Nicht-ikonische Chronologie: Zeitlichkeit und Zeitreferenz im Deutschen, Englischen und Russischen 9783412508869, 9783412507886

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Nicht-ikonische Chronologie: Zeitlichkeit und Zeitreferenz im Deutschen, Englischen und Russischen
 9783412508869, 9783412507886

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BAUSTEINE ZUR SLAVISCHEN PHILOLOGIE UND KULTURGESCHICHTE NEUE FOLGE Begründet von HANS-BERND HARDER (†) und HANS ROTHE Herausgegeben von DANIEL BUNČIĆ, ROLAND MARTI, PETER THIERGEN, LUDGER UDOLPH und BODO ZELINSKY

Reihe A: SLAVISTISCHE FORSCHUNGEN Begründet von REINHOLD OLESCH (†)

Band 86

Nicht-ikonische Chronologie Zeitlichkeit und Zeitreferenz im Deutschen, Englischen und Russischen

von

Vyacheslav Yevseyev

Mit einem Vorwort von Helmut Glück

2017 BÖH LAU V E R L A G K Ö L N WEIMAR WIEN

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung des Privatfonds Schulze-Thiergen

Vyacheslav Yevseyev ist Professor am Eurasischen Institut für Geisteswissenschaften in Astana, Kasachstan.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://portal.dnb.de abrufbar.

Umschlagabbildung: © Vyacheslav Yevseyev © 2017 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Weimar Wien Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Druck und Bindung: Prime Rate, Budapest Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier Printed in the EU ISBN 978-3-412-50788-6

Vorwort

Wenn Sätze zwei Ereignisse kodieren, die nicht gleichzeitig ablaufen, geschieht dies in der Regel „ikonisch“, d. h. in derselben Reihenfolge, in der diese Ereignisse in der Realität aufeinander folgten. Aber das gilt keineswegs immer. Darum geht es hier: Unter welchen Bedingungen wird von diesem Prinzip der Ikonizität abgewichen, von welchen Faktoren ist diese Abweichung abhängig, wie hängen solche Faktoren miteinander zusammen? Um dieser syntaktischen und semantischen Frage nachzugehen, ist es zunächst erforderlich, die grundlegenden Zeitrelationen und den Gegensatz zwischen ikonischer und nicht-ikonischer Chronologie darzustellen. Diese Darstellung wird hier unter Rückgriff auf das Zeichenmodell von Charles Sanders Peirce und seine Reformulierung durch Roman Jakobson vorgenommen. Bei Peirce sind ikonische Zeichen dadurch definiert, dass sie „ihren ‚Gegenstand‘ mittels einer Übereinstimmung in wahrnehmbaren Merkmalen denotieren“, wie Helmut Rehbock im Metzler Lexikon Sprache schreibt (4. Aufl. 2010, S. 278). Dadurch unterscheiden sich ikonische Zeichen von symbolischen und indexikalischen Zeichen. Für ikonische Zeichen spielt die Ähnlichkeit zwischen Zeichen und Denotat eine wesentliche Rolle. Unter den Sachverhalten, auf die sich ikonische Zeichen beziehen können, führt Rehbock die „Zeitfolge“ ausdrücklich auf. Dieses Buch ist die überarbeitete Fassung einer Habilitationsschrift, die im Jahr 2014 von der Fakultät für Geistes- und Kulturwissenschaften der Universität Bamberg angenommen wurde. Es geht darin um die physikalischen und sprachlichen Kategorien Zeitlichkeit und Zeitreferenz, die keineswegs deckungsgleich sind. Dies wird an den Kategorisierungen Tempus, Aspekt und Aktionsart des Deutschen, Englischen und Russischen verdeutlicht; auf diesen drei Sprachen beruht die Arbeit. Der Abschnitt über den Forschungsstand zeigt, dass Yevseyev auf eigenen Vorarbeiten aufbauen kann. Insoweit ist dieses Buch das Ergebnis eines langen Forschungsprozesses. Kapitel 1 endet mit der selbstbewussten Ankündigung, „dass auf heutigem Wissensstand die Frage nach den funktionalen Motivationen der temporalen Nicht-Ikonizität als gelöst gelten kann“ (S. 64). Das wird sich in den weiteren Kapiteln erweisen. Die drei Sprachen, auf denen die Untersuchung beruht, unterscheiden sich in den Grundmustern der Wortstellung voneinander. Das ist erfreulich, denn auf diese Weise wird stellungstypologische Variation erfasst. Der Umstand,

6

Vorwort

dass der Autor diese drei Sprachen beherrscht, ist erwähnenswert, denn das ist bei Verfassern typologischer Arbeiten nicht selbstverständlich. Sehr ausführlich stellt er die methodischen Schwierigkeiten bei der Durchsuchung elektronischer Korpora dar. Die Vorschläge zu ihrer Bewältigung sind nachvollziehbar, und sie haben den Vorteil, dass sie offenbar funktionieren. Fünf explizite Arbeitshypothesen begründen eine klare Strukturierung: Ikonische Strukturen überwiegen, Abweichungen werden zum Teil durch die Konzepte „kurz vor lang“, „Hauptsatz vor Nebensatz“ versus „Früheres im Nebensatz“ erklärt, doch die funktionale Satzperspektive soll endgültig Klarheit verschaffen. Kapitel 3 teilt die „allgemeinen Ergebnisse“ mit. Sie beruhen bei den literarischen Korpora auf fast 12.750 Belegen (aus 455 Texten) für relevante Strukturen, von denen etwa 750 nicht-ikonisch sind. Einige der Verfasser der hier berücksichtigten Texte halten das Ikonizitätsprinzip weitgehend ein (z. B. Fontane, Steinbeck, Bulgakov), andere weichen davon häufig ab (z. B. Goethe, Dickens, Dostoevskij). Diese pauschalen Befunde werden für die einzelnen Sprachen, für wichtige syntaktische Strukturen und für die beiden Sprachformen (Geschriebenes und Gesprochenes) im Detail dargestellt. Wichtige Strukturen sind hier die parataktische Reihung, prädikative Partizipialkonstruktionen (v. a. die „Adverbialpartizipien“ des Russischen) sowie konjunktionale Adjunktsätze. Ein klares Ergebnis besteht darin, dass sich nicht-ikonische Strukturen vor allem bei den konjunktionalen Adjunktsätzen finden. Danach kommt die Erkenntnis, dass in den (alltagssprachlichen) elektronischen Korpora der Anteil der nicht-ikonischen Strukturen deutlich höher liegen kann als in den einzelnen literarischen Korpora; bei den amerikanischen Tageszeitungen liegt er sogar geringfügig höher als der Wert für die ikonischen Strukturen. Bemerkenswert ist weiterhin der Befund, dass nur im Deutschen in der gesprochenen Sprache deutlich ikonischer kodiert wird als im Geschriebenen, in den beiden anderen Sprachen ist hingegen kein solcher Trend zu beobachten. Kapitel 4 befasst sich mit den Strukturen zur Wiedergabe der nicht-ikonischen Chronologie. Im einzelnen geht es um Tempusformen der Verben bzw. deren Abfolge in aufeinanderfolgenden Prädikationen, um subordinierende temporale Konjunktionen sowie um Temporaladverbien, und vor allem um die Kombination dieser Mittel miteinander. Theoretisch und methodologisch herausragend ist Kapitel 5: Hier wird nach Erklärungen für die Befunde gesucht, hier werden sie interpretiert, hier wird aber auch ein Bezug zur Theoriegeschichte hergestellt, zur Denktradition der „Funktionalen Satzperspektive“ von Vilém Mathesius und zum „Aktualitätsprinzip“, das Otto Jespersen erstmals formulierte. Ein erstes Ergebnis hier besteht darin, dass Yevseyev Otto Behaghels „Gesetz der wachsenden Glie-

Vorwort

7

der“ empirisch bestätigen kann. Dieses Gesetz besagt, dass das „Kurze“ vor dem „Langen“ steht. Bei den nicht-ikonischen Strukturen ermittelt der Autor ein Verhältnis von etwa 2:1 zugunsten der „kurzen“ Strukturen in der Voranstellung. Das weitere Prinzip „main clause first“ besagt, dass der Hauptsatz dem Nebensatz vorausgeht. Es ist offenbar in allen drei Sprachen bei den nicht-ikonischen Strukturen wirksam, wird aber überlagert vom Prinzip „anterior in sub“, demzufolge das vorhergehende Ereignis tendentiell in Nebensätzen und Partizipialkonstruktionen ausgedrückt wird. Dabei spielt es keine Rolle, ob sie dem Hauptsatz vorausgehen oder folgen. Im Schlusskapitel macht Yevseyev den vernünftigen Versuch, die unübersichtliche Fachterminologie zu vereinheitlichen. Er weist des weiteren auf den Zusammenhang zwischen Ikonizität und sprachlicher Ökonomie hin, aber auch darauf, dass das Ökonomieprinzip nicht durchgängig herrscht. Die Annahme, dass temporale Ikonizität im Gesprochenen stärker ausgeprägt sei als im Geschriebenen, ließ sich zwar nicht mit „völlig überzeugender Evidenz“ nachweisen, aber doch sehr plausibel machen. Der „Funktionalen Satzperspektive“ ist hier noch einmal ein ganzer Abschnitt gewidmet. Ausblicke auf die weiteren Perspektiven der Forschung schließen das Werk ab. Das vorliegende Buch stellt eine substantielle Weiterentwicklung älterer Schriften Yevseyevs dar, die nicht nur die Forschungsliteratur einarbeitet und deutlich über sie hinausweist, sondern auch auf einer empirischen Basis beruht, die erheblich umfangreicher ist als diejenige aller anderen Arbeiten zum Thema. Zwar sind die Annahmen und Hypothesen, die er überprüft, im Großen und Ganzen von vornherein einleuchtend, doch macht sie diese Arbeit zu unbestreitbaren wissenschaftlichen Einsichten. Die auf S. 64 formulierte Ankündigung hat Yevseyev eingelöst: Sein Buch leistet einen wesentlichen Beitrag zur Erweiterung unserer Kenntnisse auf einem Feld im Grenzbereich von Sprachwissenschaft und Stilistik. Die Frage nach den funktionalen Motivationen einer Abweichung von der temporalen Ikonizität kann auf heutigem Wissensstand tatsächlich als gelöst gelten. Prof. Dr. Dr. h. c. Helmut Glück Universität Bamberg

