestaltung dementsprechend eine wohlfahrtsstaatstypenspezifische Varianz aufweisen sollte. Lohmann 2007 sowie Andreß und Lohmann 2008 stellen die einzige Ausnahme von dieser Beobachtung dar. Diese Autoren berücksichtigen die Dimension des Wohlfahrtsstaates in ihrer Arbeit, indem sie die

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1 Eine politökonomische Perspektive auf den Niedriglohnsektor

Zugehörigkeit der Länder zu unterschiedlichen Wohlfahrtsstaatstypen als Erklärungsfaktor aufnehmen. Allerdings beschäftigen sich Andreß und Lohmann mit Erwerbsarmut (Working-Poor), einem Phänomen, das zwar mit Niedriglohnbeschäftigung zusammenhängen kann, aber konzeptionell ein anderes Phänomen 8 erfasst. Dennoch sind beide Studien hier erwähnenswert, da sie ein der Niedriglohnbeschäftigung verwandtes Phänomen in Beziehung zu Wohlfahrtsstaatstypen setzten und somit die Relevanz und den potenziellen Erklärungsgehalt dieser Ordnungskategorie unterstreichen. Insgesamt schließt die vorliegende Arbeit zwei Forschungslücken: Erstens ergänzt sie den Forschungsstand zu den Ursachen von Niedriglohnbeschäftigung um eine politikökonomische Perspektive und die damit verbundene systematische Untersuchung des Einflusses staatlicher Arbeitsmarktinstitutionen auf die Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung. Zweitens verknüpft sie das Phänomen der Niedriglohnbeschäftigung mit Konzepten und Typologien der Vergleichenden Wohlfahrtsstaatsforschung. Durch diese Vorgehensweise entwickelt die vorliegende Arbeit einen (wohlfahrts-)staats-zentrierten Erklärungsansatz für die Ursachen der Varianz von Niedriglohnbeschäftigung in entwickelten Volkswirtschaften. Neben dem Schließen dieser zwei Forschungslücken beinhaltet die Arbeit weitere Elemente, die ihre wissenschaftliche Relevanz begründen. Erstens wird der Forschungsstand zu den Ursachen der Niedriglohnbeschäftigung disziplinübergreifend und strukturiert aufgearbeitet. Dabei richtet sich der Fokus insbesondere auf die Darstellung der theoretisch zu erwartenden UrsacheWirkungsmechanismen zwischen den Erklärungsfaktoren und der Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung. Zweitens überprüft die quantitative Untersuchung der Ursachen von Niedriglohnbeschäftigung nicht nur eine höhere Anzahl konkurrierender Erklärungsfaktoren als andere empirischen Studien, sondern umfasst darüber hinaus auch eine größere Anzahl an Ländern. Folglich haben die Analyseergebnisse dieser Arbeit eine größere Reichweite als Studien mit geringerer Fallzahl. Drittens sind sowohl das theoretische Grundargument als auch der konzeptionelle Analyserahmen grundsätzlich auf andere strukturelle Arbeitsmarktphänomene übertragbar. Damit leistet dieses Buch auch einen

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Von Erwerbsarmut betroffen sind Personen, die trotz Erwerbstätigkeit in einem Haushalt unterhalb der Armutsgrenze leben. Somit ist Erwerbsarmut kein genuines Arbeitsmarktphänomen, sondern hängt auch stark vom Haushaltkontext der Erwerbstätigen ab.

1.3 Methodisches Vorgehen und Forschungsergebnisse

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theorieentwickelnden Beitrag, der über das Forschungsobjekt der Niedriglohnbeschäftigung hinausgeht. Unter den gesellschaftlich-strukturellen Rahmenbedingungen einer Lohnarbeitsgesellschaft stellt die Lohnhöhe nicht nur ein wichtiges Kriterium für die Qualität der Arbeit dar, sondern bildet auch einen wesentlichen Bestimmungsfaktor für die materielle Wohlfahrt der Menschen (Barr 1998). Folglich kann Niedriglohnbeschäftigung sowohl für die betroffenen Arbeitnehmer als auch für das Gemeinwesen insgesamt problematische Konsequenzen haben (Appelbaum et al. 2005; Bosch 2012; Visser/Meléndez 2015). Die gesellschaftliche Relevanz dieses Forschungsbeitrags ergibt sich somit aus der Untersuchung eines Arbeitsmarktphänomens, das aus Perspektive der sozialen Sicherheit ein Problem darstellt. Darüber hinaus unterstreicht der politökonomische Erklärungsansatz, dass es sich bei der Größe des Niedriglohnsektors nicht um ein Naturereignis handelt, sondern dass der Gesetzgeber durch die Ausgestaltung staatlicher Arbeitsmarktinstitutionen Einfluss auf dieses strukturelle Arbeitsmarktphänomen ausüben kann. Die Hervorhebung der Tatsache, dass die Größe des Niedriglohnsektors auch ein Produkt politischer Entscheidungen ist, vergegenwärtigt den politischen Handlungsspielraum Niedriglohnbeschäftigung entweder zu fördern oder einzuschränken. 1.3 Methodisches Vorgehen und Forschungsergebnisse Der konzeptionelle Analyserahmen in Abbildung 1.2 illustriert, dass die Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung die abhängige Variable dieser Forschungsarbeit darstellt während staatliche Arbeitsmarktinstitutionen das fokussierte Bündel unabhängiger Variablen bzw. die Testvariablen sind. Die Ordnungskategorie der Wohlfahrtsstaatstypen dient als Gruppierungsvariable anhand derer alle entwickelten Volkswirtschaften in Cluster gruppiert werden können, um wohlfahrtsstaatstypenspezifische Einflüsse auf die Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung zu untersuchen. Aufgrund des theoretisch motivierten Fokus auf die Erklärungskraft staatlicher Arbeitsmarktinstitutionen, folgt die Arbeit einem typischen X-zentrierten Forschungsdesign (Gschwend/Schimmelfennig 2007: 21-24). Trotzdem das Hauptaugenmerk auf dieser spezifischen Gruppe von Testvariablen liegt, werden auch andere theoretisch begründete Erklärungsfaktoren als Kontrollvariablen in den empirischen Analysen berücksichtigt. Die Berücksichtigung von Kontrollvariab-

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1 Eine politökonomische Perspektive auf den Niedriglohnsektor

len trägt einerseits der Multikausalität struktureller Arbeitsmarktphänomene Rechnung und verhindert andererseits den relativen Einfluss staatlicher Arbeitsmarktinstitutionen auf die Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung zu überschätzen. Alle 36 Länder, die von der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) als entwickelten Volkswirtschaften klassifiziert werden, begründen das zu untersuchende Falluniversum. Da das Forschungsinteresse auf der systemischen Ebene des Nationalstaats angesiedelt ist, sind Länder die Untersuchungseinheit und jedes einzelne Land ist Träger der Merkmalsausprägungen der interessierenden Variablen. Dementsprechend müssen alle unabhängigen Variablen anhand von Makroindikatoren bzw. länderspezifischen Aggregatdaten operationalisiert werden. Da Länder die Untersuchungseinheit darstellen, eine mittlere Anzahl von Fällen untersucht wird, alle Variablen quantitativ operationalisiert werden und unterschiedliche statistische Methoden zur empirischen Untersuchung der Forschungsfrage Anwendung finden, ist diese Arbeit in der methodologischen Tradition der makro-quantitativ vergleichenden Forschung verortet (Jahn 2006). Zur Untersuchung des theoretischen Grundarguments und Überprüfung der forschungsleitenden Hypothesen werden alle Kästen und Verbindungselemente des konzeptionellen Analyserahmens in Abbildung 1.2 adressiert. Ein wesentliches Strukturmerkmal dieses Buches besteht somit darin, dass jedes Kapitel explizit bestimmte Elemente des konzeptionellen Analyserahmens entweder aus theoretischer oder aus empirischer Perspektive untersucht. Kapitel II Im Mittelpunkt des zweiten Kapitels stehen die Konzeptspezifikation des zu erklärenden Phänomens (Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung) und der Gruppierungsvariable (Wohlfahrtsstaatstypen). Den Abschluss bildet die theoretische Begründung des Zusammenhangs zwischen Niedriglohnbeschäftigung und Wohlfahrtsstaatstypen. Neben der Definition und der Operationalisierung von Niedriglohnbeschäftigung diskutiert Kapitel 2.1 auch die normative Ambivalenz dieses lohnstrukturellen Arbeitsmarktergebnisses. Im Gegensatz zu anderen strukturellen Arbeitsmarktergebnissen (wie z.B. dem Niveau der Arbeitslosigkeit), besteht weder in der Wissenschaft noch in der politischen Debatte ein Konsens, ob Niedriglohnbeschäftigung als positives oder negatives Arbeitsmarktphänomen zu bewerten ist. Aus diesem Grund kann auch keine universelle Erwartung darüber formuliert werden, ob politische Entscheidungsträger die

1.3 Methodisches Vorgehen und Forschungsergebnisse

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Verbreitung niedrig entlohnter Beschäftigungsverhältnisse fördern oder begrenzen. Die deskriptiven Befunde in Kapitel 2.1 weisend darauf hin, dass die sozio-demografische und beschäftigungsstrukturelle Zusammensetzung des Niedriglohnsektors, unabhängig von seiner Größe, länderübergreifend starke Ähnlichkeiten aufweist. Kapitel 2.2 reflektiert zunächst unterschiedliche Konzeptionen des Wohlfahrtsstaates und begründet, weshalb in diesem Buch ein weites Wohlfahrtsstaatsverständnis verwendet wird. Das weite Wohlfahrtsstaatsverständnis betrachtet alle staatlichen Arbeitsmarktinstitutionen als Teil des wohlfahrtsstaatlichen Institutionengefüges. Anschließend wird das konzeptionelle Verhältnis zwischen ideal- und realtypischen Wohlfahrtsstaaten erklärt und das theoretische Fundament der Wechselbeziehung zwischen wohlfahrtsstaatlichen Leitideen und der Ausgestaltung wohlfahrtsstaatlicher Institutionen erörtert. Vor diesem Hintergrund werden die ideellen und institutionellen Charakteristika des sozialdemokratischen, konservativen, mediterranen, mittelosteuropäischen und liberalen Wohlfahrtsstaatstypus beschrieben sowie die Zuordnung entwickelter Volkswirtschaften in realtypische Wohlfahrtsstaatscluster diskutiert. Kapitel 2.3 synthetisiert das Konzept des Wohlfahrtsstaates mit dem Phänomen der Niedriglohnbeschäftigung. Zu diesem Zweck wird zunächst der grundsätzliche Zusammenhang zwischen Wohlfahrtsstaat und Arbeitsmarkt erörtert. Anschließend werden idealtypenbasierte Erwartungen über die Verbreitung von Niedriglohbeschäftigung in realtypischen Wohlfahrtsstaaten gebildet. Somit spezifizieren die idealtypenbasierten Erwartungen die zweite Hypothese (H2) und dienen als theoretisch fundierter Vergleichsmaßstab für die empirische Untersuchung des Zusammenhangs zwischen Wohlfahrtsstaatstypen und der Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung. Kapitel III Das dritte Kapitel verbindet einen multidisziplinären Überblick über theoretisch fundierte Ursachen von Niedriglohnbeschäftigung mit deren quantitativer Operationalisierung. Unabhängig von ihrem disziplinären Ursprung, strukturiert das dritte Kapitel alle Erklärungsfaktoren entsprechend ihrer systemischen Verortung auf der Mikro-, Meso- oder Makroebene. Zu den akteursspezifischen Erklärungsfaktoren gehören Merkmale der Arbeitnehmer (wie z.B. die Humankapitalausstattung) sowie Merkmale der Arbeitgeber (wie z.B. die Wettbewerbsstrategie). Zu den institutionellen Erklärungsfaktoren gehören sowohl die von die-

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1 Eine politökonomische Perspektive auf den Niedriglohnsektor

sem Buch fokussierten Testvariablen (d.h. die staatlichen Arbeitsmarktinstitutionen) als auch zahlreiche theoretisch begründete institutionelle Kontrollvariablen. Einige dieser institutionellen Kontrollvariablen sind ebenfalls wohlfahrtsstaatliche Institutionen (wie z.B. staatliche Kinderbetreuung). Die Mehrzahl der institutionellen Kontrollvariablen gehört jedoch zu den Institutionen der industriellen Beziehungen (z.B. Tarifbindung oder Gewerkschaftsdichte). Zu den strukturellen Erklärungsfaktoren gehören zum Beispiel die makroökonomischen Rahmenbedingungen (Arbeitslosenquote und Wirtschaftswachstum) oder auch der Wettbewerbsdruck durch internationalen Handel. Für jede Prädiktorvariable wird der theoretisch erwartete Ursache-Wirkungs-Mechanismus beschrieben, so dass begründete Erwartungen über ihre Wirkungsrichtung auf die abhängige Variable gebildet werden können. Aus diesem Grund wird auch explizit herausgearbeitet, auf welcher Marktseite ein Erklärungsfaktor seine Wirkung entfaltet, d.h. ob er sich auf das Angebot und/ oder die Nachfrage nach Niedriglohnbeschäftigung auswirkt. Obwohl diese Forschungsarbeit grundsätzlich einem X-zentrierten Forschungsdesign folgt, hat das dritte Kapitel einen Y-zentrierten Charakter. Die YZentriertheit erklärt sich aus der Funktion des dritten Kapitels im Gesamtgefüge der Arbeit. Diese Funktion besteht darin, alle konkurrierenden Ursachen von Niedriglohnbeschäftigung, d.h. sowohl die Test- als auch die Kontrollvariablen, zu sammeln und ihren theoretisch begründeten Wirkungszusammenhang mit der abhängigen Variable zu erörtert. Kapitel IV Das vierte Kapitel untersucht die empirische Erklärungskraft aller im dritten Kapitel diskutierten Ursachen von Niedriglohnbeschäftigung. Mittels makroquantitativer Analysen werden Richtung, Stärke und Robustheit des Einflusses der Test- und Kontrollvariablen auf die abhängige Variable überprüft. Ein wesentliches Erkenntnisinteresse richtet sich dabei auf die Bestimmung der Erklärungskraft staatlicher Arbeitsmarktinstitutionen in Relation zu anderen Erklärungsfaktoren. Aus Gründen der Verfügbarkeit vergleichbarer Daten für die abhängige Variable werden die Jahre 2006 und 2010 als Untersuchungsjahre gewählt. Durch eine Between-Transformation der Daten entsteht ein Querschnittsdatensatz, der für jede Variable das arithmetische Mittel ihrer länderspezifischen Merkmalsausprägung in den Jahren 2006 und 2010 abbildet. Der

1.3 Methodisches Vorgehen und Forschungsergebnisse

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between-transformierte Datensatz dient als Grundlage aller quantitativen Analysen des vierten Kapitels. In Kapitel 4.1 werden mittels linearer Einfachregressionen die Stärke und die Richtung des Einflusses der Erklärungsfaktoren auf die abhängige Variable untersucht. Im Rahmen dieser bivariaten Analysen zeigen 60% der Prädiktorvariablen einen signifikanten Zusammenhang mit der Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung. Bei fast allen signifikanten Erklärungsfaktoren stimmt die empirische Wirkungsrichtung mit den theoretischen Erwartungen überein. Von allen unabhängigen Variablen hat eine Institution der industriellen Beziehungen, nämlich die Tarifbindung, die größte Varianzaufklärung für die abhängige Variable. Allerdings weisen auch zahlreiche staatliche Arbeitsmarktinstitutionen einen signifikanten Zusammenhang mit der Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung auf. Um die relative Erklärungskraft der verschiedenen Ursachen von Niedriglohnbeschäftigung bestimmen zu können, bedarf es multipler Regressionsanalysen. Da dieses Buch auf Grund der begrenzten Datenverfügbarkeit für die abhängige Variable jedoch mit einem klassischen „viele Variablen – kleines N“ – Dilemma konfrontiert ist, muss zuvor die Anzahl unabhängiger Variablen reduziert werden. Zu diesem Zweck werden in Kapitel 4.2 Hauptkomponentenanalysen berechnet. Diese Methode erlaubt die Vielzahl unabhängiger Variablen durch eine deutlich geringere Anzahl synthetischer, aber inhaltlich interpretierbarer, Hintergrundvariablen zu ersetzen. Insgesamt werden zwölf Hauptkomponenten identifiziert, die dann in Kapitel 4.3 als unabhängige Variablen für die Berechnung multipler Regressionsanalysen dienen. Diese Analysen zeigen, dass sich die Erklärungskraft der unabhängigen Variablen bei Kontrolle für alternative Erklärungsfaktoren deutlich zu Gunsten der staatlichen Arbeitsmarktinstitutionen verschiebt. Insbesondere jene Hauptkomponente, die die Regulierungsstrenge regulärer und atypischer Beschäftigungsverhältnisse sowie die Intensität der Allgemeinverbindlichkeitserklärung von Tarifverträgen synthetisiert, zeigt in allen multiplen Regressionsmodellen einen starken negativen Einfluss auf die Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung. Dahingegen nimmt die Erklärungskraft der Institutionen der industriellen Beziehungen drastisch ab, wenn für alternative Erklärungsfaktoren kontrolliert wird. Somit bestätigen die Analyseergebnisse des vierten Kapitels die erste Hypothese (H1), denn zahlreiche staatliche Arbeitsmarktinstitutionen üben auch unter Berücksichtigung von

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1 Eine politökonomische Perspektive auf den Niedriglohnsektor

Kontrollvariablen einen signifikanten Einfluss auf die Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung aus. Kapitel V Das fünfte Kapitel wendet sich der Dimension des Wohlfahrtsstaates zu. Das Erkenntnisinteresse richtet sich auf die Fragen, ob und wenn ja, warum die Zugehörigkeit entwickelter Volkswirtschaften zu unterschiedlichen Wohlfahrtsstaatstypen einen Erklärungsgehalt für die Varianz der Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung besitzt. Gemäß des theoretischen Grundarguments verursacht der institutionell vermittelte Einfluss wohlfahrtsstaatlicher Leitideen eine wohlfahrtsstaatstypenspezifische Varianz der Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung. Der Aufbau des fünften Kapitels folgt dem Prinzip, zunehmend detailliert die Ursachen des Zusammenhangs zwischen Wohlfahrtsstaatstypen und der Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung zu untersuchen. In Kapitel 5.1 wird der Zusammenhang zwischen den realtypischen Wohlfahrtsstaatsclustern und der Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung anhand von linearen Regressionsanalysen untersucht. Die Analyseergebnisse zeigen, dass die Gruppierung der Länder nach Wohlfahrtsstaatstypen eine hohe Erklärungskraft für die Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung besitzt. In der anschließenden einfaktoriellen Varianzanalyse wird deutlich, dass mit zunehmenden ideellen Differenzen auch signifikante Unterschiede in der mittleren Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung zwischen den Wohlfahrtsstaatstypen zu beobachten sind. Auf Grundlage dieser Befunde lässt sich die zweite Hypothese (H2) mit geringfügigen Einschränkungen bestätigen. Kapitel 5.2 und 5.3 öffnen die „Black-Box“ der Wohlfahrtsstaatstypen. Die Analysen der zwei Kapitel stehen zueinander im Verhältnis einer notwendigen und einer hinreichenden Bedingung für die Prägekraft wohlfahrtsstaatstypenspezifischer Leitideen auf die Ausgestaltung staatlicher Arbeitsmarktinstitutionen. Die notwendige Bedingung bezieht sich auf die Ebene des staatlichen Arbeitsmarktregimes; d.h. die Gesamtheit staatlicher Arbeitsmarktinstitutionen. Sie besagt, dass Kongruenz zwischen der länderspezifischen Zusammensetzung realtypischer Wohlfahrtsstaatscluster und empirisch beobachtbarer Cluster staatlicher Arbeitsmarktregime bestehen muss. Kapitel 5.2 überprüft die notwendige Bedingung anhand einer hierarchisch-agglomerativen Clusteranalyse. Die Analyseergebnisse zeigen, dass die notwendige Bedingung approximativ erfüllt ist. Obwohl kein exaktes Entsprechungsverhältnisses zwischen den realtypischen

1.3 Methodisches Vorgehen und Forschungsergebnisse

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Wohlfahrtsstaatsclustern und den Clustern staatlicher Arbeitsmarktregime existiert, zeichnet sich die Zusammensetzung der Cluster staatlicher Arbeitsmarktregime dadurch aus, dass sich Länder eines Wohlfahrtsstaatstypus tendenziell in einem Cluster befinden. Darüber hinaus besteht die Tendenz, dass sich Wohlfahrtsstaatstypen mit ähnlichen normativen und regulativen Leitideen in einem Cluster staatlicher Arbeitsmarktregime befinden, wohingegen Wohlfahrtsstaatstypen mit großen ideellen Unterschieden niemals in einem Cluster vereinigt sind. Der konservative Wohlfahrtsstaatstypus stellt allerdings eine deutliche Ausnahme von diesen Tendenzen dar, denn konservative Wohlfahrtsstaaten streuen über alle Cluster staatlicher Arbeitsmarktregime. Die hinreichende Bedingung bezieht sich auf die Ebene einzelner staatlicher Arbeitsmarktinstitutionen. Sie besagt, dass die Ausgestaltung staatlicher Arbeitsmarktinstitutionen innerhalb eines realtypischen Wohlfahrtsstaatsclusters die idealtypischen normativen und regulativen Leitideen spiegeln muss. Kapitel 5.3 überprüft die hinreichende Bedingung, indem zunächst idealtypenbasierte Hypothesen über die wohlfahrtsstaatstypenspezifische Ausgestaltung staatlicher Arbeitsmarktinstitutionen formuliert werden. Diese Hypothesen werden dann mit Hilfe des Vergleichs von clusterspezifischen Lage- und Streuungsparametern sowie Varianzanalysen überprüft. Die Analyseergebnisse weisen darauf hin, dass idealtypische Leitideen eine relativ gute Prognosekraft für die realtypische Ausgestaltung staatlicher Arbeitsmarktinstitutionen besitzen. Zwei Drittel der Hypothesen über die wohlfahrtsstaatstypenspezifische Ausgestaltung staatlicher Arbeitsmarktinstitutionen stimmen entweder exakt oder mit leichten Abweichungen mit den institutionellen Merkmalsausprägungen der realtypischen Wohlfahrtsstaatscluster überein. Entsprechend den theoretischen Erwartungen weisen Wohlfahrtstaatstypen mit großen ideellen Differenzen deutlich häufiger signifikante institutionelle Unterschiede auf, als Wohlfahrtsstaatstypen mit geringen ideellen Differenzen. Darüber hinaus können alle Abweichungen von den Hypothesen erklärt werden, wenn sie im Kontext der clusterspezifischen Konfiguration des staatlichen Arbeitsmarktregimes, funktionaler Äquivalente im Bereich der Institutionen der industriellen Beziehungen sowie historischen und makroökonomischen Spezifika analysiert werden. Somit besitzt letztlich kein Wohlfahrtsstaatscluster staatliche Arbeitsmarktinstitutionen, deren institutionelle Abweichungen von den Hypothesen nach Berücksichtigung dieser Faktoren im Widerspruch zu den normativen und regulativen Leitideen stehen.

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1 Eine politökonomische Perspektive auf den Niedriglohnsektor

Mit dem Abschluss von Kapitel 5.3 wurden alle Elemente des konzeptionellen Analyserahmens empirisch untersucht. Vor diesem Hintergrund nimmt Kapitel 5.4 eine zusammenfassende Bewertung der empirischen Evidenz des theoretischen Grundarguments vor. In der Summe bestätigen die empirischen Befunde des vierten und fünften Kapitels das theoretische Grundargument eines institutionell vermittelten Einflusses wohlfahrtsstaatstypenspezifischer Leitideen auf die Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung. Diese Schlussfolgerung basiert insbesondere auf drei Befunden: Erstens kann die Varianz der Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung in beträchtlichem Umfang durch die Gruppierung entwickelter Volkswirtschaften nach unterschiedlichen Wohlfahrtsstaatsmodellen erklärt werden. Zweitens reflektiert das institutionelle Design staatlicher Arbeitsmarktinstitutionen in realtypischen Wohlfahrtsstaatsclustern überwiegend die idealtypischen Leitideen der fünf Wohlfahrtsstaatstypen. Drittens haben staatliche Arbeitsmarktinstitutionen auch bei Kontrolle für alternative Erklärungsfaktoren einen starken Einfluss auf die Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung. Dennoch besitzt das theoretische Grundargument eine unterschiedliche starke Erklärungskraft innerhalb der fünf realtypischen Wohlfahrtsstaatscluster. Insbesondere die konservativen Wohlfahrtsstaaten weisen sowohl hinsichtlich der Größe ihrer Niedriglohnsektoren als auch bei der Konfiguration ihrer staatlichen Arbeitsmarktregime eine irritierend große Heterogenität auf. Kapitel VI Das sechste Kapitel widmet sich dem Puzzle des konservativen Wohlfahrtsstaatsclusters im Allgemeinen und Deutschland als dessen extremsten Ausreißer im Besonderen. Unter Berücksichtigung alternativer Erklärungsfaktoren aus dem Bereich der Institutionen der industriellen Beziehungen richtet sich das Erkenntnisinteresse auf die Frage, inwiefern staatliche Arbeitsmarktinstitutionen die Heterogenität der Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung in konservativen Wohlfahrtsstaaten erklären können und welche Bedeutung institutionelle Abweichungen von idealtypischen konservativen Leitideen haben. Im Rahmen der Logik des Most Similar Systems Design untersucht Kapitel 6.1 mittels deskriptiver Parameter und der Methode des Vergleichs, ob die Varianz der Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung im konservativen Wohlfahrtsstaatscluster eine theoretisch plausible Kovarianz mit der Ausgestaltung bzw. der Konfiguration von Arbeitsmarktinstitutionen zeigt. Die empirischen Befunde

1.3 Methodisches Vorgehen und Forschungsergebnisse

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zeigen, dass sowohl die Ausgestaltung einzelner staatlicher Arbeitsmarktinstitutionen als auch die gesamte Konfiguration der Arbeitsmarktregime eine theoretisch plausible Kovarianz mit länderspezifischen Unterschieden des Anteils der Niedriglohnempfänger aufweisen. Von allen Arbeitsmarktinstitutionen hat das Phänomen des institutionellen Dualismus der Regulierungsstrenge regulärer und atypischer Beschäftigung den stärksten Zusammenhang mit der Varianz von Niedriglohnbeschäftigung in konservativen Wohlfahrtsstaaten. Die größte Erklärungskraft besitzt allerdings die institutionelle Konfiguration der Arbeitsmarktregime. In diesem Zusammenhang erweist sich insbesondere die länderspezifische Anzahl effektiver institutioneller Bremsen für die Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung als erklärungsstarkes Konzept für dieses lohnstrukturelle Arbeitsmarktphänomen. Insgesamt verdeutlichen die Analyseergebnisse aus Kapitel 6.1, dass nicht einzelne, strak von den normativen und regulativen Leitideen abweichende staatliche Arbeitsmarktinstitutionen, sondern das Zusammenspiel der Arbeitsmarktinstitutionen bzw. die institutionelle Konfiguration der Arbeitsmarktregime die starke Heterogenität von Niedriglohnbeschäftigung in konservativen Wohlfahrtsstaaten erklären können. Gemäß der Logik der Fallauswahlmethode des Extremfalls untersucht Kapitel 6.2 den Einfluss von Arbeitsmarktinstitutionen auf die Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung in Deutschland im Zeitraum von 1980 bis 2010. Die Längsschnittstudie über den deutschen Fall ist dadurch motiviert, dass Deutschland innerhalb des konservativen Wohlfahrtsstaatsclusters den größten Niedriglohnsektor aufweist, den extremsten Ausreißer darstellt und die Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung ausreichend zeitliche Varianz aufweist, um die Frage nach den institutionellen Ursachen der Niedriglohnbeschäftigung im Zeitverlauf untersuchen zu können. Die Analyseergebnisse zeigen, dass der institutionelle Wandel mehrerer Arbeitsmarktinstitutionen eine theoretisch plausible Kovarianz mit dem ab 1997 einsetzenden Anstieg der Niedriglohnbeschäftigung aufweist. Dieser institutionelle Wandel zeichnet sich durch eine abnehmende Prägekraft idealtypischer konservativer Leitideen und eine partielle Annäherung an Elemente des liberalen Wohlfahrtsstaatsmodells aus. Dennoch sind weniger extreme Ausprägungen einzelner Arbeitsmarktinstitutionen, sondern vielmehr der Wandel der institutionellen Konfiguration des gesamten deutschen Arbeitsmarktregimes ursächlich für den Anstieg der Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung.

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1 Eine politökonomische Perspektive auf den Niedriglohnsektor

Kapitel VII Das siebte Kapitel resümiert die wesentlichen Forschungsergebnisse dieses Buches, erörtert methodische Begrenzungen und skizziert mögliche Anschlussforschung. Vor diesem Hintergrund wird auch der theoretische und empirische Mehrwert der Kombination einer politökonomischen und einer wohlfahrtsstaatlichen Perspektive zur Erklärung der heterogenen Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung in entwickelten Volkswirtschaften diskutiert. Die hohe Erklärungskraft staatlicher Arbeitsmarktinstitutionen und die weitgehende Prägekraft wohlfahrtsstaatstypenspezifischer Leitideen auf die Ausgestaltung ebendieser Institutionen weisen darauf hin, dass die Kombination dieser zwei Forschungstraditionen einen produktiven Erklärungsansatz darstellen. Entgegen der These der Konvergenz von Wohlfahrtsstaaten wird darüber hinaus deutlich, dass Wohlfahrtsstaatstypen für die Untersuchung von institutionellen und strukturellen Charakteristika von Wohlfahrtsstaaten weiterhin eine empirisch relevante Ordnungskategorie darstellen. Insgesamt präsentiert sich die Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung somit als ein durch staatliche Arbeitsmarktpolitik und wohlfahrtsstaatstypenspezifische Charakteristika geprägtes strukturelles Arbeitsmarktphänomen.

2 Konzeptionelle Grundlagen: Niedriglohnbeschäftigung und Wohlfahrtsstaat Das zweite Kapitel widmet sich der Konzeptspezifikation von Niedriglohnbeschäftigung, Wohlfahrtsstaat und Wohlfahrtsstaatstypen sowie der Hypothesenspezifikation über die Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung in unterschiedlichen Wohlfahrtsstaatstypen. Kapitel 2.1 definiert Niedriglohn, operationalisiert das Konzept und diskutiert die inhaltliche Bedeutung sowie die normative Bewertung des Phänomens der Niedriglohnbeschäftigung. In Kapitel 2.2 richtet sich der Fokus auf das Konzept des Wohlfahrtsstaates, die Beziehung zwischen wohlfahrtsstaatlichen Leitideen und Institutionen, die Charakteristika unterschiedlicher idealtypischer Wohlfahrtsstaaten sowie die Gruppierung entwickelter Volkswirtschaften in realtypische Wohlfahrtsstaatscluster. Kapitel 2.3 synthetisiert die zuvor erörterten Konzepte und bildet idealtypenbasierte Hypothesen über die wohlfahrtsstaatstypenspezifische Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung. Somit untersucht das zweite Kapitel unterschiedliche Elemente des konzeptionellen Analyserahmens aus einer theoretischen bzw. konzeptionellen Perspektive (vgl. Abb. 1.2): Dazu gehören das zu erklärende strukturelle Arbeitsmarktphänomen der Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung, die Wohlfahrtsstaatstypen als Gruppierungsvariable der Untersuchungseinheiten, der Zusammenhang zwischen wohlfahrtsstaatlichen Leitideen und Institutionen (Doppelpfeil 2) sowie der Zusammenhang zwischen der abhängigen Variable und der Gruppierungsvariable (Verbindungslinie 1). 2.1 Niedriglohnbeschäftigung als lohnstrukturelles Arbeitsmarktphänomen Unabhängig davon wie Niedriglohn definiert und operationalisiert wird, ist das Konzept genuin mit der Individualebene verbunden, denn Löhne sind Entgelte, die Individuen für die Zurverfügungstellung ihrer Arbeitskraft erhalten. Wenn dieses Entgelt niedrig ausfällt (wie auch immer „niedrig“ definiert wird), handelt es sich um einen Niedriglohn. Erst durch die Aggregation dieses Individualmerkmals auf kollektiver Ebene und die Inbezugsetzung zu einer übergeordneten Kategorie (wie z.B. allen abhängigen Erwerbstätigen), entsteht ein Indikator, © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 V. Gerstung, Niedriglohnbeschäftigung im Wohlfahrtsstaat, Vergleichende Politikwissenschaft, https://doi.org/10.1007/978-3-658-27640-9_2

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2 Konzeptionelle Grundlagen: Niedriglohnbeschäftigung und Wohlfahrtsstaat

der Niedriglohnbeschäftigung als (lohn-)strukturelles Arbeitsmarktphänomen erfasst und so einer makro-quantitativ vergleichenden Analyse zugänglich macht. Aufgrund des ländervergleichenden Forschungsinteresses, verwendet dieses Buch einen auf Länderebene aggregierten Indikator zur Messung der Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung in entwickelten Volkswirtschaften. Die Operationalisierung des Konzepts des Niedriglohns bezieht sich dennoch auf die Mikroebene. In Kapitel 2.1.1 werden alternative Definitionen und Messkonzepte von Niedriglohnbeschäftigung vorgestellt sowie die normative Ambivalenz des Phänomens der Niedriglohnbeschäftigung diskutiert. Anschließend erörtert Kapitel 2.1.2 die Datenquellen, die zur Messung der abhängigen Variable verwendet werden. Abschließend wird die länderspezifische sozio-demografische und beschäftigungsstrukturelle Zusammensetzung der Niedriglohnsektoren dokumentiert, um die Charakteristika dieses strukturellen Arbeitsmarktphänomens ländervergleichend zu erfassen und etwaige Muster zu identifizieren. 2.1.1 Definition und normative Bewertung des Phänomens der Niedriglohnbeschäftigung In der Wissenschaft existieren unterschiedliche Definitionen und Messkonzepte für das Phänomen der Niedriglohnbeschäftigung. Diese Unterschiede manifestieren sich vor allem in den Fragen, auf welcher empirischen Grundlage Niedriglohnbeschäftigung gemessen wird, anhand welches Vergleichsmaßstabs das Attribut „niedrig“ spezifiziert wird und wie niedrig ein Lohn sein muss, um als Niedriglohn zu gelten (Allmendinger et al. 2005: 111). Übereinstimmung herrscht dahingegen bei der Auffassung, dass der Niedriglohn ein inhärent komparatives Konzept darstellt, denn um einen Lohn als niedrig einzustufen, bedarf es eines Vergleichsmaßstabs. Dieser Maßstab kann sich entweder auf die Lohnverteilung oder ein absolutes Existenzminimum beziehen. Die Auswahl eines relativen oder eines absoluten Vergleichsmaßstabs entscheidet darüber, ob die Untersuchung von Niedriglohnbeschäftigung eher im Forschungskontext der Lohnungleichheit oder der Armutsforschung verortet ist (Lee/Sobeck 2012: 143; Salverda/Mayhew 2009: 129f.).

2.1 Niedriglohnbeschäftigung als lohnstrukturelles Arbeitsmarktphänomen

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Definition von Niedriglohnbeschäftigung Der Vergleich von Studien zu Niedriglohnbeschäftigung zeigt, dass im Wesentlichen drei alternative Operationalisierungen des Konzeptes von Niedriglohn existieren. Erstens kann Niedriglohn als ein bestimmter Anteil der Lohnverteilung, wie z.B. das erste Dezil oder das erste und das zweite Dezil, definiert werden. Diese Operationalisierung ist hilfreich, wenn Merkmale und Differenzen unterschiedlicher Lohnsegmente untersucht werden sollen. Nachteilig ist jedoch zum einen, dass per Definition keine Abbildung des zeitlichen Wandels der Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung möglich ist, weil ein fixer Anteil der Lohnverteilung als Niedriglohnsektor klassifiziert wird. Zum anderen erlaubt diese Definition keinen zwischenstaatlichen Vergleich des Anteils der Niedriglohnbeschäftigten, da der Niedriglohnsektor in allen Ländern per Definition dieselbe Größe hat. Eine zweite Alternative zur Operationalisierung von Niedriglohn besteht darin, eine absolute Niedriglohnschwelle festzulegen, d.h. ein absolutes Lohnniveau, das definiert, ob ein Arbeitsentgelt als Niedriglohn eingestuft wird. Die Bestimmung dieses kritischen Lohnniveaus basiert zumeist auf der Berechnung eines länderspezifischen Warenkorbes von Gütern und Dienstleistungen, die einem Individuum zur Verfügung stehen müssen, um nicht als arm zu gelten. Diese Operationalisierung ist allerdings ebenso ungeeignet für ländervergleichende Analysen wie die erste Alternative, da sich länderspezifische Lebenshaltungskosten unterscheiden und Währungsumrechnungen den Vergleich eines absoluten Lohnsatzes erschweren. Zudem variiert auch die länderspezifische Zusammensetzung der Warenkörbe die notwendig ist, um die Kosten des Lebensunterhalts jenseits der Armut zu bestreiten. Die dritte Alternative stellt zugleich die gebräuchlichste Operationalisierung des Konzeptes von Niedriglohn dar. Hierbei handelt es sich um ein relatives Messkonzept, das im Gegensatz zu den ersten zwei Alternativen auch als Indikator für ländervergleichende Analysen geeignet ist. Das relative Messkonzept bezieht sich auf die aggregierte Lohnverteilung und bestimmt die Niedriglohnschwelle in Relation zu einer bestimmten Position (entweder dem Durchschnitts- oder dem Medianlohn) der Lohnverteilung. Gemäß dieser Operationalisierung liegt ein Niedriglohn dann vor, wenn ein Arbeitnehmer unterhalb dieser Niedriglohnschwelle entlohnt wird. Alle Arbeitnehmer, deren Löhne unterhalb der Niedriglohnschwelle liegen, gelten folglich als Niedriglohnbeschäftigte

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2 Konzeptionelle Grundlagen: Niedriglohnbeschäftigung und Wohlfahrtsstaat

bzw. sind im Niedriglohnsektor tätig. In der Regel wird der Medianlohn als Lagemaß zur Berechnung der Niedriglohnschwelle gegenüber dem Durchschnittslohn bevorzugt, weil der Medianlohn unempfindlich gegenüber Extremwerten am oberen und unteren Ende der Lohnverteilung ist und somit eine höhere Robustheit besitzt (Allmendinger et al. 2005: 111; Grimshaw 2011: 2-7). In den letzten Jahren hat sich die von OECD, ILO und EU verwendete Variante der relativen Operationalisierung von Niedriglohn durchgesetzt. Diese Organisationen setzen die Niedriglohnschwelle bei zwei Dritteln des Medianlohns aller abhängig Erwerbstätigen. Niedriglöhne sind folglich Arbeitsentgelte, die zwei Drittel oder weniger als zwei Drittel des Medianlohns betragen. Trotzdem diese Definition eine dominante Stellung in der Forschung zu Niedriglohnbeschäftigung erlangt hat, sollte nicht vergessen werden, dass es sich bei der Wahl dieses Schwellenwertes um keine objektive Entscheidung handelt. So sind in der wissenschaftlichen Literatur z.B. auch relative Operationalisierungen zu finden, die die Niedriglohnschwelle bei drei Fünfteln oder drei Vierteln des Medianlohns ansetzen. Allerdings haben sich Befunde über die Struktur des Niedriglohnsektors sowie die Entwicklung der Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung als sehr robust gegenüber der Wahl unterschiedlicher relativer Schwellenwerte erwiesen (Grimshaw 2011: 6-11; Jansen 2006: 99; Lucifora et al. 2005: 263f.). Neben der Auswahl einer der drei alternativen Operationalisierungen des Konzeptes von Niedriglohn müssen zwei wesentliche Entscheidungen bezüglich der Messgrundlage getroffen werden. Erstens stellt sich die Frage, ob der Niedriglohn auf Grundlage von Stunden-, Wochen- oder Monatslöhnen berechnet werden sollte. Prinzipiell sind Stundenlöhne die exakteste Berechnungsgrundlage, weil sie im Gegensatz zu Wochen- oder Monatslöhnen nicht für Unterschiede der individuellen Arbeitsdauer kontrollieren müssen. Allerdings stehen in vielen Datenbanken die Stundenlöhne der Arbeitnehmer nicht zur Verfügung. Zweitens muss entschieden werden, welche Beschäftigungsformen als Mess9 grundlage der Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung dienen sollen. Einige Studien verwenden lediglich die Löhne von Vollzeitbeschäftigten als Berechnungsgrundlage. Diese Strategie ist vor allem dann sinnvoll, wenn Löhne nur als 9

Da die Löhne von Selbstständigen unzureichend statistisch dokumentiert sind, werden grundsätzlich nur die Löhne von abhängig Beschäftigten für die Berechnung der Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung berücksichtigt.

2.1 Niedriglohnbeschäftigung als lohnstrukturelles Arbeitsmarktphänomen

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wöchentliches oder monatliches Aggregat vorliegen und folglich nur schwer für Unterschiede in der Arbeitsdauer kontrolliert werden kann. Bei diesem Vorgehen wird jedoch die Gruppe der Teilzeitbeschäftigten außer Acht gelassen. Werden Teilzeitbeschäftigte dahingegen in die Berechnung eingeschlossen, müssen Stundenlöhne verwendet werden, weil die Schätzung über die Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung andernfalls erheblich verzerrt wäre. So würde z.B. bei der Anwendung eines relativen Messkonzeptes, der Einbeziehung von Teilzeitbeschäftigten und der Verwendung von Wochen- oder Monatslöhnen, der Anteil der Niedriglohnbeschäftigten überschätzt werden. Sollen Teilzeitbeschäftigte berücksichtigt werden, aber es stehen keine Stundenlöhne zur Verfügung, müssen die Teilzeitstellen in Vollzeitäquivalente umgerechnet werden, indem sowohl das Arbeitsvolumen als auch der aggregierte Lohn auf Vollzeitstellen hochgerechnet werden (Grimshaw 2011: 6f.; Casali/Alvarez-Gonzalez 2010: 7). Da von den drei Alternativen zur Operationalisierungen des Konzeptes des Niedriglohns ausschließlich das relative Messkonzept für makro-quantitativ vergleichende Forschung geeignet ist, verwendet die vorliegende Forschungsarbeit ebendiese Alternative. Im Speziellen folgt sie dabei dem relativen Messkonzept von OECD, ILO und EU, das die Niedriglohnschwelle bei zwei Dritteln des Medianlohns verortet. Durch die Verwendung eines Messkonzepts, das Niedriglohn in Relation zum Median der Lohnverteilung operationalisiert, stellt der Indikator auf Aggregatebene eine Kennzahl für die Lohnungleichheit in der unteren Hälfte der Lohnverteilung dar und rückt die Arbeit somit in den Forschungskontext der Lohnungleichheit (Rhein 2013: 2). Trotz des starken empirischen Zusammenhangs zwischen Niedriglohnbeschäftigung und Erwerbsarmut besteht kein automatischer Zusammenhang zwischen diesen beiden Phänomenen. Die Armutsgefährdung hängt nicht ausschließlich von der Höhe des individuellen Lohneinkommens ab, sondern wird auch durch den Haushaltskontext, andere Einkommensarten sowie der Wirkung des Steuer- und Transfersystems 10 beeinflusst (Fraser et al. 2011: 2; Lee/Sobeck 2012: 143).

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Im Gegensatz zu Personen die von Erwerbsarmut betroffen sind (Working-Poor), sind Niedriglohnbeschäftigte nicht per Definition arm, können aber arm sein. Eurostat definiert WorkingPoor als Individuen, die im Vorjahr (d.h. im Jahr vor der Datenerhebung) mindestens 6 Monate erwerbstätig waren und in einem Haushalt leben, dessen Einkommen unterhalb der Armutsgefährdungsschwelle von 60% des nationalen Medianäquivalenzeinkommens liegt (Eurostat 2010: 29f.).

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2 Konzeptionelle Grundlagen: Niedriglohnbeschäftigung und Wohlfahrtsstaat

Normative Bewertung des Phänomens der Niedriglohnbeschäftigung Im Gegensatz zu der Arbeitslosen- und Beschäftigungsquote, dem Wirtschaftswachstum oder auch der Inflationsrate, ist die Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung kein normativ eindeutig zu bewertender makroökonomischer Performanzindikator. Während unter Wirtschaftspolitikern und Wissenschaftlern ein weitgehender Konsens darüber besteht, dass eine geringe Arbeitslosenquote, ein stetiges Wirtschaftswachstum und eine mäßige Inflationsrate positiv zu bewertende makroökonomische Outcomes sind (Dümig 2015: 532), besteht kein Einvernehmen hinsichtlich der Frage, ob ein großer oder ein kleiner Niedriglohnsektor ein arbeitsmarktpolitisch erstrebenswertes Ziel darstellt. Die normative Ambivalenz der Größe des Niedriglohnsektors entsteht dadurch, dass dieses strukturelle Arbeitsmarktphänomen sowohl positive als auch negative Konsequenzen für unterschiedliche Akteure, Institutionen und sozioökonomische Ziele haben kann. Aus Arbeitnehmerperspektive hängt die Bewertung eines Niedriglohnjobs stark von der Qualifikation des Arbeitnehmers, dem Haushaltskontext sowie der Verweildauer im Niedriglohnsektor ab. Insbesondere wenn Niedriglohnbeschäftigung ein Sprungbrett in höher entlohnte Beschäftigungsverhältnisse bietet, eine Alternative zur Erwerbslosigkeit darstellt oder lediglich als Nebenverdienst in einem größeren Haushaltskontext dient, bewerten Niedriglohnbeschäftigte ihren Job überwiegend positiv. Wenn ein Niedriglohnjob jedoch mit sozialer Unsicherheit, Erwerbsarmut, einem hohen Risiko der Altersarmut oder sozialer Deprivation verbunden ist, stehen die negativen Aspekte von Niedriglohnbeschäftigung im Vordergrund (Maitre et al. 2012; Schnabel 2016). Aus Arbeitgeberperspektive sind Löhne ein Kostenfaktor, der den unternehmerischen Gewinn reduziert. Insofern ist die Möglichkeit Angestellte niedrig zu entlohnen für Arbeitgeber immer eine positive Ausgangssituation, da es dem Unternehmen frei steht höhere Löhne zu zahlen, um etwa die Motivation der Mitarbeiter zu erhöhen oder die Personalfluktuation zu reduzieren. Für den Wohlfahrtsstaat stellt Niedriglohnbeschäftigung ein ambivalentes Arbeitsmarktphänomen dar, denn ein großer Niedriglohnsektor kann das System der sozialen Sicherung sowohl entlasten als auch belasten. Eine entlastende Wirkung tritt ein, wenn niedrig entlohnte Arbeitnehmer alternativ arbeitslos wären und wohlfahrtsstaatliche Transferleistungen beziehen würden, anstatt durch Steuern und Beiträge zur Finanzierung des Wohlfahrtsstaates beizutra-

2.1 Niedriglohnbeschäftigung als lohnstrukturelles Arbeitsmarktphänomen

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gen. Belastende Effekte treten dahingegen dann ein, wenn Niedriglohnbeschäftigung spätere Altersarmut verursacht und der Wohlfahrtsstaat die Renten ehemaliger Niedriglohnempfänger aufstocken muss. Eine weitere Belastung des Wohlfahrtsstaates durch Niedriglohnbeschäftigung kann entstehen, wenn Niedriglöhne so gering sind, dass sie durch wohlfahrtsstaatliche Transferleistungen aufgestockt werden müssen, damit das Einkommen der Niedriglohnempfänger nicht unterhalb des länderspezifischen Existenzminimums liegt. Solche so genannten Kombi-Löhne sind auch insofern problematisch, als dass sie zu einer indirekten Subventionierung der Unternehmen durch den Wohlfahrtsstaat führen und den Unternehmen Anreize setzten, sehr geringe Löhne zu zahlen, um Produktionskosten zu sparen. Auch die makroökonomische Performanz eines Landes kann sowohl positiv als auch negativ durch den Anteil der Niedriglohnempfänger beeinflusst werden. Insbesondere im Dienstleistungssektor angesiedelte Niedriglohnjobs bieten vielen geringqualifizierten Arbeitskräften Beschäftigungsmöglichkeiten, deren Alternative zum Niedriglohnjob mit hoher Wahrscheinlichkeit die Arbeitslosigkeit wäre. Folglich kann ein großer Niedriglohnsektor zur Erreichung eines zentralen Ziels der Wirtschaftspolitik beitragen: der Reduktion von Arbeitslosigkeit. Dieses Ziel wird nicht nur aus ökonomischen Gründen angestrebt, sondern auch aus Gründen sozialer und politischer Stabilität. Die Effekte von Niedriglohnbeschäftigung auf das wirtschaftspolitische Ziel des Wirtschaftswachstums sind dahingegen ambivalent. Aus angebotsorientierter Perspektive erhöhen niedrige Lohnkosten die Gewinne, so dass Unternehmen höhere Investitionen tätigen können. Dieser Effekt wirkt sich positiv auf das Wirtschaftswachstum aus. Aus nachfrageorientierter Perspektive impliziert ein großer Niedriglohnsektor dahingegen eine niedrige Kaufkraft sowie eine geringe Konsumnachfrage eines erheblichen Anteils der Arbeitnehmer. Dieser Effekte hat nicht nur negative Konsequenzen für das Wirtschaftswachstum, sondern mindert auch die Steuereinnahmen des Staates (Bosch/Kalina 2007; Gautié/Schmitt 2010). Diese Beispiele verdeutlichen zum einen, dass die normative Bewertung des Phänomens der Niedriglohnbeschäftigung davon abhängt, welche Akteursinteressen fokussiert werden, welche sozial- und wirtschaftspolitischen Ziele priorisiert werden und welchem ökonomischen bzw. wirtschaftspolitischen Paradigma gefolgt wird. Bei einer positiven Bewertung wird Niedriglohnbeschäftigung als Ausdruck eines flexiblen Arbeitsmarktes mit geringen Lohnrigiditäten und einem ausreichenden Arbeitsplatzangebot für geringqualifizierte Arbeitskräfte

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2 Konzeptionelle Grundlagen: Niedriglohnbeschäftigung und Wohlfahrtsstaat

betrachtet. Bei einer negativen Bewertung wird Niedriglohnbeschäftigung als Anzeichen für Arbeitnehmerausbeutung gedeutet und es werden potenziell problematische Konsequenzen wie Erwerbsarmut, soziale Deprivation und eine unzureichende inländische Konsumgüternachfrage betont. Zum anderen verdeutlichen diese Beispiele, dass die Größe des Niedriglohnsektors auch für den Staat ein relevantes strukturelles Arbeitsmarktphänomen darstellt: Die Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung beeinflusst sowohl die Staatseinnahmen als auch die Staatsausgaben, die Finanzierung und die Funktionsfähigkeit wohlfahrtsstaatlicher Institutionen sowie das Ausmaß der sozialen Ungleichheit. Die potenziell weitreichenden Auswirkungen von Niedriglohnbeschäftigung auf Wirtschaft, Staat und Gesellschaft begründen die Erwartung, dass politische Entscheidungsträger Interesse an der Gestaltung dieses strukturellen Arbeitsmarktphänomens haben sollten. Unterstützung findet diese These in einer Rede des ehemaligen deutschen Bundeskanzlers Gerhard Schröder vor dem Weltwirtschaftsforum in Davos. In dieser Rede sagte er: „Wir müssen und wir haben unseren Arbeitsmarkt liberalisiert. Wir haben einen der besten Niedriglohnsektoren aufgebaut, den es in Europa gibt. […] Wir haben einen funktionierenden Niedriglohnsektor aufgebaut, und wir haben bei der Unterstützungszahlung Anreize dafür, Arbeit aufzunehmen, sehr stark in den Vordergrund gestellt. Es hat erhebliche Auseinandersetzungen mit starken Interessengruppen in unserer Gesellschaft gegeben. Aber wir haben diese Auseinandersetzungen durchgestanden.“ (Schröder 2005). Obwohl Schröder in dieser Rede eine unmissverständlich positive Position zum Thema Niedriglohnbeschäftigung bezieht, erlaubt die normative Ambivalenz dieses Phänomens keine universelle Erwartungsbildung hinsichtlich der Frage, ob politische Entscheidungsträger die Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung fördern oder einschränken. 2.1.2 Messung, Größe und Struktur des Niedriglohnsektors Kapitel 2.1.2 erörtert zunächst die in diesem Buch verwendeten Daten zur Messung der Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung. Anschließend wird ein vergleichender Überblick über Größe und Charakteristika der Niedriglohnsektoren in entwickelten Volkswirtschaften gegeben. Messung der Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung Die Definition von Niedriglohn als Lohn unterhalb von zwei Dritteln des Medianlohns der Lohnverteilung wird in Datenbanken unterschiedlicher Organisationen

2.1 Niedriglohnbeschäftigung als lohnstrukturelles Arbeitsmarktphänomen

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verwendet. Sowohl Eurostat, OECD.Stat als auch ILOSTAT bieten auf Länderebene aggregierte Indikatoren zur Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung, die diesem relativen Messkonzept folgen. Als primäre Datenquelle zur Messung der abhängigen Variable nutz dieses Buch die Verdienststrukturerhebung der europäischen Statistikbehörde Eurostat, da diese Quelle einheitlich erhobene 11 Daten für einen Großteil der entwickelten Volkswirtschaften bietet. Für alle entwickelten Volkswirtschaften, die nicht Teil der europäischen Verdienststrukturerhebung sind, werden alternative Datenquellen verwendet. Die stichprobenbasierte Verdienststrukturerhebung der EU umfasst harmonisierte Strukturdaten über Bruttoverdienste, bezahlte Arbeitsstunden und Urlaubstage pro Jahr sowie soziodemografische Merkmale. In der Stichprobe befinden sich Unternehmen mit mindestens zehn Beschäftigten aus allen Wirtschaftszweigen mit Ausnahme der öffentlichen Verwaltung, Landwirtschaft, 12 Fischerei sowie Beschäftigten in privaten Haushalten. In dem Zeitraum der Durchführung der empirischen Analysen für diese Forschungsarbeit, existieren Daten für die Jahre 2002, 2006 und 2010. Allerdings beinhaltet die Verdienststrukturerhebung im Jahr 2002 keine Daten für Bruttoverdienste nach Quantilen. Somit ist es weder möglich eine Niedriglohnschwelle noch den relativen Anteil der Niedriglohnempfänger zu berechnen. Für die Jahre 2006 und 2010 stellt Eurostat für jedes Land den aggregierten Indikator „Niedriglohnempfänger als Prozentsatz der gesamten Angestellten (ohne Auszubildende)“ zu Verfügung. Dieser Indikator definiert Niedriglohnbeschäftigte als abhängige Erwerbstätige, die zwei Drittel des Bruttomedianstundenlohnes oder weniger verdienen. Da Eurostat Bruttolöhne als Berechnungsgrundlage verwendet, wird die Wirkungen des Steuer- und Transfersystems nicht berücksichtigt. Folglich bildet der Indikator Niedriglöhne und nicht Niedrigeinkommen ab und ist somit als Indikator zur Messung der abhängigen Variable geeignet.

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Entwickelte Volkswirtschaften, die von der europäischen Verdienststrukturerhebung erfasst werden: Belgien, Bulgarien, Tschechien, Dänemark, Deutschland, Estland, Irland, Griechenland, Spanien, Frankreich, Italien, Zypern, Lettland, Litauen, Luxemburg, Ungarn, Malta, Niederlande, Österreich, Polen, Portugal, Rumänien, Slowenien, Slowakei, Finnland, Schweden, Großbritannien, Island, Norwegen, Schweiz. Die Verdienststrukturerhebung wird gemäß der Verordnung des Rates Nr. 530/1999 in den 28 EU-Mitgliedstaaten, den Kandidatenländern sowie den Ländern der Europäischen Freihandelszone alle vier Jahre durchgeführt. Für die Datenerhebung sind die nationalen Statistikämter zuständig während Eurostat die Daten zentral aufbereitet und die Aggregate in der online zugänglichen Datenbank zur Verfügung stellt.

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2 Konzeptionelle Grundlagen: Niedriglohnbeschäftigung und Wohlfahrtsstaat

Als Angestellte definiert Eurostat all jene abhängigen Erwerbstätigen, die in einem direkten Arbeitsverhältnis mit einem privaten Arbeitgeber stehen und aus ihrer Tätigkeit ein Arbeitsentgelt beziehen, unabhängig von der Art der Arbeit, der Arbeitszeit (Teilzeit- oder Vollzeitbeschäftigung) und der Vertragsdauer (unbefristeter oder befristeter Arbeitsvertrag). Teilzeitbeschäftigung wird in Vollzeitäquivalente umgerechnet, um arbeitszeitbedingte Verzerrungen der Ergebnisse zu vermeiden. Auszubildende sind prinzipiell nicht in der Stichprobe enthalten, wobei in der Verdienststrukturerhebung von 2010 einige Länder 13 Daten übermittelt haben, die auch Auszubildende enthalten. Bei diesen Ländern ist davon auszugehen, dass der Anteil der Niedriglohnempfänger leicht überschätzt wird, da Auszubildenden in der Regel ein relativ geringes Arbeitsentgelt erhalten und die Lohnverteilung daher nach unten verzerrt wird. Diese Schwäche in der Datenqualität kann hier nur benannt, aber nicht behoben werden (Bezzina 2012; Casali/Alvarez Gonzalez 2010; Eurostat 2012). Die Eurostat-Daten zur Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung sind den von der OECD und der ILO bereitgestellten Daten aus mehreren Gründen vorzuziehen. Der wesentliche Vorteil der Eurostat-Daten besteht darin, dass der Indikator die größte zwischenstaatliche Vergleichbarkeit besitzt, da er auf Grundlage einer harmonisierten Verdienststrukturerhebung basiert. Obschon die von OECD und ILO zur Verfügung gestellten Daten über die Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung einer einheitlichen Operationalisierung folgen, werden sie aus nationalen Lohnerhebungen zusammengetragen und variieren daher in ihrer konkreten Messgrundlage. Diese Varianz bezieht sich insbesondere auf die Fragen, welche Art von Beschäftigungsverhältnis einbezogen wird (nur Vollzeitbeschäftigung oder Vollzeit- und Teilzeitbeschäftigung) und ob die Niedriglohnschwelle auf Grundlage von Stunden-, Wochen-, Monats- oder sogar Jahreslöhnen gemessen wird. Die OECD-Daten sind zwar homogener als die Daten der ILO, aber um die zwischenstaatliche Vergleichbarkeit zu erhöhen, basiert der OECD-Indikator zur Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung ausschließlich auf Vollzeitbeschäftigten. Der Ausschluss von Teilzeitbeschäftigten ist problematisch, da die Untersuchung von Vollzeit- und Teilzeitbeschäftigten am besten geeignet ist, um eine möglichst exakte Schätzung über die Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung zu erhalten und Länderdifferenzen verlässlich zu erfassen. Trotz des Ausschlusses der Teilzeitbeschäftigten, bestehen Vergleich13

Tschechien, Estland, Spanien, Zypern, Ungarn, Polen, Portugal, Rumänien, Schweden, Slowenien, Slowakei, Großbritannien, Schweiz.

2.1 Niedriglohnbeschäftigung als lohnstrukturelles Arbeitsmarktphänomen

37

barkeitsprobleme im OECD-Datensatz, da sich einige Länderdaten auf das Jahreseinkommen von Vollzeitbeschäftigten beziehen, während andere Länderdaten sich auf die Wochenlöhne der befragten Vollzeitbeschäftigten zum Zeitpunkt der Erhebung beziehen (Grimshaw 2011: 7). Die Eurostat-Daten basieren dahingegen auf Stundenlöhnen und liefern somit die exakteste Messgrundlage, um für das Arbeitszeitvolumen zu kontrollieren. Da die Fallauswahl dieser Arbeit alle entwickelten Volkswirtschaften umfasst, kann die abhängige Variable nicht für alle Fälle anhand der europäischen Verdienststrukturerhebung gemessen werden. Die Ländergruppe entwickelter Volkswirtschaften ist Teil einer von der ILO erstellen Ländergruppierung, die sich sowohl nach geografischer Lage als auch ökonomischer Entwicklung richtet. Insgesamt werden sechs Ländercluster unterschieden: entwickelte Volkswirtschaften, Afrika, Asien, Mittlerer Osten, Osteuropa und Zentralasien, Latein14 amerika und die Karibik (ILO 2013: 68). Obschon entwickelte Volkswirtschaften mitnichten eine homogene Gruppe darstellen, haben sie doch drei wesentliche Gemeinsamkeiten: Erstens haben alle eine weitgehend liberale marktwirtschaftliche Wirtschaftsordnung. Zweitens kann keines der Länder als Entwicklungsland klassifiziert werden. Drittens sind alle entwickelten Volkswirtschaften liberale Demokratien westlicher Prägung, da sie pluralistische Zivilgesellschaften aufweisen, die Existenz unveräußerlicher Menschenrechte anerkennen und dem Prinzip der Rechtsstaatlichkeit folgen. Insgesamt werden sechs entwickelte Volkswirtschaften nicht durch die europäische Verdienststrukturerhebung erfasst: Australien, Kanada, Neuseeland, die Vereinigten Staaten von Amerika, Israel und Japan. In diesen Ländern muss die abhängige Variable auf Grundlage anderer Datenquellen, d.h. den Daten von OECD und ILO, operationalisiert werden. Obschon auch für diese sechs Länder Daten zur Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung vorliegen, die Niedriglöhne als Arbeitsentgelte unterhalb von zwei Dritteln des Medianlohns operationalisieren, existieren keine Indikatoren, deren Messgrundlage vollständig mit jener des Eurostat-Indikators übereinstimmt. In allen sechs Ländern beziehen sich die verfügbaren Aggregatdaten zur Verbreitung von Niedriglohnbeschäfti14

Die Ländergruppe der entwickelten Volkswirtschaften umfasst 36 Länder: Australien, Österreich, Belgien, Bulgarien, Kanada, Zypern, Tschechien, Dänemark, Estland, Finnland, Frankreich, Deutschland, Griechenland, Ungarn, Island, Irland, Israel, Italien, Japan, Lettland, Litauen, Luxemburg, Malta, Niederlande, Neuseeland, Norwegen, Polen, Portugal, Rumänien, Slowakei, Slowenien, Spanien, Schweden, Schweiz, Großbritannien, Vereinigte Staaten von Amerika.

38

2 Konzeptionelle Grundlagen: Niedriglohnbeschäftigung und Wohlfahrtsstaat

gung ausschließlich auf Vollzeitbeschäftigte und basieren nicht auf Stundenlöhnen, sondern auf Wochen- oder Monatslöhnen. Vor diesem Hintergrund entsteht ein Zielkonflikt zwischen einer homogenen Messung der abhängigen Variable und einer reduzierten Fallzahl einerseits und einer heterogenen Messung der abhängigen Variable und einer größeren Fallzahl andererseits. Insbesondere die Exklusion von Australien, Kanada, Neuseeland und den USA hätte sehr problematische Konsequenzen für die empirische Untersuchung des theoretischen Grundarguments, da mit Großbritannien und Irland lediglich zwei Länder im Cluster liberaler Wohlfahrtsstaaten verbleiben würden. Um eine Vorstellung über das Ausmaß der Messunterschiede zwischen Eurostat-Daten und OECD-Daten zu bekommen, werden die Daten zu Irland und Großbritannien aus beiden Quellen verglichen. Dieser Vergleich zeigt, dass in Großbritannien in den Jahren 2006 und 2010 eine Differenz zwischen den Messwerten von 1,07 und 1,35 Prozentpunkten besteht. In Irland beträgt die Differenz der Messwerte lediglich 0,21 bzw. 0,56 Prozentpunkte in den Jahren 2006 und 2010. Erwartungsgemäß weisen die Eurostat-Daten bei allen Vergleichspaaren die höheren Messwerte auf, da sie Teilzeitbeschäftigte einbeziehen. Nach abwägender Beurteilung beider Möglichkeiten, stellt sich die Minimierung der Fallzahl sowie der Verlust der Mehrzahl liberaler Wohlfahrtsstaaten als schwerwiegenderer Nachteil dar, als die Inkaufnahme des Anstiegs der Heterogenität der Messung der abhängigen Variable. Aus diesem Grund wird die Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung in allen entwickelten Volkswirtschaften, die nicht von der europäischen Verdienststrukturerhebung erfasst werden, 15 entweder durch OECD-Daten oder Daten der ILO gemessen. Die ILO-Daten werden dann verwendet, wenn sie eine größere Ähnlichkeit mit der Messgrundlage der Eurostat-Daten haben, als die OECD-Daten. Auch die Daten zur Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung in der Schweiz basieren nicht auf der europäischen Verdienststrukturerhebung, da Eurostat lediglich für das Jahr 2010 Daten zu diesem Indikator zu Verfügung stellt. Stattdessen stammen die Daten zur Messung der abhängigen Variable in der Schweiz vom Schweizer Bundesamt für Statistik. Die Verwendung dieser Datenquelle erhöht allerdings nicht die Heterogenität der Messung der abhängigen Variable, da die Messgrundlage 15

Datenquellen zur Messung der abhängigen Variable in Ländern, die nicht in der EurostatDatenbank enthalten sind: Australien (OECD), Kanada (OECD), Neuseeland (ILO), USA (OECD), Israel (ILO), Japan (OECD).

2.1 Niedriglohnbeschäftigung als lohnstrukturelles Arbeitsmarktphänomen

39

(Vollzeit- und Teilzeitbeschäftigte sowie Stundenlöhne) identisch mit den Eurostat-Daten ist. Größe und Struktur des Niedriglohnsektors in entwickelten Volkswirtschaften Nachdem die Datenquellen und die Messgrundlage der Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung für alle Untersuchungseinheiten dargestellt wurden, bildet Tabelle 2.1 die länderspezifischen Merkmalsausprägungen der abhängigen Variable für die Jahre 2006 und 2010 ab. Die Reihenfolge der Länder in Tabelle 2.1 entspricht der Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung im Jahr 2006 in aufsteigender Reihenfolge. Sowohl im Jahr 2006 als auch im Jahr 2010 hat von allen entwickelten Volkswirtschaften Schweden die niedrigste Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung, während Lettland in beiden Jahren den größten Anteil an Niedriglohnbeschäftigten aufweist. Die Spannweite zwischen der minimalen und der maximalen Merkmalsausprägung ist in beiden Jahren sehr hoch; 2006 beträgt die Spannweite 29,13 Prozentpunkte und 2010 beträgt die Spannweite 25,3 Prozentpunkte. Im Jahr 2010 ist sie allerdings etwas niedriger als 2006, da die Niedriglohnbeschäftigung in Schweden um 0,74 Prozentpunkte angestiegen ist, während die Niedriglohnbeschäftigung in Lettland um 3,09 Prozentpunkte gesunken ist. Auch der Variationskoeffizient zeigt, dass die relative Streuung der 16 Niedriglohnbeschäftigung 2010 leicht gesunken ist. Trotz der leichten Verringerung der Varianz der Niedriglohnbeschäftigung von 2006 auf 2010, besteht kein signifikanter Zusammenhang zwischen der Größe des Niedriglohnsektors 2006 und der Veränderung der Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung zwischen 2006 und 2010.

16

Der Variationskoeffizient ist ein Maß für die relative Streuung und eignet sich für den Vergleich von Streuungen mit unterschiedlichem Mittelwert: V =

40

2 Konzeptionelle Grundlagen: Niedriglohnbeschäftigung und Wohlfahrtsstaat

Tabelle 2.1: Die Größe des Niedriglohnsektors in entwickelten Volkswirtschaften

Land Schweden Finnland Norwegen Frankreich Belgien Dänemark Italien Island Schweiz Luxemburg Spanien Österreich Malta Australien Griechenland Japan Tschechien Neuseeland Niederlande Slowakei Bulgarien Slowenien Deutschland Portugal Irland Großbritannien Ungarn Israel Kanada Zypern Estland USA Polen Rumänien Litauen Lettland Mittelwert Standardabweichung (s) Variationskoeffizient (V) Minimum Maximum Quelle: Eurostat, OECD, ILO.

Niedriglohnbeschäftigte (in % aller abhängig Beschäftigten) 2006 2010 Veränderung von 2006 zu 2010 1,77 2,51 0,74 4,75 5,85 1,10 6,48 7,27 0,79 7,13 6,08 -1,05 7,63 6,37 -1,26 9,04 7,7 -1,34 10,27 12,36 2,09 11,24 9,14 -2,10 11,6 12,2 0,6 13,18 13,06 -0,12 13,37 14,66 1,29 14,19 15,02 0,83 14,43 18,33 3,9 15,2 16,1 0,90 15,73 13,3 -2,43 16,1 14,5 -1,60 17,05 18,18 1,13 17,2 12,8 -4,40 17,74 18,13 0,39 18,3 19,03 0,73 18,9 22,01 3,11 19,24 17,14 -2,10 20,3 22,24 1,94 20,72 16,08 -4,64 21,41 20,66 -0,75 21,77 22,05 0,28 21,87 19,75 -2,12 22,2 20,3 -1,90 22,5 21,1 -1,4 22,65 22,69 0,04 23,19 23,76 0,57 24,2 25,3 1,10 24,72 24,16 -0,56 26,85 25,6 -1,25 29,12 27,24 -1,88 30,9 27,81 -3,09 17,03 16,68 -0,35 6,92 6,64 0,41 0,4 1,77 2,51 -4,64 30,9 27,81 3,9

2.1 Niedriglohnbeschäftigung als lohnstrukturelles Arbeitsmarktphänomen

41

Der Vergleich der Mittelwerte zeigt, dass sich die durchschnittliche Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung von 2006 auf 2010 kaum verändert hat, da sie 17 lediglich um 0,35 Prozentpunkte von 17,03% auf 16,68% gesunken ist. Für die vergleichende Analyse der demografischen und sozioökonomischen Zusammensetzung des Niedriglohnsektors werden aus Gründen der Vergleichbarkeit ausschließlich Länder verwendet, die von der europäischen Verdienststrukturerhebung erfasst werden. Tabelle 2.2 stellt zum einen die länderspezifischen Niedriglohnschwellen und zum anderen den Anteil der Niedriglohnbeschäftigten in unterschiedlichen Arbeitnehmergruppen für das Jahr 2010 dar. Durch den Vergleich der Mittelwerte lassen sich jene Personengruppen identifizieren, die besonders häufig niedrig entlohnt werden. Von den weiblichen Arbeitnehmern arbeiten durchschnittlich gut 20% im Niedriglohnsektor, während männliche Arbeitnehmer im Durchschnitt mit knapp 13% unterhalb der länderspezifischen Niedriglohnschwelle entlohnt werden. Somit ist Niedriglohnbeschäftigung ein überdurchschnittlich weibliches Lohnsegment, denn im Durchschnitt sind 60,7% der Niedriglohnbeschäftigten Frauen und 39,3% der Niedriglohnbeschäftigten Männer. Bulgarien ist das einzige Land, in dem Frauen geringfügig seltener niedrig entlohnt werden als Männer (vgl. Tab. 2.2).

17

Die Mittelwerte in Tabelle 2.1 sind einfache bzw. ungewichtete arithmetische Mittel. Die Verwendung des ungewichteten arithmetischen Mittels begründet sich damit, dass dieses Buch die Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung als länderspezifisches Strukturmerkmal des Arbeitsmarktes konzeptionalisiert. Vor diesem Hintergrund wäre die Verwendung des gewichteten arithmetischen Mittels insofern problematisch, als dass die Länder nicht mehr als gleichgewichtige Untersuchungseinheiten in die Berechnung des Parameters eingehen, sondern die Größe der Länder, bzw. ihre absolute Anzahl an Niedriglohnempfängern, die Analyseergebnisse verzerren. Bei dem gewichteten arithmetischen Mittel hätten z.B. 7% Niedriglohnbeschäftigung in Frankreich einen größeren Einfluss auf den Parameterwert als 7% Niedriglohnbeschäftigung in Belgien. Diese Eigenschaft ist jedoch nicht wünschenswert, wenn Niedriglohnbeschäftigung als Strukturmerkmal betrachtet wird. Aus diesem Grund sind alle arithmetischen Mittel, die in den nachfolgenden Kapiteln berechnet werden, ungewichtete arithmetische Mittel.

42

2 Konzeptionelle Grundlagen: Niedriglohnbeschäftigung und Wohlfahrtsstaat

Tabelle 2.2: Niedriglohnschwelle und gruppenspezifische Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung

Land

Niedriglohnschwelle18 (Euro pro Std.)

Schweden 9,9 Finnland 10,6 Frankreich 9,2 Belgien 10,9 Norwegen 16,6 Dänemark 16,6 Island 6,7 Schweiz 14,9 Italien 7,9 Luxemburg 11,9 Griechenland 6,0 Spanien 6,3 Österreich 8,6 Portugal 3,4 Slowenien 4,8 Niederlande 10,2 Tschechien 3,0 Malta 5,0 Slowakei 2,6 Ungarn 2,3 Irland 12,2 Bulgarien 1,0 Großbritannien 8,4 Deutschland 10,3 Zypern 6,2 Estland 2,7 Polen 2,6 Rumänien 1,3 Litauen 1,8 Lettland 1,9 Anzahl 30 Mittelwert 7,19 Minimum 1,0 Maximum 16,6 Daten: Eurostat; Jahr: 2010.

18

Niedriglohnempfänger (in % aller abhängig Beschäftigten) 2,51 5,85 6,08 6,37 7,27 7,7 9,14 12,2 12,36 13,06 13,3 14,66 15,02 16,08 17,14 18,13 18,18 18,3 19,03 19,75 20,66 22,01 22,05 22,24 22,69 23,76 24,16 25,6 27,24 27,81 30 16,35 2,51 27,81

Niedriglohnempfänger (in %)

unter weiblichen Beschäftigten

unter männlichen Beschäftigten

3,12 8,02 7,87 10,33 8,59 9,84 11,99 16,92 15,13 20,16 14,61 21,02 24,76 22,13 19,29 21,17 24,53 22,4 23,66 21,46 23,57 21,55 27,56 28,72 31,44 30,1 26,78 25,77 29,44 28,67 30 20,02 3,12 31,44

1,85 3,31 4,53 3,31 6,02 5,39 5,73 6,14 10,25 9,27 11,21 9,23 8,19 10,24 15,27 15,31 12,93 15,62 14,6 18,13 17,56 22,46 16,68 17,03 14,89 15,47 21,79 25,45 24,53 26,66 30 12,97 1,85 26,66

Eigene Berechnung der Niedriglohnschwelle auf Grundlage von Eurostat-Daten: ×

× 100

2.1 Niedriglohnbeschäftigung als lohnstrukturelles Arbeitsmarktphänomen

43

Tabelle 2.2 Niedriglohnschwelle und gruppenspezifische Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung (Fortsetzung) Niedriglohnempfänger in unterschiedlichen Arbeitnehmergruppen (in %) Bildungsabschluss Arbeitsvertrag niedrig mittel hoch unbefristet befristet Schweden 4,19 2,56 2,09 Finnland 11,54 8,38 1,7 4,34 16,78 Frankreich 11,94 6,45 2,77 5,15 18,11 Belgien 13,02 7,37 0,23 5,07 22,36 Norwegen 18,33 4,9 1,61 6,91 15,5 Dänemark 14,84 9,33 2,91 7,49 17,96 Island 16,49 6,96 2,96 9,14 Schweiz 33,92 10,35 1,43 8,43 28,43 Italien 20,85 8,5 2,55 11,1 26,69 Luxemburg 33,72 9,84 0,66 11,06 34,63 Griechenland 18,25 19,23 4,28 11,46 23,62 Spanien 22,35 15,27 4,98 13,05 20,36 Österreich 35,24 12,39 3,15 14,42 26,25 Portugal 25,3 10,07 0,97 13,95 22,98 Slowenien 39,98 18,32 1,49 12,42 29,96 Niederlande 37,12 15,65 3,77 15,28 47,94 Tschechien 40,86 19,17 2,2 15,23 29,95 Malta 29,51 11,32 2,69 17,47 27,71 Slowakei 51,49 20,93 3,33 17,06 28,98 Ungarn 40,75 21,61 2,11 18,63 36,43 Irland 30,89 25,56 12,93 19,86 28,04 Bulgarien 40,74 27,91 5,67 20,37 36,92 Großbritannien 34,63 31,25 11,42 20,82 36,37 Deutschland 54,63 19,13 2,12 20,9 38,03 Zypern 33,85 33,63 4,5 22,9 14,89 Estland 44,06 30,85 7,02 23,81 23,07 Polen 44,92 31,55 6,13 16,44 42,54 Rumänien 49,41 31,9 4,96 25,35 35,41 Litauen 44,14 39,39 13,31 26,96 31,53 Lettland 42,59 35,53 12,0 27,43 34,38 Anzahl 30 30 30 29 28 Mittelwert 31,32 18,18 4,26 15,26 28,42 Minimum 4,19 2,56 0,23 4,34 14,89 Maximum 54,63 39,93 13,31 27,43 47,94 Daten: Eurostat; Jahr: 2010.

Land

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2 Konzeptionelle Grundlagen: Niedriglohnbeschäftigung und Wohlfahrtsstaat

Tabelle 2.2 Niedriglohnschwelle und gruppenspezifische Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung (Fortsetzung) Niedriglohnempfänger in unterschiedlichen Altersgruppen (in %) < 30 30 - 40 ≥ 50 Schweden 9,49 1,02 0,73 Finnland 13,18 4,2 4,66 Frankreich 12,39 5,0 4,74 Belgien 15,3 4,69 2,99 Norwegen 26,18 2,32 1,26 Dänemark 27,78 5,57 3,73 Island 22,48 6,55 5,44 Schweiz 21,24 8,94 7,76 Italien 24,95 11,6 9,1 Luxemburg 22,74 10,96 9,24 Griechenland 35,73 9,68 5,79 Spanien 23,23 13,63 11,03 Österreich 24,25 11,86 12,52 Portugal 24,69 14,22 12,83 Slowenien 24,33 16,38 14,34 Niederlande 46,08 7,96 8,49 Tschechien 21,1 16,57 19,09 Malta 27,74 12,99 16,72 Slowakei 20,87 18,0 19,75 Ungarn 23,1 19,36 18,7 Irland 39,4 17,43 17,4 Bulgarien 27,66 21,43 19,94 Großbritannien 40,61 14,68 18,31 Deutschland 38,14 17,97 20,78 Zypern 37,63 18,76 17,06 Estland 21,32 19,13 31,23 Polen 31,3 21,77 23,76 Rumänien 32,73 25,64 20,53 Litauen 28,03 26,29 28,32 Lettland 28,59 26,93 28,64 Anzahl 30 30 30 Mittelwert 26,41 13,72 13,83 Minimum 9,49 1,02 0,73 Maximum 46,08 26,93 31,23 Daten: Eurostat; Jahr: 2010.

Land

Neben der geschlechtsspezifischen Verzerrung des Niedriglohnsektors, zeigt Tabelle 2.2 auch, dass Arbeitnehmer mit geringem und mittlerem Bildungsabschluss, mit befristeten Arbeitsverträgen sowie jüngere Arbeitnehmer über-

2.1 Niedriglohnbeschäftigung als lohnstrukturelles Arbeitsmarktphänomen

45

durchschnittlich häufig niedrig entlohnt werden. Ältere Arbeitnehmer mit hohem Bildungsabschluss und unbefristetem Arbeitsvertrag werden dahingegen deutlich seltener niedrig entlohnt. Der Vergleich der absoluten Niedriglohnschwellen verdeutlicht die starken Unterschiede, die das absolute Lohnniveau bei zwei Dritteln des Medianlohns annimmt. Während in Bulgarien Arbeitnehmer schon dann oberhalb der Niedriglohnschwelle entlohnt werden, wenn ihr Stundenlohn einen Euro übersteigt, gelten in Norwegen und Dänemark auch Arbeitnehmer mit einem Stundenlohn von 16,6 Euro noch als Niedriglohnbeschäftigte. Diese eklatante Differenz entsteht durch die Verwendung eines relativen Messkonzeptes von Niedriglohn und spiegelt somit die erheblichen Unterschiede der länderspezifischen Lohnniveaus. So beträgt im Jahr 2010 der durchschnittliche Nettojahresverdienst von abhängig Beschäftigten in Bulgarien 3.072 Euro, während er in Norwegen 19 41.515 Euro beträgt. Die länderspezifischen Unterschiede des Lohnniveaus können vielfältige Ursachen haben wie z.B. die Produktionsstruktur der Wirtschaft, die Arbeitsproduktivität, das Preisniveau oder die Regulierung des Arbeitsmarktes. Neben demografischen und sozioökonomischen Merkmalen variiert das Ausmaß an Niedriglohnbeschäftigung auch zwischen Wirtschaftszweigen. Tabelle 2.3 dokumentiert die durchschnittliche Verbreitung von Niedriglohnbeschäfti20 gung in unterschiedlichen Wirtschaftszweigen. Die Durchschnittswerte beziehen sich auf jene dreißig Länder, die von der europäischen Verdienststrukturerhebung erfasst werden (vgl. Tab. 2.2). Die Daten in Tabelle 2.3 zeigen, dass niedrig entlohnte Arbeit im Gastgewerbe sowie im Bereich sonstiger wirtschaftlicher Dienstleistungen besonders weit verbreitet ist. Indessen gibt es auch Wirtschaftszweige, in denen kaum Löhne unterhalb der Niedriglohnschwelle gezahlt werden. Zu diesen Bereichen zählen die Energieversorgung, Finanz- und Versicherungsdienstleistungen, der Bergbau sowie Informations- und Kommunikationstechnologie. Als wesentliche Ursache für den hohen Anteil an Niedriglohnempfängern in bestimmten Wirtschafts19 20

Daten zum durchschnittlichen Nettojahresverdienst stammen von Eurostat. Zu folgenden Wirtschaftszweigen der europäischen Systematik der Wirtschaftszweige existieren keine Daten über die Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung: Land- und Forstwirtschaft und Fischerei, öffentliche Verwaltung, Verteidigung, Sozialversicherung, private Haushalte mit Personal, exterritoriale Organisationen und Körperschaften.

46

2 Konzeptionelle Grundlagen: Niedriglohnbeschäftigung und Wohlfahrtsstaat

zweigen gelten begrenzte Möglichkeiten auf technischen Wandel zu reagieren bzw. ein eingeschränktes Potenzial den Arbeitsprozess durch technische Neuerungen zu rationalisieren. So sind z.B. die Löhne im Gastgewerbe besonders niedrig, weil diese Branche durch eine geringe Wertschöpfung geprägt ist und wenige Möglichkeiten zur Steigerung der Arbeitsproduktivität bestehen (Teitzer et al. 2014: 261). Tabelle 2.3: Niedriglohnbeschäftigung nach Wirtschaftszweigen

Wirtschaftszweig Energieversorgung Finanz- und Versicherungsdienstleistungen Bergbau und Gewinnung von Steinen und Erden Informations- und Kommunikationstechnologie Erziehung und Unterricht Freiberufliche, wissenschaftl. und techn. Dienstleistungen Wasserversorgung; Abwasser- und Abfallentsorgung Verkehr und Lagerei Gesundheits- und Sozialwesen Baugewerbe/Bau Verarbeitendes Gewerbe/Herstellung von Waren Grundstücks- und Wohnungswesen Kunst, Unterhaltung und Erholung Handel; Instandhaltung und Reparatur Sonstige Dienstleistungen Sonstige wirtschaftliche Dienstleistungen Gastgewerbe/Beherbergung und Gastronomie Daten: Eurostat. Jahr: 2010.

Durchschnittliche Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung 2,68 3,04 5,26 5,46 9,04 9,54 11,37 11,53 12,45 15,17 15,41 16,59 18,66 22,46 26,32 37,43 38,75

Auf Grundlage der Daten in Tabelle 2.2 und 2.3 lässt sich resümieren, dass die Struktur des Niedriglohnsektors unabhängig von seiner Größe in allen untersuchten Ländern starke Ähnlichkeiten aufweist. Die Gemeinsamkeiten beziehen sich sowohl auf die demografische und sozioökonomische Zusammensetzung des Niedriglohnsektors als auch auf die Wirtschaftszweige, in denen Arbeitnehmer besonders häufig niedrig entlohnt werden. Anhand dieser Informationen kann ein Arbeitnehmerprofil konstruiert werden, das mit besonders hoher Wahrscheinlichkeit unterhalb der Niedriglohnschwelle entlohnt wird. Dieses

2.2 Wohlfahrtsstaat und Wohlfahrtsstaatstypen

47

Profil hat folgende Charakteristika: weiblich, jünger als 30 Jahre, niedriger Bildungsabschluss und befristeter Arbeitsvertrag im Gastgewerbe oder im Bereich sonstiger wirtschaftlicher Dienstleistungen. 2.2 Wohlfahrtsstaat und Wohlfahrtsstaatstypen In Kapitel 2.2 richtet sich der Fokus auf das Konzept des Wohlfahrtsstaates sowie Wohlfahrtsstaatstypen als Gruppierungsvariable der Untersuchungseinheiten. Kapitel 2.2.1 stellt drei Konzeptionen des Wohlfahrtsstaates vor und diskutiert vor diesem Hintergrund die Frage der Zugehörigkeit staatlicher Arbeitsmarktinstitutionen zum wohlfahrtsstaatlichen Institutionengefüge. Daraufhin gibt Kapitel 2.2.2 einen Überblick zu unterschiedlichen theoretischen Perspektiven auf den Zusammenhang zwischen wohlfahrtsstaatlichen Leitideen und der Ausgestaltung wohlfahrtsstaatlicher Institutionen. In Kapitel 2.2.3 wird zunächst die konzeptionelle Beziehung zwischen ideal- und realtypischen Wohlfahrtsstaaten erörtert, um anschließend ideelle und institutionelle Charakteristika unterschiedlicher idealtypischer Wohlfahrtsstaaten zu beschreiben und die Zuordnung entwickelter Volkswirtschaften in realtypische Wohlfahrtsstaatscluster zu diskutieren. 2.2.1 Konzeptionen des Wohlfahrtsstaates In der sozialwissenschaftlichen Literatur existiert eine Vielzahl von Definitionen des Wohlfahrtsstaatsbegriffs. Der wesentliche Unterschied dieser Definitionen liegt in der Breite ihres Begriffsverständnisses, wobei grundlegend zwischen einem engem, einem mittleren und einem weiten Wohlfahrtsstaatsverständnis differenziert werden kann. Vertreter eines engen Verständnisses reduzieren den Wohlfahrtsstaat auf die staatlich garantierte soziale Sicherung der Staatsbürger, d.h. die klassische Trias sozialpolitischer Intervention bestehend aus Sozialversicherungen, Versorgung und Fürsorge. In diesem Sinne sind wohlfahrtsstaatliche Institutionen ausschließlich solche Institutionen, die Staatsbürger gegen existenzgefährdende Risiken kapitalistischer Arbeitsgesellschaften absichern, materielle Verelendung verhindern und eine Angleichung der Lebenslagen fördern. Insgesamt entspricht das enge Wohlfahrtsstaatsverständnis dem nur in der deutschen Sprache existierenden Begriff des „Sozialstaates“ (Kaufmann 1982: 344; Koch 1995: 80f.; Lampert/Althammer 2014: 4; Opielka 1999: 313; Zacher 1983: 17ff.).

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2 Konzeptionelle Grundlagen: Niedriglohnbeschäftigung und Wohlfahrtsstaat

Vertreter eines weiten Begriffsverständnisses konzeptualisieren den Wohlfahrtsstaat dahingegen als deutlich mehr als „ein Konglomerat öffentlicher Vorkehrungen zur sozialen Sicherung gegen die Risiken des Einkommensausfalls“ (Lessenich 2008: 483). Stattdessen wird der Wohlfahrtsstaat als wesentliches Strukturmerkmal moderner Vergesellschaftung und zentrale Instanz zur Konstitution und Gestaltung sozialer Beziehungsmuster in modernen Industriegesellschaften betrachtet. In diesem Sinne ist der Wohlfahrtsstaat auch eine Institutionalisierung von Machtverhältnissen, die wiederum zukünftige Machtrelationen prägt (Esping-Andersen 1990: 23; Lessenich 2008: 483ff.; Ullrich 2005: 16). Im weiten Begriffsverständnis umfasst das Konzept des Wohlfahrtsstaates die gesamte „staatliche bzw. staatlich organisierte und verantwortete Produktion individueller und/oder kollektiver Wohlfahrt“ (Lessenich 2008: 483). Demgemäß kann wohlfahrtsstaatliche Politik prinzipiell in jedem Politikfeld und mit jedweden Instrumenten stattfinden, sofern die Produktion individueller und/oder kollektiver Wohlfahrt das staatliche Handeln motiviert. Zwischen den Extrempolen des engen und weiten Wohlfahrtsstaatsverständnisses existiert auch eine Begriffsdefinition von mittlerer Breite. Vertreter dieser Mittelposition schließen neben den klassischen Institutionen der sozialen Sicherung auch Umverteilungspolitik sowie die staatliche Förderung der Gleichheit der Lebensführungschancen in ihr Verständnis des Wohlfahrtsstaates ein (Schmid 2005: 1162; Schmidt et al. 2007: 21). Staatliche Arbeitsmarktinstitutionen werden bei dem engen, mittleren und weiten Wohlfahrtsstaatsverständnis als Element des wohlfahrtsstaatlichen Institutionengefüges betrachtet. Allerdings unterscheidet sich der Umfang, in dem staatliche Arbeitsmarktinstitutionen als Teil des Wohlfahrtsstaates gelten. Um herauszufinden, welche staatlichen Arbeitsmarktinstitutionen bei welchem Wohlfahrtsstaatsverständnis einen Teil des wohlfahrtsstaatlichen Institutionengefüges darstellen, wird zunächst kurz das Spektrum staatlicher Arbeitsmarktinstitutionen dargestellt. Staatliche Arbeitsmarktinstitutionen sind eine Gruppe von Institutionen, deren Ziel explizit darin besteht, die Funktionsweise des Arbeitsmarktes zu verändern. Sie können in zwei Subgruppen aufgeteilt werden: Die erste Subgruppe besteht aus den Institutionen der staatlichen Arbeitsmarktpolitik, die wiederum in die Institutionen der passiven Arbeitsmarktpolitik (Arbeitslosenunterstützung), aktiven Arbeitsmarktpolitik (z.B. Weiterbildungs- und Qualifizierungsmaßnah-

2.2 Wohlfahrtsstaat und Wohlfahrtsstaatstypen

49

men) und aktivierenden Arbeitsmarktpolitik (z.B. Förderung der Eigenverantwortung bei der Arbeitsplatzsuche) untergliedert werden können. Die Institutionen dieser Subgruppe umfassen alle reaktiven und präventiven Maßnahmen zum Ausgleich bzw. zur Reduzierung der Fehlfunktionen des Arbeitsmarktes. Ihr primäres Ziel besteht in der Beeinflussung von Angebot und Nachfrage des Produktionsfaktors Arbeit (Möller/Spies 2013; Woll 2008: 41f.). Die zweite Subgruppe besteht aus den Institutionen der Arbeitsmarktregulierung. Diese Institutionen umfassen alle Gebote und Verbote, die im Sinne einer marktgestaltenden Regulierung die unmittelbare Vertragsfreiheit der Arbeitsmarktakteure einschränken (z.B. Mindestlöhne und Kündigungsschutz). In diesen Bereich fallen sowohl die individual- als auch die kollektivrechtliche Arbeitsmarktregulierung (Ochel 2006: 10-12; Woll 2008: 663f.; Zanetti 2009: 320). Die Kategorisierung staatlicher Arbeitsmarktinstitutionen in unterschiedliche Subgruppen erlaubt Schlussfolgerungen darüber, welche Konzeptionen des Wohlfahrtsstaates welche staatlichen Arbeitsmarktinstitutionen als Element des wohlfahrtsstaatlichen Institutionengefüges betrachten (vgl. Tab. 2.4). Tabelle 2.4: Konzeptionen des Wohlfahrtsstaates und staatliche Arbeitsmarktinstitutionen

Konzeption des Wohlfahrtsstaates eng mittel weit

passiv x x x

Staatliche Arbeitsmarktinstitutionen Arbeitsmarktpolitik Arbeitsmarktaktiv aktivierend regulierung x (x) (x) x x x

Bei einem engen Begriffsverständnis gelten ausschließlich Institutionen der sozialen Sicherung als wohlfahrtsstaatliche Institutionen. Folglich kann von allen staatlichen Arbeitsmarktinstitutionen nur die passive Arbeitsmarktpolitik als Teil des Wohlfahrtsstaates betrachtet werden, denn Arbeitslosigkeit ist ein elementares Risiko moderner Industriegesellschaften und die soziale Absicherung dieses Risikos somit eine Kernaufgabe des Wohlfahrtsstaates. Dahingegen sind bei einer weiten Konzeption des Wohlfahrtsstaates alle staatlichen Arbeitsmarktinstitutionen Teil des wohlfahrtsstaatlichen Institutionengefüges. Diese vollständige Inklusion folgt zum einen daraus, dass staatliche Arbeitsmarktinstitutionen immer Auswirkungen auf die individuelle und/oder die kollektive Wohlfahrt haben, da sie entweder die soziale Sicherheit der Arbeitskräfte beeinflussen oder die personelle und die funktionale Einkommensverteilung verändern. Zum

50

2 Konzeptionelle Grundlagen: Niedriglohnbeschäftigung und Wohlfahrtsstaat

anderen ist Erwerbsarbeit der strukturelle Kern funktional differenzierter, moderner Industriegesellschaften. Wenn der Wohlfahrtsstaat als zentrale Instanz zur Konstitution und Gestaltung sozialer Beziehungsmuster dieser Gesellschaftsform konzeptionalisiert wird, müssen die Organisation und die Ordnung des Arbeitsmarktes wesentliche Aufgabenfelder des Wohlfahrtsstaates darstellen. Dementsprechend sind staatliche Arbeitsmarktinstitutionen ein konstitutives Element des Wohlfahrtsstaates bei einem weiten Wohlfahrtsstaatsverständnis (Lessenich 1994: 224). Bei dem Wohlfahrtsstaatsverständnis von mittlerer Breite ist nicht nur die passive Arbeitsmarktpolitik, sondern auch die aktive Arbeitsmarktpolitik Teil des wohlfahrtsstaatlichen Institutionengefüges, da letztere als Instrument zur Förderung der Gleichheit der Lebensführungschancen verstanden werden kann. Institutionen der aktivierenden Arbeitsmarktpolitik und Institutionen der Arbeitsmarktregulierung sind dahingegen kein Element des Wohlfahrtsstaates. Allerdings argumentieren einige Vertreter eines Wohlfahrtsstaatsverständnisses von mittlerer Breite, dass jene staatlichen Arbeitsmarktinstitutionen, die nicht direkt Teil des wohlfahrtsstaatlichen Institutionengefüges sind, funktionale Äquivalente des Wohlfahrtsstaates darstellen, weil sie die soziale Sicherheit und die Wohlfahrt der Arbeitskräfte beeinflussen. Gemäß dieser Argumentation sind wohlfahrtsstaatliche Arbeitsmarktinstitutionen und staatliche Arbeitsmarktinstitutionen außerhalb des wohlfahrtsstaatlichen Institutionengefüges über ihre Zielfunktion miteinander verbunden. Aus der Konzeption von aktivierender Arbeitsmarktpolitik und staatlicher Arbeitsmarktregulierung als wohlfahrtsstaatliche Politik mit anderen Mitteln leitet sich die Erwartung ab, dass diese staatlichen Arbeitsmarktinstitutionen derselben normativen Grundausrichtung und denselben sozialpolitischen Zielen folgen wie die wohlfahrtsstaatlichen Arbeitsmarktinstitutionen (Bonoli 2003). Dieses Buch folgt dem weiten Wohlfahrtsstaatsverständnis bzw. einem mittleren Begriffsverständnis, das alle nicht direkt wohlfahrtsstaatlichen Arbeitsmarktinstitutionen als funktionale Äquivalente des Wohlfahrtsstaates betrachtet. Beide Varianten verorten staatliche Arbeitsmarktinstitutionen im strukturellen Kontext der normativen und regulativen Leitideen des Wohlfahrtsstaates. Die Entscheidung für dieses konzeptionelle Verständnis des Wohlfahrtsstaates basiert auf der Beobachtung, dass Vertreter eines engen bzw. eines mittleren Wohlfahrtsstaatsverständnisses ihre reduktionistische Perspektive nicht argumentativ begründen. Dahingegen bietet das weite Wohlfahrtsstaatsverständnis

2.2 Wohlfahrtsstaat und Wohlfahrtsstaatstypen

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zwar ein sehr umfassendes, aber auch explizites Kriterium, welche Institutionen Teil des Wohlfahrtsstaates sind. Dies sind nämlich alle Institutionen der staatlichen bzw. staatlich organisierten und verantworteten Produktion individueller und/oder kollektiver Wohlfahrt im Sinne des sozialen Wohlergehens der Bürger (Lessenich 2008: 483). 2.2.2 Ideen und Institutionen im Wohlfahrtsstaat Kein Wohlfahrtsstaat gleicht dem anderen. Dennoch weisen einige Wohlfahrtsstaaten untereinander größere Ähnlichkeit auf als mit anderen. Vor diesem Hintergrund konstruiert die Vergleichende Wohlfahrtsstaatsforschung Wohlfahrtsstaatstypen, die sowohl zur Strukturierung der empirischen Wirklichkeit als auch zur Hypothesenbildung dienen (vgl. Kap. 2.2.3). Die Unterschiede der Wohlfahrtsstaatstypen drücken sich im Wesentlichen auf drei Ebenen aus: den normativen und regulativen Leitideen, den institutionellen Charakteristika sowie deren spezifischen sozialen Strukturierungseffekten (Arts/Gelissen 2010). Verschiedene sozialwissenschaftliche Forschungstraditionen wie z.B. die Institutionensoziologie nach Max Weber, der Historische Institutionalismus und die Feministische Wohlfahrtsstaatsforschung argumentieren, dass eine Wechselbeziehung zwischen Ideen und Institutionen besteht. Nach der Definition des Ideenbegriffs, werden theoretische und empirische Erkenntnisse dieser drei Forschungstraditionen zusammenfassend dargestellt, um die Beziehung zwischen wohlfahrtsstaatlichen Leitideen und wohlfahrtsstaatlichen Institutionen zu verstehen. Definition des Begriffs der Idee Ideen sind normative Leitbilder und grundlegende kausale Deutungsmuster von sozialen Akteuren. Als geistige Konstrukte bilden Ideen einen interpretativen Rahmen, der Akteuren die bewertende Beschreibung und/ oder die Erklärung sozialer, politischer und ökonomischer Phänomene erlaubt. In ihrer Funktion als interpretativer Rahmen beeinflussen Ideen somit erstens, was soziale Akteure als Problem wahrnehmen; zweitens, wie sie das Problem bewerten; und drittens, welche Problemlösungen den sozialen Akteuren angemessen erscheinen. Aus dieser Definition leiten sich unmittelbar die Einflusskanäle von Ideen im politischen Prozess ab: Ideen beeinflussen sowohl, welche Ziele politische Akteure verfolgen als auch, welche gesellschaftlichen Phänomene als politisch relevante Probleme wahrgenommen werden. Darüber hinaus beeinflussen

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2 Konzeptionelle Grundlagen: Niedriglohnbeschäftigung und Wohlfahrtsstaat

Ideen das kognitive und normative Spektrum alternativer Policy-Instrumente, das politischen Akteuren zur Lösung politisch relevanter Probleme zur Verfügung steht (Campbell 1998: 398; Hall 1993: 279; Lieberman 2002: 697; Parsons 2002: 48; Skogstad 1998: 464; Steinmo 2008: 170). Ideen in der Institutionensoziologie Die auf dem Werk von Max Weber aufbauende Institutionensoziologie nach M. Rainer Lepsius konzeptualisiert das Verhältnis zwischen Ideen und Institutionen durch einen Dreiklang zwischen (Wert-) Ideen, Interessen und Institutionen. Knapp zusammengefasst argumentiert Lepsius, dass Interessen ideenbezogen und Ideen interessenbezogen sind. Die Ideenbezogenheit von Interessen begründet er damit, dass Akteure sowohl für die Formulierung von Zielen als auch für die Auswahl von Handlungsalternativen zur Zielerreichung einen Ideen- bzw. einen Wertbezug benötigen. Somit ist die Bildung von ideellen und materiellen Interessen inhärent ideenbezogen. Die Interessenbezogenheit von Ideen entsteht wiederum dadurch, dass sich Ideen einerseits erst an Interessenlagen konkretisieren und andererseits Ideen erst in Bezug auf konkrete Interessenlagen Deutungsmacht gewinnen, d.h. die Problemwahrnehmung sowie die Auswahl von Problemlösungen beeinflussen. Institutionen vermitteln zwischen Ideen und Interessen, da sich sowohl Ideen als auch Interessen in Institutionen verbinden und artikulieren. So entsteht ein andauerndes Wechselspiel zwischen (Wert-) Ideen, Interessen und deren sozialer Institutionalisierung. Das Bindeglied zwischen Ideen und Institutionen sind Lepsius zufolge die Interessen der Akteure: Da die Interessen von Akteuren, die über die Ausgestaltung von Institutionen entscheiden, ideenbezogen sind, sind auch Institutionen ideenbezogen. Somit verschaffen Institutionen (Wert-)Ideen in bestimmten Handlungskontexten Geltung, denn sie konkretisieren spezifische normative Orientierungen, Vorstellungen über die Funktionsweise der Welt (d.h. Vorstelllungen über Kausalbeziehungen) sowie die daraus abgeleiteten Auffassungen von angemessenen Problemlösungen. Letztlich übersetzen Institutionen ideenbezogene gedachte Ordnungen in legitimierte Handlungsräume schaffende konkrete Ordnung (Lepsius 1990, Lessenich 2008; Schluchter 2008). Ideen im Historischen Institutionalismus Eine Reihe von Sozialwissenschaftlern, die in der neo-institutionalistischen Forschungstradition des Historischen Institutionalismus stehen, betonen die Notwendigkeit, Ideen in Erklärungsmodellen über den Ursprung, die Stasis und den

2.2 Wohlfahrtsstaat und Wohlfahrtsstaatstypen

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Wandel wohlfahrtsstaatlicher und wirtschaftspolitischer Institutionen zu berücksichtigen (Blyth 2002; Campbell 1998; Hall 1993; Lieberman 2002; Schmidt 2010; Taylor-Gooby 2005). Während eine Gruppe Historischer Institutionalisten den vermittelnden Einfluss von Institutionen auf die Dominanz bzw. die Deutungsmacht bestimmter Ideen untersuchen, richten andere Vertreter dieser Schule ihren Fokus auf die Prägekraft von Ideen im Prozess der Politikgestaltung bzw. für die Ausgestaltung von Institutionen. So zeigt z.B. Judith Goldstein, dass Institutionen der Außenwirtschaftspolitik bestimmte Ideen über den Freihandel stärken, während sie andere Ideen schwächen (Goldstein 1989). Margaret Weir findet Belege dafür, dass Unterschiede zwischen den Institutionen des politischen Systems in Großbritannien und den USA einen Einfluss darauf ausübten, wann die zwei Länder wirtschaftspolitische Ideen des Keynesianismus übernahmen und wie lange diese Ideen bestand hatten (Weir 1989). In einer mikrodatenbasierten Untersuchung zeigt Christian A. Larsen, dass wohlfahrtsstaatstypenspezifische Unterschiede in der Ausgestaltung wohlfahrtsstaatlicher Institutionen die Wertvorstellungen der Bürger über gesellschaftliche Solidarität und die Rolle des Staates in der Wohlfahrtsproduktion beeinflussen (Larsen 2008). Im Gegensatz zu Goldstein, Weir und Larsen, die den beschränkenden Charakter von Institutionen für die Prägekraft und die Verbreitung bestimmter Ideen aufzeigen, beschäftigen sich andere Historische Institutionalisten mit der Prägekraft von Ideen auf die Ausgestaltung von Institutionen. So zeigt Sven Steinmo am Beispiel von Steuerpolitik, dass ein Zusammenhang zwischen den Ideen politischer Entscheidungsträger, der Ausgestaltung steuerpolitischer Institutionen und der Verteilungswirkung dieser Institutionen besteht (Steinmo 2003). Larsen und Andersen identifizieren einen unabhängigen Effekt neuer ökonomischer Ideen auf den Wandel unterschiedlicher wohlfahrtsstaatlicher Institutionen in Dänemark (Larsen/Andersen 2009). Auch Mark Blyth untersucht in zahlreichen Veröffentlichungen den Einfluss von Ideen auf die Ausgestaltung von Institutionen. In einer Studie zum Wandel wirtschafts- und arbeitsmarkpolitischer Regulierung in Schweden zeigt Blyth, dass ökonomische Ideen eine entscheidende vermittelnde Variable zwischen strukturellem Wandel in der Wirtschaft und institutionellem Wandel auf staatlicher Seite darstellen. In dieser Studie betont er drei Mechanismen wie Ideen Policy-Ergebnisse bzw. die Ausgestaltung von Institutionen beeinflussen: Erstens bestimmen Ideen, was Akteure als ihre Interessen wahrnehmen. Zweitens ermöglichen Ideen politischen Akteuren die Identifizierung von Policy-Problemen sowie die Formulierung und

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2 Konzeptionelle Grundlagen: Niedriglohnbeschäftigung und Wohlfahrtsstaat

Rechtfertigung von Lösungsansätzen. Drittens können Ideen eine kognitive Pfadabhängigkeit auslösen. Dieses Phänomen entsteht, wenn Ideen institutionalisiert wurden und zu einem politischen Paradigma aufgestiegen sind. Unter diesen Bedingungen können Ideen auch unabhängig von den Akteuren, die sie ursprünglich institutionalisiert haben, aktuelle politische Entscheidungen beeinflussen (Blyth 2001). In der Summe unterstützen die Befunde ideenbezogener historisch-institutionalistischer Studien die empirische Relevanz des von Lepsius postulierten Dreiklangs zwischen Ideen, Interessen und Institutionen. Darüber hinaus verdeutlichen sie auch, dass keine Kausalität, sondern eine Wechselbeziehung zwischen Ideen und Institutionen besteht. Ideen in der Feministischen Wohlfahrtsstaatsforschung Viele Arbeiten aus dem Umfeld der Feministischen Wohlfahrtsstaatsforschung nehmen ebenfalls eine ideenbezogene historisch-institutionalistische Perspektive ein. Vor diesem theoretischen Hintergrund beschäftigen sie sich primär mit der Bedeutung von Ideen über Geschlechterrollen und Ideen über die Rolle der Familie für die Konstruktion und Reproduktion wohlfahrtsstaatlicher Institutionen bzw. unterschiedlicher Wohlfahrtsstaatstypen (Béland 2009: 560). So stellen z.B. mehrere komparative Studien der Feministischen Wohlfahrtsstaatsforschung fest, dass gesellschaftlich dominante Ideen über die Rolle der Frau in der Gesellschaft Prägekraft auf jene wohlfahrtsstaatlichen Institutionen ausüben, die die Erwerbstätigkeit von Frauen und Müttern beeinflussen. Sobald genderspezifische Ideen institutionell verankert sind und dadurch das Verhalten der Menschen (wie z.B. das Arbeitsangebot von Müttern) beeinflussen, reproduzieren diese Institutionen wiederum die Ideen, die sie ursprünglich geprägt haben (Béland 2005; Lewis 1992; Padamsee 2009). Die Soziologin Birgit Pfau-Effinger, die ebenfalls in der Tradition der Vergleichenden Feministischen Wohlfahrtsstaatsforschung steht, argumentiert, dass unterschiedliche Leitideen zwischen Wohlfahrtsstaatstypen eine wesentliche Ursache für Unterschiede in der Ausgestaltung wohlfahrtsstaatlicher Institutionen darstellen. Im Einklang mit den theoretischen Erwartungen und empirischen Einsichten der Institutionensoziologie nach Max Weber und dem Historischen Institutionalismus resümiert PfauEffinger, dass wohlfahrtsstaatliche Institutionen das Resultat von Konflikten, Verhandlungsprozessen und Kompromissen sozialer Akteure in Beziehung zu ihren Ideen und Interessen sowie institutionellen Strukturen darstellen. Ideen und wohlfahrtsstaatliche Institutionen sind durch gegenwärtige und vergangene Handlungen politischer Akteure verbunden, denn politische Akteure vereinen

2.2 Wohlfahrtsstaat und Wohlfahrtsstaatstypen

55

sowohl Ideen als auch Interessen im politischen Entscheidungsprozess (PfauEffinger 2005: 6-10). In diesem Zusammenhang weist Pfau-Effinger auch auf den analytischen Mehrwert des Konzeptes der „welfare culture“ (bzw. Wohlfahrtskultur) zur Erklärung der Ausgestaltung wohlfahrtsstaatlicher Institutionen sowie struktureller Outcomes in unterschiedlichen Wohlfahrtsstaatstypen hin. Wohlfahrtskultur ist definiert als „[...] the relevant ideas in a given society surrounding the welfare state and the way it is embedded in society.” (PfauEffinger 2005: 4). Das Konzept der Wohlfahrtskultur ist somit Ausdruck der fundamentalen Verwobenheit von wohlfahrtsstaatlichen Ideen und Institutionen (Oorschot et al. 2008: 11). Die Wohlfahrtskultur eines empirisch beobachtbaren Wohlfahrtsstaates muss allerdings nicht logisch konsistent sein, sondern kann sowohl auf der ideellen als auch auf der institutionellen Ebene Widersprüche enthalten. Dennoch haben dominante (Wert-)Ideen innerhalb einer Wohlfahrtskultur die Tendenz, dass Spektrum wohlfahrtsstaatlicher Policies zu beschränken. Die Quintessenz dieser unterschiedlichen theoretischen und empirischen Arbeiten über das Verhältnis von Ideen und Institutionen besteht darin, dass keine Kausalität, sondern eine Wechselbeziehung zwischen Ideen und Institutionen besteht. Diese Wechselbeziehung drückt sich insbesondere darin aus, dass einerseits Ideen Prägekraft auf die Ausgestaltung von Institutionen ausüben. Andererseits reproduzieren Institutionen bestimmte Ideen und können auch eine beschränkende Wirkung auf den Einfluss von Ideen ausüben. Im Kontext des Wohlfahrtsstaates gilt analog, dass aus theoretischer Perspektive eine Wechselbeziehung zwischen den normativen und regulativen Leitideen eines Wohlfahrtsstaates und der Ausgestaltung wohlfahrtsstaatlicher Institutionen zu erwarten ist. Diese Wechselbeziehung wird im konzeptionellen Analyserahmen durch den Doppelpfeil 2 visualisiert. 2.2.3 Wohlfahrtsstaatstypen Zum Zweck der Ordnung, Strukturierung und Hypothesenbildung werden in der Vergleichenden Wohlfahrtstaatsforschung Wohlfahrtsstaatstypologien konstruiert (z.B. Esping-Andersen 1990, Ferrera 1996, Bonoli 1997). Diese Typologien differenzieren jeweils zwischen mehreren Typen von Wohlfahrtsstaaten, die sich in ihren normativen und regulativen Leitideen, den grundlegenden Charakteristika ihrer wohlfahrtsstaatlichen Institutionen und somit auch in ihren sozialen Strukturierungseffekten unterscheiden (Arts/Gelissen 2006). Die am häu-

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2 Konzeptionelle Grundlagen: Niedriglohnbeschäftigung und Wohlfahrtsstaat

figsten rezipierte Wohlfahrtsstaatstypologie stammt von Esping-Andersen (1990). Er differenziert zwischen drei idealtypischen Wohlfahrtsstaaten: dem liberalen, dem konservativen und dem sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaatstypus. Mit der Erweiterung von Esping-Andersens dreigliedriger Typologie um den mediterranen Typus (Ferrera 1996) und den mittelosteuropäischen Typus (Cook 2010), können alle 36 entwickelten Volkswirtschaften näherungsweise einem idealtypischen Wohlfahrtsstaat zugeordnet werden, so dass insgesamt fünf realtypische Wohlfahrtsstaatscluster entstehen, deren Elemente untereinander größere Ähnlichkeit aufweisen sollten, als mit den Elementen anderer Cluster. 2.2.3.1 Ideal- und realtypische Wohlfahrtsstaaten Alle Wohlfahrtsstaatstypologien identifizieren jeweils eine begrenzte Anzahl von ideal- und/ oder realtypischen Wohlfahrtsstaaten (Arts/Gelissen 2010). Im Sinne von Max Webers Definition des Idealtypus ist ein idealtypischer Wohlfahrtsstaat als Abstraktion und Überspitzung real existierender Eigenschaften von Wohlfahrtsstaaten zu verstehen. Ihr abstrakter Charakter bzw. ihre Zwischenstellung zwischen Theorie und Empirie prädestiniert Idealtypen sowohl zur Hypothesenbildung als auch als Ordnungskategorie zur Strukturierung der empirischen Wirklichkeit (Weber 1988/1922: 190f.). Mit dem Begriff des realtypischen Wohlfahrtsstaates wird ein empirisch beobachtbarer Wohlfahrtsstaat bezeichnet, der näherungsweise einem bestimmten idealtypischen Wohlfahrtsstaat zugeordnet werden kann. Die Bildung idealtypischer Wohlfahrtsstaaten ermöglicht somit, empirisch beobachtbare Wohlfahrtsstaaten hinsichtlich ihrer Übereinstimmung mit diesen Idealtypen zu vergleichen. In Abhängigkeit vom Grad ihrer Übereinstimmung mit den Idealtypen, werden Wohlfahrtsstaaten als realtypische Manifestationen jenes Idealtypus klassifiziert, mit dem sie die größte Übereinstimmung zeigen. Dennoch entsprechen realtypische Wohlfahrtsstaaten nur approximativ dem Idealtypus. In der empirischen Wohlfahrtsstaatsforschung dient die idealtypenbasierte Typologisierung einerseits zur Hypothesenbildung über ideelle, institutionelle und strukturelle Merkmale realtypischer Wohlfahrtsstaaten. Andererseits dienen idealtypenbasierte Typologien auch als Ordnungskategorie, denn Wohlfahrtsstaaten können anhand ihrer Ähnlichkeit zu Idealtypen in realtypische Wohlfahrtsstaatscluster gruppiert werden. Die ideellen, institutionellen und strukturellen Charakteristika dieser realtypischen Wohlfahrtsstaatcluster können dann wiederum auf ihre interne Homogenität und externe Heterogenität untersucht werden (Kluge 1999: 43f.).

