Neue Konstellationen der Gegenwart: Annäherungen, Institutionen und Legitimität [1. ed.] 9783835339316, 9783835346598, 9783835346604

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Neue Konstellationen der Gegenwart: Annäherungen, Institutionen und Legitimität [1. ed.]
 9783835339316, 9783835346598, 9783835346604

Table of contents :
Umschlag
Titel
Impressum
Inhalt
Einführung
Thesen
Udo Di Fabio: Die neue geopolitische Konstellation: Legitimitätskonflikte zwischen Institution und Aktion
Stefan Korioth: Legitimität in der neuen Weltordnung
Maha Hosain Aziz: Unsere globale Legitimitätskrise
Rudolf Mellinghoff: Woher nehmen NGOs und andere zivilgesellschaftliche Akteure ihre Legitimation?
Clemens Fuest: Die »Soziale Verantwortung« der Unternehmen: Neue Allianzen zwischen Politik und Wirtschaft?
Eugénia C. Heldt: Sind internationale Organisationen die tragischen Helden der heutigen globalen Weltordnung?
Wolfgang Schön: Fehlt eine Weltregierung?
Bazon Brock: Wer den zerstörerischen Ernstfall verhindern will, muss mit ihm rechnen
Stefan Oschmann: Kooperation stärkt das Immunsystem der Weltgemeinschaft
Timo Meynhardt: Gemeinwohl in Bewegung: Die Pandemie als Katalysator
Christoph G. Paulus: Wieder-Annäherungen in Europa
Sven Simon: Ein neues Bündnis der Demokratien
Gisbert Rühl: Europa sollte in der Digitalisierung verstärkt zusammenarbeiten
Garrett Wallace Brown mit Convoco im Gespräch: Wie COVID-19 die globale Gesundheitspolitik herausfordert
Lothar H. Wieler: COVID-19 und das Robert Koch-Institut: Rahmenbedingungen und Grundsätzliches zur Bekämpfung einer Pandemie in Deutschland
Jörn Leonhard: Corona als globale Epochenzäsur? Historische Annäherungen
Die Beiträgerinnen und Beiträger

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Neue Konstellationen der Gegenwart: Annäherungen, Institutionen und Legitimität

Neue Konstellationen der Gegenwart: Annäherungen, Institutionen und Legitimität Herausgegeben von Corinne Michaela Flick

WALLSTEIN !!!!!!!!!!!!!!!!! CONVOCO! EDITION

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© Wallstein Verlag, Göttingen 2021 www.wallstein-verlag.de Vom Verlag gesetzt aus der Adobe Garamond Umschlaggestaltung: Jade Blanchard-McKinley ISBN (Print) 978-3-8353-3931-6 ISBN (E-Book, pdf) 978-3-8353-4659-8 ISBN (E-Book, epub) 978-3-8353-4660-4

For perhaps the first time in history, people around the world are having the same conversations and sharing the same fears  … It might only be for this weird moment in our history, but we cannot deny that we are currently experiencing what it feels like to live in One World. Ivan Krastev (2020)  

Inhalt

Einführung   . . . . . . . . . . . . . . . .

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Thesen  . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Udo Di Fabio Die neue geopolitische Konstellation: Legitimitätskonflikte zwischen Institution und Aktion . . . . . . . . . . .

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Stefan Korioth Legitimität in der neuen Weltordnung . . . .

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Maha Hosain Aziz Unsere globale Legitimitätskrise . . . . . . .

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Rudolf Mellinghoff Woher nehmen NGO s und andere zivilgesellschaftliche Akteure ihre Legitimation?  . . . . . . . . . . . . . .

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Clemens Fuest Die »Soziale Verantwortung« der Unternehmen: Neue Allianzen zwischen Politik und Wirtschaft? . . . . . .