Inhalt

VORWORT .................................................................................................. 0 0.1 0.1.1 0.1.2 0.2 0.2.1 0.2.2 0.2.3 0.2.4 0.2.5 0.2.6 0.3 0.3.1 0.3.1.1 0.3.1.2 0.3.1.3 0.3.2 0.3.2.1 0.3.2.2 0.3.2.3 0.4

EINLEITUNG................................................................................... Problemstellung ............................................................................ Grundlegende Zeitrelationen ........................................................ Ikonische und nicht-ikonische Chronologie ................................. Ikonizität als Begriff ..................................................................... Das Konzept der Ikonizität von Peirce ......................................... Jakobsons „Quest for the essence of language“ und seine Rezeption in den 70er Jahren........................................................ Die Ikonizitätsdiskussion von etwa 1980 bis etwa 1995 .............. Aktuelle Diskussion über sprachliche Ikonizität (von etwa 1995 bis 2015) ....................................................................................... „Iconic turn“ – eine kulturwissenschaftliche Diskussion über die Rolle der Bilder............................................................................. Fazit: Ikonizität ............................................................................. Zeitlichkeit und Zeitreferenz......................................................... Tempus und Temporalität ............................................................. Eine Skizze der Tempussysteme des Deutschen, Englischen und Russischen .................................................................................... Das Modell von Reichenbach (1947) und seine Implikationen .... Fazit: Tempus und Temporalität ................................................... Aspekt und Aspektualität .............................................................. Grammatischer Aspekt im Russischen und Englischen (und im Deutschen?) .................................................................................. Lexikalischer Aspekt und Aktionsarten ........................................ Fazit: Aspekt und Aspektualität .................................................... Fazit: Zeitlichkeit und Ikonizität ...................................................

IKONISCHE UND NICHT-IKONISCHE CHRONOLOGIE ....................... Terminologie für die ikonische und die nicht-ikonische Chronologie .................................................................................. 1.1.1 Terminologie für die ikonische Chronologie ................................ 1.1.1.1 Temporal ikonische Anordnung von (Elementar-)Sätzen als Prinzip ........................................................................................... 1.1.1.2 Temporal ikonische Anordnung von (Elementar-)Sätzen als Ergebnis ........................................................................................

1 1.1

5 15 15 15 16 19 19 20 21 24 27 28 29 29 30 34 35 36 38 40 47 48 49 49 51 51 53

10

Inhalt

1.1.2 Terminologie für die nicht-ikonische Chronologie....................... 1.1.2.1 Stichwörter „non-iconic“, „anti-iconic“, „aniconic“, „contra-iconic“ ............................................................................. 1.1.2.2 Stichwörter „non-chronological“, „anti-chronological“ und „achronological“ ........................................................................... 1.1.2.3 Stichwort „Abweichung von der korrekten Reihenfolge“ ............ 1.1.2.4 Stichwörter „reversal“, „reverse“ / „inverse“ sowie „Regress“ .... 1.1.2.5 Stichwörter „Nicht-Übereinstimmung“, „Verzerrung“, „Asymmetrie“ usw. ....................................................................... 1.1.2.6 Spezielle Begriffe aus den narratologischen Konzepten .............. 1.1.3 Fazit: Terminologie für die ikonische und die nicht-ikonische Chronologie .................................................................................. 1.2 Forschungsstand und eigene Vorarbeiten ..................................... 2 2.1 2.2 2.3 2.3.1 2.3.2 2.3.2.1 2.3.2.2 2.3.2.3 2.3.3 2.4 2.4.1 2.4.2 2.4.3 2.4.4 2.4.5 2.5 2.5.1 2.5.2 2.6 2.7

DIE KORPORA UND DIE UNTERSUCHUNGSMETHODEN .................. Korpuslinguistik: ein Abriss ......................................................... Wahl der Sprachen für das Projekt ............................................... Wahl des Korpus-Designs ............................................................ Manuell ausgewertete Korpora literarischer Texte ....................... Wissenschaftlich aufbereitete digitalisierte Korpora .................... Recherche in Korpora für Deutsch ............................................... Recherche in Korpora für Englisch .............................................. Recherche in Korpora für Russisch .............................................. Linguistische Suche mit „Google“ (Archive der Tageszeitungen) ............................................................................ Arbeitshypothesen ........................................................................ Relativer Anteil der ikonischen und der nicht-ikonischen Strukturen ..................................................................................... „Short-long“-Hypothese ............................................................... „Main-clause-first“-Hypothese ..................................................... „Anterior-in-sub“-Hypothese ........................................................ „Anterior-event-delaying“-Hypothese vs. „Posterior-eventfronting“-Hypothese ..................................................................... Sicherung und Erfassung der Daten ............................................. Manuell ausgewertete Korpora literarischer Texte ....................... „Cosmas II“, DGD2, BNC, MiCASE und Russisches Nationalkorpus sowie via „Google“ erschlossene Tageszeitungen ............................................................................. Numerische Erfassung der Daten ................................................. Fazit ..............................................................................................

55 55 55 56 56 58 58 59 60 65 65 66 68 69 73 74 75 77 78 82 82 82 83 84 84 85 85 86 87 87

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Inhalt

3 3.1 3.1.1 3.1.1.1 3.1.1.2 3.1.1.3 3.1.1.4 3.1.1.5 3.1.2 3.1.2.1 3.1.2.2 3.1.2.3 3.1.3 3.1.3.1 3.1.3.2 3.1.3.3 3.1.4 3.1.4.1 3.1.4.2 3.1.4.3 3.1.5 3.2 3.2.1 3.2.1.1 3.2.1.2 3.2.2 3.2.2.1 3.2.2.2 3.2.2.3 3.2.3 3.2.3.1 3.2.3.2 3.2.4 3.3 3.3.1 3.3.2

ALLGEMEINE ERGEBNISSE ............................................................ Ergebnisse aus den Korpora literarischer Texte ........................... Einige allgemeine textlinguistische Ergebnisse ............................ Literarische Genres und temporale Ikonizität ............................... Die auf temporale Ikonizität bezogenen narrativen Stile verschiedener Autoren .................................................................. Zeitgenössische Texte und ältere Texte im Hinblick auf temporale Ikonizität ...................................................................... Umgekehrte Ereignisfolge – zwei oder noch mehr Ereignisse umgestellt? .................................................................................... Frequenz der nicht-ikonischen Strukturen als ein Charakteristikum narrativer Texte ................................................ Ergebnisse aus dem deutschen Korpus literarischer Texte ........... Parataktische Strukturen ............................................................... Strukturen mit Partizip II in prädikativer Funktion....................... Konjunktionale Strukturen ............................................................ Ergebnisse aus dem englischen Korpus literarischer Texte .......... Parataktische Strukturen ............................................................... Strukturen mit verschiedenen Typen von Partizipien ................... Konjunktionale Strukturen ............................................................ Ergebnisse aus dem russischen Korpus literarischer Texte .......... Parataktische Strukturen ............................................................... Strukturen mit Adverbialpartizip .................................................. Konjunktionale Strukturen ............................................................ Fazit: Temporale Ikonizität in literarischen Texten ...................... Ergebnisse aus elektronischen Korpora (geschriebene Sprache).. Elektronische Korpora zum Deutschen ........................................ Evidenz aus „Cosmas II“ .............................................................. Deutsche Tageszeitungen (erschlossen via „Google“) ................. Elektronische Korpora zum Englischen........................................ Evidenz aus dem BNC .................................................................. Britische Tageszeitungen (erschlossen via „Google“) .................. Amerikanische Tageszeitungen (erschlossen via „Google“) ........ Elektronische Korpora zum Russischen ....................................... Russisches Nationalkorpus ........................................................... Russische Tageszeitungen (erschlossen via „Google“) ................ Fazit: Temporale Ikonizität nach Daten aus elektronischen Korpora ......................................................................................... Geschriebene und gesprochene Sprache vom Standpunkt der temporalen Ikonizität .................................................................... Existierende Meinungen zur temporalen Ikonizität in geschriebener und gesprochener Sprache ..................................... Indirekte Evidenz aus literarischen Texten ...................................