2.2 Wohlfahrtsstaat und Wohlfahrtsstaatstypen

57

Zur Typologisierung aller entwickelten Volkswirtschaften genügen insgesamt fünf Wohlfahrtsstaatstypen: der sozialdemokratische, konservative, liberale, mediterrane und mittelosteuropäische Typus. Bis auf den mittelosteuropäischen Typus, stammen all diese Typen aus idealtypenbasierten Wohlfahrtsstaatstypologien im Sinne von Max Weber. Der mittelosteuropäische Typus ist dahingegen eher als empirisch fundierter Realtypus zu betrachten, denn mittelosteuropäische Wohlfahrtsstaaten werden aufgrund ähnlicher historischer, institutioneller und struktureller Charakteristika häufig als ein Wohlfahrtsstaatstypus behandelt. Allerdings beziehen sich diese Realtypen auf keinen abstrakten Idealtypus. Jeder idealtypische Wohlfahrtsstaat basiert auf spezifischen normativen und regulativen Leitideen und deren Wechselbeziehung mit den Institutionen des Wohlfahrtsstaates. Die Leitideen definieren, welche gesellschaftlichen Phänomene in den Zuständigkeitsbereich wohlfahrtsstaatlicher Politik fallen, welche Ziele der Wohlfahrtsstaat verfolgen sollte und welche grundsätzlichen Lösungen für Probleme des kollektiven Handelns im Bereich der Wohlfahrtsproduktion zu wählen sind. Auch Esping-Andersens einflussreiche Wohlfahrtsstaatstypologie hat ein ideenbezogenes Fundament. Esping-Andersen rückt politische Ideologien (Liberalismus, Konservatismus, Sozialdemokratie/ Sozialismus) in den Fokus seiner Typenbildung und argumentiert, dass Unterschiede in den „main principles“ der Ausgestaltung wohlfahrtsstaatlicher Politik ursächlich für typenspezifische institutionelle und strukturelle Charakteristika seien (EspingAndersen 1990: 21). Diese „main principles“ spezifiziert er als ideologisch und sozialphilosophisch verankerte normative und regulative Ideen bezüglich der Verknüpfung von Erwerbsarbeit und sozialer Sicherheit, des angestrebten Ausmaßes gesellschaftlicher Solidarität und Gleichheit sowie der Zentralität des Staates, des Marktes und der Familie in der Wohlfahrtsproduktion. Gemäß Esping-Andersen bilden der sozialdemokratische und der liberale Idealtypus zwei entgegengesetzte Pole der Idee von Wohlfahrtsstaatlichkeit: Während Gleichheit, soziale Sicherheit und Emanzipation der Staatsbürger vor den Kräften des Marktes die normativen Leitideen des sozialdemokratischen Idealtypus darstellen, sind Freiheit und Marktfähigkeit des Individuums die normativen Leitideen des liberalen Idealtypus. Hinsichtlich der regulativen Leitideen folgt der sozialdemokratische Idealtypus der Leitidee einer generösen, universalistischen Staatsbürgerversorgung während der liberale Idealtypus die Leitidee

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2 Konzeptionelle Grundlagen: Niedriglohnbeschäftigung und Wohlfahrtsstaat

größtmöglicher Eigenverantwortung für die soziale Sicherheit verkörpert (E21 sping-Andersen 1990: 26ff.). Aus der Verknüpfung des konzeptionellen Verhältnisses zwischen ideal- und realtypischem Wohlfahrtsstaat mit der theoretisch erwarteten Wechselbeziehung zwischen wohlfahrtsstaatlichen Leitideen und Institutionen leitet sich die Erwartung ab, dass Wohlfahrtsstaaten innerhalb eines realtypischen Wohlfahrtsstaatsclusters geteilte normative und regulative Leitideen sowie ähnliche Charakteristika ihrer wohlfahrtsstaatlichen Institutionen aufweisen. Zwischen den verschiedenen realtypischen Wohlfahrtsstaatsclustern sollten dahingegen substanzielle Unterschiede zu beobachten sein. Abbildung 2.1 illustriert diese Erwartung anhand eines generischen idealtypischen Wohlfahrtsstaats und dem dazugehörigen realtypischen Wohlfahrtsstaatscluster. Während der graue Kreis auf der linken Seite von Abbildung 2.1 einen idealtypischen Wohlfahrtsstaat darstellt, bündelt die gestrichelte Ellipse auf der rechten Seite die realtypischen Manifestationen dieses Idealtypus in einem realtypischen Wohlfahrtsstaatscluster. Da der Idealtypus das Resultat von Isolierung und Überspitzung bestimmter Aspekte empirisch beobachtbarer Wohlfahrtsstaaten darstellt (Kluge 1999: 62), sind der graue Kreis und die gestrichelte Ellipse durch einen Doppelpfeil verbunden. Dieses Verbindungselement symbolisiert die Wechselbeziehung zwischen Ideal- und Realtypus. Der idealtypische Bezug des realtypischen Wohlfahrtsstaatsclusters erlaubt den Rückschluss, dass die Länder innerhalb des Clusters ein geteiltes Set normativer und regulativer Leitideen haben. Aus den politikfeldübergreifenden Leitideen können Erwartungen über geteilte politikfeldbezogene normative und regulative Orientierungen bezüglich der Art und Intensität wohlfahrtsstaatlicher Eingriffe in Politikfeldern wie der Arbeitsmarkt-, Sozial-, Renten-, Gesundheits- oder Familienpolitik abgeleitet werden. Aufgrund der Wechselbeziehung zwischen Ideen und Institutionen ist zu erwarten, dass die institutionellen Charakteristika eines Politikfeldes die politikfeldbezogenen normativen und regulativen Orientierungen näherungsweise spiegeln. Die Ideenbezogenheit von Institutionen führt somit zu einer Institutionalisierung von Ideen.

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Die Leitideen des konservativen, mediterranen und mittelosteuropäischen Wohlfahrtsstaatstypus werden in Kapitel 2.2.3.2 dargestellt.

(ähnliche) institutionelle Designs in Politikfeld B

(geteilte) normative und regulative Orientierung in Politikfeld B

realtypisches Wohlfahrtsstaatscluster

Abbildung 2.1: Verhältnis ideal- und realtypischer Wohlfahrtsstaaten

idealtypischer Wohlfahrtsstaat (mit spezifischen normativen und regulativen Leitideen sowie spezifischen institutionellen Charakteristika)

(geteilte) normative und regulative Leitideen

(ähnliche) institutionelle Designs in Politikfeld A

(geteilte) normative und regulative Orientierung in Politikfeld A

empirisch beobachtbare Wohlfahrtsstaaten als realtypische Manifestationen des Idealtypus

2.2 Wohlfahrtsstaat und Wohlfahrtsstaatstypen 59

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2 Konzeptionelle Grundlagen: Niedriglohnbeschäftigung und Wohlfahrtsstaat

2.2.3.2 Charakteristika der Wohlfahrtsstaatstypen Insgesamt werden fünf Wohlfahrtsstaatstypen verwendet, um alle entwickelten Volkswirtschaften einem Typus zuordnen zu können. In der International Vergleichenden Wohlfahrtsstaatsforschung ist es gängige Forschungspraxis, unterschiedliche Wohlfahrtsstaatstypologien zu kombinieren, um alle Analyseeinheiten typologisieren zu können (siehe zum Beispiel Oorschot 2006). Als Ausgangspunkt zur wohlfahrtsstaatlichen Typologisierung entwickelter Volkswirtschaften dient Esping-Andersens Wohlfahrtsstaatstypologie, da diese Typologie einen quasi paradigmatischen Status in der Wohlfahrtsstaatsforschung einnimmt (Esping-Andersen 1990). Auf Grundlage der Kriterien der Dekommodifizierung (Emanzipation der Individuen von der Marktabhängigkeit), Stratifizierung (Art und Ausmaß der Beeinflussung der sozialen Schichtung durch den Wohlfahrtsstaat) sowie der Aufgabenteilung zwischen Staat, Markt und Familie in der Wohlfahrtsproduktion, identifiziert Esping-Andersen drei idealtypische Wohlfahrtsstaaten: sozialdemokratischer, konservativer und liberaler Wohlfahrtsstaat. Da Esping-Andersen bei Weitem nicht alle entwickelten Volkswirtschaften als Falluniversum zur Konstruktion seiner Wohlfahrtsstaatstypologie verwendet hat, wird seine dreigliedrige Typologie um den mediterranen und den mittelosteuropäischen Wohlfahrtsstaatstypus erweitert. Durch die Kombination von Wohlfahrtsstaatstypen unterschiedlicher Typologien, kommt es bei einigen Ländern zu abweichenden Typisierungen. Solche ambivalenten Fälle werden kenntlich gemacht, aber die Typisierung der Länder richtet sich im Zweifelsfall immer nach Esping-Andersen. Die folgenden Seiten geben eine kondensierte Beschreibung der idealtypischen ideellen, institutionellen und strukturellen Charakteristika der fünf Wohlfahrtsstaatstypen. Darüber hinaus wird diskutiert, welche Länder den jeweiligen Wohlfahrtsstaatstypen zugeordnet werden. Ein zusammenfassender Überblick der typenspezifischen Charakteristika und der Zusammensetzung der realtypischen Wohlfahrtsstaatscluster erfolgt abschließend in Tabelle 2.5. Der sozialdemokratische Wohlfahrtsstaatstypus Im sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaatstypus nimmt der Staat die zentrale Rolle in der Wohlfahrtsproduktion ein und wird so „zum Dreh- und Angelpunkt sozialpolitischer Problemdefinitionen und Interessenlagen“ (Lessenich 1994: 227). Auf Grundlage der regulativen Leitidee des egalitären Universalismus hat

2.2 Wohlfahrtsstaat und Wohlfahrtsstaatstypen

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jeder Staatsbürger den gleichen Anspruch auf wohlfahrtsstaatliche Leistungen. Das System der universalistischen Staatsbürgerversorgung soll ein hohes Niveau an Gleichheit, sozialer Sicherheit und gesellschaftlicher Solidarität sowie eine größtmögliche individuelle Unabhängigkeit von den Versorgungsinstitutionen des Marktes und der Familie gewährleisten. Zur Realisierung dieser Ziele investieren sozialdemokratische Wohlfahrtsstaaten einen erheblichen Anteil ihres Bruttoinlandsproduktes in die Finanzierung wohlfahrtsstaatlicher Institutionen. Neben den hohen Ausgaben für den Wohlfahrtsstaat kommt auch der Ausgestaltung wohlfahrtsstaatlicher Institutionen eine entscheidende Bedeutung zu: Erstens gewährt der Staat umfangreiche, an den Staatsbürgerstatus geknüpfte soziale Rechte, so dass weite Bevölkerungsgruppen von wohlfahrtsstaatlichen (Dienst-) Leistungen profitieren. Zweitens garantieren sozialdemokratische Wohlfahrtsstaaten generöse Einkommensersatzleistungen zur sozialen Sicherung der Bürger gegen die diversen Risiken moderner Industriegesellschaften (z.B. Alter, Arbeitslosigkeit, Krankheit, Pflegebedürftigkeit, Elternschaft etc.). Drittens zeichnet sich dieser Wohlfahrtsstaatstypus durch einen großen öffentlichen sozialen Dienstleistungssektor aus. Dadurch schafft er einerseits ein ausgedehntes Angebot an sozialen Diensten und Dienstleistungen. Andererseits bietet der öffentliche soziale Dienstleistungssektor ein wirkungsvolles Instrument zur Förderung der Geschlechtergleichberechtigung und der Integration von Frauen in den Arbeitsmarkt. Viertens stellen die aktive Arbeitsmarktpolitik sowie die Koordination des Staates mit Institutionen der industriellen Beziehungen einen elementaren Bestanteil wohlfahrtsstaatlicher Politik dar. Die Finanzierung dieses solidarischen und generösen Wohlfahrtssystems basiert primär auf Steuern, wobei zusätzliche beitragsfinanzierte Versicherungssysteme (insbesondere betriebliche Rentensysteme) existieren. Um die generösen Transferleistungen sowie das breite Spektrum an öffentlichen sozialen Dienstleistungen finanzieren zu können, ist Vollbeschäftigung ein zentrales Ziel des sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaatstypus. Die institutionelle Konfiguration des sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaatstypus hat eine starke vertikale Umverteilungswirkung. Auf der strukturellen Ebene wirkt sich die institutionelle Konfiguration somit egalisierend auf die Verteilung des Wohlstandes aus und mindert die soziale Ungleichheit innerhalb der Gesellschaft. Aufgrund umfangreicher sozialer Rechte, hoher Transferleistungen, einer langen Anspruchsdauer auf diese Leistungen sowie allgemein geringer Leistungsanspruchskriterien, entfaltet der sozialdemokratische Wohlfahrtsstaat eine stark dekommodifizierende

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2 Konzeptionelle Grundlagen: Niedriglohnbeschäftigung und Wohlfahrtsstaat

Wirkung (Arts/Gelissen 2006: 177; Esping-Andersen 1990: 27f.; Kautto 2010; Ullrich 2005: 47). Als Prototyp des sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaatstypus gilt Schweden. Insgesamt werden fünf Länder diesem Wohlfahrtsstaatstypus zugerechnet: Schweden, Norwegen, Finnland, Dänemark und Island. Das finnische Wohlfahrtssystem wird allerdings von einigen Studien als konservativer Typus klassifiziert. Aus diesem Grund wird Finnland in Tabelle 2.5 in Klammern als sozialdemokratischer Wohlfahrtsstaat aufgeführt. Die Mehrheit der Wohlfahrtsstaatsforscher betrachtet Finnland jedoch als sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaat (Ferragina/Seeleib-Kaiser 2011: 588f.) Der konservative Wohlfahrtsstaatstypus Der konservativ-korporatistische Wohlfahrtsstaatstypus beruht auf der „fundamental konservativen Wertvorstellung einer Sicherung des individuellen ökonomischen Status bzw. der interindividuellen Status-Unterschiede“ (Lessenich 1994: 227). Die regulative Leitidee der Status-Hierarchie impliziert, dass das wohlfahrtsstaatliche Institutionengefüge marktinduzierte Ungleichheitsmuster nicht korrigiert, sondern reproduziert. Die Gewährleistung sozialer Sicherheit ist zwar ein zentrales Ziel dieses Wohlfahrtsstaatstypus, aber die Vorstellung von sozialer Gerechtigkeit ist primär durch das Leistungsprinzip und das Äquivalenzprinzip geprägt. Aus diesem Grund legen konservative Wohlfahrtsstaaten weniger Wert auf Armutsvermeidung oder die Reduzierung sozialer Ungleichheit im Allgemeinen. Stattdessen koppeln sie den Umfang sozialer Rechte an die Klasse bzw. den (Arbeitsmarkt-) Status der Staatsbürger. Diese Konditionalität soll sicherstellen, dass sich Sozialleistungen proportional zu individuell vorerbrachten Beitragszahlungen verhalten, die Position auf dem Arbeitsmarkt reflektieren und somit zur Statussicherung der Bürger beitragen. Darüber hinaus stellt das 22 Subsidiaritätsprinzip einen wesentlichen normativen Grundstein des konservativen Wohlfahrtstaatstypus dar: Der Staat soll erst in letzter Instanz Verantwortung für die Wohlfahrtsproduktion übernehmen, d.h. erst dann, wenn die soziale Sicherung durch nachgeordnete (subsidiäre) Sicherungsinstitutionen nicht funktioniert oder nicht ausreicht. Diese Prinzipien und Ziele stellen das normative Fundament des konservativen Wohlfahrtsstaatstypus dar und erklä22

Das Subsidiaritätsprinzip stammt aus der katholischen Soziallehre und fordert, dass die initiale Verantwortung für die Wohlfahrtsproduktion bei möglichst kleinen sozialen Einheiten wie der Familie oder Wohlfahrtsverbänden anzusiedeln ist.

2.2 Wohlfahrtsstaat und Wohlfahrtsstaatstypen

63

ren sowohl die Zentralität der Familie als Versorgungsinstitution als auch die Dominanz des Sozialversicherungsmodells als Instrument der sozialen Sicherung. Das beitragsfinanzierte und einkommensabhängige Sozialversicherungssystem ist traditionell auf den Statuserhalt männlicher Arbeitnehmer mit Normalarbeitsverhältnissen ausgerichtet. Im Rahmen des Selbstverwaltungsprinzips werden die sozialen Pflichtversicherungen häufig nicht durch den Staat, sondern durch die Sozialpartner verwaltet. Neben den Sozialversicherungen, existiert auch eine steuerfinanzierte, bedürftigkeitsgeprüfte soziale Mindestsicherung für Staatsbürger, deren soziale Absicherung aufgrund langer Erwerbslosigkeit nicht (mehr) von den Sozialversicherungen gewährleistet wird. Das soziale Sicherungssystem konservativer Wohlfahrtsstaatsstaaten besteht vorwiegend aus monetären Sozialleistungen. Öffentliche soziale Dienstleistungen sind dahingegen eher unterentwickelt, da diese Aufgaben entsprechend dem Subsidiaritätsprinzip nachgeordneten Sicherungsinstitutionen überlassen werden. Hinsichtlich der Generosität monetärer Sozialleistungen bestehen starke Unterschiede, deren Ursache zum einen in der Zweiteilung zwischen beitragsfinanzierten Sozialversicherungsleistungen und steuerfinanzierten Fürsorgeleistungen besteht. Zum anderen verursacht auch das Prinzip der Beitragsäquivalenz innerhalb des Sozialversicherungssystems erhebliche Unterschiede in der Generosität der Transferleistungen. Die institutionelle Konfiguration des konservativen Wohlfahrtsstaatstypus entfaltet ein mittleres Dekommodifizierungsniveau und moderate Umverteilungseffekte, wobei die Richtung der Einkommensumverteilung eher horizontal als vertikal verläuft. Das Niveau der sozialen Sicherung ist determiniert durch unterschiedliche sozioökonomische Merkmale wie z.B. Geschlecht, Alter, beruflicher Status und Art des Beschäftigungsverhältnisses. Auf der strukturellen Ebene bewirkt dies eine Verfestigung der marktinduzierten sozialen Stratifizierung sowie eine Segmentierung der Gesellschaft in unterschiedliche Statusgruppen (Arts/Gelissen 2006: 176f.; Esping-Andersen 1990: 27; Palier 2010; Siegel 2007: 263ff.; Ullrich 2005: 46). Als Prototyp des konservativ-korporatistischen Wohlfahrtsstaatstypus gilt Deutschland. Insgesamt können neun Länder diesem Wohlfahrtsstaatstypus zugerechnet werden: Deutschland, Frankreich, Österreich, Luxemburg, Belgien, Italien, die Niederlande, die Schweiz und Japan. Bei fünf dieser Länder herrscht allerdings eine intensivere Debatte hinsichtlich ihrer Typisierung: Belgien wird teilweise dem sozidemokratischen und Italien dem mediterranen Wohlfahrts-

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2 Konzeptionelle Grundlagen: Niedriglohnbeschäftigung und Wohlfahrtsstaat

staatstypus zugeordnet. Die Niederlande werden häufig als hybrides Wohlfahrtssystem klassifiziert während in der Schweiz starke liberale Züge identifiziert werden. Japan besitzt ebenfalls viele liberale Systemeigenschaften oder wird sogar einem eigenen asiatischen Wohlfahrtsstaatstypus zugeordnet (Arts/Gelissen 2006: 186f.; Ferragina/Seeleib-Kaiser 2011: 588f.). Der liberale Wohlfahrtsstaatstypus Der Wert der Freiheit bildet das normative Fundament des liberalen Wohlfahrtsstaatstypus. Um dem Individuum größtmögliche Freiheit zu gewähren, folgt der liberale Typus der regulativen Leitidee der individuellen Eigenverantwortung. Das Ziel der individuellen Freiheit soll durch eine residuale Wohlfahrtsstaatlichkeit sowie die Wahrung der Marktkonformität wohlfahrtsstaatlicher Institutionen und Maßnahmen realisiert werden. Somit ist der Markt einerseits der zentrale Ort der Wohlfahrtsproduktion und spielt andererseits die Schlüsselrolle bei der Allokation von Ressourcen und Wohlstand in der Gesellschaft. Der Staat übernimmt lediglich eine sozialpolitische Restverantwortung für jene Individuen, die keine Markteinkommen erzielen und sich keine private, marktvermittelte soziale Sicherung leisten können. Vor dem Hintergrund dieser sozialpolitischen Philosophie sind die Förderung des Marktes sowie die Förderung der Marktfähigkeit der Individuen elementare Ziele des liberalen Wohlfahrtsstaatstypus. Aus der Leitidee „viel Markt, wenig Staat“ leitet sich auch das Primat der Ordnungspolitik gegenüber der Prozesspolitik ab, d.h. der Staat soll so wenig wie möglich in das Marktgeschehen intervenieren. Aber auch die institutionellen Rahmenbedingungen, die durch die Ordnungspolitik geschaffen werden, sollen die Kräfte des Marktes eher freisetzen als einschränken. Im Einklang mit diesen Prinzipien und Zielen zeichnen sich liberale Wohlfahrtsstaaten durch schwach entwickelte soziale Rechte, geringe staatliche Sozialausgaben sowie eine niedrige wohlfahrtsstaatliche Interventionsintensität aus. Stattdessen fördert der Staat private Sicherungsformen. Es existieren keine korporatistischen Strukturen auf dem Arbeitsmarkt, da solche Strukturen Lohnrigiditäten verursachen und die Flexibilität der Arbeitsmarktakteure einschränken würden. Sofern wohlfahrtsstaatliche Interventionen stattfinden, richtet sich ihr Fokus auf die Vermeidung extremer Armut bzw. die Minderung der Folgen von Armut. Die wohlfahrtsstaatlichen Maßnahmen zur Armutsvermeidung folgen dem Prinzip der bedürftigkeitsgeprüften und bedarfsbasierten Sozialfürsorge. Den Anspruchsberechtigten werden niedrige univer-

2.2 Wohlfahrtsstaat und Wohlfahrtsstaatstypen

65

selle Transferleistungen ausgezahlt, deren Finanzierung primär durch Steuermittel erfolgt. Öffentliche soziale Dienste und Dienstleistungen sind weitgehend unterentwickelt, da das Wohlfahrtssystem auf die Armenfürsorge mittels monetärer Sozialleistungen ausgerichtet ist. Insgesamt garantiert das Institutionengefüge des liberalen Wohlfahrtsstaatstypus den Staatsbürgern zwar eine minimale staatliche Grundversorgung, reduziert jedoch kaum die individuelle Abhängigkeit von den Zwängen und Risiken des kapitalistischen Arbeitsmarktes. Somit schwächen liberale Wohlfahrtsstaaten weder die Zentralität des Marktes als Ort der Wohlfahrtsproduktion noch ändern sie in bedeutsamem Umfang die durch den Allokationsmechanismus des Marktes geprägte Sozialstruktur. Letztlich bewirkt der Fokus auf eine minimale Armenfürsorge eine Verschärfung bestehender sozialer Ungleichheiten und trägt zur Exklusion weiter Bevölkerungsgruppen von Wohlstand und gesellschaftlicher Teilhabe bei (Castles 2010; Esping-Andersen 1990: 26f.; Hicks/Esping-Andersen 2005: 512f.; Ullrich 2005: 46). Als Prototyp des liberalen Wohlfahrtstypus gelten die USA. Insgesamt können sechs Länder diesem Wohlfahrtsstaatstypus zugerechnet werden: Die USA, Großbritannien, Irland, Kanada, Australien und Neuseeland. Allerdings werden Kanada und Irland teilweise auch als konservative Wohlfahrtsstaatstypen klassifiziert (Ferragina/Seeleib-Kaiser 2011: 588f.). Einige Wohlfahrtsstaatsforscher, wie z.B. Castles/Mitchell 1993 und Obinger/Wagschal 1998, klassifizieren Australien und Neuseeland als „radikale Wohlfahrtsstaaten“. Auch der radikale Wohlfahrtsstaatstypus zeichnet sich durch eher geringe staatliche Sozialausgaben und bedürftigkeitsgeprüfte, auf Armutsvermeidung fokussierte Sozialleistungen aus. Im Gegensatz zum liberalen Typus sind die Anspruchskriterien für wohlfahrtsstaatliche Transferleistungen jedoch deutlich niedriger, so dass ein relativ inklusives System bedürftigkeitsgeprüfter universeller Sozialleistungen entsteht. Darüber hinaus dient staatliche Arbeitsmarktpolitik als funktionales Äquivalent für staatliche Sozialpolitik, d.h. Mindestlohnpolitik und ein starker Arbeitnehmerschutz werden als Instrumente der Einkommenssicherung und der Umverteilung von Wohlstand eingesetzt (Arts/Gelissen 2006:183). Der mediterrane Wohlfahrtsstaatstypus Der Typus des mediterranen Wohlfahrtsstaates entstand aus der Kritik an Esping-Andersens Fallauswahl, die außer Italien keine weiteren südeuropäischen Wohlfahrtsstaaten enthält (Esping-Andersen 1990). Kritiker argumentieren,

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2 Konzeptionelle Grundlagen: Niedriglohnbeschäftigung und Wohlfahrtsstaat

dass Esping-Andersen Italien nur deshalb dem konservativen Wohlfahrtsstaatstypus zuordnen konnte, weil Länder wie Portugal, Spanien und Griechenland nicht Teil seiner Fallauswahl waren. Werden dahingegen mehr südeuropäische Länder in die Fallauswahl aufgenommen, treten ihre strukturellen und institutionellen Gemeinsamkeiten in Abgrenzung zu anderen Wohlfahrtsstaatstypen so deutlich zutage, dass ein eigenständiger mediterraner Wohlfahrtsstaatstypus identifiziert werden kann (Bonoli 1997; Ferrera 1996; Leibfried 1992). Weder Esping-Andersens Argument, dass es sich bei den südeuropäischen Wohlfahrtsstaaten um eine unterentwickelte Variante des konservativen Wohlfahrtsstaatstypus handelt, noch die Position, dass die südeuropäischen Wohlfahrtsstaaten ein eigens Cluster bilden, hat sich in der Vergleichenden Wohlfahrtsstaatsforschung einvernehmlich durchgesetzt. Insgesamt dominiert allerdings die Ansicht, dass die südeuropäischen Länder einen eigenständigen Typus konstituieren. Dieser Standpunkt wird auch durch die Europäische Kommission gestützt, die seit Anfang der 1990er Jahre von einem eigenständigen südeuropäischen Wohlfahrtsmodell ausgeht (Europäische Kommission 1993, 1995). Ferrera klassifiziert Portugal, Spanien, Italien und Griechenland als mediterrane Wohl23 fahrtsstaaten (Ferrera 1996). Wird die relativ willkürliche Einschränkung auf Länder des europäischen Festlandes aufgegeben, so wird ein erweitertes Cluster mediterraner Wohlfahrtsstaaten ersichtlich. Zu diesem Cluster gehören 24 Portugal, Spanien, Italien, Griechenland, Zypern, Malta, Israel sowie die Türkei (Gal 2010). Auch bei einem erweiterten Verständnis der Gruppe mediterraner Wohlfahrtsstaaten existieren viele historische, institutionelle und strukturelle Gemeinsam25 keiten zwischen den Ländern. Aus historischer Perspektive ähneln sich medi23

24

25

Leibfried zählt zusätzlich Frankreich zum mediterranen Cluster (Leibfried 1992), während Bonoli auch die Schweiz als Teil eines südeuropäischen Clusters betrachtet (Bonoli 1997). Entsprechend der Typologie von Esping-Andersen werden beide Länder im Rahmen dieser Arbeit allerdings dem konservativen Wohlfahrtsstaatstypus zugeordnet. Insbesondere Frankeich gilt gemeinhin als klassischer Vertreter des konservativen Wohlfahrtsstaatstypus (Ferragina/SeeleibKaiser 2011: 588). Die Türkei gehört gemäß der ILO allerdings nicht zu der Gruppe entwickelter Volkswirtschaften. Die Ausdehnung des mediterranen Wohlfahrtsstaatsclusters führt allerdings auch zu einem Wegfall von Gemeinsamkeiten: Während bei einem geografisch engeren Verständnis mediterraner Wohlfahrtsstaaten das beitragsfinanzierte Sozialversicherungsmodell ein wichtiges Systemmerkmal konstituiert, entfällt die Dominanz dieses Finanzierungsprinzips, wenn das mediterrane Cluster um Zypern, Malta, Israel und die Türkei erweitert wird (Gal 2010: 294). Insofern kann der mediterrane Wohlfahrtsstaatstypus, bei einem geografisch erweiterten Verständnis,

2.2 Wohlfahrtsstaat und Wohlfahrtsstaatstypen

67

terrane Wohlfahrtsstaaten durch einen hohen Einfluss der Religion auf Gesellschaft und Politik, eine späten Beginn der Industrialisierung, eine starke Segmentierung des Arbeitsmarktes in Insider und Outsider, ein traditionell hohes Ausmaß an Schattenwirtschaft, eine ineffiziente Bürokratie sowie eine weite Verbreitung von Klientelismus. Darüber hinaus erlebten viele mediterrane Länder in jüngerer Geschichte autoritäre Herrschaftsformen (Griechenland, Italien, Portugal, Spanien, Türkei) oder standen unter Kolonialherrschaft wie in den Fällen von Malta, Zypern und Israel (Gal 2010: 288f.). Dieses historische Erbe hat negative Konsequenzen für die Inklusivität, die Finanzierungsgrundlage sowie für die effiziente und zielgerichtete Funktionsweise des Wohlfahrtsstaates. Im mediterranen Wohlfahrtsstaatstypus ist die Familie der zentrale Ort der Wohlfahrtsproduktion. Der mediterrane Typus gewährt seinen Staatsbürgern kaum soziale Rechte und hat im Vergleich zum konservativen Typus eine deutlich geringere Sozialleistungsquote; im Vergleich zum liberalen Typus sind die Sozialausgaben allerdings höher. Ähnlich dem Subsidiaritätsprinzip konservativer Wohlfahrtsstaaten, wird die Verantwortung für die soziale Sicherung an kleinere soziale Einheiten (d.h. die Familie) übertragen. Im Gegensatz zum konservativen Typus tritt der Staat jedoch nicht systematisch als letzte Instanz der Wohlfahrtsproduktion auf, denn das staatliche System der sozialen Sicherung ist fragmentiert, selektiv und überwiegend durch eine niedrige Transferintensität gekennzeichnet. Das staatlich organisierte System der sozialen Sicherung in mediterranen Wohlfahrtsstaaten ist fragmentiert, da bestimmte Lebensrisiken gegenüber anderen Risiken privilegiert werden. Während in vielen mediterranen Ländern relativ generöse, statussichernde Systeme der Alterssicherung existieren, fehlen in der Regel flächendeckende Mindestsicherungssysteme zur Vermeidung von extremer Armut. Auch die staatliche Arbeitslosenunterstützung fällt tendenziell gering aus und ist an strenge Anspruchskriterien gebunden. Aus diesem Grund spielen berufsgenossenschaftliche Fonds und die Sozialpartner eine große Rolle für die Einkommenssicherung bei Arbeitslosigkeit. Diese Sicherungssysteme sind allerdings an die Zugehörigkeit zu bestimmten Status- und Berufsgruppen gekoppelt und daher nicht allen Arbeitslosen zugänglich. Dahingegen trägt das Gesundheitssystem quasi universalistische Züge, da die Gesundheitsfürsorge nicht als Bismarckscher Wohlfahrtsstaat mit niedrigen Sozialausgaben (Bonoli 1997) betrachtet werden.

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2 Konzeptionelle Grundlagen: Niedriglohnbeschäftigung und Wohlfahrtsstaat

entweder als soziales Recht verankert ist oder zumindest einen sehr inklusiven Charakter aufweist. Familien mit Kindern erfahren wiederum wenig finanzielle Unterstützung durch den Wohlfahrtsstaat und auch das Angebot an Kinderbetreuungseinrichtungen ist nur sehr schwach ausgebaut. Diese Systemeigenschaft wirkt sich besonders negativ auf die Arbeitsmarktpartizipation von Frauen aus. Öffentliche soziale Dienste und Dienstleitungen sind grundsätzlich unterentwickelt. Neben dem fragmentierten sozialen Sicherungsnetz ist in mediterranen Wohlfahrtsstaaten zusätzlich eine selektive Wirkung hinsichtlich der Verteilung von Wohlstand durch wohlfahrtsstaatliche Institutionen zu beobachten. Diese Selektivität drückt sich darin aus, dass Sozialleistungen und Privilegien als Patronage verteilt werden. So erhalten z.B. historisch privilegierte Statusgruppen wie Beamte und Industriearbeiter höhere Sozialleistungen als andere Berufsgruppen. Arbeitnehmer in Normalarbeitsverhältnissen genießen ein höheres Niveau sozialer Sicherung sowie einen deutlich höheren Arbeitnehmerschutz als atypisch Beschäftigte. Darüber hinaus betreibt der Staat kaum aktive Arbeitsmarktpolitik, um benachteiligte Personengruppen auf dem Arbeitsmarkt zu unterstützen. Folglich reproduziert der Wohlfahrtsstaat die Segmentierung des Arbeitsmarktes durch das wohlfahrtsstaatliche Institutionengefüge. Insgesamt besitzen die sozialen Sicherungsnetze mediterraner Wohlfahrtsstaaten keine große Breitenwirkung. Der mediterrane Wohlfahrtsstaatstypus verfestigt Status- und Gruppenunterschiede, entfaltet kaum Umverteilungswirkung, und leistet nur eine geringe und begrenzte Abschwächung des Warencharakters der Arbeit (Arts/Gelissen 2006: 181f.; Ferrera 1996; Ferrera 2010; Gal 2010). Der mittelosteuropäische Wohlfahrtsstaatstypus Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und der politischen Unabhängigkeit ihrer europäischen Satellitenstaaten dominierte die Ansicht, dass die mittelosteuropäischen Länder mittelfristig eines der im Westen existierenden Wohlfahrtsstaatsmodelle übernehmen würden. Der Anschein der Entstehung eines eigenständigen europäisch-postsozialistischen Wohlfahrtsstaatstypus sei lediglich ein temporäres Phänomen (Deacon 1993; Esping-Andersen 1996). In der aktuellen wissenschaftlichen Debatte überwiegt die Diagnose einer zunehmenden Konvergenz der wohlfahrtsstaatlichen Arrangements in mittelosteuropäischen Ländern. Zudem ist offensichtlich, dass auch nach Ende der Transformationsphase kein mittelosteuropäischer Staat einfach das liberale, das konservati-

2.2 Wohlfahrtsstaat und Wohlfahrtsstaatstypen

69

ve oder das sozialdemokratische Wohlfahrtsstaatmodell übernommen hat. Allerdings herrscht keine Einigkeit darüber, ob diese Ländergruppe einen eigenständigen Wohlfahrtsstaatstypus konstituieret oder ein Hybrid aus unterschiedlichen Typen darstellt (Cook 2010: 672). Zu den entwickelten Volkswirtschaften Mittelosteuropas gehören Estland, Lettland, Litauen, Polen, Slowenien, die Slowakei, Bulgarien, Rumänien, Tschechien und Ungarn. Im Gegensatz zu den westeuropäischen Ländern durchliefen die mittelosteuropäischen Länder zwei fundamentale Änderungen ihrer Gesellschaftssysteme: Der erste Systemwandel erfolgte in den 1940er Jahren vom Kapitalismus zum Staatssozialismus. Der zweite Systemwandel ereignete sich nach 1989 als Umkehrung des Ersten. Obschon beide Systemänderungen einen radikalen Wandel politischer, sozialer, kultureller sowie ökonomischer Praktiken und Institutionen bewirkten, ist aus Perspektive des Historischen Institutionalismus sowie der Theorie der Pfadabhängigkeit zu erwarten, dass beide historischen Perioden sowohl Quelle eines institutionellen als auch eines normativen Erbes darstellen (Cook 2010: 672; Fenger 2007: 13-15; Keune 2009: 62f.). Vor dem zweiten Weltkrieg dominierte in den mittelosteuropäischen Ländern ein erwerbsarbeitszentriertes, versicherungsbasiertes Wohlfahrtsmodell nach Bismarckschem Vorbild. Mit dem Aufbau des Staatssozialismus wurde die Wohlfahrtsproduktion in die zentrale Regulierung des Einparteienstaates eingegliedert. In allen mittelosteuropäischen Ländern entwickelten sich autoritärpaternalistische Wohlfahrtsstaaten universalistischer Prägung. Charakteristisch für den sozialistischen Wohlfahrtsstaatstypus war ein hohes Ausmaß an staatlichem Interventionismus, eine ineffiziente Organisation wohlfahrtsstaatlicher Leistungen, eine mangelnde Responsivität gegenüber den Bedürfnissen der Bürger, die Beschränkung der Wahlfreiheit der Bürger, eine Nivellierung der Löhne und Lebensstandards auf niedrigem Niveau, eine hohe Armutsquote sowie eine verdeckte, aber systematische Privilegierung politischer und admi26 nistrativer Eliten (Cook 2010: 672f.; Keune 2009: 63ff.). Nach dem Fall des 26

Zwar existierte in den ehemaligen Ostblockstaaten nie ein einheitliches Wohlfahrtsmodell, aber alle sozialistischen Länder zeigten große Ähnlichkeiten in puncto Organisation, programmatischer Ausrichtung und Finanzierung des Wohlfahrtsstaates. Ebenso wie das Bismarcksche Wohlfahrtsmodell, war auch das sozialistische Wohlfahrtsmodell erwerbsarbeitszentriert, d.h. Erwerbstätigkeit stellte die wesentliche Zugangsposition zu wohlfahrtsstaatlichen Leistungen dar. Die Zentralität der Erwerbsarbeit drückte sich zum einen in der gesetzlich verankerten Arbeitspflicht aus. Zum anderen wurden viele Sozialleistungen durch staatseigene Betriebe und Einheitsgewerkschaften angeboten. Das Leistungsspektrum sozialistischer Wohlfahrtsstaaten

70

2 Konzeptionelle Grundlagen: Niedriglohnbeschäftigung und Wohlfahrtsstaat

Eisernen Vorhangs führten die mittelosteuropäischen Länder marktschaffende, liberale Reformpolitiken durch. In den meisten mittelosteuropäischen Ländern wurde die Transition zu demokratischen, marktwirtschaftlichen Systemen allerdings durch eine schwere Wirtschaftskrise begleitet, die hohe Inflationsraten, einen starken Rückgang der Reallöhne sowie einen sprunghaften Anstieg von Arbeitslosigkeit, Armut und sozialer Ungleichheit verursachte. Als Ad-hocReaktion auf den krisenbedingten Wohlfahrtsverlust und zur Vermeidung sozialer Unruhen implementierten die Regierungen in den Ländern Mittelosteuropas Anfang der 1990er Jahre relativ generöse und umfassende kompensatorische Sozialleistungen für Arbeitslose, Rentner und Familien, Mindestlöhne sowie universalistische Gesundheitsfürsorgesysteme (Cook 2010: 674f.; Fenger 2007: 14; Keune 2009: 66). Ab Mitte der 1990er Jahre begann in den mittelosteuropäischen Volkswirtschaften eine Phase des ökonomischen Aufschwungs. Die meisten Regierungen nutzten dieses Momentum, um das wohlfahrtsstaatliche Institutionengefüge marktorientiert und weniger staatszentriert zu reformieren. Das Ziel dieser Reformen bestand darin, die staatlichen Sozialausgaben zu reduzieren, die Effizienz des sozialen Sicherungssystems zu steigern, die Abhängigkeit von Sozialleistungen zu verringern und Anreize zur Arbeitsaufnahme zur vergrößern. Zur Realisierung dieser Ziele wurde die Monopolstellung des Staates als Versorgungsinstitution abgeschafft und private bzw. marktbasierte Institutionen der Wohlfahrtsproduktion zugelassen. Bei der Reformierung des sozialen Sicherungssystems orientierte sich der überwiegende Anteil der mittelosteuropäischen Länder an dem Bismarckschen Sozialversicherungsmodell. Viele zuvor universalistische Sozialleistungen wurden durch bedürftigkeitsgeprüfte Leistungen ersetzt, wobei der programmatische Fokus auf der Vermeidung extremer Armut lag. Zur Erhöumfasste eine formell kostenlose, universalistische Gesundheitsfürsorge, ein gebührenfreies Bildungssystem, die staatliche Subventionierung von Lebensmitteln und Wohnraum sowie eine flächendeckende, aber niedrige soziale Mindestsicherung für Personen, die wegen Alter oder Krankheit nicht mehr arbeiten konnten. Da auch Frauen einer Erwerbstätigkeit nachgehen sollten, existierten relativ großzügige Familienbeihilfen sowie ein Garantie auf kostenlose staatliche Kinderbetreuung. Kulturell blieben die Haushaltspflichten allerdings im Aufgabenbereich der Frauen, so dass eine reale Doppelbelastung der Frauen (Erwerbsarbeit und Hausarbeit) existierte. Dahingegen existierte keine Arbeitslosenunterstützung, denn Arbeitslosigkeit war qua System ausgeschlossen. In allen sozialistischen Systemen besaß der Staat das Verfügungsmonopol über die Verteilung des Nationalproduktes. Folglich mussten sozialistische Wohlfahrtsstaaten Sozialleistungen nicht durch Steuern oder Beiträge finanzieren. Stattdessen konnte die Regierung frei entscheiden, wie viele Ressourcen konsumiert, investiert oder gespart werden sollten (Deacon 2000: 147f.).

2.2 Wohlfahrtsstaat und Wohlfahrtsstaatstypen

71

hung der Beschäftigungsquote wurden eine erhebliche Kürzung des Arbeitslosengeldes sowie eine weitreichende Deregulierung des Arbeitsmarktes umgesetzt. Der länderübergreifende Reformtrend zeichnete sich also durch einen Rückzug des Staates aus der Wohlfahrtsproduktion, eine Residualisierung des Wohlfahrtsstaates, eine zunehmende Orientierung am Prinzip der Beitragsäquivalenz sowie eine Entsolidarisierung des sozialen Sicherungssystems aus. Trotz dieser marktorientierten und auf Eigenverantwortung abzielenden Reformen, ist das sozialistische Erbe im wohlfahrtsstaatlichen Institutionengefüge der mittelosteuropäischen Länder noch immer zu erkennen (Cook 2010: 676f.; Fenger 2007: 14; Keune 2009: 66). Resümierend können die Reformen folgendermaßen bewertet werden: „Welfare systems overall have become less redistributive, more stratified, and favourable to middle- and upper-income groups, while strong popular support for state provision and universal entitlements maintain influence for solidaristic legacies.” (Cook 2010: 682) Hinsichtlich der Typologisierung der mittelosteuropäischen Wohlfahrtsstaaten dominiert die Einschätzung, dass diese Ländergruppe einen Hybrid aus dem Bismarckschen Sozialversicherungsmodell, dem marktorientierten und bedürftigkeitsgeprüften liberalen Wohlfahrtsstaatstypus sowie egalitären und universalistischen Elementen des sozialistischen Wohlfahrtsmodells darstellt. Da die Länder des mittelosteuropäischen Clusters durch eine derartige Vielzahl sich überlagernder Einflüsse geprägt werden, kann weder ein dominanter Modus noch der zentrale Ort der Wohlfahrtsproduktion identifiziert werden. Es werden „individuelle, universelle und verwandtschaftliche/korporatistische bzw. etatistische Modi […] ebenso gemixt wie die Loci von Markt, Staat und Familie.“ (Kollmorgen 2009: 79). Trotz dieser Heterogenität zeichnen sich alle mittelosteuropäischen Wohlfahrtsstaaten durch eine eher geringe dekommodifizierende Wirkung aus. Tendenziell führen sie zu einer Verfestigung oder sogar einer Ver27 schärfung sozialer Ungleichheit.

27

Trotz dieser Gemeinsamkeiten existiert merkliche Heterogenität innerhalb der mittelosteuropäischen Wohlfahrtsstaaten. So sind z.B. der slowenische und der tschechische Wohlfahrtsstaat erheblich solidarischer und die Sozialleistungen generöser als in anderen mittelosteuropäischen Ländern (Cook 2010: 684ff.). Vor dem Hintergrund der heterogenen institutionellen und strukturellen Charakteristika, können weder einzelne mittelosteuropäische Wohlfahrtsstaaten einem von Esping-Andersens Idealtypen zugeordnet werden noch erscheint es sinnvoll, von einem homogenen mittelosteuropäischen Wohlfahrtsstaatstypus zu sprechen. Allerdings weisen die mittelosteuropäischen Wohlfahrtsstaaten Einigkeit in ihrer Unbestimmtheit auf.

Verschärfung bestehender Ungleichheit

gering Verfestigung/ (Verschärfung) bestehender Ungleichheit

begrenzt und eher gering Erhalt von Statusund Gruppenunterschieden

mäßig (primär horizontal) Segmentierung DE, FR, AT, LU, (BE), (IT), (NL), (CH), (JP)

hoch (vertikal)

Inklusion

SE, NO, DK, IS, (FI)

Umverteilungswirkung

dominanter sozialer Strukturierungseffekt

Länder

Stratifizierung

Verfestigung von Statusdifferenzen

hoch

Segmentierung und Exklusion ES, GR, PT, MT, CY, IL

gering

gering

Sozialversicherung, Fürsorge mit Fokus auf Armutsvermeidung

fragmentierte Sozialversicherung und Fürsorge

Sozialversicherung, Fürsorge mittel (für Normalarbeitsverhältnis hoch)

Staatsbürgerversorgung

Segmentierung und Exklusion PL, EE, LV, LT, SK, HU, RO, BG, (CZ), (SI)

gering

US, GB, (IE), (CA), (AU), (NZ)

Exklusion

gering

Fürsorge, Förderung privater Vorsorge

niedrig

hoch

hoch

niedrig

mittel bis niedrig

Sicherheit, Äquivalenz, Subsidiarität Familie (Staat) Beitragsfinanzierung

liberal Eigenverantwortung, Primat des Marktes Freiheit, Marktfähigkeit der Individuen Markt Steuerfinanzierung

Gleichheit, Sicherheit, Emanzipation Staat Steuerfinanzierung

Wohlfahrtsstaatstypen mediterran mittelosteuropäisch Status-Hierarchie, Status-Hierarchie, Klientelismus Eigenverantwortung Mindestmaß an sozialer Familialismus, Sicherheit, Marktfähigkeit (Subsidiarität) der Individuen, Freiheit Familie Markt, Staat, Familie Beitrags- und Beitragsfinanzierung Steuerfinanzierung (Steuerfinanzierung)

Status-Hierarchie

konservativ

Universalismus

sozialdemokratisch

egalisierend

Dekommodifizierung

Versorgungsinstitution dominantes Finanzierungsprinzip Ausgaben für den Wohlfahrtsstaat dominante Prinzipien des sozialen Sicherungssystems

normative Leitideen

regulative Leitideen

Charakteristika

Tabelle 2.5: Charakteristika der Wohlfahrtsstaatstypen

72 2 Konzeptionelle Grundlagen: Niedriglohnbeschäftigung und Wohlfahrtsstaat

2.3 Niedriglohnbeschäftigung in unterschiedlichen Wohlfahrtsstaatstypen

73

2.3 Niedriglohnbeschäftigung in unterschiedlichen Wohlfahrtsstaatstypen In Kapitel 2.3 richtet sich der Fokus auf den Zusammenhang zwischen dem zu erklärenden Phänomen der Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung und der Gruppierungsvariable der Wohlfahrtsstaatstypen. Zur Darstellung dieses Zusammenhangs wird zunächst die Beziehung zwischen Wohlfahrtsstaat und Arbeitsmarkt im Allgemeinen erklärt. Anschließend werden idealtypenbasierte Erwartungen über die Wirkung der unterschiedlichen Wohlfahrtsstaatstypen auf die Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung gebildet. Das genuine Ziel des Wohlfahrtsstaates besteht darin, die sozialen Verhältnisse und Beziehungsmuster in unterschiedlichen Bereichen der Gesellschaft durch Eingriffe in die Produktion und Verteilung von Wohlfahrt zu beeinflussen (Ullrich 2005: 16). Da Erwerbsarbeit in allen entwickelten Volkswirtschaften eine Schlüsselrolle für die Wohlfahrtsproduktion spielt, stellt der Arbeitsmarkt ein wesentliches Objekt wohlfahrtsstaatlicher Interventionen dar. Wohlfahrtsstaaten beeinflussen durch unterschiedliche Institutionen, jedoch insbesondere durch staatliche Arbeitsmarktinstitutionen, die Funktionsweise des Arbeitsmarktes und dessen strukturelle Ergebnisse (Saint-Paul 1996, 2000). Beispielsweise können hier Institutionen wie die staatliche Arbeitslosenunterstützung, der Kündigungsschutz, Mindestlöhne, staatlich finanzierte Qualifizierungsmaßnahmen, staatliche Kinderbetreuung oder Frühverrentungsprogramme genannt werden (Esping-Andersen 1990: 148). Die Effekte dieser Institutionen auf den Arbeitsmarkt und das Verhalten der Arbeitsmarktakteure sind vielfältig. So beeinflussen sie z.B. das Arbeitsangebot und die Arbeitsnachfrage, die Reserva28 tionslöhne der Arbeitskräfte, das Machtverhältnis zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern, die Zentralität des Marktes in der Wohlfahrtsproduktion, die Marktabhängigkeit der Individuen sowie die durch den Markt generierte Einkommensverteilung (Esping-Andersen 1990: 145; Lohmann/Marx 2008: 20). Insgesamt lässt sich somit konstatieren, dass der Arbeitsmarkt systematisch durch das wohlfahrtsstaatliche Institutionengefüge gestaltet wird. Dieser theoretisch begründete und empirisch vielfach bestätigte Zusammenhang erlaubt die Erwartung, dass länderspezifische Unterschiede in strukturellen Arbeitsmarktergebnissen auch auf Unterschiede in der Ausgestaltung wohlfahrtsstaat28

Der Reservationslohn ist definiert als jener Lohnsatz, den eine Erwerbsperson mindestens angeboten bekommen muss, um ein Jobangebot anzunehmen. Eine ausführliche Erklärung dieses Konzeptes erfolgt in Kapitel 3.1.

74

2 Konzeptionelle Grundlagen: Niedriglohnbeschäftigung und Wohlfahrtsstaat

licher Institutionen zurückzuführen sind. Da die verschiedenen Wohlfahrtsstaatstypen eine typenspezifische Varianz in der Ausgestaltung ihrer Institutionen aufweisen, ist aus theoretischer Perspektive zu erwarten, dass wohlfahrtsstaatstypenspezifische Einflüsse auf die Funktionsweise und die Struktur des Arbeitsmarktes existieren (Esping-Andersen 1990: 144-150). Auf Grundlage der normativen und regulativen Leitideen der idealtypischen Wohlfahrtsstaaten lassen sich Hypothesen über die Wirkung realtypischer Wohlfahrtsstaaten auf strukturelle Arbeitsmarktergebnisse bilden. Diese Hypothesenbildung funktioniert folgendermaßen: Wie in Abbildung 2.1 dargestellt, können aus den politikfeldübergreifenden Leitideen Erwartungen über politikfeldbezogene normative und regulative Orientierungen bezüglich der Art und Intensität wohlfahrtsstaatlicher Eingriffe abgeleitet werden. Dies gilt auch für das Politikfeld der Arbeitsmarktpolitik. Anhand der wohlfahrtsstaatstypenspezifischen arbeitsmarktpolitischen Orientierungen werden Hypothesen über die Ausgestaltung konkreter staatlicher Arbeitsmarktinstitutionen sowie deren Wirkung auf strukturelle Arbeitsmarktergebnisse gebildet. Das Buch erfasst die arbeitsmarktpolitischen Orientierungen der unterschiedlichen Wohlfahrtsstaatstypen anhand von drei Dimensionen. Diese Dimensionen reflektieren in der Vergleichenden Wohlfahrtsstaatsforschung etablierte Kategorien zum Vergleich der Art und des Ausmaßes wohlfahrtsstaatlicher Interventionen in den Arbeitsmarkt (Esping-Andersen 1990; Korpi 1985, 2006). Die erste Dimension bezieht sich auf die Orientierung hinsichtlich des Ausmaßes, in dem ein Wohlfahrtsstaatstypus das strukturelle Machtungleichgewicht zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern zugunsten der Arbeitnehmer ausgleichen will (O1). Die zweite Dimension bezieht sich auf die Orientierung hinsichtlich des Ausmaßes, in dem ein Wohlfahrtsstaatstypus seine Staatsbürger dekommodifizieren bzw. ihre soziale Sicherheit von der Erwerbsarbeit entkoppeln will (O2). Die dritte Dimension bezieht sich auf die Orientierung hinsichtlich des Inklusionsgrades arbeitsmarktbezogener wohlfahrtsstaatlicher Leistungen und Schutzmechanismen (O3). Wenn entlang dieser drei Dimensionen keine wohlfahrtsstaatlichen Interventionen in den Arbeitsmarkt stattfinden, dann handelt es sich um das idealtypische Szenario eines freien Arbeitsmarktes im Sinne des Laissez-faire Kapitalismus. In diesem Szenario sind Arbeitskräfte Waren, deren Preis allein vom Marktmechanismus bestimmt wird. Jeder Arbeitskraftanbieter handelt als au-

2.3 Niedriglohnbeschäftigung in unterschiedlichen Wohlfahrtsstaatstypen

75

tonomer Arbeitsmarktakteur, d.h. Arbeitskräfte koordinieren ihr Verhalten gegenüber den Arbeitgebern nicht. Die Abwesenheit von Koordination und Solidarität bewirkt, dass Arbeitskräfte um Arbeitsplätze konkurrieren und sich gegenseitig im Preis unterbieten, um Einkommen zu erzielen und so ihr Überleben zu sichern. Mit steigender Konkurrenz, sinkt einerseits der Preis der Arbeit, so dass eine Lohnabwärtsspirale einsetzt und Arbeitnehmer immer weniger Einkommen erzielen. Andererseits verleiht die Konkurrenz der Arbeitnehmer der Arbeitgeberseite eine überproportional hohe (Verhandlungs-)Macht, die sich zusätzlich negativ auf das Lohnniveau und positiv auf die Profitrate der Unternehmen auswirkt. In der Gemengelage aus einer hohen Marktabhängigkeit der Individuen und einer starken Konkurrenz zwischen den Arbeitskraftanbietern ist eine kollektive Mobilisierung der Arbeitnehmer in Gewerkschaften kaum möglich (Esping-Andersen: 1990: 36f.). Die Existenz eines Wohlfahrtsstaates verbessert die Situation der Arbeitnehmer im Vergleich zu dem Szenario eines vollkommen freien Arbeitsmarktes. Allerdings hängt das Ausmaß der Verbesserung von der Art und der Intensität wohlfahrtsstaatlicher Interventionen in den Arbeitsmarkt ab. Die Art und die Intensität wohlfahrtsstaatstypenspezifischer Interventionen werden wesentlich durch die in Tabelle 2.6 dargestellten arbeitsmarktpolitischen Orientierungen bestimmt. Entlang der drei Dimensionen zum Vergleich arbeitsmarktpolitischer Orientierungen werden in Tabelle 2.6 für jeden Wohlfahrtsstaatstypus Erwartungen über dessen arbeitsmarktpolitische Orientierungen gebildet. Diese Orientierungen werden aus den idealtypischen normativen und regulativen Leitideen abgeleitet, die jeweils in Klammern unterhalb der typenspezifischen arbeitsmarktpolitischen Orientierungen aufgeführt werden. So wird z.B. im Falle des sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaatstypus aus den normativen Leitideen der Sicherheit und Gleichheit abgeleitet, dass sozialdemokratische Wohlfahrtsstaaten arbeitsmarktpolitisch einen sehr starken Ausgleich des Machtungleichgewichts zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern anstreben. Dahingegen begründet die normative Leitidee der Freiheit im liberalen Wohlfahrtsstaatstypus die Erwartung, dass liberale Wohlfahrtsstaaten arbeitsmarktpolitisch einen sehr geringen Ausgleich des Machtungleichgewichts zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern anstreben.

sehr stark (Emanzipation)

sehr hoch (Universalismus)

O3 Inklusionsgrad von Schutzmechanismen und Leistungen

sehr stark (Sicherheit, Gleichheit)

sozialdemokratisch

O2 Emanzipation der Staatsbürger von der Marktabhängigkeit

Dimensionen arbeitsmarktpolitischer Orientierungen O1 Ausgleich des Machtungleichgewichts zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern

mittel (StatusHierarchie)

stark bis mittel (Äquivalenz, Subsidiarität)

stark bis mittel (Sicherheit)

konservativ

eher niedrig (Status-Hierarchie, Klientelismus)

gering (Existenzminimum, Marktfähigkeit) niedrig (Eigenverantwortung, StatusHierarchie)

gering (Freiheit, Existenzminimum)

mittel bis gering (Sicherheit, Klientelismus) mittel bis gering (Familialismus, Subsidiarität)

mittelosteuropäisch

mediterran

Wohlfahrtsstaatstypus

Tabelle 2.6: Arbeitsmarktpolitische Orientierungen der Wohlfahrtsstaatstypen

sehr niedrig (Eigenverantwortung)

sehr gering (Marktfähigkeit)

sehr gering (Freiheit)

liberal

76 2 Konzeptionelle Grundlagen: Niedriglohnbeschäftigung und Wohlfahrtsstaat

2.3 Niedriglohnbeschäftigung in unterschiedlichen Wohlfahrtsstaatstypen

77

Aus Tabelle 2.6 geht deutlich hervor, dass der sozialdemokratische und der liberale Wohlfahrtsstaatstypus als entgegengesetzte Pole bezüglich ihrer normativen und regulativen Leitideen sowie der daraus abgeleiteten arbeitsmarktpolitischen Orientierungen konzeptualisiert werden. Die anderen drei Wohlfahrtsstaatstypen nehmen mittlere Positionen zwischen diesen zwei Polen ein und weisen dementsprechend auch weniger extreme Ausprägungen ihrer arbeitsmarktpolitischen Orientierungen auf. Vor dem Hintergrund der Konzeption zweier Pole und eines dazwischenliegenden Kontinuums werden die Erwartungen über die arbeitsmarktpolitischen Orientierungen des konservativen, mediterranen und mittelosteuropäischen Wohlfahrtsstaatstypus nicht nur auf Grundlage ihrer Leitideen, sondern auch in Relation zu den Polen sowie im gegenseitigen Vergleich gebildet. Die arbeitsmarktpolitischen Orientierungen in Tabelle 2.6 erlauben einerseits, Hypothesen über die wohlfahrtsstaatstypenspezifische Ausgestaltung einzelner staatlicher Arbeitsmarktinstitutionen zu formulieren. Von dieser Möglichkeit wird in Kapitel 5.3 Gebrauch gemacht. Andererseits können auf Grundlage der wohlfahrtsstaatstypenspezifischen arbeitsmarktpolitischen Orientierungen auch Erwartungen darüber gebildet werden, ob sich die Gesamtheit der staatlichen Arbeitsmarktinstitutionen (d.h. das staatliche Arbeitsmarktregime) innerhalb eines Wohlfahrtsstaatstypus eher positiv oder eher negativ auf die Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung auswirkt. Aus theoretischer Perspektive ist folgender Zusammenhang zwischen den arbeitsmarktpolitischen Orientierungen der Wohlfahrtsstaatstypen und der Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung zu erwarten (Esping-Andersen 1990: 21f., 37): -

Je stärker die Ausgestaltung staatlicher Arbeitsmarktinstitutionen das Machtungleichgewicht zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern ausgleicht, … je stärker die Ausgestaltung staatlicher Arbeitsmarktinstitutionen die soziale Sicherheit der Staatsbürger von ihrer Arbeitsmarktpartizipation entkoppelt und … je mehr Arbeitskräfte Anspruch auf arbeitsmarktbezogene wohlfahrtsstaatliche Schutzmechanismen und Leistungen haben, … desto geringer ist die Konkurrenz zwischen den Arbeitskräften um Arbeitsplätze, …

78

2 Konzeptionelle Grundlagen: Niedriglohnbeschäftigung und Wohlfahrtsstaat

-

desto leichter ist die kollektive Mobilisierung von Arbeitskräften in Gewerkschaften, … desto größer ist die Verhandlungsmacht der Arbeitnehmer gegenüber den Arbeitgebern, … desto höher sind die Reservationslöhne der Arbeitskräfte und … desto geringer sind letztlich die Anreize Niedriglöhne zu akzeptieren.

Abbildung 2.2 visualisiert die idealtypenbasierten Hypothesen über die wohlfahrtsstaatstypenspezifische Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung. Zusätzlich spezifiziert Abbildung 2.2 das theoretische Grundargument eines institutionell vermittelten Einflusses wohlfahrtsstaatlicher Leitideen auf die Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung. Der theoretisch erwartete Wirkungsmechanismus beginnt mit den politikfeldübergreifenden normativen und regulativen Leitideen der unterschiedlichen Wohlfahrtsstaatstypen (vgl. Tab. 2.5). Aus diesen Leitideen werden wohlfahrtsstaatstypenspezifische arbeitsmarktpolitische Orientierungen abgeleitet (vgl. Tab. 2.6). Vor dem Hintergrund der theoretisch begründeten Wechselbeziehung zwischen wohlfahrtsstaatlichen Ideen und Institutionen (vgl. Kap. 2.2.2) ist zu erwarten, dass sich die arbeitsmarktpolitischen Orientierungen in den wohlfahrtsstaatstypenspezifischen institutionellen Designs staatlicher Arbeitsmarktinstitutionen spiegeln (vgl. Abb. 2.1). Staatliche Arbeitsmarktinstitutionen beeinflussen wiederum sowohl die Funktionsweise des Arbeitsmarktes als auch strukturelle Arbeitsmarktergebnisse, da sie die Rahmenbedingungen für die Interaktion der Arbeitsmarktakteure setzten (North 1990; Saint-Paul 1996, 2000). Somit entfaltet die wohlfahrtsstaatstypenspezifische Ausgestaltung staatlicher Arbeitsmarktinstitutionen auf der Mikroebene typenspezifische Anreize zur Aufnahme von Niedriglohnbeschäftigung, die im Aggregat zu einer wohlfahrtsstaatstypenspezifischen Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung führen.

sozialdemokratisch

konservativ

mediterran

mittelosteuropäisch

liberal

Ideelle Ebene: normative und regulative Leitideen  arbeitsmarktpolitische Orientierungen

Mesoebene: Ausgestaltung staatlicher Arbeitsmarktinstitutionen

Mikroebene: Anreize zur Aufnahme von Niedriglohnbeschäftigung

Makroebene: Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung

Abbildung 2.2: Hypothesen zur wohlfahrtsstaatstypenspezifischen Größe des Niedriglohnsektors

gering

gering

Wohlfahrtsstaatstypen

hoch

hoch

2.3 Niedriglohnbeschäftigung in unterschiedlichen Wohlfahrtsstaatstypen 79

80

2 Konzeptionelle Grundlagen: Niedriglohnbeschäftigung und Wohlfahrtsstaat

Ebenso wie in Tabelle 2.6 werden der sozialdemokratische und der liberale Wohlfahrtsstaatstypus auch in Abbildung 2.2 als ideelle, institutionelle und strukturelle Gegenpole konzeptualisiert. Im sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaatstypus ist zu erwarten, dass aufgrund der Wechselbeziehung zwischen den Leitideen (bzw. den arbeitsmarktpolitischen Orientierungen) und der Ausgestaltung staatlicher Arbeitsmarktinstitutionen geringe Anreize zur Aufnahme von Niedriglohnbeschäftigung institutionalisiert werden. Dementsprechend sollte im sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaatscluster die geringste Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung zu beobachten sein. Eine genau gegenteilige Wirkung ist von der Ausgestaltung staatlicher Arbeitsmarktinstitutionen im liberalen Wohlfahrtsstaatstypus zu erwarten. Aus theoretischer Perspektive sollten liberale Wohlfahrtsstaaten daher die höchste Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung aufweisen. Das Institutionengefüge des konservativen Wohlfahrtsstaatstypus solle sich zwar negativ, aber weniger negativ als die Institutionen des sozialdemokratischen Typus auf die Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung auswirken. Von der Ausgestaltung staatlicher Arbeitsmarktinstitutionen im mediterranen Wohlfahrtsstaatstypus ist eine schwache aber tendenziell positive Wirkung auf die Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung zu erwarten. Das Institutionengefüge mittelosteuropäischer Wohlfahrtsstaaten sollte wiederum eindeutig positive Anreize zur Aufnahme niedrig entlohnter Beschäftigung setzten.

3 Ursachen der Niedriglohnbeschäftigung: Ein multidisziplinärer Überblick Strukturelle Arbeitsmarktergebnisse, wie die Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung, sind das Ergebnis des Verhaltens und der Interaktion unterschiedlicher Arbeitsmarktakteure in Reaktion auf diverse Einflussfaktoren (Mares 2010: 540f.). Auf Grund dieser theoretisch zu erwartenden Multikausalität muss eine quantitative Untersuchung des Einflusses staatlicher Arbeitsmarktinstitutionen auf die Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung alternative Erklärungsfaktoren berücksichtigen. Andernfalls bestünde das Risiko, den Einfluss staatlicher Arbeitsmarktinstitutionen systematisch zu überschätzen. Zur Identifikation alternativer Erklärungsfaktoren erstellt das dritte Kapitel einen multidisziplinären Überblick über theoretisch fundierte Ursachen von Niedriglohnbeschäftigung. Für alle Test- und Kontrollvariablen werden die theoretisch zu erwartenden Ursache-Wirkungs-Mechanismen beschrieben, so dass für jeden Erklärungsfaktor begründete Erwartungen über dessen Wirkungsrichtung auf die abhängige Variable gebildet werden können. Das dritte Kapitel erfüllt somit die Funktion einer mechanismenorientierten Darstellung konkurrierender Ursachen von Niedriglohnbeschäftigung. Bezugnehmend auf den konzeptionellen Analyserahmen werden im dritten Kapitel folglich die Verbindungspfeile 3 und 4 aus theoretischer Perspektive untersucht (vgl. Abb. 1.2). Das dritte Kapitel strukturiert die Ursachen der Niedriglohnbeschäftigung entlang von zwei Dimensionen. Erstens werden die Test- und Kontrollvariablen unabhängig von ihrem disziplinären Ursprung entsprechend ihrer systemischen Verortung auf der Mikro-, Meso- oder Makroebene sortiert. Die Mikroebene umfasst alle akteursspezifischen Erklärungsfaktoren, d.h. individuelle Merkmale der Arbeitnehmer und Arbeitgeber, die sich auf die Wahrscheinlichkeit des Angebotes bzw. der Nachfrage von Niedriglohnbeschäftigung auswirken. Die Mesoebene beinhaltet alle institutionellen Erklärungsfaktoren und die Makroebene alle strukturellen Erklärungsfaktoren für die Größe des Niedriglohnsek29 tors. Zweitens wird in Anlehnung an mikroökonomische Arbeitsmarktmodelle 29

Die Zuordnung der Erklärungsfaktoren auf die Mikro-, Meso- oder Makroebene ist nicht bei allen Faktoren eindeutig. So können z.B. Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände entweder als (korporative) Akteure auf der Mikroebene oder als Institutionen auf der Mesoebene veror-

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 V. Gerstung, Niedriglohnbeschäftigung im Wohlfahrtsstaat, Vergleichende Politikwissenschaft, https://doi.org/10.1007/978-3-658-27640-9_3

82

3 Ursachen der Niedriglohnbeschäftigung: Ein multidisziplinärer Überblick

unterschieden, auf welcher Marktseite ein Erklärungsfaktor seine Wirkung auf die Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung entfaltet. Diese Betrachtungsweise ermöglicht eine differenzierte Beschreibung des theoretischen Wirkungsmechanismus, da jede Test- und Kontrollvariable daraufhin überprüft wird, ob sie sich positiv oder negativ auf das Angebot bzw. die Nachfrage nach Niedriglohnbeschäftigung auswirkt. Aus der Kombination dieser zwei Dimensionen wird in Tabelle 3.1 eine Matrix der Ursachen von Niedriglohnbeschäftigung konstruiert. Tabelle 3.1: Matrix der Ursachen von Niedriglohnbeschäftigung Marktseite

Angebot von Niedriglohnbeschäftigung

Nachfrage nach Niedriglohnbeschäftigung

Mikroebene (akteursspezifische Faktoren)

Merkmale des Arbeitnehmers (z.B. Humankapitalausstattung)

Merkmale des Arbeitgebers (z.B. Wettbewerbsstrategie)

Mesoebene (institutionelle Faktoren)

Angebotsseitige Wirkung von Arbeitsmarktinstitutionen (z.B. Arbeitslosenunterstützung)

Nachfrageseitige Wirkung von Arbeitsmarktinstitutionen (z.B. Tarifbindung)

Makroebene (strukturelle Faktoren)

Angebotsseitige Wirkung sozio-ökonomischer Rahmenbedingungen (z.B. Arbeitslosenquote)

Nachfrageseitige Wirkung sozio-ökonomischer Rahmenbedingungen (z.B. qualifikationsverzerrter technischer Wandel)

Analyseebene

Alle Erklärungsfaktoren können mindestens einer Zelle in der Ursachen-Matrix zugeordnet werden. Viele institutionelle und strukturelle Faktoren können allerding in zwei Zellen verortet werden, da sie sich sowohl auf das Angebot als auch auf die Nachfrage nach Niedriglohnbeschäftigung auswirken. Die Untertet werden. Zur Lösung solcher Kategorisierungsprobleme wird in diesem Buch folgende Regel angewendet: Erklärungsfaktoren werden jener Systemebene zugeordnet, auf der sich ihre Charakteristika gemäß des theoretisch erwarteten Ursache-Wirkungsmechanismus auf die abhängige Variable auswirken. Bei dem oben gewählten Beispiel sind es nicht die organisationalen Charakteristika von Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden, die sich auf die Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung auswirken. Vielmehr beeinflussen sie die Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung durch ihre Eigenschaft als Institution und deren gestalterischen Einfluss auf den Arbeitsmarkt.

32.3 Ursachen Niedriglohnbeschäftigung der Niedriglohnbeschäftigung: in unterschiedlichen Ein multidisziplinärer Wohlfahrtsstaatstypen Überblick

83

scheidung nach ihrer angebots- und nachfrageseitigen Wirkung ist dennoch sinnvoll, um möglichst präzise, theoretisch fundierte Erwartungen über ihre Wirkungsrichtung auf die abhängige Variable bilden zu können. Diese Erwartungsbildung ist notwendig, um in den quantitativen Analysen des vierten Kapitels die theoretisch erwartete Wirkungsrichtung jeder unabhängigen Variable mit ihrer empirischen Wirkungsrichtung vergleichen zu können. Für die Recherche nach einschlägiger Literatur über die Ursachen von Niedriglohnbeschäftigung werden deutsch- und englischsprachige Suchbegriffe in unterschiedlichen Datenbanken, Katalogen und Suchmaschinen für den Zeitraum 30 von 1970 bis Juni 2018 recherchiert. Die Vielzahl der Beiträge zum Thema Niedriglohnbeschäftigung erfordert allerdings Kriterien zur Eingrenzung der Suchergebnisse. Insgesamt werden vier Selektionskriterien zur Identifizierung der einschlägigen Literatur angewendet. Erstens werden alle Beiträge ausgeschlossen, die Niedriglohnbeschäftigung nicht als abhängige Variable behandeln. Somit bleiben all jene Arbeiten unberücksichtigt, die z.B. die sozioökonomische Struktur des Niedriglohnsektors beschreiben oder die Wirkung von Niedriglohnbeschäftigung auf Ungleichheit oder soziales, psychisches und gesundheitliches Wohlergehen untersuchen. Zweitens werden keine Beiträge einbezogen, die sich auf das Phänomen der Working-Poor beziehen. Die Debatte um Working-Poor (bzw. Erwerbsarmut) steht zwar in engem thematischem Zusammenhang mit der Debatte um Niedriglohnbeschäftigung, die Konzepte erfassen jedoch qualitativ unterschiedliche Phänomene (vgl. Kap. 2.1.1). Drittens werden nur Beiträge berücksichtigt, die Niedriglohnbeschäftigung in entwickelten Volkswirtschaften untersuchen. Die Anwendung dieses Selektionskriteriums wird damit begründet, dass sich die gesellschaftlichen Rahmenbedin30

Folgende Suchbegriffe werden recherchiert: Niedriglohnbeschäftigung, Niedriglohnsektor, Niedriglohnarbeit, low-wage, low-pay, low-paid work/ employment. Diese Begriffe werden über den Katalog der Universitätsbibliothek Bamberg, den Social Science Citation Index (SSCI), Google Scholar sowie in den Publikationsdatenbanken des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB), des Instituts Arbeit und Qualifikation (IAQ), des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI), des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), der International Labour Organization (ILO) und der Organization of Economic Co-operation and Development (OECD) recherchiert. Obwohl die Literaturrecherche für den Suchzeitraum von 1970 bis 2018 durchgeführt wird, finden sich de facto erst ab Mitte der 1990er Jahre einschlägige Veröffentlichungen. Die Mehrzahl der relevanten Veröffentlichungen stammt aus dem Zeitraum 2000 bis 2010. Eine Ursache für diese zeitliche Konzentration könnte darin liegen, dass die Russel Sage Foundation ab Anfang der 2000er Jahre unterschiedliche Forschungsprojekte zum Thema Niedriglohnbeschäftigung finanziert hat und daher eine größere Aufmerksamkeit auf dem Thema lag.

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3 Ursachen der Niedriglohnbeschäftigung: Ein multidisziplinärer Überblick

gungen in Entwicklungs- und Schwellenländern zu stark von entwickelten Volkswirtschaften unterscheiden, als dass gleichartige Erklärungsmuster für arbeitsmarktbezogene Phänomene zu erwarten sind. Viertens richtet sich der Fokus auf Beiträge mit einer hohen Generalisierbarkeit der Untersuchungsergebnisse, d.h. es werden bevorzugt Beiträge aufgenommen, die nicht nur spezifische Unternehmen oder Branchen untersuchen, sondern größere Untersuchungseinheiten (wie z.B. Länder, Regionen oder Sektoren) wählen. Der Aufbau des dritten Kapitels orientiert sich an den drei systemischen Analyseebenen. Somit sind die Unterkapitel nach akteursspezifischen Ursachen der Niedriglohnbeschäftigung (Kapitel 3.1), institutionellen Ursachen und strukturellen Ursachen (Kapitel 3.2 und 3.3) gegliedert. Im Anschluss an jedes Unterkapitel werden die zuvor diskutierten Erklärungsfaktoren mit makro-quantitativen Indikatoren operationalisiert und die Datenquellen dokumentiert. Die Operationalisierung der Test- und Kontrollvariablen ist eine notwendige Vorarbeit für die quantitativen Analysen der nachfolgenden Kapitel. Das dritte Kapitel leistet auch einen Beitrag in der fachübergreifend geführten Debatte zu den Ursachen von Niedriglohnbeschäftigung. Dieser Beitrag besteht darin, dass bisher kein systematischer Literaturüberblick existiert, der die in Wirtschafts- und Sozialwissenschaften erörterten Ursachen der Niedriglohnbeschäftigung komprimiert und mechanismenorientiert darstellt. Es gibt zwar Arbeiten, die mehrere Einflussfaktoren diskutieren bzw. untersuchen (vgl. Appelbaum/Schmitt 2009; Bosch/Gautié 2011; Gautié/Schmitt 2010; Grimshaw 2011; Hout 1997; Lee/Sobeck 2012; Salverda/Mayhew 2009), aber keiner dieser Beiträge sammelt systematisch akteursspezifische, institutionelle sowie strukturelle Ursachen von Niedriglohnbeschäftigung und erörtert zusätzlich deren theoretische Ursache-Wirkungsmechanismen. Mit dem dritten Kapitel des vorliegenden Buches wird diese Lücke geschlossen. 3.1 Akteursspezifische Ursachen Auf der Mikroebene dominieren Erklärungsfaktoren, die aus neoklassischen Arbeitsmarktmodellen abgeleitet werden. In der Arbeitsmarktökonomik wird allerdings häufiger die Frage nach den Bestimmungsfaktoren von Lohnungleichheit in der unteren Hälfte der Lohnverteilung untersucht, als explizit die Frage nach den Ursachen von Niedriglohnbeschäftigung. Dennoch liefern auch die allgemeineren arbeitsmarktökonomischen Studien zur Lohnungleichheit implizit

3.1 Akteursspezifische Ursachen

85

Antworten auf die akteursspezifischen Ursachen von Niedriglohnbeschäftigung, da die relative Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung als Indikator für die Lohnungleichheit in der unteren Hälfte der Lohnverteilung gilt (Allmendinger et al. 2005: 122). Die neoklassische Perspektive auf den Arbeitsmarkt Die neoklassische Arbeitsmarkttheorie betrachtet den Arbeitsmarkt als Spezialfall des Standardmodells des Gütermarktes. Der Lohn ist der Preis des Produktionsfaktors Arbeit und entsteht durch das Zusammenspiel von Arbeitsangebot und Arbeitsnachfrage. Gemäß der neoklassischen Arbeitsmarkttheorie bewirkt ein funktionaler marktbasierter Allokationsmechanismus nicht nur einen effizienten Einsatz der Ressource Arbeit im Wirtschaftsprozess, sondern verhindert auch das Entstehen von Arbeitslosigkeit, da jeder Arbeitskraftanbieter entsprechend seiner Arbeitsproduktivität entlohnt wird. Allerdings müssen spezifische Voraussetzungen erfüllt sein, um einen vollkommen effizienten marktbasierten Allokationsmechanismus zu realisieren: Abwesenheit von Wettbewerbsbeschränkungen bzw. Marktzutrittsbarrieren, vollkommene Flexibilität der Löhne, vollkommene Information der Arbeitsmarktakteure über das Marktgeschehen sowie eine vollkommene sektorale, regionale und qualifikatorische Mobilität der Arbeitnehmer (Adam 2015: 142f.; Sesselmeier et al. 2010: 73-77; Wagner/Jahn 2004: 32f.). Das Arbeitsangebot rationaler Akteure stellt sich aus neoklassischer Perspektive als Optimierungskalkül zwischen den Zeitkomponenten Marktarbeitszeit und 31 Freizeit dar. Jede Erwerbsperson entscheidet individuell, ob und wenn ja, wie viel Arbeit sie anbieten möchte. Diese Entscheidung ist abhängig von individuellen Präferenzen, dem Nicht-Erwerbseinkommen sowie Budget- und Zeitrestriktionen. Zur Bestimmung des optimalen Arbeitsangebotes ordnet der rationale Akteur jeder Zeitkomponente einen Wert zu. Der Wert der Marktarbeitszeit wird durch den Marktlohnsatz gemessen. Der Marktlohnsatz einer Erwerbsperson wird wiederum durch individuelle Merkmale wie den Bildungsabschluss und das Qualifikationsniveau sowie durch exogene Faktoren wie die regionale und 31

Begriffsabgrenzung: Erwerbstätige sind alle zivilen Erwerbspersonen, die als abhängige Arbeitnehmer oder Selbstständige eine auf wirtschaftlichen Erwerb gerichtete Tätigkeit ausüben. Erwerbspersonen setzten sich dahingegen sowohl aus den Erwerbstätigen als auch aus den Erwerbslosen zusammen. Als Synonym für Erwerbspersonen kann der Begriff der Arbeitskräfte verwendet werden. In diesem Buch bezieht sich der Begriff Erwerbstätige ausschließlich auf die Gruppe abhängiger Erwerbstätiger/Arbeitnehmer.

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3 Ursachen der Niedriglohnbeschäftigung: Ein multidisziplinärer Überblick

berufsbezogene Arbeitsmarktsituation bestimmt. Da der Wert einer Freizeitstunde nicht direkt pekuniär messbar ist, wird er als Opportunitätskosten einer Marktarbeitsstunde gemessen. Durch den Nutzenvergleich einer Stunde Marktarbeitszeit mit einer Stunde Freizeit, ergibt sich der Reservationslohn bzw. der Anspruchslohn einer Erwerbsperson. Der Reservationslohn beschreibt exakt jenen Lohnsatz, bei dem ein Akteur, gemäß seiner individuellen Nutzeneinschätzung, indifferent zwischen den Alternativen der Erwerbstätigkeit und der Nicht-Erwerbstätigkeit ist. Übersteigt der Marktlohn den Reservationslohn, fällt die Entscheidung zugunsten der Erwerbsbeteiligung. Aus marginalanalytischer Perspektive markiert der Reservationslohn somit jenen Lohnsatz, den der Marktlohnsatz überschreiten muss, damit ein rationaler Akteur freiwillig eine zusätzliche Stunde seine Arbeitskraft zur Verfügung stellt (Blanchard/Illing 2007: 32 190f.; Franz 2006: 26f.; Wagner/Jahn 2004: 25). Das Konzept des Reservationslohns ermöglicht ein abstraktes Verständnis der Rahmenbedingungen, unter denen Erwerbspersonen niedrig entlohnte Beschäftigungsverhältnisse eingehen: Je geringer der Reservationslohn, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit unterhalb der Niedriglohnschwelle entlohnt zu werden, denn mit sinkendem Reservationslohn steigt die Anzahl der Arbeitsangebote, die ein rationaler Akteur pekuniär als lukrativ bewertet. Die Höhe des Reservationslohns wird sowohl durch individuelle Merkmale der Erwerbspersonen als auch durch institutionelle und strukturelle Faktoren beeinflusst. Auf individueller Ebene ist die Produktivität einer Erwerbsperson die entscheidende Determinante ihres Reservationslohns; mit zunehmendem Produktivitätsniveau steigt auch der Reservationslohn. Neben den individuellen Merkmalen passen Erwerbspersonen ihren Reservationslohn auch strukturellen Rahmenbedingungen wie z.B. dem Niveau der Arbeitslosigkeit und dem Arbeitskräftebedarf in regionalen und berufsfachlichen Teilarbeitsmärkten an. Dabei gilt, dass sich ein Überschussangebot an Arbeitskraft negativ und eine Überschussnachfrage nach Arbeitskraft positiv auf die Höhe des Reservationslohns auswirkt. Auf der institutionellen Ebene gelten Höhe und Bezugsdauer des 32

Die neoklassischen Bestimmungsgründe des Arbeitsangebotsverhaltens berücksichtigen nicht, dass viele Arbeitnehmer ein unelastisches Angebotsverhalten haben, weil sie mit abhängiger Erwerbsarbeit ihren Lebensunterhalt verdienen müssen. Dies bedeutet, dass sie bei sinkenden Reallöhnen de facto nicht mit einer Reduktion des Arbeitsangebotes reagieren können. Insofern ist die Alternative Freizeit oder Arbeit häufig eine Schein-Wahlmöglichkeit. Je unelastischer das Arbeitsangebot eines Akteurs, desto größer ist die Bereitschaft geringe Lohnsätze zu akzeptieren (Adam 2015: 139-143).

3.1 Akteursspezifische Ursachen

87

Arbeitslosengeldes als wichtige Determinante des Reservationslohns, da staatliche Transferleistungen für die Mehrheit der Erwerbspersonen die Höhe ihres Einkommens bei Nicht-Erwerbstätigkeit bestimmen. Dabei gilt, dass mit zunehmender Höhe und Bezugsdauer der staatlichen Lohnersatzleistungen der Reservationslohn steigt (Bender et al. 2008: 77; Franz 2006: 215). Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass aus mikroökonomischer Perspektive der Reservationslohn, das Arbeitsangebotsverhalten sowie das Arbeitsentgelt einer Erwerbsperson von akteursspezifischen, institutionellen und strukturellen Bestimmungsfaktoren abhängen. Die Humankapitaltheorie Auf der Arbeitsangebotsseite ist die Humankapitaltheorie (Becker 1964) der dominante mikroökonomische Erklärungsansatz für Lohnunterschiede zwischen Erwerbstätigen. Gemäß der Humankapitaltheorie sind Lohnunterschiede die Folge der qualifikatorischen Heterogenität der Arbeitskräfte, d.h. Lohnunterschiede entstehen aufgrund eines durch Ausbildungsinvestitionen differenzierten Arbeitsangebotes. Der Begriff des Humankapitals beschreibt alle für den Arbeitsmarkt relevanten Formen von Wissen, Fertigkeiten und Erfahrungen. Humankapitalinvestitionen bezeichnen somit Investitionen in Aus- und Weiterbildung, die annahmegemäß die Produktivität eines Arbeitnehmers steigern. In der neoklassischen Arbeits33 markttheorie entspricht der Lohn der Grenzproduktivität der Arbeit. Folglich kann eine Arbeitskraft durch Humankapitalinvestitionen ihre Produktivität erhöhen und dadurch einen höheren Lohn realisieren. Unterschiedliche Investitionen in die Humankapitalbildung verursachen somit eine heterogene Arbeitsproduktivität der Arbeitnehmer, die sich wiederum in unterschiedlicher Beschäftigungsfähigkeit, unterschiedlichen Karrierechancen und Lohnungleichheit ausdrückt (Franz 2006: 82-90; Pindyck/Rubinfeld 2005: 738; Sesselmeier et al. 2010: 145-149). Die Humankapitaltheorie bietet einen Erklärungsansatz, weshalb insbesondere geringqualifizierte, junge und befristet beschäftigte Arbeitnehmer überpropor33

Die Grenzproduktivität der Arbeit bezeichnet den zusätzlichen Output (d.h. den Anstieg der Produktion), wenn der Arbeitskrafteinsatz um eine Einheit erhöht wird (Pindyck/Rubinfeld 2005: 265).

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3 Ursachen der Niedriglohnbeschäftigung: Ein multidisziplinärer Überblick

tional häufig unterhalb der Niedriglohnschwelle entlohnt werden (vgl. Tab. 2.2): Die Humankapitalausstattung all dieser Personengruppen signalisiert den Arbeitgebern eine geringe Arbeitsproduktivität, da sie entweder einen niedrigen formalen Bildungsgrad haben, über keine bzw. kaum Berufserfahrung verfügen oder ihr Humankapital aufgrund (längerer) Phasen der Erwerbslosigkeit entwertet wurde. Dementsprechend spiegeln die Löhne die geringen Erwartungen, die Arbeitgeber hinsichtlich des Produktivitätsniveaus dieser Personengruppen haben. Somit gilt aus theoretischer Perspektive, dass eine geringe Humankapitalausstattung die individuelle Wahrscheinlichkeit erhöht im Niedriglohnsektor beschäftigt zu sein. Wenn Niedriglohnbeschäftigte mit geringer Humankapitalausstattung nicht gezielt in ihr Humankapital investieren, besteht zudem eine geringe Wahrscheinlichkeit, dass sie aus dem Niedriglohnbereich in höhere Lohnsegmente aufsteigen. Übertragen auf die Aggregatebene bedeutet dieser Zusammenhang, dass Länder mit einem hohen Anteil an Erwerbstätigen mit geringer Humankapitalausstattung unter sonst gleichen Bedingungen einen höheren Anteil an Niedriglohnbeschäftigten aufweisen sollten, als Länder mit einem geringeren Anteil an Erwerbstätigen mit geringer Humankapitalausstattung (Allmendinger et al. 2005: 123ff.; Cuesta/Salverda 2009: 5f.; Visser/Meléndez 2015: 9). Unternehmerische Wettbewerbsstrategien Auf der Arbeitsnachfrageseite gilt die Art der unternehmerischen Wettbewerbsstrategie als Bestimmungsgrund für die Nachfrage nach Niedriglohnbeschäftigung. Ökonomische Standardmodelle konzeptualisieren Unternehmen als (zweck-)rationale korporative Akteure. Dementsprechend wählen Unternehmen in Abhängigkeit von der Marktsituation und den Wettbewerbsverhältnissen immer die nutzenmaximierende bzw. die gewinnmaximierende Hand34 lungsoption. Arbeit ist ein Produktionsfaktor im Wirtschaftsprozess. Löhne 34

Entsprechend dieser Rationalität handeln Unternehmen nach dem Wirtschaftlichkeitsprinzip, d.h. sie versuchen entweder den Output bei gegebenem Input zu maximieren (Maximalprinzip) oder einen gegeben Output mit geringstmöglichem Input zu realisieren (Minimalprinzip). Als rationale Organisationen versuchen sie entweder im Wettbewerb zu bestehen (dies gilt insbesondere in vollkommenen Wettbewerbsmärkten) oder ihren Gewinn zu maximieren. Das Ziel der Gewinnmaximierung kann nur auf unvollkommenen Wettbewerbsmärkten angestrebt werden, da Unternehmen nur durch den Besitz von Marktmacht überhaupt eine Produzentenrente und somit Gewinne erzielen können. In vollkommenen Wettbewerbsmärkten können Unter-

3.1 Akteursspezifische Ursachen

89

sind somit ein wesentlicher Kostenfaktor in der Produktion von Gütern und Dienstleistungen, den es entsprechend des unternehmerischen Ziels der Gewinnmaximierung zu reduzieren gilt. In Lohnverhandlungen stehen für Unternehmen daher Gewinn- und Rentabilitätsüberlegungen im Vordergrund (Pindyck/Rubinfeld 2005: 262f.). Vor diesem theoretischen Hintergrund ist zu erwarten, dass Unternehmen grundsätzlich versuchen den Produktionsfaktor Arbeit möglichst gering zu entlohnen. Die Empirie reflektiert diese Erwartung jedoch nur teilweise, denn in Abhängigkeit von der unternehmerischen Wettbewerbsstrategie können betriebliches Humankapital und Entgeltsysteme Wettbewerbsfaktoren darstellen. Insbesondere in der Wirtschaftssoziologie hat sich die idealtypische Unterscheidung zwischen der so genannten „high-road“- und der „low-road“Wettbewerbsstrategie etabliert. Diese zwei Idealtypen beschreiben entgegengesetzte Produktionsmodelle, die sich auf die strategische Ausgestaltung der Beschäftigungspolitik und somit auch auf das Lohnniveau und die Arbeitsbedingungen auswirken. Die „high-road“-Strategie beschreibt eine unternehmerische Wettbewerbsstrategie, in der Wettbewerbsfähigkeit und Gewinnmaximierung durch die effiziente Produktion von Qualitätsprodukten und kontinuierliche Investitionen in neue Technologien realisiert werden. Zur Umsetzung dieses Produktionsmodells benötigen Unternehmen qualifizierte Arbeitskräfte. Aus diesem Grund werden sowohl hochqualifizierte Arbeitskräfte eingestellt als auch gezielte Investitionen in die Humankapitalbildung der Mitarbeiter getätigt. Die technologieintensive Produktionsweise und die hohe Humankapitalausstattung der Arbeitskräfte bewirken ein hohes Produktivitätsniveau der Beschäftigten, das sich letztlich auch in hohen Löhnen wiederspiegelt. Ein weiteres idealtypisches Charakteristikum von „high-road“-Unternehmen sind kooperative Arbeitsbeziehungen mit Gewerkschaften und Betriebsräten sowie die Organisation in Arbeitgeberverbänden.

nehmen hingegen keine Gewinne erzielen, weil die Grenzkosten der Produktion dem Marktpreis des produzierten Gutes entsprechen. Imperfekte Wettbewerbsmärkte sind charakteristisch für empirische Marktsituationen. Daher ist die Annahme des Ziels der Gewinnmaximierung eine angemessene Arbeitshypothese für die Erklärung unternehmerischen Verhaltens (Bardmann 2011:124f; 160; 444; Pindyck/Rubinfeld 2005: 359f.).

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3 Ursachen der Niedriglohnbeschäftigung: Ein multidisziplinärer Überblick

Der idealtypische Gegenpol dieser Wettbewerbsstrategie ist die so genannte „low-road“-Strategie. „Low-road“-Unternehmen konzentrieren sich auf den Preiswettbewerb. Sie realisieren ihre Wettbewerbsfähigkeit nicht über Technologievorsprünge und die stetige Effizienzsteigerung ihrer Arbeits- und Produktionsprozesse, sondern durch das permanente Bestreben die Produktionskosten zu senken. Aufgrund geringer qualifikatorischer Anforderungen bedarf es keiner Humankapitalinvestitionen, denn Mitarbeiter werden nicht als betriebliches Humankapital, sondern als Kostenfaktor betrachtet. Die Reduzierung der Lohnkostensumme ist dementsprechend ein wichtiges Element der Wettbewerbsfähigkeit. Kooperative Arbeitsbeziehungen werden gemieden, da sie ein Hindernis für die Strategie der Lohnkostenreduktion darstellen (Bazen/Lucifora 2005: 177; Regini 2000: 26; Wright/Rogers 2011: 157ff.). Obwohl die strategischen Handlungsalternativen von Unternehmen durch technologische Rahmenbedingungen und branchenspezifische Wettbewerbssituationen eingeschränkt sind, haben Unternehmen einen Gestaltungsspielraum in der Organisation der Produktion ihrer Güter und Dienstleistungen. Dieser Spielraum zeigt sich z.B. daran, dass Unternehmen, die innerhalb desselben geografischen und institutionellen Settings konkurrieren, unterschiedliche Wettbewerbsstrategien wählen. Institutionelle Anreize, wie die Regulierung des Produkt- und Arbeitsmarktes, haben einen erheblichen Einfluss auf die Rentabilität der unterschiedlichen Wettbewerbsstrategien. Somit besteht für politische Entscheidungsträger die Möglichkeit, die unternehmerische Strategiewahl zu beeinflussen und so auf die Qualität der Arbeitsplätze einzuwirken (Appelbaum/Schmitt 2009: 1912f.; Osterman 2008: 118; Solow 2007: 9). Die Qualität der Arbeit unterscheidet sich systematisch zwischen den zwei idealtypischen Wettbewerbsstrategien. Arbeitsplätze in „high-road“-Unternehmen stellen hohe Anforderungen an das Qualifikationsniveau, die Problemlösungsfähigkeit und die Lernbereitschaft der Arbeitskräfte. Um die Komplexitäts- und Flexibilitätsanforderungen zu bewältigen und eine innovationsförderliche Unternehmenskultur zu schaffen, fördern und nutzen „high-road“-Unternehmen das Humankapital ihrer Beschäftigten. Entsprechend der neoklassischen Annahme, dass Produktionsfaktoren nach ihrem Grenzprodukt entlohnt werden, spiegelt sich das hohe Produktivitätsniveau der Arbeitnehmer in „high-road“Unternehmen in einem vergleichsweise hohen Lohnsatz wieder. Auch aufgrund hoher Investitionen in die Aus- und Weiterbildung ihrer Beschäftigten ist es für „high-road“-Unternehmen rational, ihre Mitarbeiter durch monetäre Anreize

3.1 Akteursspezifische Ursachen

91

(so genannte Effizienzlöhne) und nicht-monetäre Anreize (z.B. unternehmensinterne Karriereleitern, betriebliche Sozialleistungen, flexible Arbeitszeitmodelle) 35 langfristig an das Unternehmen zu binden. Insgesamt ist das Wettbewerbsprofil von „high-road“-Unternehmen nicht mit einer lohnpolitischen Niedriglohnstrategie vereinbar, da für die Steigerung der Arbeitsproduktivität und die Förderung von Produktinnovationen qualifizierte Arbeitnehmer sowie Investitionen in das unternehmensspezifische Humankapital notwendig sind (Appelbaum et al. 2005: 297f.; Wright/Rogers 2011: 157ff.). Arbeitsplätze in „low-road“-Unternehmen sind idealtypisch durch stark standardisierte Arbeitsabläufe, geringe Autonomie sowie eine hierarchische, auf Sanktionen setzende Arbeitsorganisation charakterisiert. Die qualifikatorischen Anforderungen an die Beschäftigten auf diesen Arbeitsplätzen sind eher gering, denn die Durchführung einfacher, standardisierter Arbeitsabläufe erfordert wenig Fachwissen. Aufgrund ihrer geringen Arbeitsproduktivität sind die Löhne von Arbeitskräften in „low-road“-Unternehmen deutlich geringer als in „highroad“-Unternehmen. Zudem stehen „low-road“-Unternehmen unter dem permanenten Druck die Lohnkosten weiter zu senken, denn der Preiswettbewerb ist der Kern ihrer Wettbewerbsstrategie. Da geringqualifizierte Arbeitskräfte leicht substituierbar sind und somit die Abwanderung von betriebsspezifischem Humankapital kein Risiko darstellt, bestehen keine Anreize Effizienzlöhne zu zahlen. Insgesamt ist das Wettbewerbsprofil von „low-road“-Unternehmen darauf ausgerichtet die Kosten für den Produktionsfaktor Arbeit möglichst gering zu halten. Für die Erreichung dieses Ziels existieren verschiedene Instrumente wie z.B. direkte Lohn- und Leistungskürzungen, die Erhöhung der Arbeitsbelastung (ohne finanzielle Kompensation), die intensive Nutzung von atypischen und prekären Beschäftigungsformen wie Leiharbeit, befristete Verträge oder Minijobs. Niedriglohnbeschäftigung ist somit fester Bestandteil dieser Wettbewerbsstrategie (Appelbaum et al. 2005: 294f.; Berthold/Fehn 1995: 112; Wright/Rogers 2011: 157ff.).

35

Die Effizienzlohntheorie betrachtet Löhne nicht nur als Kostenfaktor im Produktionsprozess, sondern verweist auf positive Anreizwirkungen sowie gewinnsteigernde Effekte von Löhnen, die oberhalb eines branchenüblichen oder regionalspezifischen Lohnsatzes liegen. Effizienzlöhne steigern einerseits die Arbeitsdisziplin und die Leistungsbereitschaft der Mitarbeiter. Andererseits senken Effizienzlöhne die Kosten für den Aufbau betriebsspezifischen Humankapitals, denn sie reduzieren die Wahrscheinlichkeit, dass qualifizierte Arbeitskräfte von Wettbewerbern abgeworben werden (Franz 2006: 317f).

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3 Ursachen der Niedriglohnbeschäftigung: Ein multidisziplinärer Überblick

Aufgrund ihrer gegensätzlichen lohnpolitischen Strategien lässt sich für die Aggregatebene die Erwartung ableiten, dass sich ein steigender Anteil an „lowroad“-Unternehmen positiv auf die Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung auswirkt während sich ein steigender Anteil an „high-road“-Unternehmen negativ auf die Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung auswirkt. Dementsprechend sollten Länder mit einem hohen Anteil an „low-road“-Unternehmen (und einem geringen Anteil an „high-road“-Unternehmen) eine deutlich höhere Verbreitung an Niedriglohnbeschäftigung aufweisen, als Länder mit einer entgegengesetzten Konstellation (Bosch/Kalina 2007: 20; Bailey/Bernhardt 1997: 182). Die vorausgegangene Darstellung der Wirkung unternehmerischer Wettbewerbsstrategien auf die Nachfrage nach Niedriglohnbeschäftigung verdeutlicht, dass nicht allein die Humankapitalausstattung eines Arbeitnehmers, sondern auch die Charakteristika des Arbeitsplatzes die Arbeitsproduktivität und damit auch das Lohnniveau bestimmen. So kann eine hochqualifizierte Arbeitskraft kein hohes Produktivitätsniveau erreichen, wenn die technologische Ausstattung ihres Arbeitsplatzes dies nicht erfordert oder erlaubt. Folglich spiegeln Niedriglöhne nicht unbedingt das geringe Humankapital bzw. das geringe Produktivitätspotenzial einer Erwerbsperson, sondern können auch Kennzeichen eines Produktionsmodells sein, das kein spezifisches Humankapital erfordert (Cuesta/Salverda 2009: 6; Solow 2007: 8). Die Wettbewerbsstrategien realer Unternehmen entsprechen den zwei Idealtypen zumeist nur näherungsweise und häufig kombinieren Unternehmen beide Wettbewerbsstrategien. Insbesondere große Unternehmen tendieren dazu, abhängig von bereichsspezifischen qualifikatorischen Anforderungen, entweder die „high-road“- oder die „low-road“-Strategie zu verfolgen (Wright/Rogers 2011: 160). Hinter dieser dualisierten Wettbewerbsstrategie steht das Kalkül, betriebsinterne Teilarbeitsmärkte optimal an unterschiedliche Wettbewerbsumfelder und Qualifikationsanforderungen anzupassen (Bazen/Lucifora 2005: 177; Lucifora et al. 2005: 260). Alternativ zu dieser Dualisierungsstrategie können Unternehmen bestimmte Unternehmensbereiche auch gänzlich an externe Firmen auslagern, deren Lohnkosten z.B. aufgrund anderer Tarifverträge oder keiner Tarifbindung deutlich geringer sind. Diese Exit-Option wird primär von Unternehmen in Branchen mit starken Gewerkschaften und hoher Tarifbindung gewählt. Sowohl die Schaffung von „low-road“-Bereichen in „high-road“Unternehmen als auch die Strategie der Ausgliederung, dienen zur Kostensen-

3.1 Akteursspezifische Ursachen

93

kung des Produktionsfaktors Arbeit. Nachfrageseitig wird damit Druck auf die Löhne im unteren Bereich der Lohnverteilung ausgeübt und so die Verbreitung von niedrig entlohnter Beschäftigung gefördert (Bazen/Lucifora 2005: 177; Bosch 2012: 15, 31; Bosch/Kalina 2007: 70). Quantitative Indikatoren Die akteursspezifischen Ursachen von Niedriglohnbeschäftigung umfassen individuelle Merkmale von Erwerbspersonen und Unternehmen, die sich auf die Wahrscheinlichkeit dieser Akteure Niedriglohnbeschäftigung anzubieten bzw. nachzufragen auswirken. Tabelle 3.2 gibt einen Überblick über die Operationalisierung der akteursspezifischen Erklärungsfaktoren von Niedriglohnbeschäfti36 gung durch aggregierte Individualdaten. Die Messung der unterschiedlichen Indikatoren wird in der Spalte „Messkonzept“ beschrieben. Die Spalte „Effektrichtung“ zeigt für jeden Indikator die theoretisch zu erwartende Wirkung eines Anstiegs seiner Merkmalsausprägung auf die Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung. Auf der Angebotsseite übt die Humankapitalausstattung der Arbeitskräfte einen wesentlichen Einfluss auf das Angebot von Niedriglohnbeschäftigung aus. Für die Operationalisierung der Humankapitalausstattung werden drei Indikatoren verwendet, die alle den formalen Bildungsgrad der Arbeitskräfte abbilden. Sowohl eine steigende durchschnittliche Dauer der Schulbildung als auch ein wachsender der Anteil hochqualifizierter Erwerbspersonen sollten sich aus Perspektive der Humankapitaltheorie negativ auf die Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung auswirken. Dahingegen ist von einem steigenden Anteil geringqualifizierter Erwerbspersonen ein positiver Effekt auf die Größe des Niedriglohnsektors zu erwarten. Die Arbeitsproduktivität wird nicht nur durch die Humankapitalausstattung der Arbeitskräfte, sondern auch durch Charakteristika des Arbeitsplatzes beeinflusst 36

Da sich das Erkenntnisinteresse dieses Buches auf die Erklärung länderspezifischer Unterschiede von Niedriglohnbeschäftigung richtet, werden die akteursspezifischen Ursachen mit aggregierten Individualdaten (Aggregatdaten) operationalisiert. Diese Vorgehensweise ermöglicht auf Länderebene zu untersuchen, ob ein Zusammenhang zwischen der Verbreitung bestimmter Wettbewerbsstrategien bzw. der qualifikatorischen Zusammensetzung der Erwerbstätigen und der Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung zu beobachten ist. Allerdings erlaubt die Verwendung von Aggregatdaten keine Schlussfolgerungen über die empirische Gültigkeit von Mechanismen auf der Mikroebene (Lauth et al. 2009: 194-197).

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3 Ursachen der Niedriglohnbeschäftigung: Ein multidisziplinärer Überblick

wird. Aus diesem Grund operationalisiert der Indikator zur Arbeitsproduktivität sowohl den Erklärungsfaktor „Humankapital“ als auch den Erklärungsfaktor „Wettbewerbsstrategie“. Auf Grundlage beider theoretischer Perspektiven ist zu erwarten, dass die Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung mit steigender Arbeitsproduktivität sinkt. Tabelle 3.2: Operationalisierung akteursspezifischer Ursachen Indikator Messkonzept Erklärungsfaktor: Humankapital Durchschnittliche Dauer der SchulbilSchuljahre dung von Personen über 15 Jahren (in Jahren) Hochschulbildung als höchster Hochqualifizierte Bildungsabschluss (in % aller Erwerbspersonen) Hauptschulbildung als höchster Geringqualifizierte Bildungsabschluss (in % aller Erwerbspersonen) Erklärungsfaktor: Humankapital und Wettbewerbsstrategie Arbeitsproduktivität pro Arbeitsstunde Arbeitsproduktivität (in Dollar) Erklärungsfaktor: Wettbewerbsstrategie Beschäftigung in Spitzentechnologiesektoren: Gewerbe mit hohem Technologieniveau und wissensintensiven DienstHighTech-Firmen leistungen mit hohem Technologieniveau (in % aller Erwerbstätigen) Beschäftigung in Sektoren mit sehr LowTech-Firmen niedrigem und geringem Technologieniveau (in % aller Erwerbstätigen) Exportanteil im Hochtechnologiebereich HighTech-Exporte (in % des Exportvolumens) Bruttoinlandsaufwendungen für Forschung und Entwicklung finanziert von F&E (Industrie) der Industrie (in % aller inländischen Ausgaben für F&E) Unternehmen, die in die Weiterbildung Weiterbildung ihrer Mitarbeiter investieren (in % aller Unternehmen) 37 38

39

Effektrichtung

Datenquelle

negativ

Weltbank37

negativ

Weltbank

positiv

Weltbank

negativ

TED38

negativ

Eurostat

positiv

Eurostat

negativ

UNComtrade39

negativ

OECD.Stat

negativ

Eurostat

World DataBank – Education Statistics. Total Economy Database des internationalen Unternehmens- und Forschungsverbands The Conference Board. United Nations Commodity Trade Statistics Database.

3.2 Institutionelle Ursachen

95

Nachfrageseitig üben unternehmerische Wettbewerbsstrategien Einfluss auf die Nachfrage nach Niedriglohnbeschäftigung aus. Die ersten zwei Indikatoren operationalisieren den Anteil der „high-road“- bzw. der „low-road“Unternehmen approximativ über den Anteil der Erwerbstätigen in Spitzentechnologiesektoren bzw. in Sektoren mit niedrigem Technologieniveau. Während sich ein steigender Anteil an Beschäftigten in High-Tech-Unternehmen negativ auf die Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung auswirken sollte, ist von einem steigenden Anteil an Beschäftigten in Low-Tech-Unternehmen der gegenteilige Effekt zu erwarten. Die übrigen drei Indikatoren (Exportanteil von High-Tech-Produkten, industriefinanzierte Aufwendungen für Forschung und Entwicklung, unternehmerische Investitionen in Humankapitalbildung) bilden nicht direkt eine der beiden Wettbewerbsstrategien ab, aber ihre steigende Merkmalsausprägung weist auf einen höheren Anteil an „high-road“Unternehmen hin und sollte sich dementsprechend negativ auf die Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung auswirken. 3.2 Institutionelle Ursachen Arbeitnehmer und Arbeitgeber agieren und interagieren innerhalb eines Rahmens zahlreicher Institutionen. Aus Perspektive der Vergleichenden Politischen Ökonomie ist zu erwarten, dass dieser institutionelle Rahmen die Handlungsoptionen der Arbeitsmarktakteure beschränkt, ihre Arbeitsangebots- und Arbeitsnachfrageentscheidungen beeinflusst und sich letztlich auch auf strukturelle Arbeitsmarktergebnisse wie die Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung auswirkt (North 1990; Saint-Paul 1996, 2000). Als relativ stabile „verhaltensregulierende und Erwartungssicherheit erzeugende soziale Regelsysteme“ (Czada 2005: 381) beeinflussen formale Institutionen das Verhalten von Akteuren im Wesentlichen über drei Mechanismen: Erstens haben Institutionen eine sozialisierende Wirkung. Akteure berücksichtigen bewusst oder unbewusst die im institutionellen Kontext verankerten Werte und Normen bei der Wahl ihrer Handlungsalternativen. Zweitens übertragen Institutionen bestimmten Akteuren Macht über andere Akteure. Diese Macht drückt sich z.B. in Form von formalen Sanktionsmöglichkeiten bei Regelverstößen aus. Drittens haben Institutionen eine verhaltensregulierende Wirkung, denn sie beeinflussen Kosten und Nutzen unterschiedlicher Handlungsalternativen. Durch die Etablierung negativer Sanktionen, wie z.B. Zwang und Strafen, erhöhen Institutionen die Kosten für unerwünschtes Verhalten und reduzieren den

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3 Ursachen der Niedriglohnbeschäftigung: Ein multidisziplinärer Überblick

potenziellen Nutzen von nicht regelkonformem Verhalten. Andererseits können Institutionen auch mittels positiver Sanktionen, wie z.B. durch finanzielle Belohnungen, die Kosten für erwünschtes Verhalten senken und so Anreize für erwünschte Verhaltensweisen schaffen (Elster 1989: 147f.; Hall/Soskice 2001: 5). Die theoretisch fundierte Annahme, dass Institutionen ein wichtiger Erklärungsfaktor für die länderspezifische Varianz der Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung sind, wird auch von wirtschafts- und sozialwissenschaftlichen Studien reflektiert. In der einschlägigen Literatur werden Institutionen aus vier Politikfeldern als institutionelle Ursachen von Niedriglohnbeschäftigung identifiziert: Arbeitsmarktinstitutionen, Institutionen der Wirtschafts-, Finanz- und Familienpolitik. Allerdings stellen Arbeitsmarktinstitutionen die mit Abstand größte und bedeutsamste Gruppe institutioneller Erklärungsfaktoren dar. 3.2.1 Arbeitsmarktinstitutionen Arbeitsmarktinstitutionen sind durch Kollektiventscheidungen legitimierte formale Regeln, Normen und Verfahrensweisen, die die Funktionsweise des Arbeitsmarktes beeinflussen, indem sie Rechte, Pflichten, Restriktionen und Anreize für Arbeitsmarktakteure etablieren. In ihrer Gesamtheit schaffen formale Arbeitsmarktinstitutionen einen verbindlichen Handlungsrahmen für die Interaktion unterschiedlicher Arbeitsmarktakteure und beeinflussen individuelle Arbeitsangebots- und Nachfrageentscheidungen. Durch die Veränderung der „Spieregeln“ auf dem Arbeitsmarkt, nehmen Arbeitsmarktinstitutionen sowohl direkt als auch und indirekt Einfluss auf Löhne und die Lohnverteilung (Boeri/van Ours 2008: 3, 14; Ochel 2006: 9-12; Walwei 2006: 1). Es werden nur jene Institutionen als Arbeitsmarktinstitutionen klassifiziert, deren Ziel explizit darin besteht, die Funktionsweise des Arbeitsmarktes zu verändern. Dahingegen gilt eine Institution nicht als Arbeitsmarktinstitution, wenn sie zwar Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt hat, ihr primäres Ziel aber in der Regelung eines anderen gesellschaftlichen Funktionsbereiches besteht. In entwickelten Volkswirtschaften treffen zwei Akteursgruppen Entscheidungen über die Schaffung und Gestaltung von Arbeitsmarktinstitutionen. Auf der einen Seite sind dies staatliche Akteure, d.h. Parlamente, Regierungen und (Arbeits-) Gerichte. Auf der anderen Seite sind auch Akteure der überbetrieblichverbandlichen arbeitsmarktpolitischen Selbstregulierung, d.h. Gewerkschaften

3.2 Institutionelle Ursachen

97

und Arbeitgeberverbände, dazu berechtigt, Kollektiventscheidungen über formale Arbeitsmarktinstitutionen zu treffen (Franz 2006: 241-277). Folglich können Arbeitsmarktinstitutionen in zwei Familien unterteilt werden: Die Familie staatlicher Arbeitsmarktinstitutionen sowie die Familie der Institutionen der industriellen Beziehungen (vgl. Abb. 3.1).