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INHALT

Eugénia C. Heldt Sind internationale Organisationen die tragischen Helden der heutigen globalen Weltordnung? . . 113 Wolfgang Schön Fehlt eine Weltregierung?  . . . . . . . . . 129 Bazon Brock Wer den zerstörerischen Ernstfall verhindern will, muss mit ihm rechnen . . . . 139 Stefan Oschmann Kooperation stärkt das Immunsystem der Weltgemeinschaft . . . . . . . . . . . 145 Timo Meynhardt Gemeinwohl in Bewegung: Die Pandemie als Katalysator . . . . . . . . 161 Christoph G. Paulus Wieder-Annäherungen in Europa . . . . . . 179 Sven Simon Ein neues Bündnis der Demokratien . . . . . 193 Gisbert Rühl Europa sollte in der Digitalisierung verstärkt zusammenarbeiten  . . . . . . . . . . . . 205 Garrett Wallace Brown mit Convoco im Gespräch Wie COVID -19 die globale Gesundheitspolitik herausfordert . . . . . . . . . . . . . . . 219 8

INHALT

Lothar H. Wieler COVID -19 und das Robert Koch-Institut: Rahmenbedingungen und Grundsätzliches zur Bekämpfung einer Pandemie in Deutschland . . 243 Jörn Leonhard Corona als globale Epochenzäsur? Historische Annäherungen . . . . . . . . . 263 Die Beiträgerinnen und Beiträger

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Einführung

Liebe Convoco-Freunde, als sich das Thema Neue Konstellationen der Gegenwart: Annäherungen, Institutionen und Legitimität entwickelte, waren die sich verändernden Formationen erst im Keim wahrnehmbar. Jetzt ist offensichtlich, wie sehr das Thema unsere heutige Welt und das neue Bewusstsein widerspiegelt. Durch COVID -19 sind die neuen Kooperationen und Verbindungen stärker zum Vorschein getreten, ein neues Gefühl der Solidarität findet transnationalen Ausdruck. Der Wert des Gemeinwohls ist deutlicher geworden und hat eine globale Ausprägung erhalten. Bezugspunkt ist nicht mehr ausschließlich der Nationalstaat. Das bedeutet aber nicht, dass wir nicht auch das Aufkommen starker nationaler Interessen beobachten. Diese gegensätzlichen Entwicklungen gehen Hand in Hand. Auf den ersten Blick scheinen sie sich auszuschließen, doch das Zusammengehören von Paradoxien ist ein entscheidendes Merkmal der neuen Zeit.1 Man kann immer mehr länderübergreifende Initiativen beobachten. Themen wie Klima, Umweltverschmutzung und Pandemien kennen keine Ländergrenzen und erfordern daher stärkere Kooperation der Weltgemeinschaft. Transnationale zivilgesellschaftliche 11

EINFÜHRUNG

Bewegungen sind Ausdruck eines neuen Verantwortungsgefühls sowie eines Bewusstseins für unsere gegenseitige Abhängigkeit. Auf staatlicher Ebene sehen wir neue Formen der internationalen Zusammenarbeit. Die globalen Strukturen befinden sich in Transformation. Während der Multilateralismus an vielen Stellen unter Druck gerät, entstehen neue Formationen des Plurilateralismus. So ist zum Beispiel unter der Führung von China im ostasiatischen Raum mit Indonesien und Australien die größte Freihandelszone der Welt, die Regional Comprehensive Economic Partnership (RCEP), entstanden. Wir sehen vermehrt Partnerschaften zwischen Regierungen und privaten Akteuren in Bereichen, die ursprünglich hoheitlich waren. Die Zusammenarbeit von Staat und Unternehmen hat sich zum Beispiel im Bereich Cyber Security als unabdingbar herausgestellt. Nichtregierungsorganisationen (NGO s) betätigen sich vermehrt in traditionell hoheitlichen Aufgabengebieten. Sie treten als Mediatoren in Konflikten auf, wo die Staatengemeinschaft zunehmend unfähig ist, Lösungen zu finden. »The new tech activist« ist ein bisher nicht dagewesenes Phänomen. Unternehmer wie Bill Gates oder Michael Bloomberg übernehmen globale Verantwortung für Themen wie Gesundheit oder Umwelt. An der Bill & Melinda Gates Foundation wird die zwiespältige Rolle vieler neuer Mitwirkender deutlich: einerseits als Brückenbauer, die vernetzen, andererseits als eigenständige Akteure, die die politische Agenda beeinflussen. Diese Handelnden beanspruchen eine aus ihrer selbstgesetzten Aufgabe hergeleitete Legitimation, »sei sie aus moralischer Autorität, Sachkenntnis oder 12