89 89 91 91 91 92 93 96 98 99 101 102 105 106 108 110 112 112 113 114 117 117 117 118 120 121 121 123 126 128 128 130 132 133 133 137

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Inhalt

3.3.3 Evidenz aus den Korpora gesprochener Sprache .......................... 3.3.3.1 Evidenz aus dem Deutschen: „Datenbank für gesprochenes Deutsch“ (DGD2) ......................................................................... 3.3.3.2 Evidenz aus dem Englischen: „Michigan Corpus of Academic Spoken English“ (MiCASE) ......................................................... 3.3.3.3 Evidenz aus dem Russischen: Unterkorpus für gesprochene Sprache des Russischen Nationalkorpus ...................................... 3.3.4 Fazit: Temporale Ikonizität in geschriebenen und gesprochenen Texten ........................................................................................... 3.4 Fazit: Temporale Ikonizität als Organisationsprinzip für Texte ... 4 4.1 4.1.1 4.1.2 4.1.3 4.1.4 4.2 4.2.1 4.2.2 4.2.3 4.2.4 4.3 5 5.1 5.1.1 5.1.2 5.1.3 5.1.4 5.2 5.2.1

STRUKTUREN ZUR WIEDERGABE DER NICHT-IKONISCHEN CHRONOLOGIE ............................................................................. Typische Strukturen zur Wiedergabe der nicht-ikonischen Chronologie .................................................................................. Typische Strukturen für die nicht-ikonische Chronologie im Deutschen ..................................................................................... Typische Strukturen für die nicht-ikonische Chronologie im Englischen .................................................................................... Typische Strukturen für die nicht-ikonische Chronologie im Russischen .................................................................................... Fazit: Typische Strukturen für die nicht-ikonische Chronologie .. Weniger typische Strukturen von besonderem Interesse .............. „Hysteron proteron“ im Deutschen, Englischen und Russischen . Doppelte Perfekt- und Plusquamperfektformen im Deutschen .... Strukturen vom Typ „gemacht habend“ im Deutschen ................ Fazit: Weniger typische Strukturen für nicht-ikonische Chronologie .................................................................................. Fazit: Strukturen für die nicht-ikonische Chronologie in übereinzelsprachlicher Sicht ......................................................... MOTIVATIONEN FÜR DIE NICHT-IKONISCHE CHRONOLOGIE .......... Das „Gesetz der wachsenden Glieder“ von Behaghel als mögliche Motivation ..................................................................... Evidenz aus den Korpora literarischer Texte ................................ Evidenz aus elektronischen Korpora ............................................ Diskussion .................................................................................... Fazit: Das „Gesetz der wachsenden Glieder“ als mögliche Motivation..................................................................................... Das „Main-clause-first“-Prinzip von Clark / Clark als mögliche Motivation..................................................................................... Evidenz aus den Korpora literarischer Texte ................................

138 138 140 143 146 147 149 150 151 157 161 164 165 165 171 178 181 182 184 185 187 190 192 196 196 199

13

Inhalt

5.2.2 5.2.3 5.3

5.5.2.1 5.5.2.2 5.5.2.3 5.5.3 5.5.4 5.5.5 5.6

Evidenz aus elektronischen Korpora ............................................ Fazit: Das „Main-clause-first“-Prinzip als mögliche Motivation.. Das angenommene „Anterior-in-sub“-Prinzip als mögliche Motivation für die nicht-ikonische Chronologie........................... Numerische Evidenz aus den Korpora.......................................... Terminologie................................................................................. Qualitative Evidenz für das „Anterior-in-sub“-Prinzip................. Bedeutung der Konjunktionen mit unbestimmter temporaler Semantik ....................................................................................... Bedeutung der nicht-finiten Verbformen in adverbialer Funktion ........................................................................................ Fazit: Das „Anterior-in-sub“-Prinzip als mögliche Motivation .... Das Aktualitätsprinzip von Jespersen und Givón als mögliche Motivation für die nicht-ikonische Chronologie........................... Hypothesen ................................................................................... Kriterien der Informationsverteilung in temporal nicht-ikonischen Strukturen .......................................................... Länge der Satzteile als Kriterium.................................................. Syntaktischer Status der Satzteile als Kriterium ........................... Fazit: Kriterien der Informationsverteilung in temporal nicht-ikonischen Strukturen .......................................................... Evidenz aus den Korpora .............................................................. Evidenz aus den Korpora literarischer Texte ................................ Evidenz aus elektronischen Korpora ............................................ Diskussion .................................................................................... Fazit: Das Aktualitätsprinzip von Jespersen und Givón als mögliche Motivation ..................................................................... Weitere weniger bedeutende Motivationen .................................. Proximitätsprinzip......................................................................... Formal-strukturelle Verbindung mit dem vorhergehenden Kontext ......................................................................................... Der vorangestellte Satzteil als Relativsatz .................................... Der vorangestellte Satzteil als Objektsatz..................................... Weitere Nebensatztypen ............................................................... Voranstellung der Assertion in Frage- und Ausrufesätzen ........... Aktualitätsprinzip in Sätzen mit der direkten Rede ...................... „Afterthought“ (Nachtrag) ............................................................ Fazit: Motivationen für die nicht-ikonische Chronologie .............

6 6.1 6.2 6.3

ZUSAMMENFASSUNG DER ERGEBNISSE ......................................... Fachterminologie .......................................................................... Wirksamkeit des Prinzips der ikonischen Chronologie ................ Ökonomie und Ikonizität ..............................................................

5.3.1 5.3.2 5.3.3 5.3.3.1 5.3.3.2 5.3.4 5.4 5.4.1 5.4.2 5.4.2.1 5.4.2.2 5.4.2.3 5.4.3 5.4.3.1 5.4.3.2 5.4.3.3 5.4.4 5.5 5.5.1 5.5.2

201 203 203 203 204 205 205 216 223 223 225 227 227 228 233 233 233 237 241 247 248 248 249 249 251 251 252 253 255 256 261 261 262 263

14 6.4

Inhalt

Temporale Ikonizität in geschriebener und gesprochener Sprachvariante ............................................................................. Typische Strukturen für die nicht-ikonische Chronologie ............ Motivationen für die nicht-ikonische Chronologie ....................... „Gesetz der wachsenden Glieder“ ................................................ „Main-clause-first“-Prinzip und „Anterior-in-sub“-Prinzip.......... Funktionale Satzperspektive ......................................................... Weitere Motivationen ................................................................... Ausblick ........................................................................................

264 265 268 268 269 270 271 273

LISTE DER VERWENDETEN LITERARISCHEN QUELLEN ................................ Korpus deutscher literarischer Texte ......................................................... Korpus englischer literarischer Texte ........................................................ Korpus russischer literarischer Texte ........................................................

274 274 279 283

6.5 6.6 6.6.1 6.6.2 6.6.3 6.6.4 6.7

LITERATUR ................................................................................................. 286 AUTORENREGISTER .................................................................................... 318 SACHWORTREGISTER ................................................................................. 319

0 Einleitung

0.1 Problemstellung 0.1.1 Grundlegende Zeitrelationen Chronologie ist ein grundlegendes Konzept menschlichen Daseins (vgl. Zemb 1978, Comrie 2000, Oaklander 2006). Alles, was rund um uns geschieht, wird als Situationen (einzelne Stücke des Geschehens) wahrgenommen (Barwise / Perry 1981). Diese Situationen sind in die lineare Dimension der Zeit als die vierte Dimension der Realität eingebettet (vgl. Bull 1971: 21), die zeitliche Dimension ist am besten als eine gerichtete Gerade (eine Achse) vorzustellen (vgl. Lutzeier 1984: 93, Thelin 1990: passim).1 Unter der Annahme, dass der Beginn und das Ende jeder einzelnen Situation genau bestimmt werden kann (vgl. Sasse 1991b: 3), sollte es folgende sieben grundlegende Zeitrelationen zwischen zwei Situationen geben (s. Abb. 1, vgl. Bohnemeyer 2002: 25 mit Rekurs auf Allen 1983: passim): 1

2

3

4 5

6

7

Abbildung 1. Die sieben Zeitrelationen zwischen zwei Situationen mit genau bestimmbarem Anfangs- und Endpunkt.

1

Vgl. die Unterscheidung zwischen der physikalischen Zeit, der chronologischen Zeit und der linguistischen Zeit (Traugott 1975: 207).

16

Einleitung

Die sieben Zeitschemata seien hier mit folgenden Beispielen illustriert (vgl. Givón 2001: 330, auch Longacre 1985: 243–244): 1. Parallelismus (vollständige Gleichzeitigkeit): Der Beginn und das Ende der beiden Situationen fallen zusammen („Während er las, spielte sie Klavier“); 2. zeitliche Inklusion (partielle Gleichzeitigkeit): Eine Situation fängt später an als die andere, endet aber früher, so dass sie in dieser quasi eingeschlossen ist („Während ich kochte, kam meine Frau“); 3. zeitliche Überlappung: Eine Situation fängt später an als die andere und endet ebenfalls später („Als sie ihn sah, wunderte sie sich“);2 4. gleichzeitiger Beginn zweier Situationen (partielle Gleichzeitigkeit): Sie fangen gleichzeitig an, enden aber zu verschiedenen Zeitpunkten („Seit ich auf dem Lande wohne, bin ich viel ruhiger geworden“); 5. gleichzeitiges Ende zweier Situationen (partielle Gleichzeitigkeit): Sie fangen zu verschiedenen Zeitpunkten an, enden aber gleichzeitig („Der Priester predigte, bis alle Kirchgänger eingeschlafen waren“); 6. distanzierte Aufeinanderfolge zweier Situationen: Sie haben keine gemeinsamen Zeitpunkte, zwischen ihnen liegt eine bestimmte zeitliche Distanz („Nachdem ich alles Notwendige vorbereitet hatte, fing ich mit der Arbeit an“); 7. unmittelbare Aufeinanderfolge zweier Situationen: Das Ende einer Situation markiert den Beginn der anderen („Sobald der Regen aufhörte, gingen wir auf unserem Weg weiter“). Da dies nur ein formales Modell ist, können mit Ausnahme des Parallelismus und der Inklusion alle anderen Typen als (nicht-prototypische) Nicht-Gleichzeitigkeit gelten, wenn z. B. in Typ 3 die Situationen sich nur geringfügig überlappen, oder wenn in Typen 4 und 5 die kürzere Handlung wirklich sehr kurz ist, so dass die Hauptphasen der zwei Handlungen doch als nicht-gleichzeitig gelten können.

0.1.2 Ikonische und nicht-ikonische Chronologie Das oben angeführte Modell der sieben grundlegenden Zeitrelationen und die Beispiele berücksichtigen nicht, in welcher textuellen Reihenfolge diese Ereignisse wiedergegeben werden. Bei gleichzeitigen Ereignissen (bei Parallelismus und Inklusion) ist es relativ unwichtig, in welcher Reihenfolge die entsprechenden Sätze erscheinen: „Während ich kochte, kam meine Frau“ oder 2

Vgl. die Schemata in Breithutová (1968: 131) und in Zwaan / Madden / Stanfield (2001: 75).