Arbeitsmarktinstitutionen

Staatliche Arbeitsmarktinstitutionen

Institutionen der passiven, aktiven, und aktivierenden Arbeitsmarktpolitik (z.B. Lohnersatzleistungen, Arbeitsvermittlung, Lohnsubventionen) Institutionen der individual- und kollektivrechtlichen Arbeitsmarktregulierung (z.B. Kündigungsschutz, Mindestlohn, Befristungsregeln, Tarifvertragsrecht)

Institutionen der industriellen Beziehungen

System der verbandlichen Interessenorganisation von Kapital und Arbeit (Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände) Struktur des Tarifverhandlungssystems (z.B. Koordinierung der Lohnverhandlungen, Zentralisierungsgrad der Tarifverhandlungen) Tarifverträge (z.B. Tarifbindung)

Abbildung 3.1: Typologie der Arbeitsmarktinstitutionen

Die Familie der staatlichen Arbeitsmarktinstitutionen ist in zwei Sub-Gruppen unterteilt: die Institutionen der staatlichen Arbeitsmarktpolitik und die Institutionen der staatlichen Arbeitsmarktregulierung. Staatliche Arbeitsmarktpolitik kann als die Summe aller reaktiven und präventiven Maßnahmen zum Ausgleich bzw. zur Reduzierung von Fehlfunktionen des Arbeitsmarktes definiert werden. Ihr Ziel besteht darin, Arbeitsangebot und Arbeitsnachfrage durch passive, aktive und aktivierende Maßnahmen zu beeinflussen. Die Institutionen der staatlichen Arbeitsmarktpolitik definieren bedarfsspezifische Ansprüche bzw. Rechte sowie Anforderungen bzw. Pflichten für unterschiedliche Gruppen von Arbeitsmarktakteuren. Im Gegensatz zu den Institutionen der staatlichen Arbeitsmarktregulierung, legen sie nicht die Spielregeln des Marktgeschehens fest, sondern beeinflussen primär die Anreize und Möglichkeiten der Arbeitsmarktpartizipation von Erwerbspersonen (Möller/Spies 2013; Woll 2008: 41f.).

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3 Ursachen der Niedriglohnbeschäftigung: Ein multidisziplinärer Überblick

Staatliche Arbeitsmarktregulierung ist definiert als direkte staatliche Eingriffe in die Vertragsfreiheit der Arbeitsmarktakteure. Diese Eingriffe schaffen die formalen Rahmenbedingungen für den marktbasierten Tausch von Arbeitskraft bzw. Arbeitszeit gegen Arbeitsentgelt. Somit ist die staatliche Arbeitsmarktregulierung eine marktgestaltende Regulierung (Ochel 2006: 10-12; Woll 2008: 663f.; Zanetti 2009: 320). Während die individualrechtliche Arbeitsmarktregulierung den rechtlichen Rahmen für die unmittelbaren Vertragsbeziehungen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern setzt (z.B. Kündigungsschutz, Befristungsregeln, Mindestlöhne), regelt die kollektivrechtliche Arbeitsmarktregulierung den Status sowie Rechte und Pflichten von Arbeitnehmer- und Arbeitgebervertretungen. Die Institutionen der kollektivrechtlichen Arbeitsmarktregulierung umfassen z.B. die Tariffreiheit, das Streikrecht sowie die Koalitionsfreiheit, d.h. das Recht von Arbeitnehmern und Arbeitgebern sich zur Wahrung und Förderung ihrer Interessen in Kollektiven (Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden) zu organisieren (Fortin/Lemieux 1997: 78; Frick/Habich 2006: 10f.; Sakowski 2014: 1f.; 119). Die zweite Familie von Arbeitsmarktinstitutionen sind die Institutionen der industriellen Beziehungen (vgl. Abb. 3.1). Diese Institutionen werden auf Grundlage der kollektivrechtlichen Arbeitsmarktregulierung geschaffen, denn erst durch die regulativen staatlichen Eingriffe in den Arbeitsmarkt erhalten die Akteure der überbetrieblich-verbandlichen Selbstregulierung das Recht und die Möglichkeit, weitere Arbeitsmarktinstitutionen zu etablieren. Zu den Institutionen der industriellen Beziehungen gehören z.B. kollektive Lohnverhandlungen und die daraus resultierenden Tarifverträge (Checchi et al. 2008: 607f.; Fortin/Lemieux 1997: 79). Während Kapitel 3.2.1.1 die Wirkungsmechanismen zwischen staatlichen Arbeitsmarktinstitutionen und der Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung darstellt, richtet sich der Fokus in Kapitel 3.2.1.2 auf die Institutionen der industriellen Beziehungen. Aus beiden Kapiteln wird deutlich, dass sich Arbeitsmarktinstitutionen aus theoretischer Perspektive über ein sehr begrenztes Spektrum an Wirkungskanälen auf das Lohnniveau auswirken. Diese Wirkungskanäle werden in Kapitel 3.2.1.3 zusammenfassend erörtert.

3.2 Institutionelle Ursachen

99

3.2.1.1 Staatliche Arbeitsmarktinstitutionen Allen drei Formen staatlicher Arbeitsmarktpolitik, d.h. der passiven, der aktiven und aktivierenden Arbeitsmarktpolitik, werden in der einschlägigen Literatur Einfluss auf die Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung zugeschrieben. Passive Arbeitsmarktpolitik Das Ziel der passiven Arbeitsmarktpolitik besteht in der Abmilderung der materiellen Folgen von Arbeitslosigkeit. Die wesentliche Institution zur Realisierung dieses Ziels ist das System der Lohnersatzleistungen bei Arbeitslosigkeit. In der Arbeitsmarktökonomie wird argumentiert, dass sowohl das Arbeitslosengeld als auch andere Formen der sozialen Mindestsicherung wie indirekte Mindestlöhne wirken, da sie eine fixe Lohnuntergrenze bilden: Je höher und je länger Lohnersatzleistungen gezahlt werden und je weniger Bedingungen an die Gewährung dieser Leistungen geknüpft sind, desto stärker ist ihr positiver Effekt auf die Reservationslöhne der Arbeitskräfte bzw. desto geringer sind die Anreize für Erwerbslose, niedrig entlohnte Jobangebote anzunehmen. Werden die Lohnersatzleistungen unter sonst gleichen Bedingungen reduziert, sinken einerseits die Reservationslöhne und andererseits steigen die finanziellen Anreize zur Aufnahme von Beschäftigung im Niedriglohnsektor. Dieser Zusammenhang gilt unabhängig von der Humankapitalausstattung der Erwerbspersonen (Allmendinger et al. 2005: 124; Bosch 2012: 31; Lathouwer/Marx 2005: 76). Geringe Lohnersatzleistungen erhöhen nicht nur für Erwerbslose den Anreiz zur Aufnahme niedrig entlohnter Beschäftigung. Zusätzlich üben sie auch Druck auf die Löhne von Erwerbstätigen aus bzw. verschlechtern deren Verhandlungsposition gegenüber den Arbeitgebern. Dieser Druck entsteht dadurch, dass mit steigender sozialer Unsicherheit bei Arbeitslosigkeit auch das Bestreben den Arbeitsplatzverlust zu vermeiden steigt und somit letztlich die Konzessionsbereitschaft der Arbeitnehmer wächst. Unter sonst gleichen Bedingungen steigt also die Bereitschaft von Erwerbstätigen geringe Löhne zu akzeptieren bzw. Lohnkürzungen hinzunehmen (Hout 1997: 151). Insgesamt ist aus theoretischer Perspektive zu erwarten, dass generöse Lohnersatzleistungen das Angebot niedrig entlohnter Arbeit reduzieren und somit eine negative Wirkung auf die Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung entfalten (Lucifora et al. 2005: 274).

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3 Ursachen der Niedriglohnbeschäftigung: Ein multidisziplinärer Überblick

Aktive Arbeitsmarktpolitik Im Gegensatz zu der ausschließlich reaktiven passiven Arbeitsmarktpolitik, besteht die Grundidee der aktiven Arbeitsmarktpolitik in der gezielten Förderung des qualifikatorischen und quantitativen Ausgleichs von Arbeitsangebot und – nachfrage. Die Ziele der aktiven Arbeitsmarktpolitik richten sich auf die Reduzierung der Arbeitslosigkeit, die Förderung eines effizienten Einsatzes der Ressource Arbeit im Produktionsprozess sowie die Verbesserung der Leistungsfähigkeit des Arbeitsmarktes im Allgemeinen. Für die Erreichung dieser Ziele stehen unterschiedliche reaktive und präventive Instrumente zur Verfügung. Dazu gehören z.B. die Beratung und Vermittlung von Arbeitslosen, die Förderung und Finanzierung von Qualifizierungsmaßnahmen bzw. Maßnahmen der Fort- und Weiterbildung, Lohnkosten- und Einstellungszuschüsse für Arbeitgeber, die Unterstützung von Existenzgründungen sowie Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen. Alle Maßnahmen und Instrumente der aktiven Arbeitsmarktpolitik zielen letztlich darauf ab, das prioritäre Ziel von Lohnarbeitsgesellschaften zu realisieren: Vollbeschäftigung (Knuth 2005: 179; Möller/Spies 2013; Schmid 2010: 373). Insbesondere von dem Instrument der beruflichen Weiterbildung wird erwartet, dass es einen negativen Effekt auf die Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung ausübt. Diese Erwartung beruht auf der Annahme, dass die Teilnahme an Qualifizierungsmaßnahmen das Humankapital und die Produktivität der Maßnahmenteilnehmer steigert. Eine höhere Humankapitalausstattung erhöht den Reservationslohn der Arbeitskräfte und verbessert unter sonst gleichen Bedingungen ihre Verhandlungsposition in Lohnverhandlungen. Aus theoretischer Perspektive erhöht die Teilnahme an Qualifizierungsmaßnahmen somit den Reservationslohn einer Erwerbsperson und senkt ihre Bereitschaft niedrige Arbeitsentgelte zu akzeptieren. Auf die Aggregatebene übertragen lässt sich aus diesem Wirkungsmechanismus die Erwartung ableiten, dass mit steigenden öffentlichen Ausgaben für aktive Arbeitsmarktpolitik (und insbesondere mit steigenden Ausgaben für Qualifizierungsmaßnahmen) eine sinkende Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung zu beobachten ist, da sich das Angebot von Niedriglohnarbeit reduziert (Bosch 2009: 348). Aktivierende Arbeitsmarktpolitik Die aktivierende Arbeitsmarktpolitik wird häufig als Reaktion auf die Kritik an der aktiven Arbeitsmarktpolitik verstanden. Seit Beginn der 1990er Jahre wurden der aktiven Arbeitsmarktpolitik zunehmend Unzulänglichkeit in der Be-

3.2 Institutionelle Ursachen

101

kämpfung von Arbeitslosigkeit sowie ein ungerechtfertigter makroökonomischer Steuerungsoptimismus vorgeworfen. Vor diesem Hintergrund fokussiert die aktivierende Arbeitsmarktpolitik gezielt die Mikroebene und erhebt die Förderung der Eigenverantwortung der Erwerbspersonen zum Bezugspunkt arbeitsmarktpolitischer Interventionen. Durch die Betonung der individuellen Eigenverantwortung befreit die aktivierende Arbeitsmarktpolitik den Staat von seiner Alleinverantwortung für strukturelle Arbeitsmarktergebnisse wie das Beschäftigungsniveau und die Arbeitslosenquote. Diese Verschiebung der Verantwortlichkeit wird durch einen Paradigmenwechsel in der Analyse der Ursachen von Arbeitslosigkeit ermöglicht: Arbeitslosigkeit wird nicht mehr als Folge mangelnder Arbeitsnachfrage, sondern primär als Folge individueller Verhaltensdefizite betrachtet. Somit ist Arbeitslosigkeit ein angebotsseitig verursachtes Problem. Aus dieser Ursachenanalyse leitet sich auch der Leitgedanke aktivierender Arbeitsmarktpolitik ab, nämlich Arbeitslosigkeit durch die Korrektur individueller Verhaltensdefizite zu reduzieren. Zu diesem Zweck werden Anreizsysteme geschaffen, die sowohl die Mobilisierung von Selbsthilfepotenzialen unterstützen als auch die Beschäftigungsbereitschaft der Erwerbslosen erhöhen. Die Ausgestaltung der Anreizsysteme folgt der Aktivierungsphilosophie des Förderns und Forderns. In diesem Sinne soll erwünschtes Verhaltens mittels positiver und negativer Verhaltensanreize gefördert werden. In der Regel liegt der Schwerpunkt jedoch auf den negativen Anreizen, die das Verhalten der Arbeitslosen z.B. durch Leistungskonditionalisierung und Leistungskürzungen beeinflussen (Giesselmann 2014: 550; Knuth 2005: 179; Marquardsen 2007: 259-265; Schmid 2010: 392; Schönig 2013). Die Policy-Leitmotive der aktivierenden Arbeitsmarktpolitik „work first“ und „make work pay” spiegeln das Credo von Lohnarbeitsgesellschaften („Jede Arbeit ist besser als keine Arbeit.“). Dementsprechend sind die Institutionen der aktivierenden Arbeitsmarktpolitik darauf ausgerichtet, einer schnellen Beschäftigungsaufnahme Vorrang vor dem Schutz vor unterwertiger Beschäftigung oder der Weiterbildung von Erwerbspersonen zu geben. Zudem soll Erwerbsarbeit finanziell immer lukrativer sein, als der Bezug von Arbeitslosengeld oder der sozialen Mindestsicherung. Die Realisierung dieser Ziele wird z.B. durch die Reduzierung der Generosität der Lohnersatzleistungen, Leistungskürzungen bei der Ablehnung eines Jobangebotes oder durch die Steuerentlastung niedriger Einkommen angestrebt. Der aus diesem institutionellen Rahmen entstehende Druck zur Aufnahme von Beschäftigung, wird von einer gezielten politischen Förderung des Niedriglohnsektors begleitet. Niedriglohnbeschäftigung gilt als

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3 Ursachen der Niedriglohnbeschäftigung: Ein multidisziplinärer Überblick

Schlüssel für die Steigerung der Erwerbsquote im Allgemeinen sowie für die Arbeitsmarktintegration geringqualifizierter Erwerbspersonen im Besonderen. Lohnsubventionen bilden einen wichtigen Bestandteil dieser Strategie, da der Anreiz zur Aufnahme niedrig entlohnter Arbeit steigt, wenn das geringe Arbeitsentgelt mit staatlichen Leistungen wie Steuergutschriften oder ergänzenden Sozialtransfers aufgestockt wird (Allmendinger et al. 2005: 124; Bosch 2009: 348; King/Rueda 2008: 279). Im Gegensatz zu den Institutionen der passiven und aktiven Arbeitsmarktpolitik haben die Institutionen der aktivierenden Arbeitsmarktpolitik eine positive Wirkung auf die Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung. Mit zunehmendem Druck auf Arbeitslose Jobangebote anzunehmen, sinken die Reservationslöhne und steigt das Angebot von Niedriglohnarbeit. Gleichzeitig erhöht das politisch unterstützte Wachstum des Niedriglohnsektors die Nachfrage nach Niedriglohnarbeit. Staatliche Arbeitsmarktregulierung Die Notwendigkeit zur staatlichen Regulierung des Arbeitsmarktes ergibt sich aus der strukturellen Übermacht der Arbeitgeber unter den Bedingungen eines freien (d.h. nicht regulierten) Arbeitsmarktes. Diese Übermacht entsteht dadurch, dass die Mehrheit der Menschen in Lohnarbeitsgesellschaften materiell von Lohnarbeit abhängig ist. Diese Abhängigkeit schwächt die Verhandlungsposition von Arbeitskraftanbietern gegenüber Arbeitskraftnachfragern. Ohne den Schutz regulativer Arbeitsmarktinstitutionen, können Arbeitgeber die Lohnabhängigkeit der Erwerbspersonen ausnutzen bzw. Erwerbspersonen gegeneinander ausspielen, um Löhne zu senken und die Arbeitsbedingungen zu verschlechtern. Vor diesem Hintergrund etabliert der Staat Institutionen der individual- und kollektivrechtlichen Arbeitsmarktregulierung, die als Korrektiv des strukturellen Ungleichgewichts zwischen Kapital und Arbeit dienen (Sakowski 2014: 1f.; Steckler/Schmidt 2004: 15f.). Allerdings unterliegt die staatliche Arbeitsmarktregulierung einer ständigen politischen Auseinandersetzung über das Ausmaß und die Ausgestaltung staatlicher Eingriffe in die Vertragsfreiheit der Arbeitsmarktakteure. Setzen sich im politischen Prozess die Befürworter einer Reduzierung dieser Eingriffe durch, findet Arbeitsmarktderegulierung statt. Als Gegenstück der Arbeitsmarktregulierung ist sie darauf ausgerichtet die Anzahl und/ oder die Reichweite regulativer Arbeitsmarktinstitutionen zu reduzieren und den freien Marktmechanismus

3.2 Institutionelle Ursachen

103

zu stärken. Mit der Umsetzung deregulierender Maßnahmen ist die Erwartung verbunden, dass sich die Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen verbessert, Wachstumspotenziale mobilisiert werden und letztlich die Leistungsfähigkeit des Arbeitsmarktes steigt (Regini 2000: 24). Gleichzeitig verstärkt Arbeitsmarktderegulierung auch die strukturelle Übermacht der Arbeitgeber, da sich die relative Verhandlungsposition der Arbeitnehmer mit sinkendem Grad an Arbeitsmarktregulierung verschlechtert. Auf einem vollkommen freien Arbeitsmarkt entspricht der Lohnsatz der Arbeitnehmer ihren Reservationslöhnen und Arbeitgeber können etwaige Unternehmensgewinne für sich einbehalten. Erst durch regulative Eingriffe wird es auch den Arbeitnehmern möglich, sich in 40 Lohnverhandlungen ökonomische Renten anzueignen und so einen Teil der Unternehmensgewinne auf die Entlohnung des Produktionsfaktors Arbeit umzulenken. Dementsprechend bewirkt Arbeitsmarktderegulierung eine Verminderung der arbeitnehmerseitigen Verhandlungsmacht und infolgedessen eine Umverteilung der Faktoreinkommen, die sich in Form sinkender Löhne und steigender Profitraten der Unternehmen ausdrückt. Somit kann die Deregulierung des Arbeitsmarktes zu Lohneinbußen und einem Anstieg der Verbreitung 41 von Niedriglohnbeschäftigung beitragen (Blanchard/Giavazzi 2001). In der einschlägigen Literatur werden insbesondere die Institutionen der individualrechtlichen Arbeitsmarktregulierung als wirkungsmächtige Einflussfaktoren auf die Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung diskutiert. Zu diesen Institutionen gehören die Regulierung regulärer und atypischer Beschäftigungsverhältnisse, Mindestlöhne, Allgemeinverbindlichkeitserklärungen von Tarifverträ40

41

Die ökonomische Rente auf einem Faktormarkt (Markt für Produktionsfaktoren) ist die Differenz zwischen der geleisteten Zahlung für einen Produktionsfaktor und dem Mindestbetrag, der gezahlt werden muss, um diesen Faktor erwerben zu können (Pindyck/Rubinfeld 2005: 696f.). In Bezug auf den Produktionsfaktor Arbeit, ist die ökonomische Rente eines Arbeitnehmers der Lohnüberschuss, den er oberhalb seines Reservationslohns erhält. Ist die Differenz zwischen Lohn und Reservationslohn positiv, liegt eine ökonomische Rente vor. Blanchard und Giavazzi unterscheiden zusätzlich zwischen langfristigen und kurzfristigen Effekten der Arbeitsmarktderegulierung. Für die kurze Frist prognostiziert ihr Modell die im Text beschriebenen Effekte. In der langen Frist gehen die Autoren hingegen davon aus, dass das Lohnniveau nicht sinkt, da die gestiegenen Profitraten Markteintritte neuer Unternehmen bewirken, die wiederum zu einer Wettbewerbsintensivierung und einer Zunahme der Arbeitsnachfrage führen. Aus diesem Grund sollten sich die Löhne langfristig wieder auf dem Niveau vor der Deregulierung einpendeln. Allerdings ist das Eintreten dieser langfristigen Effekte abhängig von verschiedenen Bedingungen, wie z.B. der Abwesenheit von Markteintrittsbarrieren oder einer geringen Arbeitslosigkeit. Sind diese Bedingungen nicht erfüllt, kann Deregulierung nachhaltig das Lohnniveau senken und Niedriglohnbeschäftigung befördern.

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3 Ursachen der Niedriglohnbeschäftigung: Ein multidisziplinärer Überblick

gen sowie Rechtsvorschriften gegen geschlechtsspezifische Lohndiskriminierung. Regulierungsstrenge regulärer und atypischer Beschäftigung Viele Beiträge zu den Ursachen von Niedriglohnbeschäftigung heben den Zusammenhang zwischen atypischer Beschäftigung und Niedriglöhnen hervor. Atypische Beschäftigung wird in negativer Abgrenzung zu dem Normalarbeits42 verhältnis definiert. Somit ist der Begriff der atypischen Beschäftigung eine Sammelkategorie für unterschiedliche Beschäftigungsformen wie befristete Beschäftigung, geringfügige Beschäftigung, Leiharbeit und Teilzeitbeschäftigung (mit 20 oder weniger Wochenarbeitsstunden). Diese Beschäftigungsformen ermöglichen den Arbeitgebern mehr Flexibilität im Einsatz von Arbeitskräften und werden daher von Arbeitgeberseite primär positiv bewertet. Für Arbeitnehmer ist atypische Beschäftigung dahingegen häufig mit deutlichen Nachteilen hinsichtlich der Lohnhöhe, der Arbeitsplatzsicherheit, der sozialen Sicherung, den Karrierechancen und den Teilnahmemöglichkeiten an betrieblichen Weiterbildungsangeboten verbunden. Empirische Untersuchungen über das Verhältnis zwischen Lohnniveau und Beschäftigungsform weisen länderübergreifend darauf hin, dass insbesondere bei geringfügiger Beschäftigung, Leiharbeit und befristeten Beschäftigungsverhältnissen deutliche Lohndifferenzen zum Normalarbeitsverhältnis existieren und auch der Anteil von Niedriglohnempfängern unter atypisch Beschäftigten erheblich höher ist (Brehmer/Seifert 2008: 502f.; Kalina/Weinkopf 2008: 450). Eine Ursache dieser Lohnunterschiede besteht darin, dass atypische Beschäftigungsverhältnisse häufig weniger stark durch regulative Eingriffe des Staates geschützt sind als das Normalarbeitsverhältnis. Aus theoretischer Perspektive ist zu erwarten, dass ein negativer Wirkungszusammenhang zwischen der Regulierungsstrenge von Beschäftigungsverhältnissen und der Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung besteht, da Arbeitnehmerrechte im Allgemeinen und der Kündigungsschutz im Besonderen ein Gegengewicht zu der strukturellen Übermacht der Arbeitgeber schaffen, die Verhandlungsmacht der Arbeitnehmer 42

Das Normalarbeitsverhältnis beschreibt ein abhängiges, unbefristetes, sozialversicherungspflichtiges Beschäftigungsverhältnis, das in Vollzeit oder Teilzeit (ab 21 Wochenstunden) ausgeführt wird. Darüber hinaus herrscht bei Normalarbeitsverhältnissen Identität von Arbeits- und Beschäftigungsverhältnis, d.h. die Arbeitstätigkeit findet in dem Unternehmen statt, mit dem der Arbeitsvertrag abgeschlossen wurde (Statistisches Bundesamt 2016: 354).

3.2 Institutionelle Ursachen

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vergrößern und letztlich die Reservationslöhne erhöhen. Aus diesem Wirkungszusammenhang lässt sich ableiten, dass mit abnehmender Regulierungsstrenge atypischer Beschäftigung (und zunehmendem Abstand zwischen der Regulierungsstrenge regulärer und atypischer Beschäftigung), atypische Beschäftigungsformen für Arbeitgeber an Attraktivität gewinnen, um Lohnkostensenkungen im eigenen Betriebszusammenhang zu realisieren. Darüber hinaus verschlechtert ein abnehmender regulativer Schutz die Verhandlungsposition atypisch beschäftigter Arbeitnehmer, so dass ihre Reservationslöhne sinken und unter sonst gleichen Bedingungen ihre Bereitschaft Lohnsenkungen und Niedriglöhne zu akzeptieren steigt (Bosch 2012: 16, 31f.). Insgesamt lässt sich konstatieren, dass von einer Deregulierung regulärer und atypischer Beschäftigung sowohl positive Effekte auf die Nachfrage als auch auf das Angebot von Niedrig43 lohnbeschäftigung zu erwarten sind. Mindestlöhne Auch nicht-marktliche Formen der Lohnfindung, wie gesetzliche Mindestlöhne oder Allgemeinverbindlichkeitserklärungen von Tarifverträgen, beeinflussen die Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung. Regulative Eingriffe des Staates in die Lohnfindung resultieren zumeist daher, dass die Politik das Ergebnis der marktbasierten Lohnfindung im unteren Bereich der Lohnverteilung als nicht angemessen beurteilt, da Arbeitgeber z.B. keine existenzsichernden Löhne zahlen. Vor diesem Hintergrund greifen viele Staaten in die Lohnfindung ein, um einerseits schutzbedürftige Arbeitnehmer vor Ausbeutung zu schützen und andererseits die Lohnungleichheit im unteren Bereich der Lohnverteilung zu reduzieren (Bazen 2000a: 58- 60). 43

Wenn der Gesetzgeber die Regulierungsstrenge von regulärer und/ oder atypischer Beschäftigung reduziert, folgt er dem Paradigma der angebotsorientierten Wirtschaftspolitik. Im Rahmen dieses wirtschaftspolitischen Paradigmas gelten die Produktionskosten als entscheidende Determinante unternehmerischer Investitionsentscheidungen. Insbesondere durch die einseitige Deregulierung atypischer Beschäftigungsverhältnisse kann der Gesetzgeber positive Anreize für Investitionen und Neueinstellungen setzten, denn diese Maßnahmen erhöhen nicht nur die personalpolitische Flexibilität der Unternehmen, sondern senken auch die Kosten für den Produktionsfaktor Arbeit durch die Schaffung neuer Exit-Optionen aus den regulativen Standards des Normalarbeitsverhältnisses. Die Politik erwartet von den deregulativen Maßnahmen sowohl einen Anstieg des Wirtschaftswachstums als auch einen Anstieg der Beschäftigungsquote. Dafür nimmt sie eine mögliche Umverteilung der Arbeit von Normalarbeitsverhältnissen auf atypische Beschäftigungsverhältnisse, eine Verschlechterung der sozialen Sicherheit der Arbeitnehmer sowie ein mögliches Absinken der Löhne in Kauf (Kalina/Weinkopf 2008: 463; Lucifora et al. 2005: 271).

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3 Ursachen der Niedriglohnbeschäftigung: Ein multidisziplinärer Überblick

Mindestlöhne gelten als besonders starke regulative Intervention in den Arbeitsmarkt. Durch die Festsetzung einer Lohnuntergrenze, greifen sie direkt in individuelle sowie kollektive Lohnverhandlungen ein und beschränken dadurch die Streuung der Löhne im unteren Bereich der Lohnverteilung (Bosch 2012: 3). Mindestlöhne bewirken einerseits einen Anstieg des durchschnittlichen Lohnniveaus im Niedriglohnsektor und andererseits eine Minimierung der Streuung der Niedriglöhne auf den Bereich zwischen der gesetzlichen Lohnuntergrenze und der Niedriglohnschwelle von zwei Dritteln des Medianlohns (Bazen/Lucifora 2005: 179). Somit verändern Mindestlöhne die gesamte Lohnverteilung, denn sie komprimieren die Lohnverteilung unterhalb des Medianlohns. Allerdings ist die Höhe des Mindestlohns entscheidend für seine Effektstärke auf die Lohnverteilung: Je höher der Mindestlohn, desto stärker komprimiert er die Lohnverteilung und desto geringer ist die Streuung der Niedriglöhne (Allmendinger et al. 2005: 124; Hout 1997: 516; Lucifora et al. 2005: 273; Salverda/Mayhew 2009: 147f.). Liegt der Mindestlohn unterhalb der Niedriglohnschwelle, ist sein Einfluss auf die Größe des Niedriglohnsektors begrenzt, da er lediglich die Streuung der Niedriglöhne reduziert, den Anteil der Niedriglohnbeschäftigten unter sonst gleichen Bedingungen jedoch nicht verändert. Dennoch kann auch ein Mindestlohn, der unterhalb der Niedriglohnschwelle liegt, das Wachstum des Niedriglohnsektors bremsen, indem er den Wettbewerbsdruck auf die Löhne in den unteren Lohnsegmenten reduziert und so eine Abwärtsspirale der Löhne verhindert (Bosch 2009: 345). Der Mindestlohn ist eine Institution der staatlichen Arbeitsmarktregulierung, die aus theoretischer Perspektive sowohl das Angebot als auch die Nachfrage nach Niedriglohnbeschäftigung reduzieren kann. Angebotsseitig verbessern Mindestlöhne die Verhandlungsposition von Arbeitnehmern im unteren Bereich der Lohnverteilung dadurch, dass ihre Reservationslöhne kollektiv angehoben werden und Lohnunterbietung unterhalb des Niveaus des Mindestlohns verhindert wird. Nachfrageseitig wird der auf Arbeitskostensenkungen basierenden „low-road“-Wettbewerbsstrategie eine Grenze gesetzt (Bazen 2000b: 120). So ist theoretisch zu erwarten, dass mit steigendem Mindestlohn, die Wettbewerbsfähigkeit von „low-road“-Unternehmen sinkt und die alternative „highroad“-Wettbewerbsstrategie für Unternehmen an Attraktivität gewinnt. Somit hat die Politik mit der Festlegung der Höhe des Mindestlohns einen starken Einfluss auf die Wahl der unternehmerischen Wettbewerbsstrategie (Osterman 2008: 120f.). Die Politik kann nicht nur durch eine gezielte Senkung des Mindestlohns, sondern auch durch den Verzicht auf einen Inflationsausgleich de

3.2 Institutionelle Ursachen

107

facto eine Arbeitsmarktderegulierung bewirken, denn in beiden Fällen tritt ein reales Absinken der Lohnuntergrenze ein, so dass die Streuung der Niedriglöhne nach unten wächst (Appelbaum et al. 2005: 304). Im ökonomischen Diskurs herrscht Uneinigkeit über die makroökonomischen Effekte von Mindestlöhnen. Kritiker dieser Arbeitsmarktinstitution bemängeln, dass Mindestlöhne genau jenen Erwerbspersonen schaden, denen sie eigentlich helfen sollen, da sie die Wettbewerbsfähigkeit des Produktionsfaktors Arbeit senken: Steigende Arbeitskosten verursachen einen Rückgang der Arbeitsnachfrage, d.h. Arbeitnehmer werden entweder entlassen oder menschliche Arbeitskraft wird durch Maschinen substituiert. Wenn Mindestlöhne zu einem Anstieg der Arbeitslosigkeit führen, können sie indirekt sogar eine Zunahme der Niedriglohnbeschäftigung verursachen, denn mit wachsender Arbeitslosigkeit nimmt auch die Konkurrenz um Arbeitsplätze zu, was letztlich zu einem Absinken der Löhne führt. Insbesondere im unteren Bereich der Lohnverteilung könnten Arbeitnehmer, die vor dem Anstieg der Arbeitslosigkeit oberhalb der Niedriglohnschwelle entlohnt wurden, aufgrund des Überangebots an Arbeitskraft in den Niedriglohnbereich gedrängt werden. Ob und wie stark diese Effekte eintreten, ist sowohl theoretisch als auch empirisch umstritten. Konsens besteht lediglich darin, dass die Höhe des Mindestlohns einen wesentlichen Einfluss auf seine Effektstärke ausübt (Bazen 2000b: 121f.; Grimshaw 2011: 23-28). Allgemeinverbindlichkeitserklärung von Tarifverträgen Neben gesetzlichen Mindestlöhnen, kann der Staat auch über die Allgemeinverbindlichkeitserklärung von Tarifverträgen direkt regulierend in die Lohnstruktur eingreifen. Durch Allgemeinverbindlichkeitserklärungen weitet der Staat tarifvertraglich vereinbarte Mindeststandards über Lohnhöhe und Arbeitsbedingungen rechtsverbindlich auch auf solche Arbeitgeber aus, die ansonsten nicht tarifgebunden sind, da sie z.B. nicht Mitglied im Arbeitgeberverband sind. Wenn Tarifverträge nicht grundsätzlich automatisch für allgemeinverbindlich erklärt werden, wird dieser regulative Eingriff besonders häufig in Branchen mit geringem gewerkschaftlichen Organisationsgrad (und geringer Tarifbindung) praktiziert. Mit Hilfe von Allgemeinverbindlichkeitserklärungen implementiert der Staat eine dem Mindestlohn ähnliche, aber branchenspezifische, Lohnuntergrenze. Damit verhindert der Staat erstens die Entstehung von weitgehend tariffreien Branchen, zweitens eine Abwärtsspirale der Löhne und drittens einen Wettbewerbsvorteil tarifungebundener Unternehmen gegenüber

108

3 Ursachen der Niedriglohnbeschäftigung: Ein multidisziplinärer Überblick

tarifgebundenen Unternehmen. Von dieser branchenspezifischen Lohnuntergrenze profitieren insbesondere Arbeitskräfte mit geringer Humankapitalausstattung, denn aufgrund ihrer leichten Substituierbarkeit, sind die Löhne dieser Gruppe von Erwerbspersonen häufig im Fokus unternehmerischer Bemühungen zu Lohnkostensenkungen. Abhängig von der im Tarifvertrag vereinbarten Lohnhöhe, kann dessen Allgemeinverbindlichkeitserklärung entweder den Anteil der Niedriglohnbeschäftigten reduzieren (wenn der Tariflohn oberhalb der Niedriglohnschwelle liegt) oder zumindest innerhalb einer Branche die Streuung der Löhne unterhalb der Niedriglohnschwelle reduzieren (wenn der Tariflohn unterhalb der Niedriglohnschwelle liegt). Insofern können Allgemeinverbindlichkeitserklärungen potenziell sowohl das Angebot als auch die Nachfrage nach Niedriglohnbeschäftigung reduzieren (Blau/Kahn 1996: 814f.; Lucifora 2000: 17; Lucifora et al. 2005: 271f.). Im Vergleich zu gesetzlichen Mindestlöhnen gelten Allgemeinverbindlichkeitserklärungen als schwächerer Eingriff in den Markt, denn statt eine einheitliche nationale Lohnuntergrenze festzulegen, werden lediglich branchenspezifische Lohnuntergrenzen implementiert, die zuvor von Arbeitgebervertretern und Gewerkschaften ausgehandelt wurden. Daher berücksichtigt diese Form der nicht-marktlichen Lohnfindung Spezifika und Rahmenbedingungen unterschiedlicher Brachen. Da die Höhe der branchenspezifischen Tariflöhne erheblich variiert, verfestigen Allgemeinverbindlichkeitserklärungen allerdings auch branchenspezifische Lohnunterschiede (Bazen 2000a: 60). Gesetze gegen geschlechtsspezifische Lohndiskriminierung Obwohl in den meisten Ländern überproportional viele Frauen im Niedriglohnsektor arbeiten (vgl. Tab. 2.2), zeigt das Ausmaß der geschlechtsspezifischen Lohndifferenzen (Gender Pay Gap) starke Unterschiede zwischen den Ländern. Ursächlich für diese Varianz sind verschiedenartige Gender-Regime auf den Arbeitsmärkten. Die Grundlage dieser Gender-Regime bilden sowohl formale Institutionen als auch soziale Normen und Rollenbilder (Appelbaum/Schmitt 2009: 1911f.). Somit existieren vielfältige Ursachen für geschlechtsspezifische Lohndifferenzen und die Überrepräsentation von Frauen im Niedriglohnsektor. Zu diesen Ursachen gehört die Selbstselektion von Frauen in vergleichsweise niedrig entlohnte „Frauenberufe“ (z.B. Berufe im sozialen Bereich) und von Männern in vergleichsweise hoch entlohnte „Männerberufe“ (z.B. technische Berufe) (Gartner/Hinz 2009: 6). Für die Lohnunterschiede zwischen „Frauen“-

3.2 Institutionelle Ursachen

109

und „Männerberufen“ existieren wiederum unterschiedliche Erklärungsansätze. Während die Wirtschaftswissenschaften primär auf berufsspezifische Produktivitätsunterschiede verweisen, argumentiert die feministische Arbeitsmarktforschung, dass eine kulturelle und pekuniäre Entwertung jener Tätigkeiten stattfindet, die mehrheitlich von Frauen ausgeübt werden (Reskin 1993). Darüber hinaus ist empirisch zu beobachten, dass Berufsfelder mit hohem Frauenanteil, häufig eine unterdurchschnittliche Tarifbindung aufweisen. Demzufolge dominiert in „Frauenberufen“ das Modell der individuellen Lohnverhandlung, das die Arbeitnehmerseite in eine systematisch schwächere Verhandlungsposition gegenüber der Arbeitgeberseite versetzt (Grimshaw 2011: 36). Eine weitere Ursache des Gender Pay Gaps sind Erwerbsunterbrechungen und Zeiten atypischer Beschäftigung (z.B. Teilzeit- und Geringfügigkeitsbeschäftigung) aufgrund von Schwangerschaft und Kindererziehung (Gartner/Hinz 2009: 7). Neben diesen Ursachen verweist die Forschung auch auf die Bedeutung von geschlechtsspezifischer Diskriminierung als Ursprung von Lohnunterschieden zwischen Frauen und Männern. Von geschlechtsspezifischer Lohndiskriminierung wird dann gesprochen, wenn trotz näherungsweise gleicher Arbeitstätigkeit, Humankapitalausstattung und Arbeitszeit, Lohnunterschiede zwischen Frauen und Männern bestehen bzw. wenn Arbeitnehmer aufgrund ihres Geschlechts bevorzugt oder benachteiligt werden. Entsprechend dieser Definition liegt z.B. dann Lohndiskriminierung vor, wenn Arbeitgeber Frauen systematisch weniger karriereförderliche Positionen anbieten oder ihnen geringere Löhne zahlen als männlichen Kollegen (Hinz/Gartner 2005: 5, 29). Gegen diese Ursache von geschlechtsspezifischen Lohnunterschieden kann der Staat Antidiskriminierungsgesetze erlassen. Diese Art des regulativen Eingriffs in die marktliche Lohnsetzung kann sowohl zum Abbau der geschlechtsspezifischen Verzerrung des Niedriglohnsektors beitragen als auch den Anteil der Niedriglohnbeschäftigten insgesamt reduzieren, wenn die Löhne von Arbeitnehmerinnen in den unteren Lohnsegmenten an das Niveau ihrer männlichen Kollegen angepasst werden müssen. Somit ist aus theoretischer Perspektive zu erwarten, dass sich Gesetze gegen geschlechtsspezifische Lohndiskriminierung sowohl negativ auf das Angebot als auch negativ auf die Nachfrage nach Niedriglohnbeschäftigung auswirken (Lucifora 2000: 17). Für die Wirksamkeit der Antidiskriminierungsgesetze müssen Regelverstöße konsequent und von staatlicher Seite geahndet werden. Darüber hinaus ist die Förderung der öffentlichen Wahrnehmung dieser Gesetzgebung notwendig, denn nur unter der Voraussetzung, dass Arbeitnehmerinnen ihre Rechte kennen, können sie diese einfordern, wenn Arbeitgeber

110

3 Ursachen der Niedriglohnbeschäftigung: Ein multidisziplinärer Überblick

diskriminierende Lohn- und Beförderungspolitiken praktizieren (OECD 2008: 162-173). Quantitative Indikatoren Alle staatlichen Arbeitsmarktinstitutionen können durch quantitative Indikatoren operationalisiert werden. Tabelle 3.3 bildet die Operationalisierung der Institutionen der staatlichen Arbeitsmarktpolitik ab. Die Institution der passiven Arbeitsmarktpolitik wird zum einen durch die Höhe der Lohnersatzleistungsquote für Arbeitslose mit und ohne Kinder gemessen. Zum anderen werden die Dauer des Anspruchs auf Arbeitslosengeld, der Anteil der Arbeitnehmer mit Anspruch auf Arbeitslosengeld sowie die allgemeine Generosität der Arbeitslosenunterstützung als Indikatoren verwendet, um den Einfluss der Ausgestaltung dieser Arbeitsmarktinstitution auf die Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung zu untersuchen. Aus theoretischer Perspektive ist zu erwarten, dass alle fünf Indikatoren einen negativen Effekt auf die abhängige Variable ausüben, da mit steigender Merkmalsausprägung auch ihre dekommodifizierende Wirkung zunimmt. Die Institutionen der aktiven Arbeitsmarktpolitik werden anhand der staatlichen Ausgaben für Maßnahmen der aktiven Arbeitsmarktpolitik gemessen. Die Ausgaben für Weiterbildungs- und Qualifizierungsmaßnahmen werden zusätzlich gesondert untersucht, da in der einschlägigen Literatur häufig die Position vertreten wird, dass von diesen Maßnahmen ein besonders starker, negativer Effekt auf die Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung zu erwarten ist. Die Messbarmachung aktivierender Arbeitsmarktinstitutionen ist deutlich schwieriger als die Operationalisierung der passiven und aktiven Arbeitsmarktinstitutionen, denn aktivierende Arbeitsmarktpolitik fokussiert sich auf die Gestaltung von Verhaltensanreizen. Somit ist es nicht möglich z.B. Ausgabenniveaus zu vergleichen, sondern es müssen Anreizsysteme operationalisiert werden. Bisher existieren kaum Datensätze, die Institutionen der aktivierenden Arbeitsmarktpolitik ländervergleichend quantifizieren. Einer der wenigen Datensätze stammt von Danielle Venn (Venn 2012). Ihr Datensatz konzentriert sich auf die Kriterien, die ein Arbeitsloser erfüllen muss, um Anspruch auf Arbeitslosenunterstützung zu erwerben bzw. zu behalten (Leistungsanspruchskriterien).

3.2 Institutionelle Ursachen

111

Tabelle 3.3: Operationalisierung der Institutionen staatlicher Arbeitsmarktpolitik Indikator Messkonzept Erklärungsfaktor: Passive Arbeitsmarktpolitik Nettolohnersatzleistungsquote bei Arbeitslosengeld Arbeitslosigkeit; inklusive Sozialhilfe (ALG) und Wohngeld (in % des letzten Lohnes) Nettolohnersatzleistungsquote für Arbeitnehmer in AlleinverdienerhausALG (Familie) halten mit 2 Kindern (in % des letzten Lohnes) Dauer des Anspruchs auf ArbeitslosenALG (Dauer) geld (in Wochen) Anteil der Arbeitnehmer mit Anspruch ALG (Anspruch) auf Arbeitslosengeld (in % aller Arbeitnehmer) Generosität der Arbeitslosenunterstützung bezogen auf Höhe, Dauer, AnALG (Generosität) spruchskriterien und Abdeckungsgrad (Index) Erklärungsfaktor: Aktive Arbeitsmarktpolitik (AAMP) Staatliche Ausgaben für aktive ArbeitsAAMP marktpolitik (in % vom BIP) Staatliche Ausgaben für WeiterbilAAMP dungs- und Qualifizierungsmaßnahmen (Qualifizierung) (in % vom BIP) Erklärungsfaktor: Aktivierende Arbeitsmarktpolitik LeistungsanAllgemeine Strenge der Voraussetzunspruchskriterien gen für den Anspruch auf Arbeitslosen(LAK) unterstützung (Index) Verfügbarkeitsanforderungen und Verpflichtung zur Annahme eines LAK (Pflichten) Stellenangebotes während der Arbeitslosigkeit (Index) Monitoring der Arbeitsplatzsuchenden LAK (Monitoring) (Index) Sanktionen bei Ablehnung eines StelLAK (Sanktionen) lenangebotes (Index) LAK Anwartschaftsvoraussetzungen für (Voraussetzungen) Arbeitslosenunterstützung (Index) 44

45

Effektrichtung

Datenquelle

negativ

OECD.Stat

negativ

CWED244

negativ

CWED2

negativ

CWED2

negativ

CWED2

negativ

OECD.Stat

negativ

OECD.Stat

positiv

Venn, D. (2012)45

positiv

Venn, D. (2012)

positiv positiv positiv

Venn, D. (2012) Venn, D. (2012) Venn, D. (2012)

Scruggs, Lyle/Jahn, Detlef/Kuitto, Kati 2014: Comparative Welfare Entitlements Dataset 2. Version 2014-03. University of Connecticut & Universität Greifswald. Venn, Danielle 2012: Eligibility Criteria for Unemployment Benefits: Quantitative Indicators for OECD and EU Countries. OECD Social, Employment and Migration Working Papers, Nr. 131, OECD Publishing.

112

3 Ursachen der Niedriglohnbeschäftigung: Ein multidisziplinärer Überblick

Die Messung der Leistungsanspruchskriterien basiert auf einem vierdimensionalen Kriterienkatalog, der die Pflichten der Arbeitslosen, das Monitoring der Arbeitsplatzsuche, die Sanktionen bei Ablehnung eines Stellenangebotes und die Anwartschaftsvoraussetzungen für den Bezug von Arbeitslosengeld umfasst. Jede Dimension wird durch unterschiedliche Items operationalisiert, die auf einer ordinalen Skala (von „wenig streng“ bis „sehr streng“) gemessen werden. Aus den einzelnen Werten dieser Items werden zunächst für jede Dimension länderspezifische Indizes errechnet. Aus diesen Indizes wird wiederum ein zusammengesetzter Index für die allgemeine Strenge der Voraussetzungen für den Anspruch auf Arbeitslosenunterstützung konzipiert. Aus theoretischer Perspektive ist zu erwarten, dass ein Anstieg der Strenge der Leistungsanspruchskriterien einen positiven Effekt auf die Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung ausübt. Die Operationalisierung der Institutionen der staatlichen Arbeitsmarktpolitik wird in Tabelle 3.4 abgebildet. Zur Operationalisierung der Regulierungsstrenge von regulären und atypischen Beschäftigungsverhältnissen, werden zwei OECDIndikatoren verwendet. Beide Indikatoren setzen sich aus mehreren Items zusammen, die jeweils unterschiedliche Dimensionen der Regulierungsstrenge unbefristeter und befristeter Beschäftigung mittels einer Ordinalskala quantifizieren und dann in einem synthetischen Indikator vereinen. Höhere Werte weisen bei beiden Indikatoren auf eine strengere Regulierung hin. Der Indikator zur Regulierung regulärer Beschäftigung bildet die Strenge des Kündigungsschutzes für Arbeitnehmer mit unbefristeten Arbeitsverträgen ab. Diese Strenge variiert in Abhängigkeit von der Ausgestaltung gesetzlicher Regelungen zu Konsultationsvorschriften, Kündigungsfristen, Abfindungszahlungen, den Bedingungen unter denen eine Kündigung zulässig ist sowie den rechtlichen Konsequenzen für Arbeitgeber, wenn Arbeitsgerichte eine Kündigung als regelwidrig erklären (z.B. in Form eines Anspruchs der Arbeitnehmer auf Kompensationszahlungen oder Wiedereinstellung). Dahingegen erfasst der Indikator zur Regulierung atypischer Beschäftigung die Strenge des Kündigungsschutzes für Arbeitnehmer mit befristeten Arbeitsverträgen sowie die Strenge der Regulierung von Leiharbeitsverhältnissen. Diese Strenge variiert in Abhängigkeit von der Ausgestaltung gesetzlicher Regelungen zu den Rahmenbedingungen, unter denen befristete Verträge abgeschlossen werden dürfen sowie der Anzahl befristeter Verträge, die aufeinanderfolgend mit einem Arbeitnehmer abgeschlossen werden können. Darüber hinaus erfasst

3.2 Institutionelle Ursachen

113

der Indikator, bei welchen Tätigkeiten es Unternehmen erlaubt ist, Arbeitnehmer über Leiharbeitsfirmen zu beschäftigen und wie oft ein Unternehmen in Folge einen Arbeitnehmer über einen Leiharbeitsvertrag beschäftigen darf (OECD 2013: 74-77). Tabelle 3.4: Operationalisierung der Institutionen staatlicher Arbeitsmarktregulierung Indikator Messkonzept Erklärungsfaktor: Arbeitsmarktregulierung Kündigungs- und ArbeitnehmerschutzRegulierung reguläbestimmungen für unbefristete Beschäfrer Beschäftigung tigungsverhältnisse (Index) Kündigungs- und ArbeitnehmerschutzRegulierung atypibestimmungen für befristete Beschäftischer Beschäftigung gungsverhältnisse (Index) Differenz zwischen den Indikatoren zur RegulierungsRegulierung regulärer und atypischer differenz Beschäftigung (Index) Gesetzlicher Mindestlohn national, Mindestlohn sektoraler/ regional, kein Mindestlohn (Ordinalskala) Relativer Mindestlohn, Mindestlohn als Höhe des Prozentsatz des Medianlohns Mindestlohns (Kaitz-Index) Häufigkeit rechtlich verbindlicher AusAllgemeinverbindweitungen von Tarifverträgen auf tariflichkeitserklärungen ungebundene Unternehmen (Ordinalskala) Möglichkeit von Gleichstellungsstellen Autonomie der eigenständig rechtliche Schritte bei GleichstellungsDiskriminierungsfällen einzuleiten (distellen chotome Skala – Autonomie: ja/ nein) Strenge der AntiBußgelder für Arbeitgeber bei Verstoß diskriminierungsgegen Antidiskriminierungsgesetze gesetze (dichotome Skala – Bußgeld: ja/ nein)

Effektrichtung

Datenquelle

negativ

OECD.Stat

negativ

OECD.Stat

positiv

OECD.Stat

negativ

ICTWSS46

negativ

OECD.Stat

negativ

ICTWSS

negativ

OECD Employment Outlook 2008

negativ

OECD Employment Outlook 2008

Aus der Differenz dieser beiden Indikatoren kann der Unterschied der Regulierungsstrenge regulärer und atypischer Beschäftigung erfasst werden. Dieser Differenz-Indikator erlaubt den Zusammenhang zwischen dem Dualismus der Regulierungsstrenge regulärer und atypischer Beschäftigung und der Verbrei46

Visser, Jelle 2013: Database on Institutional Characteristics of Trade Unions, Wage Setting, State Intervention and Social Pacts. Version 4 – 2013. University of Amsterdam.

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3 Ursachen der Niedriglohnbeschäftigung: Ein multidisziplinärer Überblick

tung von Niedriglohnbeschäftigung zu überprüfen. Während von den zwei Indikatoren zur Regulierungsstrenge aus theoretischer Perspektive ein negativer Effekt auf die abhängige Variable zu erwarten ist, ist bei dem Differenz-Indikator ein positiver Effekt auf die abhängige Variable zu erwarten: Mit steigendem Unterschied der Regulierungsstrenge regulärer und atypischer Beschäftigung steigt für Arbeitgeber der Anreiz, Normalarbeitsverhältnisse durch atypische Beschäftigungsverhältnisse zu substituieren, um Lohnkosten zu senken; sofern atypische Beschäftigungsverhältnisse weniger streng reguliert werden als reguläre Beschäftigungsverhältnisse. Die staatliche Arbeitsmarktinstitution des Mindestlohns wird einerseits durch einen Indikator operationalisiert, der auf einer dreistufigen Ordinalskala erfasst, ob ein Land einen gesetzlichen Mindestlohn auf nationaler oder sektoraler bzw. regionaler Ebene oder gar keinen Mindestlohn hat. Andererseits wird für alle Länder, die einen Mindestlohn haben, auch das Verhältnis zwischen der Höhe des Mindestlohns und dem Medianlohn als Indikator verwendet. Dieser so genannte Kaitz-Index erlaubt zu untersuchen, ob und wie die Höhe des Mindestlohns mit der Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung zusammenhängt. Aus theoretischer Perspektive ist zu erwarten, dass sich Mindestlöhne umso negativer auf die Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung auswirken, je größer ihr Geltungsbereich ist und je höhere Werte der Kaitz-Index annimmt. Die Institution der Allgemeinverbindlichkeitserklärung von Tarifverträgen wird anhand einer vierstufigen Ordinalskala operationalisiert. Auf dem höchsten Rang werden alle Länder eingestuft, in denen eine automatische Ausweitung von Tarifverträgen auf tarifungebundene Unternehmen erfolgt. Die nachfolgenden Ränge zeichnen sich durch zunehmende Hürden für eine rechtlich verbindliche Ausweitung von Tarifverträgen aus. Auf dem untersten Rang befinden sich dann jene Länder, in denen weder rechtliche Möglichkeiten zur Ausweitung noch funktionale Äquivalente existieren. Aus theoretischer Perspektive ist zu erwarten, dass ein negativer Wirkungszusammenhang zwischen der Intensität der Allgemeinverbindlichkeitserklärung von Tarifverträgen und der abhängigen Variable besteht. Die Wirkung von Gesetzen gegen geschlechtsspezifische Lohndiskriminierung auf die Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung wird anhand von zwei Indikatoren überprüft. Mit Hilfe einer dichotomen Skala misst der erste Indikator die Autonomie von Gleichstellungsstellen im öffentlichen und privaten Sektor

3.2 Institutionelle Ursachen

115

rechtliche Schritte in Fällen von Lohndiskriminierung einleiten zu können. Ebenfalls auf Grundlage einer dichotomen Skala wird die Strenge der Antidiskriminierungsgesetze daran gemessen, ob Arbeitgeber bei einem nachgewiesenen Gesetzesverstoß Bußgelder zahlen müssen. 3.2.1.2 Institutionen der industriellen Beziehungen Die Institutionen der industriellen Beziehungen bilden die zweite große Familie von Arbeitsmarktinstitutionen (vgl. Abb. 3.1). Innerhalb eines gesetzlich definierten Rahmens wird dieser Typus von Arbeitsmarktinstitutionen durch die Akteure der überbetrieblich-verbandlichen Selbstregulierung etabliert. Die Institutionen der industriellen Beziehungen verändern die Funktionsweise des Arbeitsmarktes, die Verhandlungsmacht verschiedener Gruppen von Arbeitsmarktakteuren und somit letztlich auch strukturelle Arbeitsmarktergebnisse. Abhängig vom Forschungsinteresse können Akteure der überbetrieblichverbandlichen Selbstregulierung entweder als Arbeitsmarktorganisationen oder als Arbeitsmarktinstitutionen konzeptualisiert werden. Die Konzeptualisierung von Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden als Organisationen des Arbeitsmarktes ist zweckmäßig, wenn sich das Forschungsinteresse auf ihre Eigenschaft als soziale Subjekte bzw. als zielgerichtete, komplexe Interaktions- und Kooperationssysteme richtet (Endruweit 2004: 19f.; Franz 2006: 241). Dahingegen ist eine Konzeptualisierung von Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden als Arbeitsmarktinstitutionen geeignet, wenn sich das Forschungsinteresse auf ihre Effekte als verhaltensregulierende soziale Regelsysteme auf die Funktionsweise und die Ergebnisse des Arbeitsmarktes richtet (Korpi 1983). Letzteres trifft auf das Forschungsinteresse dieses Buches zu und steht in engem Zusam47 menhang mit der Perspektive der Machtressourcentheorie. Die Machtressourcentheorie konzeptualisiert Gewerkschaften als die wesentliche Machtressource der Arbeitnehmer und Arbeitgeberverbände als eine 47

Die Machtressourcentheorie definiert Machtressourcen als Eigenschaften oder Mittel, die Akteure dazu befähigen andere Akteure zu belohnen oder zu betrafen und so ihren Präferenzen Geltung zu verschaffen. Die Machtressourcentheorie basiert auf der Grundidee, dass die Verteilung der Machtressourcen einen entscheidenden Einfluss auf das Machtverhältnis zwischen Arbeit und Kapital ausübt. Dieses Machtverhältnis wirkt sich unmittelbar auf die Verteilung der im Produktionsprozess erwirtschafteten Ressourcen aus und beeinflusst somit auch das Ausmaß ökonomischer und sozialer Ungleichheit in kapitalistischen Wirtschaftssystemen (Korpi 1985: 35).

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3 Ursachen der Niedriglohnbeschäftigung: Ein multidisziplinärer Überblick

Machtressource der Arbeitgeber. Die Verfügungsgewalt über Machtressourcen sowie deren Stäke verändert die Verhandlungsposition von Arbeitsmarktakteuren sowie deren Interaktionsmuster, die Verhandlungsergebnisse und in letzter Konsequenz auch die funktionale und personelle Einkommensverteilung. Neben linken Parteien gelten Gewerkschaften als die wichtigste Machtressource der Arbeitnehmer. Die kollektive Mobilisierung in Gewerkschaften erlaubt es den Arbeitskräften ihren strukturellen Nachteil bzw. ihre geringe individuelle Verhandlungsmacht gegenüber den Arbeitgebern auszugleichen und so höhere 48 Löhne und allgemein bessere Arbeitsbedingungen auszuhandeln. Auch für die Kapitalseite stellt die verbandliche Organisation eine Machtressource dar. Arbeitgeberverbände ermöglichen einerseits eine koordinierte Vertretung der unternehmerischen Interessen in Tarifverhandlungen. Andererseits erleichtern sie auch eine effektive Kommunikation der Arbeitgeberinteressen gegenüber staatlichen Akteuren. Aufgrund ihrer strukturellen Übermachtstellung auf dem Arbeitsmarkt, sind Arbeitgeber, im Gegensatz zu Arbeitnehmern, jedoch nicht darauf angewiesen, sich verbandlich zu organisieren, um Verhandlungsmacht zu erlangen (Ebbinghaus 2010: 200f.; Ebbinghaus 2015: 55-60; Korpi 1985: 33; Korpi 2006: 77; OECD 2006: 82). Die einschlägige Literatur diskutiert die Akteure der überbetrieblichverbandlichen Selbstregulierung, Tarifverträge und die Tarifbindung sowie die Struktur des Tarifverhandlungssystems als Einflussfaktoren auf die Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung. Gewerkschaften Unter den Institutionen der industriellen Beziehungen wird der Organisationsstärke von Gewerkschaften eine Schlüsselrolle für die Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung zugeschrieben. Gewerkschaften sind Zusammenschlüsse von lohnabhängigen Arbeitnehmern zu korporativen Akteuren. Durch die kollektive Mobilisierung gewinnen Arbeitnehmer Marktmacht, die sie als individuelle 48

Die Machtressourcentheorie erklärt die strukturelle Übermachtstellung der Arbeitgeber auf dem Arbeitsmarkt dadurch, dass Kapitalbesitz bzw. die Kontrolle über Produktionsmittel für sich alleine bereits eine einflussreiche Machtressource darstellt. Anders als Humankapital, ist monetäres Kapital ein knappes Gut, das jedoch eine zentrale Rolle in kapitalistischen Wirtschaftssystemen spielt, ein hohes Konzentrationspotential besitzt und in vielen Situationen schnell und mit geringen Mobilisierungskosten zur Zielerreichung eingesetzt werden kann. Humankapital besitzt diese vorteilhaften Eigenschaften dahingegen nicht und wird erst durch kollektive Mobilisierung zu einer einflussreichen Machtressource (Korpi 2006: 77).

3.2 Institutionelle Ursachen

117

Arbeitsmarktakteure nicht oder in deutlich geringerem Ausmaß haben würden. Arbeitnehmerseitige Marktmacht entsteht, wenn Arbeitskräfte durch kollektives Handeln ihre Konkurrenz untereinander, zumindest innerhalb der Grenzen bestimmter Branchen und Territorien, reduzieren. Somit bietet die verbandliche Organisation lohnabhängigen Arbeitnehmern die Möglichkeit, Machtasymmetrien in der Austauschbeziehung zwischen Arbeit und Kapital auszugleichen und sich vor einem gegenseitigen Lohnunterbietungswettbewerb zu Gunsten der Arbeitgeber zu schützen (Brinkmann et al. 2008: 26.). Auf Grund ihrer Organisationslogik richtet sich gewerkschaftliches Handeln primär auf die Vertretung der wirtschaftlichen und sozialen Interessen der Gewerkschaftsmitglieder. Die Kernaufgabe von Gewerkschaften besteht somit darin, in kollektiven Tarifverhandlungen die Interessen ihrer Mitglieder gegenüber den Arbeitgebern bzw. Arbeitgeberverbänden zu vertreten und verbindliche Tarifverträge auszuhandeln. Über den theoretisch zu erwartenden Effekt von Gewerkschaften auf die Einkommensverteilung bzw. die Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung besteht allerdings kein Konsens in der einschlägigen Literatur. Während sozialwissenschaftliche Theorien, wie die Machtressourcentheorie, in der Regel einen negativen Effekt von Gewerkschaften auf die Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung erwarten, ist aus Perspektive der ökonomischen Insider-Outsider49 Theorie (Lindbeck/Snower 1986, 2001) auch ein positiver Effekt möglich. Die ökonomische Insider-Outsider-Theorie definiert alle Erwerbstätigen als Insider und alle Arbeitslosen als Outsider. Insider können, müssen aber nicht gewerkschaftlich organisiert sein. Auch Arbeitslose können Mitglieder in einer Gewerkschaft sein, sind in der gewerkschaftlichen Mitgliederstruktur aber zumeist unterrepräsentiert. Ihre Interessen spielen daher eine untergeordnete Rolle für die Formulierung gewerkschaftlicher Ziele (Lindbeck/Snower 2001: 177). Die Insider-Outsider-Theorie nimmt an, dass die Nutzenfunktion einer Gewerkschaft ausschließlich aus der Summe der Nutzenfunktionen ihrer Mitglieder besteht. Die Wohlfahrt aller anderen Erwerbspersonen stellt dahingegen keine handlungsrelevante Größe für die Gewerkschaft dar. Demzufolge konzentrieren sich Gewerkschaften ausschließlich darauf, die Arbeitsplatzsicherheit, die Arbeitsbedingungen und die Löhne ihrer Mitglieder, d.h. gewerkschaftlich organisierter Insider, zu verbessern. Zur Durchsetzung dieser Ziele, setzen 49

Der Zusatz „ökonomisch“ weist darauf hin, dass auch eine politikwissenschaftliche Variante der Insider-Outsider-Theorie (Rueda 2005; 2006) existiert.

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3 Ursachen der Niedriglohnbeschäftigung: Ein multidisziplinärer Überblick

Gewerkschaften ihre Marktmacht einerseits ein, um in Tarifverhandlungen oder Arbeitskämpfen ihren Forderungen gegenüber den Arbeitgebern Nachdruck zu verleihen. Andererseits nutzen sie ihre Marktmacht, um durch Lobbying staatliche Arbeitsmarktpolitik und staatliche Arbeitsmarktregulierung im Sinne ihrer Mitglieder zu beeinflussen. Die ökonomische Insider-Outsider-Theorie konzeptualisiert gewerkschaftliches Handeln als Rent-Seeking, d.h. Gewerkschaften setzen Ressourcen ein, um ihren Mitgliedern höhere Löhne oder sonstige Verbesserungen ihrer Arbeitsbedingungen auf Kosten anderer Marktteilnehmer zu sichern. Aufgrund dieser Handlungslogik, sinkt für gewerkschaftlich organisierte Insider das Risiko unterhalb der Niedriglohnschwelle entlohnt zu werden. Für Outsider und nicht gewerkschaftlich organisierte Insider kann das Rent-Seeking der Gewerkschaften allerdings mit Nutzeneinbußen verbunden sein. Da diese zwei Gruppen von Erwerbspersonen kein Element der gewerkschaftlichen Nutzenfunktion sind, betrachtet die Insider-Outsider-Theorie sie als Verlierer gewerkschaftlicher Rent-Seeking Aktivitäten. Negative Effekte für Outsider entstehen dann, wenn die von den Gewerkschaften ausgehandelten Tariflöhne so hoch sind, dass sie 50 zu einem Anstieg der Arbeitslosigkeit führen. Eine hohe Arbeitslosenquote wirkt sich negativ auf die Wiederbeschäftigungschancen von Arbeitslosen aus, reduziert dadurch ihre Reservationslöhne und erhöht letztlich ihre Wahrscheinlichkeit niedrig entlohnte Jobangebote zu akzeptieren (vgl. Kap. 3.1). Folglich kann eine aus Mitgliederperspektive erfolgreiche gewerkschaftliche Lohnpolitik, unmittelbar die Wiederbeschäftigungschancen und Lohnerwartungen von Outsidern verschlechtern. Negative Effekte für nicht gewerkschaftlich organisierte Insider können dann eintreten, wenn Unternehmen aufgrund hoher Tariflöhne dazu gezwungen sind, in anderen Bereichen ihre Produktions- bzw. Lohnkosten zu reduzieren, um wettbewerbsfähig zu bleiben. In diesem Szenario, kann das Rent-Seeking der Gewerkschaften direkt zulasten der Löhne von nicht gewerkschaftlich organisierten Insidern innerhalb des Unternehmens gehen. Hierbei handelt es sich häufig um Arbeitnehmer in atypischen Beschäftigungsverhältnissen oder geringqualifizierte und somit leicht substituierbare Arbeitnehmer. 50

Diese Argumentation folgt dem neoklassischen Standardmodell des Arbeitsmarktes. Das Modell geht davon aus, dass Löhne, die oberhalb des markträumenden Gleichgewichtslohns liegen, zu einem Rückgang der Arbeitsnachfrage bei gleichzeitigem Anstieg des Arbeitsangebotes führen und somit Arbeitslosigkeit verursachen. Entsprechend dieser Logik verursachen auch Tariflöhne Arbeitslosigkeit, denn sie liegen in der Regel über dem markträumenden Gleichgewichtslohn, da sie unter Einsatz von Marktmacht zustande gekommen sind.

3.2 Institutionelle Ursachen

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Insofern kann im Rahmen der ökonomischen Insider-Outsider-Theorie argumentiert werden, dass gewerkschaftliches Rent-Seeking als (nicht intendierten) Nebeneffekt, einen Anstieg der Nachfrage und des Angebots von Niedriglohnbeschäftigung verursacht (Franz 2006: 294; Lindbeck/Snower 2001: 177f.; Sesselmeier 2004: 129). Im Gegensatz zu der ökonomischen Insider-Outsider-Theorie gehen die meisten sozialwissenschaftlichen Arbeitsmarkttheorien davon aus, dass Gewerkschaften nicht nur der Mitgliederlogik folgen. Stattdessen dominiert die Annahme, dass Gewerkschaften eine Machtressource aller Arbeitnehmer sind; d.h. Gewerkschaften engagieren sich nicht nur für die Interessen ihrer Mitglieder, sondern setzen sich auch für die Belange nicht gewerkschaftlich organisierter Insider und Outsider ein. Vor diesem Hintergrund beeinflussen Gewerkschaften Löhne und Arbeitsbedingungen nicht nur faktisch zugunsten ihrer Mitglieder, sondern auch programmatisch zugunsten aller lohnabhängigen Erwerbspersonen (Keller: 1995: 23). Viele empirische Untersuchungen unterstützen diese Perspektive, indem sie aufzeigen, dass Gewerkschaftspolitik auch makroökonomische und gesellschaftspolitische Ziele umfasst und somit deutlich über eine reine Mitgliederlogik hinausgeht. So setzten sich Gewerkschaften z.B. für den Abbau von Arbeitslosigkeit, die Förderung des Wirtschaftswachstums, soziale Gerechtigkeit sowie die Reduzierung sozialer und ökonomischer Ungleichheit ein. Dementsprechend verfolgen die meisten Gewerkschaften im Interesse der sozialen Gerechtigkeit eine Politik, die auf eine Kompression der Lohnverteilung setzt und insbesondere eine Reduzierung der Lohnspreizung in den unteren Einkommenssegmenten anstrebt (OECD 2006: 82). Vor diesem Hintergrund ist zu erwarten, dass sich starke Gewerkschaften negativ auf das Angebot und die Nachfrage nach Niedriglohnbeschäftigung auswirken und dieser Effekt für alle Erwerbspersonen gilt; und nicht nur für gewerkschaftlich organisierte Insider. Grundsätzlich stehen Gewerkschaften unterschiedliche Kanäle zur Verfügung, um die ökonomische und soziale Wohlfahrt verschiedener Erwerbspersonengruppen zu beeinflussen. Zur Verbesserung der Lohn- und Arbeitsbedingungen ihrer Mitglieder, nutzen Gewerkschaften klassische Institutionen der industriellen Beziehungen wie Tarifverhandlungen und Tarifverträge. Auf die Lohn- und Arbeitsbedingungen nicht-gewerkschaftlich organisierter Insider können Gewerkschaften dahingegen nur indirekt einen positiven Einfluss ausüben. Eine prominente Strategie zur Verbesserung der Lohn- und Arbeitsbedingungen aller Arbeitnehmer besteht darin, dass Gewerkschaften ihre Marktmacht für die

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3 Ursachen der Niedriglohnbeschäftigung: Ein multidisziplinärer Überblick

Schaffung und den Erhalt inklusiver Lohnsysteme einsetzen. Inklusive Lohnsysteme zeichnen sich dadurch aus, dass Gewinne nicht nur von bestimmten Akteursgruppen, wie Arbeitgebern, Investoren und gewerkschaftlich organisierten Insidern, abgeschöpft werden. Stattdessen existieren Arbeitsmarktinstitutionen, die Gewinne über alle Beschäftigtengruppen verteilen. Inklusive Lohnsysteme entstehen durch die Koexistenz verschiedener staatlicher Arbeitsmarktinstitutionen sowie verschiedener Institutionen der industriellen Beziehungen. Zu diesen Institutionen gehören eine hohe Tarifbindung, zentralisierte Tarifverhandlungen, umfassende Kündigungs- und Arbeitnehmerschutzbestimmungen, Allgemeinverbindlichkeitserklärungen von Tarifverträgen und gesetzliche Mindest51 löhne. Um Inklusivität zu gewährleisten, müssen Lohnsysteme nicht all diese Institutionen aufweisen. Entscheidend ist hingegen ihre gemeinsame Wirkung auf Lohn- und Arbeitsbedingungen. Insgesamt geht die einschlägige Literatur davon aus, dass sich mit steigender Inklusivität des Lohnsystems die Lohnungleichheit verringert und die Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung abnimmt (Bosch 2009: 342f.; Bosch 2012: 31; Salverda/Mayhew 2009: 146). Auch durch Lobbying und eine regelmäßige Beteiligung der Akteure der überbetrieblich-verbandlichen Selbstregulierung an sozial- und arbeitsmarktpolitischen Entscheidungen, können Gewerkschaften ihren Einfluss zu Gunsten der sozialen Sicherheit und Dekommodifizierung unterschiedlicher Erwerbspersonengruppen geltend machen. Durch diese Art der Einflussnahme auf staatliche Politik können Gewerkschaften indirekt zu einem Anstieg der Reservationslöhne und einem Rückgang des Angebotes von Niedriglohnbeschäftigung beitragen (Appelbaum et al. 2010: 7-12; Booth 1995: 87f.; Mahler 2004: 1031). Ein weiterer Mechanismus über den Gewerkschaften einen positiven Einfluss auf die Lohn- und Arbeitsbedingungen nicht gewerkschaftlich organisierter Insider ausüben können, ist weniger eine intentionale Strategie, als vielmehr ein Nebeneffekt der Existenz starker Gewerkschaften. Das Argument basiert auf der Annahme, dass Unternehmen bei der Wahl ihrer Wettbewerbsstrategie das Ausmaß gewerkschaftlicher Marktmacht berücksichtigen. So ist es auf Arbeitsmärkten mit starken Gewerkschaften für Unternehmen strategisch nicht sinnvoll, die „low-road“-Wettbewerbsstrategie zu wählen, da der Versuch untertarifliche Löhne zu zahlen oder direkte und indirekte Lohnkürzungen durchzufüh51

All diese Institutionen und ihre Wirkung auf die Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung wurden und werden im Rahmen dieses Kapitels auch einzeln diskutiert. Dennoch werden sie an dieser Stelle komprimiert erwähnt, da sie alle Teil eines inklusiven Lohnsystems sind.

3.2 Institutionelle Ursachen

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ren mit erheblichem Widerstand der Gewerkschaften verbunden wären. Folglich sollten sich Unternehmen eher für die „high-road“-Wettbewerbsstrategie entscheiden, wenn Gewerkschaften eine große Marktmacht besitzen. Auf der Aggregatebene führt dieser Effekt dazu, dass weniger niedrig entlohnte Jobs mit geringen qualifikatorischen Anforderungen angeboten werden. Stattdessen investieren Unternehmen mehr Ressourcen in Aus- und Weiterbildung und zahlen Effizienzlöhne, um qualifizierte Arbeitnehmer zu halten und langfristig ihre Wettbewerbsfähigkeit zu sichern. Somit können starke Gewerkschaften auch zu einer sinkenden Nachfrage nach Niedriglohnbeschäftigung führen. Von dieser Wirkung profitieren nicht nur Gewerkschaftsmitglieder, sondern auch nicht-gewerkschaftlich organisierte Arbeitnehmer (Appelbaum et al. 2005: 301). Tarifverträge und Tarifbindung Trotzdem Gewerkschaften auch die Lohn- und Arbeitsbedingungen nichtgewerkschaftlich organisierter Insider beeinflussen können, liegt ihr größtes Wirkungspotenzial in der Gestaltung der Beschäftigungsverhältnisse ihrer Mitglieder. Insbesondere Tarifverhandlungen, die daraus resultierenden Tarifverträge und die Tarifbindung sind zentrale Institutionen, mit denen Gewerkschaften unmittelbar den Anteil der Niedriglohnbeschäftigten reduzieren können. Über Tarifverträge können Gewerkschaften unmittelbaren Einfluss auf Löhne und die Lohnverteilung nehmen. Dieser Einfluss entsteht dadurch, dass Tariflöhne unter sonst gleichen Bedingungen zumeist höher sind als individualrechtlich verhandelte Löhne, da Arbeitnehmer durch kollektive Lohnverhandlungen Marktmacht erlangen, die sie der strukturellen Übermacht der Arbeitgeberseite entgegensetzen können (Bosch/Kalina 2007: 73; Franz 2006: 256f.). Als marktwirtschaftskonforme Regelwerke dienen Tarifverträge somit der befristeten Befriedung und Kanalisierung des industriellen Konfliktes zwischen Kapital und Arbeit. Dies gelingt durch die kollektive Normierung von Löhnen und Arbeitsbedingungen sowie der Festlegung der Rechte und Pflichten beider Tarifvertragsparteien, also Gewerkschaften und Arbeitgebern bzw. Arbeitgeberverbänden (Ebbinghaus 2010: 206; Keller 1995: 113f.). Tarifverträge führen zu einer gleichmäßigeren Lohnverteilung, denn sie verringern das inner- und zwischenbetriebliche Lohngefälle. In ihrer Wirkung auf die Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung ähneln Tarifverträge gesetzlichen Mindestlöhnen, da auch sie Lohnuntergrenzen festlegen. Der wesentliche Unterschied zu gesetzlichen Mindestlöhnen besteht allerdings darin, dass Tariflöhne nach Region und Branche

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3 Ursachen der Niedriglohnbeschäftigung: Ein multidisziplinärer Überblick

variieren. Abhängig davon, ob ein Tariflohn ober- oder unterhalb der Niedriglohnschwelle liegt, trägt er entweder zu einem Rückgang der Nachfrage nach Niedriglohnbeschäftigung bei oder er reduziert zumindest innerhalb seines Geltungsbereiches die Streuung der Löhne in den unteren Einkommenssegmenten (Bosch/Kalina 2007: 21f.; BMAS 2013: 338; Grimshaw 2011: 28ff.; Lucifora et al. 2005: 271). Das Risiko trotz tarifvertraglicher Entlohnung im Niedriglohnsektor zu arbeiten, variiert stark innerhalb der verschiedenen Wirtschaftssektoren. Während Tariflöhne im industriellen Sektor zumeist oberhalb der Niedriglohnschwelle liegen, befinden sich viele tariflich vereinbarte Löhne im Dienstleistungssektor unterhalb der Niedriglohnschwelle. Eine wesentliche Ursache des sektorenspezifischen Tariflohngefälles besteht darin, dass sich Tätigkeiten im Dienstleistungssektor (wie z.B. im Hotel- und Gastgewerbe, dem Einzelhandel sowie personenund haushaltsbezogenen Dienstleistungen) bisher weitgehend einer Mechanisierung und Rationalisierung entziehen. Dementsprechend besteht im Dienstleistungssektor wenig Potenzial für Produktivitätssteigerungen. Dieses Charakteristikum wirkt sich aus zwei Gründen negativ auf die Höhe der Tariflöhne aus. Erstens führen die begrenzten Möglichkeiten zur Produktivitätssteigerung dazu, dass viele Dienstleistungsunternehmen kaum Produktivitätsgewinne erzielen, die Gewerkschaften in Tarifverhandlungen abschöpfen könnten. Somit existiert wenig Spielraum für Lohnsteigerungen. Zweitens stehen die Löhne im Dienstleistungssektor unter einem stärken Wettbewerbsdruck als die Löhne im industriellen Sektor, da die Wettbewerbsfähigkeit von Dienstleistungsunternehmen kaum über Produktivitätszuwächse erhalten werden kann. Aus diesem Grund stellen die Lohnkosten einen wichtigen Wettbewerbsfaktor dar. Hohe Lohnkostenzuwächse würden sich somit direkt negativ auf die Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen auswirken, da sie über eine Erhöhung des Preises der Dienstleistung finanziert werden müssten (Hall 2011: 34). Neben der Existenz von Tarifverträgen ist insbesondere ihre Breitenwirkung bzw. die Tarifbindung eine wichtige Determinante ihrer Wirkung auf die Lohnverteilung. Mit dem Begriff der Tarifbindung wird der Anteil aller abhängig beschäftigten Arbeitnehmer, deren Löhne und Arbeitsbedingungen durch einen Tarifvertrag geregelt werden, beschrieben (Schnabel 2005: 188). Arbeitnehmer und Arbeitgeber unterliegen der Tarifbindung, wenn für ihren regionalen und sektoralen Geltungsbereich ein Tarifvertrag abgeschlossen wurde und sie Mitglieder jener Verbände sind, die diesen Tarifvertrag abschlossen haben. Wirk-

3.2 Institutionelle Ursachen

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samkeit auf Arbeitsplatzebene erlangt ein Tarifvertrag allerdings erst dann, wenn sowohl der Arbeitgeber als auch die Arbeitnehmer verbandlich organisiert 52 sind. Mit steigender Tarifbindung reduziert sich der angebotsseitige Lohnwettbewerb, denn je mehr Arbeitnehmer nach Tarifvertrag entlohnt werden, desto geringer ist der Druck bzw. die Möglichkeit für Arbeitnehmer über (niedrige) Lohnforderungen um Arbeitsplätze zu konkurrieren. Gleichzeitig können Unternehmen ihre Wettbewerbsfähigkeit nicht über Lohnkostensenkungen sicherstellen. Somit verhindert eine hohe Tarifbindung einerseits einen Lohnunterbietungswettbewerb zwischen Arbeitnehmern und zwingt andererseits Arbeitgeber dazu, die Produktivität zur entscheidenden Komponente ihrer Wettbewerbsfähigkeit zu machen. Gewerkschaftlicher Organisationsgrad und verbandlicher Organisationsgrad der Arbeitgeber Abgesehen von Allgemeinverbindlichkeitserklärungen von Tarifverträgen (vgl. Kap. 3.2.1.1) hängt eine hohe Tarifbindung sowohl vom gewerkschaftlichen Organisationsgrad als auch vom verbandlichen Organisationsgrad der Arbeitgeber ab. Der gewerkschaftliche Organisationsgrad ist ein wichtiger Hinweis dafür, wie stark Gewerkschaften in der Erwerbsbevölkerung verankert sind. Da der Organisationsgrad eng mit dem Mobilisierungspotenzial der Gewerkschaften verbunden ist, gilt er zudem als Indikator für die gewerkschaftliche (Verhandlungs-) Macht und Kampfstärke in Arbeitskonflikten. Zur Abbildung des gewerkschaftlichen Organisationsgrades werden zumeist zwei Kennzahlen verwendet. Währen der Brutto-Organisationsgrad das Verhältnis aller Gewerkschaftsmitglieder (d.h. auch Rentner und Arbeitslose) zu allen abhängigen Erwerbstätigen misst, basiert der Netto-Organisationsgrad auf dem Quotienten aus erwerbstätigen Gewerkschaftsmitgliedern und allen abhängigen Erwerbstätigen. Der NettoOrganisationsgrad gilt als das realistischere Maß, um die Konfliktfähigkeit der Gewerkschaften abzubilden, da Rentner und Arbeitslose in Arbeitskämpfen kaum einen Beitrag zur Verbesserung der gewerkschaftlichen Verhandlungsposition leisten können (Wagner/Jahn 2004: 184f.; Schnabel 2005: 184f.). In der einschlägigen Literatur besteht ein weitgehender Konsens darüber, dass ein 52

Die meisten tarifgebundenen Unternehmen wenden die tariflich festgelegten Lohn- und Arbeitsbedingungen auch auf die nicht-gewerkschaftlich organisierten Arbeitnehmer in ihrem Unternehmen an (Schnabel 2005: 188).

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3 Ursachen der Niedriglohnbeschäftigung: Ein multidisziplinärer Überblick

hoher gewerkschaftlicher Organisationsgrad die Streuung der Löhne im unteren und mittleren Bereich der Lohnverteilung reduziert und somit auch zu einer Reduzierung der Niedriglohnbeschäftigung beiträgt. Diese Wirkung entsteht erstens dadurch, dass der gewerkschaftliche Organisationsgrad eine wesentliche Voraussetzung für die Tarifbindung ist. Zweitens verbessert eine große Mitgliederbasis die Verhandlungsposition der Gewerkschaften gegenüber den Arbeitgebern, so dass Gewerkschaften in Tarifverhandlungen höhere Lohnforderungen stellen können (Allmendinger et al. 2005: 124; Lucifora et al. 2005: 272; Rueda/Pontusson 2000: 359). Die Tarifbindung hängt jedoch nicht nur von dem gewerkschaftlichen Organisationsgrad ab. Ohne Tarifpartner auf der Arbeitgeberseite können weder Tarifverhandlungen geführt werden, noch erlangen Tarifverträge den Status einer wirksamen Institution zur kollektiven vertraglichen Regelung von Arbeitsbedingungen. Aus diesem Grund ist neben dem gewerkschaftlichen Organisationsgrad auch der verbandliche Organisationsgrad der Arbeitgeber ein entscheidender Bestimmungsfaktor der Tarifbindung. Somit gilt, dass mit zunehmendem Organisationsgrad der Arbeitgeber, unter sonst gleichen Bedingungen, auch die Tarifbindung steigt (Bosch 2009: 342; Bosch/Kalina 2007:71). Eine hohe Tarifbindung führt nicht nur dazu, dass viele Arbeitnehmer von den Vorteilen kollektiv ausgehandelter Arbeitsverträge profitieren. Es wird zudem davon ausgegangen, dass mit steigender Tarifbindung die Gestaltungsfähigkeit, das Mobilisierungspotenzial und die Durchsetzungskraft der Gewerkschaften steigen. Dies wirkt sich wiederum positiv auf die Höhe der Tariflöhne aus. So entsteht ein sich selbst verstärkender Kreislauf aus steigender Tarifbindung, zunehmender Gestaltungsfähigkeit der Tarifparteien und steigendem Tariflohnniveau, der sukzessive zu einer Reduktion der Niedriglohnbeschäftigung beitragen kann (Jansen 2006: 110f.). Struktur des Tarifverhandlungssystems Neben dem arbeitnehmer- bzw. arbeitgeberseitigen verbandlichen Organisationsgrad und der Tarifbindung, diskutiert die einschlägige Literatur auch die Struktur des Tarifverhandlungssystems als institutionellen Bestimmungsgrund der Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung. Tarifverhandlungssysteme können nach unterschiedlichen Strukturmerkmalen differenziert werden. Das am häufigsten beachtete Strukturmerkmal ist der Zentralisationsgrad, d.h. die Ebene, auf der Tarifverträge formell abgeschlossen werden. Von allen Struktur-

3.2 Institutionelle Ursachen

125

merkmalen wird dem Zentralisationsgrad der größte Einfluss auf Arbeitsmarktergebnisse wie die Einkommensverteilung im Allgemeinen und die Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung im Speziellen zugeschrieben (Traxler 2003: 530). Tarifverhandlungen können auf einem Kontinuum zwischen starker Dezentralisation (Verhandlungen auf Firmenebene) und vollständiger Zentralisation (Verhandlungen auf nationaler Ebene) stattfinden. Zwischen diesen Polen existieren unterschiedliche Zwischenstufen wie z.B. regionale Tarifverhandlungen auf Branchenebene. Ein hoher Zentralisationsgrad geht häufig damit einher, dass die Akteure der überbetrieblich-verbandlichen Selbstregulierung einen höheren Koordinationsgrad haben, d.h. dass z.B. Dachverbände die Tarifverhandlungen führen oder staatliche Akteure in die Verhandlungen einbezogen werden. Die einschlägige Literatur argumentiert mehrheitlich, dass aus theoretischer Perspektive ein negativer Zusammenhang zwischen dem Zentralisationsgrad der Tarifverhandlungen und der Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung zu erwarten ist. Eine Ausnahme von dieser Position stellt Giesselmann 2014 dar. Bezugnehmend auf Argumenten der politikwissenschaftlichen Variante der Insider-Outsider-Theorie zeigt Giesselmann anhand eines multivariaten Modells, dass es Insidern mit steigendem Zentralisationsgrad besser gelingt ihre Interessen durchzusetzen, während die Interessen der Outsider zunehmend in 53 den Hintergrund gedrängt werden. Die Ursache für diese Dynamik liegt gemäß der politikwissenschaftlichen Insider-Outsider-Theorie darin, dass mit steigender Zentralisation der Tarifverhandlungen die Anzahl der Insider relativ zu den Outsidern wächst und daher die Interessen der Insider für politische Parteien aus strategischer Perspektive an Relevanz gewinnen. Somit wird es für politische Parteien zu einer rationalen bzw. stimmenmaximierenden Strategie, die Interessen der Insider an Lohnsteigerungen und höherer sozialer Sicherheit zu unterstützen. Zum Ausgleich etwaiger ökonomisch negativen Effekte dieser Politik, werden atypische Beschäftigungsverhältnisse an den Rändern des Arbeitsmarktes dereguliert. Diese Strategie ist erfolgsversprechend, da Outsider keine elektoral entscheidende Gruppe darstellen und zudem keine schlagkräfti53

Die ökonomische und die politikwissenschaftliche Insider-Outsider-Theorie verwenden abweichende Spezifikationen des Konzeptes der Insider und Outsider. In der politikwissenschaftlichen Variante besteht die Gruppe der Outsider nicht nur aus Arbeitslosen, sondern auch aus all jenen Erwerbstätigen, die in atypischen Beschäftigungsverhältnissen arbeiten (z.B. Leiharbeit, befristete Beschäftigungsverhältnisse und Teilzeitarbeit). Als Insider werden dahingegen alle Erwerbstätigen in Normalarbeitsverhältnissen definiert, d.h. Arbeitnehmer mit unbefristeter, sozialversicherungspflichtiger Vollzeitbeschäftigung (Rueda 2005: 62).

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3 Ursachen der Niedriglohnbeschäftigung: Ein multidisziplinärer Überblick

ge Interessenvertretung besitzen, denn Gewerkschaften vertreten traditionell die Interessen gewerkschaftlich organisierter Insider in Normalarbeitsverhältnissen. Laut Giesselmann trägt eine stark zentralisierte Tarifverhandlungsstruktur somit zu einer Marginalisierung der Interessen der Outsider bei, denn der Privilegienzuwachs der Insider wird durch ein Absinken der Löhne bzw. eine Verschlechterung Arbeitsbedingungen der Outsider finanziert (Giesselmann 2014). Die Mehrzahl der Arbeiten zur Wirkung des Zentralisationsgrades auf die Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung teilen allerdings weder dieses theoretische Argument noch kommen sie zu denselben empirischen Befunden. Stattdessen weisen zahlreiche empirische Studien darauf hin, dass mit steigendem Zentralisationsgrad der Tarifverhandlungen sowohl die Lohnungleichheit als auch der Anteil der Niedriglohnbeschäftigten abnimmt. Mit leichten Variationen wird dieser Zusammenhang durch folgenden theoretischen Mechanismus erklärt: Mit steigendem Zentralisationsgrad der Tarifverhandlungen vergrößert sich zum einen der Geltungsbereich von Tarifverträgen und damit auch die Tarifbindung. Zum anderen wächst die Verhandlungsmacht von Gewerkschaften gegenüber den Vertretern der Arbeitgeberseite, da die Gewerkschaften im Falle eines Arbeitskampfes über ein größeres Mobilisierungspotenzial verfügen. Je stärker die Verhandlungsposition von Gewerkschaften, desto höher sind die Tarifabschlüsse. Insgesamt bewirkt ein hoher Zentralisationsgrad sowohl ein verhältnismäßig starkes Wachstum der Löhne als auch eine Nivellierung der Lohnstruktur und eine relativ hohe Transparenz der Entgeltsysteme. Diese Transparenz kann zusätzlich eine abnehmende gesellschaftliche Toleranz gegenüber ökonomischer und sozialer Ungleichheit bewirken. Dies kann sich wiederum positiv auf die Macht der Gewerkschaften auswirken und darüber hinaus zu einer arbeitnehmerfreundlichen bzw. stärker dekommodifizierenden staatlichen Arbeitsmarktpolitik und Arbeitsmarktregulierung führen. Insgesamt wird erwartet, dass sich diese Mechanismen negativ auf das Angebot und die Nachfrage nach Niedriglohnbeschäftigung auswirken (Blau/Kahn 1996; Bonoli 2003: 1012; Lucifora et al. 2005: 272; Mahler 2004: 1031; Oliver 2008: 1553f.; Rueda/Pontusson 2000: 360f.; Traxler 2003: 531ff.). Quantitative Indikatoren Für alle zuvor diskutierten Institutionen der industriellen Beziehungen existieren quantitative Indikatoren, die in dem Forschungsbereich der industriellen

3.2 Institutionelle Ursachen

127

Beziehungen als reliable Kennzahlen zur Operationalisierung dieser Institutionen gelten (vgl. Tab. 3.5). Tabelle 3.5: Operationalisierung der Institutionen der industriellen Beziehungen Indikator Messkonzept Erklärungsfaktor: Gewerkschaften Netto-Organisationsgrad: Anteil geGewerkschaftswerkschaftlich organisierter Erwerbstädichte tiger an allen abhängig Erwerbstätigen (in %) Erklärungsfaktor: Arbeitgeberverbände Verbandlich organisierte Arbeitgeber Arbeitgeberals Anteil aller abhängig Erwerbstätigen organisationsgrad (in %) Erklärungsfaktor: Tarifverträge Anteil der nach Tarifverträgen entlohnTarifbindung ten abhängig Erwerbstätigen (in % aller abhängig Erwerbstätigen) Erklärungsfaktor: Interessenvertretung Beteiligung von Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden an politischen Korporatismus Entscheidungen zur Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik (Ordinalskala) Erklärungsfaktor: Struktur des Tarifverhandlungssystems Zentralisationsgrad der TarifverhandVerhandlungsebene lungen (Ordinalskala) Koordinierungsmechanismus bei LohnKoordinierung der verhandlungen; Zentralisationsgrad und Lohnverhandlungen involvierte Verhandlungspartner (Ordinalskala)

Effektrichtung

Datenquelle

(negativ)

ICTWSS, OECD.Stat54

negativ

ICTWSS

negativ

OECD.Stat

negativ

ICTWSS

(negativ)

ICTWSS

(negativ)

ICTWSS

Die Gewerkschaftsdichte ist ein gängiger Indikator, um das Mobilisierungspotenzial und die Verhandlungsmacht von Gewerkschaften gegenüber den Arbeitgebern zu messen. Obschon die einschlägige Literatur überwiegend einen negativen Effekt von starken Gewerkschaften auf die Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung erwartet, kann aus Perspektive der ökonomischen InsiderOutsider-Theorie auch ein positiver Effekt erwartet werden. Aus diesem Grund 54

Verweist die Spalte „Datenquelle“ auf mehrere Quellen, werden Variablenwerte aus unterschiedlichen Datenbanken zusammengefügt, um die Anzahl fehlender Werte zu reduzieren. Eine Zusammenführung von Variablen unterschiedlicher Datenquellen wird nur dann vorgenommen, wenn die Indikatoren exakt auf demselben Messkonzept beruhen.

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3 Ursachen der Niedriglohnbeschäftigung: Ein multidisziplinärer Überblick

stellt Tabelle 3.5 die theoretisch erwartete Effektrichtung in Klammern dar. Mit dem Arbeitgeberorganisationsgrad wird dahingegen der verbandliche Organisationsgrad der Arbeitgeber gemessen, der ebenso wie die Gewerkschaftsdichte als Determinante der Tarifbindung gilt. Aus theoretischer Perspektive ist sowohl vom Arbeitgeberorganisationsgrad als auch von der Tarifbindung ein negativer Effekt auf die abhängige Variable zu erwarten. Die Beteiligung der Akteure der überbetrieblich-verbandlichen Selbstregulierung an arbeitsmarkt- und sozialpolitischen Entscheidungen wird anhand einer dreistufigen Ordinalskala gemessen. Der höchste Rang beschreibt stark korporatistische Systeme, d.h. Länder, in denen Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände offiziell und regelmäßig in politische Entscheidungen einbezogen werden. Bei einer mittleren Merkmalsausprägung findet nur inoffiziell und unregelmäßig eine Koordinierung der Politik mit den Tarifpartnern statt. Auf dem niedrigsten Rang werden Systeme eingeordnet, in denen sich staatliche Akteure nie oder fast nie mit den Akteuren der überbetrieblich-verbandlichen Selbstregulierung koordinieren. Aus theoretischer Perspektive ist zu erwarten, dass sich korporatistische Interessenvermittlung negativ auf die Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung auswirkt, da gewerkschaftliche Positionen routinemäßig an politische Entscheidungsträger kommuniziert werden. Die letzten zwei Indikatoren in Tabelle 3.5 dienen der Operationalisierung der Struktur des Tarifverhandlungssystems. Auch diese zwei Indikatoren sind ordinal skaliert. Der Zentralisationsgrad der Tarifverhandlungen wird anhand einer fünfstufigen Rangskala gemessen. Der höchste Rang beschreibt Tarifverhandlungssysteme, in denen die Tarifverhandlungen auf nationaler Ebene stattfinden und zusätzlich verbindliche Mechanismen existieren, die eine hohe Tarifbindung garantieren. Mit abnehmendem Rang, wird auch der Zentralisationsgrad geringer, d.h. die Verhandlungen finden z.B. auf sektoraler Ebene, auf Branchenebene oder auf Firmenebene statt. Der Indikator “Koordinierung der Lohnverhandlungen” beschreibt den Koordinierungsmechanismus in Lohnverhandlungen und integriert dabei den Zentralisationsgrad mit dem Koordinierungsgrad der Verhandlungspartner. Ebenfalls auf einer fünfstufigen Rangskala beschreibt der höchste Rang zentralisierte Tarifverhandlungen zwischen Dachverbänden, bei denen auch staatliche Akteure involviert sein können und ein hohes Maß an Koordination zwischen den Akteuren existiert. Auf den nachfolgenden Rängen nimmt sowohl der Zentralisationsgrad als auch die Koordination zwischen den Verhandlungspartnern ab. Der niedrigste Rang beschreibt Tarif-

3.2 Institutionelle Ursachen

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verhandlungssysteme, die sich durch fragmentierte Lohnverhandlungen auf Firmenebene auszeichnen und die keine koordinierenden Elemente mit anderen Unternehmen der Branche oder Dachverbänden aufweisen. Mit Ausnahme von Giesselmann 2014 dominiert in der einschlägigen Literatur die theoretisch begründete Erwartung, dass sich ein hoher Zentralisations- und Koordinierungsgrad negativ auf die Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung auswirkt. 3.2.1.3 Wirkungskanäle von Arbeitsmarktinstitutionen Der Vergleich der theoretisch zu erwartenden Wirkungsmechanismen zwischen den unterschiedlichen Arbeitsmarktinstitutionen und der Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung zeigt, dass sich Arbeitsmarktinstitutionen über ein relativ begrenztes Spektrum an Wirkungskanälen auf die abhängige Variable auswirken. Insgesamt können vier solcher Wirkungskanäle identifiziert werden: (1) direkte Lohnfestsetzung; (2) Veränderung des Reservationslohns; (3) Veränderung der kollektiven Verhandlungsmacht; (4) Interessenvertretung der Arbeitnehmer und Arbeitgeber gegenüber Dritten (insbesondere gegenüber politischen Entscheidungsträgern). Tabelle 3.6 stellt die Wirkungskanäle aller zuvor diskutierten staatlichen Arbeitsmarktinstitutionen und Institutionen der industriellen Beziehungen zusammenfassend dar. Jede Arbeitsmarktinstitution entfaltet über mindestens einen dieser vier Kanäle ihre Wirkung auf die abhängige Variable. Der Wirkungskanal mit dem direktesten Effekt auf die Lohnverteilung und die Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung ist die Festsetzung von Löhnen. Lediglich drei Arbeitsmarktinstitutionen wirken sich über diesen Kanal auf die abhängige Variable aus: Mindestlöhne, Tarifverträge und die Allgemeinverbindlichkeitserklärung von Tarifverträgen. Auch Arbeitsmarktinstitutionen, die sich über die Veränderung des Reservationslohns der Arbeitnehmer auf die abhängige Variable auswirken, haben einen vergleichsweise kurzen UrsacheWirkungs-Mechanismus. Zu diesen Arbeitsmarktinstitutionen gehören die Arbeitslosenunterstützung, Institutionen der aktiven Arbeitsmarktpolitik, Leistungsanspruchskriterien, die Regulierung regulärer und atypischer Beschäftigungsverhältnisse sowie Gesetze gegen geschlechtsbezogene Lohndiskriminierung. Arbeitsmarktinstitutionen, deren Wirkung über die Veränderung der kollektiven Verhandlungsmacht sowie die Vertretung der Interessen von Arbeitnehmern und Arbeitgebern vermittelt ist, haben lediglich einen indirekten Ef-

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3 Ursachen der Niedriglohnbeschäftigung: Ein multidisziplinärer Überblick

fekt auf die Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung. Ihr Effekt hat einen indirekten Charakter, da sie erst durch die Beeinflussung der Ausgestaltung von Arbeitsmarktinstitutionen mit direktem Einfluss auf die Arbeitsentgelte ihre Wirkung auf die Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung entfalten können. Tabelle 3.6: Wirkungskanäle von Arbeitsmarktinstitutionen auf Niedriglohnbeschäftigung Wirkungskanäle

Arbeitsmarktinstitutionen Staatliche Arbeitsmarktinstitutionen Arbeitslosenunterstützung Institutionen der aktiven Arbeitsmarktpolitik Leistungsanspruchskriterien Regulierung regulärer und atypischer Beschäftigung Mindestlohn Allgemeinverbindlichkeitserklärung von Tarifverträgen Gesetze gegen geschlechtsbezogene Lohndiskriminierung Institutionen der industriellen Beziehungen Gewerkschaften

Lohnfestsetzung

Veränderung der kollektiven Verhandlungsmacht

Interessenvertretung der Arbeitnehmer/ Arbeitgeber

x x

x x

x x x x x x x

Arbeitgeberverbände Tarifverträge Zentralisation der Tarifverhandlungen Koordinierungsgrad der Lohnverhandlungen Korporatismus

Veränderung des Reservationslohns

x x x x

x

Gewerkschaften, Arbeitgeberverbände und die Beteiligung der Tarifpartner an politischen Entscheidungen wirken sich sowohl auf die kollektive Verhandlungsmacht als auch auf die Interessenvertretung der Arbeitnehmer und Arbeitgeber aus. Die Struktur des Tarifverhandlungssystems, d.h. die Zentralisation der Tarifverhandlungen und ihr Koordinierungsgrad, wirken sich nur über die Veränderung der kollektiven Verhandlungsmacht auf die Verbreitung von Nied-

3.2 Institutionelle Ursachen

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riglohnbeschäftigung aus. Aufgrund ihrer indirekten Wirkung auf die abhängige Variable ist aus theoretischer Perspektive zu erwarten, dass diese Arbeitsmarktinstitutionen einen schwächeren Einfluss auf die Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung ausüben als Arbeitsmarktinstitutionen, die über einen direkten Wirkungskanal vermittelt sind. Tabelle 3.6 verdeutlicht, dass die Wirkung staatlicher Arbeitsmarktinstitutionen ausschließlich über Kanäle mit direktem Effekt auf die Lohnverteilung vermittelt ist. Dahingegen üben die Institutionen der industriellen Beziehungen überwiegend eine indirekte Wirkung auf die Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung aus. Tarifverträge stellen die einzige Ausnahme von diesem Muster dar. 3.2.2 Institutionen der Wirtschafts-, Finanz- und Familienpolitik Neben Arbeitsmarktinstitutionen beeinflussen auch Institutionen der Wirtschafts-, Finanz- und Familienpolitik die Arbeitsangebots- und Arbeitsnachfrageentscheidungen der Arbeitsmarktakteure. Produktmarktregulierung Im Politikfeld der Wirtschaftspolitik gilt die Produktmarktregulierung als institutioneller Einflussfaktor auf die Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung. Produktmarktregulierung bezeichnet das Ausmaß, in dem der Gesetzgeber den Wettbewerb auf Produktmärkten fördert oder einschränkt. Wettbewerbsbeschränkungen können z.B. durch staatliche Unternehmenskontrollen, Hindernisse für Unternehmensgründungen sowie explizite Handels- und Investitionshemmnisse errichtet werden (OECD 2012: 158). Studien, die den Einfluss der Produktmarktregulierung auf Niedriglohnbeschäftigung thematisieren, erwarten einen negativen Wirkungszusammenhang zwischen diesen zwei Variablen, d.h. mit steigender Produktmarktregulierung sinkt die Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung. Der theoretisch erwartete Mechanismus hinter diesem Zusammenhang besteht darin, dass Produktmarktregulierung den Wettbewerb einschränkt und somit das Entstehen von ökonomischen Renten ermöglicht, die auf einem vollkommenen Wettbewerbsmarkt nicht existieren würden. Sowohl Produzenten als auch Arbeitnehmer können davon profitieren, indem sie die Renten in Form von Unternehmensgewinnen bzw. Lohnzuwächsen abschöpfen. Somit kann sich eine steigende Produktmarktregulierung aus theoretischer Perspektive negativ

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3 Ursachen der Niedriglohnbeschäftigung: Ein multidisziplinärer Überblick

auf die Nachfrage nach Niedriglohnbeschäftigung auswirken, da Unternehmen auf unvollständigen Wettbewerbsmärkten einem geringeren Wettbewerbsdruck ausgesetzt sind und dementsprechend auch die Lohnkosten unter einem geringeren Wettbewerbsdruck stehen. Einige Studien betonen, dass insbesondere Markteintrittsbarrieren und Preisuntergrenzen ruinöse Wettbewerbsstrukturen beschränken und so zur Entstehung ökonomischer Renten beitragen, die es den Unternehmen wiederum erlauben, höhere Löhne zu zahlen und bessere Arbeitsbedingungen zu gewährleisten, als es auf vollkommenen Wettbewerbsmärkten möglich wäre. Auch das Angebot von Niedriglohnbeschäftigung kann aufgrund steigender Produktmarktregulierung sinken, da regulierte Produktmärkte ein Umfeld schaffen, das die verbandliche Organisation der Arbeitsmarktakteure, kollektive Lohnverhandlungen und umfassende Arbeitnehmerrechte unterstützen und erleichtern (Bosch et al. 2010: 123-126; Fortin/Lemieux 1997: 80; Jaehrling/Méhaut 2013: 695f.). Trotz übereinstimmender Wirkungsanalyse, unterscheiden sich die Studien in ihrer Bewertung dieser Wirkung. Fortin und Lemieux stellen heraus, dass Produktmarktregulierung zwar zur Reduzierung der Niedriglohnbeschäftigung beitragen kann, die Wettbewerbsbeschränkungen aber auch mit Arbeitsplatz- und Wohlfahrtsverlusten einhergehen. Dahingegen betonen Bosch, Jaehrling und Méhaut den Wohlfahrtsgewinn der Arbeitnehmer, der durch den regulierungsbedingten Anstieg der Löhne entsteht. Besteuerung niedriger Einkommen Aus dem Politikfeld der Finanzpolitik gilt die Belastung niedriger Erwerbseinkommen durch Lohnsteuern und Sozialversicherungsbeiträge als institutioneller Einflussfaktor auf die Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung. Durch die Steuer- und Abgabenbelastung des Produktionsfaktors Arbeit entsteht eine Differenz zwischen den für den Arbeitgeber entstehenden Arbeitskosten (Arbeitgeberbruttolohn) und dem Arbeitnehmernettolohn. Diese Differenz wird als Steuer- bzw. Abgabenkeil bezeichnet. Die Höhe des Steuerkeils beeinflusst Arbeitsnachfrage und Arbeitsangebot, da lohnbezogene Steuern und Abgaben in der Regel von Arbeitgebern und Arbeitnehmern getragen werden. Die einschlägige Literatur geht davon aus, dass mit steigender Steuer- und Abgabenbelastung des unteren Einkommenssegments, die Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung abnimmt. Dieser Effekt hat sowohl angebots- als auch nachfrageseitige Ursachen. Auf der Angebotsseite sinkt der Anreiz für Arbeit-

3.2 Institutionelle Ursachen

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nehmer niedrig entlohnte Beschäftigungsverhältnisse einzugehen, da der Lohnabstand zwischen dem Erwerbseinkommen (Nettolohn) und dem durch Transferleistungen (Arbeitslosengeld oder Sozialhilfe) zu erzielenden Einkommen sinkt. Sofern Arbeitgeber die durch Steuern und Abgaben entstehenden Kosten nicht auf Arbeitnehmer oder Konsumenten überwälzen können, senkt ein hoher Steuerkeil auch die Arbeitsnachfrage, da die Arbeitskosten steigen. Unternehmen reagieren auf Lohnkostensteigerungen häufig durch eine Reduktion des Produktionsfaktors Arbeit, indem sie entweder Arbeit durch den Einsatz von Maschinen substituieren oder arbeitsintensive Produktionsprozesse in Länder mit geringeren Lohnkosten verlagern. Beide Strategien sind vor allem bei standardisierten Tätigkeiten mit geringen qualifikatorischen Anforderungen möglich. Da diese Art von Tätigkeit häufig niedrig entlohnt wird, werden ceteris paribus Arbeitsplätze im Niedriglohnbereich verdrängt. Somit ist der negative Effekt eines steigenden Steuerkeils auf die Verbreitung der Niedriglohnbeschäftigung über den Anstieg der Arbeitslosigkeit ehemals niedrig entlohnter Arbeitnehmer vermittelt (Allmendinger et al. 2005: 124; Esping-Andersen 2000: 79f.; OECD 2009: 55, 167). Kinderbetreuung Zum Abschluss der Diskussion institutioneller Ursachen der Niedriglohnbeschäftigung richtet sich der Fokus auf die familienpolitische Institution der Kinderbetreuung. In der einschlägigen Literatur besteht Konsens, dass der Staat durch das Angebot und die Finanzierungsstruktur staatlicher Kinderbetreuungseinrichtungen einen erheblichen Einfluss auf das Arbeitsangebot und die Arbeitsentgelte von Müttern ausübt. Wirtschaftswissenschaftliche Studien untersuchen vor allem die Wirkung des Kinderbetreuungsangebotes und der Kinderbetreuungskosten auf die Erwerbsbeteiligung von Müttern. Dieser Literaturzweig verweist darauf, dass sich sowohl ein Mangel an außerfamiliären Kinderbetreuungsmöglichkeiten (z.B. Kindergartenplätze und Tagesmütter) als auch hohe Kinderbetreuungskosten negativ auf das Arbeitsangebot von Müttern auswirken. Da die Kosten der Kinderbetreuung den Nettonutzen der Erwerbsarbeit reduzieren, beeinflussen sie auch die Mütter in ihrer Entscheidung, ob und wie viele Stunden sie erwerbstätig sind (Chevalier/Viitanen 2002: 915; Ribar 1992: 158). Der negative Beschäftigungseffekt von Kinderbetreuungskosten gilt als besonders hoch für Mütter mit niedrigen Einkommen, weil die Betreuungskosten in diesem Einkommensseg-

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3 Ursachen der Niedriglohnbeschäftigung: Ein multidisziplinärer Überblick

ment einen größeren Anteil des Gesamteinkommens absorbieren als in höheren Einkommenssegmenten. Die klassische ökonomische Annahme besagt daher, dass Mutterschaft den Reservationslohn erhöht (da Kinderbetreuungskosten anfallen) und folglich insbesondere Mütter mit niedrigen Lohneinkommen ihr Arbeitsangebot einschränken. Folglich sollten hohe Kinderbetreuungskosten aus theoretischer Perspektive einen negativen Effekt auf das Angebot von Niedriglohnbeschäftigung ausüben (Connelly 1992: 83). Einige Studien wiederlegen diese Annahme jedoch empirisch. Sie zeigen, dass Frauen, die bereits vor der Geburt ihres Kindes im Niedriglohnsektor beschäftigt waren, nach der Geburt ihr Arbeitsangebot deutlich weniger reduzieren als Mütter in höheren Lohnsegmenten, da sie sich keine Verdienstausfälle durch Teilzeitarbeit leisten können. Diese Frauen nehmen aufgrund ihrer geringen finanziellen Ressourcen allerdings häufig keine öffentlichen Kinderbetreuungsangebote in Anspruch, sondern organisieren die Kinderbetreuung über Verwandte, Freunde und Babysitter (Baum 2002: 159f.; Budig/Hodges 2010: 707, 716f.). Insgesamt lässt sich festhalten, dass der Effekt von Kinderbetreuungskosten auf das Arbeitsangebot von Müttern kontextabhängig ist, da er sowohl durch das Lohnniveau als auch durch den Haushaltskontext der Frauen beeinflusst wird. Je geringer das Lohnniveau der Mütter, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass die Betreuungskosten prohibitiv hoch sind. Mütter, bei denen die Betreuungskosten im Verhältnis zu ihrem Lohn prohibitiv hoch sind, bieten entweder keine Arbeit mehr an oder ihr Arbeitsangebot bleibt unverändert und sie organisieren die Kinderbetreuung privat über Bekannte und Verwandte. Das erste Szenario könnte einen Rückgang von Niedriglohnbeschäftigung auf Kosten eines Anstiegs der Arbeitslosigkeit von Frauen im unteren Einkommensbereich bedeuten. Das zweite Szenario impliziert hingegen keine Veränderung des Angebots von Niedriglohnarbeit. Entscheiden sich Mütter für Erwerbsarbeit, aber einer Reduktion ihrer Arbeitszeit (z.B. durch Teilzeitarbeit), steigt der Anteil atypisch beschäftigter Frauen auf dem Arbeitsmarkt. Da atypisch Beschäftigte häufiger unterhalb der Niedriglohnschwelle entlohnt werden als Erwerbstätige in Normalarbeitsverhältnissen, könnte sich die Arbeitszeitreduktion von Müttern in der Summe positiv auf die Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung auswirken.