EINFÜHRUNG

kritischer zivilgesellschaftlicher Begleitung drängender Fragen wie der Energieversorgung oder des Schutzes der Umwelt«.2 Der UN -Generalsekretär António Guterres sprach mahnende Worte: Die Nationen, die sich vor mehr als sieben Jahrzehnten durchgesetzt haben, haben sich geweigert, über Reformen nachzudenken, die zur Änderung der Machtverhältnisse in internationalen Institutionen erforderlich sind. […] Ein neues Modell für Global Governance muss auf einer vollständigen, integrativen und gleichberechtigten Beteiligung an globalen Institutionen beruhen.3 Für die Erneuerung unserer bestehenden Institutionen bedarf es der Staatskunst und Führungsstärke bei den Weltmächten. Mit Blick auf die zunehmend isolationistischen USA gibt es für die nahe Zukunft jedoch wenig Hoffnung, dass wir diese von der traditionellen Führungsmacht des Westens erwarten können. Eine Abkehr von Europa ist bereits seit der Amtszeit von Präsident Obama zu beobachten. Diese Situation bietet allerdings Europa die Chance, das Vakuum zu füllen und mehr globale Verantwortung zu übernehmen, vorausgesetzt Europa schafft es, verstärkt geschlossen aufzutreten. Es gibt viele Ansätze, wie Europa zu mehr Kooperation gelangen kann, nun gilt es, diese Ideen umzusetzen. Institutionen sind ein wichtiger Faktor für eine stabile Weltordnung. Sie sind Instrumente der Kooperation. Institutionen verbinden einen langfristigen Zweck mit 13

EINFÜHRUNG

einem Verständnis von Gemeinwohl und schaffen ein kollektives Verantwortungsbewusstsein.4 Sie bündeln die Erfahrungen vieler über Generationen hinweg und wandeln das Gegensätzliche in ein Einheitliches um. Institutionen sind daher ein wichtiges Werkzeug für die Zivilisierung der Welt. Soll heißen, für eine Welt, in der unterschiedliche Kulturen gleichwertig nebeneinander bestehen, die sich gemeinsamen Regeln verschreibt und auf universelle Zusammenarbeit setzt – und die erkennt, dass man einen Hegemon nicht braucht. Die Beiträge in diesem Band argumentieren, dass sich unser Weltverständnis dahin entwickeln sollte. Die durch die Pandemie ausgelöste Krise kann uns dabei helfen, denn in jeder Krise liegt auch eine Chance. Deutlich wird durch die Pandemie, wie unser eigenes Wohlergehen von dem Wohlergehen der anderen abhängt. Im Jahr 1986 beschrieb der Soziologe Ulrich Beck den Weg in eine neue Moderne. Er sprach von einer Risikogesellschaft, die sich aufgrund gemeinsam geteilter Risiken zusammenfindet. Für Ulrich Beck entsteht damit eine Solidarität aus Angst. Der Makrosoziologe Heinz Bude spricht von einer Solidarität aus dem Gefühl der Verwundbarkeit, die aus einer Erfahrung wie der Bedrohung durch das Virus kommt.5 Solidarität kann uns eine Basis für den Überbau der Interessensgegensätze und der kulturellen Unterschiede bieten. Die Universalität und Übernationalität der heutigen Herausforderungen kann zu einer weltweiten Solidargemeinschaft führen. Vermehrt blitzt dieses universale Gefühl der Solidarität bereits auf. Es entsteht aus der Erkenntnis unserer gemeinsamen Menschlichkeit, die über Nationen, 14