Einleitung

17

„Meine Frau kam, während ich kochte“. Bei sequentiellen Ereignissen ist die Frage von Bedeutung, ob die textuelle Reihenfolge der Satzteile mit der realen Reihenfolge der Ereignisse übereinstimmt, so dass hier Asymmetrie eine Rolle spielt. Wie mit Recht angenommen werden kann, ist es die eher zu erwartende Variante, dass die Reihenfolge der Sätze mit der Reihenfolge der Ereignisse übereinstimmt; das wohl bekannteste Beispiel dafür ist der Caesar zugeschriebene Spruch „Veni, vidi, vici“, in dem die Reihenfolge der Prädikate die Reihenfolge der Ereignisse ikonisch abbildet (Jakobson 1971 [1965]: 350). Unabhängig davon, welchen syntaktischen Status (als Haupt- oder Nebensatz) die einzelnen Sätze/Satzteile haben, werden hier folgende Anordnungen als ikonische Chronologie bezeichnet: Wir beendeten das Projekt und gingen in Urlaub; Nachdem wir das Projekt beendet hatten, gingen wir in Urlaub; Als wir das Projekt beendeten, gingen wir in Urlaub; Wir beendeten das Projekt, bevor wir in Urlaub gingen.

Die entgegengesetzte Variante, die hier als nicht-ikonische Chronologie bezeichnet wird, stellt die Umkehrung der ikonischen, „natürlichen“ Anordnung der Sätze im Text dar, der syntaktische Status der zwei Satzteile spielt dabei ebenfalls keine Rolle: Wir gingen in Urlaub, wir hatten das Projekt beendet; Wir gingen in Urlaub, nachdem wir das Projekt beendet hatten; Wir gingen in Urlaub, als wir das Projekt beendeten; Bevor wir in Urlaub gingen, beendeten wir das Projekt.

In der Tradition der abendländischen Schriftkultur ist es naheliegend, dass der Verlauf der Zeit von links nach rechts konzeptualisiert wird, was mit der üblichen Schriftrichtung zusammenfällt (vgl. Abbildung 2). In der Tradition der Schreibung von rechts nach links (hebräisch und arabisch) wäre wohl die umgekehrte Darstellung näher liegend (vgl. Abbildung 3). Eine weitere Möglichkeit der Darstellung des ikonischen und des nicht-ikonischen Abbildungsmusters für Sequenzrelationen wäre, wenn die Zeitachse und die Schreibrichtung des Textes in entgegengesetzte Richtungen weisen (vgl. Abbildung 4). Bei der dominierenden Schriftrichtung von oben nach unten (z. B. im Mongolischen und im Chinesischen auf früheren historischen Stufen)

18

Einleitung

würde das Schema also wiederum etwas anders aussehen, und zwar abhängig davon, wie man die Zeitachse platziert. Eines wird aber gleich bleiben: Das dem „Anfang“ der Zeitachse näher stehende Ereignis soll bei der ikonischen Wiedergabe dem „Anfang“ des Textes näher sein, das dem „Ende“ der Zeitachse näher stehende Ereignis dem „Ende“ des Textes; bei der nicht-ikonischen Wiedergabe kehrt sich die relative Anordnung der Sätze im Text um. Zeit

nicht-ikonisch

ikonisch Zeit

Text

Text

Abbildung 2. Mögliche Darstellung der ikonischen / nicht-ikonischen Anordnung sequentieller Zeitrelationen vom Standpunkt der abendländischen Schrifttradition.

nicht-ikonisch

ikonisch Zeit

Zeit

Text

Text

Abbildung 3. Mögliche Darstellung der ikonischen / nicht-ikonischen Anordnung sequentieller Zeitrelationen vom Standpunkt der hebräischen und arabischen Schrifttradition.

ikonisch

nicht-ikonisch Zeit

Text

Zeit

Text

Abbildung 4. Mögliche Darstellung der ikonischen / nicht-ikonischen Anordnung sequentieller Zeitrelationen vom Standpunkt einer Schrifttradition, in der die Schreibrichtung und der „außersprachliche“ Zeitverlauf in entgegengesetzte Richtungen weisen.

Einleitung

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0.2 Ikonizität als Begriff 0.2.1 Das Konzept der Ikonizität von Peirce Im Rahmen seiner semiotischen Theorie entwickelte Peirce die Trichotomie (Dreiteilung) aller Zeichen in Ikons (Sg. das Ikon, von gr. εἰκών), Indizes (Sg. der Index) und Symbole (das Symbol, gr. σύμβολον). Als Grundlage für diese Dreiteilung nahm Peirce den Charakter der Beziehung zwischen dem Zeichen und dem von ihm bezeichneten Objekt an (Peirce 1978 [1940]: 102). Lässt sich eine Ähnlichkeitsbeziehung zwischen dem Zeichen und dem Objekt beobachten, dann liegt Ikonizität vor (wie zwischen einem Foto und der darauf abgebildeten Person, vgl. Nöth 2000: 193). Ist die Verbindung naturgegeben, so dass die beiden Objekte regelmäßig an ein und demselben Ort und zu ein und derselben Zeit auftreten (z. B. kausal bedingt), dann ist die Verbindung indexikalisch (der aufsteigende Rauch weist auf das gerade brennende oder kürzlich erloschene Feuer hin, ob dieses nun sichtbar ist/war oder nicht). Gibt es schließlich keine Ähnlichkeit und keine naturgegebene Verbindung zwischen dem Zeichen und dem Objekt, so dass die Beziehung nur aus der Vereinbarung/Übereinkunft der Zeichenbenutzer resultiert, dann handelt es sich dabei um ein symbolisches Zeichen (Peirce 1991 [1906]: 251); so weist das Wort „Baum“ auf den entsprechenden Gegenstand hin, da in der deutschsprachigen Gemeinschaft diese symbolische Verbindung gilt; in der anglophonen Sprechergemeinschaft gilt diese Vereinbarung nicht, stattdessen wird „tree“ verwendet, gleiches gilt für russ. „derevo“ usw. (vgl. Nöth 2000: 74, auch Pusch 2001: passim mit Bemerkungen zur Bedeutung dieses Konzepts in Sprachtypologie und Universalienforschung). Unter den ikonischen Zeichen differenzierte Peirce Bilder („images“), Diagramme („diagrams“) und Metaphern („metaphors“). Als Bilder wären neben den Fotos, Skulpturen usw. auch sprachliche Zeichen wie lautnachahmende Ausdrücke (Onomatopöien)3, z. B. „Kuckuck“, „Donner“ oder „miauen“, zu verstehen: Es gibt eine mehr oder weniger deutlich zu beobachtende akustische Ähnlichkeit zwischen dem Zeichen und dem Objekt.4 Als Diagramme 3

4

Der alternativ zu „Onomatopöie“ verwendete Ausdruck „Lautsymbolismus“ (vgl. z. B. Evans 2011: 522) ist vom Standpunkt der Theorie von Peirce also nicht ganz korrekt, da „Symbol“ etwas anderes bedeutet. Bilder sind also nicht nur visuell wahrnehmbare Zeichen, sondern auch akustische, gustative, olfaktorische und taktile Zeichen (Nöth 2000: 193), z. B. Lautnachahmungen in der Sprache (akustisch), geschmackstäuschende Stoffe in der Gastronomie (gustativ), künstliche Aromen in der Parfümerie (olfaktorisch), Kunststoff-Nachahmungen von Edelpelzen und feinen Lederarten (taktil) usw.

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sind nach Peirce Zeichen zu verstehen, deren Bestandteile so angeordnet sind wie die Bestandteile des Objekts; z. B. eine Landkarte ist der entsprechenden Landschaft rein äußerlich wenig ähnlich, aber die Proportionen sind relativ genau wiedergegeben. Bei Metaphern (es sind vor allem sprachliche Metaphern gemeint) ist lediglich ein wichtiges Merkmal des Objekts im Zeichen reflektiert („Löwenherz“ gleich „tapferes Herz“). Bei der ikonischen und nicht-ikonischen Chronologie handelt es sich um diagrammatische Ikonizität in der Satzverkettung bzw. um ihre vollständige Umkehrung, denn es geht nicht darum, dass Sätze den abgebildeten Ereignissen irgendwie ähnlich sind, sondern darum, dass ihre lineare syntaktische Reihenfolge innerhalb des komplexen Satzes entweder mit der temporalen Reihenfolge der sequentiellen Ereignisse übereinstimmt (ikonische Chronologie) oder dieser diametral entgegengesetzt ist (nicht-ikonische Chronologie).