3.2 Institutionelle Ursachen

135

Neben der Höhe der Kosten für Kinderbetreuung wirkt sich auch das Angebot an Kinderbetreuungsmöglichkeiten auf das Arbeitsangebot sowie die Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung unter Frauen mit kleinen Kindern aus. Es herrscht weitgehender Konsens, dass ein einfacher Zugang zu Kinderbetreuungseinrichtungen und insbesondere zu Ganztagesbetreuung, Anreize und Zwänge zu atypischen Beschäftigungsformen bei Müttern reduziert. Ein umfassendes staatliches Kinderbetreuungsangebot fördert somit die Verbreitung von Normalarbeitsverhältnissen unter Müttern und kann folglich aktiv zu einem Rückgang des Angebots von Niedriglohnarbeit in dieser Erwerbspersonengruppe beitragen (Appelbaum/Schmitt 2009: 1911f.; Bosch 2009: 346; Bosch 2012: 32; Grimshaw 2011: 23). Quantitative Indikatoren Alle wirtschafts-, finanz- und familienpolitischen Institutionen können mit quantitativen Indikatoren operationalisiert werden. Tabelle 3.7 bildet die Operationalisierung dieser Institutionen ab. Die OECD konstruiert synthetische Indikatoren zum Vergleich der länderspezifischen Strenge der Produktmarktregulierung. Diese Indikatoren existieren sowohl für die gesamtwirtschaftliche Ebene als auch auf Branchenebene. Sie quantifizieren formale Regelungen zur staatlichen Unternehmenskontrolle, Hemmnissen für unternehmerische Tätigkeiten sowie explizite Handels- und Investitionshindernisse. Höhere Werte der Indikatoren weisen auf eine strengere Produktmarktregulierung hin. Zur Operationalisierung der Produktmarktregulierung umfasst Tabelle 3.7 sowohl den Indikator zur gesamtwirtschaftlichen Produktmarktregulierung als auch den Indikator zur Regulierungsstrenge im Dienstleistungssektor. Von beiden Indikatoren ist bei steigenden Indikatorwerten aus theoretischer Perspektive ein negativer Effekt auf die Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung zu erwarten. Die Belastung niedriger Erwerbseinkommen durch Steuern und Abgaben wird mithilfe des durchschnittlichen Steuerkeils für kinderlose Singles, die zwei Drittel des Durchschnittslohns verdienen, operationalisiert. Obschon sich der Indikator auf den durchschnittlichen Lohn und nicht den Medianlohn bezieht, ist er approximativ der beste verfügbare Indikator, um diesen Einflussfaktor zu messen. Aus theoretischer Perspektive sollte sich ein steigender Steuerkeil negativ auf die Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung auswirken.

136

3 Ursachen der Niedriglohnbeschäftigung: Ein multidisziplinärer Überblick

Tabelle 3.7: Operationalisierung der Institutionen der Wirtschafts-, Finanz- und Familienpolitik Indikator Messkonzept Erklärungsfaktor: Regulierung der Produktmärkte Ausmaß wettbewerbseinschränkender Produktmarktgesamtwirtschaftlicher Produktmarktregulierung regulierung (Index) ProduktmarktreguAusmaß wettbewerbseinschränkender lierung DienstleisProduktmarktregulierung im Dienstleistungssektor tungssektor (Index) Erklärungsfaktor: Steuerbelastung niedriger Arbeitseinkommen Durchschnittlicher Steuerkeil für kinderlose Singles, die zwei Drittel des DurchSteuerkeil schnittslohns verdienen (in % der Arbeitskosten) Erklärungsfaktor: Kinderbetreuung Ausgaben für Staatliche Ausgaben für KinderbetreuKinderbetreuung ung und Vorschule (in % des BIP) Kinderbetreuungsquote von Kindern Kinderbetreuungszwischen 0-2 Jahren in staatlichen quote Kinderbetreuungseinrichtungen (in % aller Kinder zwischen 0-2 Jahren) Nettoausgaben für Kinderbetreuung Kinderbetreuungsvon Paaren (in % des Durchschnittskosten (Paare) lohns) KinderbetreuungsNettoausgaben für Kinderbetreuung kosten (Alleinerzievon Alleinerziehenden (in % des Durchhende) schnittslohns)

Effektrichtung

Datenquelle

negativ

OECD.Stat

negativ

OECD.Stat

negativ

OECD.Stat, EC Tax Benefit55

negativ

OECD.Stat

negativ

OECD.Stat

nicht eindeutig

OECD.Stat

nicht eindeutig

OECD.Stat

Für die Operationalisierung der familienpolitischen Institution der Kinderbetreuung, werden insgesamt vier Indikatoren verwendet. Die staatlichen Bemühungen ein umfassendes Angebot von öffentlichen Kinderbetreuungsmöglichkeiten zu schaffen, werden anhand der relativen Ausgaben des Staates für Kinderbetreuung und Vorschulbildung operationalisiert. Das Angebot von Kinderbetreuungsmöglichkeiten wird näherungsweise über die Kinderbetreuungsquote von Kindern zwischen null bis zwei Jahren in staatlichen Kinderbetreuungseinrichtungen gemessen. Von beiden Indikatoren ist aus theoretischer Perspek55

Tax and Benefits Database der Europäischen Kommission.

3.3 Strukturelle Ursachen

137

tive ein negativer Effekt auf die Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung zu erwarten. Die Kosten, die Paare bzw. Alleinerziehende für die Betreuung ihrer Kinder aufbringen müssen, werden anhand der privaten Nettoausgaben für Kinderbetreuung als Anteil vom Durchschnittslohn erfasst. Aufgrund der sehr unterschiedlichen theoretischen Erwartungen über die Wirkung der Betreuungskosten auf das Arbeitsangebot und die Reservationslöhne von Müttern, kann in Tabelle 3.7 keine eindeutige theoretisch zu erwartende Effektrichtung angegeben werden. 3.3 Strukturelle Ursachen Auf der Makroebene diskutiert die einschlägige Literatur insbesondere Strukturmerkmale des Arbeitsmarktes und der Wirtschaft, aber auch demografische Aspekte als Bestimmungsfaktoren der Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung. Strukturelle Arbeitslosigkeit Die makroökonomische Performanz des Arbeitsmarktes beeinflusst sowohl strategische Entscheidungen der Arbeitsmarktakteure als auch ihre Verhandlungsmacht in Lohn- und Tarifverhandlungen. Unter den Performanzindikatoren gilt insbesondere die Höhe der Arbeitslosigkeit bzw. die Arbeitslosenquote als eine strukturelle Kennzahl, die starken Einfluss auf die Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung ausübt. In der einschlägigen Literatur dominiert die Erwar56 tung, dass bei steigender struktureller Arbeitslosigkeit auch der Anteil der Niedriglohnbeschäftigten wächst. Diese Erwartung basiert auf einem grundlegenden Mechanismus der neoklassischen Arbeitsmarkttheorie: Ein strukturelles Überschussangebot an Arbeitskraft verschlechtert die Verhandlungsposition der Arbeitskräfte in Lohnverhandlungen, denn übersteigt das Arbeitsangebot die Arbeitsnachfrage, stellt Arbeit kein knappes Gut im Produktionsprozess dar. 56

Strukturelle Arbeitslosigkeit ist eine Form der Arbeitslosigkeit, die entsteht, wenn Änderungen in der Struktur des Arbeitsangebotes und/ oder der Arbeitsnachfrage auftreten. Diese Änderungen können sowohl ökonomische Ursachen (z.B. technischer Fortschritt und Mindestlöhne) als auch außerökonomische Ursachen (z.B. demographischer Wandel) haben. Der Abbau struktureller Arbeitslosigkeit erfordert meist einen langfristigen Anpassungs- und Umstellungsprozess der betroffenen Wirtschaftsbereiche. Neben der strukturellen Arbeitslosigkeit existieren drei weitere Ursachen von Arbeitslosigkeit: saisonale, friktionelle und konjunkturelle Arbeitslosigkeit (Woll 2008: 40).

138

3 Ursachen der Niedriglohnbeschäftigung: Ein multidisziplinärer Überblick

Dementsprechend sinkt der Preis der Arbeit, d.h. die Löhne der Arbeitnehmer sinken. Eine hohe Arbeitslosenquote ermöglicht es Arbeitgebern auf eine große Anzahl potenzieller Arbeitnehmer zurückzugreifen und einzelne Arbeitnehmer schnell zu substituieren, wenn sie die von den Arbeitgebern angebotenen Lohnund Arbeitsbedingungen nicht akzeptieren. Da geringqualifizierte Arbeitnehmer grundsätzlich leichter substituierbar sind als Hochqualifizierte, erleben erstere bei steigender Arbeitslosigkeit einen überproportional großen Verlust an Verhandlungsmacht und daraus resultierend ein Absinken ihrer Reservationslöhne. Dieser Wirkungszusammenhang führt dazu, dass das Angebot an Niedriglohnbeschäftigung bei geringqualifizierten Erwerbspersonen steigt. Gleichzeitig wächst der arbeitgeberseitige Spielraum Druck auf die Löhne im unteren Einkommensbereich auszuüben, so dass auch die Nachfrage nach Niedriglohnbeschäftigung zunimmt. Die durch den Marktmechanismus einsetzende Anpassung der Löhne nach unten kann entweder durch einen Rückgang der Arbeitslosigkeit aufgehalten bzw. umgekehrt werden oder durch Arbeitsmarktinstitutionen wie z.B. Mindestlöhne oder Tarifverträge verhindert bzw. abgemildert werden (Adam 2015: 396; Bazen/Lucifora 2005: 177; Oliver 2008: 1567, Rueda/Pontusson 2000: 357). Wirtschaftswachstum und konjunkturelle Arbeitslosigkeit Mit dem Wachstum des Bruttoinlandsproduktes (BIP) attestieren einige Autoren einem weiteren gesamtwirtschaftlichen Performanzindikator Einfluss auf die Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung. Bei der Betrachtung des theoretisch erwarteten Wirkungsmechanismus zwischen diesem Einflussfaktor und der abhängigen Variable wird jedoch deutlich, dass das Wirtschaftswachstum keinen unmittelbaren Effekt auf die Größe des Niedriglohnsektors ausübt, sondern über seine Wirkung auf die Arbeitslosenquote vermittelt ist. So wird argumentiert, dass geringqualifizierte Arbeitnehmer in Phasen des Konjunkturabschwungs und der Depression einem größeren Arbeitslosigkeitsrisiko ausgesetzt seien als höher qualifizierte Arbeitnehmer, da Unternehmen Geringqualifizierte leichter substituieren können als Hochqualifizierte. Aus diesem Grund werden geringqualifizierte Arbeitnehmer bei rückläufigem oder gar negativem Wirtschaftswachstum schneller und häufiger arbeitslos. Da Jobs mit geringen qualifikatorischen Anforderungen mit großer Wahrscheinlichkeit unterhalb der Nied57 riglohnschwelle entlohnt werden, bewirkt konjunkturelle Arbeitslosigkeit 57

Konjunkturelle Arbeitslosigkeit ist eine Form der Arbeitslosigkeit, die entsteht, wenn zyklische Schwankungen der Wirtschaft eine im Verhältnis zu den Produktionsmöglichkeiten zu geringe

3.3 Strukturelle Ursachen

139

einen Rückgang der Niedriglohnbeschäftigung, da die Nachfrage nach Niedriglohnbeschäftigung sinkt und ehemals niedrig entlohnte Erwerbspersonen arbeitslos werden (Oliver 2008: 1567; Rueda/Pontusson 2000: 357). Somit haben unterschiedliche Arten von Arbeitslosigkeit aus theoretischer Perspektive unterschiedliche Effekte auf die Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung. Während sich strukturelle Arbeitslosigkeit positiv auf das Angebot und die Nachfrage nach Niedriglohnbeschäftigung auswirken sollte (da sich die Verhandlungsposition der Arbeitskräfte verschlechtert), wird von der konjunkturellen Arbeitslosigkeit ein negativer Effekt auf die Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung erwartet, da Unternehmen in Phasen wirtschaftlicher Rezession ihre Fixkosten senken müssen, um trotz sinkendem Absatz und Gewinnverlusten am Markt bestehen zu bleiben. Vor diesem Hintergrund tätigen Unternehmen in Phasen des konjunkturellen Abschwungs eher Entlassungen als Neueinstellungen und verfolgen diese personalpolitische Strategie auch dann, wenn Arbeitskräfte unter dem Druck steigender Arbeitslosigkeit ihre Reservationslöhne nach unten anpassen. Im Gegensatz zur strukturellen Arbeitslosigkeit haben gering qualifizierte Erwerbspersonen bei konjunktureller Arbeitslosigkeit somit kaum eine Chance einen Job zu finden, da Unternehmen selbst bei stark reduzierten Lohnforderungen keine neuen Arbeitnehmer einstellen, solange kein Konjunkturaufschwung absehbar ist. Bei steigendem Wirtschaftswachstum ist dementsprechend zu erwarten, dass die Nachfrage nach (hoch- und geringqualifizierten) Arbeitskräften wächst, die konjunkturelle Arbeitslosigkeit sinkt und dementsprechend das Arbeitsangebot knapper wird. Je länger dieser Trend anhält, desto kleiner wird das Überschussangebot an Arbeitskräften, desto stärker konkurrieren Arbeitgeber um Arbeitskräfte und desto stärker steigen die Reservationslöhne. Langfristig ist somit ein Rückgang der Niedriglohnbeschäftigung zu erwarten (Adam 2015: 396). Qualifikationsverzerrter technologischer Wandel Insbesondere die ökonomische Literatur diskutiert den qualifikationsverzerrten technologischen Wandel (Skill-biased technological change - SBTC) sowie die Globalisierung der Gütermärkte bzw. die Zunahme des internationalen Handels als Einflussfaktoren auf die Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung. Bei beigesamtwirtschaftliche Güternachfrage verursachen. In den Phasen der Rezession und Depression kann somit hohe Arbeitslosigkeit entstehen, die erst in Phasen des konjunkturellen Aufschwungs wieder abgebaut werden kann (Woll 2008: 40).

140

3 Ursachen der Niedriglohnbeschäftigung: Ein multidisziplinärer Überblick

den Phänomenen ist allerdings kritisch zu hinterfragen, inwiefern sie aus theoretischer Perspektive das Potenzial haben, zwischenstaatliche Varianz in der Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung zu erklären, denn sowohl der qualifikationsverzerrte technologische Wandel als auch die Globalisierung sind so genannte Megatrends, d.h. alle entwickelten Volkswirtschaften sind von diesen Entwicklungen betroffen. Seit den 1990er Jahren ist die These des qualifikationsverzerrten technologischen Wandels (SBTC-These) ein häufig verwendeter ökonomischer Erklärungsansatz für die zunehmende Lohnungleichheit zwischen hoch- und geringqualifizierten Arbeitnehmern in entwickelten Volkswirtschaften. Um technologischen 58 Wandel bzw. technischen Fortschritt in neoklassischen Modellen als erklärende Variable für Lohndifferentiale aufnehmen zu können, verwerfen Vertreter 59 der SBTC-These die Annahme eines faktorneutralen technischen Fortschritts. Stattdessen argumentieren sie, dass technischer Fortschritt, und insbesondere neue Kommunikations- und Informationstechnologien, die Faktorproduktivität hochqualifizierter Arbeitnehmer in stärkerem Maße fördert als die Faktorproduktivität geringqualifizierter Arbeitnehmer. Gemäß der SBTC-These verändert die zunehmend heterogene Produktivität des Produktionsfaktors Arbeit sowohl die Arbeitsmarktstruktur als auch die Verteilung der Markteinkommen. Somit begünstigt der qualifikationsverzerrte technologische Wandel eine Polarisierung des Arbeitsmarktes in einen Hochlohnsektor mit hohen Qualifikationsanforderungen und einen Niedriglohnsektor mit geringen Qualifikationsanforderungen (Acemoglu 2002: 10-14; Hout 1997: 515). Dieser Wirkungszusammenhang ist über einen Wandel der Produktionsweise und der daraus resultierenden Verschiebung der qualifikationsspezifischen Arbeitsnachfrage vermittelt. Der qualifikationsverzerrte technologische Fortschritt macht die Güterproduktion komplexer und wissensintensiver. Es werden weniger, aber höher qualifizierte Arbeitnehmer im Produktionsprozess benö58

59

Technischer Fortschritt ist definiert als die Anwendung neuen technischen Wissens bzw. neuartiger Verfahren und Methoden in der Herstellung von Gütern und Dienstleistungen. Technischer Fortschritt drückt sich im Wesentlichen über vier Dimensionen aus: Produktivitätssteigerungen (d.h. es kann entweder bei gegebenem Einsatz von Kapital und Arbeit mehr produziert werden oder eine gegebene Produktionsmenge mit geringerem Faktoreinsatz produziert werden), Produktinnovationen, eine größere Produktvielfalt und Produktverbesserungen (Blanchard/Illing 2007: 433f.). Die Annahme der Faktorneutralität besagt, dass technischer Fortschritt keinen überproportionalen Produktivitätsanstieg einzelner Produktionsfaktoren bewirkt.

3.3 Strukturelle Ursachen

141

tigt. Daher verschiebt sich die Arbeitsnachfrage zugunsten hochqualifizierter Arbeitnehmer, so dass unter sonst gleichen Bedingungen die Löhne innerhalb dieser Arbeitnehmergruppe steigen. Dahingegen besteht weniger Bedarf an niedrigqualifizierten Arbeitnehmern, da der Einsatz von Computern und computergesteuerten Maschinen dazu führt, dass einfache Routine-Jobs und Fabrikarbeit durch Maschinen substituiert werden. Als Konsequenz dieser Entwicklung übersteigt unter sonst gleichen Bedingungen das Angebot geringqualifizierter Arbeitskräfte die Arbeitsnachfrage in diesem Qualifikationssegment. Der Nachfragerückgang verursacht einen Anstieg der strukturellen Arbeitslosigkeit unter Geringqualifizierten. Dies übt wiederum Druck auf das Lohnniveau aus, so dass die Reservationslöhne geringqualifizierter Arbeitskräfte sinken und das Angebot von Niedriglohnarbeit steigt (Allmendinger et al. 2005: 123; Appelbaum et al. 2005: 297; Bofinger et al. 2012: 324, 336; Gregory/Machin 2000: 177-179; Vidal 2013: 70). Allerdings wird die Effektstärke des qualifikationsverzerrten technischen Wandels auf Arbeitsangebot und -nachfrage, Arbeitslosigkeit und Lohnniveau im unteren Qualifikationssegment durch den Grad der Lohnflexibilität beeinflusst. Sind die Löhne nach unten flexibel, können sich Arbeitsangebot und -nachfrage an die veränderte Produktionsstruktur anpassen, indem die Löhne der Geringqualifizierten so lange sinken, bis ein Ausgleich von Arbeitsangebot und nachfrage existiert. Somit steigen bei hoher Lohnflexibilität zwar qualifikatorische Lohndifferentiale und die Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung, aber die Arbeitslosigkeit geringqualifizierter Arbeitnehmer sollte aus theoretischer Perspektive nicht zunehmen. Ist der Arbeitsmarkt jedoch durch starke Lohnrigiditäten gekennzeichnet, können sich die Löhne nicht nach unten anpassen. Ceteris paribus steigt zwar nicht der Anteil der Niedriglohnbeschäftigten, aber die Arbeitslosigkeit unter Geringqualifizierten nimmt zu. Ein Wachstum der qualifikatorischen Lohnungleichheit kann in diesem Szenario nur durch den Anstieg der Löhne hochqualifizierter Arbeitnehmer verursacht werden (Grimshaw 2011: 19-22). Globalisierung Auch die Globalisierung der Gütermärkte und insbesondere der zunehmende Handel mit Entwicklungs- und Schwellenländern werden in der wirtschaftswissenschaftlichen Literatur als Ursachen einer zunehmenden Lohnungleichheit und eines Anstiegs der Niedriglohnbeschäftigung in entwickelten Volkwirtschaf-

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3 Ursachen der Niedriglohnbeschäftigung: Ein multidisziplinärer Überblick

ten diskutiert. In diesem Kontext werden zwei Mechanismen beschrieben, wie eine zunehmende Handelsverflechtung das Wachstum des Niedriglohnsektors fördern kann. Der erste Mechanismus erklärt wachsende Niedriglohnbeschäftigung durch die 60 Verknüpfung des Heckscher-Ohlin-Theorems mit der These des qualifikationsverzerrten technischen Wandels. Da Industrieländer im Vergleich zu Entwicklungs- und Schwellenländern mit reichlich Kapital ausgestattet sind, spezialisieren sich erstere bei wachsenden internationalen Handelsverflechtungen immer stärker auf die Herstellung kapitalintensiver Güter. Im Zuge dieser Spezialisierung, steigt einerseits die Arbeitsnachfrage nach hochqualifizierten Arbeitnehmern, da kapitalintensive Produktion in der Regel weniger, aber höher qualifiziertere Arbeitskräfte benötigt als arbeitsintensive Produktionsprozesse. Andererseits sinkt die Nachfrage nach geringqualifizierten Arbeitskräften, da arbeitsintensive Güter aus Ländern importiert werden, die einen komparativen Vorteil bei der Herstellung dieser Güter besitzen. Somit verstärken die internationale Arbeitsteilung, und die damit einhergehende Spezialisierung entwickelter Volkswirtschaften auf kapitalintensive Güter, den qualifikationsverzerrten technischen Wandel und letztlich die Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung (Baldwin 1994: 15ff.; Rueda/Pontusson 2000: 357; Bofinger et al. 2012: 324). Der zweite Mechanismus erklärt ein wachsendes Niedriglohnsegment durch die Intensivierung des internationalen Wettbewerbs und die damit einhergehende Konkurrenz mit günstigeren Arbeitskräften aus Entwicklungs- und Schwellenländern. Dieser Lohnwettbewerb beeinflusst zum einen Unternehmen in Industrieländern in der Wahl ihrer Wettbewerbsstrategie. Zum anderen übt die Konkurrenz mit Arbeitskräften in Entwicklungs- und Schwellenländern Druck auf das Lohnniveau in jenen Branchen aus, die im Wettbewerb mit den Produktionskosten in diesen Ländern stehen. Die Standardmodelle der Außenwirtschaftstheorie besagen, dass Handelsliberalisierungen insgesamt, d.h. über alle beteiligten Länder und Akteure hinweg, einen wohlfahrtssteigernden Effekt haben. Den60

Das Heckscher-Ohlin-Theorem ist eine Theorie der Außenwirtschaftstheorie. Gemäß des Heckscher-Ohlin-Theorems bewirkt Außenhandel, dass sich Länder auf die Produktion (und den Export) jener Güter spezialisieren, bei denen sie einen komparativen Vorteil besitzen, d.h. deren Herstellung intensiv in Bezug auf den Produktionsfaktor ist, der in dem Land reichlich vorhanden ist. Dementsprechend haben Länder, die reichlich über Kapital verfügen, einen komparativen Vorteil bei der Herstellung kapitalintensiver Güter, während Länder, die reichlich über Arbeitskraft verfügen, einen komparativen Vorteil in der Produktion arbeitsintensiver Güter aufweisen (Krugman/Obstfeld 2004: 105-132).

3.3 Strukturelle Ursachen

143

noch kann Handelsliberalisierung für einzelne Akteure auch zu Wohlfahrtsverlusten führen. So bewirken intensive Handelsverflechtungen mit Entwicklungsund Schwellenländern einen Preisverfall arbeitsintensiver Güter in entwickelten Volkswirtschaften, sofern diese Güter auch in den Entwicklungs- und Schwellenländern hergestellt werden und in die Industrieländer exportiert werden. Der Preisverfall bewirkt einen Anstieg der Konsumentenrente, aber auch einen Rückgang der Produzentenrente, d.h. die Profitrate der Unternehmen in arbeitsintensiven Branchen sinkt. Die so vom internationalen Wettbewerb betroffenen Unternehmen müssen strategische Anpassungsleistungen erbringen, wenn sie am Markt bestehen wollen. Reagieren Unternehmen mit der „lowroad“- Wettbewerbsstrategie (vgl. Kap. 3.1) auf das veränderte Wettbewerbsumfeld, versuchen sie ihre sinkenden Profitraten durch Lohnkostensenkungen zu stabilisieren. Wenn viele Unternehmen diese Anpassungsstrategie wählen, wächst die Nachfrage nach Niedriglohnbeschäftigung. Unabhängig von der Anpassungsstrategie der Unternehmen, üben die veränderten Wettbewerbsbedingungen grundsätzlich Druck auf die Löhne in arbeitsintensiven Branchen in Industrieländern aus. Gemäß dem Faktorpreisausgleichstheorem gleichen sich die Faktorpreise, d.h. die Preise für Kapital und Arbeit, durch Handelsliberalisierung und zunehmend freien internationalen Handel zwischen den Ländern an. In der Regel liegen die Arbeitsentgelte geringqualifizierter Arbeitnehmer in arbeitsintensiven Industrien in entwickelten Volkswirtschaften deutlich über dem Entgeltniveau ihrer Konkurrenten in Entwicklungs- und Schwellenländern. Nach der Logik des Faktorpreisausgleichstheorems sind somit Wohlfahrtsverluste für diese Arbeitnehmergruppe zu erwarten, da sich unter den Bedingungen des internationalen Wettbewerbs die Löhne von Arbeitskräften in identischen Industrien angleichen. Unter sonst gleichen Bedingungen bedeutet dies eine Lohnabwärtsspirale und einen Anstieg von Niedriglohnbeschäftigung unter jenen Arbeitnehmern in entwickelten Volkswirtschaften, deren Löhne in direkter Konkurrenz mit den Löhnen in Entwicklungs- und Schwellenländern stehen. Die Frage, wie stark der Druck auf die Löhne eine Lohnabwärtsspirale verursacht und so eine Zunahme von Niedriglohnbeschäftigung bewirkt, hängt jedoch stark von länderspezifischen Arbeitsmarktinstitutionen wie Mindestlöhnen und Tarifverträgen ab (Appelbaum et al. 2005: 294; Gregory/ Machin 2000: 177ff.; Mahler 2004 1028f.; Oliver 2008: 1566; Vidal 2013: 71).

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3 Ursachen der Niedriglohnbeschäftigung: Ein multidisziplinärer Überblick

Größe des Dienstleistungssektors und Größe des öffentlichen Sektors Einige Studien schreiben auch dem Anteil der Erwerbstätigen im Dienstleistungssektor sowie im öffentlichen Sektor Einfluss auf die Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung zu. Sie argumentieren, dass die Tertiarisierung der Wirtschaft eine Expansion von Niedriglohnbeschäftigung verursache, wohingegen ein hoher Beschäftigungsanteil im öffentlichen Dienst mit geringer Niedriglohnbeschäftigung einhergehe (BMAS 2013: 329; Garloff/Machnig 2011: 9; Oliver 2008: 1567). Die Analyse der Wirkungsmechanismen zeigt jedoch, dass aus theoretischer Perspektive keine kausale Beziehung zwischen der Größe dieser Wirtschaftssektoren und der Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung existiert. Weder der Dienstleistungssektor noch der öffentliche Sektor sind per se ursächlich für mehr oder weniger Niedriglohnbeschäftigung. Stattdessen liegt die Ursache sektorspezifischer Unterschiede der Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung in sektorspezifischen Unterschieden der Ausgestaltung von Arbeitsmarktinstitutionen. Die These, dass mit zunehmender Größe des Dienstleistungssektors auch die Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung steigt, beruht auf zwei Erwartungen bzw. Beobachtungen. Erstens erhöhe sich im Zuge der Ausdehnung des Dienstleistungssektors die Nachfrage nach geringqualifizierten Arbeitskräften, da einfache Servicejobs einen Großteil des Beschäftigungswachstums in diesem 61 Sektor ausmachen. Zweitens werden Arbeitnehmer in einfachen Servicejobs zumeist niedrig entlohnt, da sie tätigkeitbedingt eine geringe Produktivität haben, leicht substituierbar sind und der gewerkschaftliche Organisationsgrad im Dienstleistungssektor traditionell geringer ist als im produzierenden Gewerbe. Diese Kombination wirkt sich negativ auf die Verhandlungsmacht der Arbeitnehmer in Lohnverhandlungen aus. Aus diesem Grund ist einerseits die Tarifbindung im Dienstleistungssektor relativ gering und andererseits liegen selbst kollektiv verhandelte Löhne häufig unterhalb der Niedriglohnschwelle (Bailey/Bernhardt 1997: 179; Kalina 2008: 22; Vidal 2013: 70). Diese Argumentation verdeutlicht, dass ein hoher Anteil von Niedriglohnbeschäftigten nur dann zu einem Charakteristikum des Dienstleistungssektors wird, wenn bestimmte Prämissen bezüglich der Arbeitsnachfrage und der Arbeitsmarktinstitutionen erfüllt 61

Die Annahme, dass im Dienstleistungssektor Beschäftigungsverhältnisse mit geringen Qualifikationsanforderungen dominieren, ist kritisch zu hinterfragen, da dieser Wirtschaftssektor ein sehr weites Spektrum an Berufsbildern umfasst, die häufig ein hohes Bildungs- bzw. Qualifikationsniveau erfordern und dementsprechend hoch entlohnt werden.

3.3 Strukturelle Ursachen

145

sind. Diese Konditionalität zeigt wiederum, dass nicht der Dienstleistungssektor selbst, sondern Einflussfaktoren der Mikro- und Mesoebene bestimmen, ob sich dieser Wirtschaftssektor durch ein hohes Ausmaß an Niedriglohnbeschäftigung auszeichnet. Eine ähnliche Logik gilt für die These, dass mit zunehmender Beschäftigung im öffentlichen Sektor die Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung sinkt. Nicht der öffentliche Sektor an sich, sondern die Ausgestaltung von Arbeitsmarktinstitutionen innerhalb dieses Sektors kann dazu führen, dass weniger Arbeitnehmer unterhalb der Niedriglohnschwelle entlohnt werden als in anderen Wirtschaftssektoren. In diesem Kontext wird dem relativ transparenten Entgeltsystem des öffentlichen Dienstes eine hohe Bedeutung zugeschrieben. Alle Angestellten und Beamte werden entsprechend fester Lohntarife entlohnt, die überwiegend oberhalb der Niedriglohnschwelle liegen. Dieses System erschwert es den Organisationen des öffentlichen Sektors Lohnkosten zu reduzieren und untertarifliche Arbeitsentgelte zu zahlen (Oliver 2008: 1565). Des Weiteren wird argumentiert, dass Gewerkschaften in Tarifverhandlungen im öffentlichen Sektor häufiger eine solidarische Lohnpolitik praktizieren als in privatwirtschaftlichen Tarifverhandlungen. Dieser Strategieunterschied trage zusätzlich dazu bei, die Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung im öffentlichen Sektor einzudämmen, da solidarische Lohnpolitik sowohl auf die Durchsetzung gerechter 62 Löhne als auch auf die Entwicklung einer ausgeglichen Lohnstruktur abzielt. Eine solche Lohnpolitik ist allerdings leichter im öffentlichen Sektor realisierbar, da Arbeitgeber in diesem Umfeld nicht direkt dem Wettbewerbsdruck des freien Marktes ausgesetzt sind und Gewerkschaften weniger Rücksicht auf den Zielkonflikt zwischen Lohnzuwächsen und Beschäftigungswachstum nehmen müssen (Rueda/Pontusson 2000: 36f.). Im Zusammenhang mit der Debatte über die Effekte des Beschäftigungsanteils im öffentlichen Sektor auf die Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung wer62

Solidarische Lohnpolitik richtet sich an zwei Konfliktlinien des Arbeitsmarktes aus: dem Verteilungskonflikt zwischen Kapital und Arbeit sowie dem Konflikt um Umverteilung innerhalb der Arbeitnehmerschaft. Das Ziel der solidarischen Lohnpolitik besteht darin, beide Konflikte zugunsten aller Arbeitnehmer nach den Prinzipien der Gerechtigkeit und der Gleichheit zu lösen. Programmatisch impliziert dies zwei gewerkschaftliche Kernforderungen: Erstens soll gleichwertige Arbeit gleich entlohnt werden. Löhne sollen weder von der wirtschaftlichen Lage noch von den Machtverhältnissen in einzelnen Unternehmen abhängig sein. Zweitens sollen übermäßige Lohnunterschiede eingedämmt werden. Ziel ist die Schaffung einer möglichst egalitären Lohnstruktur innerhalb und zwischen den verschiedenen Tarifbereichen (Schulten 2001: 4).

146

3 Ursachen der Niedriglohnbeschäftigung: Ein multidisziplinärer Überblick

den auch die Auswirkungen der Privatisierung öffentlicher Betriebe diskutiert. Dabei dominiert die Annahme, dass Privatisierungen einen Anstieg der Niedriglohnbeschäftigung verursachen. Diese Annahme wird damit begründet, dass öffentliche Betriebe nach der Überführung in private Rechtsformen, demselben Wettbewerbsdruck ausgesetzt sind wie alle privatwirtschaftlichen Unternehmen. Folglich müssen sie verstärkt auf die Reduktion ihrer Produktionskosten hinwirken, um wettbewerbsfähig zu bleiben. Vor dem Hintergrund eines veränderten Wettbewerbsumfeldes und der Entpflichtung von den Tariflöhnen des öffentlichen Sektors, machen viele privatisierte Betriebe von ihrer neugewonnenen Möglichkeit zu Lohnsenkungen Gebrauch. Insbesondere für die geringqualifizierten und leicht substituierbaren Arbeitnehmer dieser Betriebe erhöht sich daher das Risiko, unterhalb der Niedriglohnschwelle entlohnt zu werden (Bosch/Kalina 2007: 22, 70; Jaehrling/Méhaut 2013: 694f.). Arbeitsmigration Auch der Zuzug von Erwerbspersonen aus dem Ausland gilt als Einflussfaktor auf die Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung. Arbeitsmigration, hier definiert als die Einwanderung von Menschen zum Zweck der Erwerbstätigkeit, ist im Aggregat ein Strukturmerkmal des Arbeitsmarktes, da sie die qualifikatorische Zusammensetzung bzw. die Struktur des Arbeitsangebotes verändert. Auswirkungen von Arbeitsmigration auf die Lohnstruktur sind dann zu erwarten, wenn zwei Bedingungen gleichzeitig erfüllt sind: Erstens muss sich das mittlere Qualifikationsniveau der Einwanderer deutlich von dem durchschnittlichen Qualifikationsniveau der Erwerbspersonen im Zuwanderungsland unterscheiden. Zweitens muss die Anzahl der Arbeitsmigranten groß genug sein, um als externer Schock auf das Arbeitsangebot zu wirken. Sind diese Voraussetzungen erfüllt, kann der Zuzug geringqualifizierter Erwerbspersonen (mit entsprechend niedrigen Reservationslöhnen) ein Wachstum der Niedriglohnbeschäftigung verursachen. Empirische Untersuchungen zeigen, dass Arbeitsmigranten in entwickelten Volkswirtschaften zumeist aus industriell weniger entwickelten Ländern stammen und im Vergleich zu den Arbeitnehmern des Einwanderungs63 landes ein unterdurchschnittliches Qualifikationsniveau aufweisen. Vor diesem Hintergrund treten Arbeitsmigranten primär in Konkurrenz mit den gering63

Selbst wenn das formale Qualifikationsniveau der Arbeitsmigranten hoch ist, können sie oftmals nur Jobs mit geringen qualifikatorischen Anforderungen ausführen, da ihre Sprachkenntnisse begrenzt sind oder ihre Abschlüsse im Einwanderungsland nicht anerkannt werden (Appelbaum et al. 2005: 296).

3.3 Strukturelle Ursachen

147

qualifizierten Arbeitnehmern des Zuwanderungslandes und erhöhen somit das Arbeitsangebot innerhalb dieses Qualifikationssegmentes. Bei konstanter Nachfrage nach geringqualifizierten Arbeitskräften übt das gestiegene Arbeitsangebot Druck auf die Löhne im unteren Einkommensbereich aus. Je schwächer die institutionellen Lohnuntergrenzen im Einwanderungsland ausgeprägt sind, desto wahrscheinlicher setzt eine Lohnabwärtsspirale ein, wenn geringqualifizierte Erwerbspersonen in einen Lohnunterbietungswettbewerb eintreten und Arbeitgeber ihre Marktmacht nutzen, um die Lohnkosten für einfache Tätigkeiten zu reduzieren (Appelbaum et al. 2005: 296; Appelbaum/Schmitt 2009: 1912; Hout 1997: 515; Rueda/Pontusson 2000: 357). Quantitative Indikatoren Für alle strukturellen Erklärungsfaktoren existieren quantitative Indikatoren, die in Tabelle 3.8 dargestellt werden. Der makroökonomische Kontext wird durch die Arbeitslosenquote sowie das Wachstum des Bruttoinlandsproduktes operationalisiert. Da der Arbeitsmarkt in der Regel zeitverzögert auf konjunkturelle Entwicklungen reagiert, sollte auch das BIP-Wachstum erst mit einer gewissen zeitlichen Verzögerung seine Wirkung auf die Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung entfalten. Aus diesem Grund wird nicht nur das BIP-Wachstum der zwei Beobachtungsjahre 2006 und 2010 als Prädiktor verwendet, sondern auch das BIP-Wachstum des Vorjahres bzw. Vorvorjahres. Während eine steigende Arbeitslosenquote aus theoretischer Perspektive einen positiven Effekt auf die Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung haben sollte, ist von einem steigenden Wirtschaftswachstum ein negativer Effekt zu erwarten. Das Ausmaß des qualifikationsverzerrten technologischen Wandels bzw. der qualifikationsverzerrten Arbeitsnachfrage wird approximativ anhand von zwei Indikatoren operationalisiert. In der einschlägigen Literatur wird betont, dass in entwickelten Volkswirtschaften insbesondere der technische Fortschritt in der Informations- und Kommunikationstechnologie für den relativen Anstieg der Nachfrage nach (hoch)qualifizierten Arbeitskräften gegenüber der Nachfrage nach Niedrigqualifizierten verantwortlich ist. Dementsprechend misst der erste Indikator die qualifikationsverzerrte Arbeitsnachfrage anhand der Bruttowertschöpfung der Informations- und Kommunikationstechnologie. Hierfür werden Daten der OECD-Veröffentlichung „Measuring the Digital Economy“ verwendet (OECD 2014).

148

3 Ursachen der Niedriglohnbeschäftigung: Ein multidisziplinärer Überblick

Tabelle 3.8: Operationalisierung struktureller Ursachen Indikator Messkonzept Effektrichtung Erklärungsfaktor: Makroökonomischer Kontext Arbeitslosenquote abhängig ziviler Arbeitslosenquote Erwerbspersonen positiv (in % aller Erwerbspersonen) Wachstumsrate des Bruttoinlandsnegativ BIP-Wachstum produktes (in %) BIP-Wachstum Wachstumsrate des Bruttoinlandsnegativ (Vorjahr) produktes im Vorjahr (in %) BIP-Wachstum Wachstumsrate des Bruttoinlandsnegativ (Vorvorjahr) produktes im Vorvorjahr (in %) Erklärungsfaktor: Qualifikationsverzerrter technologischer Wandel Informations- und Anteil der Informations- und KommunikaKommunikationstionstechnologie am Bruttoinlandspropositiv technologie dukt (in % des gesamten BIP) Lohngefälle zwischen Arbeitnehmern mit niedrigem und mittlerem Bildungsniveau (Differenz zwischen dem MedianeinQualifikatorisches positiv kommen mittlerer und niedrig qualifizierLohngefälle ter Arbeitnehmern im Verhältnis zum Medianeinkommen der mittleren Qualifikationsgruppe, in %.) Erklärungsfaktor: Globalisierung Anteil der Importe aus Entwicklungs- und positiv Importe Schwellenländern (in % aller Importe) Erklärungsfaktor: Wirtschaftssektoren Anteil der abhängigen Erwerbstätigen, Dienstleistungsdie im Dienstleistungssektor arbeiten positiv sektor (in % aller abhängigen Erwerbstätigen) Anteil der Erwerbstätigen, die im öffentliÖffentlicher chen Dienst arbeiten negativ Sektor (in % aller Erwerbstätigen) Erklärungsfaktor: Arbeitsmigration Ausländische Anteil im Ausland geborener Erwerbstätipositiv Erwerbstätige ger (in % aller Erwerbstätigen) Ausländische Anteil der im Ausland geborenen Bevölpositiv Bevölkerung kerung (in % der gesamten Bevölkerung) Kontrollvariablen Wohlstandsniveau BIP pro Kopf (in US Dollar) negativ Gesamtausgaben des Staates negativ Staatsquote (in % des Bruttoinlandsprodukts) Ausgaben des öffentlichen und privaten F&E (insgesamt) Sektors für Forschung und Entwicklung negativ (in % des Bruttoinlandsproduktes)

Datenquelle

OECD.Stat; Eurostat Weltbank Weltbank Weltbank

OECD.Stat

Eurostat

OECD.Stat OECD.Stat, Eurostat, Weltbank

OECD.Stat

OECD.Stat OECD.Stat Weltbank OECD.Stat, Eurostat

Eurostat, OECD.Stat

3.3 Strukturelle Ursachen

149

Der zweite Indikator ist ein in der ökonomischen Literatur weit verbreitetes Messkonzept für den qualifikationsverzerrten technologischen Wandel. Dabei handelt es sich um den relativen Abstand zwischen den Löhnen (hoch-) oder mittel qualifizierter Arbeitnehmer und den Löhnen geringqualifizierter Arbeitnehmer (Acemoglu 2003: 199). Beide Indikatoren sollten aus theoretischer Perspektive einen positiven Zusammenhang mit der Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung aufweisen. Zur Messung der Effekte des internationalen Handels auf die Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung in entwickelten Industrienationen, wird der Anteil der Importe aus Entwicklungs- und Schwellenländern am gesamten Importvolumen als Indikator verwendet. Die Daten zur Berechnung dieses Indikators stammen aus der „Trade in Value Added (TiVA)“-Datenbank, einem Gemeinschaftsprojekt der OECD und der Welthandelsorganisation (WTO). Der Vorteil dieser Datenbank besteht in der Harmonisierung der Daten und der daraus resultierenden hohen Vergleichbarkeit. Nachteilig ist hingegen, dass nur der Handel mit ausgewählten Entwicklungs- und Schwellenländer in der Datenbank abgebildet 64 wird. Allerdings sind die exportstärksten Entwicklungs- und Schwellenländer wie China und Indien in der Datenbank enthalten, so dass der Indikator dennoch als valide Operationalisierung dieses Einflussfaktors betrachtet werden kann. Aus theoretischer Perspektive sollte eine steigende Merkmalsausprägung dieses Indikators positiv mit der abhängigen Variable zusammenhängen. Der Anteil im Ausland geborener Erwerbstätiger an allen Erwerbstätigen ist ein geeigneter Indikator, um den Einfluss der Intensität von Arbeitsmigration auf die Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung zu untersuchen. Die „International Migration Database“ der OECD stellt diesen Indikator direkt zur Verfügung. Zur Überprüfung der Frage, ob die allgemeine Höhe der Migration Druck auf die Löhne im unteren Lohnsegment ausübt, wird mit dem Anteil der im Ausland geborenen Bevölkerung als Prozentsatz der Gesamtbevölkerung ein weiterer Indikator aus dieser Datenbank verwendet. Von beiden Indikatoren sind aus theoretischer Perspektive bei steigenden Indikatorwerten positive Effekte auf die Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung zu erwarten.

64

Diese Länder umfassen Chile, Mexiko, Argentinien, Brasilien, Kambodscha, China, Kolumbien, Costa Rica, Indien, Indonesien, Malaysia, die Philippinen, Russland, Südafrika, Thailand, Tunesien und Vietnam.

150

3 Ursachen der Niedriglohnbeschäftigung: Ein multidisziplinärer Überblick

Die letzten Zeilen in Tabelle 3.8 bilden drei strukturelle Kontrollvariablen ab, die an zuvor diskutierte Erklärungsfaktoren anknüpfen und in einem theoretisch plausiblen Zusammenhang mit der abhängigen Variabel stehen. Das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf ist eine klassische ökonomische Kontrollvariable, die den durchschnittlichen materiellen Wohlstand einer Gesellschaft erfasst. Es wird ein negativer Zusammenhang zwischen dem BIP pro Kopf und der Größe des Niedriglohnsektors erwartet, da mit wachsendem Wohlstand in der Regel auch das Bildungs- und Qualifikationsniveau der Erwerbspersonen steigt. Unter sonst gleichen Bedingungen wirkt sich eine Bildungs- und Qualifikationsexpansion positiv auf die Höhe der Reservationslöhne aus. Folglich sinkt das Angebot von Niedriglohnbeschäftigung. Nachfrageseitig kann argumentiert werden, dass Arbeitgeber das relativ reichliche Vorhandensein von Humankapital in ihrer Produktions- und Wettbewerbsstrategie berücksichtigen und somit mehr Arbeitsplätze mit hohen qualifikatorischen Anforderungen und hohem Lohnniveau entstehen. Dementsprechend sinkt auch die Nachfrage nach Niedriglohnbeschäftigung. Die zweite Kontrollvariable ist die Staatsquote. Die Erwartung eines negativen Zusammenhangs zwischen der Staatsquote und der Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung beruht auf der Brückenannahme, dass die Staatsausgaben ein Maß für die Staatstätigkeit sind. Je höher die Staatausgaben, desto größer ist somit auch die Wahrscheinlichkeit, dass der Staat gestalterisch in das Arbeitsmarktgeschehen eingreift und dabei Ressourcen in Institutionen und Strukturen investiert, die sich negativ auf Angebot und Nachfrage von Niedriglohnbeschäftigung auswirken. Die dritte und letzte Kontrollvariable ist das relative Ausgabenniveau des öffentlichen und privaten Sektors für Forschung und Entwicklung. Dieser Indikator ist ein in makro-quantitativen Studien häufig verwendetes Maß zur Operationalisierung der Innovationsfähigkeit eines Landes. Es ist zu erwarten, dass sich ein hohes Ausgabenniveau negativ auf die Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung auswirkt, denn in Volkswirtschaften mit hohen Ausgaben für Forschung und Entwicklung entsteht ein ökonomisches und infrastrukturelles Umfeld, das die Herstellung wissensintensiver Güter und Dienstleistungen fördert. Da wissensintensive Wirtschaftszweige Arbeitnehmer mit hoher Humankapitalausstattung benötigen, sinkt die Nachfrage nach geringqualifizierten Arbeitnehmern. Stattdessen entstehen viele Arbeitsplätze mir hohen qualifikatorischen Anforderungen und relativ hohem Lohnniveau.

4 Makro-quantitative Untersuchung der Ursachen von Niedriglohnbeschäftigung Auf Grundlage des mechanismenorientierten Überblicks zu theoretisch begründeten Ursachen der Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung (vgl. Kap. 3), richtet sich das Erkenntnisinteresse nun auf die empirische Untersuchung dieser Ursachen. Im Zentrum der quantitativen Analysen des vierten Kapitels steht die Beantwortung von drei Leitfragen: 1) Welche theoretisch begründeten Erklärungsfaktoren zeigen einen signifikanten statistischen Zusammenhang mit der Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung? 2) Stimmt die theoretisch erwartete Wirkungsrichtung der Erklärungsfaktoren mit ihrer empirisch beobachteten Wirkungsrichtung überein? 3) Wie groß ist die Erklärungskraft staatlicher Arbeitsmarktinstitutionen im Vergleich zu anderen (institutionellen) Ursachen von Niedriglohnbeschäftigung? Methodische Vorbemerkungen Die quantitativen Analysen dieses Buches gehören methodologisch in den Bereich der makro-quantitativ vergleichenden Forschung, denn die interessierenden Variablenbeziehungen werden anhand von Aggregatdaten auf nationalstaatlicher Ebene untersucht. Dementsprechend erlauben die statistischen Analyseergebnisse keine Aussagen über die empirische Evidenz der im dritten Kapitel beschriebenen Mechanismen auf der Mikroebene. Allerdings können Aussagen darüber getroffen werden, ob Zusammenhänge zwischen der länderspezifischen Verbreitung bestimmter Phänomene und der Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung existieren (Jahn 2006: 355; Jahn 2009: 173-176; Kittel 2009: 278). Die theoretisch zu erwartende Multikausalität des strukturellen Arbeitsmarktphänomens der Niedriglohnbeschäftigung führt dazu, dass eine große Anzahl von Erklärungsfaktoren auf ihren empirischen Erklärungsgehalt zu überprüfen ist. Insgesamt werden 57 Indikatoren zur Messung der unterschiedlichen Einflussfaktoren verwendet. Für die statistische Untersuchung des Zusammenhangs dieser Indikatoren mit der Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 V. Gerstung, Niedriglohnbeschäftigung im Wohlfahrtsstaat, Vergleichende Politikwissenschaft, https://doi.org/10.1007/978-3-658-27640-9_4

152

4 Makro-quantitative Untersuchung der Ursachen von Niedriglohnbeschäftigung

stehen zum Zeitpunkt der Durchführung der Analysen jedoch nur für die Jahre 2006 und 2010 vergleichbare Daten für die abhängige Variable zur Verfügung (vgl. Kap. 2.1.2). Die statistischen Analysen basieren auf insgesamt 34 Untersuchungseinheiten. Sie umfassen somit fast alle Länder, die von der ILO als entwi65 ckelte Volkswirtschaften klassifiziert werden. Angesichts der hohen Anzahl an Test- und Kontrollvariablen und der relativ geringen Anzahl von Untersuchungseinheiten, sieht sich das vorliegende Forschungsdesign mit dem klassischen „viele Variablen - kleines N“ - Dilemma der Vergleichenden Politikwissenschaft konfrontiert (Berg-Schlosser/Quenter 1996: 100; Lijphart 1971: 686). In der makro-quantitativen Politikwissenschaft wird diesem Problem häufig durch die Anwendung zusammengefasster („gepoolter“) Querschnittsanalysen (time66 series-cross-section analysis) begegnet. Gepoolte Querschnittsanalysen umfassen in der Regel zwischen 10 und 100 Untersuchungseinheiten, für die über einen relativ langen Zeitraum (20 bis 50 Jahre) Beobachtungen vorliegen (Beck/Katz 1995: 634). Der Vergleich dieser Richtwerte mit der vorliegenden Datengrundlage zeigt, dass die Anzahl der Untersuchungseinheiten zwar der Forschungspraxis entspricht, aber die Anzahl der Beobachtungsjahre nicht den etablierten Standards dieser Methode genügt. Die sehr geringe Anzahl von Beobachtungsjahren hat zur Folge, dass das „viele Variablen - kleines N“ - Dilemma nicht mittels einer gepoolten Querschnittsanalyse gelöst werden kann. Ein alternatives methodisches Vorgehen zur Lösung dieses Dilemmas bietet die Kombination aus einer Between-Transformation der Daten mit der Berechnung von Hauptkomponentenanalysen. Das Verfahren der Between-Transformation stammt aus der Paneldatenanalyse. Bei der Between-Transformation werden aus Zeitreihen von individuenspezifischen Merkmalsausprägungen Mittelwerte berechnet, um eine Querschnittsstruktur der Paneldaten zu erzeugen. Die Bildung von Mittelwerten über die Zeit bewirkt, dass die Within-Variation der Paneldaten (d.h. die Varianz der Werte eines Individuums) entfällt und nur die Between-Variation (d.h. die Varianz der Mittelwerte zwischen den Individuen – between groups) übrig bleibt. Basierend auf den individuenspezifischen Mittel65

66

Insgesamt umfasst die Gruppe der entwickelten Volkswirtschaften 36 Länder (vgl. Kap. 2.1.2). Malta und Zypern werden jedoch aus der quantitativen Analyse ausgeschlossen, da in beiden Länder für die Mehrzahl der unabhängigen Variablen keine Daten existieren. Bei gepoolten Querschnittsanalysen werden Querschnittsdaten identischer Untersuchungseinheiten (zumeist Länder) über mehrere Untersuchungszeitpunkte zusammengefasst, um die Anzahl der Beobachtungen zu erhöhen und somit die Genauigkeit ökonometrischer Schätzungen zu verbessern.

Strukturelle Ursachen 43.3 Makro-quantitative Untersuchung der Ursachen von Niedriglohnbeschäftigung

153

werten jeder Variable (d.h. den Daten nach der Between-Transformation) werden häufig Regressionsanalysen nach der Methode der kleinsten Quadrate berechnet (𝑦 = 𝑥̅ 𝛽 + 𝛼 + 𝜀̅ ). Dieser Regression können dann die so genannten Between-Schätzer (𝑥̅ 𝛽 ) entnommen werden. Sie messen den Einfluss der gemittelten unabhängigen Variablen auf die gemittelte abhängige Variable (Brüderl 2010: 967, 973). Mit den zwei Beobachtungsjahren 2006 und 2010 sowie jeweils identischen Untersuchungseinheiten (34 Länder), kann der vorliegende Datensatz konzeptionell als Paneldatensatz behandelt werden, da er sowohl eine Zeitreihen- als auch eine Querschnittsdimension aufweist. Folglich kann das Verfahren der Between-Transformation auch auf den vorliegenden Datensatz angewendet werden. Nach der Between-Transformation verliert der Datensatz seine Zeitdimension. Es entsteht ein Querschnittsdatensatz, der für jede Variable das arithmetische Mittel ihrer länderspezifischen Merkmalsausprägung in den zwei Jahren 2006 und 2010 abbildet. Alle statistischen Analysen des vierten Kapitels basieren auf diesem Datensatz, der methodisch wie ein „normaler“ Querschnittsdatensatz behandelt werden kann. Im Gegensatz zur Verwendung der Querschnittsdaten eines der Beobachtungsjahre (also entweder 2006 oder 2010), bietet die Between-Transformation der Daten drei Vorteile: Erstens können beide Zeitpunkte, zu denen Daten für die abhängige Variable vorhanden sind, in die Analysen aufgenommen werden. Somit fließen mehr Informationen in die Untersuchung der interessierenden Variablenzusammenhänge ein. Zweitens wird die Informationsgrundlage durch die Verwendung von Durchschnittswerten robuster, da die statistischen Analyseergebnisse weniger durch Ausreißer beeinflusst werden. Drittens wird durch die Between-Transformation das Problem des „Time-Lags“ bzw. der Wirkungsverzögerung gemindert, das für zeitinvariante Querschnittsanalysen stets eine Herausforderung darstellt. Um Kausalität in Querschnittsanalysen näherungsweise zu erfassen, sollte der Beobachtungszeitpunkt der unabhängigen Variablen vor dem Beobachtungszeitpunkt der abhängigen Variable liegen, da viele Einflussfaktoren erst mit einer gewissen Zeitverzögerung wirken (Jahn 2006: 362). Diese Problematik wird mit der Between-Transformation der Daten umgangen, da Verzögerungseffekte durch die Verwendung von Durchschnittswerten in den Daten abgebildet werden. Trotz der vorteilhaften Charakteristika der Between-Transformation, löst sie nicht das „viele Variablen - kleines N“ – Dilemma. Obschon dieses Dilemma bei

154

4 Makro-quantitative Untersuchung der Ursachen von Niedriglohnbeschäftigung

der Untersuchung bivariater Variablenzusammenhänge nicht besteht, wird es zu einem Problem, sobald multivariate Verfahren angewendet werden sollen. Die vergleichende Politikwissenschaft bietet mit der Faktoren- bzw. Hauptkomponentenanalyse einen etablierten Lösungsansatz für „viele Variablen - kleines N“ - Konstellationen, in denen weder die Anzahl der Untersuchungseinheiten noch die Anzahl der Beobachtungen ausreichend erhöht werden können. Dieses Verfahren reduziert die Anzahl unabhängiger Variablen, indem es mehrere manifeste Variablen zu einer latenten Variable zusammenfasst (Lijphart 1971: 687). Dieser Lösungsansatz wird auch hier übernommen: Die manifesten Testund Kontrollvariablen werden mithilfe von Hauptkomponentenanalysen reduziert und durch zwölf synthetische Variablen (bzw. inhaltlich interpretierbare Hintergrundvariablen) ersetzt. Da die Untersuchungseinheiten quasi die Grundgesamtheit der entwickelten 67 Volkswirtschaften umfassen und nicht auf einer Stichprobenziehung basieren, haben die statistischen Analysen dieses Kapitels einen deskriptiven Charakter. Im Einklang mit der methodologischen Praxis in der makro-quantitativ vergleichenden Forschung, werden dennoch inferenzstatistische Kennzahlen wie Standardfehler und Signifikanzniveaus verwendet, um die Güte der Analyseergebnisse zu beurteilen (Jahn 2006: 357). Diese Praxis beruht auf der Annahme, dass Stochastizität immer dann auftritt, wenn theoretisch begründete Erklärungen sozialer Wirklichkeit empirisch überprüft werden sollen. Erkenntnistheoretisch wird diese Position damit begründet, dass theoretische Modelle immer ein geringeres Komplexitätsniveau haben als das Phänomen, das sie erklären wollen. Darüber hinaus sei davon auszugehen, dass die zu erklärenden sozialen Phänomene selbst eine stochastische Komponente haben, d.h. nicht deterministisch sind. Methodologisch wird diese Position damit begründet, dass einerseits Messfehler bei der Datenerhebung und andererseits Fehler bei der Operationalisierung theoretischer Konstrukte auch nicht stichprobenbasierten Datensätzen einen stochastischen Charakter geben (Broscheid/Gschwend 2005: 17). Dieses Buch schließt sich dieser Argumentation an und verwendet sowohl Signifikanzniveaus als auch Standardfehler als Gütekriterien für die statistischen Analyseergebnisse. Im Rahmen von Regressionsanalysen können beide Parameter als Beschreibung der Streuung bzw. als Abweichung der Beobachtungen von der Regressionsgeraden interpretiert werden (Broscheid/Gschwend 2003: 5-12; Hildebrandt et al. 2015: 82; Jahn 2006: 357). 67

Die Einschränkung „quasi“ verweist auf den Ausschluss von Malta und Zypern.

4.1 Bivariate Analysen

155

Das vierte Kapitel verwendet sowohl strukturprüfende als auch strukturentdeckende Verfahren, um die zu Beginn formulierten drei Fragen zu untersuchen. Mit den bivariaten Regressionsanalysen in Kapitel 4.1 wird eine klassische konfirmatorische Methode verwendet, um einerseits die Erklärungskraft der Testund Kontrollvariablen für die Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung zu untersuchen und andererseits die theoretischen Erwartungen über die Wirkungsrichtung der Erklärungsfaktoren zu überprüfen. In Kapitel 4.2 findet das strukturentdeckende Verfahren der Hauptkomponentenanalyse Anwendung, um die Anzahl erklärender Variablen zu reduzieren und so die Berechnung multipler Regressionsanalysen in Kapitel 4.3 zu ermöglichen. Die multiplen Regressionsanalysen untersuchen die Erklärungsstärke und Wirkungsrichtung der synthetischen Variablen (d.h. der Hauptkomponenten) auf die Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung. Im Gegensatz zu den Einfachregressionen wird für den Einfluss anderer erklärender Variablen kontrolliert. Damit kann überprüft werden, ob staatliche Arbeitsmarktinstitutionen auch im Zusammenspiel mit anderen Erklärungsfaktoren einen signifikanten Beitrag zur Erklärung der Varianz der abhängigen Variable leisten. Allerdings erlauben die synthetischen Variablen keine Aussagen über die Erklärungskraft ihrer Elemente (d.h. der manifesten Variablen, aus denen sie sich zusammensetzen). Folglich besteht kein redundantes, sondern ein komplementäres Verhältnis zwischen den Analysen in Kapitel 4.1 und 4.3. 4.1 Bivariate Analysen Im Rahmen der bivariaten Datenanalyse werden auf Grundlage des betweentransformierten Datensatzes lineare Einfachregressionen nach der Methode der kleinsten Quadrate berechnet. Dieses Vorgehen ermöglicht zum einen die Erklärungskraft jedes einzelnen theoretisch begründeten Erklärungsfaktors für die länderspezifische Streuung der Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung zu untersuchen. Zum anderen erlaubt es den Vergleich der theoretisch erwarteten Effektrichtung mit der statistischen Effektrichtung. Obschon die Analyseergebnisse der linearen Einfachregressionen keine Rückschlüsse auf kausale Effekte zulassen, zeigen sie dennoch, ob ein Zusammenhang zwischen einem Erklärungsfaktor und der Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung existiert. Vor diesem Hintergrund sind alle signifikanten Variablenzusammenhänge als theoretisch plausible empirische Befunde zu bewerten. Wenn Erklärungsfaktoren keinen signifikanten Zusammenhang mit der abhängigen Variable zeigen, kann auf Grundlage dieses Befundes jedoch nicht die Gültigkeit des im dritten Kapitel

156

4 Makro-quantitative Untersuchung der Ursachen von Niedriglohnbeschäftigung

beschriebenen theoretischen Wirkungsmechanismus verworfen werden. Neben der Überprüfung der Stärke und der Wirkungsrichtung der Erklärungsfaktoren werden in Kapitel 4.1 auch mögliche Ursachen für unerwartete Variablenbeziehungen erörtert. Vor der Berechnung der linearen Einfachregressionen wird mittels grafischer Linearitätstests überprüft, ob von linearen Zusammenhängen auszugehen ist (Gehring/Weins 2009: 177; Jahn 2006: 378). Im Ergebnis bestätigen diese Tests für alle bivariaten Variablenbeziehungen entweder die theoretisch erwartete Linearitätsannahme zwischen den unabhängigen und der abhängigen Variable oder sie zeigen zumindest keinen alternativen (wie z.B. einen quadratischen) Variablenzusammenhang. Zur Darstellung der Analyseergebnisse der Einfachregressionen werden unstandardisierte Regressionskoeffizienten (βi), die Standardfehler der Regressionsko2 68 effizienten (SE(βi)) sowie Determinationskoeffizienten (R ) dargestellt. Die unabhängigen Variablen in Regressionsanalysen müssen entweder metrisch skaliert oder dichotom sein. Aus diesem Grund werden alle ordinal skalierten Indikatoren in Dummy-Variablen überführt, bei denen die Ausprägung eins das Vorliegen eines Merkmals und null die Abwesenheit des betreffenden Merkmals kennzeichnet. Aus jedem kategorialen Indikator wird eine einzige DummyVariable gebildet. Im Vergleich zu der Alternative für jede Kategorie einer ordinal skalierten Variable eine eigne Dummy-Variable zu bilden, vermeidet dieses Vorgehen einen zusätzlichen Anstieg der Anzahl unabhängiger Variablen. Zu68

Der Regressionskoeffizient gibt die Einflussstärke und Wirkungsrichtung einer unabhängigen Variable wieder, indem er misst, welche Veränderung der abhängigen Variable zu erwarten ist, wenn die unabhängige Variable um eine Einheit steigt. Da die unstandardisierten Regressionskoeffizienten von der Skalenbreite der unabhängigen Variable abhängen, können die Regressionskoeffizienten der linearen Einfachregressionen nicht verglichen werden (Hildebrandt et al. 2015: 66-69). Der Standardfehler eines Regressionskoeffizienten misst die Streuung der empirischen Beobachtungen um die Regressionsgerade. Im Kontext der Untersuchung einer Grundgesamtheit kann der Standardfehler als Gütekriterium für den Erklärungsgehalt einer unabhängigen Variablen betrachtet werden. Je kleiner der Standardfehler im Verhältnis zur verwendeten Merkmalsskala ausfällt, desto exakter ist die Schätzung bzw. desto höher ist der Erklärungsgehalt des Regressionskoeffizienten. Der Determinationskoeffizient wird auch als Bestimmtheitsmaß bezeichnet. Er dient zur Darstellung der Anpassungsgüte des Modells, denn er weist den Anteil der Varianz der abhängigen Variable aus, der durch die unabhängig Variable erklärt wird. Je größer das Bestimmtheitsmaß (0 ≤ R2 ≤ 1), desto höher der durch die Regression erklärte Anteil der Streuung der abhängigen Variable (Backhaus et al. 2011: 56-81; Gehring/Weins 2009: 177-184).

4.1 Bivariate Analysen

157

dem erlaubt dieses Vorgehen den kontrastierenden Effekt einer hohen bzw. mittleren Merkmalsausprägung und einer niedrigen Merkmalsausprägung bzw. dem Fehlen des Merkmals zu überprüfen (Backhaus et al. 2011: 56-59; Hildebrandt et al. 2015: 65; Sibbertsen/Lehne 2015: 143-151). 4.1.1 Akteursspezifische Ursachen In Tabelle 4.1 werden die Ergebnisse der linearen Einfachregressionen für die aggregierten akteursspezifischen Ursachen von Niedriglohnbeschäftigung dokumentiert. Die in Tabelle 4.1 gewählte Darstellungsform der Analyseergebnisse wird analog für die Darstellung der bivariaten Variablenbeziehungen aller Ursa69 chenbündel angewendet. Tabelle 4.1: Einfachregressionen mit akteursspezifischen Einflussfaktoren Unabhängige Erwartete Statistische N βi SE(βi) R2 Variable70 Effektrichtung Effektrichtung Schuljahre 34 0,96 1,09 0,02 ‒ […] Hochqualifizierte 34 -0,003 0,12 0,001 ‒ […] Geringqualifizierte 34 -0,15(*) 0,08 0,09 + ‒ Arbeitsproduktivität 34 -0,24** 0,06 0,35 ‒ ‒ HighTech-Firmen 28 -0,25 0,56 0,01 ‒ […] LowTech-Firmen 28 1,02** 0,33 0,27 + + HighTech-Exporte 34 -0,14 0,14 0,03 ‒ […] F&E (Industrie) 31 -0,22* 0,09 0,16 ‒ ‒ Weiterbildung 26 -0,2** 0,06 0,3 ‒ ‒ Abhängige Variable: Anteil der Niedriglohnbeschäftigten (in % aller abhängig Beschäftigten). Jahr: x̅ {2006, 2010}. Erklärung der Symbole: (+) positiver, (‒) negativer, ([…]) kein signifikanter Effekt. Signifikanzniveau: (*) = 0,1; * = 0,05; ** = 0,01.

Die erste Spalte zeigt an, welche unabhängige Variable auf ihren Erklärungsgehalt für die abgängige Variable untersucht wird. Spalte zwei gibt Auskunft über die Anzahl der Beobachtungen. Es können maximal können 34 Beobachtungen gemacht werden, da die Anzahl der Untersuchungseinheiten 34 Länder umfasst. In Spalte drei, vier und fünf werden die unstandardisierten Regressionskoeffizienten, die Standardfehler der Regressionskoeffizienten sowie die Be69

70

Unter dem Begriff „Ursachenbündel“ werden inhaltlich zusammengehörige Erklärungsfaktoren für die Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung verstanden. Vgl. Tab. 3.2 für Operationalisierung und Datenquelle der unabhängigen Variablen.

158

4 Makro-quantitative Untersuchung der Ursachen von Niedriglohnbeschäftigung

stimmtheitsmaße abgebildet. Die Spalten sieben und acht vergleichen die theoretisch erwartete Effektrichtung jeder unabhängigen Variable mit ihrer empirisch beobachteten Effektrichtung. Während die Erwartung über die Effektrichtung auf den theoretisch begründeten Ursache-Wirkungs-Mechanismen im dritten Kapitel basiert, entspricht die statistische Effektrichtung dem Vorzeichen des unstandardisierten Regressionskoeffizienten. Im Rahmen der akteursspezifischen Ursachen von Niedriglohnbeschäftigung werden zwei Typen von Erklärungsfaktoren diskutiert: die Humankapitalausstattung der Erwerbspersonen sowie die unternehmerische Wettbewerbsstrategie (vgl. Kap. 3.1). Von den drei Indikatoren zur Operationalisierung der Humankapitalausstattung weist lediglich der Anteil geringqualifizierter Erwerbspersonen einen schwach signifikanten Zusammenhang mit der Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung auf. Allerdings weicht die statistische Wirkungsrichtung von der theoretisch erwarteten Wirkungsrichtung ab, da der Regressionskoeffizient einen negativen Zusammenhang mit der abhängigen Variable anzeigt. In Anbetracht der geringen Stärke des Zusammenhangs und der fehlenden Signifikanz der anderen zwei Humankapital-Indikatoren lässt sich die Schlussfolgerung ziehen, dass kein substanzieller Zusammenhang zwischen der Verbreitung bestimmter Bildungsabschlüsse bzw. der durchschnittlichen Schulbesuchszeit und der Größe des Niedriglohnsektors in entwickelten Volkswirt71 schaften existiert. Ein anderes Bild zeichnet sich für den Einfluss unternehmerischer Wettbewerbsstrategien ab: Der Beschäftigtenanteil in Sektoren mit sehr niedrigem und geringem Technologieniveau, die industriefinanzierten Aufwendungen für Forschung und Entwicklung sowie der Anteil an Unternehmen, die in die Weiterbildung ihrer Mitarbeiter investieren, zeigen (hoch) signifikante Zusammenhänge mit der Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung. Darüber hinaus stimmen bei allen drei Indikatoren die theoretisch erwartete und die statistische Wirkungsrichtung überein. Somit weisen die empirischen Befunde auf einen Einfluss der Verbreitung von „low-road“- und „high-road“-Unternehmen auf die Größe des Niedriglohnsektors hin.

71

Dieser Befund erlaubt jedoch keine Rückschlüsse auf die Gültigkeit der in Kapitel 3.1 beschriebenen Mechanismen zwischen der individuellen Humankapitalausstattung und dem Angebot von Niedriglohnbeschäftigung, da die hier verwendeten Aggregatdaten diese Analyseebene nicht abbilden.

4.1 Bivariate Analysen

159

Von allen Variablen des akteursspezifischen Ursachenbündels hat die Arbeitsproduktivität die höchste Varianzaufklärung für die Streuung der abhängigen Variable. Die statistische Effektrichtung entspricht dabei dem theoretisch erwarteten Wirkungszusammenhang, denn Länder mit einer höheren Arbeitsproduktivität weisen tendenziell eine geringere Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung auf als Länder mit einer geringeren Arbeitsproduktivität. Die auffallend hohe Erklärungskraft dieses Indikators ist aus theoretischer Perspektive durch die Breite des Konzeptes zu erklären, denn die Arbeitsproduktivität wird sowohl durch die Humankapitalausstattung der Arbeitskräfte als auch durch Arbeitslatzcharakteristika beeinflusst. 4.1.2 Institutionen der staatlichen Arbeitsmarktpolitik In Tabelle 4.2 wird deutlich, dass Institutionen aus allen Bereichen staatlicher Arbeitsmarktpolitik, d.h. sowohl der passiven, der aktiven als auch der aktivierenden Arbeitsmarktpolitik, einen signifikanten Zusammenhang mit der Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung zeigen. Darüber hinaus zeigt keine der signifikanten Variablenbeziehungen eine von den theoretischen Erwartungen abweichende statistische Effektrichtung. Von allen Testvariablen dieses Ursachenbündels leisten die staatlichen Ausgaben für aktive Arbeitsmarktpolitik mit 35% den größten Beitrag zu Varianzaufklärung der abhängigen Variable. Im Einklang mit den theoretischen Erwartungen besteht ein negativer Zusammenhang zwischen der relativen Höhe der Ausgaben für aktive Arbeitsmarktpolitik und dem Anteil von Niedriglohnjobs. Obschon aus theoretischer Perspektive zu erwarten ist, dass das Niveau der staatlichen Ausgaben für Weiterbildungs- und Qualifizierungsmaßnahmen (eine Teilmenge der Ausgaben für aktive Arbeitsmarktpolitik) einen besonders hohen Erklärungsgehalt für die Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung aufweisen, sind sowohl das Signifikanzniveau als auch die Varianzaufklärung deutlich geringer als bei den allgemeinen Ausgaben für aktive Arbeitsmarktpolitik (dazu zählen Beschäftigungsanreize, Lohnsubventionen, Gründungsinitiativen, direkte Schaffung von Arbeitsplätzen und Weiterbildungs- und Qualifizierungsmaßnahmen). Unter den Indikatoren zur Operationalisierung der Institutionen der passiven Arbeitsmarktpolitik zeigt der breiteste Indikator, nämlich die Nettolohnersatzleistungsquote bei Arbeitslosigkeit (inklusive Sozialhilfe und Wohngeld), den stärksten Zusammenhang mit der abhängigen Variable. Des Weiteren weist auch die Höhe des Arbeitslosengeldes für Arbeitslose mit Kindern einen

160

4 Makro-quantitative Untersuchung der Ursachen von Niedriglohnbeschäftigung

signifikanten, wenn auch schwächeren, Zusammenhang mit der Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung auf. In beiden Fällen weist die statistische Effektrichtung darauf hin, dass sich eine steigende Lohnersatzleistungsrate negativ auf die Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung auswirkt. Tabelle 4.2: Einfachregressionen mit Institutionen staatlicher Arbeitsmarktpolitik Unabhängige Erwartete Empirische N βi SE(βi) R2 Variable72 Effektrichtung Effektrichtung Arbeitslosengeld (ALG) 34 -0,27** 0,08 0,27 ‒ ‒ ALG (Familie) 31 -0,23* 0,11 0,14 ‒ ‒ ALG (Dauer) 31 -0,01 0,004 0,07 ‒ […] ALG (Anspruch) 28 7,98 12,96 0,01 ‒ […] ALG (Generosität) 21 -0,59 0,57 0,05 ‒ […] Aktive Arbeitsmarkt28 -9,59** 2,57 0,35 ‒ ‒ politik (AAMP) AAMP (Qualifizierung) 28 -21,59* 7,81 0,22 ‒ ‒ Leistungsanspruchs32 4,53* 2,19 0,13 + + kriterien (LAK) LAK (Pflichten) 32 -3,67 6,47 0,01 + […] LAK (Monitoring) 32 4,21 3,55 0,05 + […] LAK (Sanktionen) 32 4,6 3,48 0,06 + […] LAK (Voraussetzungen) 32 9,06 5,99 0,07 + […] Abhängige Variable: Anteil der Niedriglohnbeschäftigten (in % aller abhängig Beschäftigten). Jahr: x̅ {2006, 2010}. Erklärung der Symbole: (+) positiver, (‒) negativer, ([…]) kein signifikanter Effekt. Signifikanzniveau: (*) = 0,1; * = 0,05; ** = 0,01

Von den Indikatoren zur Operationalisierung der aktivierenden Arbeitsmarktpolitik zeigt ausschließlich die allgemeine Strenge der Voraussetzung für den Anspruch auf Arbeitslosenunterstützung einen signifikant positiven Zusammenhang mit der abhängigen Variablen. Die einzelnen Dimensionen aus denen sich dieser Indikator zusammensetzt, d.h. die Verfügbarkeitsanforderungen, das Monitoring der Arbeitsplatzsuche, Sanktionen bei Ablehnung eines Stellenangebotes und Anwartschaftsvoraussetzungen, zeigen allerdings keinen signifikanten Zusammenhang mit der Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung. Dieser Befund weist darauf hin, dass nicht die Strenge einzelner Instrumente der aktivierenden Arbeitsmarktpolitik, sondern ihr Zusammenspiel und die Stärke ihrer Ausrichtung auf die Policy-Leitmotive „work first“ und „make work pay” einen positiven Effekt auf die Größe des Niedriglohnsektors ausüben. 72

Vgl. Tab. 3.3 für Operationalisierung und Datenquelle der unabhängigen Variablen.

4.1 Bivariate Analysen

161

4.1.3 Institutionen der staatlichen Arbeitsmarktregulierung Im Gegensatz zu den Institutionen der staatlichen Arbeitsmarktpolitik ist bei den Institutionen der staatlichen Arbeitsmarktregulierung ein theoretisch unerwarteter, signifikanter Wirkungszusammenhang zu beobachten. Tabelle 4.3: Einfachregressionen mit Institutionen staatlicher Arbeitsmarktregulierung Unabhängige Erwartete Empirische N βi SE(βi) R2 Variable73 Effektrichtung Effektrichtung Mindestlohn (Dummy)74 34 8,81** 2,2 0,33 ‒ + Höhe des Mindestlohns 24 -0,33(*) 0,16 0,16 ‒ ‒ Allgemeinverbindlichkeits33 -6,48** 2,19 0,22 ‒ ‒ erklärung (Dummy)75 Autonomie der 21 -0,78 3,12 0,003 ‒ […] Gleichstellungsstellen Strenge der Antidis21 0,03 2,98 0,001 ‒ […] kriminierungsgesetze Regulierung regulärer 31 -1,41 1,6 0,03 ‒ […] Beschäftigung Regulierung atypischer 31 -3,06* 1,15 0,2 ‒ ‒ Beschäftigung Regulierungsdifferenz 31 2,43(*) 1,28 0,11 + + Abhängige Variable: Anteil der Niedriglohnbeschäftigten (in % aller abhängig Beschäftigten). Jahr: x̅ {2006, 2010}. Erklärung der Symbole: (+) positiver, (‒) negativer, ([…]) kein signifikanter Effekt. Signifikanzniveau: (*) = 0,1; * = 0,05; ** = 0,01.

73 74

75

Vgl. Tab. 3.4 für Operationalisierung und Datenquelle der unabhängigen Variablen. Dichotomisierung des dreistufigen kategorialen Indikators „Mindestlohn“: Mit 0 codierte Merkmalsausprägungen (Referenzkategorie): (1) kein gesetzlicher Mindestlohn. Mit 1 codierte Merkmalsausprägungen: (2) gesetzlicher Mindestlohn in einigen Sektoren; (3) landesweit gültiger gesetzlicher Mindestlohn. Dichotomisierung des vierstufigen Indikators „Allgemeinverbindlichkeitserklärung von Tarifverträgen“: Mit 0 codierte Merkmalsausprägungen (Referenzkategorie): (1) keine Allgemeinverbindlichkeitserklärung und keine funktionalen Äquivalente; (2) Allgemeinverbindlichkeitserklärungen sind selten und kommen nur in einigen Branchen zur Anwendung, da es hohe Schwellenwerte zu berücksichtigen gibt und/ oder Widerstand auf Arbeitgeberseite existiert. Mit 1 codierte Merkmalsausprägungen: (3) Allgemeinverbindlichkeitserklärung in vielen Branchen, aber es liegt im Ermessen der Regierung, ob die Kriterien für eine AVE erfüllt sind; (4) Allgemeinverbindlichkeitserklärungen erfolgen quasi automatisch bzw. es existieren funktionale Äquivalente.

162

4 Makro-quantitative Untersuchung der Ursachen von Niedriglohnbeschäftigung

Mindestlöhne Obschon aus theoretischer Perspektive zu erwarten ist, dass sich die Existenz von gesetzlichen Mindestlöhnen negativ auf die Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung auswirkt, zeigt die Dummy-Variable zur Existenz von Mindestlöhnen in Tabelle 4.3 einen hoch signifikanten und stark positiven Zusammenhang mit der abhängigen Variable. Der Regressionskoeffizient des MindestlohnDummys besagt, dass Länder mit gesetzlichen Mindestlöhnen durchschnittlich 8,8% mehr Niedriglohnempfänger haben, als Länder in denen keine gesetzlichen Mindestlöhne existieren. Dieser Befund ist ein erklärungsbedürftiges Phänomen. Die Ursache, weshalb sich gesetzliche Mindestlöhne nicht negativ auf die Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung auswirken liegt darin, dass sie in der Regel unterhalb der Niedriglohnschwelle liegen. Tabelle 4.4 verdeutlicht diesen Umstand für alle Länder, die im Jahr 2010 einen gesetzlichen Mindestlohn ha76 ben und von der europäischen Verdienststrukturerhebung erfasst werden. Alle Länder in Tabelle 4.4 haben eine positive Differenz zwischen der Niedriglohnschwelle und dem Mindestlohn, d.h. der stündliche Mindestlohn liegt immer unterhalb der Niedriglohnschwelle. Im Durchschnitt liegt der Mindestlohn 23% unterhalb der Niedriglohnschwelle. Allerdings ist die Streuung zwischen den Ländern erheblich: Während in Frankreich der Mindestlohn nur knapp unterhalb der Niedriglohnschwelle liegt, sind die Mindestlöhne in Tschechien und Ungarn gut 40% geringer als die Niedriglohnschwelle. Insgesamt gilt für alle in Tabelle 4.4 aufgeführten Länder, dass Mindestlohnbezieher immer gleichzeitig Niedriglohnbeschäftigte sind. Dieser Befund verdeutlicht, dass Mindestlöhne die Lohnverteilung im Niedriglohnsektor lediglich unterhalb des Mindestlohns abschneiden. Somit verringern Mindestlöhne zwar die Streuung der Löhne im Niedriglohnsektor, reduzieren aber nicht den absoluten Anteil der Niedriglohnbeschäftigten.

76

Obschon auch die USA, Kanada, Neuseeland, Australien und Japan einen gesetzlichen Mindestlohn haben, werden diese fünf Länder mangels vergleichbarer Daten für die Niedriglohnschwelle nicht in Tabelle 4.4 aufgenommen.

4.1 Bivariate Analysen

163

Tabelle 4.4: Niedriglohnschwelle und Mindestlohn im Ländervergleich Niedriglohnschwelle Mindestlohn Differenz (NLS) (ML) (NLS-ML) (in Euro/ Stunde)77 (in Euro/ Stunde) (in Euro/ Stunde) Bulgarien 1,0 0,73 0,27 Rumänien 1,3 0,8 0,5 Litauen 1,8 1,41 0,39 Lettland 1,9 1,54 0,36 Ungarn 2,3 1,37 0,93 Polen 2,6 1,82 0,78 Slowakei 2,6 1,77 0,83 Estland 2,7 1,73 0,97 Tschechien 3,0 1,75 1,25 Portugal 3,4 2,86 0,54 Slowenien 4,8 3,45 1,35 Griechenland 6,0 4,28 1,72 Spanien 6,3 3,84 2,46 Großbritannien 8,4 7,19 1,21 Frankreich 9,2 8,86 0,34 Niederlande 10,2 8,64 1,56 Belgien 10,9 8,41 2,49 Luxemburg 11,9 9,73 2,17 Irland 12,2 8,65 3,55 Mittelwert 5,39 4,15 1,25 Quelle: Eurostat, WSI-Mindestlohndatenbank, eigene Berechnungen. Jahr: 2010.

Land

Relative Differenz (in %) 27,0 38,5 21,7 18,9 40,4 30,0 31,9 35,9 41,7 15,9 28,1 28,7 39,1 14,4 3,7 15,3 22,8 18,2 29,1 23,0

Das Verhältnis zwischen den Niedriglohnschwellen und der absoluten Höhe gesetzlicher Mindestlöhne kann zwar begründen, weshalb Mindestlöhne keine Niedriglohnbeschäftigung eingrenzende Wirkung haben, aber es kann nicht erklären, weshalb ein hoch signifikanter, positiver Zusammenhang zwischen der Existenz von Mindestlöhnen und der Größe des Niedriglohnsektors existiert. Um mögliche Ursachen dieses positiven Variablenzusammenhangs zu identifizieren, wird die Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung in Ländern mit und ohne gesetzliche Mindestlöhnen grafisch analysiert (vgl. Abb. 4.1).

77

Berechnung der Niedriglohnschwelle: 2 3 × Medianstundenlohn abhängiger Erwerbstätiger.

164

4 Makro-quantitative Untersuchung der Ursachen von Niedriglohnbeschäftigung

Abbildung 4.1: Niedriglohnbeschäftigung in Ländern mit und ohne gesetzlichen Mindestlohn

Das Streudiagramm in Abbildung 4.1 illustriert, dass alle sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaaten (Schweden, Finnland, Dänemark, Norwegen, Island) sowie einige konservative Wohlfahrtsstaaten (die Schweiz, Italien, Österreich und Deutschland) keinen gesetzlichen Mindestlohn haben. Die horizontale gestrichelte Linie in Abbildung 4.1 bildet die mittlere Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung in entwickelten Volkswirtschaften im Jahr 2010 ab. Anhand dieser Linie wird deutlich, dass in fast allen Ländern (mit Ausnahme von Deutschland) ohne gesetzliche Mindestlöhne die Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung unterhalb des Medians liegt. Innerhalb dieser Gruppe fallen wiederum die sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaaten durch einen besonders kleinen Niedriglohnsektor auf. Werden die fünf sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaaten aus der linearen Einfachregression in Tabelle 4.3 ausgeschlossen, verschwindet die signifikant positive Variablenbeziehung zwischen der Existenz gesetzlicher Mindestlöhne und der Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung. Somit sind die sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaaten die Triebfeder des theoretisch unerwarteten positiven Wirkungszusammenanhangs der zwei Variablen. Im fünfen Kapitel werden jene institutionellen Spezifika sozial-

4.1 Bivariate Analysen

165

demokratischer Wohlfahrtsstaaten erörtert, die zu der geringen Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung innerhalb dieser Gruppe von entwickelten Volkswirtschaften beitragen. Im Gegensatz zu der Existenz von Mindestlöhnen zeigt die Höhe des Mindestlohns relativ zum Medianlohn (der so genannte Kaitz-Index) einen schwachen, aber im Einklang mit den theoretischen Erwartungen negativen Zusammenhang mit der Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung. Der negative Effekt der relativen Höhe des Mindestlohns auf die abhängige Variable ist insofern bemerkenswert, als dass Mindestlöhne in der Regel unterhalb der Niedriglohnschwelle liegen (vgl. Tab. 4.4). Dieser Befund lässt sich aus theoretischer Perspektive einerseits dadurch erklären, dass mit zunehmender Höhe des Mindestlohns der Lohnwettbewerb nach unten begrenzt wird und dadurch die auf niedrigen Lohnkosten basierende „low-road“-Wettbewerbsstrategie für Unternehmen an Attraktivität einbüßt (Bazen 2000b: 120; Bosch 2009: 345). Andererseits kann mit steigender Höhe des Mindestlohns auch dessen Reichweite zunehmen, da viele Arbeitgeber Löhne oberhalb des Mindestlohns nach oben anpassen, um den Lohnabstand zwischen verschiedenen Arbeitnehmergruppen zu wahren (Möller 2012: 190ff.). Dieser Mechanismus führt zu einem Anstieg des Lohnniveaus im unteren Bereich der Lohnverteilung und kann effektiv zu einem Rückgang der Niedriglohnbeschäftigung beitragen. Allgemeinverbindlichkeitserklärungen von Tarifverträgen Gemäß den theoretischen Erwartungen zeigt die Dummy-Variable zur Allgemeinverbindlichkeitserklärung von Tarifverträgen in Tabelle 4.3 einen hoch signifikanten und stark negativen Zusammenhang mit der Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung. Der Regressionskoeffizient zeigt an, dass Länder in denen der Staat Tarifverträge automatisch oder in vielen Branchen auf tarifungebundene Länder ausdehnt, im Durchschnitt 6,5% weniger Niedriglohnempfänger haben, als Länder, die diese Institution der kollektivrechtlichen Arbeitsmarktregulierung selten oder nie anwenden. Gesetze gegen geschlechtsspezifische Lohndiskriminierung Von den zwei Indikatoren zur Operationalisierung von Gesetzen gegen geschlechtsspezifische Lohndiskriminierung zeigt weder die Autonomie von Gleichstellungsstellen zur Einleitung rechtlicher Schritte in Fällen von Diskrimi-

166

4 Makro-quantitative Untersuchung der Ursachen von Niedriglohnbeschäftigung

nierung noch die Strenge von Antidiskriminierungsgesetzen einen signifikanten Zusammenhang mit der abhängigen Variable. Institutioneller Dualismus der Strenge der Beschäftigungsregulierung Die letzten drei linearen Einfachregressionen in Tabelle 4.3 untersuchen den Zusammenhang zwischen der Strenge der Kündigungs- und Arbeitnehmerschutzbestimmungen und der Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung. Während die Strenge der Regulierung regulärer (unbefristeter) Beschäftigung keinen signifikanten Zusammenhang mit der abhängigen Variable aufweist, zeigt die Regulierungsstrenge atypischer (befristeter) Beschäftigung einen signifikant negativen Zusammenhang mit der Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung und entspricht somit der theoretisch erwarteten Effektrichtung dieses Erklärungsfaktors. Die gemischte empirische Evidenz des Einflusses der Strenge der Beschäftigungsregulierung ist insofern plausibel, als dass unbefristete Jobs deutlich seltener unterhalb der Niedriglohnschwelle entlohnt werden als befristete Be78 schäftigungsverhältnisse. Vor diesem Hintergrund hat die Regulierungsstrenge regulärer Beschäftigung a priori weniger Möglichkeit Einfluss auf die Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung auszuüben. Allerdings zeigt die Regulierung regulärer Beschäftigung einen indirekten Einfluss auf die abhängige Variable, denn die Differenz der Regulierungsstrenge regulärer und atypischer Beschäfti79 gung hat einen schwach signifikanten positiven Zusammenhang mit der Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung, d.h. mit steigender Regulierungsdifferenz steigt die Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung.

78

79

Im Jahr 2010 wurden im europäischen Durschnitt 15,26% der unbefristeten Arbeitsverträge (reguläre Beschäftigungsverhältnisse) unterhalb der Niedriglohnschwelle entlohnt, während 28,42% der befristeten Arbeitsverträge (atypische Beschäftigungsverhältnisse) im Niedriglohnsektor angesiedelt waren (vgl. Tab. 2.2). Regulierungsdifferenz = Strenge der Regulierung regulärer Beschäftigung minus Strenge der Regulierung atypischer Beschäftigung. Dieser Indikator kann sowohl positive als auch negative Merkmalsausprägungen annehmen, je nachdem ob reguläre Beschäftigung ein höheres oder ein geringeres Regulierungsniveau besitzt als atypische Beschäftigung. Ist reguläre Beschäftigung stärker reguliert als atypische Beschäftigung, ist die Regulierungsdifferenz positiv. Ist reguläre Beschäftigung hingegen schwächer reguliert als atypische Beschäftigung, nimmt der Indikator einen negativen Wert an. Bei identischem Regulierungsniveau nimmt der Indikator einen Wert von null an.

4.1 Bivariate Analysen

167

In der sozialwissenschaftlichen Arbeitsmarktforschung wird das Phänomen von Arbeitsmarktinstitutionen, die Rechte, Pflichten, Ansprüche oder Leistungen nach Insidern (d.h. Erwerbstätige in regulären Beschäftigungsverhältnissen bzw. Normalarbeitsverhältnissen) und Outsidern (d.h. atypisch Beschäftigte und/ oder Arbeitslose) differenzieren, als institutioneller Dualismus bezeichnet. Institutioneller Dualismus tritt zumeist in Form einer relativen Schlechterstellung der Outsider bzw. einer systematischen Besserstellung der Kernarbeitnehmerschaft gegenüber Arbeitnehmern an der Peripherie des Arbeitsmarktes auf. Während das Konzept des institutionellen Dualismus einen Zustand bezeichnet, ist der Prozess eines wachsenden institutionellen Dualismus als „Dualisierung“ definiert. Der Begriff der Dualisierung beschreibt somit den Prozess einer zunehmenden Spaltung der Arbeitnehmerschaft bzw. einer zunehmenden Differenzierung des Niveaus der sozialen Sicherheit und der Arbeitnehmerrechte nach Insidern und Outsidern. Eine Konsequenz dieses Prozesses kann (muss aber nicht) ein Anstieg der Lohnungleichheit und der Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung sein (Emmenegger et al. 2012: 10f.; Rueda 2014: 384). In Bezug auf die Strenge der Beschäftigungsregulierung beschreibt der institutionelle Dualismus einen Zustand, in dem sich die Kündigungs- und Arbeitnehmerschutzbestimmungen für reguläre und atypische Beschäftigungsverhältnisse unterscheiden. Somit bildet der Indikator zur Regulierungsdifferenz regulärer und atypischer Beschäftigung den institutionellen Dualismus der Beschäftigungsregulierung ab. Aus politökonomischer Perspektive ist zu erwarten, dass Richtung und Stärke der Regulierungsdifferenz das arbeitgeberseitige KostenNutzen-Verhältnis zwischen regulärer und atypischer Beschäftigung verändern und somit die Nachfrage nach den zwei Beschäftigungsformen beeinflussen. Da atypisch Beschäftigte häufiger unterhalb der Niedriglohnschwelle entlohnt werden als regulär Beschäftigte, ist zu erwarten, dass sich institutionelle Anreize zur Nachfrage nach atypischer Beschäftigung positiv auf die Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung auswirken. Vor diesem Hintergrund sind zwei alternative regulative Anreizpolitiken mit unterschiedlichen Effekten auf die Verbreitung von atypischer Beschäftigung und Niedriglohnbeschäftigung möglich. Bei der ersten Alternative des institutionellen Dualismus der Beschäftigungsregulierung wird reguläre Beschäftigung stärker reguliert als atypische Beschäftigung (d.h. die Regulierungsdifferenz ist positiv). Diese regulative Konfiguration setzt einen positiven Anreiz für die Entstehung atypischer Beschäftigungsverhältnisse, da Arbeitgeber atypische Beschäftigungsformen zur Steigerung ihrer

168

4 Makro-quantitative Untersuchung der Ursachen von Niedriglohnbeschäftigung

personalpolitischen Flexibilität nutzen können. Ein positiver Effekt auf die Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung ist zu erwarten, wenn a) der regulative Anreiz groß genug ist, um eine Expansion atypischer Beschäftigung zu verursachen und b) atypische Beschäftigung häufiger unterhalb der Niedriglohnschwelle entlohnt wird, als reguläre Beschäftigung. Das Zutreffen der zweiten Bedingung hängt davon ab, ob andere Arbeitsmarktinstitutionen eine Verknüpfung atypischer Beschäftigung mit Niedriglöhnen verhindern. Solche Arbeitsmarktinstitutionen können zum Beispiel die Tarifbindung, die Allgemeinverbindlichkeitserklärung von Tarifverträgen, oder die Höhe von Mindestlöhnen sein. Bei der zweiten Alternative des institutionellen Dualismus der Beschäftigungsregulierung wird atypische Beschäftigung stärker reguliert als reguläre Beschäftigung (d.h. die Regulierungsdifferenz ist negativ). Diese regulative Konfiguration setzt einen negativen Anreiz für die Entstehung atypischer Beschäftigungsverhältnisse, da die Flexibilitätsvorteile, die atypische Beschäftigungsformen wie befristete Arbeitsverträge oder Leiharbeit den Arbeitgeber bieten, durch restriktive Kündigungs- und Arbeitnehmerschutzbestimmungen gemindert oder sogar aufgehoben werden. Ein negativer Effekt auf die Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung ist zu erwarten, wenn a) der regulative Anreiz groß genug ist, als dass die Verbreitung atypischer Beschäftigung sinkt und b) atypische Beschäftigung häufiger unterhalb der Niedriglohnschwelle entlohnt wird, als reguläre Beschäftigung. Zur Überprüfung dieser theoretischen Erwartungen werden in Abbildung 4.2 die länderspezifischen institutionellen Konfigurationen der Strenge der Beschäftigungsregulierung mit Hilfe eines Streudiagramms dargestellt und in Tabelle 4.5 auf ihren Zusammenhang mit der Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung 80 untersucht. Während die Abszisse in Abbildung 4.2 die Strenge der Regulierung regulärer Beschäftigungsverhältnisse (Reg.rB) abbildet, wird auf der Ordinatenachse die Strenge der Regulierung atypischer Beschäftigungsverhältnisse (Reg.aB) abgetragen. Die horizontale und die vertikale gepunktete Linie kennzeichnen die durchschnittliche Strenge der Regulierung atypischer Beschäftigung (ø Reg.aB = 1,51) und regulärer Beschäftigung (ø Reg.rB = 2,15). Die diagonale Achse stellt alle institutionellen Konfigurationen dar, bei denen keine Regulierungsdifferenz (Reg.diff) zwischen der Strenge der Regulierung regulärer und atypischer Beschäftigung existiert. Alle Länder oberhalb der diagonalen Achse 80

Die Daten beziehen sich auf die between-transformierten Daten der Jahre 2006 und 2010.

4.1 Bivariate Analysen

169

regulieren reguläre Beschäftigung schwächer als atypische Beschäftigung (Reg.rB < Reg.aB = Reg.diff < 0). Dahingegen regulieren Länder unterhalb der diagonalen Achse reguläre Beschäftigung stärker als atypische Beschäftigung (Reg.rB > Reg.aB = Reg.diff > 0).

Abbildung 4.2: Institutioneller Dualismus der Beschäftigungsregulierung

Das Streudiagramm in Abbildung 4.2 zeigt eine leicht positive Beziehung zwischen der Strenge der Regulierung regulärer und atypischer Beschäftigung, d.h. in den beobachteten Länder besteht die Tendenz, beide Beschäftigungsformen 81 entweder stark oder schwach zu regulieren. Dennoch ist die durchschnittliche Regulierungsstrenge regulärer Beschäftigung deutlich höher als von atypischer 81

Der Korrelationskoeffizienten nach Bravais-Pearson zwischen der Strenge der Regulierung regulärer und atypischer Beschäftigung (Reg.rB und Reg.aB) hat einen Wert von r = 0,46** (p < 0,01), d.h. es existiert ein signifikant schwach positiver, linearer Zusammenhang zwischen den zwei Variablen.

170

4 Makro-quantitative Untersuchung der Ursachen von Niedriglohnbeschäftigung

Beschäftigung. Die diagonale Achse veranschaulicht, dass nur drei Länder (die USA, Estland und Griechenland) ein fast identisches Regulierungsniveau regulärer und atypischer Beschäftigung aufweisen. Die meisten Länder regulieren die zwei Beschäftigungsformen unterschiedlich streng (d.h. sie weichen stärker von der diagonalen Achse ab). Insgesamt reguliert nur knapp ein Fünftel der Länder atypische Beschäftigung stärker als das Normalarbeitsverhältnis (Reg.diff < 0). Gut vier Fünftel der Länder haben dahingegen strengere Kündigungs- und Arbeitnehmerschutzbestimmungen für reguläre Beschäftigungsverhältnisse (Reg.diff > 0). Somit haben die meisten entwickelten Volkswirtschaften eine Ausprägung des institutionellen Dualismus der Beschäftigungsregulierung, die atypisch Beschäftigte (Outsider) in geringerem Ausmaß vor der strukturellen Übermachtstellung der Arbeitgeber schützt als Erwerbstätige in regulären Beschäftigungsverhältnissen (Insider). Aus theoretischer Perspektive setzt diese institutionelle Konfiguration für Arbeitgeber Anreize zur Schaffung atypischer Beschäftigungsverhältnisse, da diese Beschäftigungsformen eine größere personalpolitische Flexibilität erlauben und die Verhandlungsposition atypisch Beschäftigter deutlich schlechter ist als von regulär Beschäftigten. Wenn die Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung vor dem Hintergrund dieser zwei regulativen Konfigurationen betrachtet wird so zeigt sich, dass das arithmetische Mittel der Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung in Ländern mit negativer Regulierungsdifferenz (Reg.rB < Reg.aB) 11,8% beträgt. Dahingegen nimmt dieser Parameter in Ländern mit positiver Regulierungsdifferenz (Reg.rB > Reg.aB) einen Wert von 17,7% an. Somit bestätigt sich die theoretische Erwartung, dass ein Outsider benachteiligender institutioneller Dualismus der Beschäftigungsregulierung mit einer höheren Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung einhergeht. Abbildung 4.2 ermöglicht allerdings eine noch differenziertere Analyse des Zusammenhangs institutioneller Konfigurationen der Beschäftigungsregulierung und der Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung: Werden die horizontale Linie (ø Reg.aB) und der vertikale Linie (ø Reg.rB) als Koordinatenachsen betrachtet, entstehen vier Quadranten (I, II, III, IV), die unterschiedliche regulative Konfigurationen von über- und unterdurchschnittlicher Regulierungsstrenge regulärer und atypischer Beschäftigung kennzeichnen. In Kombination mit der diagonalen Achse erlauben diese Quadranten unterschiedliche Ausprägungen des institutionellen Dualismus der Beschäftigungsregulierung zu identifizieren und auf ihre Unterschiede bezüglich der Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung zu untersuchen. Tabelle 4.5 stellt diese regulativen Konfigurationen dar.

Quadrant

Reg.aB_II > ø Reg.aB

Reg.aB_I < ø Reg.aB

ø NLBII < ø NLB (15,9%)

ø NLBI > ø NLB (15,9%) 15,2% (< ø NLB)

negativ

positiv

17,3% (> ø NLB)

stark begünstigend

stark schwächend

Reg.diff_II < 0

Reg.rB_II < ø Reg.rB

Reg.rB_I < ø Reg.rB

Reg.diff_I > 0

II

I

ø NLBIV > ø NLB (15,9%) 17,4% (> ø NLB)

13,3% (< ø NLB) (1) 10,2% (< ø NLB) (2) 15,4% (< ø NLB)

positiv

(1) negativ (2) positiv ø NLBIII < ø NLB (15,9%)

stark schwächend

Reg.diff_IV > 0

(1) Reg.diff_III < 0 (2) Reg.diff_III > 0 (1) stark begünstigend (2) leicht schwächend

Reg.aB_IV < ø Reg.aB

Reg.rB_IV > ø Reg.rB

IV

Reg.aB_III > ø Reg.aB

Reg.rB_III > ø Reg.rB

III

Minimale und maximale Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung

Land

NLB in %

Land

NLB in %

Land

NLB in %

Land

NLB in % DK 8,4 BE 7,0 FI 5,3 SE 2,1 US 24,8 EE 23,5 PL 24,4 LV 29,4 Reg.rB = Strenge der Regulierung regulärer Beschäftigung; Reg.aB = Strenge der Regulierung atypischer Beschäftigung; Reg.diff = Regulierungsdifferenz; NLB = Niedriglohnbeschäftigung; ø = arithmetisches Mittel. Jahr: x̅ {2006, 2010}.

Empirischer Befund: ø NLB_Quadrant

Wirkung der institutionellen Konfiguration auf die Verhandlungsposition von Outsidern Wirkung der institutionellen Konfiguration auf die Nachfrage nach atypischer Beschäftigung Theoretische Erwartung über die Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung: ø NLB_Quadrant zu ø NLB (aller Länder)

Regulierungsdifferenz

Charakteristika Verhältnis von Reg.rB_Quadrant zu ø Reg.rB Verhältnis von Reg.aB_Quadrant zu ø Reg.aB

Tabelle 4.5: Institutioneller Dualismus der Beschäftigungsregulierung und Niedriglohnbeschäftigung

4.1 Bivariate Analysen 171

172

4 Makro-quantitative Untersuchung der Ursachen von Niedriglohnbeschäftigung

Die ersten drei Zeilen in Tabelle 4.5 beschreiben die institutionelle Konfiguration der Beschäftigungsregulierung in den vier Quadranten in Abbildung 4.2. Zum einen wird dokumentiert, ob die Länder innerhalb eines Quadranten durch eine über- oder unterdurchschnittliche Strenge der Regulierung regulärer und atypischer Beschäftigung gekennzeichnet sind. Zum anderen wird notiert, ob die Regulierungsdifferenz positiv oder negativ ist. Auf Grundlage der Beschreibung der vier regulativen Konfigurationen werden Erwartungen über deren Wirkung auf die Verhandlungsposition von Outsidern, die Nachfrage nach atypischer Beschäftigung sowie das Verhältnis der quadrantenspezifischen Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung zur durchschnittlichen Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung in allen beobachteten Ländern formuliert (vgl. Zeile vier bis sechs in Tab. 4.5). Die letzten zwei Zeilen stellen die Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung in den vier Quadranten dar und ermöglichen somit einen Vergleich der empirischen Befunde mit den theoretischen Erwartungen. Quadrant I: Bei der länderspezifischen Zusammensetzung von Quadrant I ist auffällig, dass alle liberalen Wohlfahrtsstaaten darin enthalten sind. Dieser Sachverhalt lässt sich dadurch erklären, dass die regulative Konfiguration dieses Quadranten weitgehend dem liberalen Modell der Wohlfahrtsproduktion entspricht, das durch eine Marktzentrierung und geringe staatliche Intervention in den Arbeitsmarkt gekennzeichnet ist. Alle Länder in Quadrant I zeichnen sich dadurch aus, dass sie sowohl reguläre als auch atypische Beschäftigungsverhältnisse weniger streng regulieren als der Durchschnitt aller Länder. Darüber hinaus weisen alle Länder eine positive Regulierungsdifferenz auf, d.h. atypisch Beschäftigte haben einen geringen Kündigungs- und Arbeitnehmerschutz als Erwerbstätige in Normalarbeitsverhältnissen. Lediglich die USA weichen von diesem Muster ab, weil dort beide Beschäftigungsformen ein fast identisches, aber extrem geringes Regulierungsniveau aufweisen. Alle anderen Länder in Quadranten I setzen einen deutlichen regulativen Anreiz für atypische Beschäftigungsformen. Darüber hinaus schwächt die regulative Konfiguration der Beschäftigungsregulierung in allen Ländern dieses Quadranten die Verhandlungsposition von atypisch Beschäftigten (Outsidern) gegenüber den Arbeitgebern, weil das strukturelle Machtungleichgewicht zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern nicht ausgeglichen wird und sich der geringe Kündigungs- und Arbeitnehmerschutz negativ auf die Reservationslöhne atypisch Beschäftigter auswirken sollte (vgl. Kapitel 3.2.1.1).

4.1 Bivariate Analysen

173

Von dieser regulativen Konfiguration ist zu erwarten, dass sie sich positiv auf die Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung auswirkt. Aus diesem Grund sollte der Durchschnitt der Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung der Länder in Quadrant I über dem Durchschnitt aller untersuchten Länder liegen. Der Vergleich dieser theoretischen Erwartungen mit den empirischen Daten zeigt, dass der Durchschnitt der Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung in Quadrant I mit 17,3% über dem Durchschnitt aller Länder von 15,9% liegt und somit die theoretischen Erwartungen insgesamt zutreffen. Bei der Analyse der länderspezifischen Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung wird allerdings deutlich, dass einige Länder deutlich von den Erwartungen abweichen. So liegt z.B. der Anteil der Niedriglohnbeschäftigten in Dänemark und Island lediglich bei 8,4%, bzw. 10,2%. In diesen Ländern müssen folglich andere (institutionelle) Erklärungsfaktoren eine Niedriglohnbeschäftigung eingrenzende Wirkung entfalten. Da sowohl Dänemark als auch Island sozialdemokratische Wohlfahrtsstaaten sind, und in diesem Wohlfahrtsstaatscluster die Institutionen der industriellen Beziehungen traditionell einen starken Einfluss auf die Gestaltung des Arbeitsmarktes nehmen, könnten diese Institutionen ursächlich für die geringe Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung sein (Esping-Andersen 1999: 16-20). Quadrant II: Die regulative Konfiguration von Quadrant II erweist sich empirisch als ungewöhnlich, da lediglich zwei Länder (Belgien und Estland) in diesem Quadranten positioniert sind. Während die Regulierungsstrenge atypischer Beschäftigung über dem Durchschnitt aller Länder liegt, ist die Regulierungsstrenge regulärer Beschäftigung niedriger als der Durchschnitt aller Länder. Sowohl Belgien als auch Estland haben eine negative Regulierungsdifferenz, d.h. atypische Beschäftigungsverhältnisse sind strenger reguliert als reguläre Beschäftigungsverhältnisse. Allerdings befindet sich Estland fast auf der diagonalen Achse, d.h. die Regulierungsdifferenz ist sehr gering (vgl. Abb. 4.2). Somit setzt Belgien nicht nur einen deutlich stärkeren negativen Anreiz für die Nachfrage nach atypischer Beschäftigung, sondern verbessert auch die Verhandlungsposition der Outsider stärker als Estland. Dennoch ist aus theoretischer Perspektive zu erwarten, dass die regulative Konfiguration dieses Quadranten grundsätzlich eine negative Wirkung auf die Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung ausübt. Aus diesem Grund sollte der Durchschnitt der Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung der Länder in Quadrant II unterhalb des Durchschnitts aller untersuchten Länder liegen. Der Vergleich dieser theoretischen Erwartungen mit den empirischen Befunden zeigt, dass der Durchschnitt der Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung in Quadrant II mit 15,2% tatsächlich

174

4 Makro-quantitative Untersuchung der Ursachen von Niedriglohnbeschäftigung

leicht unter dem Durchschnitt aller Länder von 15,9% liegt. Allerdings existiert ein extremer Unterschied zwischen der Größe des Niedriglohnsektors in Belgien und Estland. Im Falle Belgiens spiegelt das strukturelle Arbeitsmarktergebnis die theoretischen Erwartungen. Im Falle Estlands ist dahingegen naheliegend, dass die Ausprägung anderer Erklärungsfaktoren ursächlich für den hohen Anteil an Niedriglohnbeschäftigten ist (vgl. Beschreibung des mittelosteuropäischen Arbeitsmarktregimes in Kap. 5.2). Quadrant III: Dieser Quadrant ist das regulative Gegenstück zu Quadrant I, denn alle Länder in Quadrant III zeichnen sich durch eine überdurchschnittlich strenge Regulierung regulärer und atypischer Beschäftigung aus. Obwohl insgesamt drei Quadranten von der diagonalen Achse geteilt werden, sind nur in Quadrant III unterschiedliche Ausprägungen des institutionellen Dualismus zu beobachten. Von den insgesamt zehn Ländern in Quadrant III haben vier Länder (Luxemburg, Frankreich, Spanien, Norwegen) eine negative Regulierungsdifferenz, d.h. diese Länder setzen negative Anreize für die Verbreitung atypischer Beschäftigung. Sechs Länder (Portugal, Italien, Polen, Slowenien, Finnland und in sehr geringem Ausmaß Griechenland) haben dahingegen eine positive Regulierungsdifferenz und setzen damit positive Anreize für die Verbreitung atypischer Beschäftigung. Die überdurchschnittliche Regulierungsstrenge in beiden Subgruppen von Quadrant III sollte aus theoretischer Perspektive eine negative Wirkung auf die Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung ausüben, da sie die Verhandlungsposition aller abhängigen Erwerbstätigen gegenüber den Arbeitgebern stärkt. Dementsprechend sollte der Durchschnitt der Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung der Länder in Quadrant III unterhalb des Durchschnitts aller untersuchten Länder liegen. Da jene sechs Länder mit einer positiven Regulierungsdifferenz die Verhandlungsposition der Outsider weniger stärken als die vier Länder mit einer negativen Regulierungsdifferenz, sollte die Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung in dieser Subgruppe etwas höher sein. Der Vergleich dieser theoretischen Erwartungen mit den empirischen Befunden zeigt, dass der Durchschnitt der Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung in Quadrant III mit 13,3% unter dem Durchschnitt aller Länder von 15,9% liegt. Im Einklang mit den theoretischen Erwartungen ist der Durchschnitt der Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung in Ländern mit positiver Regulierungsdifferenz mit 15,4% auch deutlich höher als in den Ländern mit negativer Regulierungsdifferenz (10,2%).

4.1 Bivariate Analysen

175

Quadrant IV: Dieser Quadrant ist das regulative Gegenstück zu Quadrant II, denn alle Länder in Quadrant IV zeichnen sich durch eine überdurchschnittlich strenge Regulierung regulärer Beschäftigung und eine unterdurchschnittlich strenge Regulierung atypischer Beschäftigung aus. Darüber hinaus weisen alle Länder in Quadrant IV eine positive Regulierungsdifferenz auf, d.h. atypisch Beschäftigte haben deutlich geringere Kündigungs- und Arbeitnehmerschutzbestimmungen. Diese regulative Konfiguration setzt positive Anreize für die Nachfrage nach atypischer Beschäftigung, wirkt sich negativ auf die Verhandlungsposition von Outsidern gegenüber den Arbeitgebern aus und sollte folglich eine positive Wirkung auf die Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung entfalten. Dementsprechend sollte der Durchschnitt der Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung der Länder in Quadrant IV über dem Durchschnitt aller untersuchten Länder liegen. Der Vergleich dieser theoretischen Erwartung mit den empirischen Daten zeigt, dass der Durchschnitt der Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung in Quadrant IV mit 17,4% über dem Durchschnitt aller Länder von 15,9% liegt und somit die theoretischen Erwartungen durchschnittlich zutreffen. Insgesamt zeigt die Analyse von Abbildung 4.2 und der damit korrespondierenden Tabelle 4.5, dass ein Zusammenhang zwischen der Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung und der Ausprägung des institutionellen Dualismus der Beschäftigungsregulierung existiert. Die Beobachtung, dass nicht bei allen Ländern die theoretischen Erwartungen mit den empirischen Befunden übereinstimmen, ist durch die Multikausalität des Phänomens der Niedriglohnbeschäftigung zu erklären. 4.1.4 Institutionen der industriellen Beziehungen Alle in Tabelle 4.6 dargestellten linearen Einfachregressionen weisen einen hoch signifikanten Zusammenhang zwischen den Institutionen der industriellen Beziehungen und der Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung auf. Darüber hinaus zeigen alle Institutionen dieses Ursachenbündels einen negativen Wirkungszusammenhang mit der abhängigen Variable. Auch jene drei Institutionen, bei denen widersprüchliche theoretische Erwartungen über ihre Wirkung auf die Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung bestehen (gewerkschaftlicher Organisationsgrad, Zentralisationsgrad der Tarifverhandlungen und Koordinierungsmechanismus der Lohnverhandlungen), zeigen im Rahmen der

176

4 Makro-quantitative Untersuchung der Ursachen von Niedriglohnbeschäftigung

Aggregatdatenanalyse einen negativen statistischen Wirkungszusammenhang mit der Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung. Tabelle 4.6: Einfachregressionen mit Institutionen der industriellen Beziehungen Unabhängige Erwartete Empirische N βi SE(βi) R2 Variable82 Effektrichtung Effektrichtung Gewerkschaftsdichte 34 -0,21** 0,05 0,39 (‒) ‒ Arbeitgeber‒ ‒ 26 -0,21** 0,05 0,4 organisationsgrad Tarifbindung 34 -0,18** 0,03 0,54 ‒ ‒ Korporatismus ‒ ‒ 33 -6,79** 2,45 0,2 (Dummy)83 Verhandlungsebene (‒) ‒ 34 -6,98** 2,14 0,25 (Dummy)84 Koordinierung (‒) ‒ 33 -8,78** 2,41 0,3 (Dummy)85 Abhängige Variable: Anteil der Niedriglohnbeschäftigten (in % aller abhängig Beschäftigten). Jahr: x̅ {2006, 2010}. Erklärung der Symbole: (+) positiver, (‒) negativer, ([…]) kein signifikanter Effekt. Signifikanzniveau: (*) = 0,1; * = 0,05; ** = 0,01.