EINFÜHRUNG

hörigkeiten und Religionen hinausgeht und Mitgefühl für das Leid unserer Mitmenschen hervorruft. Konkret zeigt sich diese Solidarität in der internationalen Hilfe bei Naturkatastrophen, in der Strafverfolgung von Verstößen gegen Menschenrechte oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit sowie in der globalen Empörung über die ungesetzliche Tötung von schwarzen US -Amerikanern durch die Polizei. Dieses Gefühl der Solidarität begegnet uns mehr und mehr. Wir erfahren es auch in den vielen Bestrebungen nach transnationaler Gleichheit und Gerechtigkeit. Es geht um eine neue inklusive Solidarität und nicht um eine sich nach außen abgrenzende Solidarität nach dem Motto »wir gegen den Rest der Welt«. Heinz Bude nennt Solidarität »das Rätsel einer eigentümlichen Komplizenschaft, die keinen festen Grund, aber eine existenzielle Erfahrung für sich in Anspruch nehmen kann«.6 Wichtig dabei ist die Erkenntnis, dass zu einer weltweiten Solidargemeinschaft neben dem Menschen auch die Tier- und Pflanzenwelt gehört, dass die Zeit der Ausbeutung der Natur zu einem Ende kommen sollte. Hier ist ebenfalls ein Transformationsprozess im Gang, der sich immer deutlicher im globalen Wechsel zu erneuerbaren Energien zeigt und der sich transnational im CO2-Zertifikatehandel niederschlägt. Denn die Alternative ist ein neues Zeitalter des Artensterbens, das womöglich sogar die Menschheit umfasst. Dass der Weg zu universaler Kooperation sich auch konfliktreich gestalten könnte, zeichnet sich bereits ab. Es ist fraglich, ob die unilaterale Weltordnung der letzten Jahrzehnte weiterhin gültig ist. Ist unsere Welt inzwischen bipolar oder eher multipolar? Sind wir auf 15

EINFÜHRUNG

dem Weg in ein »post-hegemonisches« Zeitalter? Dass es uns schwerfällt, eine Antwort auf diese Fragen zu finden, ist bereits Beweis genug, dass etwas Neues im Entstehen ist. Das Virus agiert derweil als Katalysator der Transformation. COVID -19 bringt die Gefahr mit sich, die bestehenden Ungleichheiten der Welt zu verschärfen. Regionen, in denen bereits vor der Pandemie Hunger und Armut herrschten, könnten in ihrer Entwicklung noch weiter zurückfallen und ihre Gesellschaften würden vulnerabler werden. Damit würde sich die bereits bestehende Kluft zwischen den Ländern vergrößern, und es steigt die Gefahr, dass die Welt auseinanderfällt. Das kann aber in niemandes Interesse liegen. Heutige Herausforderungen verlangen nach den neuen und erweiterten Kooperationsformen, wie sie im Entstehen sind. Sie sind getragen von einem wachsenden Gemeinwohlverständnis. Corinne Michaela Flick, im Januar 2021

Anmerkungen 1 Convoco Notes, Wie ist der heutige Nationalismus zu verstehen, Newsletter 4.!10.!2020, https://mailchi.mp/1c8b4f587213/ cuso7qcxlg-4449318, abgerufen am 8.!12.!2020. 2 Stefan Korioth, »Legitimität in der neuen Weltordnung«, in diesem Band, S. 49. 3 António Guterres, Tackling the inequality pandemic: a new social contract for a new era, Nelson Mandela Annual Lecture, New York 2020, https://www.nelsonmandela.org/news/entry/ annual-lecture-2020-secretary-general-guterress-full-speech, abgerufen am 29.!10.!2020. 4 Roger Scruton, Sein und Sein-Lassen, in: Tun oder Nichttun – Zwei Formen des Handelns, hg. von Corinne Michaela Flick, Göttingen 2015, S. 43-45.

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EINFÜHRUNG

5 Heinz Bude und Corinne Flick, Solidarität aus Verwundbarkeit, CONVOCO! Podcast (23), September 2020, http://con voco.co.uk/de/convoco-podcast-heinz-bude-1, abgerufen am 24.!11.!2020. 6 Heinz Bude, Solidarität: Die Zukunft einer großen Idee, München 2019, S. 33.