0.2.2 Jakobsons „Quest for the essence of language“ und seine Rezeption in den 70er Jahren Während die von Peirce Ende des 19. bis Anfang des 20. Jahrhunderts entwickelten Ideen in der Linguistik weitgehend unberücksichtigt blieben, war die durch Saussure geprägte Vorstellung, dass das sprachliche Zeichen symbolisch (d. h. unmotiviert, willkürlich) ist, dominierend. Das änderte sich erst mit Jakobsons Aufsatz (1971 [1965]), in dem die Ideen von Peirce wiederaufgegriffen und auf die Sprache projiziert wurden. Jakobson relativierte die Behauptung Saussures (1982 [1916]: 100) vom (beinahe ausschließlich) symbolischen (unmotivierten) Charakter des sprachlichen Zeichens, indem er die Auffassung des „signifiant“ und des „signifié“, die nach Saussure nur als mentale Einheiten zu verstehen sind (beide seien geistige Projektionen des Wortes bzw. des Gegenstands), in Anlehnung an die stoische Konzeption durch die materiellen Instanzen ersetzte. Das hat zur Folge, dass die Beziehung zwischen dem materiell verstandenen Wort und dem Gegenstand nicht rein willkürlich (unmotiviert) ist, sondern entweder durch die Ähnlichkeitsbeziehung (Ikon), durch die kausale Beziehung (Index) oder eben durch Konvention (Symbol) geprägt ist. Das eröffnet einen neuen Blick auf die Sprache und erlaubt eine differenziertere Interpretation sprachlicher Erscheinungen (vgl. De Cuypere 2008: 83–90). Jakobson wies auf eine ganze Reihe von Phänomenen (vor allem im Bereich der Syntax) hin, die ganz offensichtlich nicht willkürlich und unmotiviert (symbolisch), sondern unwillkürlich und motiviert (ikonisch oder indexikalisch) sind. Unter anderem zitierte Jakobson den Spruch „Veni, vidi, vici“ als Beispiel für die ikonische Anordnung koordinierter Prädikate. Der Schwerpunkt von Jakobsons Analyse liegt auf der Grammatik, insbesondere Syntax;

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er schließt aber die Idee nicht aus, dass lautliche Zeichen ebenfalls ikonisch sein können (besonders in der poetischen Sprache). Neben Peirce werden bei Jakobson auch Benveniste und Bolinger zitiert, die die Auffassung von Saussure über die Arbitrarität des sprachlichen Zeichens noch vor der Erscheinung seines eigenen Artikels relativiert hatten (Jakobson 1971 [1965]: 348). Für unsere Fragestellung ist wichtig, dass Jakobson in dieser Arbeit zum ersten Mal eine konsistente Begründung der linguistischen Ikonizitätsforschung vorgeschlagen hat (vgl. Burg 1989: passim, De Cuypere 2008: 83–90). In den 1960er Jahren erschien meines Wissens nur eine (linguistische) Publikation, die auf den ursprünglich 1965 erschienenen Artikel von Jakobson ausdrücklich reagiert, und zwar Shapiro (1968). Im bekannten Aufsatz von Greenberg (1976 [1966]: 103) ist implizit zwar von sprachlicher Diagrammatizität die Rede, der Ausdruck „ikonisch“ oder „Ikonizität“ wird jedoch nicht verwendet: „The order of elements in language parallels that in physical experience or the order of knowledge“. Erst nach der Publikation des Artikels „Quest for the essence of language“ in Jakobsons mehrbändiger Werkausgabe beginnt eine ernsthaftere Auseinandersetzung mit diesem Thema. Wescott (1971) hinterfragt die von Saussure vertretene These von der ausschließlichen Arbitrarität des sprachlichen Zeichens und weist darauf hin, dass die Sprache viele ikonische Elemente enthält, die die außersprachliche Realität nachahmen, besonders offensichtlich sei dies in der Syntax. Gamkrelidze (1974) bietet ein weiteres Plädoyer gegen die Dominanz der These über den ausschließlich symbolischen Charakter des sprachlichen Zeichens; die nichtarbiträren, ikonischen Charakterzüge des Zeichens seien besonders in der „horizontalen“ Dimension sichtbar, in der die Zeichen untereinander in Verbindung treten (semiotische Dimension der Syntaktik), während in der „vertikalen“ Dimension, d. h. in der Verbindung des sprachlichen, vor allem lexikalischen, Zeichens mit seinem außersprachlichen Objekt eher die symbolischen Eigenschaften deutlich hervortreten (Dimension der Semantik). Frischberg (1975) analysiert die Gebärdensprache und findet Evidenz, dass deren Entwicklung den ikonischen Gesetzen unterliegt.

0.2.3 Die Ikonizitätsdiskussion von etwa 1980 bis etwa 1995 In den 80er Jahren entfaltete sich eine breite Diskussion über die sprachliche Ikonizität allgemein sowie darüber, welche sprachlichen Erscheinungen wohl ikonische Charakterzüge besäßen. Es wurden zahlreiche Hinweise erbracht, dass bestimmte Bereiche der Sprache nicht nur symbolisch (d. h. willkürlich, unmotiviert) organisiert sind, sondern auch ikonische Züge aufweisen. Allerdings wurde nicht behauptet, dass sprachliche Zeichen insgesamt oder zu einem größeren Teil ikonisch (oder indexikalisch) sind; stattdessen galt es, ver-

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schiedene Gebiete des Sprachsystems („langue“) und der Realisierung des Sprachsystems durch Texte („parole“) auf ikonische Charaktereigenschaften hin zu erforschen. Haiman (1980) kommt zu dem Schluss, dass die Grammatik der meisten Sprachen von der diagrammatischen Ikonizität (Strukturähnlichkeit) beeinflusst ist, und zwar in dem Sinne, dass die Struktur der grammatischen Zeichen die Struktur der abgebildeten Realität nachahmt. Des Weiteren spiele in der Grammatik Isomorphismus, d. h. die Eins-zu-eins-Entsprechung zwischen dem Sprachzeichen und dem Objekt (also unter Ausschluss von Polysemie und Homonymie), eine viel größere Rolle als in der Lexik. Vincent (1980) schlägt vor, das Konzept der Ikonizität als Instrument für die Rekonstruktion der proto-indogermanischen Syntax zu benutzen, unter anderem bei der Erklärung der Grammatikalisierungsprozesse, bei denen syntaktische Elemente zu morphologischen Erscheinungen werden, z. B. das Aufkommen der analytischen Perfektformen in den neueren Sprachen Europas (spätlat. „habeo litteras scriptas“). Eine Realisierung der konzeptuellen Ikonizität ist die sogenannte „natürliche Stellung der Attribute“ (Posner 1980: 61), d. h. das unmittelbare Nebeneinander des Substantivs und des generischen Adjektivs. Ein „langsamer schneller Hund“ läuft doch schneller als ein „schneller langsamer Hund“: Das dem Substantiv näher stehende Adjektiv bezeichnet die Klasseneigenschaft, das ferner stehende Adjektiv dagegen die persönliche oder temporäre Eigenschaft eines Objekts (übrigens ist diese Idee schon in Behaghels 1932: 4 „oberstem Prinzip“ enthalten). Mayerthaler (1981) analysiert Ikonismus in der Morphologie und versucht die aufwändigere morphologische Kodierung innerhalb eines Oppositionspaares mit dem höheren Grad an semantischer Komplexität zu verbinden. Enkvist (1981: 77) spricht vom „experiential iconicism“, der den „ordo rerum“ (Anordnung der Dinge) im Text („sermo“) als „ordo naturalis“ (und nicht als „ordo artificialis“) präsentiert. In Lang (1980) wird die Ikonizität der Personalreferenz untersucht: Nach dem humorvollen Prinzip „Me first on your fiftieth“ erwähnt die sprechende Person zuerst sich selbst, dann den Gesprächspartner, es wird außerdem zuerst etwas nahe Gelegenes erwähnt, dann etwas Entferntes, zuerst Menschliches, dann Tierisches (vgl. auch van Langendonck 1995: 80–82). Üblicherweise wird zuerst die mächtigere Person erwähnt („Präsident und Staatssekretär“), dabei gilt die Umkehrung der Machtverhältnisse in der Anrede „Meine Damen und Herren!“ als höflich (Dotter 1984: 36). In der Monographie „Natural syntax: iconicity and erosion“ untersucht Haiman (1985) verschiedene Realisierungen des Ikonismus, darunter „Veni, vidi, vici“ und das Aktualitätsprinzip von Jespersen (1949: 54), das die Anordnung der Elemente in der funktionalen Satzperspektive beschreibt.

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Einen wichtigen Beitrag stellt der von Haiman (1985, Hg.) herausgegebene Sammelband dar, der die Ergebnisse einer 1983 stattgefundenen Konferenz zur Ikonizität in der Syntax präsentiert. Vor allem muss hier der in diesem Band publizierte Artikel über „temporal sequence“ (Tai 1985) erwähnt werden, in dem das ikonische Potential der Linearität diskutiert und das „Prinzip der temporalen Sequentialität“ aufgegriffen wird (vgl. Abschnitt 1.1.1.1 unten). Ein weiterer Beitrag (Givón 1985) beschäftigt sich unter anderem mit der Auswirkung der Ikonizität auf die Verteilung der Information in der Aussage, und in diesem Zusammenhang wird auch das Aktualitätsprinzip von Jespersen (1949: 54) wiederaufgegriffen und als „Task urgency“ erneut eingeführt (die Stellung „Neues vor Altem“ sei ikonisch vom Standpunkt des Sprechers, da er zuerst das Neue ausdrücken will).5 Im Beitrag von Greenberg (1985) werden Beziehungen zwischen der Ikonizität und der räumlichen, zeitlichen und diskursiven Deixis untersucht (Deixis ist ja eine indexikalische Erscheinung), auf diese Weise wird die Beziehung zwischen zwei nicht-symbolischen Phänomenbereichen – Ikonizität und Indexikalität – thematisiert. Dressler (1989) untersucht die Ikonizität im Rahmen der textlinguistischen Natürlichkeitstheorie, analysiert mittellateinische Kochrezepte unter dem Gesichtspunkt des temporal ikonischen Textaufbaus (s. Abschnitt 3.3.1). Van Langendonck / de Pater (1992: 3) erwähnen das Phänomen der ikonischen Abfolge, unterstreichen aber, dass diese Regel nicht zwingend ist: Bei Erzeugung der Spannung oder bei spezieller Dosierung der Information kann sie gebrochen werden (narrative Flashbacks usw.). Newmeyer (1992) untersucht das Potential der Ikonizität als Erklärungsprinzip in der Generativen Grammatik und kommt zu folgendem Schluss: Die Generativistik würde die Idee befürworten, dass die Strukturen der realen Welt ihren ikonischen Niederschlag in den grammatischen Strukturen finden (dies wäre zumindest in den Standardversionen der generativgrammatischen Theorie der Fall). Auch die „Konversationsmaxime der Art und Weise“ („maxim of manner“: „Be orderly“) von Grice (1975) wird erwähnt, die auf die ikonische Abbildung von Ereignissen anwendbar ist (Newmeyer 1992: 759). Waugh (1994) untersucht die Ikonizität in der Lexik und wägt die Grade der lexikalischen Ikonizität ab. Im Bereich der Lexik demonstrieren Wörter, die als Lautnachahmungen gelten, die bildhafte auditive Ikonizität; Derivata und Zusammensetzungen seien diagrammatisch ikonische Zeichen.