82 83

84

85

Vgl. Tab. 3.5 für Operationalisierung und Datenquelle der unabhängigen Variablen. Dichotomisierung des dreistufigen kategorialen Indikators „Korporatismus“: Mit 0 codierte Merkmalsausprägungen (Referenzkategorie): (1) keine Konzertierung oder Beteiligung der Tarifpartner an politischen Entscheidungen; (2) unregelmäßige Konzertierung oder Beteiligung der Tarifpartner. Mit 1 codierte Merkmalsausprägungen: (3) vollständige Konzertierung und regelmäßige Beteiligung der Tarifpartner an politischen Entscheidungen. Dichotomisierung des fünfstufigen kategorialen Indikators „Verhandlungsebene“: Mit 0 codierte Merkmalsausprägungen (Referenzkategorie): (1) Lohnverhandlungen (LV) auf Unternehmensebene; (2) LV auf Unternehmensebene oder Industrieebene. Mit 1 codierte Merkmalsausprägungen: (3) LV auf Industrie- bzw. Sektorebene; (4) LV auf Sektorebene oder übersektoraler Ebene; (5) LV auf übersektoraler bzw. nationaler Ebene. Dichotomisierung des fünfstufigen kategorialen Indikators „Koordinierung“: Mit 0 codierte Merkmalsausprägungen (Referenzkategorie): (1) fragmentierte Lohnverhandlungen (LV) auf individueller oder betrieblicher Ebene; (2) Verhandlungen auf Industrie- und Unternehmensebene mit schwachen Koordinierungsinstrumenten auf Regierungsebene. Mit 1 codierte Merkmalsausprägungen: (3) informelle Zentralisierung der LV auf Industrieund Unternehmensebene durch Spitzenverbände mit oder ohne Regierungsbeteiligung; (4) zentralisierte LV durch die Spitzenverbände mit oder ohne Regierungsbeteiligung; (5) zentralisierte LV.

4.1 Bivariate Analysen

177

Von allen Institutionen der industriellen Beziehungen hat die Tarifbindung mit 54% die höchste Varianzaufklärung der abhängigen Variable. Dieser Wert ist nicht nur im Vergleich zu den Bestimmtheitsmaßen der anderen Indikatoren in Tabelle 4.6 sehr hoch, sondern auch im Vergleich zu den Erklärungsfaktoren der anderen Ursachenbündel. Somit hat die Tarifbindung einen sehr hohen Erklärungsgehalt für die Streuung der Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung in entwickelten Volkswirtschaften. Allerdings haben auch die Gewerkschaftsdichte sowie der Arbeitgeberorganisationsgrad mit 39% bzw. 40% einen vergleichsweise hohen Erklärungsgehalt in der bivariaten Analyse. Der Regressionskoeffizient des dichotomisierten Korporatismus Indikators zeigt an, dass Länder, die eine vollständige Konzertierung bzw. eine regelmäßige Beteiligung der Tarifparteien an wirtschafts- und sozialpolitischen Entscheidungen praktizieren, durchschnittlich 6,8% weniger Niedriglohnbeschäftigung haben als Länder, die keine oder unregelmäßige Konzertierung und Beteiligung praktizieren. Die Dummy-Variable zum Zentralisationsgrad der Tarifverhandlungen hat eine ähnliche Effektstärke. Länder, in denen die Lohnverhandlungen auf Sektorebene, übersektoraler oder nationaler Ebene geführt werden, haben im Durchschnitt einen um 7% kleineren Niedriglohnsektor als Länder, in denen die Lohnverhandlungen auf Unternehmens- oder Industrieebene geführt werden. Der Regressionskoeffizient der Dummy-Variable zum Koordinierungsmechanismus der Lohnverhandlungen zeigt an, dass Länder, in denen die Lohnverhandlungen oberhalb der betrieblichen Ebene stattfinden und in denen Spitzenverbände bzw. die Regierung an den Lohnverhandlungen beteiligt sind, durchschnittlich 8,8% weniger Niedriglohnbeschäftigte haben als Länder mit fragmentierten Lohnverhandlungen und schwachen Koordinierungsinstrumenten mit der Regierungsebene. 4.1.5 Institutionen der Wirtschafts-, Finanz- und Familienpolitik Während die Indikatoren zur Operationalisierung der Institutionen der Wirtschafts- und Finanzpolitik im Rahmen der linearen Einfachregressionen keinen oder nur einen schwachen Zusammenhang mit der Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung zeigen, weisen mehrere der familienpolitischen Institutionen einen starken Zusammenhang mit der abhängigen Variable auf (vgl. Tab. 4.7). Von den zwei Indikatoren zur Strenge der Produktmarktregulierung zeigt lediglich das Ausmaß wettbewerbseinschränkender Produktmarktregulierung im

178

4 Makro-quantitative Untersuchung der Ursachen von Niedriglohnbeschäftigung

Dienstleistungssektor einen schwach signifikanten Zusammenhang mit der Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung. Die statistische Effektrichtung dieses Erklärungsfaktors spiegelt die theoretische Erwartung, dass sich eine steigende Produktmarktregulierung negativ auf Angebot und Nachfrage nach Niedriglohnbeschäftigung auswirkt. Tabelle 4.7: Einfachregressionen mit Institutionen der Wirtschafts- und Familienpolitik Unabhängige Erwartete Empirische N βi SE(βi) R2 Variable86 Effektrichtung Effektrichtung Produktmarkt34 2,82 5,02 0,01 ‒ […] regulierung Produktmarkt34 -1,86(*) 0,96 0,11 ‒ ‒ regulierung (DLS) Steuerkeil 34 -0,09 0,13 0,02 ‒ […] Ausgaben für 30 -9,65** 2,64 0,32 ‒ ‒ Kinderbetreuung Kinderbetreuungsquote 34 -0,24** 0,06 0,34 ‒ ‒ Kinderbetreuungskosten 29 0,08 0,08 0,04 +/‒ […] (Paare) Kinderbetreuungskosten 29 0,19(*) 0,1 0,12 +/‒ + (Alleinerziehende) Abhängige Variable: Anteil der Niedriglohnbeschäftigten (in % aller abhängig Beschäftigten). Jahr: x̅ {2006, 2010}. Erklärung der Symbole: (+) positiver, (‒) negativer, ([…]) kein signifikanter Effekt. Signifikanzniveau: (*) = 0,1; * = 0,05; ** = 0,01.

Die Messung der Steuerbelastung niedriger Arbeitseinkommen anhand des durchschnittlichen Steuerkeils für kinderlose Singles, die zwei Drittel des Durchschnittslohns verdienen, zeigt dahingegen keinen signifikanten Zusammenhang mit der abhängigen Variable. Im Einklang mit den theoretischen Erwartungen haben die staatlichen Ausgaben für Kinderbetreuung sowie die Kinderbetreuungsquote von Kleinkindern in staatlichen Kinderbetreuungseinrichtungen einen starken negativen Wirkungszusammenhang mit der Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung und erklären mit 32% bzw. 34% einen relativ hohen Anteil der Streuung der abhängigen Variable. Die Höhe der privaten Kinderbetreuungskosten zeigt dahingegen einen deutlich geringeren Zusammenhang mit der Verbreitung von Niedriglohnbe86

Vgl. Tab. 3.7 für Operationalisierung und Datenquelle der unabhängigen Variablen.

4.1 Bivariate Analysen

179

schäftigung, denn sie zeigt lediglich für Alleinerziehende einen schwachen positiven Zusammenhang mit der abhängigen Variable. 4.1.6 Strukturelle Ursachen Zum Abschluss der bivariaten Datenanalysen wird der Zusammenhang zwischen den strukturellen Ursachen und der Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung untersucht. Tabelle 4.8: Einfachregressionen mit strukturellen Einflussfaktoren Unabhängige Erwartete Empirische N βi SE(βi) R2 Variable87 Effektrichtung Effektrichtung Arbeitslosenquote 34 0,93* 0,39 0,15 + + BIP-Wachstum 34 1,3(*) 0,74 0,09 ‒ + BIP-Wachstum 34 0,05 0,74 0,0 ‒ […] (Vorjahr) BIP-Wachstum 34 1,17(*) 0,64 0,1 ‒ + (Vorvorjahr) Informations- und Kom27 0,73 0,71 0,04 + […] munikationstechnologie Qualifikatorisches 32 0,61** 0,11 0,5 + + Lohngefälle Importe 34 0,24 0,16 0,07 + […] Dienstleistungssektor 34 -0,36** 0,12 0,22 + ‒ Öffentlicher Sektor 29 -0,56** 0,17 0,28 ‒ ‒ Ausländische Erwerbstätige 23 0,02 0,15 0,001 + […] Ausländische Bevölkerung 34 -0,08 0,14 0,01 + […] Wohlstandsniveau 34 -0,19** 0,05 0,33 ‒ ‒ Staatsquote 33 -0,56** 0,18 0,23 ‒ ‒ F&E (insgesamt) 34 -3,2** 1,07 0,22 ‒ ‒ Abhängige Variable: Anteil der Niedriglohnbeschäftigten (in % aller abhängig Beschäftigten). Jahr: x̅ {2006, 2010}. Erklärung der Symbole: (+) positiver, (‒) negativer, ([…]) kein signifikanter Effekt. Signifikanzniveau: (*) = 0,1; * = 0,05; ** = 0,01.

Makroökonomischer Kontext Die ersten vier Variablen in Tabelle 4.8 operationalisieren die makroökonomische Performanz des Arbeitsmarktes und der Gesamtwirtschaft. Von diesen vier Variablen zeigt die Arbeitslosenquote den stärksten Zusammenhang mit der 87

Vgl. Tab. 3.8 für Operationalisierung und Datenquelle der unabhängigen Variablen.

180

4 Makro-quantitative Untersuchung der Ursachen von Niedriglohnbeschäftigung

Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung. Auch die positive statistische Effektrichtung spiegelt die theoretische Erwartung, dass sich ein Anstieg der Arbeitslosenquote positiv auf die Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung auswirkt. Dahingegen zeigen die Wachstumsraten des Bruttoinlandsproduktes entweder nur einen schwach signifikanten Zusammenhang mit der abhängigen Variable (dies trifft für das BIP-Wachstum in den Jahren 2006/2010 und das BIPWachstum der Jahre 2004/2008 zu) oder sie zeigen keinen Zusammenhang. Entgegen der theoretischen Erwartung, dass ein hohes Wirtschaftswachstum die Nachfrage nach dem Produktionsfaktor Arbeit steigert und sich positiv auf die Lohnhöhe und negativ auf den Anteil der Niedriglohnbeschäftigten auswirkt, ist die statistische Wirkungsrichtung von beiden signifikanten Indikatoren positiv, d.h. Länder mit einem hohen Wirtschaftswachstum haben einen größeren Anteil an Niedriglohnbeschäftigten als Länder mit geringem Wirtschaftswachstum. Um mögliche Ursachen dieses theoretisch unerwarteten Variablenzusammenhangs zu identifizieren, stellt das Streudiagramm in Abbildung 4.3 die Daten des Regressionsmodells mit der unabhängigen Variable „BIP-Wachstum (Vorvor88 jahr)“ dar. Die gestrichelte horizontale Linie in Abbildung 4.3 bildet die durchschnittliche Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung der between-transformierten Daten der Jahre 2006 und 2010 ab. Die gestrichelte vertikale Linie bildet das durchschnittliche Wirtschaftswachstum der between-transformierten Daten der Jahre 2004 und 2008 ab. Durch die Visualisierung der Mittelwerte wird ersichtlich, dass die positive Variablenbeziehung primär durch mittelosteuropäische Länder verursacht wird. Nahezu alle mittelosteuropäischen Länder (bis auf Estland und Lettland) haben sowohl ein überdurchschnittliches Wirtschaftswachstum als auch einen überdurchschnittlich großen Niedriglohnsektor. Israel ist das einzige nicht mittelosteuropäische Land, das ebenfalls diese Charakteristika aufweist. Wenn die mittelosteuropäischen Länder aus der linearen Einfachregression in Tabelle 4.8 ausgeschlossen werden, verschwindet der schwach signifikante

88

Der Grund für die Auswahl des BIP-Wachstums im Vorvorjahr (d.h. also das BIP-Wachstum der Jahre 2004 und 2008) anstatt des BIP-Wachstums der Jahre 2006 und 2010 liegt darin, dass aus theoretischer Perspektive eher von der zeitverzögerten Variable ein Effekt auf die Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung zu erwarten ist, da der Arbeitsmarkt immer mit Zeitverzögerung auf konjunkturelle Entwicklungen reagiert.

4.1 Bivariate Analysen

181

Zusammenhang zwischen dem Wirtschaftswachstum und der Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung.

Abbildung 4.3: Niedriglohnbeschäftigung und Wirtschaftswachstum

Die neoklassische Wachstumstheorie bietet eine Erklärung für das überdurchschnittlich hohe Wirtschaftswachstum der mittelosteuropäischen Länder. Diese Theorie besagt, dass Wirtschaftswachstum durch einen Anstieg des Kapitaleinsatzes, eine Zunahme des Arbeitseinsatzes und/ oder technischen Fortschritt entsteht. Während das durchschnittliche BIP pro Kopf in den zehn mittelosteuropäischen Ländern (inklusive Estland und Lettland) 11.900 US-Dollar beträgt, haben die restlichen 24 entwickelten Volkswirtschaften ein durchschnittliches 89 BIP pro Kopf von 43.780 US-Dollar. Folglich sind die mittelosteuropäischen Volkswirtschaften relativ arm im Vergleich zu den übrigen entwickelten Volkswirtschaften. Gemäß der neoklassischen Wachstumstheorie sind arme Länder deshalb arm, weil sie entweder einen geringen Kapitalbestand aufweisen oder weil sie technologisch weniger fortgeschritten sind als andere Länder. Beide 89

Die Werte für das BIP pro Kopf sind between-transformierte Daten der Jahre 2006 und 2010.

182

4 Makro-quantitative Untersuchung der Ursachen von Niedriglohnbeschäftigung

Charakteristika treffen auf die Länder Mittelosteuropas nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und der danach stattfindenden Systemtransformation zu. Vor diesem Hintergrund können die hohen Wirtschaftswachstumsraten der mittelosteuropäischen Länder aus neoklassischer Perspektive zwei Ursachen haben: Zum einen kann das hohe Wirtschaftswachstum die Anpassung des Verhältnisses von Kapital zu effektiver Arbeit an ein höheres Niveau widerspiegeln. Dies bedeutet, dass ausgehend von einem geringen Kapitalbestand, der Kapitalbestand in mittelosteuropäischen Volkswirtschaften schneller wächst als in jenen Ländern, deren Produktion sich bereits durch einen hohen Einsatz des Produktionsfaktors Kapital auszeichnet. Zum anderen kann die Ursache des hohen Wirtschaftswachstums auch in einer höheren Rate des technischen Fortschritts und dem damit verbundenen Anstieg der Gesamtfaktorproduktivität (bei konstantem Einsatz von Kapital und Arbeit) liegen. Ausgegend von einer geringen Technologieintensität der Produktion kann technischer Fortschritt sowohl durch den Import von Technologien aus weiterentwickelten Ländern als auch durch eigne Forschungs- und Entwicklungsanstrengungen entstehen. Beide Erklärungen schließen sich nicht gegenseitig aus. Im Falle der mitteosteuropäischen Länder ist sogar davon auszugehen, dass beide Mechanismen Triebfedern der hohen Wachstumsraten sind (Blanchard/Illing 2007: 357-359; Burda/Severgnini 2009). Qualifikationsverzerrter technologischer Wandel Der qualifikationsverzerrte technologische Wandel bildet die zweite Subgruppe struktureller Ursachen der Niedriglohnbeschäftigung. Von den zwei Indikatoren zur Operationalisierung dieses Einflussfaktors zeigt das qualifikatorische Lohngefälle, aber nicht die Bruttowertschöpfung der Informations- und Kommunikationstechnologie, einen signifikanten Zusammenhang mit der Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung. Das qualifikatorische Lohngefälle hat einen hoch signifikanten Zusammenhang mit der abhängigen Variable und erklärt 50% ihrer Streuung. Damit hat das qualifikatorische Lohngefälle auch im Vergleich zu Einflussfaktoren anderer Ursachenbündel einen relativ hohen empirischen Erklärungsgehalt. Darüber hinaus entspricht die statistische Effektrichtung den theoretischen Erwartungen, denn je größer der relative Abstand zwischen dem Medianeinkommen mittel qualifizierter Arbeitnehmer und dem Medianeinkommen geringqualifizierter Arbeitnehmer, desto höher ist die Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung in den beobachteten Ländern.

4.1 Bivariate Analysen

183

Globalisierung Die Globalisierung der Gütermärkte bzw. der zunehmende Handel mit Entwicklungs- und Schwellenländern wird anhand des Anteils der Importe aus Entwicklungs- und Schwellenländern operationalisiert. Der Befund, dass dieser Indikator keinen signifikanten Zusammengang mit der Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung aufweist, reflektiert die in Kapitel 3.3 erwähnten Zweifel, dass internationale Megatrends wie die Globalisierung der Gütermärkte zwischenstaatliche Varianz struktureller Arbeitsmarktergebnisse erklären können. Wirtschaftssektoren Die vierte Subgruppe struktureller Ursachen von Niedriglohnbeschäftigung bezieht sich auf den Einfluss des Beschäftigtenanteils im Dienstleistungssektor sowie dem öffentlichen Sektor. Wie bereits in Kapitel 3.3 erörtert, besteht keine direkte Ursache-Wirkungsbeziehung zwischen der Größe dieser zwei Sektoren und der Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung. Stattdessen basiert die Erwartung, dass im Dienstleistungssektor überproportional viele Arbeitnehmer niedrig entlohnt werden auf den Argumenten, dass im Dienstleistungssektor einerseits viele qualifikatorisch anspruchslose Servicejobs existieren und andererseits der gewerkschaftliche Organisationsgrad sehr gering sei. Dahingegen beruht die Erwartung, dass Niedriglohnbeschäftigung im öffentlichen Sektor ein relativ seltenes Phänomen sei, auf den Argumenten, dass das Entgeltssystem im öffentlichen Sektor transparenter sei als in der Privatwirtschaft, die Tarifbindung vergleichsweise hoch sei und darüber hinaus Gewerkschaften leichter eine solidarische Lohnpolitik praktizieren könnten als in der Privatwirtschaft. In Tabelle 4.8 wird ersichtlich, dass sowohl die Größe des öffentlichen Sektors als auch die Größe des Dienstleistungssektors einen stark signifikanten Zusammenhang mit der abhängigen Variable aufweisen. Während die negative statistische Effektrichtung zwischen dem Beschäftigtenanteil im öffentlichen Dienst und der Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung den theoretischen Erwartungen entspricht, widerspricht der negative Wirkungszusammenhang zwischen dem Beschäftigtenanteil im Dienstleistungssektor und der Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung den theoretischen Erwartungen. Das Streudiagramm in Abbildung 4.4 visualisiert den Zusammenhang zwischen dem Beschäftigtenanteil im Dienstleitungssektor und der Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung für die between-transformierten Daten der Jahre 2006 und 2010.

184

4 Makro-quantitative Untersuchung der Ursachen von Niedriglohnbeschäftigung

Abbildung 4.4: Beschäftigtenanteil im Dienstleistungssektor und Niedriglohnbeschäftigung

Das Streudiagramm verdeutlicht, dass in Ländern mit einem sehr hohen Beschäftigtenanteil im Dienstleistungssektor, eine extrem hohe Varianz bei der Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung exisitiert. Diese Beobachtung lässt darauf schließen, dass der Dienstleistungssektor als analytische Kategorie zur Erklärung der Verbreitung von Niedirglohnbeschäftigung zu breit ist, da dieser Sektor ein sehr großes Spektrum an Tätigkeiten und Berufen umfasst. Folglich bestimmen andere Erklärungsfaktoren als die Tatsache, dass es sich um eine Beschäftigung im Dienstleistungssektor handelt, das Lohnniveau und die Einkommensverteilung im Dienstleistungssektor. Arbeitsmigration Die fünfte Subgruppe struktureller Ursachen von Niedriglohnbeschäftigung fokussiert Arbeitsmigration. Aus theoretischer Perspektive ist zu erwarten, dass ein positiver Zusammenhang zwischen dem Ausmaß der Arbeitsmigration und der Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung existiert, sofern Arbeitsmigranten ein durchschnittlich geringeres Qualifikationsniveau haben als die Erwerbs-

4.1 Bivariate Analysen

185

personen des Zuwanderungslandes und zudem die Anzahl der Arbeitsmigranten hoch genug ist, um die qualifikatorische Zusammensetzung des Arbeitsangebotes stark zu verändern. Da keine ländervergleichenden Daten über das Qualifikationsniveau von Arbeitsmigranten zur Verfügung stehen, kann hier nur der Einfluss der Anzahl von Arbeitsmigranten untersucht werden. Von den Indikatoren zur Messung dieses Einflussfaktors zeigt allerdings weder der Anteil ausländischer Erwerbstätiger noch der Anteil im Ausland geborener Bevölkerung einen signifikanten Zusammenhang mit der abhängigen Variable. Strukturelle Kontrollvariablen Die letzten drei Variablen in Tabelle 4.8 sind strukturelle Kontrollvariablen. Alle drei Variablen zeigen einen hoch signifikanten und negativen Zusammenhang mit der Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung und entsprechen somit den theoretischen Erwartungen über ihre Wirkungsrichtung: Sowohl ein höheres Wohlstandsniveau der Bevölkerung als auch eine höhere Staatsquote sowie höhere Ausgaben für Forschung und Entwicklung stehen in einem negativen Zusammenhang mit der Größe des Niedriglohnsektors. 4.1.7 Zusammenfassung der Analyseergebnisse Die bivariaten Regressionsanalysen haben zum einen die Frage untersucht, welche theoretisch begründeten Erklärungsfaktoren einen signifikanten statistischen Zusammenhang mit der Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung zeigen. Zum anderen wurde untersucht, ob die theoretisch erwartete Wirkungsrichtung der Erklärungsfaktoren mit den statistischen Effektrichtungen übereinstimmen. Insgesamt zeigt die bivariate Aggregatdatenanalyse, dass 60% der untersuchten Indikatoren einen signifikanten Zusammenhang mit der abhängigen Variable 90 aufweisen. Bei 29 von 34 signifikanten Erklärungsfaktoren entspricht die statistische Effektrichtung der theoretisch erwarteten Wirkungsrichtung. Bei den fünf Indikatoren, die einen theoretisch unerwarteten Wirkungszusammenhang

90

Von insgesamt 56 unabhängigen Variablen (inklusive der drei Kontrollvariablen) zeigen 34 Variablen einen mindestens auf dem 10%-Niveau signifikanten Zusammenhang mit der abhängigen Variable.

186

4 Makro-quantitative Untersuchung der Ursachen von Niedriglohnbeschäftigung 91

mit der Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung zeigen, können jeweils plausible Ursachen dieser Abweichungen identifiziert werden. Der Vergleich der Bestimmtheitsmaße der linearen Einfachregressionsmodelle zeigt, dass die Tarifbindung mit 54% den höchsten Anteil der Streuung der abhängigen Variable erklären kann. Eine ähnlich hohe Varianzaufklärung, nämlich 50%, erreicht nur das qualifikatorische Lohngefälle zwischen Arbeitnehmern mit niedrigem und mittlerem Bildungsniveau. Aus dem Ursachenbündel staatlicher Arbeitsmarktinstitutionen haben die Ausgaben für aktive Arbeitsmarktpolitik sowie der Mindestlohn-Dummy die höchste Varianzaufklärung mit 39% bzw. 33%. Ein weiterer Erkenntnisgewinn der bivariaten Datenanalyse ist die Darstellung der Bedeutung des Phänomens des institutionellen Dualismus der Beschäftigungsregulierung für die Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung. 4.2 Variablenreduktion durch Hauptkomponentenanalysen Nach den bivariaten Analysen richtet sich der Fokus auf die Untersuchung der Erklärungskraft staatlicher Arbeitsmarktinstitutionen im Vergleich zu anderen (institutionellen) Ursachen von Niedriglohnbeschäftigung. Zunächst muss allerdings das „viele Variablen - kleines N“- Dilemma gelöst werden. Diese Aufgabe übernimmt Kapitel 4.2. Mit Hilfe der Methode der Hauptkomponentenanalyse wird die Anzahl erklärender Variablen von 56 auf 12 reduziert. Nachfolgend stellt Kapitel 4.2.1 kurz die Grundidee sowie das methodische Vorgehen der Hauptkomponentenanalyse vor. Anschließend wird die methodische Ausprägung der vorliegenden Hauptkomponentenanalyse erörtert. In Kapitel 4.2.2 werden die Analyseergebnisse dokumentiert und die zwölf Hauptkomponenten inhaltlich interpretiert. 4.2.1 Methodische Vorbemerkungen Die Hauptkomponentenanalyse (HKA) ist ein multivariates Analyseverfahren, um Strukturen in großen Variablensets zu erkennen. Ihr Ziel besteht in der Identifikation nicht direkt beobachtbarer Dimensionen (bzw. latenter Variablen), die sich hinter den beobachteten Daten, d.h. also den manifesten Variablen, verbergen. Abbildung 4.5 illustriert die Grundidee der Hauptkomponentenanalyse. 91

Anteil geringqualifizierter Erwerbspersonen, Existenz von gesetzlichen Mindestlöhnen, BIPWachstum und BIP-Wachstum (Vorvorjahr), Beschäftigtenanteil im Dienstleistungssektor.

4.2 Variablenreduktion durch Hauptkomponentenanalysen

Manifeste Variablen

Latente Variablen:

Variable 1

Variable 2

Hauptkomponente 1

Variable 3

187

Variable 4

Hauptkomponente 2

Abbildung 4.5: Grundidee der Hauptkomponentenanalyse

Hauptkomponenten, häufig auch nur als Komponenten bezeichnet, sind Linear92 kombinationen der manifesten Variablen. Jede Komponente kann sowohl hinsichtlich ihrer konstitutiven Variablen als auch in Bezug auf die relative Bedeutung dieser Variablen für die Komponente analysiert werden (Backhaus et al. 2011: 330; Field 2009: 632). Als Grundlage der Identifikation von Hauptkomponenten dient die Korrelati93 onsmatrix der manifesten Variablen. Mit Hilfe der Korrelationsmatrix können hoch korrelierte Variablengruppen erkannt und von anderen Gruppen unter94 schieden werden. Die Identifikation der Komponenten ist ein iterativer Analyseprozess. Die erste Komponente umfasst die am stärksten untereinander korrelierten Variablen und erklärt dementsprechend auch den größtmöglichen 92 93 94

Hauptkomponentei = b1 Variable1i + b2 Variable2i + … + bn Variableni + ɛi Die manifesten Variablen müssen metrisch oder dichotom skaliert sein. Vor der Durchführung der HKA ist zu überprüfen, ob der Datensatz überhaupt für diese Analysemethode geeignet ist. Die Eignung des Verfahrens hängt im Wesentlichen davon ab, ob die manifesten Variablen ausreichend hoch untereinander korreliert sind. Für die Überprüfung der Variablenzusammengehörigkeit eignen sich das Kaiser-Meyer-Olkin-Kriterium (KMO) sowie der Bartlett-Test auf Sphärizität. Das KMO-Kriterium, dessen Wertebereich zwischen 0 und 1 liegt, misst die Interkorrelation zwischen allen manifesten Variablen. Je näher der Wert an 1 liegt, desto geeigneter ist das Variablenset für eine Hauptkomponentenanalyse. Nimmt das Kriterium einen Wert unterhalb von 0,5 an, deutet dies darauf hin, dass der Anteil der Varianz, der nicht durch partielle Korrelationen erklärt wird, zu hoch ist, als dass der Datensatz für das Verfahren geeignet wäre. Bei Werten zwischen 0,5 - 0,7 gilt der Datensatz als akzeptabel, bei Werten zwischen 0,7 - 0,8 gilt das Variablenset als gut und bei Werte oberhalb von 0,8 werden die Variablen als sehr geeignet klassifiziert (Field 2009: 647; Hildebrandt et al. 2015: 50). Der Bartlett-Test auf Sphärizität prüft die gesamte Korrelationsmatrix auf Signifikanz. Dabei lautet die Nullhypothese, dass sich die Korrelationsmatrix der Ausgangsvariablen nicht von einer Zufallsdatenmatrix unterscheidet. Bei einem signifikanten Testergebnis, kann die Nullhypothese mit einer Irrtumswahrscheinlichkeit von höchstens 5% verworfen werden und es ist davon auszugehen, dass systematische Zusammenhänge zwischen den Variablen existieren (Field 2009: 660; Wolff/Bacher 2010: 341).

188

4 Makro-quantitative Untersuchung der Ursachen von Niedriglohnbeschäftigung

Anteil der Varianz aller Variablen. Nach der Extraktion der ersten Komponente, bindet die zweite Komponente den größtmöglichen Anteil der nicht-erklärten Reststreuung. Die Anzahl der Hauptkomponenten wird mittels des KaiserKriteriums bestimmt. Dieses Kriterium besagt, dass der Extraktionsvorgang so lange wiederholt wird, bis der Eigenwert der zuletzt ermittelten Hauptkompo95 nente kleiner als Eins ist. Im Idealfall sollte die Anzahl der extrahierten Komponenten der Anzahl der theoretisch erwarteten latenten Variablen entsprechen (Hildebrandt et al. 2015: 47ff.). Da Hauptkomponenten in der Regel aus mehreren Variablen bestehen, müssen sie inhaltlich interpretiert werden. Zu diesem Zweck werden Komponentenladungen berechnet. Die Komponentenladung misst die Korrelation zwischen einer Komponente und den einzelnen manifesten Variablen aus denen sich die Komponente zusammensetzt. Ihr Wertebereich liegt zwischen -1 und +1. Je stärker eine manifeste Variable auf eine Komponente lädt, desto größer ist ihre relative Bedeutung für die Interpretation der Komponente (Backhaus et al. 2011: 334). Wenn in dem iterativen Analyseprozess mehr als eine Komponente extrahiert wird, besteht häufig das Problem, dass Variablen auf mehrere Komponenten gleichzeitig laden (vgl. Variable 3 in Abb. 4.5). Eine solche Konstellation erschwert die inhaltliche Interpretation der Komponenten. Aus diesem Grund werden die Komponentenladungen mittels eines Rotationsverfahrens so transformiert, dass jede manifeste Variable möglichst eindeutig auf eine Komponen96 te lädt. Die Rotation der Komponentenladung kann entweder orthogonal 95

96

Der Eigenwert gibt an, welchen Anteil der Gesamtstreuung der Ausgangsvariablen eine Hauptkomponente aufklärt. Zum besseren Verständnis dieser Kennzahl, kann die Höhe eines Eigenwertes auch als Erklärungsgehalt einer Komponente in „Variableneinheiten“ interpretiert werden: Eine Komponente mit einem Eigenwert von 2 erklärt so viel wie 2 manifeste Variablen. Eine Komponente mit einem Eigenwert von 1 erklärt so viel wie eine manifeste Variablen. Ist der Eigenwert einer Komponente kleiner als 1, so erklärt die Komponente weniger als eine einzige manifeste Variable. Dies läuft dem Ziel der Variablenreduktion zuwider. Folglich ist es nicht sinnvoll Komponenten mit Eigenwerten unter 1 zu interpretieren. Die Eigenwerte können ferner auch als Prozentsatz der erklärten Varianz dargestellt werden. Da die Komponenten nach dem Prinzip der sukzessiven Varianzmaximierung extrahiert werden, nehmen sowohl die Eigenwerte als auch der prozentual erklärte Varianzanteil der Komponenten mit jeder weiteren extrahierten Komponente ab (Hildebrandt et al. 2015: 49; Wolff/Bacher 2010: 341). Der Begriff „Rotation“ bezieht sich auf die visuelle Vorstellung, dass sich die Komponentenladungen in einem Koordinatensystem darstellen lassen und ihre Transformation einem Drehen der Achsen dieses Koordinatensystems entspricht (Hildebrandt et al. 2015: 53).

4.2 Variablenreduktion durch Hauptkomponentenanalysen

189

(rechtwinklig) oder oblique (schiefwinklig) durchgeführt werden. Der wesentliche Unterschied zwischen diesen zwei Rotationsmethoden besteht darin, dass bei der orthogonalen Methode die Komponenten untereinander unkorreliert bleiben während bei der schiefwinkligen Methode Korrelationen zwischen den Komponenten zugelassen werden. Insbesondere im Kontext sozialwissenschaftlicher Forschung gilt die schiefwinklige Rotationsmethode als realitätsnäher, da die Annahme einer vollständigen Unabhängigkeit der latenten Variablen zumeist unrealistisch ist (Field 2009: 642ff.; Hildebrandt et al. 2015: 53). Nach der Extraktion der Hauptkomponenten können für jede Untersuchungseinheit Komponentenwerte berechnet werden. Komponentenwerte sind Linearkombinationen der standardisierten Merkmalswerte der manifesten Variablen und somit standardisierte bzw. dimensionslose Merkmalsausprägungen der Komponenten. So wie jede Untersuchungseinheit eine spezifische Merkmalsauprägung hinsichtlich der manifesten Variablen aufweist, so hat auch jede Untersuchungseinheit eine spezifische Merkmalsauprägung auf den extrahierten Komponenten. Dementsprechend sind Komponentenwerte als Maß des hypothetischen Konstrukts zu verstehen und „stellen somit eine Reduktion einzelner Werte in manifesten Variablen zu einem Wert in diesem Konstrukt dar“ (Wolff/Bacher 2010: 347). Insofern eignen sich die Komponentenwerte als Daten für weitere multivariate Analyseverfahren wie Regressionsanalysen. Auf Grundlage dieser allgemeinen Darstellung der Methode der Hauptkomponentenanalyse, werden nachfolgend die methodischen Spezifika der Hauptkomponentenanalyse dieses Kapitels dargestellt. Ebenso wie die linearen Einfachregressionen in Kapitel 4.1, basiert auch die HKA auf den between-transformierten Variablenwerten der Jahre 2006 und 2010. Folglich bilden die extrahierten Komponenten Linearkombinationen der Variablenmittelwerte von 2006 und 2010 ab. Für die Berechnung von Hauptkomponentenanalysen bedarf es eines möglichst lückenlosen Datensatzes, da fehlende Werte bei den manifesten Variablen fehlende Komponentenwerte verursachen können. Fehlende Komponentenwerte würden im Rahmen dieser Arbeit insofern ein Problem darstellen, als dass die Komponentenwerte in Kapitel 4.3 zur Berechnung multipler Regressionsanalysen verwendet werden sollen. Da die Indikatoren zur Operationalisierung der Erklärungsfaktoren starke Unterschiede

190

4 Makro-quantitative Untersuchung der Ursachen von Niedriglohnbeschäftigung 97

hinsichtlich der Anzahl der Beobachtungen aufweisen, muss der Datensatz sowohl von Ländern als auch von Variablen mit auffällig vielen fehlenden Werten bereinigt werden. Aus diesem Grund werden Bulgarien, Lettland, Litauen, Rumänien und Island aus der Analyse ausgeschlossen. Nach dem Ausschluss dieser fünf Länder stehen noch 29 Länder als Untersuchungseinheiten zur Verfügung. Für Hauptkomponentenanalysen ist eine Fallzahl von 29 Ländern zwar gering, aber die Durchführung dieses Analyseverfahrens mit kleiner Fallzahl (ab 18 Fällen) ist keine methodische Seltenheit in makro-quantitativen Untersuchungen (Jahn 2006: 363f.). Trotz des Ausschlusses der fünf Länder, existieren weiterhin in jedem Ursachenbündel Variablen, die mehr als zwei fehlende Wer98 te aufweisen. Diese Variablen werden aus dem Datensatz ausgeschlossen. Nach der Bereinigung des Datensatzes bleiben 43 Variablen von den ursprünglich 56 Variablen übrig. Trotz des Ausschlusses von dreizehn Variablen, werden weiterhin alle Erklärungsfaktoren durch mindestens einen Indikator operationalisiert, d.h. keiner der im dritten Kapitel diskutierten theoretischen Erklärungsfaktoren wird aus der empirischen Analyse ausgeschlossen. Von den 43 verbleibenden Variablen weisen lediglich das qualifikatorische Lohngefälle sowie die Kinderbetreuungskosten für Paare und Alleinerziehende ein bis zwei fehlende Werte auf. Diese fehlenden Werte werden durch das arithmetische Mittel aller Beobachtungen der jeweiligen Variable ersetzt. Dieses Vorgehen birgt zwar den Nachteil, dass es tendenziell eine Überschätzung der Signifikanz der Analyseergebnisse verursacht, aber in Anbetracht der geringen Anzahl fehlender Werte, ist keine starke Verzerrung der Analyseergebnisse zu erwarten. Darüber hinaus sind alternative Verfahren zum Umgang mit fehlenden Werten, wie der listenweise oder paarweise Fallausschluss, mit noch größeren Nachteilen verbunden. Bei dem listenweisen Fallausschluss werden ganze Untersuchungseinheiten aus der Berechnung ausgeschlossen, wenn sie bei einer Variable einen fehlenden Wert aufweisen. Angesichts der geringen Fallzahl bewirkt dieses Vorgehen einen zu großen Datenverlust. Auch der paarweise Fallausschluss ist keine sinnvolle Option, denn der Ausschluss von Variab-

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Die Tabellen mit den Darstellungen der Einfachregressionen in Kapitel 4.1 zeigen, dass die Anzahl der Beobachtungen zwischen N = 21 und N = 34 Beobachtungen schwankt. Aus der HKA ausgeschlossene Variablen: HighTech-Firmen, LowTech-Firmen, Weiterbildung, ALG (Familie), ALG (Dauer), ALG (Anspruch), ALG (Generosität), Höhe des Mindestlohns, Autonomie der Gleichstellungsstellen, Strenge der Antidiskriminierungsgesetze, Arbeitgeberorganisationsgrad, Informations- und Kommunikationstechnologie, Ausländische Erwerbstätige.

4.2 Variablenreduktion durch Hauptkomponentenanalysen

191

lenpaaren verursacht fehlende Komponentenwerte, die wiederum für die Regressionsanalysen in Kapitel 4.3 ein Problem darstellen (Field 2009: 654). Für Hauptkomponentenanalysen existiert kein allgemeingültiges Kriterium über ein optimales Verhältnis zwischen der Anzahl von Untersuchungseinheiten und der Anzahl manifester Variablen. Eine gelegentlich aufgeführte Faustregel besagt, dass die Anzahl der Untersuchungseinheiten dreimal so groß sein sollte wie die Anzahl der manifesten Variablen (Rudolf/Müller 2012: 316). Dementsprechend dürften bei 29 Untersuchungseinheiten maximal zwischen 9 und 10 manifeste Variablen in eine HKA aufgenommen werden. Da selbst nach der Bereinigung des Datensatzes noch 43 Variablen verbleiben, ist die Anzahl manifester Variablen zu groß für eine HKA mit 29 Untersuchungseinheiten. Darüber hinaus ist auch aus methodologischer Perspektive nicht zu erwarten, dass die Berechnung einer HKA mit allen 43 Variablen inhaltlich sinnvolle Ergebnisse liefert, denn die Extraktion der Komponenten beruht auf keiner inhaltlichen Logik, sondern folgt der algebraischen Logik der sukzessiven Varianzmaximierung (Wolff/Bacher 2010: 339). Aus diesen Gründen ist es notwendig die manifesten Variablen in Subgruppen zu unterteilen, von denen theoretisch begründet erwartet werden kann, dass sie Teil eines hypothetischen Konstruktes sind, das den manifesten Variablen zugrunde liegt. Für diese Aufgliederung des Variablensets eignen sich die unterschiedlichen Ursachenbündel, d.h. also aus theoretischer Perspektive inhaltlich zusammengehörige Erklärungsfaktoren für die Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung. Dementsprechend wird in Kapitel 4.2.2 für jedes Ursachenbündel eine separate HKA berechnet (ursachenbündelspezifische Hauptkomponentenanalysen). Der Vorteil dieser Vorgehensweise besteht darin, dass die Wahrscheinlichkeit der Extraktion inhaltlich sinnvoll interpretierbarer Komponenten steigt. Der letzte Kommentar zu den methodischen Spezifika der nachfolgenden Hauptkomponentenanalysen bezieht sich auf das Rotationsverfahren. Grundsätzlich sollte die Auswahl des Rotationsverfahrens von den Zielen der Analyse sowie inhaltlichen Überlegungen geleitet sein (Wolff/Bacher 2010: 346). Während die schiefwinklige Rotation Korrelationen zwischen den Komponenten zulässt, bleiben die Komponenten bei der rechtwinkligen Rotation gänzlich unkorreliert. Da die nachfolgenden Hauptkomponentenanalysen auf Grundlage inhaltlich zusammengehöriger Ausgangsvariablen berechnet werden, wäre es aus theoretischer Perspektive unrealistisch anzunehmen, dass die aus einem Ursachenbündel extrahierten Komponenten untereinander unkorreliert sind.

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4 Makro-quantitative Untersuchung der Ursachen von Niedriglohnbeschäftigung

Vor diesem Hintergrund ist zu erwarten, dass die schiefwinklige Rotation bessere Analyseergebnisse generiert, d.h. besser interpretierbare hypothetische Konstrukte hervorbringt. Folglich wird das schiefwinklige Rotationsverfahren verwendet. 4.2.2 Analyseergebnisse der Hauptkomponentenanalysen Kapitel 4.2.2 dokumentiert die Analyseergebnisse der ursachenbündelspezifischen Hauptkomponentenanalysen. Zu diesem Zweck werden für jede HKA die extrahierten Komponenten einschließlich ihrer Ladungen und Eigenwerte sowie das Kaiser-Meyer-Olkin-Kriterium und der Bartlett-Test auf Sphärizität tabellarisch dargestellt. Die Dokumentation des KMO-Kriteriums sowie des BartlettTests sind wichtig, da diese Kennzahlen die Eignung eines Variablensets für das Analyseverfahren überprüfen: Ab einem KMO-Wert von mindestens 0,5 gilt die Interkorrelation der manifesten Variablen als hoch genug, um eine HKA berechnen zu können. Ab einer Irrtumswahrscheinlichkeit von α = 5% kann die Nullhypothese des Bartlett-Tests abgelehnt werden, d.h. die Korrelationsmatrix der manifesten Variablen unterscheidet sich signifikant von einer Zufallsdatenmatrix (vgl. Kap. 4.2.1). Für die inhaltliche Interpretation einer Komponente müssen Gemeinsamkeiten zwischen jenen manifesten Variablen gefunden werden, die hoch auf die Komponente laden. Wenn eine manifeste Variable im Betrag hoch auf eine Komponente lädt, so zeigt dies, dass die (Streuung) der manifesten Variable in hohem Maße durch die Komponente erklärt wird (Wolff/Bacher 2010: 345). Da keine Signifikanztests für Komponentenladungen durchgeführt werden können, existieren in der einschlägigen methodischen Literatur unterschiedliche Empfehlungen, ab welchem Wert von einer „hohen Ladung“ gesprochen werden kann. Allgemeine Akzeptanz findet die Faustregel, dass Ladungen mit einem Betrag unter 0,3 nicht als bedeutsam für die Interpretation der Komponente betrachtet werde sollten (Field 2009: 644f.; Wolff/Bacher 2010: 346). Dieser Regel wird sich hier angeschlossen und zudem der Empfehlung von Field 2009 gefolgt, nur Ladungen mit einem Betrag über 0,4 zu interpretieren. Darüber hinaus werden aus Gründen der Übersichtlichkeit keine Ladungen mit einem Betrag von ≤ 0,3 in den Tabellen angegeben.

4.2 Variablenreduktion durch Hauptkomponentenanalysen

193

Hauptkomponentenanalyse mit akteursspezifischen Erklärungsfaktoren Die erste ursachenbündelspezifische Hauptkomponentenanalyse umfasst sechs akteursspezifische manifeste Variablen. Alle wesentlichen Kennzahlen dieser HKA sind in Tabelle 4.9 dokumentiert. Das KMO-Kriterium erreicht mit einem Wert von 0,54 nur knapp jenen Wertebereich, bei dem die Interkorrelation der manifesten Variablen hoch genug ist, um eine HKA zu berechnen. Da der Bartlett-Test auf Sphärizität jedoch ein hoch signifikantes Testergebnis aufweist, unterscheidet sich der Datensatz signifikant von einer Zufallsdatenmatrix. Somit eignet sich das Ursachenbündel akteursspezifischer Variablen für die Berechnung einer HKA. Im Prozess der sukzessiven Varianzmaximierung werden zwei Komponenten mit Eigenwerten ≥ 1 extrahiert. Mit einem Eigenwert von 2,48 erklärt die erste Komponente fast so viel Varianz wie zweieinhalb manifeste Variablen. Dies entspricht einem prozentual erklärten Varianzanteil von 41,3%. Da die zweite Komponente den größtmöglichen Anteil der nicht-erklärten Reststreuung bindet, ist ihr Eigenwert mit einem Wert von 1,64 kleiner als der Eigenwert der ersten Komponente. Gemeinsam erklären beide Komponenten 68,6% der Varianz der manifesten Variablen. Die rotierten Komponentenladungen zeigen, dass alle manifesten Variablen deutlich auf einer der beiden Komponenten laden. Tabelle 4.9: Hauptkomponentenanalyse mit akteursspezifischen Erklärungsfaktoren Rotierte Ladungen Manifeste Variable HK_Highroad HK_Humankapital F&E (Industrie) 0,82 Arbeitsproduktivität 0,77 Hochqualifizierte 0,69 HighTech-Exporte 0,63 Geringqualifizierte 0,92 Schuljahre -0,89 Eigenwert 2,48 1,64 % der Varianz 41,3 27,3 KMO-Kriterium = 0,54 Signifikanz nach Bartlett: p < 0,001

Die Variable der industriefinanzierten Bruttoinlandsaufwendungen für Forschung und Entwicklung lädt am stärksten auf die erste Komponente. Auch die anderen manifesten Variablen der ersten Komponente operationalisieren ent-

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4 Makro-quantitative Untersuchung der Ursachen von Niedriglohnbeschäftigung

weder direkt die „high-road“-Wettbewerbsstrategie (Exportanteil im Hochtechnologiebereich) oder ihre steigenden Merkmalsausprägungen fördern die „highroad“-Wettbewerbsstrategie (dies gilt für den Anteil hoch qualifizierter Erwerbspersonen) bzw. sind Ausdruck dieser unternehmerischen Wettbewerbsstrategie (dies gilt für die Arbeitsproduktivität). Vor diesem Hintergrund wird die erste Komponente als hypothetisches Konstrukt der „high-road“- Wettbewerbsstrategie interpretiert. Nachfolgend wird diese latente Variable als 99 „HK_Highroad“ bezeichnet. Die zweite Komponente besteht aus zwei manifesten Variablen zur Messung der aggregierten Humankapitalausstattung: Anteil der Erwerbspersonen mit Hauptschulbildung als höchstem Bildungsabschluss sowie durchschnittliche Dauer der Schulbildung. Beide Variablen laden sehr stark auf die Komponen100 te. Vor diesem Hintergrund wird die zweite Komponente als hypothetisches Konstrukt der Humankapitalausstattung der Erwerbspersonen interpretiert. Nachfolgend wird diese latente Variable als „HK_Humankapital“ bezeichnet. Hauptkomponentenanalyse mit Institutionen der staatlichen Arbeitsmarktpolitik Die zweite ursachenbündelspezifische HKA umfasst sechs manifeste Variablen zur Operationalisierung der Institutionen der staatlichen Arbeitsmarktpolitik. Alle wesentlichen Kennzahlen dieser HKA sind in Tabelle 4.10 dokumentiert. Von den Indikatoren zur Operationalisierung der aktivierenden Arbeitsmarktpolitik können nicht alle Indikatoren in die HKA aufgenommen werden, da eine 101 perfekte lineare Abhängigkeit zwischen diesen Indikatoren existiert. Aus diesem Grund umfasst die HKA neben dem Index zur allgemeinen Strenge der Leistungsanspruchskriterien für den Bezug von Arbeitslosengeld lediglich den Indikator über die Strenge der Sanktionen bei Ablehnung eines Stellenangebotes sowie den Indikator über die Strenge der Anwartschaftsvoraussetzungen für Arbeitslosenunterstützung. Die Auswahl dieser zwei spezifischen Dimensionen 99 100

101

„HK“ steht als Abkürzung für Hauptkomponente. Die unterschiedlichen Vorzeichen der Komponentenladungen spielen keine Rolle für die inhaltliche Interpretation der Komponente, denn die Höhe des Betrags der Ladung gibt Auskunft über die relative Bedeutung der Variable für die Interpretation der Komponente. Die unterschiedlichen Vorzeichen zeigen lediglich an, dass die Komponentenladungen im rotierten Raum an unterschiedlichen Enden der Achsen des Koordinatensystems liegen (vgl. Kap. 4.2.1). Die allgemeine Strenge der Leistungsanspruchskriterien für den Bezug von Arbeitslosengeld ist ein aggregierter Index aus vier Dimensionen (vgl. Tab. 3.3).

4.2 Variablenreduktion durch Hauptkomponentenanalysen

195

wird damit begründet, dass sie aus theoretischer Perspektive einen besonders stark positiven Effekt auf das Angebot von Niedriglohnbeschäftigung ausüben (vgl. Kap. 3.2.1.1). Tabelle 4.10: Hauptkomponentenanalyse mit Institutionen staatlicher Arbeitsmarktpolitik

Manifeste Variable Aktive Arbeitsmarktpolitik (AAMP) AAMP (Qualifizierung) Arbeitslosengeld Leistungsanspruchskriterien (LAK) LAK (Sanktionen) LAK (Voraussetzungen) Eigenwert % der Varianz KMO-Kriterium = 0,64 Signifikanz nach Bartlett: p < 0,001

Rotierte Ladungen HK_Arbeitsmarktpolitik HK_Leistungsanspruchskriterien 0,94 0,84 0,82 0,86 0,83 0,81 2,98 1,4 49,73 23,34

Sowohl das KMO-Kriterium als auch der Bartlett-Test auf Sphärizität zeigen, dass sich die sechs manifesten Variablen in Tabelle 4.10 für die Durchführung einer HKA eignen. Als Ergebnis der Analyse werden zwei Komponenten extrahiert, die gemeinsam 73% der Streuung der manifesten Variablen erklären. Die erste Komponente setzt sich aus zwei manifesten Variablen zu den staatlichen Ausgaben für aktive Arbeitsmarktpolitik und einer Variable zur Nettolohnersatzleistungsquote bei Arbeitslosigkeit zusammen. Alle drei Variablen weisen sehr hohe Komponentenladungen auf und mit einem Eigenwert von 2,98 ist die Varianzaufklärung der Komponente fast genauso groß wie von den drei manifesten Variablen. Da die erste Komponente sowohl Institutionen der passiven als auch der aktiven Arbeitsmarktpolitik umfasst, wird sie nachfolgend als „HK_Arbeitsmarktpolitik“ bezeichnet. Die zweite Komponente umfasst alle drei Indikatoren zur Operationalisierung der Strenge der Leistungsanspruchskriterien für den Bezug von Arbeitslosenunterstützung. Somit ist die zweite Komponente als latente Variable der aktivierenden Arbeitsmarktpolitik zu interpretieren. Nachfolgend wird sie als „HK_Leistungsanspruchskriterien“ bezeichnet.

196

4 Makro-quantitative Untersuchung der Ursachen von Niedriglohnbeschäftigung

Hauptkomponentenanalyse mit Institutionen der staatlichen Arbeitsmarktregulierung Die dritte ursachenbündelspezifische HKA umfasst vier manifeste Variablen zur Operationalisierung der Institutionen der staatlichen Arbeitsmarktregulierung. Alle wesentlichen Kennzahlen dieser HKA sind in Tabelle 4.11 dokumentiert. Tabelle 4.11: Hauptkomponentenanalyse mit Institutionen staatlicher Arbeitsmarktregulierung

Manifeste Variable Regulierung atypischer Beschäftigung Allgemeinverbindlichkeitserklärung (Dummy) Regulierung regulärer Beschäftigung Mindestlohn (Dummy) Eigenwert % der Varianz KMO-Kriterium = 0,64 Signifikanz nach Bartlett: p = 0,009

Rotierte Ladungen HK_Arbeitsmarktregulierung HK_Mindestlohn 0,87 0,80 0,73 0,98 1,95 1,02 48,62 25,46

Bis auf den Indikator zur Messung der Regulierungsdifferenz zwischen regulärer und atypischer Beschäftigung sind alle für die HKA geeigneten Indikatoren staatlicher Arbeitsmarktregulierung in dem Variablenset enthalten. Die Variable zur Regulierungsdifferenz wird aus der HKA ausgeschlossen, weil bei ihrer Inklusion das KMO-Kriterium deutlich unter 0,5 sinkt und der Datensatz somit nicht für die Berechnung einer HKA geeignet ist. Ohne die Variable zur Regulierungsdifferenz zeigen sowohl das KMO-Kriterium als auch der Bartlett-Test auf Sphärizität, dass die Interkorrelation der manifesten Variablen ausreicht, um eine HKA zu berechnen. Im Prozess der sukzessiven Varianzmaximierung werden zwei Komponenten extrahiert. Die erste Komponente erklärt 48,6 % der Varianz der manifesten Variablen. Sie umfasst beide Indikatoren zur Strenge der Beschäftigungsregulierung sowie die Dummy-Variable zur Allgemeinverbindlichkeitserklärung von Tarifverträgen. Nachfolgend wird diese Komponente als „HK_Arbeitsmarktregulierung“ bezeichnet. Die zweite Komponente besteht ausschließlich aus dem Mindestlohn-Dummy und hat daher auch nur die Erklärungskraft von einer manifesten Variable (Eigenwert = 1,02). Nach dem Kaiser-Kriterium qualifiziert sich die zweite Komponente dennoch als relevante latente Variable, da ihr Eigenwert knapp über dem Wert von 1 liegt. Nachfolgend wird diese Komponente als „HK_Mindestlohn“ bezeichnet.

4.2 Variablenreduktion durch Hauptkomponentenanalysen

197

Hauptkomponentenanalyse mit Institutionen der industriellen Beziehungen Die vierte ursachenbündelspezifische HKA umfasst fünf manifeste Variablen zur Operationalisierung der Institutionen der industriellen Beziehungen. Alle wesentlichen Kennzahlen dieser HKA sind in Tabelle 4.12 dokumentiert. Tabelle 4.12: Hauptkomponentenanalyse mit Institutionen der industriellen Beziehungen Ladungen HK_Industrielle Beziehungen Manifeste Variable Verhandlungsebene (Dummy) 0,85 Tarifbindung 0,85 Koordinierung (Dummy) 0,83 Korporatismus (Dummy) 0,75 Gewerkschaftsdichte 0,72 Eigenwert 3,23 % der Varianz 64,56 KMO-Kriterium = 0,82 Signifikanz nach Bartlett: p < 0,001

Im Gegensatz zu den vorherigen drei Hauptkomponentenanalysen, laden alle fünf manifesten Variablen dieses Ursachenbündels auf eine einzige Komponente. Folglich ist eine Rotation der Komponenten weder nötig noch möglich (Field 2009: 661). Die Eignung des Variablensets für die Berechnung einer HKA ist sehr gut, da das KMO-Kriterium einen Wert von > 0,8 annimmt und der Bartlett-Test auf Sphärizität hoch signifikant ist. Alle manifesten Variablen haben eine hohe Komponentenladung. Insgesamt erklärt die Komponente 64,6% der Varianz der manifesten Variablen und stellt somit eine relativ erklärungsstarke latente Variable für die Gesamtheit Institutionen der industriellen Beziehungen dar. Nachfolgend wird diese Komponente als „HK_Industrielle Beziehungen“ bezeichnet. Hauptkomponentenanalysen mit Institutionen der Familien-, Wirtschafts- und Finanzpolitik Die fünfte ursachenbündelspezifische HKA umfasst vier manifeste Variablen zur Operationalisierung der Institutionen der Familienpolitik. Alle wesentlichen Kennzahlen dieser HKA sind in Tabelle 4.13 dokumentiert. Obschon die Interkorrelation der manifesten Variablen nach dem KMOKriterium nur knapp für eine HKA ausreicht, ist der Bartlett-Test auf Sphärizität hoch signifikant. Die HKA extrahiert zwei Komponenten, die jeweils aus zwei

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4 Makro-quantitative Untersuchung der Ursachen von Niedriglohnbeschäftigung

manifesten Variablen bestehen und gemeinsam 83,4% der Streuung der manifesten Variablen erklären können. Während die erste Komponente, nachfolgend als „HK_Kinderbetreuungskosten“ bezeichnet, die Kosten der Kinderbetreuung für Paare und Alleinerziehende abbildet, umfasst die zweite Komponente die Kinderbetreuungsquote sowie die staatlichen Ausgaben für Kinderbetreuung. Die zweite Komponente wird nachfolgend als „HK_Kinderbetreuung“ bezeichnet. Tabelle 4.13: Hauptkomponentenanalyse mit Institutionen der Familienpolitik

Manifeste Variable Kinderbetreuungskosten (Paare) Kinderbetreuungskosten (Singles) Kinderbetreuungsquote Ausgaben für Kinderbetreuung Eigenwert % der Varianz KMO-Kriterium = 0,51 Signifikanz nach Bartlett: p < 0,001

Rotierte Ladungen HK_Kinderbetreuungskosten HK_Kinderbetreuung 0,94 0,90 0,91 0,88 1,93 1,41 48,2 35,2

Das Ursachenbündel der Institutionen der Wirtschafts- und Finanzpolitik, bestehend aus den Variablen Steuerkeil, Produktmarktregulierung und Produktmarktregulierung (DLS), eignet sich nicht für die Berechnung einer HKA. Zum einen liegt das KMO-Kriterium mit einem Wert von 0,47 unterhalb des kritischen Schwellenwertes von 0,5. Zum anderen hat der Bartlett-Test auf Sphärizität kein signifikantes Testergebnis, d.h. die Korrelationsmatrix der manifesten Variablen unterscheidet sich nicht signifikant von einer Zufallsdatenmatrix. Auch der Ausschluss einer der manifesten Variablen, führt zu keiner besseren Eignung des Variablensets für eine HKA. Insofern kann bei diesem Ursachenbündel keine Variablenreduktion vorgenommen werden. Hauptkomponentenanalysen mit strukturellen Erklärungsfaktoren Abschließend werden zwei Hauptkomponentenanalysen mit strukturellen Erklärungsfaktoren berechnet. Die strukturellen Erklärungsfaktoren können nicht alle gemeinsam als Variablenset in einer HKA aufgenommen werden, denn ihre Anzahl ist zu groß ist für eine HKA mit nur 29 Untersuchungseinheiten. Aus diesem Grund werden die strukturellen Erklärungsfaktoren in zwei Subgruppen aufgeteilt. Die erste Subgruppe enthält Indikatoren, die im engeren oder weiteren Sinne Charakteristika des Arbeitsmarktes beschreiben. Dazu gehören die

4.2 Variablenreduktion durch Hauptkomponentenanalysen

199

Arbeitslosenquote, das qualifikatorische Lohngefälle sowie der Beschäftigtenanteil im öffentlichen Sektor und im Dienstleistungssektor. Im weiteren Sinne können auch der Anteil im Ausland geborener Bevölkerung sowie die Staatsquote dieser Subgruppe zugeordnet werden. Während der erste Indikator als Proxy-Variable für Erwerbstätige mit Migrationshintergrund betrachtet werden kann, lässt sich bei der Staatsquote argumentieren, dass Arbeitsentgelte im öffentlichen Dienst einen großen Anteil der Staatsausgaben ausmachen. Die zweite Subgruppe enthält Indikatoren, die im engeren oder weiteren Sinne den ökonomischen Wohlstand eines Landes messen. Dazu gehören das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf (Wohlstandsniveau) sowie das Wirtschaftswachstum (BIP-Wachstum). Im weiteren Sinne können auch die Importe aus Entwicklungsund Schwellenländern sowie die Ausgaben für Forschung und Entwicklung dieser Subgruppe zugeordnet werden, da sowohl der internationale Handel als auch Investitionen in technologischen Fortschritt aus volkswirtschaftlicher Perspektive Ursachen des ökonomischen Wohlstands darstellen. In Tabelle 4.14 wird die HKA mit strukturellen Arbeitsmarktcharakteristika abgebildet. Sowohl das KMO-Kriterium als auch der Bartlett-Test auf Sphärizität zeigen, dass das Variablenset für die Berechnung einer HKA geeignet ist. Die zwei extrahierten Komponenten erklären gemeinsam 65,5% der Varianz der manifesten Variablen. Die erste Komponente umfasst vier manifeste Variablen. Da der Beschäftigtenanteil im Dienstleistungssektor sowie die Arbeitslosenquote die stärksten Komponentenladungen aufweisen, haben diese zwei Variablen die größte Bedeutung für die inhaltliche Interpretation dieser latenten Variable. Nachfolgend wird die erste Komponente als „HK_Arbeitsmarkt“ bezeichnet. Tabelle 4.14: Hauptkomponentenanalyse mit strukturellen Arbeitsmarktcharakteristika Rotierte Ladungen Manifeste Variable HK_Arbeitsmarkt HK_Staat Dienstleistungssektor 0,86 Arbeitslosenquote -0,72 Qualifikatorisches Lohngefälle -0,66 Ausländische Bevölkerung 0,6 -0,5 Staatsquote 0,85 Öffentlicher Sektor 0,7 Eigenwert 2,3 1,63 % der Varianz 38,32 27,15 KMO-Kriterium = 0,65 Signifikanz nach Bartlett: p = 0,004

200

4 Makro-quantitative Untersuchung der Ursachen von Niedriglohnbeschäftigung

Die zweite Komponente wird inhaltlich durch die Staatsquote sowie den Beschäftigtenanteil im öffentlichen Sektor bestimmt. Aus diesem Grund wird die zweite Komponente nachfolgend als „HK_Staat“ bezeichnet. Da die Variable zum Anteil der im Ausland geborenen Bevölkerung auf beiden Komponenten eine relativ schwache Komponentenladung zeigt, wird die Varianz dieser manifesten Variable durch keine der beiden Komponenten in hohe Maße aufgeklärt. In Tabelle 4.15 wird die HKA mit Wohlstandskennzahlen abgebildet. Wenn alle zuvor aufgeführten ökonomischen Wohlstandskennzahlen in das Variablenset integriert werden, liegt das KMO-Kriterium unterhalb des kritischen Schwellenwertes von 0,5. Nur durch den Ausschluss der Variable zur Operationalisierung des Handels mit Entwicklungs- und Schwellenländern erreicht das Variablenset ein Mindestmaß an Interkorrelation der Variablen. Um nicht gänzlich auf die Variablenreduktion dieses Ursachenbündels verzichten zu müsse, wird der Import-Indikator aus der HKA ausgeschlossen. Auf Grundlage des reduzierten Variablensets werden zwei Komponenten extrahiert. Die erste Komponente enthält alle drei Indikatoren des BIP-Wachstums und wird daher nachfolgend als „HK_Wirtschaftswachstum“ bezeichnet. Die zweite Komponente umfasst die zwei Kontrollvariablen BIP pro Kopf sowie die Ausgaben des öffentlichen und privaten Sektors für Forschung und Entwicklung. Somit bildet die zweite Komponente das durchschnittliche Wohlstandsniveau sowie gesamtgesellschaftliche Anstrengungen zur Wohlstandsmehrung ab. Nachfolgend wird diese Komponente als „HK_Wohlstand“ bezeichnet. Tabelle 4.15: Hauptkomponentenanalyse mit Wohlstandskennzahlen Rotierte Ladungen Manifeste Variable HK_Wirtschaftswachstum HK_Wohlstand BIP-Wachstum (Vorvorjahr) 0,86 BIP-Wachstum (Vorjahr) 0,72 BIP-Wachstum 0,69 F&E (insgesamt) 0,86 Wohlstandsniveau 0,69 Eigenwert 1,88 1,28 % der Varianz 37,59 25,63 KMO-Kriterium = 0,5 Signifikanz nach Bartlett: p = 0,015

4.3 Komponentenbasierte Regressionsanalysen

201

4.3 Komponentenbasierte Regressionsanalysen Die Hauptkomponentenanalysen in Kapitel 4.2 haben die manifesten Variablen zur Operationalisierung der Ursachen von Niedriglohnbeschäftigung auf dreizehn latente Variablen (Hauptkomponenten) reduziert. Jede dieser Komponen102 ten bildet ein valides hypothetisches Konstrukt ab. Der neu entstandene Datensatz besteht aus den Komponentenwerten von 29 Untersuchungseinheiten und dient in Kapitel 4.3 als Grundlage zur Berechnung komponentenbasierter multipler Regressionsanalysen. Das Ziel der komponentenbasierten Regressionsanalysen besteht darin, die relative Erklärungskraft konkurrierender Ursachen von Niedriglohnbeschäftigung zu untersuchen. Damit die Komponenten einen analytischen Nutzen als Prädiktorvariablen in Regressionsmodellen zur Erklärung der Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung haben, müssen theoretisch eindeutige Erwartungen über ihre Effektrichtung auf die abhängige Variable gebildet werden können. Praktisch bedeutet dies, dass eine Komponente nur aus manifesten Variablen bestehen darf, die aus theoretischer Perspektive eine identische Wirkungsrichtung auf die abhängige Variable haben. Wenn eine Komponente manifeste Variablen mit unterschiedlichen theoretisch zu erwartenden Effektrichtungen umfasst, kann ex ante keine theoretisch begründete Erwartung über die Wirkungsrichtungsrichtung dieser Komponente gebildet werden. Bei einer solchen Zusammensetzung, wäre jede statistische Effektrichtung der Komponente aus theoretischer Perspektive gleichermaßen plausibel. Tabelle 4.16 überprüft, welche Komponenten das Kriterium der Eindeutigkeit hinsichtlich ihrer theoretisch zu erwartenden Effektrichtung auf die abhängige Variable erfüllen. Zu diesem Zwecke wird die Variablenzusammensetzung der Komponenten dargestellt und für jede manifeste Variable die theoretisch erwartete Effektrichtung auf die Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung dokumentiert. Die Erwartung eines positiven Effektes wird mit einem Plus (+) ausgewiesen und die Erwartung eines negativen Effekts mit einem Minus (-). Die letzte Spalte bildet die theoretisch zu erwartende Effektrichtung der Komponenten auf die Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung ab. 102

Eine Hauptkomponente gilt als valides hypothetisches Konstrukt, wenn die Interkorrelation der manifesten Variablen hoch genug zur Berechnung einer HKA ist (KMO-Kriterium ≥ 0,5), die Komponente einen Eigenwert von ≥ 1 aufweist und inhaltlich bzw. theoretisch sinnvoll interpretiert werden kann (Rammstedt 2010: 250).

Wohlstandskennzahlen

Strukturelle Arbeitsmarktcharakteristika

Institutionen der Familienpolitik

Institutionen der industriellen Beziehungen

Institutionen staatlicher Arbeitsmarktregulierung

Institutionen staatlicher Arbeitsmarktpolitik

Akteursspezifische Ursachen

Ursachenbündel

HK_Wohlstand

HK_Wirtschaftswachstum

HK_Staat

HK_Arbeitsmarkt

HK_Kinderbetreuung

HK_Kinderbetreuungskosten

HK_Industrielle Beziehungen

HK_Mindestlohn

HK_Arbeitsmarktregulierung

HK_Leistungsanspruchskriterien

HK_Arbeitsmarktpolitik

HK_Humankapital

HK_Highroad

Komponente

Erwartete Effektrichtung der manifesten Variablen Hochqualifizierte (-), HighTech-Exporte (-), F&E (Industrie) (-), Arbeitsproduktivität (-) Schuljahre (-), Geringqualifizierte (+) Arbeitslosengeld (-), Aktive Arbeitsmarktpolitik (AAMP) (-), AAMP (Qualifizierung) (-) Leistungsanspruchskriterien (LAK) (+), LAK (Sanktionen) (+), LAK (Voraussetzungen) (+) Regulierung regulärer Beschäftigung (-), Regulierung atypischer Beschäftigung (-), Allgemeinverbindlichkeitserklärung (Dummy) (-) Mindestlohn (Dummy) (-) Gewerkschaftsdichte (-), Tarifbindung (-), Korporatismus (Dummy) (-), Verhandlungsebene (Dummy) (-), Koordinierung (Dummy) (-) Kinderbetreuungskosten (Paare) (+/-), Kinderbetreuungskosten (Alleinerziehende) (+/-) Ausgaben für Kinderbetreuung (-), Kinderbetreuungsquote (-) Arbeitslosenquote (+), Qualifikatorisches Lohngefälle (+), Ausländische Bevölkerung (+), Dienstleistungssektor (+) Staatsquote (-), Öffentlicher Sektor (-) BIP-Wachstum (-), BIP-Wachstum (Vorjahr) (-), BIP-Wachstum (Vorvorjahr) (-) Wohlstandsniveau (-), F&E (insgesamt) (-)

Tabelle 4.16: Theoretisch erwartete Effektrichtung der Komponenten

negativ

negativ

negativ

positiv

negativ

positiv/negativ

negativ

negativ

negativ

positiv

negativ

nicht eindeutig

negativ

Erwartete Effektrichtung der Komponente

202 4 Makro-quantitative Untersuchung der Ursachen von Niedriglohnbeschäftigung

4.3 Komponentenbasierte Regressionsanalysen

203

Insgesamt erfüllen elf von dreizehn Komponenten das Kriterium der Eindeutigkeit. Da sich die Komponente HK_Humankapital aus zwei manifesten Variablen mit unterschiedlichen theoretisch zu erwartenden Effektrichtungen zusammensetzt, kann keine eindeutige Erwartung über die Effektrichtung dieser Komponente gebildet werden. Aus diesem Grund wird die Humankapital-Komponente aus den nachfolgenden Regressionsanalysen ausgeschlossen. Trotz der Exklusion dieser Komponente wird der Erklärungsfaktor „Humankapital“ in den nachfolgenden Regressionsanalysen durch die Komponente HK_Highroad abgebildet, denn sowohl der Anteil hochqualifizierter Erwerbspersonen als auch die Arbeitsproduktivität operationalisieren die aggregierte Humankapitalausstattung der Arbeitskräfte. Obwohl auch für die Komponente HK_Kinderbetreuungskosten keine theoretisch eindeutige Erwartung über ihre Effektrichtung gebildet werden kann, wird diese Komponente nicht aus den nachfolgenden Regressionsanalysen ausgeschlossen. Im Gegensatz zu der Komponente HK_Humankapital wird das Kriterium der Eindeutigkeit nicht durch manifeste Variablen verletzt, die aus theoretischer Perspektive jeweils eindeutige, aber insgesamt unterschiedliche Effektrichtungen auf die abhängige Variable haben. Stattdessen entsteht die Ambivalenz durch widersprüchliche theoretische Erwartungen über die Wirkung der Höhe von Kinderbetreuungskosten auf die Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung. Da die theoretisch begründete Erwartungsunsicherheit beide manifesten Variablen dieser Komponente betrifft, bleibt sie eine Prädiktorvariable der nachfolgenden Analysen. Nach der Exklusion der Komponente HK_Humankapital bleiben zwölf Komponenten, die als Prädiktorvariablen in Regressionsmodellen zur Erklärung der Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung verwendet werden können. Mittels linearer Einfachregressionen wird nachfolgend zunächst überprüft, ob diese Komponenten einen signifikanten Zusammenhang mit der abhängigen Variable aufweisen, ob ihre statistische Effektrichtung der theoretisch erwarteten Effektrichtung entspricht und wie hoch ihre Erklärungskraft für die Streuung der abhängigen Variable ist. Tabelle 4.17 fasst die Analyseergebnisse der linearen Einfachregressionen zusammen. Für jedes Regressionsmodell wird der Regressionskoeffizient βi, der Standardfehler des Regressionskoeffizienten SE(βi) sowie das Bestimmtheits2 maß R abgebildet. Acht von zwölf Komponenten weisen einen signifikanten

204

4 Makro-quantitative Untersuchung der Ursachen von Niedriglohnbeschäftigung

Zusammenhang mit der abhängigen Variable auf. Von diesen acht Komponenten entspricht die statistische Effektrichtung der HK_Mindestlohn und der HK_Arbeitsmarkt nicht den theoretischen Erwartungen aus Tabelle 4.16. Im Falle der Komponente zur Existenz von Mindestlöhnen spiegelt dieser Befund 103 das Analyseergebnis aus Kapitel 4.1.3. Auch im Falle der HK_Arbeitsmarkt kann der unerwartet negative Wirkungszusammenhang mit der abhängigen Variable mit einem Befund aus Kapitel 4.1 erklärt werden: Der Beschäftigtenanteil im Dienstleistungssektor ist die manifeste Variable mit der stärksten Komponentenladung auf der HK_Arbeitsmarkt (vgl. Tab. 4.14). Entgegen den theoretischen Erwartungen zeigt dieser Indikator in der bivariaten Datenanalyse einen hoch signifikant negativen Zusammenhang mit der Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung (vgl. Tab. 4.8). Insofern ist zu vermuten, dass diese manifeste Variable eine wesentliche Ursache der negativen Wirkungssichtung der HK_Arbeitsmarkt ist. Die Bestimmtheitsmaße der zwölf Einfachregressionsmodelle erlauben deren Modellanpassungsgüte zu bestimmen und die Erklärungskraft der einzelnen Komponenten zu vergleichen. Dieser Vergleich verdeutlicht, dass von allen Komponenten die HK_Industrielle Beziehungen mit 46% die größte Varianzaufklärung der abhängigen Variable leistet. Somit hat die Komponente zu den industriellen Beziehungen in der bivariaten Analyse den höchsten Erklärungsgehalt für die länderspezifische Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung. Dieser Befund spiegelt die prominente Position, die Institutionen der industriellen Beziehungen sowohl in theoretischen Erklärungsansätzen als auch in der empirischen Forschung zu den Ursachen von Niedriglohnbeschäftigung bekleiden (vgl. Appelbaum/Schmitt 2009; Bosch/Gautié 2011; Gautié/Schmitt 2010; Lucifora et al. 2005). Auch die Komponenten HK_Kinderbetreuung sowie HK_Arbeitsmarktpolitik haben mit 35% bzw. 32% eine vergleichsweise hohe Varianzaufklärung. Somit bilden die drei Komponenten mit der höchsten Erklärungskraft jeweils unterschiedliche institutionelle Ursachen von Niedriglohnbeschäftigung ab. Alle anderen Komponenten weisen eine deutlich geringere Erklärungskraft für die abhängige Variable auf.

103

Als Treiber der theoretisch unerwarteten Wirkungsrichtung des Mindestlohn-Dummys auf die Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung wurden die sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaaten identifiziert (vgl. Abb. 4.1).

-

-

-

-

HK_Arbeitsmarkt

HK_Staat

HK_Wirtschaftswachstum

HK_Wohlstand

-

-

-

-

-

-

-

-

-

-

-

-

-

-

-

-

-

-

-

-

-

-3,18** (1,02)

-3,05** (1,04)

-3,66** (0,96)

1,69 (1,15)

-

-

-

-

-

-

-

-

-

-

-

-4,17** (0,88)

-

-

-

-

0,35 29

-

-

-

-

0,24 29

-

-

-

-

-

-

-

0,26 29

-

-

-

-

-

-

-

0,07 29

-

1,66 (1,15)

-

-

-

-

-

-

-

-

-

-

-

-

-

-

-

-

-

-

-

11

-

10

-

9

-

8

7

Modell 6

R2 0,06 0,32 0,08 0,22 0,24 0,46 0,08 N 29 29 29 29 29 29 29 Abhängige Variable: Anteil der Niedriglohnbeschäftigten (in % aller abhängig Beschäftigten). Jahr: x̅ {2006, 2010}. Signifikanzniveau: (*) = 0,1; * = 0,05; ** = 0,01.

-

HK_Kinderbetreuung

Tabelle 4.17: Lineare Einfachregressionen mit Hauptkomponenten Unabhängige Variable 1 2 3 4 5 -1,45 HK_Highroad (1,16) HK_Arbeitsmarkt-3,52** politik (0,98) HK_Leistungs1,74 anspruchskriterien (1,14) HK_Arbeitsmarkt-2,91** regulierung (1,05) 3,05** HK_Mindestlohn (1,04) HK_Industrielle Beziehungen HK_Kinderbetreuungskosten

-2,49* (1,09) 0,16 29

-

-

-

-

-

-

-

-

-

-

-

12

4.3 Komponentenbasierte Regressionsanalysen 205

206

4 Makro-quantitative Untersuchung der Ursachen von Niedriglohnbeschäftigung

Nachfolgend werden komponentenbasierte multiple Regressionsmodelle berechnet, um die Erklärungskraft der latenten Variablen für die Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung zu untersuchen, wenn für den Einfluss konkurrierender Erklärungsfaktoren kontrolliert wird. Dabei richtet sich das Erkenntnisinteresse insbesondere auf die relative Erklärungskraft der Komponenten zu staatlichen Arbeitsmarktinstitutionen. Tabelle 4.18 dokumentiert die Analyseergebnisse der multiplen Regressionsanalysen. Für jedes Regressionsmodell werden die Regressionskoeffizienten βi, die Standardfehler der Regressionskoeffizienten SE(βi), die standardisierten Regres104 2 105 sionskoeffizienten (Beta), das korrigierte Bestimmtheitsmaß (R korrigiert) 106 sowie der F-Test der Gesamterklärungsgüte abgebildet. Zur Bestimmung der maximalen Anzahl von Prädiktorvariablen bei einer gegebenen Anzahl von Untersuchungseinheiten wird in der makro-quantitativ vergleichenden Forschung oft ein informelles Qualitätskriterium angewendet. Dieses Kriterium besagt, dass die Anzahl der unabhängigen Variablen maximal ein Drittel der Fallzahl abzüglich der Regressionskonstanten betragen darf (Jahn 2006: 375). Entsprechend dieser Regel dürfen bei 29 Untersuchungseinheiten maximal acht bis neun unabhängige Variablen in ein multiples Regressionsmodell aufgenommen werden. Gemäß dieses Qualitätskriteriums wäre es methodisch problematisch ein Regressionsmodell mit allen Komponenten zu berechnen, da bei einem Totalmodell das Risiko der Überanpassung (Overfitting) bestünde, d.h. das Modell könnte aufgrund einer zu hohen Anzahl an erklärenden Variablen ineffiziente bzw. verzerrte Schätzer produzieren (Ohr 2010: 473).

104

105

106

Beta-Koeffizienten sind z-transformierte Regressionskoeffizienten. Durch die Standardisierung können die Regressionskoeffizienten eines Modells miteinander verglichen werden und so die relative Erklärungskraft jeder Prädiktorvariable im Regressionsmodell eingeschätzt werden (Field 2009: 239; Holtmann 2010: 79). Im Gegensatz zu dem einfachen Bestimmtheitsmaß R2, berücksichtigt das korrigierte Bestimmtheitsmaß die Anzahl der unabhängigen Variablen in einem Regressionsmodell. Dadurch wird eine Überschätzung der Modellanpassungsgüte aufgrund der Anzahl von Regressoren verhindert (Hildebrandt et al. 2015: 72). Der F-Test überprüft die Signifikanz des Bestimmtheitsmaßes, d.h. ob das Modell insgesamt (also alle Prädiktorvariablen gemeinsam) einen signifikanten Erklärungsbeitrag für die Varianz der abhängigen Variable leistet. Ist der F-Wert signifikant, kann die Nullhypothese (das Modell hat keine Erklärungskraft) verworfen werden; das Modell leistet somit insgesamt einen Beitrag zur Erklärung der abhängigen Variable (Field 2009: 235f.).

4.3 Komponentenbasierte Regressionsanalysen

207

Tabelle 4.18: Komponentenbasierte multiple Regressionsanalysen

1

Modell 2

3 β Unabhängige Variable Beta Beta (SE(β)) Beta HK_Highroad 1,45 HK_Arbeitsmarktpolitik -0,21 -0,001 0,23 (1,32) 2,33* HK_Leistungsanspruchskriterien -0,33 0,36 0,38 (0,95) -3,19** HK_Arbeitsmarktregulierung -0,52 -0,43 -0,52 (1,11) 1,29 HK_Mindestlohn 0,24 0,14 0,21 (0,94) -1,79 HK_Industrielle Beziehungen -0,38 -0,29 (1,27) -0,7 HK_Kinderbetreuungskosten -0,11 (0,92) -2,39* HK_Kinderbetreuung -0,39 (0,98) HK_Arbeitsmarkt HK_Staat HK_Wirtschaftswachstum HK_Wohlstand 15,63** 15,63** 15,63** Konstante (0,8) (0,77) (0,71) F-Wert 8,3** 7,76** 7,42** R2korrigiert 0,51 0,55 0,62 N 29 29 29 Abhängige Variable: Anteil der Niedriglohnbeschäftigten (in % aller abhängig Beschäftigten). Jahr: x̅ {2006, 2010}. Signifikanzniveau: (*) = 0,1; * = 0,05; ** = 0,01. β (SE(β)) -1,31 (1,06) 2,06* (0,99) -3,24** (0,95) 1,51 (0,97)

β (SE(β)) -0,01 (1,28) 2,25* (0,97) -2,64* (0,98) 0,87 (1,0) -2,33(*) (1,36)

208

4 Makro-quantitative Untersuchung der Ursachen von Niedriglohnbeschäftigung

Tabelle 4.18: Komponentenbasierte multiple Regressionsanalysen (Fortsetzung)

4

Modell 5

6 β β β (SE(β)) Beta (SE(β)) Beta (SE(β)) Beta Unabhängige Variable HK_Highroad 1,02 0,93 0,25 HK_Arbeitsmarktpolitik 0,16 0,15 0,04 (1,28) (1,18) (1,32) 1,24 1,19 2,07* HK_Leistungsanspruchskriterien 0,2 0,19 0,33 (1,01) (0,95) (1,0) -2,88** -2,77** -2,89* HK_Arbeitsmarktregulierung -0,47 -0,45 -0,47 (0,95) (0,86) (1,04) 0,86 0,93 0,7 HK_Mindestlohn 0,14 0,15 0,11 (0,97) (0,88) (1,04) -1,14 -1,15 -2,06 HK_Industrielle Beziehungen -0,18 -0,19 -0,33 (1,32) (1,26) (1,41) HK_Kinderbetreuungskosten HK_Kinderbetreuung -2,18 -2,41* HK_Arbeitsmarkt -0,35 -0,39 (1,31) (0,93) -2,1* -2,01* -0,34 -0,33 HK_Staat (0,97) (0,89) -0,18 0,11 HK_Wirtschaftswachstum -0,03 0,02 (0,78) (0,86) -0,38 -1,1 -0,06 -0,18 HK_Wohlstand (1,32) (1,01) 15,63** 15,63** 15,63** Konstante (0,71) (0,68) (0,79) F-Wert 6,03** 8,48** 5,53** R2korrigiert 0,62 0,65 0,53 N 29 29 29 Abhängige Variable: Anteil der Niedriglohnbeschäftigten (in % aller abhängig Beschäftigten). Jahr: x̅ {2006, 2010}. Signifikanzniveau: (*) = 0,1; * = 0,05; ** = 0,01.

4.3 Komponentenbasierte Regressionsanalysen

209

Tabelle 4.18: Komponentenbasierte multiple Regressionsanalysen (Fortsetzung) Modell 8

7

Unabhängige Variable HK_Highroad HK_Arbeitsmarktpolitik HK_Leistungsanspruchskriterien HK_Arbeitsmarktregulierung HK_Mindestlohn HK_Industrielle Beziehungen

β (SE(β)) -1,1 (0,98) 0,3 (1,3) 2,03* (0,98) -3,08** (1,05) 1,16 (1,03) -1,97 (1,39)

Beta

β (SE(β))

-0,18

-

0,05 0,33 -0,5 0,19 -0,32

HK_Kinderbetreuungskosten

-

-

HK_Kinderbetreuung

-

-

0,61 (1,2) 2,17* (0,96) -3,65** (1,08) 1,81(*) (0,89)

-0,71 (0,94) -2,63* (0,98)

9

Beta

β (SE(β))

Beta

-

-

-

0,1

-

-

0,92 (0,89) -2,97** (0,76) 1,11 (0,76)

-0,48

-

-

-

-0,11

-

-

-0,43

-

-

0,35 -0,59 0,29

0,15

0,18

-2,54** -0,41 (0,82) -2,01* HK_Staat -0,33 (0,76) HK_Wirtschaftswachstum HK_Wohlstand 15,63** 15,63** 15,63** Konstante (0,77) (0,73) (0,66) F-Wert 6,76** 7,97** 12,2** R2korrigiert 0,55 0,6 0,67 N 29 29 29 Abhängige Variable: Anteil der Niedriglohnbeschäftigten (in % aller abhängig Beschäftigten). Jahr: x̅ {2006, 2010}. Signifikanzniveau: (*) = 0,1; * = 0,05; ** = 0,01.

HK_Arbeitsmarkt

-

-

-

-

210

4 Makro-quantitative Untersuchung der Ursachen von Niedriglohnbeschäftigung

Tabelle 4.18 bildet insgesamt neun Regressionsmodelle ab. Die Modelle M1 bis M8 umfassen jeweils alle vier Komponenten zu staatlichen Arbeitsmarktinstitutionen, kontrollieren aber für unterschiedliche konkurrierende Erklärungsfakto107 ren. Das letzte Modell (M9) ist das Regressionsmodell mit der besten Modellanpassungsgüte bzw. der größtmöglichen Erklärungskraft. Die Kombination von Prädiktorvariablen in M9 wird in einem iterativen Prozess identifiziert: Ausgehend von einem Totalmodell werden sukzessive jene Regressoren aus dem Modell ausgeschlossen, deren Beta-Koeffizienten im Betrag die geringste relative Bedeutung für die Erklärung der abhängigen Variable besitzen. Zu Beginn dieses Prozesses, bewirkt der Ausschluss von Regressoren einen Anstieg des korrigierten Bestimmtheitsmaßes. Der iterative Prozess wird so lange fortgesetzt, bis das Modell mit der höchsten Varianzaufklärung identifiziert ist. M9 stellt das Endprodukt dieses Prozesses dar, denn jede weitere Variablenreduktion bewirkt ein Absinken des Bestimmtheitsmaßes unter 67%. Vor der Interpretation der Analyseergebnisse muss überprüft werden, ob die Regressionsmodelle in Tabelle 4.18 ein Multikollinearitätsproblem haben. In multiplen Regressionsanalysen lässt sich eine gewisse Korrelation der unabhängigen Variablen untereinander fast nicht vermeiden. Allerdings ist ein hohes Maß an Multikollinearität problematisch, da es zu einer Verzerrung der Analyseergebnisse führt; z.B. weisen in Wirklichkeit bedeutsame Prädiktoren nicht signifikante Regressionskoeffizienten auf. Zur Überprüfung des Ausmaßes der Multikollinearität in den Regressionsmodellen wird der Varianzinflationsfak108 tor verwendet. Die Varianzinflationsfaktoren der Prädiktorvariablen zeigen, 107

108

Zusammensetzung der multiplen Regressionsmodelle in Tabelle 4.18: M1: Komponenten zu staatlichen Arbeitsmarktinstitutionen. M2: Komponenten zu Arbeitsmarktinstitutionen. M3: Alle institutionellen Komponenten. M4: Komponenten zu Arbeitsmarktinstitutionen und strukturelle Komponenten. M5: Komponenten zu Arbeitsmarktinstitutionen und Komponenten zu strukturellen Arbeitsmarktkennzahlen. M6: Komponenten zu Arbeitsmarktinstitutionen und Komponenten zu Wohlstandskennzahlen. M7: Komponenten zu Arbeitsmarktinstitutionen und Komponente zur „high-road“Wettbewerbsstrategie. M8: Komponenten zu staatlichen Institutionen. M9: Modell nach sukzessiver Variablenreduktion. Der Varianzinflationsfaktor wird für jede unabhängige Variable eines Regressionsmodells berechnet. Er misst, ob eine unabhängige Variable einen starken linearen Zusammenhang mit den anderen unabhängigen Variablen eines Regressionsmodells hat. Ein häufig angewendetes Qua-

4.3 Komponentenbasierte Regressionsanalysen

211

dass keines der zehn Regressionsmodelle ein problematisches Maß an Multikollinearität aufweist, d.h. in keinem Modell nimmt ein Varianzinflationsfaktor einen Wert von ≥ 10 an. Somit ist auch nicht davon auszugehen ist, dass die Schätzungen der Regressionskoeffizienten durch Multikollinearität verzerrt sind. In allen neun Regressionsmodellen in Tabelle 4.18 ist der empirische F-Wert größer als die Prüfgröße, d.h. alle Modelle leisten einen signifikanten Beitrag zur Erklärung der Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung. Dennoch zeigt die Varianzaufklärung der Modelle deutliche Unterschiede. Das erste Modell, das ausschließlich aus den vier Komponenten zu staatlichen Arbeitsmarktinstitutionen besteht, hat mit einem korrigieren Bestimmtheitsmaß von 51% die geringste Erklärungskraft aller neun Regressionsmodelle. Von den vier Komponenten dieses Modells zeigen nur die HK_Arbeitsmarktregulierung sowie die HK_Leistungsanspruchskriterien einen signifikanten Einfluss auf die abhängige Variable, wobei HK_Arbeitsmarktregulierung mit Abstand den stärksten Effekt ausübt. Dieses Muster ist auch in den anderen acht Regressionsmodellen zu erkennen. Durch die Hinzunahme konkurrierender Prädiktorvariablen, d.h. anderer ursachenbündelspezifischer Komponenten, steigt die Erklärungskraft der Regressionsmodelle (vgl. M2 bis M9 in Tab. 4.18). Somit kann die Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung besser erklärt werden, wenn neben den Komponenten zu staatlichen Arbeitsmarktinstitutionen weitere Erklärungsfaktoren berücksichtigt werden. Allerdings variiert der zusätzliche Erklärungsgehalt konkurrierender Prädiktorvariablen. Anhand der korrigierten Bestimmtheitsmaße der Modelle M2 bis M9 wird deutlich, dass die Modellanpassungsgüte im Vergleich zu Modell M1 vor allem dann deutlich ansteigt, wenn die Komponenten HK_Kinderbetreuung, HK_Arbeitsmarkt und HK_Staat in das Modell aufgenommen werden. Bei der Integration dieser drei Komponenten steigt das Bestimmtheitsmaß mindestens auf 60% (vgl. Modell M3, M4, M5, M8). Auch das Regressionsmodell mit der höchsten Anpassungsgüte (Modell M9) umfasst die Komponenten HK_Arbeitsmarkt und HK_Staat, exkludiert allerdings die HK_Arbeitsmarktpolitik. Dahingegen leisten die Hinzunahme der Komponenten HK_Highroad, HK_Wirtschaftswachstum und HK_Wohlstand lediglich eine sehr geringe Verbesserung der Modellanpassungsgüte (vgl. Modell M2, M6, M7).

litätskriterium besagt, dass ein Varianzinflationsfaktor mit einem Wert über 10 auf ein problematisches Ausmaß an Multikollinearität hindeutet (Field 2009: 224).

212

4 Makro-quantitative Untersuchung der Ursachen von Niedriglohnbeschäftigung

Bei einem modellübergreifenden Vergleich der einzelnen Komponenten wird deutlich, dass sich die Erklärungskraft der Komponenten stark unterscheidet. Fünf der zwölf Komponenten haben in keinem multiplen Regressionsmodell einen signifikanten Zusammenhang mit der Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung (HK_Highroad, HK_Arbeitsmarktpolitik, HK_Kinderbetreuungskosten, HK_Wirtschaftswachstum, HK_Wohlstand). Die hohen Standardfehler dieser Prädiktorvariablen erlauben keine zuverlässige Schätzung der abhängigen Variable und bewirken im Falle der HK_Arbeitsmarktpolitik und HK_Wirtschaftswachstum sogar wechselnde Vorzeichen der Regressionskoeffizienten. Während die HK_Highroad sowie die HK_Wirtschaftswachstum auch in den linearen Einfachregressionen keinen signifikanten Zusammenhang mit der Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung zeigen, haben die HK_Wohlstand und insbesondere die HK_Arbeitsmarktpolitik in der bivariaten Analyse einen signifikanten Zusammenhang mit der abhängigen Variable (vgl. Tab. 4.17). Beide Variable verlieren jedoch ihre Erklärungskraft, wenn für konkurrierende Erklärungsfaktoren kontrolliert wird. Durch die Kontrolle für konkurrierende erklärende Variablen ermöglichen die multiplen Regressionsanalysen eine realistischere Einschätzung der Erklärungskraft der unterschiedlichen Prädiktorvariablen als die bivariaten Regressionsanalysen. So hat zum Beispiel die HK_Leistungsanspruchskriterien in mehreren multiplen Regressionsmodellen einen signifikant negativen Effekt auf die abhängige Variable, obwohl diese Komponente in der Einfachregression keinen signifikanten Zusammenhang mit der Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung zeigt. Auch die HK_Arbeitsmarktregulierung entwickelt eine deutlich größere Erklärungskraft, wenn für konkurrierende Prädiktorvariablen kontrolliert wird. Die HK_Arbeitsmarktregulierung ist darüber hinaus die einzige Komponente zu staatlichen Arbeitsmarktinstitutionen, die in allen neun Regressionsmodellen in Tabelle 4.18 einen signifikanten Wirkungszusammenhang mit der abhängigen Variable zeigt. Anhand der Beta-Koeffizienten wird darüber hinaus deutlich, dass diese Komponente in allen Regressionsmodellen die größte relative Erklärungskraft aufweist. Im Falle der Komponente HK_Industrielle Beziehungen ist genau das Gegenteil zu beobachten. In den linearen Einfachregressionen hat diese Komponente mit Abstand die höchste Erklärungskraft für die Varianz der Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung (vgl. Tab. 4.17). Wenn jedoch im Rahmen der multiplen Regressionsanalysen für den Einfluss andere Prädiktorvariablen kontrolliert

4.3 Komponentenbasierte Regressionsanalysen

213

wird, ist die relative Erklärungskraft der HK_Industrielle Beziehungen eher gering. So zeigt die Komponente lediglich in Modell M3 einen schwach signifikanten negativen Zusammenhang mit der abhängigen Variable. Methodisch bedeutet dieser Befund, dass bei der Berücksichtigung konkurrierender Erklärungsfaktoren, diese Prädiktoren die abhängige Variable besser erklären als die Komponente der industriellen Beziehungen. Aus theoretischer Perspektive steht dieser Befund im Gegensatz zu der herausgehobenen Bedeutung, die den Institutionen der industriellen Beziehungen für die Erklärung der Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung zugeschrieben wird (vgl. Appelbaum/Schmitt 2009; Bosch/Gautié 2011; Gautié/Schmitt 2010; Lucifora et al. 2005). Vor dem Hintergrund dieses überraschenden Befundes stellt sich die Frage, welche konkurrierenden Erklärungsfaktoren die relativ geringe Erklärungskraft der Institutionen der industriellen Beziehungen in den multiplen Regressionsanalysen bewirken. Zur Beantwortung dieser Frage werden analog zu dem Vorgehen in Modell M9 Regressionsanalysen berechnet, die sukzessive die Regressoren mit dem geringsten Beta-Koeffizienten aus dem Modell entfernen, bis die HK_Industrielle Beziehungen der Prädiktor mit dem kleinsten Beta-Koeffizienten ist. Ausgehend von dem Totalmodell mit allen Komponenten, werden die Regressoren in folgender Reihenfolge ausgeschlossen: HK_Highroad, HK_Wirtschaftswachstum, HK_Wohlstand, HK_Kinderbetreuungskosten, HK_Kinderbetreuung, HK_Arbeitsmarktpolitik. Das Modell M1 in Tabelle 4.19 stellt das Regressionsmodell nach Ausschluss der HK_Arbeitsmarktpolitik dar. In dieser Iteration der sukzessiven Variablenreduktion ist erstmals der Punkt erreicht, an dem die HK_Industrielle Beziehungen die geringste relative Erklärungskraft für die abhängige Variable aufweist. Dies bedeutet, dass alle anderen fünf unabhängigen Variablen in Modell M1 die Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung besser erklären als die Komponente der industriellen Beziehungen. Wenn die HK_Industrielle Beziehungen aus dem Regressionsmodell exkludiert wird, steigt die Gesamterklärungsgüte des Mo109 dells (vgl. M2 in Tab. 4.19).

109

Das Modell M2 in Tabelle 4.19 ist identisch mit dem Modell M9 in Tabelle 4.18. Es handelt sich hierbei um das Regressionsmodell mit der maximalen Varianzaufklärung der abhängigen Variable.

214

4 Makro-quantitative Untersuchung der Ursachen von Niedriglohnbeschäftigung

Tabelle 4.19: Ursachen der geringen Erklärungskraft der Komponente zu industriellen Beziehungen

1 Unabhängige Variablen HK_Arbeitsmarktregulierung

2

Modell

β β Beta Beta (SE(β)) (SE(β)) -2,75** -2,97** -0,45 -0,48 (0,85) (0,76) -2,30* -2,54** HK_Arbeitsmarkt -0,37 -0,41 (0,91) (0,82) -1,79* -2,01* HK_Staat -0,29 -0,33 (0,84) (0,76) 0,86 1,11 HK_Mindestlohn 0,14 0,18 (0,87) (0,76) HK_Leistungs0,1 0,92 0,16 0,15 anspruchskriterien (0,91) (0,89) HK_Industrielle -0,69 -0,11 Beziehungen (1,11) 15,63** 15,63** Konstante (0,67) (0,66) F-Wert 9,96** 12,2** R2korrigiert 0,657 0,667 N 29 29 Abhängige Variable: Anteil der Niedriglohnbeschäftigten (in % aller abhängig Beschäftigten). Jahr: x̅ {2006, 2010}. Signifikanzniveau: (*) = 0,1; * = 0,05; ** = 0,01.

3 β (SE(β)) -2,7** (0,71) -3,28** (0,7) -2,6** (0,71)

Beta -0,44 -0,53 -0,42

-

-

-

-

15,63** (0,68) 17,95** 0,645 29

-

4 β (SE(β)) -2,28** (0,8) -2,85** (0,79) -2,12* (0,83)

Beta -0,37 -0,46 -0,34

-

-

-

-

-1,12 -0,18 (0,99) 15,63** (0,68) 13,93** 0,649 29

Somit erklären die Komponenten HK_Arbeitsmarktregulierung, HK_Arbeitsmarkt, HK_Staat, HK_Leistungsanspruchskriterien und HK_Mindestlohn die abhängige Variable besser ohne die HK_Industrielle Beziehungen. Allerdings zeigt das Bestimmtheitsmaß nur einen sehr geringen Verlust an Varianzaufklärung, wenn die zwei Prädiktoren mit der geringsten Erklärungskraft (HK_Mindestlohn und HK_Leistungsanspruchskriterien) aus dem Modell ausgeschlossen werden (vgl. Modell M3 in Tab. 4.19). Aus diesem Befund lässt sich die Schlussfolgerung ziehen, dass die Komponenten HK_Arbeitsmarktregulierung, HK_Arbeitsmarkt und HK_Staat die wesentliche Ursache für die geringe Erklärungskraft der HK_Industrielle Beziehungen in multiplen Regressionsanalysen sind. Diese Schlussfolgerung wird dadurch bekräftigt, dass die Hinzunahme der HK_Industrielle Beziehungen in Modell M4 lediglich einen sehr geringen Anstieg der Erklärungskraft des Modells bewirkt und die Komponente auch keinen signifikanten statistischen Effekt auf die abhängige Variable zeigt.

4.3 Komponentenbasierte Regressionsanalysen

215

Zusammenfassung der Analyseergebnisse Das wesentliche Erkenntnisinteresse von Kapitel 4.3 richtete sich auf die Untersuchung der Erklärungskraft staatlicher Arbeitsmarktinstitutionen im Vergleich zu anderen (institutionellen) Ursachen von Niedriglohnbeschäftigung. Die komponentenbasierten multiplen Regressionsanalysen haben gezeigt, dass zwei Komponenten zu staatlichen Arbeitsmarktinstitutionen bei der Kontrolle für konkurrierende Erklärungsfaktoren einen signifikanten Zusammenhang mit der abhängigen Variable aufweisen. Hierbei handelt es sich um die Komponente zur staatlichen Arbeitsmarktregulierung (bestehend aus den Indikatoren zur Regulierungsstrenge regulärer und atypischer Beschäftigung sowie der Allgemeinverbindlichkeitserklärung von Tarifverträgen) sowie der Komponente zur Strenge der Leistungsanspruchskriterien für den Bezug von Arbeitslosenunterstützung. Die Komponente zur Arbeitsmarktregulierung ist darüber hinaus in allen multiplen Regressionsmodellen der Erklärungsfaktor mit der größten Erklärungskraft für die Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung. Dahingegen haben weder die Komponente zur Existenz gesetzlicher Mindestlöhne und noch die Komponente zur (passiven und aktiven) Arbeitsmarktpolitik einen hohen Erklärungsgehalt für die abhängige Variable, wenn sie gemeinsam mit konkurrierenden Ursachen von Niedriglohnbeschäftigung analysiert werden. Vor dem Hintergrund dieser Befunde lässt sich resümierend festhalten, dass staatliche Arbeitsmarktinstitutionen auch in der kontextuellen Analyse mit anderen Erklärungsfaktoren einen signifikanten Beitrag zur Erklärung der Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung in entwickelten Volkswirtschaften leisten. Darüber hinaus verdeutlichen die multiplen Regressionsanalysen, dass bivariate Analysen keine realistische Einschätzung der Erklärungskraft der unterschiedlichen Ursachen von Niedriglohnbeschäftigung ermöglichen. Dies wird insbesondere an der Komponente zu den Institutionen der industriellen Beziehungen sowie der Komponente zur Arbeitsmarktregulierung deutlich: Während die bivariate Analyse die Erklärungskraft der HK_Industrielle Beziehungen für die Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung stark überschätzt, unterschätzt sie wiederum die Erklärungskraft der HK_Arbeitsmarktregulierung. Dieser Befund ist aus theoretischer Perspektive insofern interessant, als dass die einschlägige Literatur zu den Ursachen von Niedriglohnbeschäftigung einen deutlichen Fokus auf die Institutionen der industriellen Beziehungen legt. Vor dem Hintergrund der Analyseergebnisse des Kapitels 4.3 erscheint dieser Fokus

216

4 Makro-quantitative Untersuchung der Ursachen von Niedriglohnbeschäftigung

jedoch nicht gerechtfertigt. Stattdessen haben sowohl staatliche Arbeitsmarktinstitutionen als auch das allgemeine Ausmaß der Staatstätigkeit eine sehr viel größere Bedeutung für die Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung als die Literatur zu den Ursachen von Niedriglohnbeschäftigung vermuten lässt. Dieser Befund hat auch Implikationen für politische Entscheidungsträger, sofern sie eine Beeinflussung der Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung anstreben. Gemäß der Analyseergebnisse dieses Kapitels, können politische Entscheidungsträger durch die Ausgestaltung staatlicher Arbeitsmarktinstitutionen effektiv Einfluss auf die Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung nehmen und sind somit nicht auf die Akteure der verbandlichen Selbstregulierung angewiesen, um dieses strukturelle Arbeitsmarktergebnis zu beeinflussen.

5 Die Dimension des Wohlfahrtsstaates Zahlreiche staatliche Arbeitsmarktinstitutionen haben einen signifikanten Einfluss auf die Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung in entwickelten Volkswirtschaften. Da staatliche Arbeitsmarktinstitutionen ein Element des wohlfahrtsstaatlichen Institutionengefüges sind, sollte auch die Dimension des Wohlfahrtsstaates bei der Erklärung der länderspezifischen Varianz der Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung berücksichtigt werden. In Kapitel 2.2 wurde argumentiert, dass sich die Ausgestaltung wohlfahrtsstaatlicher Institutionen zwischen Wohlfahrtsstaatstypen unterscheidet. Diese Erwartung wird theoretisch damit begründet, dass jeder Wohlfahrtsstaatstypus durch spezifische normative und regulative Leitideen gekennzeichnet ist, die in einer Wechselbeziehung mit den Institutionen des Wohlfahrtsstaates stehen (vgl. Abb. 2.1). Eine Wirkungsrichtung dieser Wechselbeziehung impliziert, dass wohlfahrtsstaatstypenspezifische Leitideen Prägekraft auf die Ausgestaltung wohlfahrtsstaatlicher Institutionen ausüben. Folglich sollten sich wohlfahrtsstaatstypenspezifische Unterschiede in der Ausgestaltung der Institutionen zeigen. In Bezug auf staatliche Arbeitsmarktinstitutionen folgt aus der Wechselbeziehung zwischen Leitideen und Institutionen, dass die Ausgestaltung staatlicher Arbeitsmarktinstitutionen eine wohlfahrtsstaatstypenspezifische Varianz zeigen sollte. Dementsprechend sollte also auch ein wohlfahrtsstaatstypenspezifischer Einfluss staatlicher Arbeitsmarktinstitutionen auf die Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung zu beobachten sein (vgl. Kap. 2.3). Vor dem Hintergrund dieser theoretischen Erwartungen widmet sich das fünfte Kapitel der Untersuchung folgender Frage: Inwiefern hat die Zugehörigkeit von entwickelten Volkswirtschaften zu unterschiedlichen Wohlfahrtsstaatstypen Erklärungskraft für die Varianz der Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung? Entsprechend dieses Erkenntnisinteresses fokussieren die folgenden Analysen die Verbindungslinie 1 und den Doppelpfeil 2 des konzeptionellen Analyserahmens (vgl. Abb. 1.2). Der Aufbau des fünften Kapitels folgt dem Grundsatz, zunehmend detailliert den Zusammenhang zwischen Wohlfahrtsstaatstypen und der Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung zu untersuchen. Gemäß diesem Prinzip beginnt Kapitel 5.1 mit der Untersuchung der Verbindungslinie 1. In diesem Kontext stellt © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 V. Gerstung, Niedriglohnbeschäftigung im Wohlfahrtsstaat, Vergleichende Politikwissenschaft, https://doi.org/10.1007/978-3-658-27640-9_5

218

5 Die Dimension des Wohlfahrtsstaates

sich zunächst die Frage, ob ein signifikanter Zusammenhang zwischen der Zuordnung entwickelter Volkswirtschaften in realtypische Wohlfahrtsstaatscluster und der Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung besteht. Auf Grundlage der positiven Antwort auf diese Frage wird anschließend untersucht, ob Wohlfahrtsstaatstypen einen über die Ausgestaltung staatlicher Arbeitsmarktinstitutionen hinausgehenden Erklärungsgehalt für die Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung aufweisen. Der positive empirische Befund zu dieser Frage erlaubt den Rückschluss, dass nicht nur staatliche Arbeitsmarktinstitutionen, sondern auch andere wohlfahrtsstaatstypenspezifische Merkmale Einfluss auf die die Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung ausüben. Beide Fragen werden mittels linearer Regressionsanalysen untersucht. Abschließend überprüft Kapitel 5.1 mit Hilfe einer Varianzanalyse, ob und wenn ja, welche realtypischen Wohlfahrtsstaatscluster signifikante Unterschiede in der Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung aufweisen. Vor dem Hintergrund des in Kapitel 5.1 identifizierten Zusammenhangs zwischen Wohlfahrtsstaatstypen und der Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung, öffnen die Kapitel 5.2 und 5.3 die „Black-Box“ der Wohlfahrtsstaatstypen und untersuchen die Ursachen dieses Zusammenhangs. Gemäß dem theoretischen Grundargument wird dieser Zusammenhang durch die Wechselbeziehung zwischen den Leitideen und den Institutionen des Wohlfahrtsstaates verursacht. Das auf Grundlage dieser Wechselbeziehung entwickelte Argument eines institutionell vermittelten Einflusses wohlfahrtsstaatlicher Leitideen auf strukturelle Arbeitsmarktergebnisse, liefert einen theoretisch begründeten Erklärungsansatz für den empirisch beobachtbaren Zusammenhang zwischen Wohlfahrtsstaatstypen und der Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung (vgl. Kap. 2.3). Vor diesem theoretischen Hintergrund gehen sowohl Kapitel 5.2 als auch Kapitel 5.3 der Frage nach, inwiefern die wohlfahrtsstaatstypenspezifische Varianz der Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung durch die Prägekraft wohlfahrtsstaatstypenspezifischer Leitideen auf die Ausgestaltung staatlicher Arbeitsmarktinstitutionen erklärt werden kann. Um die empirische Evidenz dieser Prägekraft zu bestätigen, muss sowohl eine notwendige als auch eine hinreichende Bedingung erfüllt sein. Die notwendige Bedingung bezieht sich auf die Ebene des staatlichen Arbeitsmarktregimes, d.h. die Gesamtheit und das Zusammenspiel der staatlichen Arbeitsmarktinstitutionen innerhalb eines Landes. Die notwendige Bedingung besagt, dass bei einer ähnlichkeitsbasierten Gruppierung staatlicher Arbeitsmarktregime die länder-

5.1 Die Erklärungskraft der Wohlfahrtsstaatstypen

219

spezifische Zusammensetzung dieser Cluster den realtypischen Wohlfahrtsstaatsclustern entsprechen muss. Falls empirisch nicht zumindest ein approximatives Entsprechungsverhältnis zwischen diesen Clustern zu beobachten ist, muss die Hypothese der Prägekraft von wohlfahrtsstaatstypenspezifischen Leitideen auf die Ausgestaltung staatlicher Arbeitsmarktinstitutionen verworfen werden. Im Gegensatz zur notwendigen Bedingung bezieht sich die hinreichende Bedingung auf die Ebene einzelner staatlicher Arbeitsmarktinstitutionen. Sie besagt, dass die Ausgestaltung staatlicher Arbeitsmarktinstitutionen innerhalb eines realtypischen Wohlfahrtsstaatsclusters die wohlfahrtsstaatstypenspezifischen Leitideen bzw. die daraus abgeleiteten arbeitsmarktpolitischen Orientierungen spiegeln muss. Die Kapitel 5.2 und 5.3 teilen sich die Untersuchung dieser zwei Bedingungen. In Kapitel 5.2 erfolgt die empirische Überprüfung der notwendigen Bedingung anhand einer Clusteranalyse. In Kapitel 5.3 wird die hinreichende Bedingung mit Hilfe von Lage- und Streuungsparametern sowie Varianzanalysen untersucht. Mit Abschluss von Kapitel 5.3 wurden alle Elemente des konzeptionellen Analyserahmens empirisch untersucht. Daher besteht in Kapitel 5.4 erstmals die Möglichkeit, ein Fazit über die empirische Evidenz des gesamten theoretischen Grundarguments dieses Buches zu ziehen. Kapitel 5.4 hat somit das Ziel, auf Grundlage der vorausgegangenen empirischen Analyseergebnisse zu bewerten, inwiefern ein institutionell vermittelter Einfluss wohlfahrtsstaatlicher Leitideen auf die Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung zu beobachten ist. 5.1 Die Erklärungskraft der Wohlfahrtsstaatstypen Das Erkenntnisinteresse von Kapitel 5.1 richtet sich auf die Frage, inwiefern die Gruppierung entwickelter Volkswirtschaften in realtypische Wohlfahrtsstaatscluster Erklärungskraft für die Varianz der Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung innerhalb dieser Ländergruppe hat. Gemäß dem theoretischen Grundargument besteht kein direkter kausaler Zusammenhang zwischen den Wohlfahrtsstaatstypen und der Größe des Niedriglohnsektors. Aus diesem Grund ist der Begriff der „Erklärungskraft“ in Kapitel 5.1 nicht kausal zu verstehen, sondern analog zu der Bedeutung des Bestimmtheitsmaßes zu interpretieren: Wenn von der „Erklärungskraft der Wohlfahrtsstaatstypen“ gesprochen wird, so mein dies die Varianzaufklärung der abhängigen Variable durch die Zuordnung entwickelter Volkswirtschaften zu unterschiedlichen Wohlfahrtsstaatstypen, d.h. deren Gruppierung in realtypische Wohlfahrtsstaatscluster.