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Vgl. Seiler (1989) zur Wirkung der Ikonizität in der funktionalen Satzperspektive.

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0.2.4 Aktuelle Diskussion über sprachliche Ikonizität (von etwa 1995 bis 2015) Als den Beginn der zweiten Phase der Ikonizitätsdiskussion könnte man – mit einem gewissen Grad an Konvention – die Erscheinung zweier in Europa herausgegebener Sammelbände zur Ikonizität annehmen: Landsberg (1995, Hg.) und Simone (1995, Hg.). Landsberg (1995, Hg.) stellt die Ergebnisse eines 1988 in Zagreb stattgefundenen Kongresses vor. Unter den Beiträgen wären zwei zu nennen: Rolfe (1995) mit der Beschreibung des Phänomens Deixis vom ikonischen Standpunkt aus, das eigentlich in der Domäne der Indexikalität anzusiedeln ist, und van Langendonck (1995), in dem die Widerspiegelung der Ikonizität in der Kategorie der Wortarten untersucht wird. In Simone (1995, Hg.) werden die Ergebnisse einer 1992 in Rom abgehaltenen Konferenz präsentiert. Van Schooneveld (1995) untersucht die Ikonizität in der Wortstellung des Russischen, Französischen, Deutschen und Englischen (die relative Stellung des unterscheidenden und des unterschiedenen Elements). Simone (1995) betrachtet die Ikonizität pragmatisch, er formuliert das Prinzip „Maxim of succession by default“ (alias „Principle of unmarked temporal interpretation“, vgl. Declerck / Reed / Cappele 2006: 427). In Russland blieb die abendländische Diskussion über Ikonizität vorerst weniger beachtet, bis in der wohlbekannten Zeitschrift „Voprosy jazykoznanija“ der Überblicksartikel von Sigal (1997) erschien: Der Autor skizziert die damaligen Ergebnisse der Ikonizitätsforschung und ruft dazu auf, ihre aktuellen Erkenntnisse und Untersuchungsmethoden auf Russisch und andere in Russland gesprochene Sprachen anzuwenden und die entsprechenden Fragestellungen in die theoretische Diskussion Russlands aufzunehmen. Allerdings scheint es in Russland bis heute keine rege Besprechung dieser Problematik gegeben zu haben, obgleich die Ergebnisse der dreißig- bis vierzigjährigen Diskussion im Westen inzwischen ihren Niederschlag in russischsprachiger Tertiärliteratur gefunden haben. Informativ und gut geschrieben ist die Monographie von Anderson (1998) unter dem Titel „A grammar of iconism“, die einen interessanten Beitrag zur Ikonizitätsforschung aus der eher stilistischen und literaturwissenschaftlichen Sicht darstellt; da werden dennoch viele relevante syntaktische Themen tangiert, z. B. „Hysteron proteron“. Die Tradition der Diskussion über Ikonizität im europäischen Forschungskontext ist in der Reihe der Sammelbände weitergeführt worden, die von der Forschergruppe „Iconicity in Language and Literature“ zur Dokumentation der biennal stattfindenden Konferenzen herausgegeben werden. Wegen der viel größeren thematischen Nähe zur vorliegenden Arbeit und der unmittelbaren

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Relevanz für unsere aktuellen Fragestellungen sollen diese Bände hier kurz vorgestellt werden. In Nänny / Fischer (1999, Hg.) werden in einzelnen Beiträgen unter anderem das Wesen der Ikonizität, lautliche und rhythmische Ikonizität, Ikonizität der Schrift, diagrammatische Ikonizität in der Wortbildung, Verbindung der Ikonizität mit der Grammatikalisierung, der Kognition und der Perzeption untersucht. In Fischer / Nänny (2001, Hg.) werden unter anderem die Ikonizität der Anaphern, visuelle Ikonizität in der Werbung, die Ikonizität des englischen Genitivs mit „’s“ oder „of“ analysiert. In Müller / Fischer (2003, Hg.) wird Ikonizität in der Reduplikation, Ikonizität in der Übersetzung usw. thematisiert. In Maeder / Fischer / Herlofsky (2005, Hg.) werden unter anderem räumliche Bezeichnungen von recht und links im Englischen, Deutschen und Russischen untersucht. Tabakowska / Ljungberg / Fischer (2007, Hg.) thematisieren, inter alia, Ikonizität in der Grammatikalisierung, Ikonizität in der Zeichensprache, Ikonizität der pragmatischen Funktionen und Ikonizität der doppelten Negation. In Conradie et al. (2010, Hg.) wird – als ein nennenswertes Thema neben vielen anderen – die Ikonizität in der Etymologie erforscht.6 In Michelucci / Fischer / Ljungberg (2011, Hg.) wird akustische und visuelle Ikonizität, intermediale Ikonizität, kognitive Poetik und narrative grammatische Strukturen thematisiert, da befindet sich auch der Beitrag von Yevseyev (2011) zu nicht-ikonischer Chronologie in englischen literarischen Texten. In Elleström / Fischer / Ljungberg (2013, Hg.) wird Analogie in der Grammatik, raum-zeitliche Ikonizität, ikonische Bedeutungen bei proto-indogermanischen Wurzeln, Ikonisierung der Schrift in der lateinischen sowie in der futuristischen Poesie thematisiert. Hiraga / Herlofsky / Shinohara / Akita (2015, Hg.) besprechen die kulturübergreifende Ubiquität des Ikonischen, Ikonizität der Logik und Ikonizität bei der Übersetzung, inter multa alia. Etwas abseits von diesen Sammelbänden, obgleich im Rahmen desselben Projekts, steht die monographische Abhandlung von De Cuypere (2008), in der Argumente gegen Ikonizität erbracht werden. Der Autor beginnt seine historische Darlegung bei den Vorsokratikern und geht über den platonischen Dialog „Kratylos“ zu Aristoteles. Dann betrachtet er das Postulat von Saussure und erwähnt die von Saussure selbst eingeräumte „relative Motivation“. Dann legt De Cuypere die Theorie von Peirce dar und geht auf Jakobson ein, welcher Saussure und Peirce zu vereinen gesucht hat; danach analysiert der Autor die Motivation als „externe“ sprachliche Ikonizität und den Isomorphismus als „interne“ sprachliche Ikonizität. Dann geht De Cuypere auf phonologische, 6

Interessant ist die Interpretation der Ikonizität nicht als Nachahmung der Bedeutung durch die Form („Form miming meaning“), sondern auch der Form durch die Form („Form miming form“), wohl im Sinne der Intertextualität: „Veni, saltavi, procidi“ („Ich kam, ich tanzte, ich fiel hin“) in Anlehnung an „Veni, vidi, vici“ (Tabakowska 2009: 139).

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morphologische und syntaktische Ikonizität ein, wobei unter dem letzteren Punkt die ikonische Anordnung von Satzelementen zur Rede kommt („Principle of sequential order“, „Principle of linear order“), hier wird die Beobachtung von Givón, dass komplexe Strukturen mit „after“ in der Regel temporal ikonisch aufgebaut sind, auf ihre Konsistenz überprüft, indem eine kleinere BNC-Stichprobe (50 Treffer) zu dieser englischen Konjunktion herangezogen wird. Im vorletzten Kapitel werden die kognitiven Grundlagen der Ikonizität mit Rekurs auf Humboldt thematisiert, zu guter Letzt kommt eine Analyse der doppelten Negation. Der Standpunkt von De Cuypere ist als reserviert bis skeptisch gegenüber dem Erklärungsmodell Ikonizität einzuordnen. Es ist außerdem der kritische Artikel von Haspelmath (2008) zu erwähnen, in dem der Autor die Wirksamkeit der Ikonizität als Erklärungsprinzip für viele sprachliche Erscheinungen anzweifelt (Ikonizität der Quantität, Ikonizität der Komplexität und Ikonizität der Kohäsion) und stattdessen andere Erklärungen vorschlägt, die auf der Vorkommensfrequenz einer sprachlichen Form und dem Zipfschen Gesetz basieren: Häufig vorkommende Wörter mit einer breiten Bedeutung würden „abgenutzt“ und verkürzten sich allmählich, während selten verwendete Wörter mit einer spezifischen Bedeutung kaum „verschlissen“ würden und ebenso lang blieben, wie sie ursprünglich gewesen seien.7 Im selben Heft der „Cognitive Linguistics“ verteidigt Haiman (2008) das Prinzip der Ikonizität gegen Haspelmaths Kritik. Seine Punkte sind im einzelnen das bekannte „Maluma-Takete“-Argument (Lautsymbolismus der Verwendung von nasalen und lateralen Konsonanten für kreisförmige Figuren („Maluma“) und von plosiven Lauten für eckige Figuren („Takete“), zweitens die Regel „mehr Form ≈ mehr Bedeutung“ (Markiertheitsargument), die beide für die Ikonizität als Erklärungsphänomen für einzelne sprachliche Erscheinungen dienen. Wichtig ist für die Fragestellung der vorliegenden Arbeit vor allem, dass die Wirksamkeit des diagrammatisch ikonischen Prinzips „iconi-

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Hier scheint ein Argument stichhaltig zu sein, das in der Literatur nicht oder kaum vorkommt: Wieso sollen Wörter/Wortformen ursprünglich lang (mehrsilbig) gewesen sein? Aus dem Spracherwerb der ein- bis zweijährigen Kinder ist ja bekannt, dass junge Sprachnutzer alle Gegenstände in ihrer Umgebung zuerst mit kurzen, einsilbigen Wörtern benennen; ist das Inventar einsilbiger Wörter nicht mehr ausreichend (Kombinationen von einem bis zwei oder drei Konsonanten mit einem Vokal sind nämlich aus der Sicht der Phonotaktik nicht endlos), dann werden für selten vorkommende Gegenstände oder für abstraktere Konzepte wohl etwas längere, zwei- bis dreisilbige Wortformen gebildet; die größere Länge einer Wortform ist dann ein Signal dafür, dass damit ein weniger gängiger Gegenstand oder ein komplizierteres Konzept bezeichnet wird. Diese Fragestellung muss allerdings speziell studiert werden.

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city of sequence“ als Erklärungsprinzip für die Anordnung von Ereignissätzen von Haspelmath (2008) nicht im geringsten in Frage gestellt wird.8 Die einschlägigen Arbeiten zur temporalen Ikonizität (Bardovi-Harlig 1994, Diessel 2005, Diessel 2008, Jansen 2008) werden im nächsten Kapitel der vorliegenden Arbeit diskutiert, so dass der Forschungsstand im engeren Bereich deutlicher wird. Die aktuelle Aufgabe der Ikonizitätsforschung scheint auf dem heutigen Stand nach wie vor die Apologie des Begriffs Ikonizität gegenüber den Kritikern und die Findung weiterer Evidenz für ikonische Aspekte in der Sprache, außerdem Diskussion in engeren Gegenstandsbereichen zu sein.

0.2.5 „Iconic turn“ – eine kulturwissenschaftliche Diskussion über die Rolle der Bilder Die Ikonizitätsdiskussion der 1980er und 1990er Jahre machte deutlich, dass Ikonizität nicht nur in der Sprache eine bestimmte Wirkung hat, sondern auch in vielen Bereichen des alltäglichen Lebens der Menschen als Organisationsoder Erklärungsprinzip gilt. Daher spricht man im Zusammenhang mit dem wachsenden Interesse an Ikonizät in den Geisteswissenschaften von einer „ikonischen Wende“ („iconic turn“).9 Bilder spielen in der heutigen von visuellen Medien wie z. B. Werbung, Fernsehen, Internet dominierten Welt demnach eine viel größere Rolle als in der früheren Zeit, da Inhalte entweder über das gesprochene Wort oder die Schrift kommuniziert wurden. Als Forum der kulturwissenschaftlichen Diskussion über die Rolle der Bilder in der modernen Gesellschaft sei das schweizerische Projekt „Eikones – Bildkritik“ (http://eikones.ch) erwähnt. Hier seien nur einige der Themen erwähnt, die im Rahmen des Projekts erforscht werden: „Bilder und Musik“, „Denken mit dem Bild“, „Bilder des Gefühls“, „Bildbewusstsein“, „Zeitlichkeit des Bildes“. Im Band „Iconic turn: Die neue Macht der Bilder“ (Maar / Burda 2005, Hg.) werden folgende Themen aufgegriffen:10

8

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Chronologie hat Einfluss sogar auf die Anordnung von Binominalien (Mollin 2012: 87): „The iconic sequencing constraint, iconicity in short, predicts that if the real-world referents of the two elements can be perceived to be in some chronological or causeand-effect order, the linguistic element will retain this order in the binominal […] born and bred, trial and error, spring and summer“. Neben „iconic turn“ werden auch Ausdrücke wie „pictorial turn“, „imagic turn“, „visualistic turn“ verwendet. Vgl. auch Maar / Burda (2006, Hg.) sowie Belting (2007, Hg.) mit der Fortsetzung dieser thematischen Diskussion.

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Bildhaftigkeit innerhalb und außerhalb der Sprache; Bildhaftigkeit in der Wahrnehmung von Kunstwerken der Malerei und Musik; – Bildhaftigkeit im Internet; – Bildhaftigkeit in der Schrift;11 – die Rolle der digitalen Fotografie und des Fernsehens in der Konstruktion der Bildlichkeit; – die bedeutende Rolle der Bildhaftigkeit im Alten Ägypten; – Kritik an der viel zu großen Rolle der Bilder in der zeitgenössischen Gesellschaft: ein Aufruf zum „Ikonoklasmus“. Ein ähnliches Projekt ist http://www.iconicturn.de, da werden Themen wie Bildwissenschaft, Anschaulichkeit, Bilderkennung und Bereiche wie Architektur, Kunst, Kunstgeschichte untersucht. In Russland finden sich seit etwa 2008 vereinzelte Artikel, in denen die „ikonische Wende“ thematisiert wird (vgl. Inišev 2012). Die Ansätze im Rahmen der auf „ikonische Wende“ zurückgehenden Projekte sind wichtig, dennoch bleiben sie primär den Kultur- und Gesellschaftswissenschaften verpflichtet und tangieren sprachwissenschaftliche Themen seltener. –



0.2.6 Fazit: Ikonizität Obwohl Ikonizität als Begriff und Erscheinung immer noch nicht zu den allgemein anerkannten linguistischen Konzepten gehört, muss sie als ein hochplausibler Erklärungsansatz für verschiedene Sprachphänomene angesehen werden. Fern von der Behauptung, dass das sprachliche Zeichen primär oder sogar ausschließlich ikonisch ist, lässt sich in einem realistischen und gemäßigten Ansatz behaupten, dass Ikonizität in weiten Bereichen des Sprachsystems wirksam ist, vor allem in der Syntax, aber auch in der Morphologie, Wortbildung, Phonetik, insbesondere aber im Bereich des Sprachwandels, der Grammatikalisierung usw. Wichtig ist, dass die diagrammatisch ikonische Reihenfolge der Ereignissätze bei der Wiedergabe von Sequenzrelationen sogar von den Kritikern des Konzepts Ikonizität nicht als Phänomen und Erklärungsansatz in Frage gestellt wird (vgl. Haspelmath 2008).

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Vgl. die Fortsetzung der Diskussion über die (mögliche) Ikonizität der Schrift in Glück (2011) unter Rekurs auf Glück (1987).

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0.3 Zeitlichkeit und Zeitreferenz In diesem Unterkapitel sollen die allgemeinen Implikationen der sprachlichen Zeitlichkeit12 und Zeitreferenz analysiert werden, da dieser Bereich neben der Ikonizität die Themenstellung der vorliegenden Arbeit bildet. Es wird hier allerdings nicht das Ziel gesetzt, einen erschöpfenden Überblick über bewährte sowie aktuelle Konzepte in diesem Bereich zu geben: Das wäre schon aus Platzgründen nicht möglich, zumal dieser Punkt nicht zu den theoretischen Zielsetzungen der vorliegenden Arbeit gehört. Stattdessen soll versucht werden, eine Skizze zu entwerfen, die zeigen würde, wie sprachliche Zeitlichkeit und Zeitreferenz dazu beitragen, dass sequentielle Relationen zwischen Ereignissen entweder ikonisch oder nicht-ikonisch wiedergegeben werden. Dazu ist die Betrachtung der Temporalität und des Aspekts (der Aspektualität, der Aktionsarten) notwendig.13 Da der letztere Punkt im Hinblick auf die Themenstellung mehr Fragen aufzuwerfen scheint, ist der Abschnitt über Aspekt und Aktionsarten etwas länger ausgefallen.14

0.3.1 Tempus und Temporalität Der Begriff Temporalität bezeichnet die sprachliche Verortung einer Situation der realen Welt vis-à-vis dem Zeitpunkt des Sprechens (vgl. Fabricius-Hansen 2006: 566).15 Diese können als mit diesem Zeitpunkt zusammenfallend (gegenwärtig), ihm vorausgehend (vergangen) oder auf ihn folgend (zukünftig) dargestellt werden.16 In dieser Hinsicht ist Temporalität eine deiktische Kategorie im Sinne Bühlers (1999 [1934]: 102), da dabei Bezug auf das sprecherbezogene Koordinatensystem „Origo des Zeigfeldes“ hergestellt wird, das sich 12 13 14

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Zum Terminus „Zeitlichkeit“ vgl. Renicke (1966) und Klein (2001). Vgl. Lindstedt (2001) zu allgemeinen Charakteristika von Tempus und Aspekt. Eine andere wichtige Verbalkategorie – Genus Verbi (Diathese) – wird hier nicht speziell betrachtet. Schätzungsweise enthalten 97 % der relevanten Belege mit sequentiellen Zeitrelationen in unseren Korpora zwei Verbformen im Aktiv, in etwa 3 % ist eines der Verben passiv; Strukturen mit zwei Verben im Passiv, zwischen denen eine SequenzRelation etabliert wird, sind sehr selten. Das ist ein indirektes Indiz dafür, dass das Passiv weniger dazu bestimmt ist, temporale Abfolgen zu signalisieren, und daher in der narrativen Funktion kaum verwendet wird. Vgl. den in der wissenschaftlichen Diskussion nicht (mehr) aktiv verwendeten Begriff des Zeitstellenwerts von Koschmieder (1971 [1929]: 2–3); vgl. auch Beschreibung der Temporalität als Phänomen vom formal-logischen Standpunkt in Steedman (1997). Chung / Timberlake (1985: 203) nennen den Zeitpunkt, in Bezug auf den diese Referenz geschieht, den „tense locus“: Bei absoluten Tempora wie dt. Präsens, Präteritum und Futur I ist es der Sprechzeitpunkt, bei relativen Tempora wie Plusquamperfekt, engl. „Future Perfect“ usw. ein anderer Zeitpunkt.