220

5 Die Dimension des Wohlfahrtsstaates

Um die Erklärungskraft der Wohlfahrtsstaatstypen zu quantifizieren, werden lineare Regressionsanalysen mit dummycodierten Wohlfahrtsstaatstypen berechnet (vgl. Tab. 5.1). Die Prädiktoren der Modelle werden als „Dummy_soz“ (Dummy für den sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaatstypus), „Dummy_kons“ (Dummy für den konservativen Wohlfahrtsstaatstypus) etc. bezeichnet. Als Untersuchungseinheiten dienen alle entwickelten Volkswirtschaften und das Beobachtungsjahr bezieht sich auf die between-transformierte Daten der Jahre 2006 und 2010. Das erste Modell in Tabelle 5.1 umfasst alle Wohlfahrtsstaatstypen bis auf den konservativen Typus, der als Referenzkategorie ausgelassen wurde. Die Varianzinflationsfaktoren der Prädiktoren weisen auf kein problematisches Ausmaß an Multikollinearität hin und das hoch signifikante Testergebnis des F-Test auf Gesamterklärungsgüte zeigt, dass die Gruppierung entwickelter Volkswirtschaften in fünf Wohlfahrtsstaatscluster einen signifikanten Beitrag zur Erklärung der Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung leistet. Tabelle 5.1: Regressionsanalysen mit Wohlfahrtsstaatstypen

Unabhängige Variablen

Dummy_soz Dummy_kons

Modell

1 -6,65** (2,28)

2 -11,9** (2,57)

-

-

3 ( )

-4,82 * (2,49)

4

5

6

-

-

-

-

-

-

4,58* 1,16 (2,15) (3,04) 9,51** 8,17** Dummy_ost (1,88) (2,11) 6,79** 3,82 Dummy_lib (2,15) (2,98) 13,23** 18,5** 18,05** 16,65** 14,58** 16,21** Konstante (1,36) (0,96) (1,24) (1,24) (1,11) (1,22) F-Wert 15,83** 21,56** 3,75(*) 0,14 14,96** 1,66 R2 0,39 0,1 0,004 0,31 0,05 R2korrigiert 0,63 N 36 36 36 36 36 36 Abhängige Variable: Anteil der Niedriglohnbeschäftigten (in % aller abhängig Beschäftigten). soz = sozialdemokratisch, kons = konservativ, med = mediterran, ost = mittelosteuropäisch, lib = liberal. Jahr: x̅ {2006, 2010}. Signifikanzniveau: (*) = 0,1; * = 0,05; ** = 0,01.

Dummy_med

5.1 Die Erklärungskraft der Wohlfahrtsstaatstypen

221

Das korrigierte Bestimmtheitsmaß von Modell 1 zeigt, dass die Wohlfahrtsstaatstypen einen großen Anteil der Streuung der abhängigen Variable erklären können. Mit 63% ist die Varianzaufklärung dieses Modells sogar nur vier Prozentpunkte geringer als die Varianzaufklärung des multiplen Regressionsmodells mit der besten Modellanpassungsgüte in Kapitel 4.3 (vgl. Tab. 4.18). Anhand dieses Vergleichs wird deutlich, dass die Gruppierung entwickelter Volkswirtschaften in realtypische Wohlfahrtsstaatscluster eine hohe Erklärungskraft für die Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung innerhalb dieser Ländergruppe hat. Dieser Befund unterstützt zwei theoretische Erwartungen dieser Arbeit: Erstens, das Konzept des Wohlfahrtsstaates umfasst Merkmale, die sich auf die Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung auswirken. Zweitens, diese Merkmale weisen eine wohlfahrtsstaatstypenspezifische Varianz auf (denn andernfalls hätten die fünf Wohlfahrtsstaatstypen keine Erklärungskraft für die abhängige Variable). In Kapitel 2.3 wurden für alle Wohlfahrtsstaatstypen idealtypenbasierte Hypothesen über die Wirkung der staatlichen Arbeitsmarktregime auf die Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung gebildet (vgl. Abb. 2.2). Auf Grundlage dieser Hypothesen ist zu erwarten, dass insbesondere der sozialdemokratische Wohlfahrtsstaatstypus und in geringerem Ausmaß auch der konservative Wohlfahrtsstaatstypus einen negativen Zusammenhang mit der Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung aufweisen. Der liberale Wohlfahrtsstaatstypus stellt aus theoretischer Perspektive den ideellen und institutionellen Gegenpol des sozialdemokratischen Typus dar. Folglich sollte der liberale Wohlfahrtsstaatstypus den stärksten positiven Zusammenhang mit der Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung zeigen. Auch vom mittelosteuropäischen Wohlfahrtsstaatstypus ist ein positiver Zusammenhang mit der Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung zu erwarten. Vom mediterranen Wohlfahrtsstaatstypus ist idealtypisch ein leicht positiver, aber kein starker Zusammenhang mit der Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung zu erwarten. Anhand der Regressionskoeffizienten in Tabelle 5.1 kann empirisch überprüft werden, ob die statistische Effektrichtung der Prädiktoren mit den theoretischen Erwartungen übereinstimmt. Alle Regressionskoeffizienten in Modell 1 weisen einen signifikanten Unterschied zur Referenzkategorie auf und ihre Vorzeichen entsprechen den theoretischen Erwartungen über wohlfahrtsstaatstypenspezifische Unterschiede in der Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung. So besagt der Regressionskoeffizient der Dummy-Variable für den sozial-

222

5 Die Dimension des Wohlfahrtsstaates

demokratischen Wohlfahrtsstaatstypus, dass sozialdemokratische Wohlfahrtsstaaten durchschnittlich 6,6 Prozentpunkte weniger Niedriglohnbeschäftigung aufweisen als konservative Wohlfahrtsstaaten. Dahingegen haben sowohl mediterrane als auch mittelosteuropäische und liberale Wohlfahrtsstaaten durchschnittlich einen höheren Anteil an Niedriglohnbeschäftigten als konservative Wohlfahrtsstaaten. Die Regressionskoeffizienten weisen darauf hin, dass sich die Effektstärken des mediterranen, mittelosteuropäischen und liberalen Wohlfahrtsstaatstypus auf die abhängige Variable unterscheiden. Die aus den Standardfehlern berechneten Konfidenzintervalle zeigen jedoch, dass sich ihre Effektstärken nicht signifikant voneinander unterscheiden, da sich die Wertebe110 reiche der Konfidenzintervalle überlappen. Lediglich das Konfidenzintervall des sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaatstypus zeigt keine Überlappungen mit den Wertebereichen der Konfidenzintervalle anderer Wohlfahrtsstaatstypen in 111 Modell 1. Aus diesem Befund folgt, dass sich im Vergleich zur Referenzkategorie des konservativen Wohlfahrtsstaatstypus nur der Effekt des sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaatstypus signifikant von den Effekten der anderen Wohlfahrtsstaatstypen unterscheidet. Neben der multiplen Regressionsanalyse enthält Tabelle 5.1 fünf lineare Einfachregressionen (Modell 2 bis 6). Sie dienen zur Untersuchung der Erklärungskraft sowie zur Überprüfung der Effektrichtung der einzelnen Wohlfahrtsstaatstypen. Anhand der F-Werte wird deutlich, dass der sozialdemokratische sowie der mittelosteuropäische Wohlfahrtsstaatstypus, und mit einem geringeren Signifikanzniveau auch der konservative Typus, einen signifikanten Beitrag zur Erklärung der Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung in entwickelten Volkswirtschaften leisten. Der mediterrane und der liberale Typus zeigen dahingegen keinen signifikanten Zusammenhang mit der abhängigen Variable, wenn ihre Erklärungskraft in einer Einfachregression untersucht wird. Von allen Wohlfahrtsstaatstypen leistet das Cluster sozialdemokratischer Wohlfahrtsstaaten mit 39% die größte Varianzaufklärung und hat somit die höchste Erklärungskraft für die abhängige Variable. Auch das mittelosteuropäische Cluster leistet mit 110

111

Berechnung des Konfidenzintervalls (KI) für einen Regressionskoeffizienten (βk) anhand des Standardfehlers des Regressionskoeffizienten (SEβk) für ein Signifikanzniveau von 5%: unterer Wert des KI: βk – 2 x SEβk; oberer Wert des KI: βk + 2 x SEβk (Kaplan 2012: 233f.). Konfidenzintervalle (KI) der Regressionskoeffizienten in Modell 1 in Tabelle 5.1: KI Dummy_soz: {-11,21 ; -2,09} KI Dummy_med: {0,28 ; 8,88} KI Dummy_ost: {5,75 ; 13,27} KI Dummy_lib: {2,49 ; 11,09}

5.1 Die Erklärungskraft der Wohlfahrtsstaatstypen

223

31% eine verhältnismäßig hohe Varianzaufklärung. Die übrigen Cluster haben eine deutliche geringere Erklärungskraft. Die Vorzeichen der Regressionskoeffizienten in den fünf Einfachregressionen bestätigen weitgehend die theoretischen Erwartungen über den Zusammenhang der unterschiedlichen Wohlfahrtsstaatstypen mit der Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung: Das Cluster sozialdemokratischer Wohlfahrtsstaaten hat durchschnittlich eine signifikant geringere Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung als die Länder der anderen Wohlfahrtsstaatstypen. Dieser Zusammenhang zeigt sich mit deutlich geringerer Effektstärke und einem schwachen Signifikanzniveau auch für das Cluster konservativer Wohlfahrtsstaaten. Dahingegen hat das Cluster mittelosteuropäischer Wohlfahrtsstaaten durchschnittlich eine signifikant höhere Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung als Länder anderer Wohlfahrtsstaatstypen. Somit entspricht die Effektrichtung aller signifikanten Regressionskoeffizienten den theoretischen Erwartungen aus Kapitel 2.3. Selbst der Befund, dass der mediterrane Wohlfahrtsstaatstypus keinen signifikanten Zusammenhang mit der abhängigen Variable aufweist, spiegelt die theoretische Erwartung eines leicht positiven, aber schwachen Zusammenhangs dieses Wohlfahrtsstaatstypus mit der Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung. Für den liberalen Wohlfahrtsstaatstypus zeichnet sich dahingegen ein Bild ab, dass nicht gänzlich mit den theoretischen Erwartungen übereinstimmt: Das positive Vorzeichen des Regressionskoeffizienten in Modell 6 entspricht zwar der Erwartung, dass sich das Institutionengefüge liberaler Wohlfahrtsstaaten positiv auf die Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung auswirkt, aber dieser Zusammenhang ist nicht statistisch signifikant. Dieser Befund ist insofern bemerkenswert, als dass der liberale Typus theoretisch als (ideeller, institutioneller und struktureller) Gegenpol des sozialdemokratischen Typus konzeptionalisiert wird und daher einen stark positiven Zusammenhang mit der abhängigen Variable zeigen sollte. Stattdessen stellt sich im Rahmen der Regressionsanalysen der mittelosteuropäische Wohlfahrtsstaatstypus als Gegenpol des sozialdemokratischen Typus dar, denn das mittelosteuropäische Cluster hat sowohl eine höhere mittlere Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung als auch eine geringere Streuung der Beobachtungen als das liberale Cluster. Im Anschluss an die Befunde der Regressionsanalysen in Tabelle 5.1 stellt sich die Frage, ob Wohlfahrtsstaatstypen eine Ergänzung der Erklärungskraft staatli-

224

5 Die Dimension des Wohlfahrtsstaates

cher Arbeitsmarktinstitutionen für die Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung darstellen. Wenn die Gruppierung der Untersuchungseinheiten in fünf Wohlfahrtsstaatscluster einen zusätzlichen Erklärungsgehalt zeigt, erlaubt dies den Rückschluss, dass die Wohlfahrtsstaatstypen eine über die Ausgestaltung staatlicher Arbeitsmarktinstitutionen hinausgehende Erklärungskraft für die Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung haben, d.h. dass weitere wohlfahrtsstaatstypenspezifische Merkmale Einfluss auf die Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung ausüben. Zur Untersuchung dieser Frage wird in Tabelle 5.2 die Gesamterklärungsgüte eines Regressionsmodells, das ausschließlich staatliche Arbeitsmarktinstitutionen umfasst, mit der Gesamterklärungsgüte eines Regressionsmodells, das sowohl staatliche Arbeitsmarktinstitutionen als auch die fünf Wohlfahrtsstaatstypen umfasst, verglichen. Um die Anzahl der Prädiktorvariablen zu reduzieren, werden keine manifesten Variablen, sondern die vier Hauptkomponenten zu staatlichen Arbeitsmarktinstitutionen verwendet. Während das erste Modell in Tabelle 5.2 ausschließlich alle vier Komponenten 112 zu staatlichen Arbeitsmarktinstitutionen umfasst , nimmt Modell 2 zusätzlich die dummycodierten Wohlfahrtsstaatstypen auf, wobei der konservative Wohl113 fahrtsstaatstypus als Referenzkategorie ausgelassen wird. Die F-Tests zeigen, dass beide Modelle eine signifikante Gesamterklärungsgüte haben. Allerdings ist die Varianzaufklärung der abhängigen Variable im zweiten Modell mit 73% erheblich größer als im ersten Modell (51%). Der Vergleich der BetaKoeffizienten zwischen Modell 1 und Modell 2 zeigt, dass die relative Erklärungskraft der Komponente zur passiven und aktiven Arbeitsmarktpolitik, zur Strenge der Leistungsanspruchskriterien und zur Existenz von gesetzlichen Mindestlöhnen deutlich sinkt, wenn für die Wohlfahrtsstaatstypen kontrolliert wird. Bei diesen drei Prädiktorvariablen sind die Standardfehler in Modell 2 so hoch, dass sie keine zuverlässige Schätzung der abhängigen Variable erlauben. Dieser Befund bedeutet, dass jener Anteil der Varianz der abhängigen Variable, der in Modell 1 durch die drei Komponenten erklärt wurde, in Modell 2 besser durch die Wohlfahrtsstaatstypen erklärt wird. Dahingegen sind die Effektstärke und die Erklärungskraft der Komponente zur Arbeitsmarktregulierung in beiden Modellen annähernd gleich hoch. Dieser Befund impliziert, dass die von der HK_Arbeitsmarktregulierung geleistete Varianzaufklärung der abhängigen Variable nicht durch die Wohlfahrtsstaatstypen absorbiert wird, d.h. dass keine 112 113

Modell 1 in Tabelle 5.2 ist identisch mit Modell 1 in Tabelle 4.18 in Kapitel 4.3. Die Varianzinflationsfaktoren in Modell 2 weisen auf kein problematisches Ausmaß an Multikollinearität hin.

5.1 Die Erklärungskraft der Wohlfahrtsstaatstypen

225

bedeutsame Kovarianz zwischen den länderspezifischen Merkmalsausprägungen dieser Komponente und den Wohlfahrtsstaatstypen existiert. Tabelle 5.2: Regressionsanalysen mit Wohlfahrtsstaatstypen und Arbeitsmarktinstitutionen Modell

1 β (SE(β)) -1,31 (1,06) 2,06(*) (1,0) -3,24** (0,95) 1,51 (0,97)

-0,33

Dummy_soz

-

-

Dummy_kons

-

-

Dummy_med

-

-

Dummy_ost

-

-

Dummy_lib

-

-

Unabhängige Variablen HK_Arbeitsmarktpolitik HK_Leistungsanspruchskriterien HK_Arbeitsmarktregulierung HK_Mindestlohn

Beta -0,21

-0,52 0,24

β (SE(β)) 0,77 (0,92) 0,93 (0,81) -3,29** (0,99) -0,78 (0,95) -10,32** (2,45) 5,57* (2,39) 5,92* (2,37) 2,8 (2,7) 14,48** (1,31)

2

Beta 0,13 0,15 -0,53 -0,13 -0,59 -

0,32 0,39 0,19

15,63** (0,8) F-Wert 8,3** 10,3** R2korrigiert 0,51 0,73 N 29 29 Abhängige Variable: Anteil der Niedriglohnbeschäftigten (in % aller abhängig Beschäftigten). soz = sozialdemokratisch, kons = konservativ, med = mediterran, ost = mittelosteuropäisch, lib = liberal. Jahr: x̅ {2006, 2010}. Signifikanzniveau: (*) = 0,1; * = 0,05; ** = 0,01.

Konstante

Insgesamt verdeutlichen die zwei Regressionsanalysen in Tabelle 5.2, dass die Hinzunahme der Wohlfahrtsstaatstypen die Erklärungskraft des Modells für die länderspezifische Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung stark verbessert. Prinzipiell kann der Anstieg der Gesamterklärungsgüte zwei sich nicht gegenseitig ausschließende Ursachen haben: Zum einen könnten weitere wohlfahrtsstaatstypenspezifische Institutionen (wie zum Beispiel Institutionen der Familienpolitik) Einfluss auf die Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung ausüben. Zum anderen könnten nicht-wohlfahrtsstaatliche institutionelle Erklärungsfak-

226

5 Die Dimension des Wohlfahrtsstaates

toren (wie zum Beispiel die Institutionen der Industriellen Beziehungen) durch wohlfahrtsstaatstypenspezifische Leitideen geprägt sein und somit in ihren Merkmalsausprägungen eine wohlfahrtsstaatstypenspezifische Varianz zeigen. Unabhängig davon ob nur eine oder beide Ursachen den zusätzlichen Erklärungsgehalt der Wohlfahrtsstaatstypen verursachen, verdeutlicht der Vergleich der Regressionsmodelle in Tabelle 5.2, dass die Erklärungskraft der Wohlfahrtsstaatstypen eine breitere Grundlage hat als die wohlfahrtsstaatstypenspezifische Ausgestaltung staatlicher Arbeitsmarktinstitutionen. Nachdem die vorausgegangenen Analysen gezeigt haben, dass die Gruppierung entwickelter Volkswirtschaften in realtypische Wohlfahrtsstaatscluster eine hohe Erklärungskraft für die Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung hat und diese Erklärungskraft über die wohlfahrtsstaatstypenspezifische Ausgestaltung staatlicher Arbeitsmarktinstitutionen hinausgeht, richtet sich die letzte Analyse von Kapitel 5.1 auf die Frage, welche realtypischen Wohlfahrtsstaatscluster signifikante Unterschiede in ihrer Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung aufweisen. Für einen systematischen Paarvergleich aller Wohlfahrtsstaatstypen wird eine einfaktorielle Varianzanalyse (ANOVA) mit anschließenden Post-hoc-Tests berechnet. Die Untersuchungseinheiten umfassen alle 36 entwickelten Volkswirtschaften und das Beobachtungsjahr bezieht sich auf die betweentransformierten Daten zur Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung der Jahre 2006 und 2010. Da es sich bei der ANOVA um ein parametrisches Testverfahren handelt, müssen die Daten bestimmte Voraussetzungen erfüllen, damit die Testergebnisse zuverlässig sind. Diese Voraussetzungen werden hier alle erfüllt, denn die abhängige Variable (Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung) ist intervallskaliert, die unabhängige Variable bzw. der Faktor (die Wohlfahrtsstaatstypen) ist kategorial, die durch den Faktor gebildeten Wohlfahrtsstaatscluster sind unabhängig, die abhängige Variable ist innerhalb jedes Clus114 115 ters normalverteilt und in allen Clustern besteht Varianzhomogenität (Field 2009: 132f.).

114

Der Kolmogorov-Smirnov-Test auf Normalverteilung zeigt für kein Wohlfahrtsstaatscluster ein signifikantes Testergebnis, d.h. in keinem Cluster kann die Nullhypothese (H0: Die Verteilung der Daten weicht nicht signifikant von der Normalverteilung ab.) abgelehnt werden (Field 2009: 144-48).

5.1 Die Erklärungskraft der Wohlfahrtsstaatstypen

227

Die einfaktorielle Varianzanalyse testet, ob Mittelwertdifferenzen zwischen mindestens drei unabhängigen Gruppen bestehen. Die Nullhypothese lautet, dass keine signifikanten Unterschiede zwischen den Mittelwerten der Gruppen existieren. Dementsprechend lautet die Alternativhypothese, dass mindestens zwischen zwei Gruppen signifikante Mittelwertdifferenzen existieren (Field 2009: 348-154). Anhand eines F-Tests wird zunächst überprüft, ob der fünfstufige Faktor k (die fünf Wohlfahrtsstaatstypen) als Ganzes einen Erklärungsgehalt für die abhängige Variable besitzt. Der F-verteilte kritische F-Wert (Fkrit = k-1; Nk = 4; 31) für ein Signifikanzniveau von 5% beträgt 2,68. Der durch SPSS berechnete empirische F-Wert beträgt 15,83. Da Fkrit (2,68) < Femp (15,83), muss die Nullhypothese verworfen werden, d.h. es existiert mindestens zwischen zwei realtypischen Wohlfahrtsstaatsclustern ein signifikanter Mittelwertunterschied. Der globale F-Test liefert allerdings keine Informationen darüber, welche Cluster signifikante Mittelwertunterschiede besitzen. Um diese Frage zu beantworten, müssen Post-hoc-Tests berechnet werden. Bei Post-hoc-Tests handelt es sich im Prinzip um multiple t-Tests, da für jede Gruppenkombination ein Test auf die Signifikanz der Mittelwertdifferenz durchgeführt wird. Bei fünf Wohlfahrtsstaatsclustern sind folglich zehn Paarvergleiche notwendig (vgl. Tab. 5.3). Durch das multiple Testen der gleichen Nullhypothese (H0 = Es besteht kein signifikanter Unterschied zwischen den Mittelwerten der zwei Gruppen.) wer116 den jedoch die Testergebnisse unzuverlässiger, da der Alpha-Fehler mit der Anzahl der Vergleiche steigt. Um das Problem der Alphafehler-Kumulierung zu umgehen, wird eine Bonferroni-Korrektur vorgenommen. Bei dieser Art der Fehlerkorrektur wird das Signifikanzniveau α (also die Wahrscheinlichkeit des Eintritts des Alpha-Fehlers) durch die Anzahl der Paarvergleiche dividiert und jeder t-Test gegen das angepasste α geprüft. Bei zehn Paarvergleichen und einem angestrebten Signifikanzniveau von α = 0,05 nimmt das angepasste α somit den Wert von α = 0,005 an (Field 2009: 372-374). Da die Signifikanzwerte in Tabelle 5.3 bereits Bonferroni-korrigiert wurden, können sie gegen die üblichen Signifikanzniveaus (α = 1%, 5% und 10%) geprüft werden.

115

116

Der Levene-Test auf Varianzhomogenität zeigt kein signifikantes Testergebnis, d.h. die Nullhypothese (H0: Die Varianzen in den Gruppen haben keine signifikanten Unterschiede.) kann nicht abgelehnt werden (Field 2009: 150). Der Alpha-Fehler bedeutet, dass die Nullhypothese abgelehnt wird, obwohl die Nullhypothese zutrifft.

228

5 Die Dimension des Wohlfahrtsstaates

Tabelle 5.3: Post-hoc-Tests: Mittelwertdifferenzen der Wohlfahrtsstaatstypen Wohlfahrtsstaatstypen MittelwertStandardSignifikanzwert im Paarvergleich differenz fehler ( ) sozialdemokratisch konservativ -6,65 * 2,28 0,065 sozialdemokratisch mediterran -11,23** 2,48 0,001 sozialdemokratisch mittelosteuropäisch -16,17** 2,24 0,00 sozialdemokratisch liberal -13,45** 2,48 0,00 konservativ mediterran -4,58 2,16 0,418 konservativ mittelosteuropäisch -9,51** 1,88 0,00 konservativ liberal -6,79* 2,16 0,036 mediterran mittelosteuropäisch -4,94 2,11 0,26 mediterran liberal -2,22 2,36 0,99 mittelosteuropäisch liberal 2,72 2,11 0,99 Abhängige Variable: Anteil der Niedriglohnbeschäftigten (in % aller abhängig Beschäftigten). Jahr: x̅ {2006, 2010} Signifikanzniveau: (*) = 0,1; * = 0,05; ** = 0,01.

Die Signifikanzwerte der Mittelwertdifferenzen zeigen, dass sechs von zehn Paarvergleiche signifikante Unterschiede bei der mittleren Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung haben. Das sozialdemokratische Wohlfahrtsstaatscluster weist zu allen anderen Wohlfahrtsstaatsclustern eine signifikant negative Mittelwertdifferenz auf, d.h. die mittlere Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung im sozialdemokratischen Cluster ist signifikant niedriger als in jedem anderen Wohlfahrtsstaatscluster. Lediglich im Paarvergleich mit dem konservativen Cluster ist die Signifikanz der Mittelwertdifferenz etwas schwächer, spiegelt damit allerdings auch den verhältnismäßig geringeren Unterschied zwischen den arbeitsmarktpolitischen Orientierungen dieser zwei Wohlfahrtsstaatstypen (vgl. Tab. 2.6). Das konservative Wohlfahrtsstaatscluster hat mit allen Wohlfahrtsstaatsclustern, mit Ausnahme des mediterranen Clusters, eine signifikante Mittelwertdifferenz. Auch im Falle des Paarvergleichs zwischen dem konservativen und dem mediterranen Cluster spiegelt die fehlende Signifikanz der Teststatistik die verhältnismäßig geringe Differenz der arbeitsmarktpolitischen Orientierungen dieser zwei Wohlfahrtsstaatstypen. Trotzdem der liberale Wohlfahrtsstaatstypus aus theoretischer Perspektive den Gegenpol zum sozialdemokratischen Typus darstellt, weist das liberale Wohlfahrtsstaatscluster nur im Vergleich mit dem sozialdemokratischen und dem konservativen Cluster signifikante Unterschiede in der Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung auf. Somit erweist sich der liberale Typus in der Empirie weniger als Extrempol als der sozialdemokratische Wohlfahrtsstaatstypus.

5.2 Wohlfahrtsstaatstypen und staatliche Arbeitsmarktregime

229

In der Summe veranschaulichen die Testergebnisse in Tabelle 5.3, dass mit steigenden Unterschieden der normativen und regulativen Leitideen bzw. den daraus abgeleiteten arbeitsmarktpolitischen Orientierungen auch die Unterschiede in der mittleren Verbreitung der Niedriglohnbeschäftigung zwischen den Wohlfahrtsstaatsclustern steigen. Wohlfahrtsstaatstypen mit geringen ideellen Unterschieden zeigen dahingegen nur geringe oder keine signifikanten Mittelwertdifferenzen. Diese Beobachtung kann als Hinweis auf den institutionell vermittelten Einfluss wohlfahrtsstaatlicher Leitideen auf die Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung interpretiert werden. Die Gesamtheit der Analyseergebnisse in Kapitel 5.1 erlaubt die Schlussfolgerung, dass die Dimension des Wohlfahrtsstaates einen relevanten Erklärungsfaktor für die Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung in entwickelten Volkswirtschaften darstellt. Diese Schlussfolgerung basiert zum einen auf dem Befund, dass Wohlfahrtsstaatstypen eine hohe Erklärungskraft für die heterogene Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung haben. Zum anderen unterscheiden sich viele Wohlfahrtsstaatstypen signifikant und gemäß den theoretischen Erwartungen in ihrer mittleren Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung. 5.2 Wohlfahrtsstaatstypen und staatliche Arbeitsmarktregime Gemäß des theoretischen Grundargumentes ist der institutionell vermittelte Einfluss wohlfahrtsstaatstypenspezifischer Leitideen auf strukturelle Arbeitsmarktergebnisse ursächlich für die in Kapitel 5.1 identifizierte Erklärungskraft von Wohlfahrtsstaatstypen für die Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung. Um die Prägekraft wohlfahrtsstaatstypenspezifischer Leitideen auf die Ausgestaltung staatlicher Arbeitsmarktinstitutionen empirisch bestätigen zu können, muss sowohl eine notwendige als auch eine hinreichende Bedingung erfüllt sein. Die notwendige Bedingung bezieht sich auf die Ebene des staatlichen Arbeitsmarktregimes. Sie besagt, dass bei einer ähnlichkeitsbasierten Gruppierung staatlicher Arbeitsmarktregime die länderspezifische Zusammensetzung dieser Gruppen bzw. Cluster den realtypischen Wohlfahrtsstaatsclustern entsprechen muss. Kapitel 5.2 untersucht die notwendige Bedingung. Die empirische Überprüfung dieser Bedingung erfolgt mittels einer Clusteranalyse. Zunächst wird allerdings die theoretische Begründung der notwendigen Bedingung erörtert.

230

5 Die Dimension des Wohlfahrtsstaates

5.2.1 Staatliche Arbeitsmarktregime: Definition und Typen Der Begriff des Arbeitsmarktregimes ist definiert als „multiplicity of institutions influencing labour supply, utilization and demand in a given country” (Bosch et al. 2007: 254). Diese Definition beinhaltet sowohl staatliche Arbeitsmarktinstitutionen als auch die Institutionen der industriellen Beziehungen. Demzufolge ist das staatliche Arbeitsmarktregime jene Teilmenge des Arbeitsmarktregimes, die die Gesamtheit staatlicher Arbeitsmarktinstitutionen, d.h. Institutionen der staatlichen Arbeitsmarktpolitik sowie Institutionen der staatlichen Arbeitsmarktregulierung, umfasst. Das staatliche Arbeitsmarktregime prägt zum einen ex ante die Allokationsmechanismen auf dem Arbeitsmarkt, indem es die ordnungspolitischen Spielregeln für das Angebot, die Nachfrage und die Nutzung des Produktionsfaktors Arbeit bestimmt. Zum anderen greift das staatliche Arbeitsmarktregime ex post in Arbeitsmarktergebnisse ein, um die durch den Marktmechanismus generierte Ressourcenverteilung zu verändern (Lessenich 1994: 229). Da diesem Buch ein weites Wohlfahrtsverständnis zugrunde liegt, sind staatliche Arbeitsmarktinstitutionen Teil des wohlfahrtsstaatlichen Institutionengefüges (vgl. Tab. 2.4). Daraus folgt, dass auch das staatliche Arbeitsmarktregime als Element des Wohlfahrtsstaates zu betrachten ist. Die Prägekraft wohlfahrtsstaatlicher Leitideen sollte sich somit nicht nur auf Ebene einzelner staatlicher Arbeitsmarktinstitutionen wiederspiegeln, sondern auch auf Ebene des staatlichen Arbeitsmarktregimes. Diese Auffassung wird von unterschiedlichen Arbeitsmarkt- und Wohlfahrtsstaatsforschern geteilt. So vertreten zum Beispiel Esping-Andersen und Lessenich den Standpunkt, dass ein Entsprechungsverhältnis der Regulierungslogik und der Interventionsmuster zwischen dem staatlichen Arbeitsmarktregime und dem Wohlfahrtsstaat existiert, weil sie denselben wohlfahrtsstaatlichen Leitideen bzw. derselben sozialpolitischen Philosophie folgen (Esping-Andersen 1990: 222; Kohl 1993: 76; Lessenich 1994: 226; 1995: 28). Selbst Vertreter eines Wohlfahrtsstaatsverständnisses von mittlerer Breite betonen, dass der Wohlfahrtsstaat und das staatliche Arbeitsmarktregime nicht als isolierte Einheiten betrachtet werden sollten. Stattdessen gehen sie von einer funktional äquivalenten bzw. komplementären Beziehung vor dem Hintergrund eines gemeinsamen Strukturzusammenhangs aus. Die Komplementarität bzw. die funktionale Äquivalenz zwischen staatlichem Arbeitsmarktregime und Wohlfahrtsstaat

5.2 Wohlfahrtsstaatstypen und staatliche Arbeitsmarktregime

231

begründen sie damit, dass beide Institutionengefüge gesellschaftliche Integrations- und Ausgrenzungsdynamiken (soziale Selektionsmuster) definieren und dadurch die Struktur der sozialen Ungleichheit prägen (Bieling 1995: 7, 28; Bonoli 2003). Unabhängig davon, ob das staatliche Arbeitsmarktregime als Teilmenge des Wohlfahrtsstaates oder in komplementärer Beziehung zum Wohlfahrtsstaat konzeptionalisiert wird, teilen beide Perspektiven die Erwartung, dass sich grundlegende (ideelle und institutionelle) Charakteristika eines Wohlfahrtsstaatstypus im staatlichen Arbeitsmarktregime wiederspiegeln sollten. Vor diesem Hintergrund identifizieren Arbeitsmarktsoziologen und politische Ökonomen wie Lessenich, Bieling und Gallie unterschiedliche Typen (staatlicher) Arbeitsmarktregime, die sie entweder in unmittelbaren oder in mittelbaren Zusammenhang mit den Wohlfahrtsstaatstypen stellen. In direktem Zusammenhang mit den Wohlfahrtsstaatstypen beschreiben Lessenich (1994) und Bieling (1995) vier Arbeitsmarktregimetypen, deren Charakteristika im Einklang mit dem idealtypischen sozialdemokratischen, konservativen, liberalen und mediterranen Wohlfahrtsstaat stehen (vgl. Kapitel 2.2.3.2). Gallie (2007) identifiziert drei Arbeitsmarktregimetypen: das inklusive, das dualistische und das marktorientierte Arbeitsmarktregime. Dabei geht er ex ante nicht explizit von einem Entsprechungsverhältnis mit bestimmten Wohlfahrtsstaatstypen aus, betont aber die Ähnlichkeit der von ihm identifizierten drei Arbeitsmarktregime mit dem sozialdemokratischen, dem konservativen und dem liberalen Wohlfahrtsstaatstypus. Nachfolgend werden die Charakteristika der Arbeitsmarktregimetypen zusammenfassend dargestellt. Der Vergleich mit den idealtypischen arbeitsmarktpolitischen Orientierungen (vgl. Tab. 2.6) offenbart eine starke Übereinstimmung zwischen den Charakteristika der Arbeitsmarktregimetypen und den Wohlfahrtsstaatstypen. Sozialdemokratisches Arbeitsmarktregime Das sozialdemokratische bzw. das inklusive Arbeitsmarktregime hat das Ziel, einen möglichst großen Anteil der erwerbsfähigen Bevölkerung in den Arbeitsmarkt zu integrieren und dadurch soziale Ungleichheit zu reduzieren. Dieses Ziel soll sowohl durch umfassende Maßnahmen im Bereich der aktiven Arbeitsmarktpolitik als auch durch eine hohe Beschäftigungsquote im öffentlichen Sektor erreicht werden. Letzteres dient insbesondere der Arbeitsmarktintegra-

232

5 Die Dimension des Wohlfahrtsstaates

tion von Frauen. Darüber hinaus garantiert das sozialdemokratische Arbeitsmarktregime weitreichende Arbeitnehmerrechte und generöse Transferleistungen bei Arbeitslosigkeit. Durch die gezielte Förderung von verhandlungsschwachen Arbeitnehmergruppen sowie einer generösen sozialen Mindestsicherung, wirkt der Staat aktiv einer Polarisierung des Arbeitsmarktes entgegen. Gewerkschaften haben eine starke Machtposition in der Gestaltung der Arbeitsbeziehungen. Diese Machtposition entsteht durch den hohen gewerkschaftlichen Organisationsgrad der Arbeitnehmer, die systematische Einbeziehung der Gewerkschaften in arbeitsmarkt- und sozialpolitische Entscheidungen der Regierung sowie institutionell verankerte Mitbestimmungsrechte der Gewerkschaften bei unternehmerischen Entscheidungen. Insgesamt spiegeln diese Charakteristika die idealtypischen arbeitsmarktpolitischen Orientierungen des sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaates: sehr starker Ausgleich des Machtungleichgewichts zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern, sehr starke Emanzipation der Staatsbürger von der Marktabhängigkeit, sehr hoher Inklusionsgrad von Schutzmechanismen und wohlfahrtsstaatlichen Leistungen. Konservatives Arbeitsmarktregime Im konservativen bzw. im dualistischen Arbeitsmarktregime bildet das Normalarbeitsverhältnis das normative Leitbild sowie den Bezugspunkt staatlicher Arbeitsmarktpolitik und Arbeitsmarktregulierung. Es findet eine Hierarchisierung des Arbeits- und Sozialrechts zugunsten einer gut ausgebildeten Kernarbeitnehmerschaft und zulasten der Arbeitsbedingungen und der sozialen Sicherheit atypisch beschäftigter Arbeitnehmer statt. Eine wesentliche Ursache dieser Spaltung der Arbeitnehmerschaft liegt im Ausbildungssystem, das spezialisierten Facharbeitern hohe Löhne und stark geschützte Arbeitsplätze garantiert, während Arbeitsplätze außerhalb dieses Bereichs oftmals durch deutlich schlechtere Arbeitsbedingungen gekennzeichnet sind. Das konservative Arbeitsmarktregime verschärft die Dualisierung des Arbeitsmarktes zusätzlich, indem es atypische Beschäftigungsverhältnisse stärker flexibilisiert und dereguliert als reguläre Beschäftigungsverhältnisse und gleichzeitig die Privilegien von Beschäftigten in Normalarbeitsverhältnissen sichert oder sogar erweitert. Diese Ausrichtung der Arbeitsmarktpolitik und Arbeitsmarktregulierung begünstigt die Entstehung abgeschotteter, hochproduktiver Teilarbeitsmärkte für regulär Beschäftigte in großen und mittelständischen Unternehmen, während überschüssige Arbeitskräfte aus dem Arbeitsmarkt ausgeschlossen werden oder zumindest keine gezielte Förderung erfahren. Gewerkschaften werden in der Regel

5.2 Wohlfahrtsstaatstypen und staatliche Arbeitsmarktregime

233

nur konsultativ in arbeitsmarkt- und sozialpolitische Entscheidungen der Regierung einbezogen, so dass ihr Einfluss stark von der parteipolitischen Zusammensetzung der Regierung abhängt. Allerdings konzentriert sich auch die Gewerkschaftspolitik vornehmlich auf die Kernarbeiterschaft großer Unternehmen und weniger auf atypische und prekäre Beschäftigungsverhältnisse an den Rändern des Arbeitsmarktes. Aus der Summe dieser Charakteristika entsteht ein starker Kontrast zwischen Arbeitsmarktinsidern und Outsidern, wobei zu den Outsidern sowohl Erwerbslose als auch atypisch Beschäftigte zählen. Insgesamt spiegeln diese Charakteristika die idealtypischen arbeitsmarktpolitischen Orientierungen des konservativen Wohlfahrtsstaates: starker bis mittlerer Ausgleich des Machtungleichgewichts zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern, starke bis mittlere Emanzipation der Staatsbürger von der Marktabhängigkeit, mittlerer Inklusionsgrad von Schutzmechanismen und wohlfahrtsstaatlichen Leistungen. Liberales Arbeitsmarktregime Im liberalen bzw. im marktorientierten Arbeitsmarktregime dominieren das Leitbild der Eigenverantwortung sowie das Primat der Vertragsfreiheit. Das Ziel dieses Arbeitsmarktregimes besteht darin, das freie Spiel der Marktkräfte möglichst wenig einzuschränken, um eine geringe Arbeitslosigkeit und eine hohe Arbeitsproduktivität zu realisieren. In starkem Kontrast zum sozialdemokratischen Arbeitsmarktregime ist eine hohe Beschäftigungsquote kein Ziel, das mit arbeitsmarktpolitischen Instrumenten gefördert wird, sondern soll sich allein durch den Marktmechanismus einstellen. Aus diesem Grund beschränkt sich die staatliche Arbeitsmarktregulierung auf ein Minimum und prozesspolitische Maßnahmen bzw. marktkorrigierende Eingriffe finden kaum statt. Im Gegensatz zum konservativen Arbeitsmarktregime verursacht die unterschiedslos sehr geringe staatliche Arbeitsmarktregulierung im liberalen Arbeitsmarktregime allerdings keine Statusunterschiede zwischen dem Normalarbeitsverhältnis und atypischer Beschäftigung. Der Staat fungiert als Marktaktivierer, dessen Ziel darin besteht, den Arbeitsmarktakteuren größtmögliche Autonomie zu gewähren und die Entstehung von Arbeitsmarktrigiditäten zu verhindern. Entsprechend dieser Logik werden Arbeitsbedingungen primär als Verhandlungssache zwischen Arbeitgebern und einzelnen Arbeitnehmern betrachtet und Organisationen, die der Dynamik eines freien Marktes entgegenwirken (insbesondere Gewerkschaften) werden nicht durch den Staat unterstützt oder sogar in ihrem Wirken eingeschränkt. Folglich besteht in liberalen Arbeitsmarktregimen ein sehr asymmetrisches Machtverhältnis zwischen Arbeitnehmern und Arbeitge-

234

5 Die Dimension des Wohlfahrtsstaates

bern; zum Nachteil der Arbeitnehmer. Um einen hohen Druck zur Arbeitsmarktpartizipation aufzubauen, existiert lediglich ein rudimentäres soziales Sicherungsnetz. Als Konsequenz des freien Spiels nur formal gleicher Arbeitsmarktakteure entstehen ein erhebliches Ausmaß sozialer Ungleichheit und starke Exklusionseffekte. Insgesamt spiegeln diese Charakteristika die idealtypischen arbeitsmarktpolitischen Orientierungen des liberalen Wohlfahrtsstaates: sehr geringer Ausgleich des Machtungleichgewichts zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern, sehr geringe Emanzipation der Staatsbürger von der Marktabhängigkeit, sehr niedriger Inklusionsgrad von Schutzmechanismen und wohlfahrtsstaatlichen Leistungen. Mediterranes Arbeitsmarktregime Im Gegensatz zum sozialdemokratischen, konservativen und liberalen Arbeitsmarktregime, folgt das mediterrane Regime keinem konkreten Leitbild. Das verbindende Element dieses Arbeitsmarktregimetypus besteht vielmehr in einer Reihe tendenziell dysfunktionaler Eigenschaften, die allerdings im Einklang mit den Charakteristika des idealtypischen mediterranen Wohlfahrtsstaates stehen. Im mediterranen Arbeitsmarktregime sind Klientelismus und Patronage weit verbreitete Phänomen, die sich auch in der Beschäftigungsstruktur wiederspiegeln. Ein relativ geringer Anteil der Arbeitnehmer ist in Normalarbeitsverhältnissen beschäftigt. Diese kleine, überwiegend männliche Gruppe von Arbeitnehmern, ist mehrheitlich im Staatsdienst oder im industriellen Sektor beschäftigt und genießt einen deutlich privilegierten Status im Vergleich zu der übrigen Arbeitnehmerschaft. Ihre Privilegien drücken sich in Form einer besseren sozialen Absicherung sowie umfangreicherer Arbeitnehmerschutzrechte aus. Für atypisch Beschäftigte dient dahingegen vor allem die Familie als soziales Sicherungsnetz bei Arbeitslosigkeit oder geringen Erwerbseinkommen. Das mediterrane Arbeitsmarktregime bemüht sich weder um die Integration von Frauen in den Arbeitsmarkt, noch existiert eine aktive Arbeitsmarktpolitik die benachteiligte Personengruppen auf dem Arbeitsmarkt gezielt fördert. Insgesamt trägt die Konfiguration der staatlichen Arbeitsmarktinstitutionen im mediterranen Arbeitsmarktregime nicht nur zu einer Dualisierung, Segmentierung und Prekarisierung des Arbeitsmarktes bei, sondern ist auch eine zentrale Ursache für die traditionell hohe Verbreitung von Schattenwirtschaft. Insgesamt spiegeln diese Charakteristika die idealtypischen arbeitsmarktpolitischen Orientierungen des mediterranen Wohlfahrtsstaates: mittlerer bis geringer Ausgleich des Machtungleichgewichts zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern, mittlere bis geringe

5.2 Wohlfahrtsstaatstypen und staatliche Arbeitsmarktregime

235

Emanzipation der Staatsbürger von der Marktabhängigkeit, eher niedriger Inklusionsgrad von Schutzmechanismen und wohlfahrtsstaatlichen Leistungen. Mittelosteuropäisches Arbeitsmarktregime Da keine der zu Beginn von Kapitel 5.2.1 aufgeführten Arbeitsmarktregimetypologien mittelosteuropäische Länder in die Fallauswahl ihrer Typenbildung einbeziehen, identifiziert auch keine dieser Typologien ein mittelosteuropäisches Arbeitsmarktregime. Gemäß des theoretischen Argumentes ist allerdings auch in mittelosteuropäischen Wohlfahrtsstaaten zu erwarten, dass staatliche Arbeitsmarktinstitutionen durch typenspezifische Leitideen geprägt werden und sich somit auch im staatlichen Arbeitsmarktregime spiegeln. Ähnlich wie im mediterranen Arbeitsmarktregime, ist auch im mittelosteuropäischen Arbeitsmarktregime kein konkretes arbeitsmarktpolitisches Leitbild zu erkennen. Auf Grund der Systemtransformationen in den 1940er Jahren und Ende der 1980er Jahre überlagern sich unterschiedliche normative und regulative Leitideen. Um nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion zu wettbewerbsfähigen, marktwirtschaftlichen Volkswirtschaften zu werden, haben die mittelosteuropäischen Länder ab Mitte der 1990er Jahre marktorientierte bzw. liberale Arbeitsmarktreformen durchgeführt. Somit weisen die mittelosteuropäischen Arbeitsmarktregime gegenwärtig viele Elemente des liberalen Arbeitsmarktregimes auf (hoher Druck zur Arbeitsmarktpartizipation, rudimentäres soziales Sicherungsnetz, kaum aktive Arbeitsmarktpolitik, geringe Arbeitnehmerschutzrechte). Im Bereich der Arbeitslosenversicherung sind allerdings auch Status bewahrende Elemente zu erkennen, die eher dem konservativen Arbeitsmarktregimetyp entsprechen (Cook 2010: 676f.; Fenger 2007: 14; Keune 2009: 66). Dementsprechend ist bezüglich der arbeitsmarktpolitischen Orientierungen des mittelosteuropäischen Arbeitsmarktregimes ein geringer Ausgleich des Machtungleichgewichts zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern, eine geringe Emanzipation der Staatsbürger von der Marktabhängigkeit sowie ein niedriger Inklusionsgrad von Schutzmechanismen und wohlfahrtsstaatlichen Leistungen zu erwarten. 5.2.2 Wohlfahrtsstaatscluster und Cluster staatlicher Arbeitsmarktregime im Vergleich Das Kapitel 5.2.2 überprüft die theoretisch begründete Erwartung eines Entsprechungsverhältnisses zwischen staatlichem Arbeitsmarktregime und Wohlfahrtsstaatstypus. Wenn die normativen und regulativen Leitideen eines Wohl-

236

5 Die Dimension des Wohlfahrtsstaates

fahrtsstaatstypus das staatliche Arbeitsmarktregime prägen, dann sollte Kongruenz in der länderspezifischen Zusammensetzung realtypischer Wohlfahrtsstaatscluster und der ähnlichkeitsbasierten Gruppierung staatlicher Arbeitsmarktregime zu beobachten sein. Diese Erwartung wird nachfolgend anhand einer Clusteranalyse überprüft. Das strukturentdeckende Verfahren der Clusteranalyse bietet die Möglichkeit, Ländercluster auf Grundlage ihrer Ähnlichkeit hinsichtlich der Ausgestaltung staatlicher Arbeitsmarktinstitutionen zu identifizieren. Die länderspezifische Zusammensetzung der Cluster staatlicher Arbeitsmarktregime kann dann auf Kongruenz oder Divergenz mit der Zusammensetzung realtypischer Wohlfahrtsstaatscluster verglichen werden. Methodische Vorbemerkungen Das Ziel von Clusteranalysen besteht darin, aus einer Gesamtheit von Klassifikationsobjekten Gruppen bzw. Cluster mit möglichst homogenen Merkmalsausprägungen innerhalb der Cluster und größtmöglicher Heterogenität der Merkmalsausprägungen zwischen den Clustern zu bilden (Wagschal 1999: 246). Die nachfolgende Clusteranalyse basiert auf den vier Hauptkomponenten zu staatli117 chen Arbeitsmarktinstitutionen und ist daher eine faktorielle bzw. komponentenbasierte Clusteranalyse (Bühl 2008: 558). Da diese vier Hauptkomponenten Indikatoren aus allen Bereichen staatlicher Arbeitsmarktpolitik und regulierung enthalten und im Rahmen der Clusteranalyse simultan analysiert werden, umfassen die letztlich identifizierten Cluster länderspezifische staatliche Arbeitsmarktregime gemäß der zu Beginn von Kapitel 5.2 eingeführten Begriffsdefinition. Die Clusteranalyse wird auf Grundlage der Hauptkomponenten berechnet, da die manifesten Variablen gemischte Skalenniveaus, unterschiedliche Wertebereiche sowie fehlende Werte aufweisen. Diese Eigenschaften können die Ergebnisse der Clusteranalyse stark verzerren. Durch die Verwendung der vier Hauptkomponenten zu staatlichen Arbeitsmarktinstitutionen, werden diese Probleme umgangen, da die Komponentenwerte metrisch skaliert und standardisiert sind und keine fehlenden Werte haben. Allerdings reduziert sich die Fallzahl auf 29 Länder.

117

HK_Arbeitsmarktpolitik, HK_Leistungsanspruchskriterien, HK_Arbeitsmarktregulierung und HK_Mindestlohn (vgl. Kapitel 4.2.2).

5.2 Wohlfahrtsstaatstypen und staatliche Arbeitsmarktregime

237

Wesentliche Entscheidungen bei der Berechnung einer Clusteranalyse sind die Wahl des Proximitätsmaßes sowie des Fusionierungsalgorithmus. Das Proximitätsmaß quantifiziert die Abstände zwischen den Klassifikationsobjekten und ist daher vom Skalenniveau der Variablen abhängig. In der nachfolgenden Clusteranalyse wird die quadrierte euklidische Distanz verwendet, denn dieses Proximitätsmaß ist ein gebräuchliches Maß bei metrischen Variablen und es hat die wünschenswerte Eigenschaft, dass die Abstände zwischen den Klassifikationsobjekten besonders deutlich hervortreten (Eckstein 2012: 329f.). Darüber hinaus ist die quadrierte euklidische Distanz das einzige Proximitätsmaß, das für den gewählten Fusionierungsalgorithmus zulässig ist. Der Fusionierungsalgorithmus bestimmt das Verfahren der Clusterbildung, nachdem die Ähnlichkeit der Klassifikationsobjekte durch das Proximitätsmaß berechnet wurde. Die nachfolgende Clusteranalyse verwendet das hierarchischagglomerative Verfahren nach der Ward-Methode. Bei der hierarchischagglomerativen Clusteranalyse gibt es anfangs so viele Cluster wie Klassifikationsobjekte (hier also 29). Es folgt ein sukzessives Fusionieren der nächsten beiden ähnlichsten Klassifikationsobjekte (oder Cluster) zu einem neuen Cluster. Einmal fusionierte Cluster können nicht wieder getrennt, sondern nur noch mit weiteren Clustern fusioniert werden. Der Fusionierungsprozess wird so lange wiederholt, bis sich alle Klassifikationsobjekte in einem großen Cluster befinden (Eckstein 2012: 335f.). Die Ward-Methode (auch Minimum-VarianzMethode genannt) bestimmt nach welchen Kriterien die Clusterbildung stattfindet. Entsprechend dieser Methode werden im nächsten Schritt immer jene Objekte fusioniert, die das Varianzkriterium (bzw. die Fehlerquadratsumme) am wenigsten erhöhen. Auf diese Weise soll der durch die Clusterbildung auftretende Homogenitätsverlust minimiert werden. Die Auswahl der Ward-Methode ist damit begründet, dass diese Methode dazu tendiert besonders homogene Cluster zu bilden und generell als der leistungsstärkste Fusionierungsalgorithmus für hierarchisch-agglomerative Clusteranalysen gilt (Wagschal 1999: 276). Der Fusionierungsprozess kann grafisch durch eine Baumdiagramm, das so genannte Dendrogramm, dargestellt werden. Das Dendrogramm ist nicht nur eine standardisierte grafische Darstellung der Fusionsschritte, sondern ermöglicht auch eine visuelle Beurteilung verschiedener Clusterlösungen.

238

5 Die Dimension des Wohlfahrtsstaates

Ergebnisse der Clusteranalyse Abbildung 5.1 stellt das Dendrogramm der hierarchisch-agglomerativen Clusteranalyse mit allen Komponenten zu staatlichen Arbeitsmarktinstitutionen basierend auf 29 Klassifikationsobjekten dar. Am oberen Rand des Dendrogramms befindet sich eine Skala, die standardmäßig auf den Wertebereich von 0 bis 25 normiert ist und den Abstand zwischen den Clustern anzeigt. Bei dem Wert von 25 findet der letzte Fusionsschritt der Clusteranalyse statt, d.h. alle Klassifikationsobjekte befinden sich in einem Cluster. An der linken Außenkante des Dendrogramms sind die Klassifikationsobjekte als buchstaben- und zahlenbasierte Ländercodes abgetragen.

Abbildung 5.1: Clusteranalyse: Dendrogramm

5.2 Wohlfahrtsstaatstypen und staatliche Arbeitsmarktregime

239

Das Dendrogramm erlaubt zwischen Beginn und Ende des Fusionierungsprozesses unterschiedliche Clusterlösungen visuell zu identifizieren und zu vergleichen. Sinnvolle Clusterlösungen liegen potenziell immer dort, wo lange (horizontale) Äste des Baumdiagramms ansetzen, denn lange Äste weisen auf die Fusion sehr heterogener Cluster hin und führen somit zu einem starken Anstieg der internen Heterogenität der Cluster. Bei diesem Vorgehen ist die Anzahl der Cluster jeweils anhand der Anzahl „abgeschnittener“ Äste ablesbar. Aus dem Dendrogramm in Abbildung 5.1 geht hervor, dass eine Drei-, Vier- oder FünfClusterlösung sinnvoll sein könnte. Alle drei Varianten schneiden die langen horizontalen Äste ab, die für eine Zwei-Clusterlösung notwendig wären und einen extremen Heterogenitätszuwachs verursachen würden. Die grauen vertikalen Linien illustrieren diese drei Clusterlösungen. Für die Identifikation der optimalen Anzahl von Clustern existieren keine exakten Kriterien, sondern lediglich Heuristiken, die mit inhaltlichen Erwägungen zu kombinieren sind. Die wichtigste Heuristik zur Bestimmung der Clusteranzahl ist der Vergleich der Heterogenitätszunahme in den unterschiedlichen Fusionsschritten der Clusteranalyse: Wenn die Heterogenität der Clusterlösungen im Fusionierungsprozess sprunghaft ansteigt, wurden sehr heterogene Cluster fusioniert und es muss eine inhaltlich begründete Entscheidung getroffen werden, ob diese Fusionierung stattfinden soll oder ob die Fusionierung vor dem Heterogenitätsanstieg abzubrechen ist (Wagschal 1999: 271). In der vorliegenden Clusteranalyse wird die Heterogenität der Clusterlösungen durch die Fehlerquadratsumme gemessen. Entsprechend der zuvor beschriebenen Heuristik, sind also sprunghafte Zuwächse in der Fehlerquadratsumme zu identifizieren. Diese Identifikation erfolgt mit Hilfe der Agglomerationstabelle (vgl. Tab. 5.4) und dem Fehlerquadratsummen-Screeplot (vgl. Abb. 5.2). Die Agglomerationstabelle ermöglicht einen detaillierten Einblick in den Fusionierungsprozess der Clusteranalyse, da sie für jeden Fusionsschritt die zusammengeführten Objekte und die Fehlerquadratsumme abbildet. In den ersten zwei Spalten von Tabelle 5.4 sind die Fusionsschritte und die damit korrespondierende Anzahl der Cluster abgetragen. Mit jedem Fusionsschritt sinkt die Anzahl der Cluster, da immer weitere Klassifikationsobjekte gruppiert werden, bis sich im letzten Fusionsschritt alle 29 Objekte in einem Cluster befinden. Spalte 3 dokumentiert, welche Objekte bzw. welche Länder in den einzelnen Fusionsschritten zusammengeführt werden. So gruppiert der erste Fusionsschritt die zwei liberalen Wohlfahrtsstaaten Kanada und Großbritannien, weil

240

5 Die Dimension des Wohlfahrtsstaates

die Fusionierung dieser zwei Länder den geringsten Homogenitätsverlust erzeugt. Anders formuliert: Von allen möglichen Länderpaaren weisen die staatlichen Arbeitsmarktregime von Kanada und Großbritannien die geringsten Unterschiede auf. Die geringe Heterogenität dieses Clusters wird durch den sehr geringen Anstieg der Fehlerquadratsumme in Spalte 4 deutlich. Tabelle 5.4: Clusteranalyse: Agglomerationstabelle Fusionsschritt

Anzahl der Cluster

0 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28

29 28 27 26 25 24 23 22 21 20 19 18 17 16 15 14 13 12 11 10 9 8 7 6 5 4 3 2 1

zusammengeführte Objekte Objekt 1 Objekt 2 CA GB DE SE JP NZ LU ES HU IL EE SK AT NO CZ PL BE NL AT FI CZ HU AU JP DE CH PT SI BE FR AT DE CA US LU PT CZ EE AT DK GR LU CA CZ CA IE GR IT AU CA BE GR AU BE AU AT

Fehlerquadratsumme 0 0,02 0,05 0,09 0,17 0,33 0,56 0,81 1,16 1,55 1,96 2,53 3,15 3,97 4,83 5,72 6,78 8,13 9,55 11,76 14,34 17,06 20,36 24,48 28,93 33,91 44,21 72,42 112,00

Im Gegensatz zum ersten Fusionsschritt, ist das im zweiten Fusionsschritt gebildete Länderpaar aus theoretischer Perspektive eher unerwartet: Der zweite Fusionsschritt vereinigt Schweden und Deutschland zu einem Cluster und verur-

5.2 Wohlfahrtsstaatstypen und staatliche Arbeitsmarktregime

241

sacht dabei nur einen sehr geringen Anstieg der Fehlerquadratsumme, d.h. also die staatlichen Arbeitsmarktregime von Schweden und Deutschland weisen 118 kaum Unterschiede auf. In allen folgenden Fusionsschritten steigt nicht nur die Heterogenität der Clusterlösung, sondern es werden auch zunehmend unterschiedliche Objekte bzw. Cluster vereinigt, bis im letzten Fusionsschritt auch das Länderpaar mit dem größten Unterschied (Australien und Österreich) in einem Großcluster gruppiert wird. Die vierte Spalte der Agglomerationstabelle erlaubt die Identifikation der optimalen Clusteranzahl, indem nach sprunghaften Zuwächsen der Fehlerquadratsumme gesucht wird. Der erste Anstieg der Fehlerquadratsumme, der sich im Vergleich zu den vorherigen Fusionsschritten als sprunghaft qualifiziert, findet vom Fusionsschritt 25 auf 26 statt. Der Fehlerquadratsummenanstieg in Schritt 26 entsteht dadurch, dass ein Cluster aus rein konservativen Wohlfahrtsstaaten (Belgien, Niederlande und Frankreich) mit einem gemischten, aber primär aus mediterranen Wohlfahrtsstaaten zusammengesetzten Cluster (Griechenland, Italien, Slowenien, Portugal Spanien und Luxemburg) vereint wird (vgl. Abb. 5.1). Aus theoretischer Perspektive besteht somit wenig Anlass diesen Heterogenitätszuwachs in Kauf zu nehmen. Folglich deutet die auf der Agglomerationstabelle beruhende Heuristik darauf hin, eine Vier-Clusterlösung zu wählen, da die Drei-Clusterlösung einen noch größeren Heterogenitätszuwachs bedeuten würde. Die Fünf-Clusterlösung präsentiert sich dahingegen nicht als sinnvolle Lösung, weil der Heterogenitätszuwachs von der Fünf- zur Vier-Clusterlösung nicht sprunghaft ist. Eine weitere Heuristik zur Bestimmung der Clusterzahl ist die so genannte Ellenbogen-Heuristik, bei der das Heterogenitätsniveau jeder Clusterlösung (hier die Fehlerquadratsumme) in einem Screeplot abgetragen wird (vgl. Abb. 5.2). Die Ellenbogen-Heuristik besagt, dass jene Clusteranzahl gewählt werden sollte, bei der die Kurve einen eindeutigen Knick bzw. Ellenbogen aufweist (Wagschal 1999: 271). 118

Die Ähnlichkeit zwischen dem deutschen und dem schwedischen staatlichen Arbeitsmarktregime zeichnet sich bereits im Rahmen der Analyse der Konfiguration der Regulierung regulärer und atypischer Beschäftigung ab: Beide Länder weisen eine überdurchschnittlich strenge Regulierung regulärer Beschäftigung und eine unterdurchschnittlich strenge Regulierung atypischer Beschäftigung auf (vgl. Abb. 4.2 in Kapitel 4.1.3). Aus idealtypischer Perspektive entspricht diese institutionelle Konfiguration allerdings eher dem konservativen als dem sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaatstypus.

242

5 Die Dimension des Wohlfahrtsstaates

120

112,00

Fehlerquadratsumme

100 80

72,42

60 44,21 40 20

33,91 28,93 0,02

0

1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 Anzahl der Cluster

Abbildung 5.2: Clusteranalyse: Screeplot der Fehlerquadratsummen

Die Anwendung der Ellenbogen-Heuristik auf den Screeplot der Fehlerquadratsummen ergibt keine eindeutige Antwort auf die Frage nach der optimalen Clusteranzahl, da sowohl bei der Drei- als auch der Vier-Clusterlösung ein Knick in der Kurve zu identifizieren ist. Da in Fusionsschritt 26 ein sehr heterogenes Cluster unterschiedlicher Wohlfahrtsstaatstypen entsteht, werden vier Cluster als optimale Clusterlösung betrachtet. Diese vier Cluster staatlicher Arbeitsmarktregime werden in Tabelle 5.5 auf ihre wohlfahrtsstaatstypenspezifische Zusammensetzung untersucht. Tabelle 5.5 stellt die länderspezifische Zusammensetzung der vier Cluster staatlicher Arbeitsmarktregime dar und gibt zudem Auskunft darüber, welchem Wohlfahrtsstaatstypus jedes Land angehört. Somit ermöglicht Tabelle 5.5 die Beantwortung der Frage, inwiefern Kongruenz zwischen der Zusammensetzung realtypischer Wohlfahrtsstaatscluster und den Länderclustern staatlicher Arbeitsmarktregime besteht. Durch die Wahl der Vier-Clusterlösung ist von vornherein ausgeschlossen, dass ein exaktes Entsprechungsverhältnis in der Zusammensetzung der Cluster zu beobachten ist. Fast alle Cluster staatlicher Arbeitsmarktregime zeigen eine heterogene wohlfahrtsstaatstypenspezifische Zusammensetzung. Lediglich das kleine Cluster 3 weist wohlfahrtsstaatstypenspezifische Homogenität auf, denn es umfasst mit Belgien, Frankreich und den Niederlanden ausschließlich eine Teilmenge der

5.2 Wohlfahrtsstaatstypen und staatliche Arbeitsmarktregime

243

konservativen Wohlfahrtsstaaten. Auch Cluster 2 hat eine relativ homogene Zusammensetzung, denn es beinhaltet alle in der Clusteranalyse enthaltenen sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaaten sowie zusätzlich drei konservative Wohlfahrtsstaaten. Die Vereinigung dieser zwei Wohlfahrtsstaatstypen in einem Cluster staatlicher Arbeitsmarktregime ist aus theoretischer Perspektive insofern zu erklären, als dass beide Typen keine extremen ideellen Unterschiede aufweisen und daher auch bezüglich ihrer idealtypischen arbeitsmarktpolitischen Orientierungen keine extremen Unterschiede haben (vgl. Tab. 2.6). Tabelle 5.5: Zusammensetzung der Cluster staatlicher Arbeitsmarktregime Cluster 1 Cluster 2 Cluster 3 Cluster 4 Land WFS-Typ Land WFS-Typ Land WFS-Typ Land WFS-Typ CA lib NO soz BE kons ES med GB lib FI soz FR kons PT med US lib SE soz NL kons GR med AU lib DK soz IT kons NZ lib AT kons LU kons IE lib DE kons SI ost EE ost CH kons SK ost HU ost CZ ost PL ost IL med JP kons WFS = Wohlfahrtsstaat, soz = sozialdemokratisch, kons = konservativ, lib = liberal, med = mediterran, ost = mittelosteuropäisch.

Unter Berücksichtigung der Tatsache, dass einige Wohlfahrtsstaatstypologien Italien nicht als konservativen, sondern als mediterranen Wohlfahrtsstaatstypus klassifizieren (Ferrera 1996), stellt Cluster 4 ein primär mediterranes Cluster dar. Darüber hinaus umfasst das vierte Cluster einen weiteren konservativen Wohlfahrtsstaat (Luxemburg) sowie einen mittelosteuropäischen Wohlfahrtsstaat (Slowenien). Allerdings argumentieren einige Wohlfahrtsstaatsforscher, dass Slowenien eher zu der Gruppe konservativer Wohlfahrtsstaaten gehört, da das Land deutlich generösere und stärker inklusive wohlfahrtsstaatliche Institutionen hat als andere Länder des mittelosteuropäischen Wohlfahrtsstaatsclusters (Cook 2010). Vor diesem Hintergrund kann Cluster 4 als mediterrankonservatives Mischcluster betrachtet werden. Cluster 1 umfasst alle liberalen Wohlfahrtsstaaten sowie fast alle mittelosteuropäischen Wohlfahrtsstaaten und kann somit als Cluster marktorientierter staatlicher Arbeitsmarktregime

244

5 Die Dimension des Wohlfahrtsstaates

beschrieben werden. Zusätzlich sind auch Israel und Japan Element des ersten Clusters. Japan wird von Esping-Andersen zwar dem konservativen Wohlfahrtsstaatstypus zugeordnet, aber die typologische Konsistenz ist im Vergleich mit anderen Wohlfahrtsstaatstypologien eher gering, da auch starke Argumente dafür existieren, Japan als liberalen Wohlfahrtsstaatstypus zu klassifizieren (Arts/Gelissen 2006). Auch Israel ist ein typologisch strittiger Fall, denn das Land weist sowohl mediterrane als auch zunehmend liberale wohlfahrtsstaatliche Charakteristika auf (Gal 2010). Insgesamt unterstützt die typologische Ambiguität Japans und Israels die Klassifizierung von Cluster 1 als marktorientiertes Cluster, denn beiden Ländern werden auch Merkmale des liberalen Wohlfahrtsstaatstypus zugeschrieben. Bei einer clusterübergreifenden Analyse der Zusammensetzung der Cluster staatlicher Arbeitsmarktregime wird deutlich, dass der konservative Wohlfahrtsstaatstypus der einzige Wohlfahrtsstaatstypus ist, der in allen vier Clustern vorkommt (vgl. Tab. 5.5). Die starke Streuung konservativer Wohlfahrtsstaaten zeigt, dass die Konfiguration der staatlichen Arbeitsmarktregime in konservativen Wohlfahrtsstaaten starke Unterschiede aufweist. Im Gegensatz zum konservativen Wohlfahrtsstaatstypus zeigen der liberale und der sozialdemokratische Wohlfahrtsstaatstypus keine clusterübergreifende Streuung, sondern alle Länder dieser zwei Typen befinden sich jeweils ausschließlich in einem Cluster. Auch die clusterübergreifende Verteilung der mittelosteuropäischen und mediterranen Wohlfahrtsstaaten zeigt eine relativ hohe Konzentration. Beide Wohlfahrtsstaatstypen konzentrieren sich mehrheitlich auf ein Cluster (Cluster 1 bzw. Cluster 4) und haben jeweils nur ein einziges Land (Slowenien bzw. Israel), das sich nicht in diesem Cluster befindet. In beiden Fällen handelt es sich bei den Ausreißern um typologisch strittige Fälle. Insgesamt ergibt das Clusteranalyseergebnis keine eindeutige Antwort auf die Frage, ob Kongruenz oder Divergenz zwischen den Wohlfahrtsstaatstypen und den staatlichen Arbeitsmarktregimen besteht. Einerseits muss die Hypothese eines exakten Entsprechungsverhältnisses zwischen den realtypischen Wohlfahrtsstaatsclustern und den Clustern staatlicher Arbeitsmarktregime verworfen werden. Andererseits zeigt die Zusammensetzung der vier Cluster staatlicher Arbeitsmarktregime, dass sich Länder eines Wohlfahrtsstaatstypus tendenziell in einem Cluster befinden. Die konservativen Wohlfahrtsstaaten stellen die einzige Ausnahme von dieser Regel dar. Darüber hinaus wird deutlich, dass sich Wohlfahrtsstaatstypen mit ähnlichen arbeitsmarktpolitischen Orientierungen,

5.3 Staatliche Arbeitsmarktinstitutionen im Spiegel wohlfahrtsstaatlicher Leitideen

245

häufig in einem Cluster staatlicher Arbeitsmarktregime befinden (liberaler und mitteosteuropäischer Typus, sozialdemokratischer und konservativer Typus, konservativer und mediterraner Typus), wohingegen Wohlfahrtsstaatstypen mit sehr großen ideologischen Unterschieden niemals in einem Cluster vereinigt sind. Somit kann auf Grundlage der Clusteranalyse die theoretische Erwartung, dass wohlfahrtsstaatstypenspezifische Leitideen bzw. die daraus abgeleiteten arbeitsmarktpolitischen Orientierungen Prägekraft auf die Ausgestaltung des staatlichen Arbeitsmarktregimes ausüben, nicht verworfen werden. 5.3 Staatliche Arbeitsmarktinstitutionen im Spiegel wohlfahrtsstaatlicher Leitideen Das Clusteranalyseergebnis aus Kapitel 5.2 zeigt, dass zwar kein exaktes, aber ein approximatives Entsprechungsverhältnis zwischen der länderspezifischen Zusammensetzung der Cluster staatlicher Arbeitsmarktregime und den realtypischen Wohlfahrtsstaatsclustern existiert. Dieser Befund erlaubt die Schlussfolgerung, dass die notwendige Bedingung ausreichend erfüllt ist, um mit der Untersuchung der hinreichenden Bedingung fortzufahren. Die hinreichende Bedingung besagt, dass die Ausgestaltung staatlicher Arbeitsmarktinstitutionen innerhalb realtypischer Wohlfahrtsstaatscluster die idealtypischen arbeitsmarktpolitischen Orientierungen spiegelt. Am Beispiel des sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaatstypus lässt sich illustrieren, weshalb das Clusteranalyseergebnis eine unzureichende Beweislage für die Prägekraft der Leitideen liefert: Obwohl sich alle sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaaten in einem Cluster staatlicher Arbeitsmarktregime befinden (vgl. Tab. 5.5) ist es möglich, dass die staatlichen Arbeitsmarktinstitutionen innerhalb des Clusters nicht sozialdemokratische Leitideen spiegeln, sondern auf Grundlage anderer geteilter Charakteristika in einem Cluster vereinigt sind. Um diese Möglichkeit auszuschließen, widmet sich Kapitel 5.3 der empirischen Überprüfung der Prägekraft wohlfahrtsstaatstypenspezifischer normativer und regulativer Leitideen auf die Ausgestaltung staatlicher Arbeitsmarktinstitutionen. 5.3.1 Hypothesen über Charakteristika staatlicher Arbeitsmarktinstitutionen Für die Untersuchung der hinreichenden Bedingung werden zunächst Hypothesen gebildet, welche Charakteristika staatliche Arbeitsmarktinstitutionen in realtypischen Wohlfahrtsstaatsclustern aufweisen sollten, wenn sie idealtypi-

246

5 Die Dimension des Wohlfahrtsstaates

sche Leitideen bzw. die daraus abgeleiteten arbeitsmarktpolitischen Orientierungen der idealtypischen Wohlfahrtsstaaten spiegeln. In Kapitel 2.3 wurden aus den normativen und regulativen Leitideen der idealtypischen Wohlfahrtsstaaten Hypothesen über wohlfahrtsstaatstypenspezifische arbeitsmarktpolitische Orientierungen für drei Dimensionen staatlicher Arbeitsmarktpolitik und Arbeitsmarktregulierung gebildet: der Ausgleich des Machtungleichgewichts zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern zugunsten der Arbeitnehmer (O1), die Emanzipation der Staatsbürger von der Marktabhängigkeit (O2); der Inklusionsgrad arbeitsmarktbezogener wohlfahrtsstaatlicher Schutzmechanismen und Leistungen (O3) (vgl. Tab. 2.6). Auf Grundlage dieser idealtypischen arbeitsmarktpolitischen Orientierungen werden nachfolgend Hypothesen über die Ausgestaltung staatlicher Arbeitsmarktinstitutionen in realtypischen Wohlfahrtsstaaten gebildet. Vor dem Hintergrund ihrer normativen und regulativen Leitideen werden der sozialdemokratische und der liberale Wohlfahrtsstaatstypus als Gegenpole hinsichtlich ihrer arbeitsmarktpolitischen Orientierungen konzeptionalisiert, während die übrigen drei Wohlfahrtsstaatstypen auf dem Kontinuum zwischen diesen zwei Polen positioniert werden (vgl. Tab. 2.6). Diese relationale Perspektive wird analog auf die Hypothesenbildung über die wohlfahrtsstaatstypenspezifische Ausgestaltung staatlicher Arbeitsmarktinstitutionen übertragen. In Tabelle 5.6 werden die Hypothesen über das Design staatlicher Arbeitsmarktinstitutionen in den unterschiedlichen Wohlfahrtsstaatstypen zusammenfassend dargestellt. Insgesamt werden für sieben staatliche Arbeitsmarktinstitutionen in fünf Wohlfahrtsstaatstypen 35 Hypothesen gebildet. Die erste Spalte von Tabelle 5.6 verweist darauf, aus welchen arbeitsmarktpolitischen Orientierungen (O1, O2, O3) die Hypothesen abgeleitet werden (vgl. Tab. 2.6). Um nicht von dem Prinzip der idealtypenbasierten Hypothesenbildung nach Weber abzuweichen, werden die Hypothesen ausschließlich auf Grundlage der arbeitsmarktpolitischen Orientierungen gebildet. Zur Illustration des methodischen Vorgehens bei der Hypothesenbildung wird die Herleitung der Hypothesen über die Generosität der Arbeitslosenunterstützung in den unterschiedlichen Wohlfahrtsstaatstypen exemplarisch beschrieben. Die Hypothesen zu den wohlfahrtsstaatstypenspezifischen Designs der anderen staatlichen Arbeitsmarktinstitutionen werden zwar nach dem gleichen Vorgehen gebildet, aber nicht in derselben Ausführlichkeit dargestellt.

hoch häufig

Häufigkeit von Allgemeinverbindlichkeitserklärungen von Tarifverträgen

O1

hoch

hoch

sehr gering

hoch

hoch

Höhe des Mindestlohns

Staatliche Arbeitsmarktinstitution Generosität der Arbeitslosenunterstützung Ausgaben für aktive Arbeitsmarktpolitik Strenge der Leistungsanspruchskriterien Strenge der Regulierung regulärer Beschäftigung Strenge der Regulierung atypischer Beschäftigung

sozialdemokratisch

O1

O1

O1

O2

O1, O3

O2, O3

Arbeitsmarktpolitische Orientierung

Tabelle 5.6: Hypothesen über das Design staatlicher Arbeitsmarktinstitutionen

häufig

eher hoch

mittel

hoch

mittel

mittel

selten

gering

mittel bis gering eher selten

gering

gering

eher hoch

gering

eher gering

mittel bis hoch mittel bis hoch

gering

Wohlfahrtsstaatstypus mittelostkonservativ mediterran europäisch mittel bis eher hoch eher gering gering

selten bis nie

sehr gering

sehr gering

sehr gering

sehr hoch

sehr gering

sehr gering

liberal

5.3 Staatliche Arbeitsmarktinstitutionen im Spiegel wohlfahrtsstaatlicher Leitideen 247

248

5 Die Dimension des Wohlfahrtsstaates

Die Hypothesen zur Generosität der Arbeitslosenunterstützung werden auf Grundlage zweier arbeitsmarktpolitischer Orientierungen gebildet; der Emanzipation der Staatsbürger von der Marktabhängigkeit (O2) sowie dem Inklusionsgrad von Schutzmechanismen und Leistungen (O3). Ihre Eignung zur Hypothesenbildung über die wohlfahrtsstaatstypenspezifische Generosität der Arbeitslosenunterstützung wird damit begründet, dass sich O2 direkt auf das Ausmaß der staatlich garantierten sozialen Sicherheit jenseits der Arbeitsmarktpartizipation bezieht, während O3 die wesentliche Determinante für die Reichweite dieser staatlich garantierten sozialen Sicherheit darstellt. Der sozialdemokratische Wohlfahrtsstaatstypus strebt idealtypischerweise eine sehr starke Dekommodifizierung an und weist einen sehr hohen Inklusionsgrad wohlfahrtsstaatlicher Schutzmechanismen auf, da er der Leitidee einer universalistischen Staatsbürgerversorgung folgt. Aus diesen arbeitsmarktpolitischen Orientierungen wird die Hypothese abgeleitet, dass in realtypischen sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaaten eine hohe Generosität der Arbeitslosenunterstützung (im Sinne von universell hohen Lohnersatzleistungen bei Arbeitslosigkeit) zu beobachten sein sollte. Im fundamentalen Gegensatz dazu strebt der liberale Wohlfahrtsstaatstypus die Marktfähigkeit der Individuen an. Da er dem Leitbild der Eigenverantwortung folgt, ist der Inklusionsgrad wohlfahrtsstaatlicher Schutzmechanismen sehr niedrig, so dass insgesamt eine sehr geringe Generosität der staatlich organisierten Arbeitslosenunterstützung zu erwarten ist. Im konservativen Wohlfahrtsstaatstypus kann die Emanzipation der Staatsbürger von der Marktabhängigkeit stark bis mittel ausfallen, da die Prinzipien der Äquivalenz und der Subsidiarität ein status- und familienabhängiges Dekommodifizierungsniveau verursachen. Der Inklusionsgrad von Schutzmechanismen ist nur mittel, weil das Prinzip der Status-Hierarchie zur systematischen Benachteiligung oder Exklusion bestimmter Gruppen von Erwerbspersonen führt. Vor diesem Hintergrund ist zu erwarten, dass die Generosität der Arbeitslosenunterstützung für unterschiedliche Statusgruppen variiert, aber in der Summe eher hoch ausfällt. Dennoch sollte die Generosität geringer sein als in sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaaten. Der mediterrane Wohlfahrtsstaatstypus hat zwar hinsichtlich des Prinzips der Subsidiarität und der Status-Hierarchie Ähnlichkeit mit dem konservativen Wohlfahrtsstaatstypus, aber Klientelismus und die stärkere Rolle der Familie in der Wohlfahrtsproduktion führen dazu, dass sowohl die Emanzipation der Staatsbürger von der Marktabhängigkeit als auch der Inklusionsgrad der Schutzmechanismen deutlich geringer ist. Daraus folgt, dass die Generosität der Arbeitslosenversicherung in mediterranen Wohl-

5.3 Staatliche Arbeitsmarktinstitutionen im Spiegel wohlfahrtsstaatlicher Leitideen

249

fahrtsstaaten mittel bis gering sein sollte. Der mittelosteuropäische Wohlfahrtsstaatstypus weist wiederum eine relativ starke Ähnlichkeit mit dem liberalen Wohlfahrtsstaatstypus auf, da er durch die Leitideen der Marktfähigkeit der Individuen und der Eigenverantwortung geprägt wird. Allerdings werden diese klassisch liberalen Ideen durch das historische Erbe sozialistischer Wohlfahrtsstaaten sowie die konservative Leitidee der Status-Hierarchie ergänzt. Folglich sollten die angestrebte Dekommodifizierung sowie der Inklusionsgrad der Schutzmechanismen aus theoretischer Perspektive geringfügig höher sein als im liberalen Wohlfahrtsstaatstypus. Aus der Summe dieser Eigenschaften leitet sich die Erwartung ab, dass die Generosität der Arbeitslosenunterstützung in mittelosteuropäischen Wohlfahrtsstaaten eher gering sein sollte, aber nicht so gering wie in liberalen Wohlfahrtsstaaten. Auch die Hypothesen über die wohlfahrtsstaatstypenspezifischen Höhe der Ausgaben für aktive Arbeitsmarktpolitik werden aus zwei arbeitsmarktpolitischen Orientierungen abgeleitet. Im Gegensatz zur passiven Arbeitsmarktpolitik richten sich Maßnahmen der aktiven Arbeitsmarktpolitik nicht auf die Dekommodifizierung von Erwerbspersonen, sondern auf die Beeinflussung ihrer Position auf dem Arbeitsmarkt. Folglich müssen jene arbeitsmarktpolitischen Orientierungen als Grundlage der Hypothesenbildung verwendet werden, die sich auf die Gestaltung der Arbeitsbeziehungen bzw. auf die Verhandlungspositionen der Arbeitsmarktakteure auswirken. Dieses Kriterium erfüllt insbesondere die arbeitsmarktpolitische Orientierung bezüglich des Ausgleichs des Machtungleichgewichts zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern (O1). Auch der Inklusionsgrad wohlfahrtsstaatlicher Schutzmechanismen und Leistungen (O3) dient zur Hypothesenbildung über wohlfahrtsstaatstypenspezifische Ausgaben für staatliche Arbeitsmarktpolitik, denn diese arbeitsmarktpolitische Orientierung beeinflusst die Reichweite von Maßnahmen der aktiven Arbeitsmarktpolitik. Die aktivierende Arbeitsmarktpolitik wird anhand der Strenge der Leistungsanspruchskriterien für den Bezug von Arbeitslosenunterstützung operationalisiert. Die Hypothesen über die wohlfahrtsstaatstypenspezifischen Ausgestaltung dieser staatlichen Arbeitsmarktinstitution werden auf Grundlage der arbeitsmarktpolitischen Orientierung bezüglich der Emanzipation der Staatsbürger von der Marktabhängigkeit (O2) gebildet, da die Strenge der Kriterien des Anspruchs auf Arbeitslosenunterstützung erheblich das Dekommodifizierungsniveau der Arbeitskräfte beeinflusst.

250

5 Die Dimension des Wohlfahrtsstaates

Alle Hypothesen über die wohlfahrtsstaatstypenspezifische Ausgestaltung von Institutionen der staatlichen Arbeitsmarktregulierung basieren auf der arbeitsmarktpolitischen Orientierung hinsichtlich des Ausgleichs des Machtungleichgewichts zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern (O1), denn die Institutionen der staatlichen Arbeitsmarktregulierung beziehen sich immer auf die Gestaltung der Arbeitsbeziehungen und die damit einhergehende Beeinflussung der Verhandlungsposition der Arbeitsmarktakteure. Insgesamt illustriert Tabelle 5.6, dass der sozialdemokratische und der liberale Wohlfahrtsstaatstypus nicht nur in ihren arbeitsmarktpolitischen Orientierungen Gegenpole darstellen, sondern auch hinsichtlich der theoretisch zu erwartenden Ausgestaltung staatlicher Arbeitsmarktinstitutionen konträre Charakteristika aufweisen. Die anderen drei Wohlfahrtsstaatstypen sind zwischen diesen zwei Polen verortet und sollten dementsprechend auch in der empirischen Analyse weniger extreme institutionelle Merkmalsausprägungen zeigen. 5.3.2 Untersuchung der Charakteristika staatlicher Arbeitsmarktinstitutionen Für die empirische Überprüfung der Hypothesen über wohlfahrtsstaatstypenspezifische institutionelle Designs werden in Tabelle 5.7 für jedes realtypische Wohlfahrtsstaatscluster die Lage- und Streuungsparameter der Merkmalsaus119 prägungen staatlicher Arbeitsmarktinstitutionen für das Jahr 2010 abgebildet. Für alle ordinal skalierten Variablen werden Minimum, Maximum sowie der Median der Merkmalsausprägungen berechnet. Für die metrisch skalierten 120 Variablen kann zusätzlich der normierte Variationskoeffizient (v*) als relatives Streuungsmaß berechnet werden.

119

120

Statt des between-transformierten Datensatzes der Jahre 2006 und 2010 werden Querschnittsdaten von 2010 verwendet, da deskriptive Kennzahlen für ordinal skalierte Variablen eindeutiger interpretiert werden können, wenn sie nicht between-transformiert sind. Der Variationskoeffizient v berechnet sich aus dem Quotient aus Standardabweichung (s) und Mittelwert (x̅). Da der Variationskoeffizient ein dimensionsloses Streuungsmaß ist, dient er zum Vergleich der Streuung von Variablen mit unterschiedlichen Maßeinheiten. Allerdings ist der Variationskoeffizient von der Anzahl der Beobachtungen abhängig. Folglich eignet er sich nicht zum Vergleich der Streuung unterschiedlich großer Datensätze. Sollen die Streuungen unterschiedlich großer Datensätze verglichen werden, muss der normierte Variationskoeffizient v* verwendet werden. Die Formel zu Berechnung des normierten Variationskoeffizient lautet: v* = v /√𝑛, mit 0 ≤ v* ≤ 1. v* kann somit als normierte Streuung um den Mittelwert interpretiert werden (Kohn/Öztürk 2017: 68f.). Da die realtypischen Wohlfahrtsstaatscluster unterschiedlich

5.3 Staatliche Arbeitsmarktinstitutionen im Spiegel wohlfahrtsstaatlicher Leitideen

251

Vor der Überprüfung der Hypothesen wird zunächst untersucht, inwiefern wohlfahrtsstaatstypenspezifische Ähnlichkeiten in der Ausgestaltung staatlicher Arbeitsmarktinstitutionen zu beobachten sind. Existieren institutionelle Ähnlichkeiten innerhalb der Wohlfahrtsstaatscluster? Für alle metrisch skalierten Variablen in Tabelle 5.7 geben die normierten Variationskoeffizienten Auskunft über die clusterspezifische Homogenität der Merk121 malsausprägungen. Die Streuung ordinal skalierter Variablen kann lediglich anhand der Spannweite der Merkmalsausprägungen (Maximum minus Minimum) erfasst werden. Der Vergleich der Streuungsparameter über alle staatlichen Arbeitsmarktinstitutionen zeigt, dass das mittelosteuropäische und das sozialdemokratische Wohlfahrtsstaatscluster die größte institutionelle Homogenität aufweisen, wohingegen sich das mediterrane Wohlfahrtsstaatscluster durch die geringste institutionelle Homogenität auszeichnet. Mit Ausnahme der Ausgaben für aktive Arbeitsmarktpolitik streuen alle metrisch skalierten staatlichen Arbeitsmarktinstitutionen des mittelosteuropäischen Wohlfahrtsstaatsclusters weniger als 10% um den Mittelwert. Bei den ordinal skalierten Variablen zeigt die Häufigkeit der Anwendung von Allgemeinverbindlichkeitserklärungen von Tarifverträgen eine maximale Spannweite der Merkmalsausprägungen. Somit zeigen insgesamt nur zwei staatliche Arbeitsmarktinstitutionen eine erhöhte bzw. hohe Heterogenität innerhalb des mittelosteuropäischen Wohlfahrtsstaatsclusters (vgl. Tab. 5.7).

121

viele Länder umfassen, muss der normierte Variationskoeffizient als Streuungsmaß verwenden werden. Je höher der Wert des normierten Variationskoeffizienten (v*), desto stärker streuen die Merkmalsausprägungen um den Mittelwert und desto geringer ist die institutionelle Homogenität innerhalb eines Wohlfahrtsstaatsclusters.

Ausgaben Generosität aktive ArbeitslosenParaArbeitsmarktunterstützung meter politik Min. 60,42 0,63 sozialMax. 68,63 2,00 demoMed. 62,12 1,11 kratisch v* 0,02 0,21 Min. 23,76 0,28 68,29 1,23 konser- Max. vativ Med. 60,54 0,79 v* 0,08 0,14 Min. 22,59 0,15 medi- Max. 58,28 0,94 terran Med. 45,69 0,45 v* 0,18 0,40 Jahr: 2010.

Wohlfahrtsstaatstypus

Staatliche Arbeitsmarktinstitutionen Strenge Strenge Strenge Existenz LeistungsRegulierung Regulierung gesetzlicher anspruchsregulärer atypischer Mindestkriterien Beschäftigung Beschäftigung löhne 2,44 1,73 0,63 0 2,94 2,61 3,00 0 2,70 2,17 1,38 0 0,04 0,07 0,28 2,63 1,37 0,88 0 3,63 2,87 3,75 2 3,00 2,37 1,31 1 0,04 0,08 0,20 2,81 2,04 0,88 2 4,44 4,13 3,00 2 3,22 2,58 2,35 2 0,11 0,16 0,22 -

Tabelle 5.7: Ausgestaltung staatlicher Arbeitsmarktinstitutionen nach Wohlfahrtsstaatstypen

AllgemeinHöhe Minverbindlichdestlohn keits(Kaitz-Index) erklärung 0 2 0,5 37,00 0 60,00 3 47,00 3 0,08 44,00 1 57,00 3 52,50 3 0,06 -

252 5 Die Dimension des Wohlfahrtsstaates

Ausgaben Generosität aktive ArbeitslosenArbeitsmarktParaunterstützung meter politik Min. 32,47 0,23 Max. 52,73 0,69 Med. 41,94 0,42 v* 0,05 0,13 Min. 38,36 0,14 Max. 70,79 0,93 liberal Med. 47,43 0,32 v* 0,09 0,27 Jahr: 2010.

Wohlfahrtsstaatstypus mittelosteuropäisch

Staatliche Arbeitsmarktinstitutionen Strenge Strenge Strenge Existenz LeistungsRegulierung Regulierung gesetzlicher anspruchsregulärer atypischer Mindestkriterien Beschäftigung Beschäftigung löhne 2,88 1,81 0,88 1 4,25 3,05 1,88 2 3,25 2,23 1,63 2 0,05 0,06 0,08 2,63 0,26 0,25 2 3,31 1,67 1,00 2 3,09 1,24 0,51 2 0,03 0,18 0,23 -

Tabelle 5.7: Ausgestaltung staatlicher Arbeitsmarktinstitutionen nach Wohlfahrtsstaatstypen (Fortsetzung)

35,00 57,00 45,00 0,05 39,00 59,00 47,00 0,06

Höhe Mindestlohn (Kaitz-Index)

Allgemeinverbindlichkeitserklärung 0 3 1 0 2 0 -

5.3 Staatliche Arbeitsmarktinstitutionen im Spiegel wohlfahrtsstaatlicher Leitideen 253

254

5 Die Dimension des Wohlfahrtsstaates

Auch das sozialdemokratische Wohlfahrtsstaatscluster zeichnet sich durch eine relativ hohe Ähnlichkeit in der Ausgestaltung staatlicher Arbeitsmarktinstitutionen aus. So zeigt die Institution des Mindestlohns maximale Homogenität zwischen den Ländern des Clusters und auch die Generosität der Arbeitslosenunterstützung hat einen bemerkenswert geringen normierten Variationskoeffizienten von v* = 2%. Allerdings streuen die Ausgaben für aktive Arbeitsmarktpolitik sowie die Regulierung atypischer Beschäftigung deutlich stärker als 10% um den Mittelwert. Die verbleibenden drei realtypischen Wohlfahrtsstaatscluster zeigen eine höhere institutionelle Heterogenität. Von diesen drei Wohlfahrtsstaatsclustern hat das mediterrane Cluster den geringsten Grad an institutioneller Homogenität, denn mit Ausnahme der Institution des Mindestlohns sowie dessen relativer Höhe zum Medianlohn (Kaitz-Index) zeigen alle staatlichen Arbeitsmarktinstitutionen eine erhöhte oder sehr hohe Streuung der Merkmalsausprägungen. Der Vergleich des liberalen und des konservativen Wohlfahrtsstaatsclusters verdeutlicht wiederum, dass die Ausgestaltung staatlicher Arbeitsmarktinstitutionen im konservativen Cluster etwas heterogener ist als im liberalen Cluster. In der Gruppe konservativer Wohlfahrtsstaaten weisen sowohl die Allgemeinverbindlichkeitserklärung von Tarifverträgen als auch die Institution des Mindestlohns eine maximale Spannweite ihrer Merkmalsausprägungen auf. Von den metrisch skalierten Variablen streuen die Ausgaben für aktive Arbeitsmarktpolitik sowie die Regulierung atypischer Beschäftigung stärker als 10% um den Mittelwert. Im liberalen Wohlfahrtsstaatscluster zeigen mit den Ausgaben für aktive Arbeitsmarktpolitik sowie der Regulierung regulärer und atypischer Beschäftigung insgesamt drei staatliche Arbeitsmarktinstitutionen eine erhöhte Varianz ihrer clusterspezifischen Merkmalsausprägungen. Resümierend lässt sich konstatieren, dass wohlfahrtsstaatstypenspezifische Ähnlichkeiten in der Ausgestaltung staatlicher Arbeitsmarktinstitutionen existieren, aber das Ausmaß der institutionellen Homogenität zwischen den realtypischen Wohlfahrtsstaatsclustern variiert: Das mittelosteuropäische und das sozialdemokratische Wohlfahrtsstaatscluster zeigen die höchste clusterspezifische institutionelle Homogenität. Mit abnehmendem Homogenitätsgrad folgen darauf das liberale, das konservative und das mediterrane Cluster. Somit haben jene zwei Wohlfahrtsstaatstypen, die in Kapitel 5.1 die höchste Erklärungskraft für die Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung aufweisen (vgl. Tab. 5.1) zusätzliche die größte institutionelle Homogenität in der Ausgestaltung staatli-

5.3 Staatliche Arbeitsmarktinstitutionen im Spiegel wohlfahrtsstaatlicher Leitideen

255

cher Arbeitsmarktinstitutionen. Dieser Befund weist darauf hin, dass die Ausgestaltung staatlicher Arbeitsmarktinstitutionen in sozialdemokratischen und mittelosteuropäischen Wohlfahrtsstaaten eine relativ einheitliche typenspezifische Wirkung auf die Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung entfalten. Spiegelt das Design staatlicher Arbeitsmarktinstitutionen in realtypischen Wohlfahrtsstaatsclustern idealtypische arbeitsmarktpolitische Orientierungen? Zur Überprüfung der Hypothesen über die wohlfahrtsstaatstypenspezifische Ausgestaltung staatlicher Arbeitsmarktinstitutionen werden die clusterspezifischen Mediane aus Tabelle 5.7 mit den theoretisch erwarteten institutionellen Designs aus Tabelle 5.6 verglichen. Dieser Vergleich wird in Tabelle 5.8 dokumentiert. Während die Hypothesen über die institutionellen Designs unverändert aus Tabelle 5.6 übernommen werden, basiert die Beschreibung der realtypischen Designs auf der Verbalisierung der Unterschiede der clusterspezifischen Mediane aus Tabelle 5.7. Das Vorgehen zur Verbalisierung der realtypischen institutionellen Designs ist wie folgt: Als erstes werden die zwei Wohlfahrtsstaatscluster mit dem minimalen und dem maximalen Median identifiziert. Diese zwei Wohlfahrtsstaatscluster bilden dann den empirischen minimalen bzw. maximalen Extrempol des Designs der betreffenden staatlichen Arbeitsmarktinstitution. Die Bezeichnung als Extrempol impliziert, dass sich die institutionellen Designs der entsprechenden Wohlfahrtsstaatscluster im Vergleich zu den anderen Wohlfahrtsstaatsclustern durch einen minimalen bzw. maximalen Ausgleich des Machtungleichgewichts zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern, eine minimale bzw. maximale Emanzipation der Staatsbürger von der Marktabhängigkeit oder einen minimalen bzw. maximalen Inklusionsgrad von Schutzmechanismen und Leistungen auszeichnen. Im Anschluss an die Identifikation der Extrempole werden die Charakteristika der zwischen diesen Polen liegenden Wohlfahrtsstaatscluster entsprechend ihrer Nähe zu den Extrempolen sowie ihrer Abstände untereinander verbalisiert. Alle empirischen Designs, die exakt den Hypothesen entsprechen, werden in Tabelle 5.8 sowohl fett geschrieben als auch grau schattiert. Empirische Designs, die nur moderat von den Hypothesen abweichen, sind grau schattiert.

Anwendung von Allgemeinverbindlichkeitserklärungen

Höhe des Mindestlohns

Strenge der Regulierung atypischer Beschäftigung

Strenge der Regulierung regulärer Beschäftigung

Strenge der Leistungsanspruchskriterien

Ausgaben für aktive Arbeitsmarktpolitik

staatliche Arbeitsmarktinstitutionen Generosität der Arbeitslosenunterstützung Design erwartet empirisch erwartet empirisch erwartet empirisch erwartet empirisch erwartet empirisch erwartet empirisch erwartet empirisch

sozialdemokratisch hoch hoch hoch hoch sehr gering gering hoch mittel hoch mittel hoch kein ML häufig selten konservativ eher hoch eher hoch mittel mittel mittel mittel hoch eher hoch mittel mittel eher hoch mittel bis gering häufig häufig

mediterran mittel bis gering gering gering gering mittel bis hoch hoch mittel bis hoch hoch eher gering hoch mittel bis gering hoch eher selten häufig

mittelosteuropäisch eher gering sehr gering gering gering eher hoch hoch gering mittel gering mittel gering gering selten selten

Wohlfahrtsstaatstypus

Tabelle 5.8: Erwartete und empirische institutionelle Designs staatlicher Arbeitsmarktinstitutionen

liberal sehr gering eher gering sehr gering sehr gering sehr hoch mittel bis eher hoch sehr gering sehr gering sehr gering sehr gering sehr gering mittel bis gering selten bis nie selten bis nie

256 5 Die Dimension des Wohlfahrtsstaates

5.3 Staatliche Arbeitsmarktinstitutionen im Spiegel wohlfahrtsstaatlicher Leitideen

257

Alle empirischen Designs, die stark von den Hypothesen abweichen, haben einen weißten Hintergrund. Diese Kennzeichnungen ermöglichen einen visuellen Überblick, in welchem Grad die Ausgestaltung staatlicher Arbeitsmarktinstitutionen in realtypischen Wohlfahrtsstaatsclustern mit den Hypothesen übereinstimmt. Darüber hinaus werden für jede staatliche Arbeitsmarktinstitution jene zwei Wohlfahrtsstaatstypen gekennzeichnet, die den empirisch minimalen bzw. maximalen Extrempol der betreffenden Institution aufweisen. Die Kennzeichnung dieser Extrempole erfolgt durch Unterstreichung. Aus Tabelle 5.8 geht hervor, dass 66% der Hypothesen über die wohlfahrtsstaatstypenspezifische Ausgestaltung staatlicher Arbeitsmarktinstitutionen entweder exakt oder mit leichten Abweichungen mit den institutionellen Merkmalsausprägungen der realtypischen Wohlfahrtsstaatscluster übereinstimmen. Dieser Befund weist darauf hin, dass idealtypische arbeitsmarktpolitische Orientierungen eine relativ gute Prognosekraft für die realtypische Ausgestaltung staatlicher Arbeitsmarktinstitutionen haben. Dennoch weichen 34% der clusterspezifischen institutionellen Designs stark von den Hypothesen ab. Nachfolgend wird Tabelle 5.8 zunächst zeilen- und dann spaltenweise analysiert. Die zeilenweise Lesart erlaubt einen Vergleich der clusterspezifischen Ausgestaltung der staatlichen Arbeitsmarktinstitutionen, während die spaltenweise Lesart die Analyse und den Vergleich der clusterspezifischen staatlichen Arbeitsmarktregime ermöglicht. A) Zeilenweise Analyse von Tabelle 5.8 Bei der zeilenweise Analyse von Tabelle 5.8 fällt zunächst auf, dass die Institutionen der staatlichen Arbeitsmarktpolitik (die oberen drei Zeilen) deutlich seltener stark von den Hypothesen abweichen als die Institutionen der staatlichen Arbeitsmarktregulierung (die unteren vier Zeilen). Tatsächlich entfallen lediglich 8% aller stark von den Hypothesen abweichenden institutionellen Designs auf die Institutionen der staatlichen Arbeitsmarktpolitik und 92% auf die Institutio122 nen der staatlichen Arbeitsmarktregulierung.

122

Mögliche Ursachen für stark von den Hypothesen abweichende empirische Designs werden in der spaltenweise Analyse von Tabelle 5.8 erörtert, denn zur Erklärung der Abweichungen muss die Gesamtheit (staatlicher) Arbeitsmarktinstitutionen innerhalb eines realtypischen Wohlfahrtsstaatsclusters betrachtet werden.

258

5 Die Dimension des Wohlfahrtsstaates

Im Falle der Höhe der Ausgaben für aktive Arbeitsmarktpolitik stimmen die Unterschiede der Mediane in Tabelle 5.7 ohne Einschränkungen mit den Hypothesen aus Tabelle 5.6 überein. Folglich stellen der sozialdemokratische und der liberale Wohlfahrtsstaatstypus Extrempole dar, während die anderen Wohlfahrtsstaatstypen weniger extreme Merkmalsausprägungen aufweisen. Allerdings ist die Höhe der Ausgaben für aktive Arbeitsmarktpolitik die einzige staatliche Arbeitsmarktinstitution, die den idealtypisch erwarteten Antagonismus zwischen dem sozialdemokratischen und dem liberalen Wohlfahrtsstaatstypus empirisch widerspiegelt. Zwar stellt der sozialdemokratische Wohlfahrtsstaatstypus auch bei den anderen zwei Institutionen staatlicher Arbeitsmarktpolitik einen Extrempol dar, aber den Gegenpol bildet nicht der liberale, sondern der mittelosteuropäische Wohlfahrtsstaatstypus. Entgegen den theoretischen Erwartungen hat der liberale Wohlfahrtsstaatstypus sowohl eine höhere Generosität der Arbeitslosenunterstützung als auch weniger strenge Leistungsanspruchskriterien als der mittelosteuropäische und der mediterrane Typus. Dennoch sind bei allen drei Institutionen der staatlichen Arbeitsmarktpolitik jeweils der sozialdemokratische Wohlfahrtsstaatstypus sowie einer der marktorientierten Wohlfahrtsstaatstypen institutionelle Gegenpole. Somit spiegeln die institutionellen Extrempole der realtypischen Wohlfahrtsstaatscluster die idealtypischen arbeitsmarktpolitischen Orientierungen und weisen damit auf die Wechselbeziehung zwischen wohlfahrtsstaatstypenspezifischen Leitideen und der Ausgestaltung von Institutionen der staatlichen Arbeitsmarktpolitik hin. Ein anderes Bild zeichnet sich in Tabelle 5.8 für die Institutionen der staatlichen Arbeitsmarktregulierung ab: Zum einen weichen knapp über die Hälfte der empirischen Designs stark von den Hypothesen ab. Zum anderen spiegeln die Extrempole nicht den idealtypisch erwarteten Antagonismus zwischen dem sozialdemokratischen und dem liberalen Wohlfahrtsstaatstypus. Obschon immer ein marktorientierter Wohlfahrtsstaatstypus den institutionellen Extrempol mit minimaler Merkmalsausprägung darstellt, weicht dessen empirischer Gegenpol eklatant von den theoretischen Erwartungen ab: Anstatt des sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaatsclusters, zeigen durchgängig die Mediane des mediterranen Clusters die maximale Merkmalsausprägung (vgl. Tab. 5.7). Somit hat das mediterrane Wohlfahrtsstaatscluster bei allen Institutionen der staatlichen Arbeitsmarktregulierung das höchste Regulierungsniveau, während überwiegend das liberale Wohlfahrtsstaatscluster das geringste Regulierungsniveau aufweist. Lediglich bei der Höhe des Mindestlohns stellt der andere marktorien-

5.3 Staatliche Arbeitsmarktinstitutionen im Spiegel wohlfahrtsstaatlicher Leitideen

259

tierte Wohlfahrtsstaatstypus, also der mittelosteuropäische Typus, den minimalen Extrempol dar. Allerdings ist der Mindestlohn ohnehin jene staatliche Arbeitsmarktinstitution, die sich durch die meisten starken Abweichungen von den Hypothesen auszeichnet. Während aus idealtypischer Perspektive zu erwarten wäre, dass die Lohnverteilung in sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaaten durch einen hohen Mindestlohn nach unten begrenzt wird, hat de facto kein sozialdemokratischer Wohlfahrtsstaat einen Mindestlohn. Die Mediane des Kaitz-Index in den übrigen vier Wohlfahrtsstaatsclustern liegen zwar nicht sehr weit auseinander, aber die Unterschiede ihrer Höhe entsprechen nicht den theoretischen Erwartungen (vgl. Tab. 5.7). So ist der Mindestlohn im mediterranen Wohlfahrtsstaatcluster im Vergleich zum konservativen Cluster deutlich höher als erwartet. Im Gegensatz dazu ist die Höhe des Mindestlohns im konservativen Cluster deutlich geringer als erwartet, da er sich auf dem gleichen Niveau wie im liberalen Cluster befindet. Des Weiteren weist nicht das liberale, sondern das mittelosteuropäische Cluster den geringsten Mindestlohn relativ zum Medianlohn auf. Bei der Strenge der Regulierung regulärer und atypischer Beschäftigung weichen die Hälfte der clusterspezifischen institutionellen Designs stark von den Hypothesen ab. Sowohl das sozialdemokratische als auch das mittelosteuropäische Wohlfahrtsstaatscluster zeigen bei der Regulierung beider Beschäftigungsformen starke Unterschiede zu den theoretischen Erwartungen: Das sozialdemokratische Cluster weist jeweils ein geringeres Regulierungsniveau auf als erwartet und das mittelosteuropäische Cluster übertrifft jeweils die theoretisch erwartete Regulierungsstrenge. Bei der Regulierung atypischer Beschäftigung übersteigt zudem das Regulierungsniveau des mediterranen Clusters die Erwartungen. Insgesamt ergibt sich für beide Institutionen ein Bild, indem das mediterrane und das liberale Wohlfahrtsstaatscluster die Extrempole darstellen, während zwischen den übrigen drei Wohlfahrtsstaatsclustern keine großen Unterschiede existieren. Bei dem Vergleich der Mediane der Strenge der Regulierung regulärer und atypischer Beschäftigung fällt das grundlegende Muster auf, dass alle Wohlfahrtsstaatscluster reguläre Beschäftigung strenger regulieren als atypische Beschäftigung, d.h. alle Wohlfahrtsstaatscluster zeigen einen Outsider benachteiligenden Dualismus der Beschäftigungsregulierung. Die mit Abstand größte Regulierungsdifferenz zeigt das konservative Wohlfahrtsstaatscluster. Die geringste Regulierungsdifferenz zeigt das mediterrane Cluster. Das sozialdemokratische, das mittelosteuropäische und das liberale Cluster

260

5 Die Dimension des Wohlfahrtsstaates

zeigen dahingegen eine relativ große Ähnlichkeit bezüglich der Höhe dieser Differenz (vgl. Tab. 5.7). Unter den Institutionen der staatlichen Arbeitsmarktregulierung ist die Allgemeinverbindlichkeitserklärung von Tarifverträgen jene Institution mit den geringsten Abweichungen. Zwar weisen das sozialdemokratische und das mediterrane Wohlfahrtsstaatscluster starke Unterschiede zu den Hypothesen auf, aber die institutionellen Designs der anderen drei Cluster entsprechen exakt den Hypothesen. Insgesamt verdeutlicht die zeilenweise Analyse von Tabelle 5.8, dass bei allen staatlichen Arbeitsmarktinstitutionen die minimalen Extrempole von einem der zwei marktorientierten Wohlfahrtsstaatstypen besetzt werden. Dieser Befund entspricht zwar nicht exakt der theoretischen Erwartung, dass immer der liberale Wohlfahrtsstaatstypus den minimalen Extrempol bildet. Dennoch unterstützt der Befund das Argument, dass die Leitideen der Freiheit, Eigenverantwortung und Marktfähigkeit ein Design staatlicher Arbeitsmarktinstitutionen befördern, das ein geringes Dekommodifizierungsniveau gewährt und wenig zum Ausgleich des Machtungleichgewichts zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern beiträgt. Im Gegensatz dazu zeigen die maximalen Extrempole ein deutlich von den theoretischen Erwartungen abweichendes Muster. Zwar entspricht es den Erwartungen, dass der sozialdemokratische Wohlfahrtsstaatstypus die maximalen Extrempole der Institutionen der staatlichen Arbeitsmarktpolitik bekleidet, aber bei den Institutionen der staatlichen Arbeitsmarktregulierung nimmt der mediterrane Wohlfahrtsstaatstypus durchgängig diese Position ein. Dieser Befund steht im Widerspruch zu den idealtypischen arbeitsmarktpolitischen Orientierungen, nach denen der mediterrane Wohlfahrtsstaatstypus in deutlich geringerem Ausmaß auf einen Ausgleich des Machtungleichgewichts zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern abzielt als der sozialdemokratische Wohlfahrtsstaatstypus. Eine mögliche Erklärung für die überproportional häufig von den Hypothesen abweichende Ausgestaltung der Institutionen der staatlichen Arbeitsmarktregulierung bezieht sich darauf, dass nicht nur die staatliche Arbeitsmarktregulierung, sondern auch die Institutionen der industriellen Beziehungen die Arbeitsbeziehungen zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern gestalten. Vor dem Hintergrund ihres geteilten Regulierungsobjektes können die Institutionen der industriellen Beziehungen die arbeitsmarktpolitischen Orientierungen eines

5.3 Staatliche Arbeitsmarktinstitutionen im Spiegel wohlfahrtsstaatlicher Leitideen

261

Wohlfahrtsstaates entweder unterstützen (und so als funktionale Äquivalente staatlicher Arbeitsmarktinstitutionen dienen) oder ihnen widersprechen. Beide Varianten haben das Potential theoretisch unerwartete Merkmalsausprägungen der Institutionen der staatlichen Arbeitsmarktregulierung zu verursachen. Inwiefern dieser Erklärungsansatz empirische Relevanz zeigt, kann durch eine spaltenweise Analyse von Tabelle 5.8 untersucht werden. B) Spaltenweise Analyse von Tabelle 5.8 Die spaltenweise Analyse von Tabelle 5.8 erlaubt mögliche Ursachen der stark von den Hypothesen abweichenden clusterspezifischen Designs staatlicher Arbeitsmarktinstitutionen zu erörtert, da die institutionellen Abweichungen sowohl im Kontext des staatlichen Arbeitsmarktregimes als auch vor dem Hintergrund möglicher Wechselwirkungen mit Institutionen der industriellen Beziehungen analysiert werden können. Der Vergleich der fünf Wohlfahrtsstaatstypen offenbart, dass jedes realtypische Wohlfahrtsstaatscluster starke Abweichungen von den Hypothesen aufweist (vgl. Tab. 5.8). Allerdings variiert die Häufigkeit der starken Abweichungen. B1) Sozialdemokratisches Wohlfahrtsstaatscluster Die größte Anzahl stark von den Hypothesen abweichender institutioneller Designs findet sich im sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaatscluster. Alle institutionellen Abweichungen dieses Clusters befinden sich im Bereich der staatlichen Arbeitsmarktregulierung und zeichnen sich dadurch aus, dass das institutionelle Design in deutlich geringerem Maße zur Reduzierung des Machtungleichgewichts zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern beiträgt, als idealtypisch zu erwarten wäre. Aus idealtypischer Perspektive hätte das sozialdemokratische Wohlfahrtsstaatscluster bei der Ausgestaltung aller Institutionen der staatlichen Arbeitsmarktregulierung den maximalen Extrempol bekleiden sollen. Stattdessen zeigen die Mediane der Regulierungsstrenge regulärer und atypischer Beschäftigung nur wenig Unterschied zu den Medianen des konservativen und mittelosteuropäischen Wohlfahrtsstaatsclusters. Darüber hinaus hat entgegen der idealtypenbasierten Hypothesen keines der sozialdemokratischen Länder einen Mindestlohn und auch das Instrument der Allgemeinverbindlichkeitserklärung von Tarifverträgen wird weniger intensiv angewendet als im mediterranen, konservativen und mittelosteuropäischen Wohlfahrtsstaatscluster (vgl. Tab. 5.7).

262

5 Die Dimension des Wohlfahrtsstaates

Für die Erklärung der unerwartet niedrigen Merkmalsausprägungen aller Institutionen staatlicher Arbeitsmarktregulierung im sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaatscluster spielen funktionale Äquivalente aus dem Bereich der Institutionen der industriellen Beziehungen eine entscheidende Rolle. In sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaaten ist der gewerkschaftliche Organisationsgrad im Vergleich zu anderen Wohlfahrtsstaatstypen traditionell sehr hoch. Aus diesem Grund sind Gewerkschaften eine verhandlungsstarke Kraft in der Gestaltung der Arbeitsbeziehungen. Dies drückt sich zum Beispiel in einer vergleichsweise ho123 hen Tarifbindung in sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaaten aus. Vor dem Hintergrund dieser starken Verhandlungsposition der (organisierten) Arbeitnehmerschaft, bedarf es keiner strengen staatlichen Arbeitsmarktregulierung, um die arbeitsmarktpolitische Orientierung eines sehr starken Ausgleichs des Machtungleichgewichts zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern auf dem Arbeitsmarkt effektiv zu realisieren. Die Institutionen der industriellen Beziehungen stellen somit ein funktionales Äquivalent für die Institutionen der staatlichen Arbeitsmarktregulierung dar und bieten eine Erklärung für alle stark von den Hypothesen abweichenden institutionellen Designs im sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaatscluster. B2) Mediterranes Wohlfahrtsstaatscluster Im mediterranen Wohlfahrtsstaatscluster weichen insgesamt drei staatliche Arbeitsmarktinstitutionen stark von den Hypothesen ab. Ebenso wie im sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaatscluster befinden sich alle starken Abweichungen im Bereich der staatlichen Arbeitsmarktregulierung. Im Gegensatz zum sozialdemokratischen Cluster zeichnen sich diese Abweichungen jedoch dadurch aus, dass die Institutionen der staatlichen Arbeitsmarktregulierung das Machtungleichgewicht zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern deutlich stärker ausgleichen als aus idealtypischer Perspektive zu erwarten ist. Entgegen den theoretischen Erwartungen hat das mediterrane Cluster von allen Wohlfahrtsstaatsclustern die strengste Regulierung regulärer und atypischer Beschäftigung, den höchsten Mindestlohn relativ zum Medianlohn und zeigt darüber

123

Im Jahr 2010 beträgt die durchschnittliche Gewerkschaftsdichte im sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaatscluster 69% und die durchschnittliche Tarifbindung 85%. In allen anderen entwickelten Volkswirtschaften (bestehend aus konservativen, mediterranen, mittelosteuropäischen und liberalen Wohlfahrtsstaaten) beträgt die durchschnittliche Gewerkschaftsdichte 22% und die durchschnittliche Tarifbindung 49%.

5.3 Staatliche Arbeitsmarktinstitutionen im Spiegel wohlfahrtsstaatlicher Leitideen

263

hinaus die intensivste Anwendung des Instruments der Allgemeinverbindlichkeitserklärung von Tarifverträgen (vgl. Tab. 5.7). Analog zu den sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaaten kann auch für die Länder des mediterranen Clusters argumentiert werden, dass die stark von den Hypothesen abweichenden Charakteristika der staatlichen Arbeitsmarktregulierung durch Eigenschaften der Institutionen der industriellen Beziehungen zu erklären sind. Im Gegensatz zum sozialdemokratischen Cluster muss die staatliche Arbeitsmarktregulierung mediterraner Wohlfahrtsstaaten allerdings die 124 erhebliche Schwäche der Gewerkschaften ausgleichen, um Arbeitnehmer vor Ausbeutung und Lohndumping zu schützen und so die arbeitsmarktpolitische Orientierung einer mittleren bis geringen Emanzipation der Staatsbürger von der Marktabhängigkeit zu realisieren. Während die Institutionen der staatlichen Arbeitsmarktregulierung eine aus idealtypischer Perspektive unerwartet arbeitnehmerfreundliche Ausgestaltung aufweisen, haben die Institutionen der passiven und aktiven Arbeitsmarktpolitik ein sehr geringes Leistungsniveau, deren Zugang zusätzlich durch hohe Leistungsanspruchskriterien erschwert wird. Diese scheinbar paradoxe Konfiguration des staatlichen Arbeitsmarktregimes im mediterranen Wohlfahrtsstaatscluster lässt sich jedoch erklären, wenn die Finanzkraft des Staates und die Finanzierungsquellen der unterschiedlichen staatlichen Arbeitsmarktinstitutionen berücksichtigt werden: Erstens ist das materielle Wohlstandsniveau im mediterranen Wohlfahrtsstaatscluster relativ gering im Vergleich zum Durchschnitt aller 125 entwickelter Volkswirtschaften. Das geringe Wohlstandsniveau wirkt sich negativ auf die Höhe der Staatseinnahmen aus und beschränkt somit die Möglichkeit generöse bzw. umfassende wohlfahrtsstaatliche Leistungen und Serviceangebote zu gewährleisten. Zweitens unterscheiden sich die Finanzierungsquellen der staatlichen Arbeitsmarktinstitutionen. Während Institutionen der passiven und aktiven Arbeitsmarktpolitik mit steigender Generosität bzw. steigendem Umfang auch den Staatshaushalt zunehmend belasten, werden die 124

125

Die durchschnittliche Gewerkschaftsdichte im mediterranen Wohlfahrtsstaatscluster beträgt 23% im Jahr 2010. Das durchschnittliche BIP pro Kopf im mediterranen Cluster beträgt 27.000 US-Dollar im Jahr 2010. Im Vergleich dazu beträgt das durchschnittliche BIP pro Kopf in allen entwickelten Volkswirtschaften 36.000 US-Dollar. Unter Ausschluss der Länder Mittelosteuropas, die wegen ihrer ökonomischen Transformation ein historisch bedingt niedriges Wohlstandsniveau haben, liegt das durchschnittliche BIP pro Kopf entwickelter Volkswirtschaften sogar bei 46.000 US-Dollar im Jahr 2010.

264

5 Die Dimension des Wohlfahrtsstaates

Kosten der staatlichen Arbeitsmarktregulierung (Mindestlöhne, Kündigungsschutz, Allgemeinverbindlichkeitserklärung von Tarifverträgen) durch die Arbeitgeber getragen. Vor diesem Hintergrund lässt sich argumentieren, dass mediterrane Wohlfahrtsstaaten durch ihre strenge staatliche Arbeitsmarktregulierung eine Erhöhung der sozialen Sicherheit der Arbeitnehmer erreichen ohne jedoch den Staatshaushalt durch Ausgaben für passive und aktive Arbeitsmarktpolitik belasten zu müssen. Diese Strategie ist insofern zweckmäßig, als dass die arbeitsmarktpolitische Orientierung mediterraner Wohlfahrtsstaaten zwar ein moderates Niveau sozialer Sicherheit für die Arbeitnehmer verlangt (vgl. Tab. 2.6), aber dem Staat die finanziellen Ressourcen fehlen, um dieses Ziel durch Transferleistungen und aktive Arbeitsmarktpolitik zu realisieren. Allerdings birgt diese Strategie die Gefahr sich negativ auf die Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen und das wirtschaftspolitische Ziel einer geringen Arbeitslosigkeit auszuwirken. Darüber hinaus könnte das Problem der Schattenwirtschaft zusätzlich verstärkt werden (vgl. Kap. 5.2.1). B3) Mittelosteuropäisches Wohlfahrtsstaatscluster Im mittelosteuropäischen Wohlfahrtsstaatscluster weichen insgesamt zwei staatliche Arbeitsmarktinstitutionen stark von den Hypothesen ab: Sowohl die Regulierung regulärer Beschäftigung als auch die Regulierung atypischer Beschäftigung ist deutlich restriktiver als idealtypenbasiert zu erwarten ist. Die Regulierungsstrenge beider Beschäftigungsformen liegt im mittelosteuropäischen Cluster deutlich über dem Niveau des liberalen Wohlfahrtsstaatsclusters und übertrifft sogar das Niveau des sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaatsclusters. Wird dieser unerwartet restriktive Kündigungs- und Arbeitnehmerschutz im Kontext des staatlichen Arbeitsmarktregimes sowie vor dem Hintergrund makroökonomischer Charakteristika und historischer Besonderheiten betrachtet, ergibt sich jedoch eine plausible Erklärung für diese unerwarteten institutionellen Charakteristika. Das hervorstechende Merkmal des mittelosteuropäischen staatlichen Arbeitsmarktregimes ist die Reduktion von Kosten. Alle staatlichen Arbeitsmarktinstitutionen, die entweder mit Kosten für den Wohlfahrtsstaat verbunden sind (passive und aktive Arbeitsmarktpolitik) oder mit Kostensteigerungen für den Produktionsfaktor Arbeit einhergehen (Mindestlohn, Allgemeinverbindlichkeitserklärungen von Tarifverträgen), sind weder generös noch umfassend ausgestaltet. Jene staatlichen Arbeitsmarktinstitutionen, die weder den öffentlichen

5.3 Staatliche Arbeitsmarktinstitutionen im Spiegel wohlfahrtsstaatlicher Leitideen

265

Haushalt belasten, noch direkt die Kosten für den Produktionsfaktor Arbeit steigern, nämlich die Regulierung regulärer und atypischer Beschäftigung, sind dahingegen relativ restriktiv ausgestaltet. Auf diesem Wege wird den Arbeitnehmern über die staatliche Arbeitsmarktregulierung ein geringes, aber zuverlässiges Niveau an sozialer Sicherheit garantiert, ohne Kosten für den Staatshaushalt oder die Arbeitgeberseite zu verursachen. Durch den restriktiven Kündigungs- und Arbeitnehmerschutz wird lediglich die personalpolitische Flexibilität der Arbeitgeber eingeschränkt. Eine Erklärung für diese Konfiguration der staatlichen Arbeitsmarktregime in Mittelosteuropa besteht darin, dass das geringe Wohlstandsniveau mittelosteu126 ropäischer Länder auch dem wohlfahrtsstaatlichen Leistungsspektrum im Bereich der passiven und aktiven Arbeitsmarktpolitik enge Grenzen setzt. Darüber hinaus war es nach der Systemtransformation von Zentralverwaltungswirtschaften zu marktwirtschaftlichen Wirtschaftssystemen notwendig, die Gründung bzw. die Ansiedlung von Unternehmen zu fördern, um wettbewerbsfähige Volkswirtschaften und Arbeitsplätze zu schaffen (Cook 2010: 672). Durch staatliche Arbeitsmarktinstitutionen erhöhte Lohnstückkosten wären somit der Realisation dieser wirtschaftspolitischen Ziele abträglich. Zudem werden die mittelosteuropäischen Länder auch durch das Erbe ihrer Zeit als sozialistische Regime geprägt. In sozialistischen Regimen gab es per Definition keine Arbeitslosigkeit, da jede erwerbsfähige Person einen Rechtsanspruch auf Arbeit hatte (Deacon 2000: 147f.). Obschon dieser Rechtsanspruch nach der Systemtransformation in keinem der mittelosteuropäischen Länder mehr Bestand hat, kann der relativ restriktive Kündigungs- und Arbeitnehmerschutz als Element eines sozialistischen Erbe angesehen werden, das nicht in Widerspruch zum Gebot geringer wohlfahrtsstaatlicher Ausgaben und niedriger Lohnstückkosten steht. B4) Liberales Wohlfahrtsstaatscluster Auch in der Ländergruppe liberaler Wohlfahrtsstaaten zeigen zwei staatliche Arbeitsmarktinstitutionen starke Abweichungen von den Hypothesen. Beide Abweichungen sind dadurch charakterisiert, dass das liberale Wohlfahrtsstaatscluster nicht den minimalen Extrempol aller Wohlfahrtsstaatstypen bekleidet, sondern das strukturelle Machtungleichgewicht zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern stärker ausgeglichen wird als idealtypenbasiert zu er126

Das durchschnittliche BIP pro Kopf im mittelosteuropäischen Wohlfahrtsstaatscluster beträgt 13.000 US-Dollar im Jahr 2010.

266

5 Die Dimension des Wohlfahrtsstaates

warten wäre. So sind zum einen die Leistungsanspruchskriterien für den Bezug von Arbeitslosenunterstützung weniger restriktiv als im mittelosteuropäischen und mediterranen Wohlfahrtsstaatscluster. Zum anderen ist die Höhe des Mindestlohns relativ zum Medianlohn höher als erwartet, denn der Median des Kaitz-Index befindet sich auf demselben Niveau wie im konservativen Wohlfahrtsstaatscluster (vgl. Tab. 5.7). Obschon die Generosität der Arbeitslosenunterstützung nur leicht von den Hypothesen abweicht, entspricht auch diese Abweichung dem Muster, dass die Arbeitnehmer etwas stärker dekommodifiziert werden, als idealtypenbasiert zu erwarten ist (vgl. Tab. 5.8). Die Ausgestaltung aller übrigen staatlichen Arbeitsmarktinstitutionen entspricht exakt den Hypothesen, da das liberale Wohlfahrtsstaatscluster jeweils den minimalen Extrempol bildet. Trotz dieser Abweichungen spiegelt das staatliche Arbeitsmarktregime des liberalen Wohlfahrtsstaatsclusters die wesentlichen normativen und regulativen Leitideen des liberalen Wohlfahrtsstaatstypus: Der Markt ist der zentrale Ort der Wohlfahrtsproduktion und wohlfahrtsstaatliche Interventionen in den Anpassungsmechanismus des Marktes werden auf ein Minimum beschränkt, um die allokative Effizienz des Marktmechanismus nicht zu beeinträchtigen. Da die Generosität der Arbeitslosenunterstützung und die Ausgaben für aktive Arbeitsmarktpolitik eher gering bzw. sehr gering ausfallen, widerspricht es nicht dem liberalen Paradigma den Zugang zu diesen (geringen) Leistungen nur mit moderaten Hürden zu versehen. Auch die Tatsache, dass der Mindestlohn höher ist als erwartet, widerspricht nicht zwingend der Logik des liberalen Paradigmas. Da wohlfahrtsstaatliche Transferzahlungen in liberalen Wohlfahrtsstaaten grundsätzlich sehr gering ausfallen, muss die Arbeitsmarktpartizipation den Arbeitnehmern ein Existenzminimum garantieren. Andernfalls würde der Markt seine Funktion als zentraler Ort der Wohlfahrtsproduktion nicht erfüllen. Vor diesem Hintergrund entspricht es dem liberalen Fokus auf die Vermeidung extremer Armut, dass der Wohlfahrtsstaat durch einen ordnungspolitischen Eingriff den freien Lohnsetzungsprozess nach unten beschränkt, damit die Arbeitsmarktpartizipation ein Mindestmaß an sozialer Sicherheit garantiert. B5) Konservatives Wohlfahrtsstaatscluster Im konservativen Wohlfahrtsstaatscluster zeigt lediglich die Institution des Mindestlohns eine starke Abweichung von den Hypothesen, da die Höhe des Mindestlohns relativ zum Medianlohn deutlich geringer ausfällt als idealtypenba-

5.3 Staatliche Arbeitsmarktinstitutionen im Spiegel wohlfahrtsstaatlicher Leitideen

267

siert zu erwarten ist. Allerdings entspricht diese Abweichung der Tendenz des konservativen Wohlfahrtsstaatstypus, Arbeitnehmer an den Rändern des Arbeitsmarktes weniger stark zu schützen als die Kernarbeitnehmerschaft in Normalarbeitsverhältnissen. Insgesamt reproduziert das staatliche Arbeitsmarktregime des konservativen Wohlfahrtsstaatsclusters die idealtypisch konservative Leitidee der Statushierarchie relativ gut, denn es zeigt einen deutlichen Fokus auf den Schutz und die Privilegierung des Normalarbeitsverhältnisses. Dieser Fokus wird erstens dadurch ersichtlich, dass die Generosität der Arbeitslosenunterstützung eher hoch ist während die Ausgaben für aktive Arbeitsmarktpolitik vergleichsweise nur ein mittleres Niveau aufweisen. Eine hohe Nettolohnersatzleistungsquote sichert den Status von Arbeitnehmern in Normalarbeitsverhältnissen, die ihren Job verloren haben. Dahingegen profitieren von aktiver Arbeitsmarktpolitik tendenziell geringqualifizierte und prekär beschäftigte Erwerbspersonen, da diese Erwerbspersonengruppen eher an Weiterbildungsmaßnahmen im Rahmen der aktiven Arbeitsmarktpolitik teilnehmen. Zweitens ist ein deutliches Gefälle zwischen der Strenge der Regulierung regulärer und atypischer Beschäftigung zu erkennen. Zwar zeigen die Mediane in Tabelle 5.7, dass alle Wohlfahrtsstaatscluster atypische Beschäftigung weniger streng regulieren als das Normalarbeitsverhältnis, aber bei keinem Cluster ist die Regulierungsdifferenz so groß wie im konservativen Cluster. Allerdings hat das konservative Cluster bei der Regulierung atypischer Beschäftigung auch die größte Spannweite der Merkmalsausprägungen (vgl. Tab. 5.7). Diese Beobachtung weist darauf hin, dass erhebliche Unterschiede bezüglich der Regulierungsstrenge atypischer Beschäftigung innerhalb des konservativen Clusters existieren. Drittens ist die Höhe des Mindestlohns relativ zum Medianlohn geringer als idealtypenbasiert zu erwarten ist. Dieser Umstand kann ebenfalls als Ausdruck einer Art Desinteresse an der Verbesserung der Lohn- und Arbeitsbedingungen der Arbeitnehmer am unteren Ende der Lohnverteilung betrachtet werden. Viertens werden Tarifverträge häufig durch den Staat für allgemeinverbindlich erklärt. Diese Maßnahme kann als politisches Bestreben nach einer Ausdehnung des Geltungsbereichs tariflich standardisierter Normalarbeitsverhältnisses interpretiert werden. In der Summe verdeutlicht die spaltenweise Analyse von Tabelle 5.8, dass unter Berücksichtigung der gesamten Konfiguration staatlicher Arbeitsmarktinstitutionen, deren Wechselwirkungen mit den Institutionen der industriellen Beziehungen sowie makroökonomischen und historischen Spezifika plausible Erklä-

268

5 Die Dimension des Wohlfahrtsstaates

rungen für alle starken Abweichungen von den idealtypenbasierten Hypothesen gefunden werden können. Selbst die unerwartete Position des mediterranen Wohlfahrtsstaatsclusters als maximaler Extrempol aller Institutionen der staatlichen Arbeitsmarktregulierung kann durch diese ganzheitliche Perspektive auf das staatliche Arbeitsmarktregime und dessen institutionelle und ökonomische Umgebung erklärt werden. Somit hat letztlich kein Wohlfahrtsstaatscluster staatliche Arbeitsmarktinstitutionen, deren Abweichung nach Berücksichtigung dieser Faktoren im grundlegenden Widerspruch zu den normativen und regulativen Leitideen bzw. den daraus abgeleiteten arbeitsmarktpolitischen Orientierungen stehen. Insgesamt erlaubt die zeilen- und spaltenweise Analyse von Tabelle 5.8 die Schlussfolgerung, dass auch die hinreichende Bedingung für die Prägekraft von wohlfahrtsstaatstypenspezifischen Leitideen auf die Ausgestaltung staatlicher Arbeitsmarktinstitutionen ausreichend erfüllt ist. Die Ausgestaltung staatlicher Arbeitsmarktinstitutionen spiegelt weitgehend die arbeitsmarktpolitischen Orientierungen der unterschiedlichen Wohlfahrtsstaatstypen. Welche Wohlfahrtsstaatscluster zeigen signifikante Unterschiede in der Ausgestaltung staatlicher Arbeitsmarktinstitutionen? Nachdem die vorausgegangenen Analysen gezeigt haben, dass wohlfahrtsstaatstypenspezifische Leitideen Prägekraft auf die Ausgestaltung staatlicher Arbeitsmarktinstitutionen ausüben, wird nun überprüft, welche realtypischen Wohlfahrtsstaatscluster signifikante Unterschiede in der Ausgestaltung ihrer staatlichen Arbeitsmarktinstitutionen aufweisen. Aus theoretischer Perspektive ist zu erwarten, dass insbesondere Wohlfahrtsstaatscluster, deren arbeitsmarktpolitische Orientierungen sich stark unterscheiden, signifikante Unterschiede in ihren institutionellen Designs aufweisen. Die Überprüfung dieser Erwartung erfolgt anhand derselben Variablen und zu demselben Zeitpunkt (2010) wie die Berechnung der Lage- und Streuungsparameter in Tabelle 5.7. Da dieser Datensatz mehrere notwendige Bedingungen zur 127 Berechnung parametrischer Tests verletzt, kann die Methode der einfaktori127

Der Datensatz verletzt drei notwendige Bedingungen für die Durchführung parametrischer Tests: Erstens zeigt der Kolmogorov-Smirnov-Test auf Normalverteilung bei mehreren Variablen in unterschiedlichen Wohlfahrtsstaatsclustern ein signifikantes Testergebnis, d.h. die Nullhypothese ist abzulehnen und die Verteilung der Daten innerhalb der entsprechenden Cluster weicht signifikant von der Normalverteilung ab. Zweitens zeigt der Levene-Test auf Varianzho-

5.3 Staatliche Arbeitsmarktinstitutionen im Spiegel wohlfahrtsstaatlicher Leitideen

269

ellen Varianzanalyse (ANOVA) nicht angewendet werden (Field 2009: 132f.). Aus diesem Grund bedarf es nicht-parametrischer Testverfahren, um die wohlfahrtsstaatstypenspezifischen Unterschiede der Ausgestaltung staatlicher Arbeitsmarktinstitutionen zu untersuchen. Nicht-parametrische Tests werden auch als voraussetzungsfreie Verfahren bezeichnet, weil sie geringere Anforderungen an den Datensatz stellen als parametrische Testverfahren. So müssen die Daten nicht normalverteilt sein, es bedarf keiner Varianzhomogenität, die Variablen müssen lediglich ordinal skaliert sein und auch kleine Fallzahlen mit Ausreißern führen nicht zu ungenauen Testergebnissen. Das nicht-parametrische Äquivalent der einfaktoriellen Varianzanalyse ist der Kruskal-Wallis Test sowie der Mann-Whitney-U Test. Ebenso wie der F-Test für parametrische Daten, überprüft der Kruskal-Wallis Test für nicht-parametrische Daten, ob sich die zentralen Tendenzen mehrerer unabhängiger Gruppen einer Variable unterscheiden. Anders als bei der ANOVA werden jedoch nicht die tatsächlichen Messwerte der Variablen verwendet, um gruppenspezifische Mittelwerte zu ermitteln. Stattdessen werden die Messwerte durch Ränge ersetzt, die zur Berechnung der Teststatistik verwendet werden. Die einzigen zwei Voraussetzungen für den Kruskal-Wallis Test bestehen darin, dass die abhängige Variable mindestens ordinal skaliert ist und eine unabhängige Variable zur Gruppenbildung vorliegt. Beide Voraussetzungen werden von allen Variablen der staatlichen Arbeitsmarktinstitutionen erfüllt. Die Teststatistik gilt als asymptotisch Chi-Quadrat-verteilt. Ist der kritische Wert kleiner als der Betrag der Teststatistik, muss die Nullhypothese abgelehnt werden, d.h. es ist davon auszugehen, dass sich die zentralen Tendenzen zwischen den Gruppen unterscheiden (Field 2009: 559-565). Mit Hilfe des Kruskal-Wallis Tests kann zwar überprüft werden, ob signifikante Unterschiede zwischen den fünf Wohlfahrtsstaatsclustern existieren, aber der Test sagt nichts darüber aus, welche Wohlfahrtsstaatscluster sich signifikant unterscheiden. Aus diesem Grund müssen Post-hoc-Tests berechnet werden, sofern der Kruskal-Wallis Test ein signifikantes Testergebnis zeigt. Hierfür bietet sich der Mann-Whitney-U Test an. Dieser Test ist das nicht-parametrische Äquimogenität bei den Variablen Strenge der Leistungsanspruchskriterien sowie Strenge der Regulierung atypischer Beschäftigung ein signifikantes Testergebnis, d.h. die Nullhypothese ist abzulehnen und die Varianzen innerhalb der fünf Wohlfahrtsstaatscluster ist nicht homogen. Drittens sind zwei Variablen ordinal skaliert (Mindestlohn und Allgemeinverbindlichkeit von Tarifverträgen).

270

5 Die Dimension des Wohlfahrtsstaates

valent zum t-Test, denn er überprüft, ob sich die zentrale Tendenz zweier unabhängiger Gruppen unterscheidet. Sowohl die Voraussetzungen des MannWhitney-U Tests als auch die Berechnung der Teststatistik auf Grundlage von Rängen sind identisch mit dem Kruskal-Wallis Test. Da mehrere Mann-Whitney128 U Tests für die unterschiedlichen Vergleichspaare zu berechnen sind, erhöht sich der Fehler 1. Art (d.h. die Nullhypothese wird abgelehnt, obwohl die Nullhypothese zutrifft). Um dies zu vermeiden, wird erstens eine BonferroniKorrektur vorgenommen und zweitens eine informierte Auswahl der Vergleichspaare getroffen. Die Bonferroni-Korrektur verlangt, das standardmäßige Signifikanzniveau von α = 0,05 durch die Anzahl der durchgeführten Tests zu dividieren. Der so entstandene Wert dient als neuer kritischer Wert für die Signifikanz der Testergebnisse. Da das kritische Signifikanzniveau durch die Bonferroni-Korrektur schnell sehr klein wird, bedarf es einer informierten und sparsamen Auswahl der Vergleichspaare. Aus diesem Grund werden lediglich jene Vergleichspaare einem Mann-Whitney-U Test unterzogen, deren Lage- und Streuungsparameter in Tabelle 5.7 auf substanzielle Unterschiede zwischen den Clustern hinweisen und somit eine größere Wahrscheinlichkeit haben, für das signifikante Testergebnis des Kruskal-Wallis Tests verantwortlich zu sein. Ist das Testergebnis des Mann-Whitney-U Tests mit Bonferroni-Korrektur signifikant, so ist die Nullhypothese abzulehnen und die zentrale Tendenz zwischen zwei Gruppen unterscheidet sich (Field 2009: 565-568). Tabelle 5.9 bildet die Testergebnisse des Kruskal-Wallis Tests und des MannWhitney-U Tests mit Bonferroni-Korrektur für die staatlichen Arbeitsmarktinstitutionen im Jahr 2010 ab. Die Spalten 1 bis 4 geben Auskunft über die Testergebnisse des Kruskal-Wallis Tests. Es wird ersichtlich, dass bei fast allen staatlichen Arbeitsmarktinstitutionen mindestens ein Vergleichspaar einen signifikanten Unterschied in seiner zentralen Tendenzen aufweist. Die einzige Ausnahme stellt die Höhe des Mindestlohns relativ zum Medianlohn dar. Beim Kaitz-Index ist die Nullhypothese abzulehnen, da der kritische Wert größer ist als der Betrag der Teststatistik. Somit existieren keine signifikanten Unterschiede zwischen den Wohlfahrtsstaatsclustern hinsichtlich der relativen Höhe des Mindestlohns.

128

Insgesamt existieren bei fünf Wohlfahrtsstaatstypen zehn mögliche Vergleichspaare.

5.3 Staatliche Arbeitsmarktinstitutionen im Spiegel wohlfahrtsstaatlicher Leitideen

271

Tabelle 5.9: Wohlfahrtsstaatstypenspezifische Unterschiede staatlicher Arbeitsmarktinstitutionen Kruskal-Wallis Test

ChiQuadrat

Freiheitsgrade

(1)

(2)

Generosität Arbeitslosenunterstützung

15,7

4

Ausgaben aktive Arbeitsmarktpolitik

10,1

4

staatliche Arbeitsmarktinstitution

Mann-Whitney-U Test Unterschiede Welche WFS-Cluster zwischen unterscheiden sich signifikant? WFSClustern? Signifikanz Paarvergleich Signifikanz (3) (4) (5) (6) soz - ost* 0,001 (p < 0,012) (soz - med) 0,016 (p > 0,012) 0,00 (p < 0,05) ja (soz - lib) 0,08 (p > 0,012) kons - ost* 0,003 (p < 0,012)

0,03 (p < 0,05)

ja

Strenge der Leistungsanspruchskriterien

10,4

4

0,02 (p < 0,05)

ja

Strenge der Regulierung regulärer Beschäftigung

14,2

4

0,01 (p < 0,05)

ja

Strenge der Regulierung atypischer Beschäftigung

11,8

4

0,01 (p < 0,05)

ja

Existenz von Mindestlöhnen

21,1

4

0,00 (p < 0,05)

ja

soz - lib* (soz - ost)

0,019 (p < 0,02) 0,038 (p > 0,02)

soz - ost* (soz - med) (soz - lib) (kons - ost) soz - lib* kons - lib* ost - lib* (med - lib) (soz - lib) kons - lib* (med - lib) ost - lib* soz - lib* (soz - med) soz - ost* (kons - lib)

0,006 (p < 0,012) 0,114 (p > 0,012) 0,067 (p > 0,012) 0,04 (p > 0,012) 0,004 (p < 0,012) 0,003 (p < 0,012) 0,001 (p < 0,012) 0,01 (p > 0,012) 0,052 (p > 0,012) 0,003 (p < 0,012) 0,019 (p > 0,012) 0,002 (p < 0,012) 0,004 (p < 0,012) 0,016 (p > 0,012) 0,001 (p < 0,012) 0,088 (p > 0,012)

Höhe des 1,5 3 0,7 (p > 0,05) nein keine Mindestlohns Anwendung von kons - lib* 0,012 (p < 0,016) Allgemein13,9 4 0,01 (p < 0,05) ja (med - lib) 0,019 (p > 0,016) Verbindlich(soz - med) 0,057 (p > 0,016) keitserklärungen soz = sozialdemokratisch, kons = konservativ, lib = liberal, med = mediterran, ost = mittelosteuropäisch, WFS = Wohlfahrtsstaat. Jahr: 2010.

272

5 Die Dimension des Wohlfahrtsstaates

Zur Identifikation jener Paare von Wohlfahrtsstaatsclustern, die signifikante Testergebnisse der Kruskal-Wallis Tests verursachen, werden für ausgewählte Paarvergleiche Post-hoc-Tests in Form von Mann-Whitney-U Tests berechnet. Die Spalten 5 und 6 in Tabelle 5.9 dokumentieren die Testergebnisse der Posthoc-Tests. Da bei jeder staatlichen Arbeitsmarktinstitution nur für jene Paarvergleiche Mann-Whitney-U Tests berechnet werden, die mit erhöhter Wahrscheinlichkeit das signifikante Testergebnis des Kruskal-Wallis Tests verursachen, variiert nicht nur die die Anzahl der Vergleichspaare, sondern auch das 129 kritische Signifikanzniveau gemäß der Bonferroni-Korrektur. Spalte 5 weist die getesteten Paarvergleiche aus. Spalte 6 stellt die exakte Signifikanz der Teststatistik sowie in Klammern das kritische Signifikanzniveau nach der BonferroniKorrektur dar. Ist das Signifikanzniveau der Teststatistik kleiner als das kritische Signifikanzniveau, existiert ein signifikanter Unterschied in der zentralen Tendenz der zwei Wohlfahrtsstaatscluster. Paarvergleiche mit signifikant unterschiedlichen zentralen Tendenzen werden in Spalte 5 durch ein Sternchen gekennzeichnet. Alle Paarvergleiche bei denen die Nullhypothese dahingegen nicht abgelehnt werden kann, werden in Klammern gesetzt. Die Testergebnisse zeigen, dass die fünf Wohlfahrtsstaatstypen mit unterschiedlicher Häufigkeit ein Element signifikanter Paarvergleiche sind. So ist das liberale Wohlfahrtsstaatscluster insgesamt acht Mal, das sozialdemokratische sowie das mittelosteuropäische Cluster sechs Mal, das konservative Cluster vier Mal und das mediterrane Cluster nie Element eines Paarvergleichs mit signifikant unterschiedlichen zentralen Tendenzen. Diese Beobachtung spiegelt die idealtypenbasierte Erwartung, dass der liberale und der sozialdemokratische Wohlfahrtsstaatstypus aufgrund ihrer Stellung als Extrempole besonders häufig deutliche Unterschiede zu den institutionellen Designs anderer Wohlfahrtsstaatstypen aufweisen sollten. Gleichzeitig wird anhand des konservativen und mediterranen Wohlfahrtsstaatsclusters deutlich, dass Wohlfahrtsstaatstypen mit weniger extremen arbeitsmarktpolitischen Orientierungen seltener signifikante Unterschiede zu den institutionellen Designs anderer Wohlfahrtsstaatstypen aufweisen. Obschon auch der mittelosteuropäische Wohlfahrtsstaatstypus aus theoretischer Perspektive keinen Extrempol hinsichtlich seiner arbeitsmarktpolitischen Orientierungen bekleidet, ist das mittelosteuropäische Wohlfahrtsstaatscluster ebenso häufig wie das sozialdemokratische Cluster Element von 129

Werden zwei/ drei/ vier Vergleichspaare auf den Unterschied ihrer zentralen Tendenz getestet, liegt das kritische Signifikanzniveau gemäß der Bonferroni-Korrektur bei α = 0,025/ 0,0167/ 0,0125 (vgl. Spalte 6 in Tabelle 5.9).

5.3 Staatliche Arbeitsmarktinstitutionen im Spiegel wohlfahrtsstaatlicher Leitideen

273

signifikanten Paarvergleichen. Diese Beobachtung spiegelt den Befund aus Tabelle 5.8; der mittelosteuropäische Wohlfahrtsstaatstypus bekleidet mehrfach den minimalen Extrempol und weist somit empirisch eine stärkere Marktorientierung auf, als idealtypenbasiert zu erwarten ist.

Paarvergleiche

Bezüglich der Zusammensetzung signifikanter Paarvergleiche gilt die idealtypenbasierte Erwartung, dass insbesondere Wohlfahrtsstaatscluster, deren arbeitsmarktpolitische Orientierungen sich stark unterscheiden, signifikante Unterschiede in ihren institutionellen Designs aufweisen. Zur Überprüfung dieser Erwartung, wird die Häufigkeit, mit der die Paarvergleiche signifikante Unterschiede ihrer zentralen Tendenzen aufweisen, mittels eines Balkendiagramms visualisiert (vgl. Abb. 5.3). soz - lib soz - ost kons - lib lib - ost kons - ost soz - med lib - med med - ost kons - med soz - kons 0

1

2

3

Anzahl signifikanter Unterschiede bei der Ausgestaltung staatlicher Arbeitsmarktinstitutionen

Abbildung 5.3: Wohlfahrtsstaatstypen mit signifikanten institutionellen Unterschieden

Von den insgesamt zehn möglichen Paarkombinationen von Wohlfahrtsstaatstypen zeigt lediglich die Hälfte der Kombinationen bei mindestens einer staatlichen Arbeitsmarktinstitution einen signifikanten Unterschied ihres institutionellen Designs staatlicher Arbeitsmarktinstitutionen. Abbildung 5.3 verdeutlicht, dass überwiegend Wohlfahrtsstaatstypen mit großen Differenzen in den arbeitsmarktpolitischen Orientierungen signifikante Unterschiede in der Ausgestaltung staatlicher Arbeitsmarktinstitutionen zeigen. So existieren jeweils drei signifikante Paarvergleiche zwischen dem sozialdemokratischen und dem liberalen Cluster, dem sozialdemokratischen und dem mittelosteuropäischen Cluster sowie dem konservativen und dem liberalen Cluster.

274

5 Die Dimension des Wohlfahrtsstaates

Mit Ausnahme der zwei signifikanten Unterschiede zwischen dem liberalen und dem mittelosteuropäischen Cluster existieren keine signifikanten Paarvergleiche zwischen Wohlfahrtsstaatstypen, deren arbeitsmarktpolitische Orientierungen keine großen Differenz aufweisen. Die signifikanten institutionellen Unterschiede zwischen dem liberalen und dem mittelosteuropäischen Cluster zeigen sich bei den Institutionen der Regulierung regulärer und atypischer Beschäftigung (vgl. Tab. 5.9). Bei beiden Institutionen hat das mittelosteuropäische Cluster einen signifikant höheren Kündigungs- und Arbeitnehmerschutz als das liberale Cluster. Wie zuvor erörtert, liegt eine mögliche Ursache dieses unerwarteten Befundes im historischen Erbe der mittelosteuropäischen Länder, denn zu Zeiten der sozialistischen Regime gab es einen Rechtsanspruch auf Arbeit. Vor diesem Hintergrund ermöglicht ein strenger Kündigungs- und Beschäftigtenschutz eine ideenbezogene Kontinuität ohne die Ausgaben für wohlfahrtsstaatliche Leistungen zu erhöhen. Resümierend lässt sich konstatieren, dass fast jede staatliche Arbeitsmarktinstitution Wohlfahrtsstaatscluster mit signifikanten Unterschieden ihrer institutionellen Designs aufweist. Allerdings ist die Verteilung signifikanter Paarvergleiche sehr heterogen, da Paare von Wohlfahrtsstaatsclustern mit großen ideellen Differenzen deutlich häufiger signifikante institutionelle Unterschiede haben, als Paare von Wohlfahrtsstaatsclustern mit geringen ideellen Differenzen. Dieses Muster steht im Einklang mit dem Befund aus Kapitel 5.1, dass Wohlfahrtsstaatstypen mit großen ideellen Unterschieden stärkere Unterschiede bezüglich ihrer mittleren Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung zeigen, als Wohlfahrtsstaatstypen mit geringeren ideellen Differenzen (vgl. Tab. 5.3). 5.4 Zwischenfazit: Die empirische Evidenz des theoretischen Grundarguments Mit dem Abschluss von Kapitel 5.3 ist der Punkt erreicht, an dem alle Elemente des konzeptionellen Analyserahmens empirisch untersucht wurden (vgl. Abb. 1.2). Somit besteht erstmals die Möglichkeit besteht, die empirische Evidenz des theoretischen Grundarguments in Gänze zu beurteilen. Kapitel 5.4 verwendet die Analyseergebnisse des vierten und fünften Kapitels, um zusammenfassend zu bewerten, inwieweit das theoretische Grundargument durch die empirischen Befunde Bestätigung findet. Das theoretische Grundargument wurde in Kapitel 1.1 und Kapitel 2.3 hergeleitet und begründet. Kurz zusammengefasst besagt es, dass ein Zusammenhang

5.4 Zwischenfazit: Die empirische Evidenz des theoretischen Grundarguments

275

zwischen Wohlfahrtsstaatstypen und der Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung existiert, weil wohlfahrtsstaatstypenspezifische Leitideen Prägekraft auf die Ausgestaltung wohlfahrtsstaatlicher Institutionen ausüben und diese Institutionen (insbesondere staatliche Arbeitsmarktinstitutionen) strukturelle Arbeitsmarktergebnisse wie die Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung beeinflussen. Das Argument eines institutionell vermittelten Einflusses wohlfahrtsstaatlicher Leitideen auf die Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung wird durch den konzeptionellen Analyserahmen visualisiert und dadurch einer modularen empirischen Überprüfung zugänglich gemacht. Im konzeptionellen Analyserahmen werden die Beziehungszusammenhänge des theoretischen Grundarguments durch die mit den Ziffern Eins bis Drei bezeichneten Verbindungselemente abgebildet (vgl. Abb. 1.2). Zum Zweck einer resümierenden Bewertung der empirischen Evidenz des theoretischen Grundarguments, stellt Tabelle 5.10 die theoretisch erwarteten Zusammenhänge den empirischen Befunden gegenüber. Die im konzeptionellen Analyserahmen mit der Ziffer 1 bezeichnete Erwartung einer wohlfahrtsstaatstypenspezifischen Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung erweist sich in Kapitel 5.1 als empirisch weitgehend zutreffend. Allein durch die Gruppierung entwickelter Volkswirtschaften in fünf Wohlfahrtsstaatscluster können 63% der Varianz der Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung in entwickelten Volkswirtschaften erklärt werden. Allerdings variiert die Erklärungskraft der fünf Wohlfahrtsstaatstypen erheblich. Insbesondere das sozialdemokratische und das mittelosteuropäische Wohlfahrtsstaatscluster leisten einen hohen Beitrag zur Varianzaufklärung der abhängigen Variable. Insgesamt zeigen sechs von zehn der möglichen Paarkombinationen von Wohlfahrtsstaatstypen signifikante Unterschiede in der mittleren Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung. Vor allem Wohlfahrtsstaatstypen mit großen Differenzen hinsichtlich ihrer Leitideen bzw. den daraus abgeleiteten arbeitsmarktpolitischen Orientierungen weisen signifikante Unterschiede in ihrer mittleren Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung auf.

276

5 Die Dimension des Wohlfahrtsstaates

Tabelle 5.10: Empirische Evidenz des theoretischen Grundarguments Theoretisch erwarteter Zusammenhang

Empirische Befunde

Es existiert ein Zusammenhang zwischen Wohlfahrtsstaatstypen und der Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung. (Verbindungselement 1 im konzeptionellen Analyserahmen) Die Zuordnung entwickelter Volkswirtschaften in Wohlfahrtsstaatscluster  hat eine hohe Erklärungskraft für die Varianz der Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung. Die Richtung des Zusammenhangs zwischen den Wohlfahrtsstaatsclustern und der Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung entspricht bei allen Wohlfahrtsstaatstypen den theoretischen Erwartungen.  Über die Hälfte der möglichen Paarkombinationen von Wohlfahrtsstaatstypen zeigen signifikante Unterschiede in der mittleren Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung. Insbesondere Wohlfahrtsstaatscluster mit großen ideellen Unterschieden weisen signifikante Unterschiede in der mittleren Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung auf.



Theoretisch erwarteter Zusammenhang

Empirische Befunde

Hypothese H2 (Die Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung unterscheidet sich zwischen unterschiedlichen Wohlfahrtsstaatstypen.) kann nicht abgelehnt werden. (vgl. Kap. 5.1) Es existiert eine Wechselbeziehung zwischen wohlfahrtsstaatstypenspezifischen Leitideen und der Ausgestaltung wohlfahrtsstaatlicher Institutionen. Diese Wechselbeziehung impliziert: wohlfahrtsstaatstypenspezifische Leitideen üben Prägekraft auf die Ausgestaltung wohlfahrtsstaatlicher Institutionen (und somit auch staatlicher Arbeitsmarktinstitutionen) aus. (Verbindungselement 2 im konzeptionellen Analyserahmen) Die notwendige Bedingung für die Prägekraft der Leitideen auf staatliche Arbeitsmarktinstitutionen ist ausreichend erfüllt:  Approximatives Entsprechungsverhältnis zwischen der länderspezifischen Zusammensetzung der Wohlfahrtsstaatscluster und der Cluster staatlicher Arbeitsmarktregime.  Wohlfahrtsstaatstypen mit ähnlichen arbeitsmarktpolitischen Orientierungen sind häufig in einem Cluster staatlicher Arbeitsmarktregime; Wohlfahrtsstaatstypen mit großen ideellen Unterschieden nie. (vgl. Kap. 5.2) Die hinreichende Bedingung für die Prägekraft der Leitideen auf staatliche Arbeitsmarktinstitutionen ist ausreichend erfüllt:  Idealtypische arbeitsmarktpolitische Orientierungen haben eine relativ gute Prognosekraft für die realtypische Ausgestaltung staatlicher Arbeitsmarktinstitutionen: Zwei Drittel der Hypothesen über wohlfahrtsstaatstypenspezifische institutionelle Designs stimmen entweder exakt oder mit leichten Abweichungen mit den empirisch beobachteten institutionellen Designs überein.  Paarkombinationen von Wohlfahrtsstaatsclustern mit großen ideellen Differenzen haben deutlich häufiger signifikante institutionelle Unterschiede, als Paarkombinationen mit geringen ideellen Differenzen. (vgl. Kap. 5.3)

5.4 Zwischenfazit: Die empirische Evidenz des theoretischen Grundarguments

277

Tabelle 5.10: Empirische Evidenz des theoretischen Grundarguments (Fortsetzung) Theoretisch erwarteter Zusammenhang

Empirische Befunde

Wohlfahrtsstaatliche Institutionen (insbesondere staatliche Arbeitsmarktinstitutionen) beeinflussen die Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung. (Verbindungselement 3 im konzeptionellen Analyserahmen) Zahlreiche Indikatoren zur Operationalisierung von Institutionen der  staatlichen Arbeitsmarktpolitik sowie der staatlichen Arbeitsmarktregulierung zeigen in bivariaten Regressionsanalysen einen signifikanten Einfluss auf die Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung. (vgl. Kap. 4.1)  Wird im Rahmen von multiplen Regressionsanalysen für andere Einflussfaktoren kontrolliert, zeigen die Hauptkomponente zur staatlichen Arbeitsmarktregulierungen sowie die Hauptkomponente zur aktivierenden Arbeitsmarktpolitik einen signifikanten Einfluss auf die Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung. (vgl. Kap. 4.3) Schlussfolgerung aus 4.1 und 4.3: Hypothese H1 (Staatliche Arbeitsmarktinstitutionen beeinflussen die Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung in entwickelten Volkswirtschaften.) kann nicht abgelehnt werden.

Darüber hinaus zeigen die empirischen Analysen in Kapitel 5.1, dass die Erklärungskraft der Wohlfahrtsstaatstypen über die wohlfahrtsstaatstypenspezifische Ausgestaltung staatlicher Arbeitsmarktinstitutionen hinausgeht. Dieser Befund deutet darauf hin, dass andere wohlfahrtsstaatliche Institutionen (wie zum Beispiel Institutionen der Familienpolitik) oder auch funktionale Äquivalente im Bereich der Institutionen der industriellen Beziehungen eine wohlfahrtsstaatstypenspezifische Varianz besitzen und somit zur Erklärungskraft der Wohlfahrtsstaatstypen beitragen. Alles in allem kann auf Grundlage der Analyseergebnisse aus Kapitel 5.1 die Hypothese H2 nicht verworfen werden. Als Erklärung für die wohlfahrtsstaatstypenspezifische Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung nennt das theoretische Grundargument den institutionell vermittelten Einfluss wohlfahrtsstaatstypenspezifischer normativer und regulativer Leitideen auf strukturelle Arbeitsmarktergebnisse. Ein Element dieser Erklärung besteht aus der theoretisch erwarteten Wechselbeziehung zwischen wohlfahrtsstaatstypenspezifischen Leitideen und der Ausgestaltung wohlfahrtsstaatlicher Institutionen. Diese Wechselbeziehung wird im konzeptionellen Analyserahmen durch den mit der Ziffer 2 gekennzeichneten Doppelpfeil dargestellt. Für das theoretische Grundargument ist allerdings primär eine Wirkungsrichtung dieser Wechselbeziehung von Bedeutung, nämlich die Prägekraft von wohlfahrtsstaatstypenspezifischen Leitideen auf die Ausgestaltung staatlicher

278

5 Die Dimension des Wohlfahrtsstaates

Arbeitsmarktinstitutionen. Zur Überprüfung der empirischen Evidenz dieser Prägekraft werden eine notwendige und eine hinreichende Bedingung formuliert, die in den Kapiteln 5.2 und 5.3 untersucht werden. Die notwendige Bedingung bezieht sich auf die Ebene des staatlichen Arbeitsmarktregimes und besagt, dass die länderspezifische Zusammensetzung der Cluster staatlicher Arbeitsmarktregime den realtypischen Wohlfahrtsstaatsclustern entsprechen muss. In der empirischen Analyse wird deutlich, dass zwar kein exaktes, aber ein approximatives Entsprechungsverhältnis zwischen der länderspezifischen Zusammensetzung der Cluster staatlicher Arbeitsmarktregime und den Wohlfahrtsstaatsclustern besteht. Insgesamt werden vier Cluster staatlicher Arbeitsmarktregime identifiziert, deren Zusammensetzung zeigt, dass sich Länder eines Wohlfahrtsstaatstypus tendenziell in einem Cluster gruppieren. Der konservative Wohlfahrtsstaatstypus stellt allerdings eine Ausnahme von dieser Tendenz dar, da sich in jedem Cluster staatlicher Arbeitsmarktregime mindestens ein konservativer Wohlfahrtsstaat befindet. Des Weiteren offenbart die Clusterzusammensetzung, dass sich Wohlfahrtsstaatstypen mit ähnlichen arbeitsmarktpolitischen Orientierungen häufig in einem Cluster vereinigen, wohingegen sich Wohlfahrtsstaatstypen mit großen ideellen Unterschieden nie gemeinsam in einem Cluster staatlicher Arbeitsmarktregime befinden. Die hinreichende Bedingung bezieht sich auf die Ebene einzelner staatlicher Arbeitsmarktinstitution und besagt, dass die Ausgestaltung staatlicher Arbeitsmarktinstitutionen wohlfahrtsstaatstypenspezifische Leitideen bzw. die daraus abgeleiteten arbeitsmarktpolitischen Orientierungen spiegelt. In den empirischen Analysen wird deutlich, dass die idealtypischen arbeitsmarktpolitischen Orientierungen eine relativ gute Prognosekraft für die Ausgestaltung staatlicher Arbeitsmarktinstitutionen in realtypischen Wohlfahrtsstaaten haben. Zwei Drittel der Hypothesen über die wohlfahrtsstaatstypenspezifische Ausgestaltung staatlicher Arbeitsmarktinstitutionen stimmen entweder exakt oder mit leichten Abweichungen mit den institutionellen Merkmalsausprägungen innerhalb der realtypischen Wohlfahrtsstaatscluster überein. Allerdings finden sich in jedem Wohlfahrtsstaatscluster auch institutionelle Designs, die stark von den Hypothesen abweichen. In solchen Fällen können jedoch plausible Erklärungen für die Abweichungen identifiziert werden, wenn die gesamte institutionelle Konfiguration des staatlichen Arbeitsmarktregimes, Wechselwirkungen mit den Institutionen der industriellen Beziehungen sowie ökonomische und historische Besonderheiten berücksichtigt werden. Unter Einbeziehung dieser Faktoren

5.4 Zwischenfazit: Die empirische Evidenz des theoretischen Grundarguments

279

zeigt kein Wohlfahrtsstaatscluster Merkmale, die fundamental den normativen und regulativen Leitideen bzw. den daraus abgeleiteten arbeitsmarktpolitischen Orientierungen widersprechen. Darüber hinaus zeigt die empirische Analyse, dass überwiegend Paarkombinationen von Wohlfahrtsstaatstypen mit großen ideellen Differenzen signifikante Unterschiede in der Ausgestaltung staatlicher Arbeitsmarktinstitutionen aufweisen. Dieses Muster spiegelt den Befund aus Kapitel 5.1, dass Wohlfahrtsstaatstypen mit großen ideellen Differenzen stärkere Unterschiede bezüglich ihrer mittleren Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung zeigen, als Wohlfahrtsstaatstypen mit geringeren ideellen Differenzen. Gemeinsam liefern die empirischen Befunde der Untersuchung der notwendigen und der hinreichenden Bedingung ausreichend empirische Evidenz für die theoretisch erwartete Prägekraft von wohlfahrtsstaatstypenspezifischen Leitideen auf die Ausgestaltung staatlicher Arbeitsmarktinstitutionen. Das zweite Element zur Erklärung des Phänomens der wohlfahrtsstaatstypenspezifischen Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung besteht aus dem theoretisch zu erwartenden Einfluss wohlfahrtsstaatlicher Institutionen (insbesondere staatliche Arbeitsmarktinstitutionen) auf die Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung. Diese Wirkungsbeziehung wird im konzeptionellen Analyserahmen durch den mit der Ziffer 3 gekennzeichneten Pfeil dargestellt und im vierten Kapitel empirisch untersucht. Die bivariaten Regressionsanalysen in Kapitel 4.1 zeigen, dass sowohl Institutionen der passiven, aktiven und aktivierenden Arbeitsmarktpolitik als auch Institutionen der staatlichen Arbeitsmarktregulierung einen signifikanten Einfluss auf die Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung ausüben. Wenn in Kapitel 4.3 auf Grundlage von ursachenbündelspezifischen Hauptkomponenten multiple Regressionsanalysen mit mehreren staatlichen Arbeitsmarktinstitutionen sowie alternativen Erklärungsfaktoren berechnet werden, zeigen insbesondere die Komponente zur staatlichen Arbeitsmarktregulierung und mit geringerer Erklärungskraft auch die Komponente zu den Leistungsanspruchskriterien einen signifikanten Einfluss auf die Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung. Folglich erweisen sich einige staatliche Arbeitsmarktinstitutionen auch dann als signifikante Erklärungsfaktoren der Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung, wenn für konkurrierende Erklärungsfaktoren kontrolliert wird. Vor diesem Hintergrund kann die Hypothese H1, dass staatliche Arbeitsmarktinstitutionen die Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung in entwickelten Volkswirtschaften beeinflussen, nicht verworfen werden.

280

5 Die Dimension des Wohlfahrtsstaates

Zusammenfassend lässt sich konstatieren, dass die empirischen Analyseergebnisse des vierten und fünften Kapitels weitgehend die theoretischen Erwartungen über den Zusammenhang von Wohlfahrtsstaatstypen und Niedriglohnbeschäftigung sowie dessen ideelle und institutionelle Ursachen bestätigen. Obschon die empirischen Befunde nicht alle theoretischen Erwartungen im Detail spiegeln, muss kein Element des theoretischen Grundarguments auf Basis dieser Befunde verworfen werden. Gemeinsam zeigen die Analyseergebnisse, dass das theoretisch begründete Konstrukt des institutionell vermittelten Einflusses wohlfahrtsstaatstypenspezifischer Leitideen auf strukturelle Arbeitsmarktergebnisse, Erklärungskraft für die wohlfahrtsstaatstypenspezifische Varianz der Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung hat. Somit besitzt die analytische Kategorie des Wohlfahrtsstaatstypus große Bedeutung für die Erklärung der Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung in entwickelten Volkswirtschaften.

6 Das Puzzle der konservativen Wohlfahrtsstaaten Das Gros der empirischen Befunde des vierten und fünften Kapitels bestätigt das theoretische Grundargument eines institutionell vermittelten Einflusses wohlfahrtsstaatstypenspezifischer Leitideen auf die Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung. Allerdings variiert die Erklärungskraft des theoretischen Grundarguments zwischen den fünf Wohlfahrtsstaatstypen. Das konservative Wohlfahrtsstaatscluster weist sowohl hinsichtlich der Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung als auch auf institutioneller Ebene eine stärkere Heterogenität auf, als die anderen Wohlfahrtsstaatscluster. Somit stellt das konservative Wohlfahrtsstaatscluster ein empirisches Puzzle dar: Im Vergleich zu den anderen Wohlfahrtsstaatsclustern zeigt das konservative Cluster bezüglich der Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung im Jahr 2010 erstens die größte Spannweite zwischen der minimalen und der maximalen Merkmalsausprägung (Frankreich und Deutschland), zweitens die meisten Ausreißer (Frankreich, Belgien und Deutschland), drittens den extremsten Ausreißer (Deutschland) und viertens ist es das einzige Cluster mit Ausreißern an beiden Enden der Verteilung (vgl. Abb. 1.3). Auf institutioneller Ebene haben die konservativen Wohlfahrtsstaaten von allen Wohlfahrtsstaatsclustern die größte Varianz hinsichtlich der Konfiguration ihrer staatlichen Arbeitsmarktregime (vgl. Tab. 5.5). Vor dem Hintergrund dieser lohnstrukturellen und institutionellen Varianz richtet sich das Erkenntnisinteresse des sechsten Kapitels im Allgemeinen auf die Frage, inwiefern staatliche Arbeitsmarktinstitutionen sowie institutionelle Abweichungen von idealtypischen arbeitsmarktpolitischen Orientierungen die Heterogenität der Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung im konservativen Wohlfahrtsstaatscluster verursachen. Im Speziellen soll untersucht werden, ob die lohnstrukturelle Ausreißer-Position von Deutschland, Frankeich und Belgien durch extreme Merkmalsausprägungen einzelner staatlicher Arbeitsmarktinstitutionen oder die institutionelle Konfiguration des Arbeitsmarktregimes erklärt werden kann. Zur Untersuchung der institutionellen Ursachen der Varianz der Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung im konservativen Wohlfahrtsstaatscluster werden sowohl staatliche Arbeitsmarktinstitutionen als auch Institutionen der in© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 V. Gerstung, Niedriglohnbeschäftigung im Wohlfahrtsstaat, Vergleichende Politikwissenschaft, https://doi.org/10.1007/978-3-658-27640-9_6

282

6 Das Puzzle der konservativen Wohlfahrtsstaaten

dustriellen Beziehungen in die Analyse aufgenommen. Dieses Vorgehen erlaubt potenzielle funktionale Äquivalente im Bereich der Institutionen der industriellen Beziehungen zu identifizieren und so eine umfassendere Antwort auf die Frage nach den institutionellen Ursachen der heterogenen Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung in konservativen Wohlfahrtsstaaten zu geben. Das sechste Kapitel gliedert sich in zwei Unterkapitel. Kapitel 6.1 untersucht das gesamte Cluster konservativer Wohlfahrtsstaaten. Das Erkenntnisinteresse richtet sich auf die Frage, ob die Ausgestaltung von Arbeitsmarktinstitutionen bzw. die Konfiguration der Arbeitsmarktregime im Jahr 2010 eine theoretisch plausible Kovarianz mit dem Anteil der Niedriglohnbeschäftigten aufweist. Somit folgt Kapitel 6.1 der Logik eines Most Similar Systems Design: Wesentliche Hintergrundbedingungen der Länder ähneln sich, aber sowohl die abhängige Variable (Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung) als auch die Testvariablen (staatliche Arbeitsmarktinstitutionen) zeigen deutliche Varianz (Blatter et al. 2007: 142). Da Deutschland ein wesentliches Element des Puzzles konservativer Wohlfahrtsstaaten darstellt, untersucht Kapitel 6.2, ob der deutsche Niedriglohnsektor schon immer die Ausdehnung des Jahres 2010 hatte oder ob sich die Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung im Zeitverlauf verändert hat. Damit einhergehend wird die Frage untersucht, inwiefern Deutschland im Zeitverlauf eine theoretisch plausible Kovarianz zwischen der Veränderung der Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung und dem Wandel der Ausgestaltung sowie der Konfiguration von Arbeitsmarktinstitutionen zeigt. Somit wechselt Kapitel 6.2 einerseits von der Querschnitts- in die Längsschnittperspektive und andererseits von einem ländervergleichenden Fallstudiendesign zu einer Einzelfallstudie. Die Auswahl Deutschlands als Fallstudie erfolgt analog zu der Logik der Fallauswahlmethode des Extremfalls: Deutschland weist die extremste Merkmalsausprägung der abhängigen Variable auf. Das Untersuchungsziel der Fallstudie besteht in der Identifikation der Ursachen der ungewöhnlich hohen Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung im Zeitverlauf (Seawright/Gerring 2008: 301f.). 6.1 Arbeitsmarktinstitutionen und Arbeitsmarktregime im Ländervergleich Im Vergleich zu anderen Wohlfahrtsstaatsclustern zeigt das konservative Cluster eine relativ starke Heterogenität in der Ausgestaltung staatlicher Arbeitsmarktinstitutionen: Erstens ist der konservative Wohlfahrtsstaatstypus der

6.1 Arbeitsmarktinstitutionen und Arbeitsmarktregime im Ländervergleich

283

einzige Wohlfahrtsstaatstypus, der in jedem der vier Cluster staatlicher Arbeitsmarktregime vorzufinden ist (vgl. Tab. 5.5). Dieser Befund weist darauf hin, dass im konservativen Cluster die länderspezifischen Konfigurationen staatlicher Arbeitsmarktinstitutionen, also die staatlichen Arbeitsmarktregime, starke Unterschiede aufweisen. Zweitens zeigt der Vergleich der Streuungsparameter in Tabelle 5.7, dass das konservative Wohlfahrtsstaatscluster im Vergleich zu den anderen Clustern eine relativ starke Streuung der Merkmalsausprägungen staatlicher Arbeitsmarktinstitutionen aufweist. In der Arbeitsmarktökonomie gilt die Höhe der Arbeitslosigkeit als ein wesentlicher Bestimmungsfaktor des Lohnniveaus, da das Ausmaß der Arbeitslosigkeit die Verhandlungsposition der Arbeitskraftanbieter und Arbeitskraftnachfrager verändert und sich somit auf die Höhe der Löhne auswirkt (Blanchard/Katz 1999). Um a priori ausschließen zu können, dass die länderspezifischen Unterschiede in der Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung vorrangig durch die Höhe der Arbeitslosigkeit verursacht werden, stellt Abbildung 6.1 für jeden konservativen Wohlfahrtsstaat beide strukturellen Arbeitsmarktphänomene gegenüber. 25,0

22,24 18,13

20,0 15,0 10,0

9,35 6,08

12,2 8,35 6,37

5,0

12,36 8,53

4,65

13,06

4,4

14,5

5,3

15,02

4,47

4,48

7,16

0,0

FR

BE

Daten: Eurostat, OECD. Jahr: 2010.

CH

IT

LU

JP

AT

NL

DE

Anteil der Niedriglohnbeschäftigten (in % aller abhängig Beschäftigten) Arbeitslosenquote (in % der zivilen Erwerbspersonen)

Abbildung 6.1: Niedriglohnbeschäftigung und Arbeitslosigkeit in konservativen Wohlfahrtsstaaten

Diese Gegenüberstellung zeigt, dass im Jahr 2010 kein Zusammenhang zwischen dem Anteil der Niedriglohnempfänger und dem Niveau der Arbeitslosigkeit zu beobachten ist. Der Vergleich der lohnstrukturellen Extrempole Frankreich, Belgien und Deutschland verdeutlicht, dass die Arbeitslosenquote in den zwei

284

6 Das Puzzle der konservativen Wohlfahrtsstaaten

Ländern mit der geringsten Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung zwar etwas höher ist als in dem Land mit der höchsten Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung, aber das Ausmaß dieses Unterschieds reicht nicht aus, um auf struktureller Ebene z.B. das Argument eines Trade-offs zwischen Arbeitslosigkeit und Niedriglohnbeschäftigung zu unterstützen (Krugman 1994). Auch andere empirische Studien können keinen Zusammenhang zwischen der Größe des Niedriglohnsektors und der Arbeitslosenquote feststellen (Appelbaum et al. 2010; Lucifora et al. 2005). Kapitel 6.1 untersucht mittels deskriptiver Parameter und der Methode des Vergleichs, inwiefern die Varianz der Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung innerhalb des konservativen Wohlfahrtsstaatsclusters durch die Ausgestaltung bzw. die Konfiguration von Arbeitsmarktinstitutionen erklärt werden kann. Bei diesem methodologischen Vorgehen werden Aussagen über die institutionellen Ursachen der Varianz von Niedriglohnbeschäftigung durch die Feststellung von Kongruenz zwischen theoretischen Erwartungen und empirischen Informationen getroffen (Blatter et al. 2007: 125). Um den systematischen Vergleich der länderspezifischen Ausgestaltung von Arbeitsmarktinstitutionen sowie der Charakteristika der Arbeitsmarktregime zu ermöglichen, dokumentiert Tabelle 6.1 die Merkmalsausprägungen der Arbeitsmarktinstitutionen in konservativen Wohlfahrtsstaaten und stellt diese der Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung gegenüber. Die zeilenweise Analyse von Tabelle 6.1 erlaubt den Vergleich der länderspezifischen Ausgestaltung von Arbeitsmarktinstitutionen. Die spaltenweise Analyse ermöglicht den Vergleich der neun konservativen Arbeitsmarktregime. Somit ist Tabelle 6.1 der Dreh- und Angelpunkt aller Analysen in Kapitel 6.1. Die zeilenund spaltenweise Vergleiche der institutionellen Designs werden zum einen dadurch erleichtert, dass die letzten drei Spalten von Tabelle 6.1 Median, Minimum und Maximum der jeweiligen Variable dokumentieren. Zum anderen werden die metrisch oder ordinal skalierten erklärenden Variablen in binäre Variablen umcodiert, um verhältnismäßig Niedriglohnbeschäftigung einschränkende Merkmalsausprägungen (mit 1 codiert) sowie verhältnismäßig Niedriglohnbeschäftigung fördernde Merkmalsausprägungen (mit 0 codiert) identifizieren zu können. Dieses Vorgehen unterstützt den systematischen Vergleich von Arbeitsmarktinstitutionen und Arbeitsmarktregimen, da es einerseits die Identifikation von Mustern erleichtert und andererseits Analyseverfahren ermöglicht, die bei gemischtskalierten Variablen nicht anwendbar sind.

51

2

-0,38

2,38

2

3

0,79

63

BE

-

0

0,47

1,13

1,6

3,44

0,64

63,84

CH

-

0

0,76

2

2,76

3,63

0,43

23,76

IT

41

2

-1,5

3,75

2,25

3,5

0,56

64

LU

37

1

0,49

0,88

1,37

2,69

0,28

60,54

JP

-

0

1,06

1,31

2,37

2,63

0,84

55,35

AT

47

2

1,88

0,94

2,82

3,03

1,23

68,29

NL

-

0

1,87

1

2,87

2,81

0,95

53,89

DE

47

1

0,49

1,31

2,37

3

0,79

60,54

Median

37

0

-1,5

0,88

1,37

2,63

0,28

23,76

Min

60

2

1,88

3,75

2,87

3,63

1,23

68,29

Max

Allgemeinverbindlich3 3 3 3 3 0 3 2 1 3 0 3 keitserklärung Die grau-weiß Kennzeichnung der Zellen mit den länderspezifischen Merkmalsausprägungen der Arbeitsmarktinstitutionen symbolisiert deren binäre Merkmalsausprägung nach der Dichotomisierung der metrisch und ordinal skalieren Ausgangsvariablen: Graue Zellen = vergleichsweise Niedriglohnbeschäftigung einschränkende Merkmalsausprägungen einer Arbeitsmarktinstitution. Weiße Zellen = vergleichsweise Niedriglohnbeschäftigung fördernde Merkmalsausprägung einer Arbeitsmarktinstitution. Jahr: 2010.

60

-1,24

Differenz der Regulierung der Beschäftigungsformen

Höhe des Mindestlohns

3,63

Strenge der Regulierung atypischer Beschäftigung

2

2,38

Strenge der Regulierung regulärer Beschäftigung

Existenz von Mindestlöhnen

2,84

1,14

Ausgaben für aktive Arbeitsmarktpolitik

Strenge der Leistungsanspruchskriterien

56,77

FR

Generosität der Arbeitslosenunterstützung

Arbeitsmarktinstitutionen

staatliche Arbeitsmarktinstitutionen

Konservative Wohlfahrtsstaaten

Tabelle 6.1: Arbeitsmarktinstitutionen und Niedriglohnbeschäftigung im konservativen Cluster

6.1 Arbeitsmarktinstitutionen und Arbeitsmarktregime im Ländervergleich 285

90 0 2 2

Tarifbindung

Beteiligung der Tarifpartner an polit. Entscheidungen

Zentralisierungsgrad der Tarifverhandlungen

Koordinierung der Lohnverhandlungen 5

4

2

96

82

50,6

BE

3

3

2

48

-

17,13

CH

3

3

1

80

58

33,43

IT

2

2

2

58

80

35,1

LU

4

1

0

16

-

18,4

JP

4

3

2

99

100

28,4

AT

4

3

2

82,3

85

18,82

NL

4

3

1

62

60

18,93

DE

4

3

2

80

80

18,93

Median

2

1

0

16

58

7,87

Min

5

4

2

99

100

50,6

Max

Verbreitung von 6,08 6,37 12,2 12,36 13,06 14,5 15,02 18,13 22,24 13,06 6,08 22,24 Niedriglohnbeschäftigung Die grau-weiß Kennzeichnung der Zellen mit den länderspezifischen Merkmalsausprägungen der Arbeitsmarktinstitutionen symbolisiert deren binäre Merkmalsausprägung nach der Dichotomisierung der metrisch und ordinal skalieren Ausgangsvariablen: Graue Zellen = vergleichsweise Niedriglohnbeschäftigung einschränkende Merkmalsausprägungen einer Arbeitsmarktinstitution. Weiße Zellen = vergleichsweise Niedriglohnbeschäftigung fördernde Merkmalsausprägung einer Arbeitsmarktinstitution. Jahr: 2010.

75

7,87

FR

Arbeitgeberorganisationsgrad

Gewerkschaftsdichte

Arbeitsmarktinstitutionen

Institutionen der industriellen Beziehungen

Konservative Wohlfahrtsstaaten

Tabelle 6.1: Arbeitsmarktinstitutionen und Niedriglohnbeschäftigung im konservativen Cluster (Fortsetzung)

286 6 Das Puzzle der konservativen Wohlfahrtsstaaten

6.1 Arbeitsmarktinstitutionen und Arbeitsmarktregime im Ländervergleich

287

In Tabelle 6.1 werden die mit einer Eins codierten Merkmalsausprägungen grau 130 schattiert. Die mit einer Null codierten Merkmalsausprägungen haben dahin131 gegen einen weißen Hintergrund. Durch die grau-weiß Kennzeichnung der Zellen enthält Tabelle 6.1 zwei Ebenen von Informationen: Die erste Ebene besteht aus den exakten (metrisch oder ordinal skalierten) Merkmalsausprägungen der Arbeitsmarktinstitutionen. Die zweite Ebene besteht aus der grauweiß gekennzeichneten binären Codierung der ursprünglichen Merkmalsauprägungen in die zwei Kategorien „Niedriglohnbeschäftigung einschränkend“ (graue Zellen) und „Niedriglohnbeschäftigung fördernd“ (weiße Zellen). Das Vorgehen bei der Dummy-Codierung unterscheidet sich zwischen Variablen mit metrischem und ordinalem Skalenniveau: Alle metrisch skalierten Variablen werden mit Hilfe der Mediandichotomisierung in binäre Variablen umcodiert 132 (Bortz/Schuster 2010: 456). Bei allen ordinal skalierten Variablen entspricht die Dichotomisierung der Merkmalsausprägungen den Dummy-Codierungen dieser Variablen in Kapitel 4.1. Dementsprechend werden alle Merkmalsausprägungen, die in Kapitel 4.1 mit 1 codiert werden, in Tabelle 6.1 grau gekennzeichnet, während alle Merkmalsausprägungen die mit 0 codiert werden, in Tabelle 6.1 weiß bleiben. Sowohl die Analysen in Kapitel 6.1.1 als auch in Kapitel 6.1.2 beziehen sich auf Tabelle 6.1. Allerdings widmet sich Kapitel 6.1.1 der zeilenweise Analyse und Kapitel 6.1.2 der spaltenweise Analyse von Tabelle 6.1. Beide Kapitel haben das 130 131 132

Niedriglohnbeschäftigung einschränkende Merkmalsausprägungen = 1 = graue Zellen. Niedriglohnbeschäftigung fördernde Merkmalsausprägungen = 0 = weiße Zellen. Merkmalsausprägungen, die sich im Vergleich zum clusterspezifischen Median einer Variable aus theoretischer Perspektive stärker negativ auf die Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung auswirken, werden mit 1 codiert bzw. in Tabelle 6.1 grau gekennzeichnet. Merkmalsausprägungen, die sich im Vergleich zum clusterspezifischen Median aus theoretischer Perspektive stärker positiv auf die Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung auswirken oder mit dem Wert des Medians übereinstimmen, werden mit 0 codiert bzw. in Tabelle 6.1 weiß gekennzeichnet. Die Bewertung, welche Merkmalsausprägungen einer Variable sich eher positiv oder eher negativ auf die Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung auswirken, basiert auf den in Kapitel 3.2.1 diskutierten Ursache-Wirkungsmechanismen. Somit basiert die Dichotomisierung metrisch skalierter Variablen auf einer Mischung aus empirischen Informationen und theoretisch fundierten Erwartungen über die Wirkungsweise der Arbeitsmarktinstitutionen. Mit Ausnahme der Strenge der Leistungsanspruchskriterien sowie der Differenz der Regulierung regulärer und atypischer Beschäftigung werden Merkmalsausprägungen oberhalb des Medians als stärker Niedriglohnbeschäftigung eingrenzend kategorisiert. Im Falle der zwei Ausnahmen gilt das Gegenteil, d.h. Merkmalsausprägungen die unterhalb des Medians liegen, werden eine stärker negative Wirkung auf die Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung zugeschrieben.

288

6 Das Puzzle der konservativen Wohlfahrtsstaaten

Ziel institutionelle Muster zu identifizieren, die eine theoretisch plausible Kovarianz mit dem Anteil der Niedriglohnbeschäftigten zeigen. 6.1.1 Arbeitsmarktinstitutionen im Ländervergleich Durch die zeilenweise Analyse von Tabelle 6.1 können jene Arbeitsmarktinstitutionen identifiziert werden, deren länderspezifisches institutionelles Design eine theoretisch plausible Kovarianz mit der Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung aufweist. Zu diesen Institutionen gehören die Höhe des Mindestlohns, die Allgemeinverbindlichkeitserklärung von Tarifverträgen und insbesondere die Strenge der Regulierung atypischer Beschäftigung sowie die Differenz der Regulierungsstrenge regulärer und atypischer Beschäftigung. Darüber hinaus zeigt sich ein Zusammenhang zwischen der Generosität der Arbeitslosenunterstützung und der Strenge der Leistungsanspruchskriterien, der sich auf die Wirkung dieser zwei staatlichen Arbeitsmarktinstitutionen auf die Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung auswirken sollte. 6.1.1.1 Leistungsanspruchskriterien und Arbeitslosenunterstützung Die Strenge der Leistungsanspruchskriterien und die Generosität der Arbeitslosenunterstützung stehe in einem engen konzeptionellen Zusammenhang, da die Leistungsanspruchskriterien die Hürden für den Anspruch auf Arbeitslosenunterstützung regeln und neben der Höhe der Lohnersatzleistungen eine wesentliche Determinante für die Generosität der Arbeitslosenunterstützung darstellen. Aus Tabelle 6.1 wird einerseits deutlich, dass alle konservativen Wohlfahrtsstaaten, in denen die Nettolohnersatzleistungen bei Arbeitslosigkeit relativ generös sind, gleichzeitig relativ strenge Leistungsanspruchskriterien aufweisen (Belgien, Schweiz, Luxemburg, Niederlande). Andererseits haben fast alle konservativen Wohlfahrtsstaaten, die nur relativ niedrige Nettolohnersatzleistungsquoten bei Arbeitslosigkeit garantieren, gleichzeitig keine sehr strengen Hürden für den Zugang zu diesen Leistungen (Frankreich, Japan, Österreich, 133 Deutschland). Somit gewähren konservative Wohlfahrtsstaaten in der Regel 133

Italien stellt die einzige Ausnahme von diesem Muster dar, denn das Land gewährt traditionell lediglich eine sehr geringe Arbeitslosenunterstützung und hat gleichzeitig hohe Leistungsanspruchskriterien. Im Bereich der Arbeitsmarktpolitik ersetzt die Familiensolidarität in Italien an vielen Stellen wohlfahrtsstaatliche Leistungen. Darüber hinaus existieren erhebliche Unterschiede in der Generosität der Absicherung zwischen unterschiedlichen Arbeitnehmergruppen, Branchen und Beschäftigungsformen. Obschon einige Arbeitnehmer- und Berufsgruppen relativ

6.1 Arbeitsmarktinstitutionen und Arbeitsmarktregime im Ländervergleich

289

entweder eine relativ hohe Arbeitslosenunterstützung, aber begrenzen den Anspruch auf diese Leistungen relativ stark oder sie gewähren eine relativ geringe Arbeitslosenunterstützung, aber begrenzen den Anspruch auf diese Leistungen relativ gering. Von diesen zwei Konstellationen entspricht die erste Variante eher den konservativen Leitideen der Status-Hierarchie und Äquivalenz als die zweite Variante. Der Zusammenhang dieser zwei Institutionen hat Konsequenzen für die Wirkung der Generosität der Arbeitslosenunterstützung auf die Verbreitung von Niedriglohbeschäftigung: Alle konservativen Wohlfahrtsstaaten, bei denen die Höhe der Arbeitslosenunterstützung verhältnismäßig geringe Anreiz zur Aufnahme einer Niedriglohnbeschäftigung setzt, mindern eine effektive Breitenwirkung dieses institutionellen Designs durch strenge Leistungsanspruchskriterien. Folglich begrenzen die Niederlande, Belgien, die Schweiz und Luxemburg die Niedriglohnbeschäftigung einschränkende Wirkung ihrer relativ generösen Arbeitslosenunterstützung durch verhältnismäßig strenge Leistungsanspruchskriterien. 6.1.1.2 Mindestlohn Die Existenz eines Mindestlohns alleine zeigt keinen eindeutigen Zusammenhang mit der abhängigen Variable innerhalb des konservativen Clusters. Zwar haben die zwei Länder mit dem niedrigsten Anteil von Niedriglohnbeschäftigten einen landesweit geltenden gesetzlichen Mindestlohn, aber dies gilt auch für die Niederlande und Luxemburg, die beide einen deutlich größeren Niedriglohnsektor haben. Dahingegen weist die relative Höhe des Mindestlohns zum Medianlohn einen deutlicheren Zusammenhang mit der abhängigen Variable auf. Von den konservativen Wohlfahrtsstaaten mit einem nationalen gesetzlichen Mindestlohn, haben die Länder mit einem relativ hohen Mindestlohn (Frankreich und Belgien) auch einen geringeren Anteil an Niedriglohnbeschäftigten. 6.1.1.3 Allgemeinverbindlichkeitserklärung von Tarifverträgen Bezüglich der Allgemeinverbindlichkeitserklärung von Tarifverträgen offenbart Tabelle 6.1, dass innerhalb des konservativen Clusters die Länder mit dem kleinsten Niedriglohnsektor Tarifverträge automatisch für allgemeinverbindlich erklären. Mit Ausnahme Japans, dessen Klassifizierung als konservativer Wohlgut gegen das Risiko der Arbeitslosigkeit abgesichert sind, ist die durchschnittliche Generosität der Arbeitslosenunterstützung sehr gering (Jessoula/Vesan 2011: 142-163).

290

6 Das Puzzle der konservativen Wohlfahrtsstaaten

fahrtsstaat ohnehin umstritten ist (vgl. Kap. 2.2.3.2), gilt dies auch für die Länder mit einem mittleren Niveau an Niedriglohnbeschäftigten. Die zwei Länder mit der höchsten Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung nutzen das Instrument der Allgemeinverbindlichkeitserklärung dahingegen weniger intensiv. Im Falle Deutschlands werden Tarifverträge nur selten und in bestimmten Branchen allgemeinverbindlich erklärt und in den Niederlanden wird das Instrument zwar in vielen Branchen angewendet, aber es liegt im Ermessen der Regierung, ob die Kriterien für die Allgemeinverbindlichkeitserklärung eines Tarifvertrages erfüllt sind. 6.1.1.4 Institutionelle und strukturelle Dualisierung des Arbeitsmarktes Während die Regulierungsstrenge regulärer Beschäftigungsverhältnisse innerhalb des konservativen Clusters keine theoretisch plausible Kovarianz mit der Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung zeigt, ist der Anteil der Niedriglohnbeschäftigten tendenziell höher in jenen Ländern, die atypische Beschäftigungsverhältnisse weniger streng regulieren. Die Regulierungsstrenge regulärer Beschäftigung spielt allerdings insofern eine Rolle für die Erklärung der Varianz der abhängigen Variable, als dass die Regulierungsdifferenz der Beschäftigungsformen einen deutlichen Zusammenhang mit der Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung zeigt: Länder, die das Normalarbeitsverhältnis deutlich strenger regulieren als atypische Beschäftigungsverhältnisse, haben tendenziell einen größeren Niedriglohnsektor (Deutschland, Niederlande) als Länder, bei denen diese Differenz nicht so hoch ist (Österreich, Schweiz, Italien, Japan) oder die sogar atypische Beschäftigungsformen strenger regulieren als reguläre Beschäftigung (Frankeich, Belgien, Luxemburg). In Abbildung 6.2 wird dieser Zusammenhang mit Hilfe eines Streudiagramms dargestellt. Die gestrichelte graue Linie im Nullpunkt der Abszisse markiert den Punkt, an dem keine Differenz zwischen der Strenge der Regulierung regulärer und atypischer Beschäftigungsverhältnisse besteht. Alle Beobachtungen rechts dieser Linie regulieren reguläre Beschäftigung strenger als atypische Beschäftigung. Alle Beobachtungen links dieser Linie regulieren reguläre Beschäftigung weniger streng als atypische Beschäftigung. Mit einem Korrelationskoeffizienten von r = 0,78* (p < 0,05) zeigt sich ein starker Zusammenhang zwischen der Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung

6.1 Arbeitsmarktinstitutionen und Arbeitsmarktregime im Ländervergleich

291

und dem Grad des institutionellen Dualismus der Beschäftigungsregulierung innerhalb des konservativen Wohlfahrtsstaatsclusters.

Abbildung 6.2: Differenz der Beschäftigungsregulierung in konservativen Wohlfahrtsstaaten

Dieser Befund reflektiert die Tatsache, dass konservative Arbeitsmarktregime auch als dualistisches Arbeitsmarktregime bezeichnet werden. Zu den in Kapitel 5.2 beschriebenen Charakteristika des konservativen Arbeitsmarktregimes zählen die Orientierung am normativen Leitbild des Normalarbeitsverhältnisses sowie die daraus resultierende Hierarchisierung des Arbeits- und Sozialrechts zugunsten einer gut ausgebildeten Kernarbeitnehmerschaft in Normalarbeitsverhältnissen (Insider) und zulasten der Arbeitsbedingungen und der sozialen Sicherheit atypisch beschäftigter Arbeitnehmer (Outsider). Vor diesem Hintergrund ist die Richtung des institutionellen Dualismus der Beschäftigungsregulierung in Frankreich, Luxemburg und Belgien eher untypisch für den konservativen Wohlfahrtsstaatstypus, als die Richtung des institutionellen Dualismus in Deutschland, den Niederlanden, Österreich, der Schweiz, Italien und Japan.

292

6 Das Puzzle der konservativen Wohlfahrtsstaaten

In der Arbeitsmarktforschung beschreiben die Begriffe Dualisierung bzw. Dualismus den Prozess bzw. das Ausmaß der Segmentierung des Arbeitsmarktes. Allerdings bezieht sich diese Segmentierung mitunter auf eine strukturelle Spaltung des Arbeitsmarktes und bisweilen auf eine institutionelle Spaltung des Arbeitsmarktes. Die strukturelle Dualisierung beschreibt eine zunehmende Segmentierung des Arbeitsmarktes in Insider und Outsider. Insider sind Erwerbstätige in Normalarbeitsverhältnissen, d.h. unbefristete Vollzeitbeschäftigte, deren Jobs in der Regel durch ein hohes Niveau an Beschäftigungssicherheit und sozialer Absicherung gekennzeichnet sind. Outsider sind dahingegen Erwerbstätige in atypischen Beschäftigungsverhältnissen oder Arbeitslose. Atypische Beschäftigungsverhältnisse werden in Abgrenzung zum Normalarbeitsverhältnis definiert. Sie sind durch ein geringeres Niveau an Beschäftigungssicherheit, weniger Arbeitnehmerrechte sowie ein niedriges Niveau an sozialer Sicherheit charakterisiert und gehen häufig mit niedrigen Löhnen einher (Linbeck/Snower 1986, 2001; Rueda 2005, 2014). Atypische Beschäftigung kann unterschiedliche Formen annehmen. Dazu gehören befristete Beschäftigungsverhältnisse (inklusive Leiharbeit), Teilzeitbeschäftigung und SoloSelbstständigkeit (Selbstständige ohne Angestellte). Da Teilzeitbeschäftigte oftmals freiwillig eine geringere Stundenzahl arbeiten, z.B. um familiären Verpflichtungen oder ehrenamtlichen Tätigkeiten nachzugehen oder den Übergang in die Altersrente zu gestalten, wird vor allem unfreiwillige Teilzeitbeschäftigung als eine Form atypischer Beschäftigung klassifiziert (Hipp et al. 2015). Im Gegensatz zu der strukturellen Dualisierung beschreibt das Konzept der institutionellen Dualisierung den Prozess einer zunehmenden Differenzierung von Arbeitnehmerrechten, Kündigungsschutz und Sozialleistungen. Charakteristisch für die institutionelle Dualisierung ist eine selektive Deregulierung, bei der zumeist atypische Beschäftigungsverhältnisse dereguliert werden, während reguläre Beschäftigungsverhältnisse nicht oder in deutlich geringerem Umfang dereguliert werden. Das Ziel der selektiven Deregulierung atypischer Beschäftigungsverhältnisse besteht darin, den Arbeitgebern eine bedarfsorientierte und günstige Anpassung ihres Personalbestandes zu ermöglichen, ohne den Beschäftigungsschutz, die Arbeitnehmerrechte oder das wohlfahrtsstaatliche Leistungsniveau für regulär Beschäftigte, d.h. die Kernarbeitnehmerschaft, zu reduzieren (Eichhorst/Marx 2011; Emmenegger et al. 2012; Palier/Thelen 2010). Somit hat das Phänomen der Dualisierung sowohl eine institutionelle als auch eine strukturelle Dimension. Beide Dimensionen sind allerdings eng miteinan-

6.1 Arbeitsmarktinstitutionen und Arbeitsmarktregime im Ländervergleich

293

der verknüpft, da die institutionelle Dualisierung als ein Erklärungsfaktor der strukturellen Dualisierung gilt (Emmenegger et al. 2012). So kann eine zunehmende Segmentierung des Arbeitsmarktes in Insider und Outsider einerseits dadurch entstehen, dass der Gesetzgeber und Gewerkschaften gezielte Maßnahmen zum Schutz der Kernarbeitnehmerschaft vor sozialer Unsicherheit ergreifen. Solche Maßnahmen werden damit erklärt, dass die Kernarbeitnehmerschaft häufig einen erheblichen Anteil der aktiven Wählerschaft darstellt und darüber hinaus überdurchschnittlich stark in Gewerkschaften organisiert ist. Andererseits kann strukturelle Dualisierung auch dadurch entstehen, dass Policies im Bereich der Arbeitsmarktpolitik, Arbeitsmarktregulierung, Familienpolitik oder Steuerpolitik sowie Änderungen der Institutionen der industriellen Beziehungen entgegengesetzte Wirkungen auf unterschiedliche demografische Gruppen entfalten und somit (unter Umständen sogar nicht intendiert) zu einer stärkeren Segmentierung des Arbeitsmarktes in Insider und Outsider beitragen (Allen/Scruggs 2004; Emmenegger et al. 2012; Rueda 2005; Palier/Thelen 2010). Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, ob die strukturelle Dimension der Dualisierung des Arbeitsmarktes einen ebenso deutlichen Zusammenhang mit der Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung innerhalb des konservativen Clusters zeigt, wie die institutionelle Dimension der Dualisierung (vgl. Abb. 6.2). Zur Untersuchung dieser Frage wird der Zusammenhang zwischen der Verbreitung unterschiedlicher Formen atypischer Beschäftigung und der Größe des Niedriglohnsektors untersucht. Die in Tabelle 6.2 aufgeführten Beschäftigungsformen decken die drei wesentlichen Varianten atypischer Beschäftigung ab: befristete Beschäftigung, Teilzeitbeschäftigung sowie Solo-Selbstständigkeit. Darüber hinaus werden die Verbreitung von Leiharbeit, als spezifische Form befristeter Beschäftigung, und unfreiwillige Teilzeitbeschäftigung abgebildet. Die Verbreitung unfreiwilliger Teilzeitbeschäftigung wird dokumentiert, da kein Konsens hinsichtlich der Frage besteht, ob (unbefristete) Teilzeitbeschäftigung tatsächlich eine Form atypischer Beschäftigung darstellt. Im Falle der unfreiwilligen Teilzeitbeschäftigung besteht dahingegen Einigkeit über deren atypischen Charakter.

AT BE CH DE FR IT JP LU NL Min Max Med V Daten: OECD. Jahr: 2010. * Wert bezieht sich auf das Jahr 2005.

Befristete Beschäftigung (in % aller abhängig Beschäftigten) 9,40 8,10 13,10 14,50 15,10 12,70 13,80 7,10 18,50 7,10 18,50 13,10 0,29 1,60 1,90 1,60 2,00 2,00 0,90 1,50 1,90 2,50 0,90 2,50 1,90 0,25

Leiharbeit (in % aller abhängig Beschäftigten)

Teilzeitbeschäftigung (in % aller abhängig Beschäftigten) 18,80 19,20 25,70 22,40 14,30 17,50 20,20 15,40 38,50 14,30 38,50 19,20 0,34

Tabelle 6.2: Atypische Beschäftigung in konservativen Wohlfahrtsstaaten Unfreiwillige Teilzeitbeschäftigung (in % aller (in % aller Teilzeitabhängig beschäftigten) Beschäftigten) 11,56 2,17 11,35 2,18 7,25 1,86 21,14 4,74 30,30 4,33 50,08 8,76 34,10 6,89 6,84 1,05 5,34 2,05 5,34 1,05 50,08 8,76 11,56 2,18 0,78 0,69

13,80 14,40 15,70 11,60 11,5 25,30 12,20 8,00* 15,00 8,00 25,30 13,80 0,34

SoloSelbstständigkeit (in % aller Beschäftigten)

294 6 Das Puzzle der konservativen Wohlfahrtsstaaten

6.1 Arbeitsmarktinstitutionen und Arbeitsmarktregime im Ländervergleich

295

Tabelle 6.2 zeigt, dass atypische Beschäftigungsformen unterschiedlich stark verbreitet sind. In den meisten konservativen Wohlfahrtsstaaten ist Teilzeitbeschäftigung die am häufigsten vorkommende Variante atypischer Beschäftigung. Allen Ländern ist dabei gemeinsam, dass deutlich mehr Frauen als Männer teilzeitbeschäftigt sind und die Höhe des Frauenanteils unter den Teilzeit134 beschäftigten relativ geringe Unterschiede aufweist. In Frankreich liegt allerdings die Verbreitung befristeter Beschäftigungsverhältnisse leicht über dem Anteil der Teilzeitbeschäftigten und in Italien ist Solo-Selbstständigkeit die mit Abstand meistverbreitete Form atypischer Beschäftigung. Die Niederlande haben zwar insgesamt den höchsten Anteil an Teilzeitbeschäftigten, aber gleichzeitig hat das Land den geringsten Anteil an unfreiwilliger Teilzeitbeschäftigung. Dies deutet darauf hin, dass Teilzeitbeschäftigung für die Mehrheit der niederländischen Teilzeitbeschäftigten kein unmittelbar problematisches Beschäftigungsverhältnis darstellt, weil sie nicht unfreiwillig in dieser Form von atypischer Beschäftigung tätig sind. Im Gegensatz zu den Niederlanden hat Italien zwar weniger als halb so viele Teilzeitbeschäftigte, aber von diesen Teilzeitbeschäftigten sind 50% unfreiwillig teilzeitbeschäftigt, d.h. diese Erwerbspersonen würden es bevorzugen vollzeitbeschäftigt zu sein. Somit ist Teilzeitbeschäftigung in Italien deutlich häufiger eine problematische Form atypischer Beschäftigung als in den Niederlanden, denn in Italien sind 8,76% aller abhängig Beschäftigten in unfreiwilliger Teilzeitbeschäftigung während in den Niederlanden lediglich 2,05% aller abhängig Beschäftigten unfreiwillig teilzeitbeschäftigt sind. Die Variationskoeffizienten zeigen, dass die Verbreitung unfreiwilliger Teilzeitbeschäftigung im Vergleich zu den anderen Formen atypischer Beschäftigung die größte Streuung aufweist. Dahingegen weisen die Verbreitung von befristeter Beschäftigung und deren Subform Leiharbeit die geringste Streuung innerhalb des konservativen Wohlfahrtsstaatsclusters auf. Insgesamt verdeutlicht Tabelle 6.2 zum einen, dass die mittlere Verbreitung der unterschiedlichen atypischen Beschäftigungsformen im konservativen Cluster variiert. Zum anderen zeigt sie aber auch, dass die Länder erhebliche Unterschiede bei der Verbreitung der jeweiligen Formen atypischer Beschäftigung aufweisen. Wenn pro Land der Anteil befristet Beschäftigter, unfreiwillig Teilzeitbeschäftigter (in % aller abhängig Beschäftigten) sowie der Anteil SoloSelbstständiger addiert werden, zeigt Italien mit knapp 47% die höchste Ver134

Den geringsten Frauenanteil unter den Teilzeitbeschäftigten im Jahr 2010 haben die Niederlande mit 76,6% und den höchsten Frauenanteil unter den Teilzeitbeschäftigten hat Österreich mit 84% (OECD).

296

6 Das Puzzle der konservativen Wohlfahrtsstaaten

breitung dieser atypischen Beschäftigungsverhältnisse. Somit zeichnet sich Italien innerhalb des konservativen Wohlfahrtsstaatsclusters durch die stärkste strukturelle Dualisierung des Arbeitsmarktes in Insider und Outsider aus. Luxemburg hat mit 16% dahingegen die geringste Verbreitung dieser atypischen Beschäftigungsverhältnisse. In den übrigen konservativen Wohlfahrtsstaaten 135 liegt der Anteil zwischen knapp 25% und 35%. Nachdem die Charakteristika und das Ausmaß der strukturellen Dualisierung der Arbeitsmärkte in konservativen Wohlfahrtsstaaten dargestellt wurden, gilt es nun die Frage nach dem Zusammenhang zwischen der strukturellen Dimension der Dualisierung und der Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung zu untersuchen. Zu diesem Zweck werden Korrelationen nach Bravais-Pearson zwischen der Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung und den unterschiedlichen Varianten atypischer Beschäftigung berechnet. Allerdings zeigt innerhalb des konservativen Clusters keine der atypischen Beschäftigungsformen einen signifikanten Zusammenhang mit der Verbreitung von Niedriglohnbeschäfti136 gung. Im Gegensatz zu dem Phänomen des institutionellen Dualismus der Beschäftigungsregulierung existiert innerhalb des konservativen Clusters somit kein Zusammengang zwischen dem Ausmaß der strukturellen Dualisierung des Arbeitsmarktes und der Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung. Vor dem Hintergrund der im dritten Kapitel diskutierten Ursachen von Niedriglohnbeschäftigung ist dieser Befund nicht verwunderlich, denn die Lohnhöhe von Arbeitskräften wird nicht dadurch bestimmt, ob sie einer unbefristeten Vollzeit- bzw. Teilzeitbeschäftigung oder einer befristeten Vollzeit- bzw. Teilzeitbeschäftigung nachgehen. Stattdessen sind individuelle Merkmale der Arbeitskräfte, institutionelle und bestimmte strukturelle Charakteristika des Arbeitsmarktes Ursachen der Lohnhöhe. Die Gemeinsamkeit dieser Ursachen 135

136

Summe aus dem Anteil befristeter Beschäftigung, unfreiwilliger Teilzeitbeschäftigung (in % aller abhängig Beschäftigter) und Solo-Selbstständigkeit: LU 16,15%, BE 24,68%, AT 25,37%, CH 30,66%, DE 30,84%, FR 30,93%, JP 32,89%, NL 35,55%, IT 46,76%. Korrelationskoeffizienten nach Bravais-Pearson zwischen dem Anteil der Niedriglohnbeschäftigten (in % aller abhängig Beschäftigten) und der Verbreitung unterschiedlicher Formen abhängiger atypischer Beschäftigung in konservativen Wohlfahrtsstaaten (mit Daten für 2010): Befristete Beschäftigung & Niedriglohnbeschäftigung: r = 0,36 (p > 0,1). Leiharbeit & Niedriglohnbeschäftigung: r = 0,18 (p > 0,1). Teilzeitbeschäftigung & Niedriglohnbeschäftigung: r = 0,51 (p > 0,1). Unfreiwillige Teilzeitbeschäftigung (in % aller abhängig Beschäftigten) & Niedriglohnbeschäftigung: r = 0,06 (p > 0,1).

6.1 Arbeitsmarktinstitutionen und Arbeitsmarktregime im Ländervergleich

297

besteht darin, dass sie entweder effektiv den Reservationslohn der Arbeitskräfte beeinflussen, ihre Verhandlungsmacht gegenüber den Arbeitgebern verändern oder direkt Löhne festsetzen. Diese Wirkungen gehen weder von regulärer noch von atypischer Beschäftigung per se aus, sondern können erst durch die Verbindung dieser Beschäftigungsformen mit tatsächlichen Erklärungsfaktoren der Lohnhöhe, wie zum Beispiel institutionellen Charakteristika, entstehen. Somit ist es auch aus theoretischer Perspektive plausibel, dass zwar die institutionelle, aber nicht die strukturelle Dimension der Dualisierung des Arbeitsmarktes einen Zusammenhang mit der Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung aufweist. Allerdings sollte die Erklärungskraft des institutionellen Dualismus für die Varianz der Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung steigen, wenn gleichzeitig das Ausmaß des strukturellen Dualismus berücksichtigt wird. Diese Erwartung basiert auf der Überlegung, dass ein Outsider benachteiligender institutioneller Dualismus eine umso größere Wirkung auf lohnstrukturelle Arbeitsmarktergebnisse entfalten sollte, je höher der Anteil an Outsidern auf dem Arbeitsmarkt ist. Gäbe es keine Outsider (im Sinne von atypisch beschäftigten Arbeitnehmern), hätte ein die Outsider benachteiligender institutioneller Dualismus keine Auswirkungen auf lohnstrukturelle Arbeitsmarktergebnisse. Mit zunehmender Segmentierung des Arbeitsmarktes (d.h. mit zunehmender Verbreitung atypischer Beschäftigungsverhältnisse), steigt jedoch auch die Auswirkung, die ein die Outsider benachteiligender institutioneller Dualismus auf lohnstrukturelle Arbeitsmarktergebnisse entfalten kann. Diese Erwartung wird nachfolgend anhand des institutionellen Dualismus der Regulierungsstrenge regulärer und atypischer Beschäftigungsverhältnisse überprüft. Zu diesem Zweck wird in Tabelle 6.3 ein Dualisierungs-Indikator konstruiert. Durch die Multiplikation der Differenz der Regulierungsstrenge regulärer und atypischer Beschäftigung mit dem Anteil befristeter Beschäftigungsverhältnisse (in % aller abhängig Beschäftigten) vereinigt der Dualisierungs-Indikator 137 beide Dimensionen der Dualisierung des Arbeitsmarktes. Der DualisierungsIndikator qualifiziert somit die Wirkung des institutionellen Dualismus durch das Ausmaß des strukturellen Dualismus, d.h. den Anteil jener atypisch beschäftig137

Die anderen Formen atypischer Beschäftigung (d.h. Teilzeitbeschäftigung und Solo-Selbstständigkeit) eignen sich nicht zur Indikatorbildung im Kontext der Strenge der Regulierung regulärer und atypischer Beschäftigungsverhältnisse, da sie nicht das Regulierungsobjekt dieser staatlichen Arbeitsmarktinstitution darstellen.

298

6 Das Puzzle der konservativen Wohlfahrtsstaaten

ten Arbeitnehmer, deren Verhandlungsposition auf dem Arbeitsmarkt durch die Stärke und die Richtung des institutionellen Dualismus beeinflusst wird. Tabelle 6.3: Dualisierungs-Indikator zu befristeten Beschäftigungsverhältnissen Differenz der Regulierungsstrenge regulärer und atypischer Beschäftigung Land (institutioneller Dualismus) LU -1,5 FR -1,24 BE -0,38 CH 0,47 JP 0,49 IT 0,76 AT 1,06 DE 1,87 NL 1,88 Daten: OECD; Jahr: 2010.

Befristete Beschäftigung in % aller abhängig Beschäftigten (struktureller Dualismus) 7,1 15,1 8,1 13,1 13,8 12,7 9,4 14,5 18,5

Dualisierungs-Indikator Regulierungsdifferenz × befristete Beschäftigung (institutioneller × struktureller Dualismus) -10,65 -18,72 -3,08 6,16 6,76 9,65 9,96 27,12 34,78

Der Wert des Dualisierungs-Indikators wird durch das Vorzeichen und die Höhe der Regulierungsdifferenz sowie die Verbreitung befristeter Beschäftigung bestimmt: Der Indikator ist negativ, wenn die Regulierungsdifferenz negativ ist, d.h. wenn reguläre Beschäftigung weniger streng reguliert ist als atypische Beschäftigung. Dahingegen ist der Indikator positiv, wenn die Regulierungsdifferenz positiv ist, d.h. wenn reguläre Beschäftigung strenger reguliert ist als atypische Beschäftigung. Der Indikator würde einen Wert von Null annahmen, wenn es keine Regulierungsdifferenz gäbe und/ oder wenn es keine befristeten Beschäftigungsverhältnisse gäbe. Da der Dualisierungs-Indikator beide Dimensionen der Dualisierung des Arbeitsmarktes umfasst, sollte er auch eine höhere Erklärungskraft für die Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung haben als der Indikator, der lediglich den institutionellen Dualismus misst. Diese Erwartung wird nun anhand des Vergleichs von Korrelationskoeffizienten und Streudiagrammen überprüft. Innerhalb des konservativen Wohlfahrtsstaatsclusters hat der Bravais-Pearson Korrelationskoeffizient zwischen dem Anteil der Niedriglohnbeschäftigten und dem Dualisierungs-Indikator einen Wert von r = 0,84** (p < 0,01). Somit ist der korrelative Zusammenhang zwischen dem Dualisierungs-Indikator und der abhängigen Variable stärker und hat ein höheres Signifikanzniveau als der korrelative Zusammenhang zwischen der Regulierungsdifferenz regulärer und atypi-

6.1 Arbeitsmarktinstitutionen und Arbeitsmarktregime im Ländervergleich

299

scher Beschäftigung und der abhängigen Variable (r = 0,78* (p < 0,05)). Auch der Vergleich der Streudiagramme in Abbildung 6.2 und Abbildung 6.3 zeigt, dass die Varianzaufklärung durch den Dualisierungs-Indikator mit einem Bestimmtheitsmaß von 70% fast 10 Prozentpunkte höher ist als die Varianzaufklärung durch den Indikator zum institutionellen Dualismus.

Abbildung 6.3: Dualismus und Niedriglohnbeschäftigung in konservativen Wohlfahrtsstaaten

Das Streudiagramm in Abbildung 6.3 veranschaulicht, dass die zwei konservativen Wohlfahrtsstaaten mit dem größten Niedriglohnsektor (Deutschland und die Niederlande) auch hohe positive Werte bei dem Dualisierungs-Indikator aufweisen, da beide Länder reguläre Beschäftigung deutlich strenger regulieren als atypische Beschäftigung und eine hohe bzw. relativ hohe Verbreitung von befristeter Beschäftigung haben (vgl. Tab. 6.2). Die Ursache dieses Zusammenhangs kann mit folgendem theoretischen Mechanismus erklärt werden: Sowohl die Richtung als auch die Stärke des institutionellen Dualismus in Deutschland und den Niederlanden setzt Arbeitgebern positive Anreize Arbeitnehmer in befristeten Beschäftigungsverhältnissen einzustellen, um ihre Flexibilität bei einer bedarfsorientierten Anpassung der Belegschaft zu erhöhen. Das durch diese institutionelle Konfiguration geförderte arbeitgeberseitige Verhalten, trägt langfristig zu einer zunehmenden strukturellen Segmentierung des Ar-

300

6 Das Puzzle der konservativen Wohlfahrtsstaaten

beitsmarktes in Insider und Outsider bei (Boeri 2011: 1198f.). Des Weiteren bewirken die Richtung und die Stärke des institutionellen Dualismus, dass befristet beschäftigte Arbeitnehmer im Vergleich zu unbefristet beschäftigten Arbeitnehmern eine deutlich schlechtere individuelle Verhandlungsposition gegenüber den Arbeitgebern haben. Dies wirkt sich ceteris paribus negativ auf die Reservationslöhne befristet beschäftigter Arbeitnehmer aus und erhöht somit ihre Wahrscheinlichkeit Löhne unterhalb der Niedriglohnschwelle zu akzeptieren. Folglich steigt mit zunehmender struktureller Segmentierung des 138 Arbeitsmarktes auch die Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung. Abbildung 6.3 veranschaulicht ebenfalls, dass die zwei konservativen Wohlfahrtsstaaten mit der geringsten Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung (Frankreich und Belgien) einen negativen Dualisierungs-Indikator aufweisen, da beide Länder reguläre Beschäftigung weniger streng regulieren als atypische Beschäftigung. Allerdings ist die Regulierungsdifferenz in Belgien deutlich geringer als in Frankreich, während in Frankreich wiederum die Verbreitung von befristeten Beschäftigungsverhältnissen deutlich höher ist als in Belgien (vgl. Tab. 6.2). Diese Beobachtung weist darauf hin, dass die Verbreitung von befristeter Beschäftigung auch von anderen Faktoren abhängt als von Unterschieden in der Strenge der Regulierung regulärer und atypischer Beschäftigung. Dennoch kann aus theoretischer Perspektive die Ursache des Zusammenhangs zwischen dem negativen Dualisierungs-Indikator und dem geringen Anteil an Niedriglohnbeschäftigten analog zu der entgegengesetzten Konstellation erklärt werden: Die Richtung des institutionellen Dualismus in Belgien und Frankreich setzt den Arbeitgebern keinen bzw. einen negativen Anreiz befristete Beschäftigungsverhältnisse zu schaffen und fördert somit nicht die strukturelle Segmentierung des Arbeitsmarktes. Darüber hinaus schwächt diese Variante des institutionellen Dualismus nicht die Verhandlungsposition befristet beschäftigter Arbeitnehmer gegenüber den Arbeitgebern, d.h. sie wirkt sich nicht negativ auf die Reservationslöhne der Arbeitnehmer aus und erhöht somit auch nicht ihre Wahrscheinlichkeit Löhne unterhalb der Niedriglohnschwelle zu akzeptieren.

138

Dieser theoretische Mechanismus bietet zwar eine plausible Erklärung für den beobachteten Zusammenhang zwischen dem Dualisierungs-Indikator und der Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung, aber die in dieser Arbeit verwendeten Makrodaten erlauben es nicht die empirische Evidenz dieses Mechanismus zu überprüfen. Diese Überprüfung kann nur mittels Individualdaten erfolgen und wäre somit ein interessanter Gegenstand für Anschlussforschung.

6.1 Arbeitsmarktinstitutionen und Arbeitsmarktregime im Ländervergleich

301

Zusammenfassend kann zu dem Phänomen der Segmentierung des Arbeitsmarktes in konservativen Wohlfahrtsstaaten festgehalten werden, dass die strukturelle Dimension der Dualisierung keinen Zusammenhang mit der Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung zeigt, aber Ausmaß und Richtung des institutionellen Dualismus der Beschäftigungsregulierung eine hohe Erklärungskraft für die Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung haben. Eine noch höhere Erklärungskraft entsteht allerdings durch die Kombination der institutionellen und der strukturellen Dimension der Dualisierung anhand eines beide Dimensionen umfassenden Dualisierungs-Indikators. Dieser Befund bekräftigt die Notwendigkeit, beide Dimensionen der Dualisierung des Arbeitsmarktes zu betrachten, wenn das Konzept der Dualisierung zur Erklärung struktureller Arbeitsmarktergebnisse verwendet werden soll. 6.1.2 Arbeitsmarktregime im Ländervergleich Die spaltenweise Analyse von Tabelle 6.1 ermöglicht die Untersuchung und den Vergleich der neun konservativen Arbeitsmarktregime. Die oberen neun Arbeitsmarktinstitutionen in Tabelle 6.1 erfassen das staatliche Arbeitsmarktregime. Die nachfolgenden sechs Arbeitsmarktinstitutionen erfassen das Regime der industriellen Beziehungen. In ihrer Gesamtheit werden alle in Tabelle 6.1 aufgeführten Institutionen als Arbeitsmarktregime bezeichnet. 6.1.2.1 Die (Un-)Ähnlichkeit konservativer Arbeitsmarktregime Ein erster, rein visueller Vergleich der neun konservativen Arbeitsmarktregime zeigt, dass kein Zusammenhang zwischen der länderspezifischen Anzahl von Arbeitsmarktinstitutionen mit einer vergleichsweise Niedriglohnbeschäftigung einschränkenden Merkmalsausprägung und der Größe des Niedriglohnsektors zu beobachten ist. Zwar hat Deutschland den größten Niedriglohnsektor und gleichzeitig nur fünf grau schattierte Zellen, während Frankreich und Belgien die kleinsten Niedriglohnsektoren haben und dabei neun bzw. zwölf grau schattierte Zellen aufweisen. Allerdings haben auch die Niederlande und Österreich zehn bzw. neun grau schattierte Zellen und gleichzeitig deutlich größere Niedriglohnsektoren als Belgien und Frankreich. Darüber hinaus wird deutlich, dass kein Arbeitsmarktregime einem anderen gleicht, da sich jedes Regime durch eine einzigartige Konfiguration seiner Arbeitsmarktinstitutionen auszeichnet. Diese Einzigartigkeit zeigt sich anhand der Unterschiede in der Anzahl und Anordnung

302

6 Das Puzzle der konservativen Wohlfahrtsstaaten

grauer bzw. weißer Zellen in Tabelle 6.1. Dennoch variiert der Grad der (Un-) Ähnlichkeit zwischen den Arbeitsmarktregimen. Um das exakte Ausmaß der Ähnlichkeit zwischen den unterschiedlichen Paarkombinationen von Arbeitsmarktregimen zu bestimmen, werden für alle möglichen Paarkombinationen Proximitätsmaße berechnet, die dann in einer Proximitätsmatrix dargestellt werden (vgl. Tab. 6.4). Da die Berechnung von Proximitätsmaßen bei gemischt skalierten Merkmalen mit erheblichen Problemen verbunden ist, dienen die binär codierten Merkmalsausprägungen der Arbeitsmarktinstitutionen in Tabelle 6.1 als Datengrundlage zur Berechnung der Proximitätsmaße (Bortz/Schuster 2010: 458). Ähnlichkeitsmaße für dichotome Merkmale setzen die Häufigkeit, mit der zwei 139 gleiche Werte auftreten in das Verhältnis zur Anzahl aller Wertepaare. Für die Bestimmung der Ähnlichkeit zweier Arbeitsmarktregime ist sowohl das gemeinsame Vorhandensein als auch die gemeinsame Abwesenheit einer Merkmalsausprägung von Bedeutung. Aus diesem Grund wird der Simple-MatchingKoeffizient (SMC) als Proximitätsmaß verwendet, denn dieser Koeffizient dividiert die Summe aller Übereinstimmungen (1/1; 0/0) durch die Summe aus Übereinstimmungen und Nicht-Übereinstimmungen (1/1; 0/0; 1/0; 0/1). Der SMC hat einen Wertebereich zwischen Null und Eins, wobei hohe Werte auf eine große Ähnlichkeit der Objekte hinweisen, während niedrige Werte eine geringe Ähnlichkeit anzeigen (Bortz/Schuster 2010: 455; Wagschal 1999: 250). Die Ähnlichkeitsmatrix in Tabelle 6.4 bildet die Simple-Matching-Koeffizienten aller 36 Paarkombinationen konservativer Arbeitsmarktregime ab. Die Hauptdiagonale der Ähnlichkeitsmatrix enthält immer den Wert 1, weil jedes Arbeitsmarktregime mit sich selbst zu 100% übereinstimmt. Der Vergleich der Koeffizienten zeigt, dass der Grad der Ähnlichkeit zwischen den Arbeitsmarktregimen erheblich variiert. Die durchschnittliche Ähnlichkeit der Arbeitsmarktregime beträgt 49%. Alle Paarvergleiche, deren Simple-Matching-Koeffizienten oberhalb dieses Durchschnitts liegen, werden in Tabelle 6.4 grau schattiert. Unter diesen Länderpaaren zeigen Deutschland und Japan, Deutschland und Italien,

139

Einige Ähnlichkeitsmaße definieren lediglich die Summe der gemeinsamen positiven Übereinstimmungen (also 1/1) als gleiche Werte. Andere Ähnlichkeitsmaße berücksichtigen auch die Summe der gemeinsamen Abwesenheiten (also 0/0) als gleiche Werte bei der Bestimmung der Ähnlichkeit unterschiedlicher Objekte (Wagschal 1999: 249f.).

6.1 Arbeitsmarktinstitutionen und Arbeitsmarktregime im Ländervergleich

303

die Niederlande und Österreich, Luxemburg und Belgien sowie Luxemburg und die Schweiz eine besonders hohe Übereinstimmung ihrer Arbeitsmarktregime. Tabelle 6.4: Ähnlichkeitsmatrix konservativer Arbeitsmarktregime FR

BE

CH

FR

1,00

BE

0,40

1,00

CH

0,27

0,60

1,00

IT

LU

JP

AT

NL

IT

0,40

0,47

0,60

1,00

LU

0,47

0,67

0,67

0,53

1,00

JP

0,47

0,27

0,53

0,53

0,47

AT

0,33

0,53

0,53

0,53

0,33

0,47

1,00

NL

0,40

0,60

0,60

0,47

0,40

0,40

0,67

1,00

DE

0,47

0,13

0,53

0,67

0,20

0,73

0,60

0,53

DE

1,00

1,00

Jahr: 2010.

Unter den Paarkombinationen mit unterdurchschnittlicher Ähnlichkeit ihrer Arbeitsmarktregime zeigen Deutschland und Belgien, Deutschland und Luxemburg, Japan und Belgien sowie die Schweiz und Frankreich eine besonders geringe Übereinstimmung. Somit ist Deutschland sowohl ein Element des Paarvergleichs mit der geringsten, als auch ein Element des Paarvergleichs mit der höchsten Übereinstimmung: Die größte Übereinstimmung besteht zwischen dem deutschen und dem japanischen Arbeitsmarktregime, da 73% der Merkmalsausprägungen übereinstimmen. Die geringste Übereinstimmung besteht dahingegen zwischen dem deutschen und dem belgischen Arbeitsmarktregime, da lediglich 13% der Merkmalsausprägungen übereinstimmen. Der Befund, dass die Arbeitsmarktregime Deutschlands und Japans die höchste Übereinstimmung aufweisen, ist insofern bemerkenswert, als dass Deutschland in der vergleichenden Wohlfahrtsstaatsforschung als typischer Vertreter des konservativen Wohlfahrtsstaates gilt, während bei Japan sogar die Zuordnung zum konservativen Wohlfahrtsstaatstypus umstritten ist (Ferragina/Seeleib-Kaiser 2011). Auf Grundlage der Proximitätsmaße in Tabelle 6.4 kann untersucht werden, ob Länder mit ähnlichen Arbeitsmarktregimen geringere Unterschiede in der Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung aufweisen als Länder, deren Arbeits-

304

6 Das Puzzle der konservativen Wohlfahrtsstaaten

marktregime wenig Ähnlichkeit aufweisen. Dieser Zusammenhang ist aus theoretischer Perspektive zu erwarten, weil die Elemente der Arbeitsmarktregime alle Bestimmungsfaktoren von Niedriglohnbeschäftigung sind (vgl. Kap. 3.2.1). Je ähnlicher das Design dieser Elemente (d.h. also die Merkmalsausprägungen der Arbeitsmarktinstitutionen), desto ähnlicher sollte die von den Arbeitsmarktregimen ausgehende Wirkung auf die Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung sein. Zur Untersuchung dieser Erwartung vergleicht Tabelle 6.5 den Unterschied in der Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung zwischen Ländern mit relativ ähnlichen Arbeitsmarktregimen sowie Ländern mit relativ unähnlichen Arbeitsmarktregimen. Tabelle 6.5: Ähnlichkeit von Arbeitsmarktregimen und Niedriglohnbeschäftigung Paarvergleich konservativer Arbeitsmarktregime Arbeitsmarktregime mit hoher Ähnlichkeit DE & JP DE & IT NL & AT LU & BE LU & CH Arbeitsmarktregime mit geringer Ähnlichkeit DE & BE DE & LU JP & BE CH & FR Jahr: 2010.