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in der Triade „ICH – HIER – JETZT“ widerspiegelt. Dieses Koordinatensystem mit den dem Sprechzeitpunkt zugeordneten Markern vom Typ „gestern – heute – morgen“ oder „vor einem Jahr – in diesem Jahr – im kommenden Jahr“ bewegt sich auf der Zeitachse mit dem Verlauf der realen Zeit quasi in Richtung Zukunft; alternativ könnte man sich vorstellen, dass das sprecherbezogene zeitliche Koordinatensystem unbeweglich ist und die Zeitachse mit den absoluten Angaben wie „der 12. März – der 13. März – der 14. März“ oder „2016 – 2017 – 2018“ sich auf das Origo-System in Richtung Vergangenheit zu bewegt (s. Beschreibung dieser Metaphern in Koschmieder 1971 [1929]: 2–9).17 Temporalität ist begrifflich breiter als die grammatische Tempuskategorie, denn die Situierung eines Ereignisses im Hinblick auf den Sprechzeitpunkt kann auch durch andere Mittel signalisiert werden, z. B. durch adverbiale Elemente und Partikeln im Chinesischen als einer „Sprache ohne Tempus“ (vgl. Lin 2012: passim) oder satzfinale Partikeln im Burmesischen (vgl. Comrie 1985: 50–51), aber auch in Sprachen mit einem ausgebauten Tempussystem wird die Bedeutung der Tempusformen oft durch adverbiale Elemente unterstützt und präzisiert (vgl. Smith 1980: 356). Die Tempuskategorie ist jedoch die prototypischste Repräsentation der Temporalität, ein grammatikalisiertes Mittel zur obligatorischen Enkodierung der Zeitreferenz.18

0.3.1.1 Eine Skizze der Tempussysteme des Deutschen, Englischen und Russischen Die Tempuskategorie ist in den meisten Sprachen obligatorisch an jedem finiten Prädikat sichtbar. Im Deutschen (vgl. unter anderem Wunderlich 1970, Fabricius-Hansen 1986, Ehrich 1992, Thieroff 1992, Thieroff 1994) ist vor allem die Gegenüberstellung „Vergangenheit – Gegenwart – Zukunft“ relevant, die gewöhnlich mit Präteritum – Präsens – Futur gleichgesetzt wird, aber diese Aufteilung wirft einige Probleme auf. Erstens kann das Präsens nicht nur auf Situationen referieren, die zum Zeitpunkt des Sprechens stattfinden („Ich lese (gerade) Zeitung“), sondern auch auf Situationen, die sich im Rahmen des „Erweiterten Jetzt“ regelmäßig wiederholen („Er macht Yoga“), zu jeder Zeit wiederholbar sind („Das Wasser kocht bei 100 Grad“) oder immer Bestand haben („Die Erde umkreist die Sonne“). Zweitens kann das Präsens auch Situationen bezeichnen, die schon stattgefunden haben (Präsens historicum: „Ges-

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Tempora sind deiktische Kategorien (und somit indexikalisch, vgl. Lyons 1983: 285, Rappaport 1984: 81, Rauh 1985a, Rauh 1985b, Ehrich 1992). Vgl. Comrie (1985: 9): „[tense is] grammaticalised location in time“.

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tern laufe ich durch die Straße und sehe plötzlich...“),19 vgl. auch episches oder szenisches Präsens (Comrie 1976: 73). Im Deutschen ist das Präsens außerdem die regelmäßige Ausdrucksform für Zukunftsbezug.20 Das Futur I hat oft eine modale Interpretation (vgl. Vennemann 1987): deontisch („Ich werde das tun“, d. h. „Ich will das tun, vielleicht tue ich das (später)“) oder epistemisch („‚Wo ist der stellvertretende Betriebsleiter?ʻ – ‚Er wird in der Besprechung seinʻ“, d. h. „Er ist wahrscheinlich in der Besprechung“, vgl. De Haan 2011: 452–455 zu deontischer und epistemischer Modalität). Das Futur II hat fast ausschließlich die modale epistemische Bedeutung mit der Vergangenheitsreferenz: „‚Warum ist er so sonnengebrannt?ʻ – ‚Er wird neulich im Urlaub gewesen seinʻ“, d. h. „Er ist wahrscheinlich im Urlaub gewesen“. Interessant ist der Gebrauch des Präteritums zur Bezeichnung präsentischer Situationen: „Wie war Ihr Name?“ (in einer Behörde), „Wer bekam das Schnitzel?“ (in einer Gaststätte). Die Domäne der Vergangenheit im Deutschen verfügt über eine synthetische Vergangenheitsform, das Präteritum, die als das Erzähltempus der schönen Literatur gilt, und eine analytische Vergangenheitsform, das Perfekt, die über die Grenzen der resultativen Funktion (wie diese z. B. beim englischen „Present Perfect“ vorliegt) hinaus getreten ist und als das Erzähltempus der gesprochenen Sprache gilt (vgl. dazu unter anderem Latzel 1977: 25 und Ballweg 1988: passim). Weiterhin existiert im Deutschen die Vorvergangenheitsform, das Plusquamperfekt, die gerade darauf spezialisiert ist, die exakte Reihenfolge der Ereignisse in der Vergangenheit anzuzeigen, und zwar unabhängig von der linearen Reihenfolge der Sätze. Was die doppelten Perfektformen anbetrifft, so ist ihr Status im Deutschen bis jetzt nicht eindeutig geklärt; diese gelten als regional gefärbt oder umgangssprachlich, ihre Frequenz ist relativ niedrig (s. Details in Abschnitt 4.2.2). Ein interessantes Konzept für die Tempora des Deutschen (projizierbar im Grunde auf viele Sprachen) bietet Weinrich (2001 [1964]): 29–30). Die deutschen Tempora werden in besprechende und erzählende eingeteilt: Zu den besprechenden Tempora gehören Präsens, Perfekt, Futur I und Futur II; erzählende Tempora sind demnach Präteritum, Plusquamperfekt, Konditional („Er würde machen“) und Konditional II („Er würde gemacht haben“).

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Präsens historicum ist eine Nebenfunktion der präsentischen Form in vielen Sprachen (Klein 1994: 123). Meist gilt das für grenzbezogene Verben: „Ich gehe nach Berlin“ wird als zukünftig interpretiert, denn man braucht „Ich gehe gerade nach Berlin“, um die Gegenwart zu signalisieren; dagegen hat das Präsens eines nichtgrenzbezogenen Verbs den Gegenwartsbezug: „Ich spiele Tennis“; daher ist ein Adverbial notwendig, um die Zukunft anzuzeigen: „Ich spiele morgen Tennis“.

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Das Englische hat ein „breit gefächertes“ Tempussystem (vgl. Matthews 1994, Declerck / Reed / Cappele 2006, Michaelis 2006), das von drei sich überschneidenden Oppositionen geprägt ist: „Vergangenheit / Gegenwart / Zukunft“, „‚Non-Progressiveʻ / ‚Progressiveʻ“21 und „‚Non-Perfectʻ / ‚Perfectʻ“.22 Das narrative Tempus ist das „Past Indefinite“ (alias „Past Simple“), der zur Bezeichnung der Ereignisse in der narrativen Kette verwendet wird (vgl. Comrie 1986: 15, Banfield 2005: 592). Sinnvoll ist das Vorhandensein des „Past Continuous“, das nicht ein Ereignis, sondern einen Zustand bezeichnet und dadurch den Stillstand in der Bewegung des Referenzzeitpunktes signalisiert. Ähnlich wie das Plusquamperfekt im Deutschen hat das englische „Past Perfect“ (alias „Pluperfect“) die Funktion, die Vorzeitigkeit einer Situation in der Vergangenheit relativ zu einer anderen vergangenen Situation anzuzeigen, wodurch nicht-ikonische Kodierungen im Wesentlichen möglich werden (Comrie 1986: 18). Das „Present Perfect“ hat die allgemeine Bedeutung des präsentischen Resultats einer vergangenen Handlung, daher kann das „Present Perfect“ im Standardenglischen nicht als narratives Tempus verwendet werden.23 Stattdessen werden dem „Present Perfect“ solche Funktionen zugeschrieben wie „universal perfect“: „Matilda has lived in Sydney for two years (and she still lives there)“; „experiential perfect“: „Dean has been to Adelaide“; „perfect of result“ oder „stative perfect“: „Dean has arrived (he is here)“; „perfect of re-

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Der terminologische Unterschied zwischen „Continuous“ und „Progressive“ ist durchaus sinnvoll, denn unter „Progressive“ sind zwei Reihen von Formen zu subsumieren: „Continuous“ und „Perfect Continuous“, dagegen ist „Non-Progressive“ ebenfalls für zwei Reihen von Formen reserviert: „Indefinite (Simple)“ und „Perfect“. Continuous ist in diesem Sinne also enger als „Progressive“. Es ist eine alte Kontroverse, ob die im englischen Verbalsystem enthaltene Opposition „Perfect“ / „Non-Perfect“ aspektueller Art ist. Auch wenn „Perfect“ manchmal als „Aspect“ bezeichnet wird (vgl. Ritz 2012: 885–894), ist diese Definition fraglich, denn „Perfect“ sagt an sich nichts über die innere Struktur der Situation aus (Comrie 1976: 52, vgl. auch Thieroff 1994: 124), es gibt unter „Perfect“-Formen der Vergangenheit sowohl „Past Perfect“ (d. h. „Non-Progressive“) als auch „Past Perfect Continuous“ (d. h. „Progressive“). Auch wenn es als überholt gelten mag, möchte ich – für praktische Zwecke des aktuellen Projekts – das in der russischen Anglistik bis heute weitgehend beachtete Konzept von Smirnickij (1959: 311–314) akzeptieren, nach welchem – wohl in Anlehnung an Reichenbachs Modell – „Perfect“ nicht als ein Aspekt (oder ein Glied der Aspektopposition), sondern als Glied der „Kategorie der zeitlichen Korrelation“ gelten soll: Bei „Non-Perfect“ ist E gleich R (E=R), bei „Perfect“ liegt E vor R (E