SMC

Betrag der Differenz der Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung (in Prozentpunkten)

Durchschnittliche Differenz der Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung (in Prozentpunkten)

0,73 0,67 0,67 0,67 0,67

7,74 9,88 3,11 6,69 0,86

5,66

0,13 0,2 0,27 0,27

15,87 9,18 8,13 6,12

9,83

Für jeden Paarvergleich wird der Betrag der Differenz der Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung berechnet. In der letzten Spalte von Tabelle 6.5 wird die gruppenspezifische durchschnittliche Differenz der Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung berechnet. Der Vergleich dieser zwei Werte zeigt, dass Arbeitsmarktregime mit hoher Ähnlichkeit durchschnittlich deutlich geringere Unterschiede in der Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung aufweisen (nämliche 5,66 Prozentpunkte) als Arbeitsmarktregime mit geringer Ähnlichkeit (in dieser Gruppe beträgt die durchschnittliche Differenz der Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung 9,83 Prozentpunkte). Die zwei Arbeitsmarktregime mit der geringsten Ähnlichkeit (Deutschland und Belgien) weisen mit Abstand die größ-

6.1 Arbeitsmarktinstitutionen und Arbeitsmarktregime im Ländervergleich

305

te Differenz hinsichtlich der Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung auf (nämlich 15,87 Prozentpunkte). Allerdings ist bei den zwei Arbeitsmarktregimen mit der höchsten Ähnlichkeit (Deutschland und Japan) nicht die geringste Differenz hinsichtlich der Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung zu beobachten. Dennoch stellt der Paarvergleich zwischen Deutschland und Italien die einzige tatsächliche Abweichung von den theoretischen Erwartungen dar. Diese zwei Länder weisen zwar eine relativ hohe Übereinstimmung ihrer Arbeitsmarktregime auf, ihre Differenz in der Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung liegt jedoch knapp über dem durchschnittlichen Unterschied der Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung in der Gruppe unähnlicher Arbeitsmarktregime. Insgesamt verdeutlicht Tabelle 6.5, dass ein Zusammenhang zwischen der Ähnlichkeit von Arbeitsmarktregimen und der Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung existiert. Dieser Befund ist ein Hinweis darauf, dass Unterschiede in der Konfiguration von Arbeitsmarktinstitutionen einen wichtigen Erklärungsfaktor für die Varianz der Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung im konservativen Wohlfahrtsstaatscluster darstellen. 6.1.2.2 Effektive institutionelle Bremsen für Niedriglohnbeschäftigung Die Proximitätsmaße vermitteln zwar einen ersten Überblick über die (Un-) Ähnlichkeit zwischen den konservativen Arbeitsmarktregimen, aber sie erlauben keine vergleichende Analyse der Charakteristika der Arbeitsmarktregime und der Wirkung ihrer institutionellen Konfigurationen auf die Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung. Hierfür eignen sich die im dritten Kapitel identifizierten Wirkungskanäle von Arbeitsmarktinstitutionen. Sie bieten ein theoretisch fundiertes Kategorienschema für einen differenzierten Vergleich der konservativen Arbeitsmarktregime hinsichtlich ihrer Wirkung auf die Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung. Nachfolgend werden die konservativen Arbeitsmarktregime daraufhin verglichen, über welche Wirkungskanäle sie eine Niedriglohnbeschäftigung einschränkende Wirkung entfalten. In Kapitel 3.2.1.3 wurden die Wirkungskanäle von Arbeitsmarktinstitutionen auf die Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung zusammenfassend dargestellt. Insgesamt existieren vier Wirkungskanäle: die direkte Lohnfestsetzung, die Veränderung des Reservationslohns, die Veränderung der kollektiven Verhandlungsmacht sowie die Interessenvertretung der Arbeitnehmer und Arbeitgeber. Jede Arbeitsmarktinstitution entfaltet über mindestens einen dieser Kanäle ihre

306

6 Das Puzzle der konservativen Wohlfahrtsstaaten

Wirkung auf die Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung (vgl. Tab. 3.6). Gemeinsam mit den binär transformierten Merkmalsausprägungen der Arbeitsmarktinstitutionen in Tabelle 6.1 erlauben diese vier Wirkungskanäle zu untersuchen, über welche Wirkungskanäle Arbeitsmarktregime eine vergleichsweise Niedriglohnbeschäftigung einschränkende Wirkung entfalten und ob ein Zusammenhang zwischen der Intensität der Nutzung dieser Wirkungskanäle und der Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung besteht. Tabelle 6.6 fasst zusammen, über welche Arbeitsmarktinstitutionen und welche Wirkungskanäle die konservativen Arbeitsmarktregime eine Niedriglohnbeschäftigung eingrenzende Wirkung entfalten. Die Vorspalte von Tabelle 6.6 beschreibt die Charakteristika von Arbeitsmarktinstitutionen, wenn sie als vergleichsweise Niedriglohnbeschäftigung einschränkend gelten. Die Spalten des Tabellenkopfes umfassen die vier Kanäle, über die sich Arbeitsmarktinstitutionen auf die Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung auswirken. In den Feldern von Tabelle 6.6 wird abgetragen, welche Länder bei welchen Arbeitsmarktinstitutionen eine relativ Niedriglohnbeschäftigung eingrenzende Merkmalsausprägung aufweisen (d.h. in Tabelle 6.1 als grau schattierte Zellen dargestellt werden) und über welche Wirkungskanäle dieser theoretisch zu erwar140 tende Effekt vermittelt ist. Durch die vertikale Lesart von Tabelle 6.6 lässt sich untersuchen, ob die neun konservativen Arbeitsmarktregime einen Zusammenhang zwischen der Intensität der Nutzung der unterschiedlichen Wirkungskanäle und der Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung zeigen.

140

Um die korrekte Lesart von Tabelle 6.6 zu erleichtern, werden beispielhaft drei Felder interpretiert: 1) Belgien, die Schweiz, Luxemburg und die Niederlande weisen im Vergleich zu den anderen Ländern des konservativen Wohlfahrtsstaatsclusters eine relativ hohe Generosität der Arbeitslosenunterstützung auf. Die Niedriglohnbeschäftigung eingrenzende Wirkung einer generösen Arbeitslosenunterstützung entsteht aus theoretischer Perspektive dadurch, dass sie den Reservationslohn der Arbeitnehmer erhöht. 2) Belgien und Frankreich haben im Vergleich zu den anderen konservativen Wohlfahrtsstaaten mit gesetzlichen Mindestlöhnen einen hohen Mindestlohn relativ zum Medianlohn. Die Niedriglohnbeschäftigung eingrenzende Wirkung eines hohen Mindestlohns entsteht durch die direkte Festsetzung von Löhnen. 3) Österreich, Belgien, Italien und Luxemburg haben im Vergleich zu den anderen konservativen Wohlfahrtsstaaten eine relativ hohe Gewerkschaftsdichte. Die Niedriglohnbeschäftigung eingrenzende Wirkung einer hohen Gewerkschaftsdichte entsteht durch die Stärkung der kollektiven Verhandlungsmacht der Arbeitnehmer.

6.1 Arbeitsmarktinstitutionen und Arbeitsmarktregime im Ländervergleich

307

Tabelle 6.6: Wirkungskanäle von Arbeitsmarktinstitutionen mit Niedriglohnbeschäftigung eingrenzenden Charakteristika Wirkungskanäle

Direkte Lohnfestsetzung

Arbeitsmarktinstitutionen Staatliche Arbeitsmarktinstitutionen Hohe Generosität der Arbeitslosenunterstützung Hohe Ausgaben für aktive Arbeitsmarktpolitik Geringe Leistungsanspruchskriterien Strenge Regulierung regulärer Beschäftigung Strenge Regulierung atypischer Beschäftigung Atypische Beschäftigung ist strenger oder gering schwächer reguliert als reguläre Beschäftigung BE, FR, JP, Existenz von Mindestlöhnen LU, NL Hoher Mindestlohn relativ BE, FR zum Medianlohn Häufige Anwendung von AT, BE, CH, AllgemeinverbindlichFR, IT, keitserklärungen LU, NL Institutionen der industriellen Beziehungen Hohe Gewerkschaftsdichte Hoher Arbeitgeberorganisationsgrad

Hohe Tarifbindung Starke Beteiligung der Tarifpartner an polit. Entscheidungen Hoher Zentralisierungsgrad der Tarifverhandlungen Starke Koordinierung der Lohnverhandlungen Jahr: 2010.

Veränderung des Reservationslohns

Veränderung der kollektiven Verhandlungsmacht

Interessenvertretung der Arbeitnehmer/ Arbeitgeber

AT, BE, IT, LU

AT, BE, IT, LU

AT, BE, NL

AT, BE, NL

AT, BE, CH, LU, NL

AT, BE, CH, LU, NL

BE, CH, LU, NL AT, DE, FR, NL AT, DE, FR, JP DE, FR, IT, NL BE, FR, IT, LU BE, CH, FR, LU

AT, BE, FR, NL

AT, BE, CH, DE, IT, NL AT, BE, CH, DE, IT, JP, NL

308

6 Das Puzzle der konservativen Wohlfahrtsstaaten

Tatsächlich zeigt sich ein deutlicher Zusammenhang zwischen den Ländern mit minimaler und maximaler Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung und der Existenz von Arbeitsmarktinstitutionen, die über direkte Lohnfestsetzungen eine Niedriglohnbeschäftigung einschränkende Wirkung entfalten. So sind die zwei Länder mit dem kleinsten Niedriglohnsektor (Frankreich und Belgien) gleichzeitig die einzigen Länder innerhalb des konservativen Clusters, bei denen alle Arbeitsmarktinstitutionen, die sich über direkte Lohnfestsetzung auf die abhängige Variable auswirken, eine Niedriglohnbeschäftigung eingrenzende Merkmalsausprägung aufweisen. Dahingegen weist das Arbeitsmarktregime mit dem größten Niedriglohnsektor (Deutschland) bei keiner einzigen Arbeitsmarktinstitution, deren Wirkung über die Festsetzung von Löhnen vermittelt ist, eine Niedriglohnbeschäftigung eingrenzende Merkmalsausprägung auf. Tabelle 6.6 unterstützt die Erwartung, dass Arbeitsmarktinstitutionen, die eine indirekte Wirkung auf die abhängige Variable ausüben (d.h. die über die Kanäle der Veränderung der kollektiven Verhandlungsmacht und der Interessenvertretung wirken), einen geringeren Einfluss auf die Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung haben als Arbeitsmarktinstitutionen, die über einen direkten Wirkungskanal vermittelt sind (vgl. Kap. 3.2.1.3). Diese Feststellung ergibt sich aus der Beobachtung, dass Frankreich bei keiner Arbeitsmarktinstitution, deren Wirkung auf die abhängige Variable über indirekte Kanäle vermittelt ist, eine Niedriglohnbeschäftigung eingrenzende Merkmalsausprägung aufweist. Dennoch hat Frankreich den geringsten Anteil an Niedriglohnempfängern unter den konservativen Arbeitsmarktregimen. Länder wie Österreich oder die Niederlande haben dahingegen viele indirekt wirkende Arbeitsmarktinstitutionen mit einer vergleichsweise stark Niedriglohnbeschäftigung einschränkenden Merkmalsausprägung. Trotzdem weisen beide Länder einen deutlich höheren Anteil an Niedriglohnempfängern auf als Frankreich. Die Beobachtung einer vergleichsweise geringen Bedeutung von indirekt wirkenden Arbeitsmarktinstitutionen für die Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung ist auch aus theoretischer Perspektive plausibel: Arbeitsmarktinstitutionen mit indirekter Wirkung haben keinen direkten kausalen Einfluss auf die Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung. Sie können nur durch die Beeinflussung der Ausgestaltung von Arbeitsmarktinstitutionen mit direktem Einfluss auf die Arbeitsentgelte ihre Wirkung auf die Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung entfalten (vgl. Kap. 3.2.1.3). So wirkt sich z.B. der gewerkschaftliche Organisationsgrad indirekt auf die Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung aus,

6.1 Arbeitsmarktinstitutionen und Arbeitsmarktregime im Ländervergleich

309

indem er die Tarifbindung und die Höhe der Tarifabschlüsse beeinflusst. Die effektive Wirkung auf das Lohnniveau, und somit auf die Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung, üben allerdings die Tarifverträge und nicht die Gewerkschaftsdichte aus. Auf Grundlage der Differenzierung institutioneller Wirkungskanäle nach direkten und indirekten Effekten auf die Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung, wird das Konzept der „effektiven institutionellen Bremse für die Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung“ entwickelt. Vor dem Hintergrund eines wohlfahrtsstaatstypenspezifischen Strukturzusammenhangs identifiziert dieses Konzept mittels theoretischer und empirischer Informationen jene Arbeitsmarktinstitutionen, die eine relativ starke negative Wirkung auf die Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung ausüben sollten. Damit sich die länderspezifische Ausgestaltung einer Arbeitsmarktinstitution als effektive institutionelle Bremse für die Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung qualifiziert, muss sie vier Kriterien erfüllen: 1.

2.

3.

Die Arbeitsmarktinstitution muss im Kontext des Wohlfahrtsstaatsclusters eine vergleichsweise Niedriglohnbeschäftigung einschränkende Merkmalsausprägung aufweisen; d.h. sie muss in Tabelle 6.1 mit einer Eins codiert sein bzw. als grau schattierte Zelle dargestellt werden. Die theoretisch zu erwartende Wirkung der Arbeitsmarktinstitution auf die Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung muss über einen Wirkungskanal mit direktem Effekt auf die abhängige Variable vermittelt sein; d.h. die Wirkung entfaltet sich entweder über den Kanal der direkten Lohnfestsetzung oder der Veränderung des Reservationslohns. Die Niedriglohnbeschäftigung einschränkende Wirkung der Arbeitsmarktinstitution darf nicht durch eine andere Arbeitsmarktinstitution neutralisiert werden. Dieses Kriterium bezieht sich explizit auf das Verhältnis zwischen der Generosität der Arbeitslosenunterstützung und der Strenge der Leistungsanspruchskriterien. Wie zu Beginn von Kapitel 6.1.1 erörtert wurde, neutralisieren hohe Leistungsanspruchskriterien die Niedriglohnbeschäftigung eingrenzende Wirkung einer generösen Arbeitslosenunterstützung. Geringe Leistungsanspruchskriterien können dahingegen kaum eine Niedriglohnbeschäftigung eingrenzende Wirkung entfalten, wenn sie mit einer geringen Arbeitslosenunterstützung einhergehen.

310

6 Das Puzzle der konservativen Wohlfahrtsstaaten

4.

Die Arbeitsmarktinstitution muss sowohl aus theoretischer Perspektive als auch vor dem Hintergrund der vorausgegangenen empirischen Befunde das Potenzial für eine starke negative Wirkung auf die Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung haben. Dieses Kriterium führt zu der Exklusion folgender Arbeitsmarktinstitutionen: a. Existenz eines gesetzlichen Mindestlohns: Die alleinige Existenz eines gesetzlichen Mindestlohns ist keine effektive institutionelle Bremse für die Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung. Entscheidend ist die Höhe des Mindestlohns, da sie sich proportional auf die Höhe der Reservationslöhne auswirkt. b. Regulierungsstrenge regulärer Beschäftigung: Arbeitnehmer in Normalarbeitsverhältnissen werden länderübergreifend deutlich seltener niedrig entlohnt als atypisch Beschäftigte. Daher hat eine strenge Regulierung regulärer Beschäftigung ein geringeres Potenzial sich negativ auf die Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung auszuwirken, als eine strenge Regulierung atypischer Beschäftigung sowie ein Outsider begünstigender institutioneller Dualismus der Beschäftigungsregulierung. c. Aktive Arbeitsmarktpolitik: Weiterbildungs- und Qualifizierungsmaßnahmen haben eine geringe Breitenwirkung und ihre Wirkung auf die Reservationslöhne ist stark von individuellen und strukturellen Kontextfaktoren abhängig. Daher können diese Maßnahmen auf Aggregatebene keine starke negative Wirkung auf die Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung entfalten.

Im Einklang mit diesen vier Kriterien dokumentiert Tabelle 6.7 die effektiven institutionellen Bremsen für die Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung jedes konservativen Arbeitsmarktregimes. Darüber hinaus wird die länderspezifische Größe des Niedriglohnsektors abgebildet, um einen direkten Vergleich zwischen der Anzahl effektiver institutioneller Bremsen und der Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung zu ermöglichen. Einige Arbeitsmarktinstitutionen in Tabelle 6.7 sind in Klammern gesetzt. Diese Klammern weisen darauf hin, dass eine Arbeitsmarktinstitution nur sehr knapp eines der vier Kriterien nicht erfüllt, um als effektive institutionelle Bremse für die Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung klassifiziert zu werden.

6.1 Arbeitsmarktinstitutionen und Arbeitsmarktregime im Ländervergleich

311

Tabelle 6.7: Effektive institutionelle Bremsen für die Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung

Land

Anteil der Niedriglohnbeschäftigten (in % aller abhängig Beschäftigten)

FR

6,08

BE

6,37

CH

12,2

IT

12,36

LU

13,06

JP

14,5

AT

15,02

NL

18,13

DE Jahr: 2010.

22,24

Effektive institutionelle Bremsen für die Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung - hoher Mindestlohn - häufige Anwendung von Allgemeinverbindlichkeitserklärungen - hohe Tarifbindung - strenge Regulierung atypischer Beschäftigung - institutioneller Dualismus begünstigt atypisch Beschäftigte - hoher Mindestlohn - häufige Anwendung von Allgemeinverbindlichkeitserklärungen - hohe Tarifbindung - strenge Regulierung atypischer Beschäftigung - institutioneller Dualismus begünstigt atypisch Beschäftigte - (generöse Arbeitslosenunterstützung) - häufige Anwendung von Allgemeinverbindlichkeitserklärungen - häufige Anwendung von Allgemeinverbindlichkeitserklärungen - strenge Regulierung atypischer Beschäftigung - (hohe Tarifbindung) - strenge Regulierung atypischer Beschäftigung - institutioneller Dualismus begünstigt atypisch Beschäftigte - häufige Anwendung von Allgemeinverbindlichkeitserklärungen - geringe Leistungsanspruchskriterien - (generöse Arbeitslosenunterstützung) - häufige Anwendung von Allgemeinverbindlichkeitserklärungen - hohe Tarifbindung - häufige Anwendung von Allgemeinverbindlichkeitserklärungen - hohe Tarifbindung - (generöse Arbeitslosenunterstützung) - keine

Tabelle 6.7 zeigt, dass die zwei Länder mit der geringsten Niedriglohnbeschäftigung gleichzeitig die meisten effektiven institutionellen Bremsen für die Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung aufweisen. In Frankreich und Belgien werden dieselben fünf Arbeitsmarktinstitutionen als effektive institutionelle Bremsen klassifiziert. In Belgien ist die effektive institutionelle Bremse einer generösen Arbeitslosenunterstützung in Klammern aufgeführt, denn die Merkmalsausprägung dieser Institution ist zwar verhältnismäßig Niedriglohnbeschäftigung eingrenzend, aber die Strenge der Leistungsanspruchskriterien in Belgien befindet sich genau auf der Grenze zwischen der Codierung als Niedriglohnbe-

312

6 Das Puzzle der konservativen Wohlfahrtsstaaten 141

schäftigung einschränkend bzw. fördernd (vgl. Tab. 6.1). Im Gegensatz zu der Messung der Ähnlichkeit der Arbeitsmarktregime anhand von Simple-MatchingKoeffizienten (vgl. Tab. 6.4), zeigen die Arbeitsmarktregime Frankreichs und Belgiens auf Grundlage des Konzepts der effektiven institutionellen Bremse deutliche Ähnlichkeit und spiegeln somit auch die strukturelle Ähnlichkeit der zwei Länder hinsichtlich der Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung. Die übrigen sieben konservativen Arbeitsmarktregime haben nicht nur deutlich mehr Niedriglohnbeschäftigte als Frankreich und Belgien, sondern auch deutlich weniger effektive institutionelle Bremsen. Allerdings ist Deutschland das einzige konservative Arbeitsmarktregime, das keine einzige effektive institutionelle Bremse aufweist. Dieser Befund ist ein deutlicher Hinweis darauf, dass der hohe Anteil an Niedriglohnempfängern in Deutschland stark durch die Ausgestaltung von Arbeitsmarktinstitutionen bzw. durch das Fehlen einer effektiven institutionellen Bremse für die Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung beeinflusst wird. Dennoch widerspricht die Ausgestaltung der einzelnen Arbeitsmarktinstitutionen in Deutschland nicht den Charakteristika konservativer Arbeitsmarktregime (vgl. Kap. 5.2.1) oder den arbeitsmarktpolitischen Orientierungen konservativer Wohlfahrtsstaaten (vgl. Tab. 2.6). Stattdessen stimmt z.B. die starke Hierarchisierung der Beschäftigungsregulierung zugunsten der Insider sogar sehr genau mit den idealtypischen Charakteristika konservativer Arbeitsmarktregime überein. Somit sind im Falle Deutschlands nicht einzelne extreme bzw. wohlfahrtsstaatsuntypische Ausprägungen von Arbeitsmarktinstitutionen, sondern die Konfiguration des gesamten Arbeitsmarktregimes, eine wesentliche Ursache für die hohe Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung. Gemäß Tabelle 6.1 haben die Niederlande und Österreich relativ viele Arbeitsmarktinstitutionen, die sich durch eine vergleichsweise Niedriglohnbeschäftigung eingrenzende Merkmalsausprägung auszeichnen. Diese Beobachtung führte zu der Frage, weshalb beide Länder dennoch einen relativ hohen Anteil an Niedriglohnempfängern innerhalb des Clusters konservativer Wohlfahrtsstaaten aufweisen. Das Konzept der effektiven institutionellen Bremse erlaubt nun eine Antwort auf diese Frage: Trotzdem die Niederlande und Österreich viele Arbeitsmarktinstitutionen mit einer Niedriglohnbeschäftigung eingrenzen141

Die gleiche Konstellation wie in Belgien ist in den Niederlanden zu beobachten. In Japan sind dahingegen die Leistungsanspruchskriterien gering, aber die Generosität der Arbeitslosenunterstützung befindet sich genau auf der clusterspezifischen Grenze zwischen generös und weniger generös (vgl. Tab. 6.1).

6.1 Arbeitsmarktinstitutionen und Arbeitsmarktregime im Ländervergleich

313

den Merkmalsausprägung aufweisen, ist die Anzahl effektiver institutioneller Bremsen deutlich geringer. So werden im Falle Österreichs zwar neun Arbeitsmarktinstitutionen in Tabelle 6.1 als Niedriglohnbeschäftigung eingrenzend kategorisiert, aber lediglich zwei dieser Institutionen qualifizieren sich als effektive institutionelle Bremsen. Auch im Falle der Niederlande zeigt sich, dass von den zehn Arbeitsmarktinstitutionen, deren Ausgestaltung in Tabelle 6.1 als vergleichsweise Niedriglohnbeschäftigung eingrenzend codiert wurde, nur zwei Arbeitsmarktinstitutionen die Kriterien einer effektiven institutionellen Bremse erfüllen. Im Gegensatz zu der Anzahl von Arbeitsmarktinstitutionen mit Niedriglohnbeschäftigung eingrenzender Merkmalsausprägung, hat das Konzept der effektiven institutionellen Bremse einen deutlichen Zusammenhang mit der Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung in konservativen Wohlfahrtsstaaten. Während die länderspezifische Anzahl von Arbeitsmarktinstitutionen mit Niedriglohnbeschäftigung eingrenzender Merkmalsausprägung im Jahr 2010 keinen signifikanten korrelativen Zusammenhang mit der Größe des Niedriglohnsektor zeigt (r = -0,45 (p > 0,1)), hat die länderspezifische Anzahl effektiver institutioneller Bremsen einen signifikanten und stark negativen korrelativen Zusammenhang mit der Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung (r = -0,86** (p < 0,01)). Das Streudiagramm in Abbildung 6.4 illustriert, dass der starke Zusammenhang zwischen der Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung und der Anzahl effektiver institutioneller Bremsen vor allem durch die Extremfälle Deutschland, Belgien und Frankreich verursacht wird. Werden die Länder mir einer mittleren Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung (die Schweiz, Italien, Luxemburg, Japan, Österreich und die Niederlande) isoliert betrachtet, zeigt sich dahingegen keine Beziehung zwischen der Anzahl effektiver institutioneller Bremsen und der Größe des Niedriglohnsektors. Diese Beobachtung deutet darauf hin, dass eine einzige effektive institutionelle Bremse ausreicht, um eine so hohe Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung wie in Deutschland zu verhindern. Dennoch sind deutlich mehr als eine effektive institutionelle Bremse notwendig, um den Anteil der Niedriglohnbeschäftigten auf ein so geringes Niveau wie in Frankreich und Belgien einzugrenzen.

314

6 Das Puzzle der konservativen Wohlfahrtsstaaten

Abbildung 6.4: Anzahl effektiver institutioneller Bremsen und Niedriglohnbeschäftigung

6.1.3 Zusammenfassende Bewertung der Analyseergebnisse Die Analyseergebnisse der Kapitel 6.1.1 und 6.1.2 zeigen, dass sowohl die Ausgestaltung einzelner Arbeitsmarktinstitutionen als auch die institutionelle Konfiguration der Arbeitsmarktregime Erklärungskraft für die Varianz der Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung im konservativen Wohlfahrtsstaatscluster aufweisen. Allerdings haben die staatlichen Arbeitsmarktinstitutionen eine höhere Erklärungskraft als die Institutionen der industriellen Beziehungen: Keine Institution der industriellen Beziehungen hat eine theoretisch plausible Kovarianz mit der Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung. Darüber hinaus qualifiziert sich nur eine einzige Institution der industriellen Beziehungen, nämlich die Tarifbindung, als effektive institutionelle Bremse für die Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung. Im Rahmen der vergleichenden Analyse der Ausgestaltung einzelner Arbeitsmarktinstitutionen zeigt der institutionelle Dualismus der Beschäftigungsregulierung den stärksten Zusammenhang mit der abhängigen Variable: Je stärker

6.1 Arbeitsmarktinstitutionen und Arbeitsmarktregime im Ländervergleich

315

das Arbeitsrecht zugunsten unbefristeter (regulärer) Beschäftigungsverhältnisse und zulasten befristeter (atypischer) Beschäftigungsverhältnisse hierarchisiert wird, desto höher ist der Anteil an Niedriglohnempfängern. Dahingegen haben Länder, die reguläre Beschäftigung weniger streng regulieren als atypische Beschäftigung, tendenziell einen deutlich geringeren Anteil an Niedriglohnempfängern. Die Erklärungskraft des institutionellen Dualismus vergrößert sich, wenn zusätzlich das Ausmaß des strukturellen Dualismus berücksichtigt wird. Insgesamt kann das Phänomen des institutionellen Dualismus einen hohen Anteil der Varianz der Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung im konservativen Wohlfahrtsstaatscluster erklären. Der Vergleich der institutionellen Konfiguration der Arbeitsmarktregime zeigt, dass Arbeitsmarktregime mit einer hohen Ähnlichkeit ihrer Merkmalsausprägungen durchschnittlich einen geringeren Unterschied in der Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung aufweisen als Arbeitsmarktregime, die wenig Ähnlichkeit miteinander haben. Insbesondere der starke Zusammenhang zwischen der länderspezifischen Anzahl effektiver institutioneller Bremsen für die Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung und der Größe des Niedriglohnsektors weist auf den Einfluss der Konfiguration des Arbeitsmarktregimes für die Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung hin. Die empirischen Befunde legen nahe, dass bereits das Vorhandensein einer einzigen effektiven institutionellen Bremse genügt, um die Größe des Niedriglohnsektors effektiv einzugrenzen und eine extrem hohe Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung wie in Deutschland zu verhindern. Gemeinsam bieten der institutionelle Dualismus der Beschäftigungsregulierung sowie die Anzahl effektiver institutioneller Bremsen eine gute Erklärung für die Ausreißer-Position von Deutschland, Frankeich und Belgien innerhalb des konservativen Wohlfahrtsstaatsclusters. Obschon in Deutschland sowohl die starke Hierarchisierung der Beschäftigungsregulierung zugunsten der Insider als auch das Fehlen einer effektiven institutionellen Bremse für die Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung auffällige institutionelle Merkmalsausprägungen darstellen, weicht keine Arbeitsmarktinstitution offensichtlich von den arbeitsmarktpolitischen Orientierungen des konservativen Wohlfahrtsstaatstypus ab. Dahingegen ist die Richtung des institutionellen Dualismus in Frankreich und Belgien durchaus als Abweichung von konservativen Leitideen zu betrachten, da in konservativen Arbeitsmarktregimen idealtypisch eine Hierarchisierung des Arbeits- und Sozialrechts zugunsten der Insider und zulasten der Outsider er-

316

6 Das Puzzle der konservativen Wohlfahrtsstaaten

wartet wird. In Frankreich und Belgien wird dieses Verhältnis jedoch umgekehrt. 6.2 Der Fall Deutschland Der deutsche Niedriglohnsektor hatte nicht immer das Ausmaß des Jahres 2010. Erst Mitte der 1990er Jahre entwickelte dieses Lohnsegment eine Wachstumsdynamik, die letztlich zu dem für einen konservativen Wohlfahrtsstaat vergleichsweise hohen Anteil an Niedriglohnempfängern führte. In Kapitel 6.1 wurden institutionelle Charakteristika identifiziert, die eine theoretisch plausible Erklärung für den hohen Anteil an Niedriglohnempfängern in Deutschland im Jahr 2010 bieten. Zu diesen institutionellen Charakteristika gehören zum einen der Outsider benachteiligende institutionelle Dualismus der Beschäftigungsregulierung und zum anderen die Abwesenheit einer effektiven institutionellen Bremse für die Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung. Vor dem Hintergrund dieser Befunde stellt sich die Frage, ob der deutsche Arbeitsmarkt schon immer durch diese institutionellen Charakteristika geprägt wurde oder ob die zeitliche Varianz der Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung durch den institutionellen Wandel der Arbeitsmarktinstitutionen erklärt werden kann. Schlussfolgerungen über Ursache-Wirkungs-Beziehungen zwischen der abhängigen Variable und deren Erklärungsfaktoren werden in Kapitel 6.2 durch die Identifikation von gleichgerichteter Variation der Variablen über Zeit sowie deren Kongruenz mit theoretischen Erwartungen gezogen (Blatter et al. 2007: 125). Da die Höhe der Arbeitslosigkeit aus theoretischer Perspektive die entscheidende strukturelle Kontrollvariable für den Einfluss institutioneller Faktoren auf die Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung darstellt, überprüft Kapitel 6.2 auch, ob eine theoretisch plausible Kovarianz zwischen der Entwicklung der Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung und der Arbeitslosenquote zu beobachten ist. Methodologisch folgt die Untersuchung Deutschlands der Fallauswahlmethode des Extremfalls, denn Deutschland hat innerhalb des konser-

6.2 Der Fall Deutschland

317

vativen Wohlfahrtsstaatsclusters nicht nur den größten Niedriglohnsektor, son142 dern stellt auch den extremsten Ausreißer dar (vgl. Abb. 1.3). 6.2.1 Entwicklung der Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung Der Anteil der Niedriglohnempfänger in Deutschland hat sich in dem Zeitraum zwischen 1980 und 2010 deutlich vergrößert. Abbildung 6.5 stellt diese Entwicklung anhand eines Liniendiagramms für die gesamte Bundesrepublik sowie getrennt nach Ost- und Westdeutschland dar. Der Beginn der Zeitreihen zum Anteil der Niedriglohnbeschäftigten in West-, Ost- und Gesamtdeutschland wird durch die Verfügbarkeit lückenloser und vergleichbarer Daten zur Messung dieses lohnstrukturellen Arbeitsmarktphänomens bestimmt. Da Eurostat keine Zeitreihendaten über die Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung zur Verfügung stellt, stammen die Daten in Abbildung 6.5 aus nationalen Datenquellen. Die Zeitreihe für Westdeutschland von 1980 bis 2005 basiert bis 1998 auf Daten der IAB-Beschäftigtenstichprobe und ab 1999 auf Daten des BA-Beschäftigtenpanels (Kalina 2008: 24). Die Zeitreihen für Westdeutschland von 1995 bis 2010, Ostdeutschland sowie Gesamtdeutschland basieren auf dem Sozio-ökonomischen Panel der Version SOEP v30 (Kalina/Weinkopf 2015: 3). Da sowohl die Daten in Abbildung 6.5 als auch die in der Querschnittsanalyse verwendeten Daten von Eurostat durch die Befragung 142

Prinzipiell könnte Kapitel 6.2 auch eine vergleichende Längsschnittanalyse mit allen minimalen und maximalen Ausreißern des konservativen Wohlfahrtsstaatsclusters durchführen. Der Vorteil dieses Vorgehens bestünde in einer stärkeren Generalisierbarkeit der Analyseergebnisse. Allerdings existieren weder für Frankreich noch für Belgien vergleichbare bzw. ausreichend weit zurückgehende Längsschnittdaten über den Anteil der Niedriglohnbeschäftigten. So finden sich bei dem französischen Statistikamt INSEE (Institut national de la statistique et des études économiques) zwar ab 1995 Daten über die Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung in Frankreich, aber die Operationalisierung von Niedriglohnbeschäftigung weicht von der in dieser Arbeit verwendeten Operationalisierung ab. Aus diesem Grund weichen auch die Messergebnisse von INSEE stark von den Messergebnissen von Eurostat ab: Während im Jahr 2010 der Anteil der Niedriglohnbeschäftigten in Frankreich gemäß Eurostat 6,08% beträgt, weist INSEE in demselben Jahr 15,7% der Erwerbstätigen als Niedriglohnbeschäftigte aus. Die Ursache dieser Abweichungen besteht darin, dass INSEE als Berechnungsgrundlage nicht Stunden-, sondern Monatslöhne verwendet, aber gleichzeitig Teilzeitbeschäftigte in die Berechnung einbezieht (Dares 2012: 6). Diese Art der Messung erlaubt allerdings nicht für die Arbeitsdauer zu kontrollieren, so dass der Anteil der Niedriglohnempfänger systematisch nach oben verzerrt ist (vgl. Kapitel 2.1.1). Vor diesem Hintergrund sind die Längsschnittdaten für Frankreich nicht mit den anderen Daten dieser Arbeit vergleichbar. In Belgien liegen wiederum nicht genügend Beobachtungen für eine Längsschnittanalyse vor.

318

6 Das Puzzle der konservativen Wohlfahrtsstaaten

repräsentativer Bevölkerungsstichproben erhoben werden, sind leichte Abweichungen zwischen sich überschneidenden Datenpunkten unterschiedlicher Datenquellen zu beobachten.

Anteil der Niedriglohnbeschäftigten (in % aller abhängig Beschäftigten)

50 39,7

40 37,4 30 20

25,0 18,7 14,9

14,7

18,3

21,9

10 0

Quelle: SOEP v30, IAB-Beschäftigungsstichprobe, BA-Beschäftigtenpanel. Berechnungen: Kalina 2008; Kalina/Weinkopf 2015.

Deutschland gesamt Westdeutschland 1980-2005 Westdeutschland 1995-2010 Ostdeutschland

Abbildung 6.5: Entwicklung der Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung in Deutschland

Der Beginn der Zeitreihen zum Anteil der Niedriglohnbeschäftigten in West-, Ost- und Gesamtdeutschland wird durch die Verfügbarkeit lückenloser und vergleichbarer Daten zur Messung dieses lohnstrukturellen Arbeitsmarktphänomens bestimmt. Da Eurostat keine Zeitreihendaten über die Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung zur Verfügung stellt, stammen die Daten in Abbildung 6.5 aus nationalen Datenquellen. Die Zeitreihe für Westdeutschland von 1980 bis 2005 basiert bis 1998 auf Daten der IAB-Beschäftigtenstichprobe und ab 1999 auf Daten des BA-Beschäftigtenpanels (Kalina 2008: 24). Die Zeitreihen für Westdeutschland von 1995 bis 2010, Ostdeutschland sowie Gesamtdeutschland basieren auf dem Sozio-ökonomischen Panel der Version SOEP v30 (Kalina/Weinkopf 2015: 3). Da sowohl die Daten in Abbildung 6.5 als auch die in der Querschnittsanalyse verwendeten Daten von Eurostat durch die Befragung repräsentativer Bevölkerungsstichproben erhoben werden, sind leichte Abwei-

6.2 Der Fall Deutschland

319

chungen zwischen sich überschneidenden Datenpunkten unterschiedlicher Datenquellen zu beobachten. Ebenso wie die Daten der Querschnittsanalyse, verwenden die Längsschnittdaten eine Niedriglohnschwelle von zwei Dritteln des mittleren Stundenlohns (Medianlohn) zur Bestimmung des Umfangs der Niedriglohnbeschäftigung. Alle Zeitreihen in Abbildung 6.5 verzeichnen in der Tendenz einen Anstieg des Anteils der Niedriglohnempfänger. In dem Zeitraum von 1980 bis 1996 sind allerdings nur sehr geringe Veränderungen des Anteils der Niedriglohnbeschäftigten in Westdeutschland zu beobachten. Ab 1997 steigt die Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung in Westdeutschland stärker an. Obschon die Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung über den gesamten Zeitraum von 1995 bis 2010 in Ostdeutschland deutlich höher ist als in Westdeutschland, verringert sich dieser Abstand im Zeitverlauf von 22,7 Prozentpunkten Unterschied im Jahr 1995 auf eine Differenz von 17,8 Prozentpunkten im Jahr 2010. Diese Annäherung entsteht durch einen stärkeren Anstieg der Niedriglohnbeschäftigung in Westdeutschland als in Ostdeutschland. In Westdeutschland hat die durchschnittliche Wachstumsrate der Niedriglohnbeschäftigung gemäß dem geometrischen Mittel in den Jahren von 1995 bis 2010 einen Wert von 2,7%. In Ostdeutschland beträgt die durchschnittliche Wachstumsrate im gleichen Zeitraum dahingegen nur 0,4%. Folglich ist der Anstieg der Niedriglohnbeschäftigung in Westdeutschland die primäre Ursache des Anstiegs der Niedriglohnbeschäftigung in Gesamtdeutschland, denn im gesamten Gebiet der Bundesrepublik wächst der Anteil der Niedriglohnbeschäftigten mit einer durchschnittlichen Wachstumsrate von 1,95% von ursprünglich 18,7% im Jahr 1995 auf 25,0% im Jahr 2010. Die wesentliche Ursache für den großen Unterschied in der Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung zwischen Ost- und Westdeutschland liegt in den erheblichen Lohnunterschieden. So beträgt der durchschnittliche Bruttomonatsverdienst in Westdeutschland 3.338 Euro im Jahr 2010 während er in Ostdeutschland lediglich 2.547 Euro beträgt (Statistisches Bundesamt: Verdienststrukturerhebung). Vor dem Hintergrund des erheblichen Ost-WestLohngefälles führt die Berechnung einer bundeseinheitlichen Niedriglohnschwelle dazu, dass ein großer Anteil der ostdeutschen Arbeitnehmer als Niedriglohnbeschäftigte klassifiziert werden, da der Medianlohn für Gesamtdeutschland deutlich höher ist als der Medianlohn in Ostdeutschland. Werden dahingegen getrennte Niedriglohnschwellen berechnet, ist die westdeutsche Niedriglohnschwelle sowohl höher als die ostdeutsche Niedriglohnschwelle als auch

320

6 Das Puzzle der konservativen Wohlfahrtsstaaten

höher als die gesamtdeutsche Niedriglohnschwelle. Dies wirkt sich wiederum auf den Anteil der Niedriglohnempfänger aus. So liegt im Jahr 2010 die Niedriglohnschwelle für Gesamtdeutschland bei 9,15 Euro, in Westdeutschland bei 9,54 Euro und in Ostdeutschland bei 7,04 Euro. Der mit den getrennt berechneten Niedriglohnschwellen korrespondierende Anteil an Niedriglohnempfängern beträgt 23% in Westdeutschland (statt 21,9% bei bundeseinheitlicher Niedriglohnschwelle) und 22,6% in Ostdeutschland (statt 39,7% bei bundeseinheitlicher Niedriglohnschwelle) (Kalina/Weinkopf 2012: 3f.). Die Gründe für das geringere Lohnniveau in Ostdeutschland sind unter anderem eine höhere Arbeitslosigkeit, eine geringere Tarifbindung sowie ein geringerer gewerkschaftlicher Organisationsgrad, durchschnittlich kleinere Unternehmen, eine geringere Arbeitsproduktivität, eine geringere Innovationsrate, eine höhere Frauenerwerbsquote sowie ein allgemein geringeres Preisniveau als in Westdeutschland (Kluge/Weber 2018; Lehmer/Möller 2010; Matysiak/Steinmetz 2008; Mueller 2015). Für die Untersuchung der Frage, ob im Zeitverlauf Zusammenhänge zwischen institutionellem Wandel und der Veränderung der Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung erkennbar sind, haben die Unterschiede des Lohnniveaus allerdings keine Bedeutung. Aus diesem Grund kann die bundeseinheitliche Niedriglohnschwelle als abhängige Variable verwendet werden. 6.2.2 Entwicklung der Arbeitslosigkeit Aus arbeitsmarktökonomischer Perspektive beeinflusst die Höhe der Arbeitslosigkeit das Lohnniveau und somit auch die Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung (Blanchard/Katz 1999). Um die empirische Relevanz dieser strukturellen Kontrollvariable in Deutschland einschätzen zu können, müssen die Entwicklung der Arbeitslosenquote und die Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung auf ihre mögliche zeitliche Kovarianz überprüft werden. Die Arbeitslosenquote stellt auch den wichtigsten Performanzindikator für die Funktionsfähigkeit des Arbeitsmarktes dar. In dieser Funktion kann die Arbeitslosenquote auch politische Entscheidungsträger in ihren Entscheidungen über Reformen der Ausgestaltung staatlicher Arbeitsmarktinstitutionen beeinflussen (Dümig 2015: 535-564). Insofern ist die Betrachtung der Entwicklung der Arbeitslosenquote auch hilfreich, um den etwaigen Wandel von staatlichen Ar-

6.2 Der Fall Deutschland

321

beitsmarktinstitutionen vor dem Hintergrund des durch die Höhe der Arbeitslosenquote verursachten Problemdrucks untersuchen zu können. In Abbildung 6.6 wird die Entwicklung der Arbeitslosenquote in Deutschland zwischen 1956 und 2010 dargestellt. Das erste Beobachtungsjahr beginnt deutlich vor der Zeitreihe zur Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung, um die langfristige allgemeine Entwicklungstendenz der Ausschöpfung des Arbeitskräftepotenzials besser nachvollziehen zu können. Alle Datenpunkte bis 1990 beziehen sich ausschließlich auf Westdeutschland. Danach beziehen sich die Datenpunkte auf Gesamtdeutschland. 11,24

12,0 9,91

10,0 8,05

8,0

7,80

6,0 4,0

3,44

2,0

7,10

4,03 4,78 1,77 0,59

0,57

3,24

0,0

Daten: OECD.

Arbeitslosenquote (in % der zivilen Erwerbspersonen)

Abbildung 6.6: Entwicklung der Arbeitslosenquote in Deutschland

Die Entwicklung der Arbeitslosenquote zeigt einen zyklischen Verlauf zwischen Phasen hoher und geringer Arbeitslosigkeit. Zu Beginn der Zeitreihe im Jahr 1956 ist noch der Abbau der Nachkriegsarbeitslosigkeit zu beobachten, bevor 143 von 1959 bis 1973 Vollbeschäftigung herrscht. In der leichten ökonomischen Rezession von 1966/1967 steigt die Arbeitslosigkeit zwar an, bleibt aber im Bereich der Vollbeschäftigung und kehrt schnell auf ihre vorheriges, niedriges 143

Vollbeschäftigung ist definiert als eine Arbeitslosenquote zwischen 0% und 2%. Da eine bestimmte Menge an Erwerbspersonen sich immer gerade im Arbeitsplatzwechsel befindet (friktionelle Arbeitslosigkeit bzw. Sucharbeitslosigkeit), gilt auch eine Arbeitslosenquote von 2% noch als Vollbeschäftigung (Edling 2006: 278).

322

6 Das Puzzle der konservativen Wohlfahrtsstaaten

Niveau zurück. Im Jahr 1974 steigt die Arbeitslosenquote erstmals wieder über 2%. Ursache dieses Anstiegs ist die erste Ölpreiskrise von 1973. Aus politischen 144 Gründen drosselten die OPEC-Länder die Ölfördermenge und lösten dadurch in allen OECD-Ländern eine ökonomische Rezession aus, die sich mit etwas Verzögerung auch auf dem deutschen Arbeitsmarkt bemerkbar machte. Im Gegensatz zu der Rezession von 1966/1967 markiert die Rezession von 1973 eine Trendwende für die deutsche Volkswirtschaft, denn einerseits leitet sie dauerhaft niedrige Wachstumsraten des Bruttoinlandsproduktes ein und andererseits ist sie der Beginn eines trendmäßigen Anstiegs der Arbeitslosigkeit über die Konjunkturzyklen hinweg. Sowohl in der Rezession von 1973 als auch in 145 allen nachfolgenden Konjunkturabschwüngen, wird die mit der Rezession einhergehende Zunahme der Arbeitslosenquote in der nachfolgenden Phase des wirtschaftlichen Aufschwungs nicht mehr gänzlich abgebaut. Stattdessen verharrt die Arbeitslosenquote selbst am Ende der auf die Krise folgenden Erholungsphase des Arbeitsmarktes auf einem höheren Niveau als vor der Rezession. Somit entsteht eine so genannte Sockelarbeitslosigkeit, die sich mit jedem folgenden Konjunkturzyklus erhöht. Ihr absolutes Maximum zwischen 1956 und 2010 erreicht die Arbeitslosigkeit im Jahr 2005 bei einer Arbeitslosenquote von 11,24%. Seitdem sinkt die Arbeitslosenquote kontinuierlich und hat seit 2008 den Trend einer steigenden Sockelarbeitslosigkeit gebrochen, denn die Arbeitslosenquote ist geringer als am Ende der Aufschwungphase des vorherigen Konjunkturzyklus (Edling 2006: 275, Fischer et al. 2009, Möller 2010: 324). Aus theoretischer Perspektive der Arbeitsmarktökonomie ist zu erwarten, dass sich eine steigende strukturelle Arbeitslosigkeit positiv auf die Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung auswirkt, da ein Überschussangebot an Arbeitskräften die Verhandlungsposition der Arbeitnehmer in Lohnverhandlungen schwächt und folglich ihre Reservationslöhne sinken (vgl. Kap. 3.3). Dieser theoretisch erwartete Zusammenhang spiegelt sich allerdings nicht bei einer parallelen Analyse der Entwicklung des Anteils der Niedriglohnbeschäftigung und der Höhe der Arbeitslosigkeit in Deutschland zwischen 1980 und 2010: In dem Zeitraum von 1980 bis 1996 verändert sich die Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung in Westdeutschland kaum, sondern schwankt zwischen 14% und 15% (vgl. Abb. 6.5). Dahingegen sind in demselben Zeitraum starke zyklische 144 145

Organization of the Petroleum Exporting Countries (Organisation erdölexportierender Länder). Konjunkturabschwünge der deutschen Wirtschaft: Zweite Ölpreiskrise 1980, Wiedervereinigungskrise 1992/1993, Krise nach dem Platzen der Dotcom-Blase 2001 bzw. den Terroranschlägen am 11. September 2001 in New York.

6.2 Der Fall Deutschland

323

Schwankungen der Arbeitslosenquote, ein trendmäßiger Anstieg der Arbeitslosenquote sowie eine steigende Sockelarbeitslosigkeit zu beobachten (vgl. Abb. 6.6). Folglich existiert in den Jahren von 1980 bis 1996 kein theoretisch plausibler Zusammenhang zwischen der Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung und der Höhe der Arbeitslosigkeit. Ab 1997 beginnt in Westdeutschland (und Gesamtdeutschland) ein deutliches Wachstum der Niedriglohnbeschäftigung, das trendmäßig bis 2010 anhält. Ostdeutschland verzeichnet von 1995 bis 2010 zwar auch einen trendmäßigen Anstieg der Niedriglohnempfänger, dieser fällt aber deutlich geringer aus als in Westdeutschland. In der Zeitspanne von 1997 bis 2005 setzt sich der seit 1973 anhaltende trendmäßige Anstieg der Arbeitslosigkeit in Deutschland fort. Auf der Ebene des allgemeinen Entwicklungstrends besteht somit zwischen 1997 bis 2005 eine theoretisch plausible Kovarianz zwischen der Entwicklung der zwei Variablen, da sowohl die Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung als auch die Arbeitslosenquote einen Anstieg verzeichnen. Jenseits des Entwicklungstrends zeigt die Arbeitslosenquote jedoch starke zyklische Schwankungen, so dass die Arbeitslosenquote letztlich nur von 2002 bis 2005 eine theoretisch plausible Kovarianz mit dem wachsenden Niedriglohnsektor zeigt. Von 2006 bis zum Ende der Zeitreihe im Jahr 2010 sinkt die Arbeitslosequote und bricht sogar das Muster einer steigenden Sockelarbeitslosigkeit. In demselben Zeitraum ist entgegen der theoretischen Erwartungen jedoch kein Rückgang, sondern ein weiterer Anstieg der Niedriglohnbeschäftigung zu beobachten. Resümierend lässt sich konstatieren, dass die Entwicklung des deutschen Niedriglohnsektors und die Entwicklung der Arbeitslosenquote keine theoretisch plausible Kovarianz in dem Zeitraum von 1980 bis 2010 aufweisen. Somit deutet die Analyse der Daten auch nicht darauf hin, dass der ab 1997 zu beobachtenden Anstieg der Niedriglohnbeschäftigung durch Veränderungen in der Höhe der Arbeitslosigkeit verursacht wird. 6.2.3 Entwicklung der Arbeitsmarktinstitutionen Nachdem die zeitliche Varianz der Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung in Deutschland sowie deren fehlende Kovarianz mit der Entwicklung der Arbeitslosenquote diskutiert wurden, gilt es nun zu untersuchen, inwiefern die Veränderung der Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung durch den institutionellen Wandel von Arbeitsmarktinstitutionen erklärt werden kann. Zur Beantwortung dieser Frage wird für den Zeitraum von 1980 bis 2010 die Ausgestaltung all

324

6 Das Puzzle der konservativen Wohlfahrtsstaaten

jener Arbeitsmarktinstitutionen untersucht, die in Kapitel 6.1.2 als effektive institutionelle Bremsen für die Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung klassifiziert wurden. Zusätzlich wird die Entwicklung der aktiven Arbeitsmarktpolitik untersucht, um diesen wichtigen Bereich staatlicher Arbeitsmarktpolitik nicht aus der Analyse auszuschließen. Im Jahr 2010 existieren in Deutschland keine effektiven institutionellen Bremsen für die Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung (vgl. Tab. 6.7). Ausgehend von diesem Befund werden die Arbeitsmarktinstitutionen daraufhin untersucht, ob sie in den vorausgehenden Jahren bzw. Jahrzehnten stärker Niedriglohnbeschäftigung eingrenzende Merkmalsausprägungen hatten und somit als effektive institutionelle Bremsen für die Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung fungiert haben könnten. Zur Untersuchung der zeitlichen Entwicklung der Arbeitsmarktinstitutionen werden die Indikatoren zur Operationalisierung dieser Institutionen in Abbildung 6.7 mit Hilfe von Liniendiagrammen dargestellt. Allerdings existieren nicht für alle Indikatoren Daten, die den gesamten Zeitraum von 1980 bis 2010 umfassen. Am wenigsten Beobachtungen liegen für den Indikator der Strenge der Leistungsanspruchskriterien für den Bezug von Arbeitslosengeld vor, da dieser Indikator nur für das Jahr 2010 berechnet wurde (Venn 2012). Der in Abbildung 6.7 dargestellte Indikator über die Generosität der Arbeitslosenunterstützung deckt jedoch auch Elemente des Indikators zur Strenge der Leistungsanspruchskriterien ab. Die Entwicklung der übrigen Elemente der Leistungsanspruchskriterien, wie zum Beispiel Kriterien für zumutbare Jobangebote oder Sanktionsregelungen bei Pflichtverletzungen seitens der Leistungsempfänger, werden nachfolgend in narrativer Form dargestellt. 6,0 5,0 4,0 3,0 2,0 1,0 0,0

5,00 2,68 2,58

2,87

2,50 1,00

Strenge der Regulierung regulärer Beschäftigung Strenge der Regulierung atypischer Beschäftigung

Abbildung 6.7: Entwicklung von Arbeitsmarktinstitutionen in Deutschland

6.2 Der Fall Deutschland 14,0 12,0

12,00

325 12,10

11,30

11,30

10,0 8,0 6,0

10,00

4,0 2,0 0,0

Generosität der Arbeitslosenunterstützung 1,48

1,6 1,4 1,2 1,0 0,8 0,6 0,4 0,2 0,0

0,90 0,58

Ausgaben für aktive Arbeitsmarktpolitik (in % vom BIP) 90,0 80,0 70,0 60,0 50,0 40,0 30,0 20,0 10,0 0,0

80,80 85,00

85,00

85,00

76,00 63,00 63,00

Tarifbindung Westdeutschland

Tarifbindung Ostdeutschland

Tarifbindung Deutschland gesamt

Abbildung 6.7: Entwicklung von Arbeitsmarktinstitutionen in Deutschland (Fortsetzung)

59,80 50,00

326

6 Das Puzzle der konservativen Wohlfahrtsstaaten

Obschon von 1980 bis 2010 Daten zur Ausgestaltung der Institution der Allgemeinverbindlichkeitserklärung von Tarifverträgen vorliegen, wird die Entwicklung dieser Arbeitsmarktinstitution nicht in Abbildung 6.7 abgebildet, da sich ihr 146 Design über den gesamten Zeitraum nicht verändert hat. Folglich kann diese Arbeitsmarktinstitution nicht ursächlich für den ab 1997 einsetzenden Anstieg der Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung sein. Darüber hinaus enthält Abbildung 6.7 keine Zeitreihe über die Existenz bzw. die Höhe von Mindestlöhnen, da von 1980 bis 2010 in Deutschland keine gesetzlichen Mindestlöhne existieren. Ein allgemeiner gesetzlicher Mindestlohn wurde in Deutschland erst im Jahr 2015 eingeführt. Die Indikatoren in Abbildung 6.7 sind nur teilweise identisch mit den Indikatoren der ländervergleichenden Querschnittsanalysen, da nicht alle in diesem Kontext verwendeten Indikatoren als Zeitreihendaten vorliegen. Aus diesem Grund wird als Indikator für die Generosität der Arbeitslosenunterstützung nicht die Nettolohnersatzleistungsquote der OECD, sondern ein Index über die Generosität der Arbeitslosenversicherung (Scruggs et al. 2014) verwendet. Bei der Tarifbindung werden die Daten der OECD (Tarifbindung in Deutschland) um Daten des WSI (Tarifbindung in Ost- und Westdeutschland) ergänzt, da bei dieser Arbeitsmarktinstitution erhebliche Unterschiede zwischen den neuen und den alten Bundesländern bestehen. Grundsätzlich gilt, dass sich die Daten bis 1990 auf das frühere Gebiet der Bundesrepublik beziehen, sofern die Zeitreihen nicht nach Ost- und Westdeutschland differenzieren. Entwicklung der Strenge der Beschäftigungsregulierung Das erste Liniendiagramm in Abbildung 6.7 stellt die Entwicklung der Strenge der Regulierung regulärer und atypischer Beschäftigungsverhältnisse dar. Während sich die Regulierung des Normalarbeitsverhältnisses kaum verändert bzw. 2010 sogar leicht strenger ist als 1985, sinkt die Strenge der Regulierung atypischer Beschäftigung in demselben Zeitraum eklatant. Das starke Absinken der Regulierungsstrenge von 1985 auf 1986 wird durch die Neuregelung befristeter Beschäftigungsverhältnisse durch das Beschäftigungsförderungsgesetz von 1985 (BeschFG 1985) verursacht. Bis 1985 war befristete Beschäftigung, die über die 146

Tarifverträge werden in Deutschland nur selten allgemeinverbindlich erklärt. Diese Institution der staatlichen Arbeitsmarktregulierung kommt nur in einigen Branchen zur Anwendung, da es hohe Schwellenwerte zu berücksichtigen gibt.

6.2 Der Fall Deutschland

327

Probezeit hinausging, nur dann zulässig, wenn ein besonderer Sachgrund bestand, dessen Zulässigkeit durch ein Arbeitsgericht überprüft werden musste. Da nur wenige Sachgründe geltend gemacht werden konnten, setzte diese Regelung einerseits der Verbreitung befristeter Beschäftigung enge Grenzen und verhinderte andererseits eine Umgehung des Kündigungsschutzes (DGB 2017). Mit dem Ziel die steigende Arbeitslosigkeit durch eine Deregulierung des Arbeitsrechts zu reduzieren, wurde im Rahmen des BeschFG 1985 das Verbot der sachgrundlosen Befristung abgeschafft. Durch die erleichterte Zulassung befristeter Arbeitsverträge sollte für die Unternehmen das wirtschaftliche Risiko bei der Einstellung neuer Mitarbeiter reduziert bzw. ihre personalwirtschaftliche Flexibilität erhöht werden. Trotzdem das BeschFG 1985 als Reaktion auf den starken Anstieg der Arbeitslosigkeit ab 1981 zu verstehen ist (vgl. Abb. 6.6), betraf der Abbau arbeitsrechtlicher Schutzrechte nicht das Normalarbeitsverhältnis, sondern ausschließlich atypische Beschäftigungsverhältnisse. Nach Inkrafttreten des Gesetzes konnten Arbeitnehmer bis zu achtzehn Monate (in Ausnahmefällen auch bis zu 24 Monate) ohne Sachgrund und ohne richterliche Missbrauchskontrolle befristet beschäftigt werden. Darüber hinaus wurde die Höchstdauer der Überlassung von Leiharbeitnehmern an denselben Arbeitgeber von drei auf sechs Monate verlängert. Obschon diese Regelungen zunächst nur befristet eingeführt waren, wurden sie zunächst mehrfach verlängert und letztlich nicht mehr abgeschafft (Rudolph 1987: 288; Zohlnhöfer 2000: 666). Vor dem Hintergrund des Ziels der Beschäftigungsförderung wurde die Regulierungsstrenge atypischer Beschäftigung bis 2010 immer weiter reduziert. Wesentliche Instrumente dieser fortschreitenden Deregulierung sind die Verlängerung der maximalen Dauer sachgrundloser Befristung, die Ausweitung der Möglichkeiten zu sachgrundlos befristeten Arbeitsverträgen sowie die Verlängerung der Höchstüberlassungsdauer von Leiharbeitnehmern (Zeibig 2011: 3). So wurde zum Beispiel im Rahmen des Arbeitsförderungs-Reformgesetz (AFRG) von 1997 die maximale Überlassungsdauer von Leiharbeitnehmern an denselben Arbeitgeber auf zwölf Monate verlängert. Im Zuge des Ersten Gesetzes für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt (Hartz I) von 2003 wurde schlussendlich jede zeitliche Begrenzung für die Arbeitnehmerüberlassung abgeschafft. Vor 1985 ist die Strenge der Regulierung atypischer Beschäftigungsverhältnisse mit großer Wahrscheinlichkeit eine effektive institutionelle Bremse für die Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung, denn befristete Beschäftigungsverhältnisse sind mit Ausnahmen weniger Sachgründe verboten. Aber auch nach der

328

6 Das Puzzle der konservativen Wohlfahrtsstaaten

ersten starken Deregulierung atypischer Beschäftigung durch das BeschFG 1985 ist atypische Beschäftigung weiterhin strenger reguliert als reguläre Beschäftigung. Daher ist es aus theoretischer Perspektive plausibel anzunehmen, dass die Strenge der Regulierung atypischer Beschäftigung weiterhin als effektive institutionelle Bremse für die Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung wirkt, denn Arbeitgebern werden keine direkten Anreize zur Schaffung atypischer Beschäftigungsverhältnisse gesetzt. Ab 1997 entsteht erstmalig eine regulative Konstellation, in der die Regulierung atypischer Beschäftigungsverhältnisse weniger streng ist als die Regulierung regulärer Beschäftigungsverhältnisse. Somit verkehrt sich 1997 die Richtung des institutionellen Dualismus der Beschäftigungsregulierung zugunsten der Insider und zulasten der Outsider. Folglich ist aus theoretischer Perspektive ab 1997 nicht mehr plausibel davon auszugehen, dass die Regulierungsstrenge atypischer Beschäftigung als effektive institutionelle Bremse für die Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung wirkt. Das Phänomen einer Outsider benachteiligenden Dualisierung der Beschäftigungsregulierung verstärkt sich in den nachfolgenden Jahren aufgrund weiterer Deregulierungsmaßnahmen im Bereich der atypischen Beschäftigung sowie einer leichten Zunahme der Regulierungsstrenge regulärer Beschäftigung. Insgesamt durchläuft in Deutschland sowohl die Richtung als auch das Ausmaß der Regulierungsdifferenz zwischen regulärer und atypischer Beschäftigung in der Zeitspanne von 1985 bis 2010 eine beachtliche Veränderung. Der Wechsel der Richtung des institutionellen Dualismus der Beschäftigungsregulierung im Jahr 1997 sowie die danach weiter zunehmende relative Benachteiligung der Outsider zeigt eine theoretisch plausible Kovarianz mit dem Beginn des kontinuierlichen Anstiegs der Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung ab 1997. Entwicklung der Generosität der Arbeitslosenunterstützung und der Leistungsanspruchskriterien Das zweite Liniendiagramm in Abbildung 6.7 bildet die Generosität der Arbeitslosenunterstützung anhand eines Indexes ab. Dieser Index setzt sich aus der Lohnersatzleistungsquote für Singles und Familien, der Anspruchsdauer der Arbeitslosenunterstützung, der Wartezeit bis zur Auszahlung des Arbeitslosengeldes nach Beginn der Arbeitslosigkeit, der Mindestbeschäftigungsdauer für den Bezug von Arbeitslosenunterstützung sowie dem Anteil der Arbeitnehmer mit Anspruch auf Arbeitslosenunterstützung zusammen (Scruggs/Allen 2005: 12). In dem Zeitraum von 1980 bis 1996 schwankt der Index zwischen den Werten 12,1 und 13,1. Ab 1997 sinkt die Generosität der Arbeitsloseunterstützung

6.2 Der Fall Deutschland

329

relativ kontinuierlich auf einen Indexwert von 10,0 im Jahr 2010. Der allgemeine Abwärtstrend der Generosität der Arbeitslosenunterstützung setzt allerdings bereits im Jahr 1992 ein. Aus theoretischer Perspektive steht die sinkende Generosität der Arbeitslosenunterstützung mit dem Anstieg der Niedriglohnbeschäftigung in Einklang. Auch die Tatsache, dass der Generositäts-Index ab 1996 unter das Niveau der vorherigen Jahre sinkt, fällt mit dem Beginn des Wachstums des Niedriglohnsektors zusammen. Gemeinsam können diese Beobachtungen als Hinweis darauf gewertet werden, dass die Generosität der Arbeitslosenunterstützung bis Mitte der 1990er Jahre die Funktion einer effektiven institutionellen Bremse für die Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung erfüllt hat. Die Analyse der Entwicklung der einzelnen Komponenten des GenerositätsIndexes zeigt, dass primär zwei Komponenten die sinkende Generosität der Arbeitslosenunterstützung verursachen: Erstens sinkt der Anteil der Arbeitnehmer mit Anspruch auf Arbeitslosenunterstützung mit einer durchschnittlichen negativen Wachstumsrate von -0,51% von 89% im Jahr 1980 auf 76% im Jahr 2010. Zweitens sinkt die Lohnersatzleistungsquote für Singles von 68% im Jahr 1980 auf 63% im Jahr 1984. Im Jahr 1994 sinkt die Lohnersatzleistungsquote dann auf 60% und behält dieses Niveau bis 2010. Den stärksten Rückgang der Generosität verzeichnet der Index im Jahr 2005, aber auch die Jahre vor und nach 2005 sind durch ein starkes Absinken der Generosität der Arbeitslosenunterstützung gekennzeichnet. Im Vergleich zu dem gesamten Beobachtungszeitraum von 1980 bis 2010 stellen die Jahre 2003 bis 2006 die Zeitspanne mit dem stärksten Rückgang der Generosität der Arbeitslosenunterstützung dar. Ursächlich für den Generositätsverlust der Arbeitslosenunterstützung in den Jahren von 2003 bis 2006 sind die vier Gesetze für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt (auch als Hartz-Gesetze oder Hartz-Reformen bezeichnet). Diese Gesetze konstituieren den Kern einer tiefgreifenden Reform der deut147 schen Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik, der so genannten Agenda 2010. Die Ziele der Reformen bestanden darin, die Langzeitarbeitslosigkeit zu reduzieren, 147

Zur Vorbereitung der Agenda 2010 setzte die von SPD und Bündnis 90/Die Grünen geführte Bundesregierung zu Beginn des Jahres 2002 die Kommission für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt ein. Vorsitzender dieser Kommission war Peter Hartz, ein Vorstandsmitglied der Volkswagen AG. Die von der Kommission erarbeiteten Vorschläge wurden in den Gesetzen für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt weitgehend umgesetzt. Aus diesem Grund werden die Gesetze auch als Hartz I, II, III und IV bezeichnet.

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6 Das Puzzle der konservativen Wohlfahrtsstaaten

die Erwerbsbeteiligung zu erhöhen und die Abhängigkeit von Transferleistungen aufgrund von Arbeitslosigkeit zu reduzieren. Um diese Ziele zu erreichen, wurde die aktivierende Arbeitsmarktpolitik und das damit verbundene Prinzip des Förderns und Forderns zum Leitmotiv der Arbeitsmarktpolitik erhoben. Das Aktivierungsparadigma betont die Eigenverantwortung des Individuums bei der Vermarktung seiner Arbeitskraft und betrachtet Arbeitslosigkeit daher als Folge individueller Verhaltensdefizite. Vor dem Hintergrund dieser Maxime fokussiert die aktivierende Arbeitsmarktpolitik das individuelle Verhalten der Arbeitslosen und zielt durch die Ausgestaltung der Arbeitsmarktinstitutionen darauf ab, erwünschtes Verhalten zu fördern bzw. unerwünschtes Verhalten zu verhindern. Die wesentlichen Ziele der Verhaltensregulierung beziehen sich auf die Förderung der Bereitschaft zur Beschäftigungsaufnahme, die Förderung der Eigenverantwortung bezüglich einer schnellen Arbeitsmarktintegration sowie den Erhalt bzw. die Herstellung der Beschäftigungsfähigkeit der Arbeitslosen. Grundsätzlich kann wünschenswertes Verhalten im Rahmen der aktivierenden Arbeitsmarktpolitik entweder durch positive oder durch negative Anreize herbeigeführt werden. In den Hartz-Reformen dominierte die repressive Variante der aktivierenden Arbeitsmarktpolitik. Durch die Reduzierung und Konditionalisierung der Arbeitslosenunterstützung sowie die Verschärfung der Zumutbarkeitskriterien wurden negative Anreize zur Arbeitsmarktintegration geschaffen, die letztlich eine Zunahme atypischer und niedrig entlohnter Arbeitsverhältnisse förderten (Dingeldey 2007, Fleckenstein 2008, Hassel/Schiller 2010, Marquardsen 2007, Mohr 2009). Das erste, dritte und vierte Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt hatten deutliche negative Auswirkungen auf die Generosität der Arbeitslosenunterstützung. So verlängerten die zu Jahresbeginn 2003 in Kraft getretenen Regelungen von Hartz I zum Beispiel die Sperrzeiten für das Arbeitslosengeld bei Eigenkündigung, Arbeitsablehnung sowie Ablehnung oder Abbruch einer beruflichen Eingliederungsmaßnahme. Zudem wurde die Arbeitslosenhilfe gekürzt, indem das Partnereinkommen bei der Bedürftigkeitsprüfung stärker angerechnet, der Vermögensfreibetrag gesenkt und die Anpassung der Arbeitslosehilfe an die Lohnentwicklung abgeschafft wurde. Diese Entdynamisierung der Transferleistungshöhe wurde auch auf das Arbeitslosengeld übertragen. Im Rahmen der zu Jahresbeginn 2004 in Kraft getretenen Regelungen von Hartz III wurden die Sperrzeitregelungen bei mangelnder Eigeninitiative bei der Stellensuche verschärft. Eine besonders starke negative Wirkung auf die Generosi-

6.2 Der Fall Deutschland

331

tät der Arbeitslosenunterstützung ging allerdings von der Neuregelung der Voraussetzungen sowie der Anspruchsdauer für den Arbeitslosengeldbezug aus. Einerseits muss die Vorversicherungszeit von zwölf Monaten innerhalb von zwei Jahren (statt innerhalb von drei Jahren) erreicht werden, um Anspruch auf Arbeitslosengeld zu haben. Andererseits beträgt die Anspruchsdauer auf Arbeitslosengeld nur noch zwölf Monate bzw. für Arbeitnehmer ab 55 Jahren maximal achtzehn Monate (statt vorher 32 Monate). Mit dieser Neuregelung wurde sowohl der Kreis der Leistungsberechtigten als auch der Kreis der Leistungsbezieher deutlich verkleinert. Das Kernelement der im Januar 2005 in Kraft getretenen Regelungen von Hartz IV war die Zusammenführung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe zum Arbeits148 losengeld II (ALG II). Transferleistungen, die im Rahmen der gesetzlichen Arbeitslosenversicherung ausgezahlt werden, hießen seitdem Arbeitslosengeld I (ALG I). Mit dem vierten Hartz-Gesetz wurde nicht nur das vorher dreigliedrige soziale Sicherungssystem bei Arbeitslosigkeit (bestehend aus Arbeitslosengeld, Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe) in ein zweigliedriges System umgewandelt, sondern auch erhebliche Leistungskürzungen für ehemalige Empfänger von Arbeitslosenhilfe eingeführt. Aufgrund der relativ kurzen Bezugsdauer des ALG I von zwölf Monaten bzw. achtzehn Monaten für ältere Arbeitnehmer, wurde ALG II das soziale Sicherungssystem für alle Langzeitarbeitslosen. Während das Leitprinzip der Arbeitslosenhilfe eine eingeschränkte Lebensstandardsicherung war und sich die Leistungshöhe nach dem früheren Nettoeinkommen richtete, entspricht das Leitprinzip des bedürftigkeitsgeprüften ALG II dem Leitprinzip der Sozialhilfe, nämlich der Armutsvermeidung. Im Gegensatz zu der Arbeitslosenhilfe betont das ALG II die Eigenverantwortung der Arbeitslosen für ihre Reintegration in den Arbeitsmarkt, unterstützt die Arbeitsmarktintegration jedoch auch aktiv durch positive und insbesondere negative Anreize. Aufgrund dieser Ziele hat das ALG II auch deutlich striktere Zumutbarkeitskriterien als die Arbeitslosenhilfe. Für Arbeitslosenhilfeempfänger waren die Zumutbarkeitsregelungen zwar nach Dauer der Arbeitslosigkeit abgestuft, aber als zumutbar geltende Arbeit musste ein Mindestnettogehalt in der Höhe der Lohnersatzleistung haben. Die Zumutbarkeitskriterien des ALG II haben dahingegen deutliche Ähnlichkeit mit jenen der Sozialhilfe, da jede nicht sittenwidrige Arbeit als zumutbar gilt, auch wenn sie unterhalb des ortsüblichen Lohns entlohnt wird oder es sich

148

Das Arbeitslosengeld II wird umgangssprachlich auch als Hartz IV bezeichnet.

332

6 Das Puzzle der konservativen Wohlfahrtsstaaten 149

um so genannte Ein-Euro Jobs handelt. Wenn Empfänger von ALG II ein zumutbares Arbeitsangebot ablehnen, nicht genügend Bemühungen bei der Arbeitsplatzsuche zeigen oder eine berufliche Eingliederungsmaßnahme ablehnen oder abbrechen, folgen Sanktionen in Form von Sperrzeiten oder Leistungskürzungen (Adamy 2012, Hassel/Schiller 2010). In der Summe markieren die Hartz-Reformen eine deutliche Abwendung von der konservativen Leitidee der Status-Hierarchie sowie dem Prinzip der Lebensstandardsicherung. Durch ihren rekommodifizierenden Charakter sowie die Betonung der repressiven Variante aktivierender Arbeitsmarktpolitik ähneln die Hartz-Reformen eher liberalen als konservativen arbeitsmarktpolitischen Orientierungen. Die klassischen konservativen Leitideen der Statussicherung und Lebensstandardsicherung gelten mit Einschränkungen nur noch für den relativ kleinen Kreis von Kurzzeitarbeitslosen, während sie für Langzeitarbeitslose keine Gültigkeit mehr haben (Fleckenstein 2008, Seeleib-Kaiser/Fleckenstein 2007). Obschon die Reformen der Agenda 2010 eine erhebliche Veränderung der Konzeption der deutschen Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik darstellen, sind die HartzReformen nicht der Beginn einer Annäherung der deutschen Arbeitsmarktpolitik an liberale Leitideen, sondern der vorläufige Kulminationspunkt eines Prozesses der Veränderung arbeitsmarktpolitischer Orientierungen, der bereits Anfang bzw. Mitte der 1990er Jahre begann (Fleckenstein 2008, Mohr 2009). Die Phase von 1970 bis zur deutschen Wiedereinigung 1989/90 war zwar durch zahlreiche leistungsrechtliche Veränderungen des Arbeitslosengeldes und der Arbeitslosenhilfe geprägt, aber es existierte keine einheitliche Richtung dieser Veränderungen. Stattdessen sind Wellenbewegungen zwischen Ausweitung und Reduktion der Generosität der Arbeitslosenunterstützung zu beobachten. Die Wiedervereinigung stellte die Arbeitsmarkpolitik und insbesondere das System der Arbeitslosenversicherung vor enorme Herausforderungen. Da in den neuen Bundesländern ca. zwei Drittel der Arbeitsplätze verloren gingen, kam es zu einem sehr starken Anstieg der Arbeitslosigkeit (vgl. Abb. 6.6). Gleichzeitig wur149

Der Ein-Euro Job ist eine mit öffentlichen Mitteln geförderte Eingliederungsmaßnahme für Empfänger von ALG II, die im öffentlichen Interesse sein muss (gemeinnützige Arbeit). Ein-EuroJobs sind besondere Beschäftigungsverhältnisse ohne Arbeitsvertrag, die nicht regulär entlohnt werden. Stattdessen erhalten ALG II Empfänger eine Entschädigung für Mehraufwendungen, die einen oder zwei Euro pro Stunde betragen kann. Diese Entschädigung wird nicht auf das ALG II angerechnet (§ 16d SGB II).

6.2 Der Fall Deutschland

333

de der Kreis der Anspruchsberechtigten auf Arbeitslosengeld auf alle ehemaligen DDR-Bürger ausgedehnt ohne Kürzungen bei der Höhe der Lohnersatzleistungsquote vorzunehmen. Um die Mehrausgaben der Arbeitslosenversicherung finanzieren zu können, wurde der Beitragssatz zur gesetzlichen Arbeitslosenver150 sicherung 1991 von 4,3% auf 6,8% angehoben. Ab 1993 leitete die konservativ-liberale Regierung jedoch den Prozess der Leistungskürzungen und Aktivierung ein. So wurden zum Beispiel im Gesetz zur Änderung von Fördervoraussetzungen im Arbeitsförderungsgesetz von 1993 die Sperrzeiten für das Arbeitslosengeld wegen Arbeitsaufgabe verlängert, die Anrechnung von Kündigungsabfindungen auf die Anspruchsdauer auf Arbeitslosengeld implementiert sowie Leistungskürzungen bei Ablehnung einer Maßnahme der Arbeitsberatung eingeführt. Im Rahmen des Ersten Gesetzes zur Umsetzung des Spar-, Konsolidierungs-und Wachstumsprogramms von 1994 wurden zum einen die Lohnersatzleistungsquote des Arbeitslosengeldes auf 60% für kinderlose Arbeitslose und 67% für Arbeitslose mit minderjährigen Kindern gekürzt. Zum anderen wurde die Arbeitslosenhilfe für Kinderlose von 56% auf 53% bzw. für Arbeitslose mit minderjährigen Kindern von 58% auf 57% gekürzt. Darüber hinaus richtete die Regierung die aktive Arbeitsmarktpolitik zunehmend darauf aus, die Arbeitswilligkeit der Arbeitslosenhilfeempfänger zu testen und alle als arbeitsunwillig klassifizierten Transferleistungsempfänger durch Sanktionen zu disziplinieren. Qualifizierungsmaßnahmen sowie die Vermittlung der Arbeitslosenhilfeempfänger in gut bezahlte, reguläre Arbeitsverhältnisse rückten zunehmend in den Hintergrund gegenüber dem Ziel einer schnellen Arbeitsmarktintegration, bei der auch atypische und niedrig entlohnte Jobs als angemessen betrachtet wurden. Mit dem ArbeitsförderungsReformgesetz von 1997/1998 wurde das Aktivierungsparadigma endgültig in der deutschen Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik verankert. Zum ersten Mal betonte ein Gesetz die Aufgabe des Arbeitslosen für seine Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt zu sorgen stärker als die Aufgabe des Staates für Vollbeschäftigung zu sorgen. Als Konsequenz dieses Perspektivwechsels bezüglich der Verantwortlichkeit für das Phänomen der Arbeitslosigkeit wurden primär die negativen Arbeitsanreize gestärkt, indem sowohl die Leistungsanspruchskriterien als auch die Zumutbarkeitskriterien verschärft wurden. So wurde zum Beispiel etabliert, dass ab dem siebten Monat der Arbeitslosigkeit jedes Arbeitsangebot 150

1992 wurde der Beitragssatz zur gesetzlichen Arbeitslosenversicherung auf 6,3% reduziert und 1993 dann auf 6,5% angehoben. Erst 2007 wurde dieser Beitragssatz wieder gesenkt, nämlich auf 4,2%.

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6 Das Puzzle der konservativen Wohlfahrtsstaaten

zumutbar ist, dessen Nettolohn der Höhe des Arbeitslosengeldes entspricht. Des Weiteren wurden die Leistungskürzungen verschärft, wenn Arbeitslose nicht nachweisen können aktiv nach einem Arbeitsplatz zu suchen oder ein zumutbares Arbeitsangebot ablehnen. Auch die Sperrzeiten, wenn ein Arbeitnehmer ein Arbeitsverhältnis kündigt ohne bereits ein neues Arbeitsangebot zu haben, wurden verlängert (Rosenthal 2012, Seeleib-Kaiser/Fleckenstein 2007, Steffen 2018). Insgesamt verdeutlichen diese Beispiele, dass die aktivierende Arbeitsmarktpolitik nicht erst mit den Hartz-Reformen begann, sondern ein merkliches Absinken der Generosität der Arbeitslosenunterstützung sowie eine Verschärfung der Leistungsanspruchskriterien, d.h. also ein Prozess der Rekommodifizierung der Arbeitskräfte, bereits ab Anfang bzw. Mitte der 1990er Jahre einsetzte. Somit zeigt sich eine theoretisch plausible Kovarianz zwischen dem Beginn des Prozesses der Rekommodifizierung und dem beginnenden Wachstum des Niedriglohnsektors. Entwicklung der aktiven Arbeitsmarktpolitik Das dritte Liniendiagramm in Abbildung 6.7 stellt die Entwicklung der aktiven Arbeitsmarktpolitik anhand der Ausgaben für aktive Arbeitsmarktpolitik als Prozentsatz des Bruttoinlandsproduktes dar. Diese Ausgaben zeigen zwar starke Veränderungen im Zeitverlauf, weisen aber keine Kovarianz mit der Entwicklung der Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung auf. Von 1985 bis 1992 steigen die Ausgaben fast ausschließlich an, so dass sie 1992 zweieinhalb Mal so hoch sind wie 1985 (1,48% des BIP statt 0,58% des BIP). Der höchsten Zuwachsraten der Ausgaben für aktive Arbeitsmarktpolitik sind dabei in den Jahren zwischen 1990 und 1992 zu beobachten. Die Ursache hierfür liegt in dem starken Anstieg der Arbeitslosenquote nach der Wiedervereinigung (vgl. Abb. 6.6) und der Notwendigkeit diesem Problem arbeitsmarktpolitisch zu begegnen. Vor diesem Hintergrund, und entgegen ihrer eigentlichen wirtschaftspolitischen Positionierung, weitete die konservativ-liberale Regierung massiv die Maßnahmen der aktiven Arbeitsmarktpolitik aus. Dieser „Vereinigungskeynesianismus wider Willen“ (Beyme 1994: 265) wurde jedoch nur eine relativ kurze Zeit praktiziert, denn ab 1993 begann die konservativ-liberale Regierung nicht nur damit die Ausgaben für aktive Arbeitsmarktpolitik zu senken, sondern reduzierte auch die Generosität der Arbeitslosenunterstützung und verschärfte die Leistungsanspruchskriterien. Der 1993 einsetzende Trend sinkender Ausga-

6.2 Der Fall Deutschland

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ben für aktive Arbeitsmarktpolitik dauert bis 2010 an. Allerdings ist die Ausgabenhöhe zwischen 1994 und 2005 relativ stabil und sinkt erst im Zuge der HartzReformen wieder stärker. 2010 betragen die Ausgaben für aktive Arbeitsmarktpolitik nur noch 0,9% vom BIP. Insgesamt zeigt die Entwicklung der Ausgaben für aktive Arbeitsmarktpolitik eine deutlich Reaktion auf den externen Schock der Wiedervereinigung, aber keinen Zusammenhang mit der Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung. Während das Ausgabenniveau in den Jahren von 1985 bis 1992 deutlich ansteigt, liegt der Anteil der Niedriglohnempfänger in Westdeutschland konstant zwischen 14% und 15% (vgl. Abb. 6.5). Auch auf die sinkenden Ausgaben für aktive Arbeitsmarktpolitik zwischen 1993 und 1997 reagiert der Anteil der Niedriglohnempfänger in Westdeutschland nicht, sondern beträgt weiterhin zwischen 14% und 15%. Ab 1997 setzt dann der Trend einer wachsenden Niedriglohnbeschäftigung ein, obschon die Ausgaben für aktive Arbeitsmarktpolitik zwischen 1997 und 2005 wenig Veränderung zeigen, sondern zwischen 1,1% und 1,3% des BIP schwanken. Ab 2005 ist zwar eine aus theoretischer Perspektive plausible Kovarianz zu beobachten (sinkende Ausgaben für aktive Arbeitsmarktpolitik und steigende Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung), aber das Ausgabenniveau für aktive Arbeitsmarktpolitik ist noch immer deutlich höher als im Jahre 1985, als der Anteil der Niedriglohnempfänger gut zehn Prozentpunkte geringer war. Diese Beobachtungen lassen darauf schließen, dass die Höhe der Ausgaben für aktive Arbeitsmarktpolitik keinen Einfluss auf die Entwicklung der Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung in Deutschland besitzt. Entwicklung der Tarifbindung Das letzte Liniendiagramm in Abbildung 6.7 bildet die Entwicklung der Tarifbindung ab. Die Tarifbindung wird anhand des Anteils der nach Tarifvertrag entlohnten Erwerbstätigen gemessen. Während die Daten für Gesamtdeutschland von der OECD stammen, sind die Daten für Ost- und Westdeutschland dem WSI-Tarifarchiv entnommen. Obschon die Daten der OECD bereits im Jahr 1980 beginnen, existieren bis 1995 lediglich im Fünfjahresintervall Beobachtungen. Die WSI-Daten beginnen sogar erst im Jahr 1998. Aufgrund dieser Lückenhaftigkeit der Zeitreihen wird in Abbildung 6.8 die Entwicklung der Gewerkschaftsdichte dargestellt, um einen besseren Eindruck über die Entwicklung der Verhandlungsmacht der Arbeitnehmer zu erhalten. Da in Deutschland über den

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6 Das Puzzle der konservativen Wohlfahrtsstaaten

gesamten Beobachtungszeitraum von 1980 bis 2010 die Institution der Allgemeinverbindlichkeitserklärung von Tarifverträgen konstant kaum Bedeutung hatte, ist die Gewerkschaftsdichte (neben dem Arbeitgeberorganisationsgrad) 151 die wesentliche Determinante der Tarifbindung. 40,0 35,0 30,0

35,99 34,90

25,0 20,0 18,56

15,0 10,0 5,0 0,0

Daten: ICTWSS.

Gewerkschaftsdichte

Abbildung 6.8: Entwicklung des gewerkschaftlichen Organisationsgrades in Deutschland

In den Jahren zwischen 1990 und 1995 setzt gemäß den Daten der OECD der Rückgang der Tarifbindung ein, da die Tarifbindung von 85% auf knapp 81% 152 sinkt (vgl. Abb. 6.7). Ab 1995 sinkt die Tarifbindung stetig und beträgt 2010 nur noch knapp 60% im gesamten Bundesgebiet. Bei der nach West- und Ostdeutschland differenzierten Betrachtung fällt auf, dass die Tarifbindung in Westdeutschland über den gesamten Beobachtungszeitraum von 1998 bis 2010 höher ist als in Ostdeutschland. Allerdings sinkt die Tarifbindung sowohl in den alten, als auch in den neuen Bundesländern in ungefähr gleichem Umfang, so dass keine Annäherung der Tarifbindung einsetzt. Die Entwicklung des gewerkschaftlichen Organisationsgrades spiegelt weitgehend den kontinuierlichen Abwärtstrend der Tarifbindung. 1980 beträgt die Gewerkschaftsdichte knapp 35% und fängt ab 1985 leicht an zu sinken. Im Jahr 151

152

Für den Arbeitgeberorganisationsgrad liegen kaum Beobachtungen vor. Die ICTWSS-Datenbank weist zwei Datenpunkte bezüglich des Arbeitgeberorganisationsgrads in Deutschland aus: 2002 arbeiteten 63% der Erwerbstätigen bei Arbeitgebern, die in einem Arbeitgeberverband organisiert waren. 2008 waren es nur noch 60%. Der genaue Zeitpunkt des beginnenden Rückgangs der Tarifbindung kann nicht bestimmt werden, da für die Jahre 1992 bis 1994 keine Beobachtungen existieren.

6.2 Der Fall Deutschland

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1990 sind nur noch 31,2% der Erwerbstätigen gewerkschaftlich organisiert. Der kurze Anstieg der Gewerkschaftsdichte auf fast 36% im Jahr 1991 ist durch die Wiedervereinigung zu erklären. Da sich die ostdeutschen Gewerkschaften auflösten, traten mehrere Millionen Neumitglieder in die westdeutschen Gewerkschaften ein. Ab 1992 sinkt der gewerkschaftliche Organisationsgrad jedoch schon wieder, da einerseits der Trend zum Gewerkschaftsaustritt (bzw. NichtEintritt) in Westdeutschland andauert und andererseits viele ostdeutsche Bürger im Zuge des Zusammenbruchs der Industrieproduktion in Ostdeutschland wieder aus der Gewerkschaft austreten (Schulze 2012: 95ff.). Seit 1992 sinkt die Gewerkschaftsdichte stetig und beträgt 2010 nur noch 18,56%. Somit hat sich die Gewerkschaftsdichte in der Zeitspanne von 1980 bis 2010 beinahe halbiert. Zusammenfassend lässt sich zu beiden Indikatoren feststellen, dass sowohl die Tarifbindung als auch die Gewerkschaftsdichte im Zeitverlauf immer stärker ihr Potenzial zur Begrenzung der Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung eingebüßt haben. Allerdings setzt sowohl der Rückgang der Tarifbindung als auch das Sinken des gewerkschaftlichen Organisationsgrades vor dem Beginn des Niedriglohnsektorwachstums im Jahr 1997 ein. Vor dem Hintergrund des theoretischen Wirkungsmechanismus zwischen der Tarifbindung (bzw. der Gewerkschaftsdichte) und der Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung ist diese Asynchronität jedoch insofern zu erklären, als dass institutioneller Wandel oftmals erst mit einer Zeitverzögerung seine Wirkung auf strukturelle Outcomes entwickelt (Green-Pedersen 2004: 8). Dieses Argument ist im Kontext von Arbeitsentgelten besonders plausibel, denn die Löhne bestehender Arbeitsverträge sind weniger von institutionellem Wandel betroffen als die Löhne neu abgeschlossener Arbeitsverträge. Somit kann sich der institutionelle Wandel erst mit einer gewissen Zeitverzögerung auf das Lohnniveau und die Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung auswirken. 6.2.4 Zusammenfassende Bewertung der Analyseergebnisse In Kapitel 6.2.3 wurde gezeigt, dass in dem Zeitraum von 1980 bis 2010 mehrere Arbeitsmarktinstitutionen in Deutschland einen institutionellen Wandel durchlaufen haben, der eine theoretisch plausible Kovarianz mit der Entwicklung der Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung aufweist. Dahingegen zeigt die Arbeitslosenquote in demselben Zeitraum keine theoretisch plausible Kovarianz mit der Entwicklung der Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung (vgl. Kap. 6.2.2). Das Ausmaß der Arbeitslosigkeit wirkt sich jedoch auf den institutionel-

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6 Das Puzzle der konservativen Wohlfahrtsstaaten

len Wandel staatlicher Arbeitsmarktinstitutionen aus, da die Arbeitslosenquote den zentralen Performanzindikator des Arbeitsmarktes darstellt. Eine hohe Arbeitslosenquote erzeugt folglich Problemdruck und hat in Deutschland mehrfach den Anstoß zu Reformen der staatlichen Arbeitsmarktpolitik und Arbeitsmarktregulierung geben (vgl. Kap. 6.2.3). Bis Mitte der 1990er Jahre schwankt der Anteil der Niedriglohnbeschäftigten in Deutschland zwischen 14% und 15%. Gleichzeitig deutet die Ausgestaltung mehrerer Arbeitsmarktinstitutionen darauf hin, dass sie die Funktion einer effektiven institutionellen Bremse für die Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung erfüllen. Zu diesen Arbeitsmarktinstitutionen gehören eine strenge Regulierung atypischer Beschäftigung, eine generöse Arbeitslosenunterstützung, geringe Leistungsanspruchskriterien sowie eine hohe Tarifbindung. Bei all diesen Arbeitsmarktinstitutionen setzt allerdings ab Anfang oder Mitte der 1990er Jahre ein anhaltender institutioneller Wandel ein, der ihre Niedriglohnbeschäftigung eingrenzenden Charakteristika schwächt und sie zunehmend nicht mehr als effektive institutionelle Bremsen qualifiziert. So verkehrt sich 1997 der institutionelle Dualismus der Beschäftigungsregulierung zulasten der Outsider, die Generosität der Arbeitslosenunterstützung sinkt erstmals unter das Niveau der Jahre von 1980 bis 1996, das Aktivierungsparadigma gewinnt ab 1997/ 1998 an Dominanz und die Tarifbindung sinkt seit 1995 kontinuierlich. Den Höhepunkt dieses Prozesses der Rekommodifizierung und Schwächung der Verhandlungsposition der Arbeitskraftanbieter bilden die Reformen der Agenda 2010. Sie stellen eine deutliche Abwendung von der konservativen Leitidee der StatusHierarchie sowie dem Prinzip der Lebensstandardsicherung dar. Ebenso wie der institutionelle Wandel setzt auch der Anstieg der Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung Mitte der 1990er Jahre ein. Somit zeigen sowohl der zeitliche Beginn als auch die Richtung des institutionellen Wandels eine theoretisch plausible Kovarianz mit dem Wachstum des deutschen Niedriglohnsektors. Insgesamt weisen die Analyseergebnisse aus Kapitel 6.2 darauf hin, dass Arbeitsmarktinstitutionen auch in der Längsschnittperspektive eine entscheidende Ursache der Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung darstellen. Allerdings verdeutlicht die Fallstudie zu Deutschland auch, dass institutioneller Wandel eine Schwächung der Prägekraft von wohlfahrtsstaatstypenspezifischen arbeitsmarktpolitischen Orientierungen für die Ausgestaltung staatlicher Arbeitsmarktinstitutionen bedeuten kann.

7 Fazit: Niedriglohnbeschäftigung als politisches Phänomen Die Forschungsagenda dieses Buches richtete sich auf die Untersuchung des Einflusses staatlicher Arbeitsmarktinstitutionen unter den Kontextbedingungen unterschiedlicher Wohlfahrtsstaatsmodelle auf die Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung in entwickelten Volkswirtschaften. In Übereinstimmung mit den theoretischen Erwartungen der Vergleichenden Politischen Ökonomie haben die empirischen Analysen gezeigt, dass die Ausgestaltung staatlicher Arbeitsmarktinstitutionen und die Konfiguration der Arbeitsmarktregime einen starken Einfluss auf die Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung ausüben. Die empirischen Analysen bestätigen im Großen und Ganzen auch die aus der Vergleichenden Wohlfahrtsstaatsforschung abgeleitete Erwartung, dass die ideellen und institutionellen Charakteristika unterschiedlicher Wohlfahrtsstaatstypen die Größe des Niedriglohnsektors beeinflussen. Insgesamt weisen die empirischen Befunde dieses Buches darauf hin, dass das theoretische Grundargument eines institutionell vermittelten Einflusses wohlfahrtsstaatlicher Leitideen auf die Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung einen validen Erklärungsansatz für die heterogene Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung in entwickelten Volkswirtschaften darstellt. Im Gegensatz zu dem neoklassischen Standardmodell des Arbeitsmarktes, betrachtet die Vergleichende Politische Ökonomie Arbeitsmarktinstitutionen nicht als Störvariablen, sondern als Bestimmungsfaktoren des Lohnbildungsprozesses und der Lohnstruktur (Franz 2006; North 1990; Saint-Paul 1996, 2000). Die empirischen Befunde dieses Buches haben gezeigt, dass diese politökonomische Erwartung auch für das lohnstrukturelle Arbeitsmarktphänomen der Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung Gültigkeit hat. Allerdings variiert die Erklärungsstärke unterschiedlicher Gruppen von Arbeitsmarktinstitutionen. Der Vergleich zwischen den Institutionen der industriellen Beziehungen und den staatlichen Arbeitsmarktinstitutionen verdeutlicht, dass letztere die erklärungsstärksten institutionellen Erklärungsfaktoren für die länderspezifische Varianz der Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung darstellen. Insbesondere die Regulierungsstrenge regulärer und atypischer Beschäftigungsverhältnisse, die Häufigkeit der Allgemeinverbindlichkeitserklärung von Tarifverträgen sowie die Strenge der Leistungsanspruchskriterien für den Bezug © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 V. Gerstung, Niedriglohnbeschäftigung im Wohlfahrtsstaat, Vergleichende Politikwissenschaft, https://doi.org/10.1007/978-3-658-27640-9_7

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7 Fazit: Niedriglohnbeschäftigung als politisches Phänomen

von Arbeitslosenunterstützung zeigen auch bei Kontrolle für alternative Erklärungsfaktoren einen starken Einfluss auf die Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung. Somit haben in den unteren Einkommenssegmenten die Art und das Ausmaß staatlicher Interventionen in den Arbeitsmarkt einen stärkeren Einfluss auf die Lohnhöhe, als Institutionen wie die Tarifbindung oder die Struktur des Tarifverhandlungssystems. Dieser Befund zeigt, dass die Größe des Niedriglohnsektors substanziell durch staatliche Institutionen geprägt wird und in diesem Sinne auch ein politisches Phänomen ist: Nicht das freie Spiel der Marktkräfte oder die von den Akteuren der verbandlichen Selbstregulierung geschaffenen Arbeitsmarktinstitutionen haben die stärkste Erklärungskraft für die Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung, sondern jene Arbeitsmarktinstitutionen, die der demokratischen Willensbildung unterliegen. Somit ist die Größe des Niedriglohnsektors kein Naturereignis. Stattdessen ist die Verbreitung niedrig entlohnter Arbeit in erheblichem Ausmaß ein Produkt politischer Entscheidungen, da der Gesetzgeber Handlungsspielräume bei der Ausgestaltung staatlicher Arbeitsmarktinstitutionen hat. Die Kombination der politökonomischen Perspektive auf den Arbeitsmarkt mit der Forschungstradition der Vergleichenden Wohlfahrtsstaatsforschung erlaubte eine theoretisch fundierte Erklärung für Unterschiede des institutionellen Designs staatlicher Arbeitsmarktinstitutionen: Alle entwickelten Volkswirtschaften können näherungsweise einem von fünf idealtypischen Wohlfahrtsstaatstypen zugeordnet werden - so entstehen fünf realtypische Wohlfahrtsstaatscluster. Jeder Wohlfahrtsstaatstypus ist durch spezifische normative und regulative Leitideen charakterisiert. Diese Leitideen stehen in einer Wechselbeziehung mit wohlfahrtsstaatlichen Institutionen und üben somit Prägekraft auf deren Ausgestaltung aus (Arts/Gelissen 2006; Esping-Andersen 1990; Lepsius 1990). Dieser Zusammenhang gilt auch für die Institutionen des Politikfelds der Arbeitsmarktpolitik, denn die Gestaltung der Funktionsweise des Arbeitsmarktes ist ein Kernelement wohlfahrtsstaatlicher Politik. Das theoretische Konstrukt der Ideenbezogenheit wohlfahrtsstaatlicher Institutionen erklärt, weshalb nicht alle entwickelten Volkswirtschaften ihre staatlichen Arbeitsmarktinstitutionen gleichermaßen nach dem idealtypischen Credo der Lohnarbeitsgesellschaft („Jede Arbeit ist besser als keine Arbeit.“) ausrichten: Wenn das institutionelle Design staatlicher Arbeitsmarktinstitutionen in der

7 Fazit: Niedriglohnbeschäftigung als politisches Phänomen

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Phase ihrer initialen Implementierung durch spezifische normative und regulative Leitideen geprägt wurde, entstehen im Zeitverlauf sowohl institutionelle als auch kognitive Pfadabhängigkeiten, die gemeinsam dem institutionellen Wandel staatlicher Arbeitsmarktinstitutionen Grenzen setzen (Blyth 2001; Pierson 2000). Folglich ist aus theoretischer Perspektive zu erwarten, dass sich eine wohlfahrtsstaatstypenspezifische Varianz der Ausgestaltung staatlicher Arbeitsmarktinstitutionen zeigt, von der ceteris paribus ein wohlfahrtsstaatstypenspezifischer Einfluss auf die Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung ausgeht. In Summe stützen die empirischen Befunde dieses Buches die theoretisch hergeleitete Erwartung eines institutionell vermittelten Einflusses wohlfahrtsstaatlicher Leitideen auf die Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung. Diese Schlussfolgerung basiert insbesondere auf den folgenden fünf Teilbefunden: 1. 2. 3. 4.

5.

Die Gruppierung entwickelter Volkswirtschaften in Wohlfahrtsstaatscluster hat eine sehr hohe Erklärungskraft für die Varianz der Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung. Insbesondere Wohlfahrtsstaatscluster mit großen ideellen Unterschieden weisen signifikante Unterschiede in ihrer mittleren Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung auf. Die länderspezifische Zusammensetzung der Cluster staatlicher Arbeitsmarktregime zeigt deutliche Ähnlichkeit mit der länderspezifischen Zusammensetzung der realtypischen Wohlfahrtsstaatscluster. Die normativen und regulativen Leitideen idealtypischer Wohlfahrtsstaaten haben eine relativ gute Prognosekraft für die Ausgestaltung von staatlichen Arbeitsmarktinstitutionen in realtypischen Wohlfahrtsstaaten. Wohlfahrtsstaatscluster mit großen ideellen Differenzen weisen deutlich häufiger signifikante institutionelle Unterschiede auf, als Wohlfahrtsstaatscluster mit geringen ideellen Differenzen.

Trotz einiger Ausnahmen erweisen sich die Wohlfahrtsstaatstypen als empirisch relevante Ordnungskategorie für das lohnstrukturelle Arbeitsmarktphänomen der Niedriglohnbeschäftigung. Gleichzeitig ist das theoretische Konstrukt der Ideenbezogenheit wohlfahrtsstaatlicher Institutionen eine erklärungsstarke Grundlage zur Identifikation der institutionellen Ursachen der wohlfahrtsstaatstypenspezifischen Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung.

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Dennoch variiert die Erklärungskraft des theoretischen Grundarguments zwischen den fünf Wohlfahrtsstaatstypen. So ist im Cluster konservativer Wohlfahrtsstaaten eine stärkere Heterogenität der Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung zu beobachten als in den anderen Wohlfahrtsstaatsclustern. Ursächlich für diese Heterogenität sind weniger extreme institutionelle Abweichungen von idealtypischen konservativen Leitideen, sondern vielmehr die länderspezifische Konfiguration der Arbeitsmarktregime und die damit einhergehenden Unterschiede in der Anzahl effektiver institutioneller Bremsen für die Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung. Die Untersuchung des Extremfalls Deutschland in dem Zeitraum von 1980 bis 2010 zeigt, dass auch in der Längsschnittanalyse ein deutlicher Zusammenhang zwischen der Ausgestaltung staatlicher Arbeitsmarktinstitutionen und der Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung existiert: Der Mitte der 1990er Jahre einsetzende Anstieg von Niedriglohnbeschäftigung in Deutschland wird von dem institutionellen Wandel zahlreicher Arbeitsmarktinstitutionen begleitet, dessen Richtung eine theoretisch plausible Kovarianz mit dem Wachstum des Niedriglohnsektors aufweist. Die deutsche Fallstudie offenbart allerdings auch, dass der Wandel einiger staatlicher Arbeitsmarktinstitutionen durch eine Abwendung von der konservativen Leitidee der Status-Hierarchie sowie dem Prinzip der Lebensstandardsicherung charakterisiert ist. Dies gilt insbesondere für die Generosität der Arbeitslosenunterstützung sowie die Strenge der Leistungsanspruchskriterien, denn der institutionelle Wandel dieser Arbeitsmarktinstitution wird eher durch liberale als durch konservative Leitideen geprägt. Somit illustriert die Längsschnittanalyse zu Deutschland, dass wohlfahrtsstaatliche Leitideen an Prägekraft verlieren können, wenn zum Beispiel starke soziale oder ökonomische Probleme nach neuen Lösungsansätzen verlangen und so einen ideellen und institutionellen Wandel anstoßen (Hall 1993). Entgegen der These von der Konvergenz von Wohlfahrtsstaaten weisen die empirischen Befunde dieses Buches auf das Fortbestehen wohlfahrtsstaatstypenspezifischer institutioneller und lohnstruktureller Charakteristika hin. Vertreter der Konvergenz-These argumentieren, dass strukturelle und institutionelle Unterschiede zwischen Wohlfahrtsstaaten immer geringer werden, da die Globalisierung der Wirtschaft und die Mitgliedschaft in der Europäischen Union regulatorischen Wettbewerb, Policy-Transfer und Policy-Lernen verursachen. Dies führt laut der Konvergenz-These letztlich zu einer Nivellierung sozialer Rechte und wohlfahrtsstaatlicher Ausgaben auf niedrigem oder mittlerem Ni-

7 Fazit: Niedriglohnbeschäftigung als politisches Phänomen

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veau (Achterberg/Yerkes 2009; Busemeyer 2009; Garrett/Mitchell 2001; Schmitt/Starke 2011). Dennoch zeigen sich in den Jahren 2006 und 2010 deutliche wohlfahrtsstaatstypenspezifische Unterschiede bezüglich der Ausgestaltung staatlicher Arbeitsmarktinstitutionen sowie der Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung, die weitgehend den idealtypenbasierten Erwartungen über wohlfahrtsstaatstypenspezifische institutionelle und lohnstrukturelle Charakteristika entsprechen. Diese Analyseergebnisse ermöglichen zwar keine Rückschlüsse auf langfristige Entwicklungsprozesse der Wohlfahrtsstaaten, aber sie erlauben die Aussage, dass der Prozess der Konvergenz - sofern er stattfindet - bis dato noch weit davon entfernt ist, wohlfahrtsstaatstypenspezifische institutionelle und strukturelle Spezifika im Bereich des Arbeitsmarktes nivelliert zu haben. Somit sind Wohlfahrtsstaatstypen weiterhin eine empirisch relevante Ordnungskategorie für die Untersuchung von wohlfahrtsstaatlichen Institutionen und deren sozialen und ökonomischen Strukturierungseffekten. Eine wesentliche Begrenzung der vorliegenden Forschungsarbeit entsteht durch die mangelnde Verfügbarkeit von Längsschnittdaten zu dem Phänomen der Niedriglohnbeschäftigung in entwickelten Volkswirtschaften. Für die Untersuchung des Einflusses staatlicher Arbeitsmarktinstitutionen auf die Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung wäre es ideal über mehrere Jahrzehnte vergleichbare Aggregatdaten zu der abhängigen Variable sowie den Test- und Kontrollvariablen zu verwenden. Auf Grundlage dieser Längsschnittdaten könnten dann entweder anhand einer gepoolten Zeitreihenanalyse oder einer Mehrebenenanalyse die interessierenden Variablenzusammenhänge über Zeit und Raum untersucht werden (Stadelmann-Steffen/Bühlmann 2008). Da jedoch keine Längsschnittdaten mit einer angemessenen länderübergreifenden Vergleichbarkeit existieren (vgl. Kap. 2.1.2), wurde ein aggregatdatenbasiertes Querschnittsdesign verwendet, um die Forschungsfrage untersuchen zu können. Der Nachteil des Querschnittsdesigns besteht allerdings darin, dass es keine Aussagen über kausale Zusammenhänge zulässt. Somit erlauben die empirischen Befunde dieses Buches lediglich festzustellen, ob ein signifikanter Zusammenhang zwischen der Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung und den Prädiktorvariablen besteht und ob die Richtung dieses Zusammenhangs mit den theoretischen Erwartungen über die Wirkung der Erklärungsfaktoren übereinstimmt. Auch in Bezug auf das theoretische Grundargument ermöglicht das ländervergleichende Querschnittsdesign lediglich eine statistische Analyse, ob die wohl-

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fahrtsstaatstypenspezifischen Leitideen Prägekraft für die Ausgestaltung staatlicher Arbeitsmarktinstitutionen aufweisen. Dahingegen kann nicht untersucht werden, inwiefern sich die Prägekraft dieser Leitideen im Zeitverlauf verändert und ob sich ideeller und institutioneller Wandel auch in dem Arbeitsmarktergebnis der Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung manifestiert. Diese Möglichkeit besteht ausschließlich in der Fallstudie zu Deutschland, da hier Längsschnittdaten vorliegen anhand derer eine theoretisch plausible Kovarianz eines ideellen, institutionellen und lohnstrukturellen Wandels gezeigt werden kann. Das Forschungsinteresse dieses Buches liegt auf der Analyseebene von Nationalstaaten und verortet die Arbeit somit in der makro-quantitativ vergleichenden Forschungstradition. Die Verwendung von Aggregatdaten auf Länderebene erlaubt allerdings nicht, die auf der Individualebene angesiedelten theoretisch erwarteten Mechanismen zwischen den unterschiedlichen Erklärungsfaktoren und der Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung empirisch zu überprüfen. Für die Untersuchung dieser Mechanismen müssten Individualdaten mit länderspezifischen Kontextdaten kombiniert und dann zum Beispiel in einer Mehrebenenanalyse analysiert werden. Eine wesentliche Herausforderung für diese potenzielle Anschlussforschung besteht in der Verfügbarkeit vergleichbarer Mikrodaten. Auch die Frage, ob politische Akteure bei arbeitsmarktpolitischen Entscheidungen tatsächlich kognitiven Pfadabhängigkeiten unterliegen oder ob nicht vielmehr institutionelle Pfadabhängigkeiten das Spektrum an Policy-Alternativen begrenzen, konnte im Rahmen der Aggregatdatenanalyse nicht untersucht werden. Für die Untersuchung dieser Frage könnten sowohl Eliteninterviews als auch Umfrageexperimente mit Parlamentsabgeordneten durchgeführt werden. Hierbei stellen sowohl der Zugang zu dem relevanten Personenkreis als auch die Ehrlichkeit der Antworten forschungspraktische und methodische Herausforderungen dar. Zwei vielversprechende Projekte zur Anschlussforschung ergeben sich aus dem theoretischen Grundargument des Buches sowie dem Konzept der effektiven institutionellen Bremse für die Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung. Sowohl der logische Aufbau des theoretischen Grundarguments als auch der dazugehörige konzeptionelle Analyserahmen haben eine über die Erklärung der Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung hinausgehende Anwendbarkeit, da sie auch für die Erklärung anderer ökonomischer oder sozialer Makrophänome-

7 Fazit: Niedriglohnbeschäftigung als politisches Phänomen

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ne verwendet werden können. Die Voraussetzungen hierfür sind zum einen, ein theoretisch fundiertes Argument, weshalb das betreffende Makrophänomen durch wohlfahrtsstaatliche Institutionen beeinflusst wird. Zum anderen muss das Set akteursspezifischer, institutioneller und struktureller Erklärungsfaktoren an das zu untersuchende strukturelle Phänomen angepasst werden. Ein solches Anschlussforschungsprojekt wäre geeignet, die grundsätzliche Erklärungskraft des institutionell vermittelten Einflusses wohlfahrtsstaatstypenspezifischer Leitideen auf strukturelle Phänomene zu testen. Das Konzept der effektiven institutionellen Bremse für die Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung könnte auch im Rahmen anderer Wohlfahrtsstaatscluster untersucht werden. Hierbei richtet sich das Erkenntnisinteresse insbesondere auf die Frage, ob dieses Konzept auch in anderen Wohlfahrtsstaatsclustern eine so hohe Erklärungskraft für die clusterinterne Varianz der Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung besitzt, wie in der Gruppe konservativer Wohlfahrtsstaaten. Ein positiver Befund würde die hohe Bedeutung der institutionellen Konfiguration der Arbeitsmarktregime für die Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung im Kontext wohlfahrtsstaatstypenspezifischer Strukturhintergründe unterstreichen. Durch die Verbindung einer politökonomischen und einer wohlfahrtsstaatlichen Perspektive hat dieses Buch die theoretische Debatte über die Ursachen von Niedriglohnbeschäftigung substanziell erweitert, denn diese Debatte hat bisher weder dem Einfluss staatlicher Arbeitsmarktpolitik und Arbeitsmarktregulierung noch der Dimension des Wohlfahrtsstaates besondere Aufmerksamkeit gewidmet. Die empirischen Befunde zeigen, dass diese blinden Flecke ein gravierendes Versäumnis darstellten: Zum einen erweisen sich staatliche Arbeitsmarktinstitutionen als robuste Erklärungsfaktoren mit hohem Erklärungsgehalt für die länderspezifische Varianz der Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung. Zum anderen stellt sich heraus, dass Wohlfahrtsstaatsmodelle aufgrund ihrer Ideenbezogenheit eine theoretisch begründete und empirisch relevante Erklärung für Unterschiede in der Ausgestaltung staatlicher Arbeitsmarktinstitutionen und der daraus folgenden Varianz der Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung darstellen. Gemeinsam weisen die Befunde dieses Buches auf die Existenz eines institutionell vermittelten Einflusses wohlfahrtsstaatstypenspezifischer Leitideen auf die Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung hin. Abschließend und zusammen-

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7 Fazit: Niedriglohnbeschäftigung als politisches Phänomen

fassend kann der Forschungsfrage also eine positive Antwort beschieden werden: Länder- und wohlfahrtsstaatstypenspezifische Unterschiede der Ausgestaltung staatlicher Arbeitsmarktinstitutionen haben eine hohe Erklärungskraft für die heterogene Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung in entwickelten Volkswirtschaften.

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