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Thesen

Durch COVID -19 sind die neuen Kooperationen und Verbindungen stärker zum Vorschein getreten, ein neues Gefühl der Solidarität findet transnationalen Ausdruck. Der Wert des Gemeinwohls hat eine globale Ausprägung erhalten. Bezugspunkt ist nicht mehr ausschließlich der Nationalstaat. Das bedeutet aber nicht, dass wir nicht auch das Aufkommen starker nationaler Interessen beobachten. Diese gegensätzlichen Entwicklungen gehen Hand in Hand. Auf den ersten Blick scheinen sie sich auszuschließen, doch das Zusammengehören von Paradoxien ist ein entscheidendes Merkmal der neuen Zeit. Corinne Michaela Flick Ich halte es in unserer vernetzten Welt für unerlässlich, dass wir vielfältige Stärken, Perspektiven und Methoden bewusst verknüpfen, um gesunde Zukunftsaussichten für uns alle sicherzustellen. Wir brauchen als Weltgemeinschaft einen stärkeren multilateralen Schulterschluss – und deutlich mehr sektorübergreifende Partnerschaften. Denn wir sind mit ernsten globalen Risiken konfrontiert, gegen die ein Land oder eine Gruppe allein wenig ausrichten kann. Stefan Oschmann

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THESEN

Die neue Allianz von politischen Amtsinhabern und zivilgesellschaftlichen Akteuren muss das entstandene, lähmende politische Lagerdenken überwinden, und zwar nicht mit dem Ziel einer neuen Konformität, sondern gerade umgekehrt mit dem Ziel einer neuen Streitkultur. Udo Di Fabio Aus gesamtgesellschaftlicher Sicht produktive Allianzen zwischen Politik und Wirtschaft sollten nicht in erster Linie eine Verflechtung und enge Kooperation zwischen Unternehmensvertretern und politischen Entscheidungsträgern beinhalten, sondern ein geteiltes Bewusstsein für die Spielregeln, die eingehalten werden müssen, damit individuelles Gewinnstreben wirklich dem Gemeinwohl dient. Clemens Fuest Eine »Weltregierung«, der kein Mensch entkommen kann, ist eine Schreckensvision – bei aller Anerkennung für deren fantastische technokratische Möglichkeiten, globale Herausforderungen zu bewältigen. Aber die Schaffung eines »Weltvolks«, dessen Angehörige sich einander solidarisch verbunden fühlen und nationale und internationale Institutionen auf globale Gemeinwohlziele verpflichten, wäre ein großer Schritt. Wolfgang Schön Internationale Organisationen stehen zunehmend unter öffentlichem Druck. Vor diesem Hintergrund wird argumentiert, dass internationale Organisationen die tragischen Helden der internationalen Politik sind. Wenn sie zu eng mit den Mitgliedstaaten zusammenarbeiten, werden sie als Marionetten in den Händen der 20

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tigsten Staaten im System gesehen. Wenn sie sich hingegen emanzipieren und in eigener Regie handeln, wird ihnen Machtüberschreitung vorgeworfen. Eugénia C. Heldt Die Legitimität einer Ordnung bezog sich lange Zeit ausschließlich auf klar begrenzte Gesellschaften, zumeist in Staaten organisiert. Diesen geschlossenen Legitimitätskreisen sind Konkurrenten zur Seite getreten. Eine wachsende Zahl überstaatlicher und globaler privater Organisationen beansprucht für sektorale Aktivitäten und auch bei der Entscheidung über die Organisation der Wirtschaft Legitimität neben oder gegen den Staat. Es bleibt aber Aufgabe der Staaten, Legitimitätsansprüche anzuerkennen oder zurückzuweisen. Stefan Korioth In den letzten zehn Jahren hat sich eine einzigartige, globale Legitimitätskrise entwickelt. Normen der Politik, Geopolitik, Wirtschaft und Gesellschaft wurden herausgefordert. Diese Legitimitätskrise wird sich wahrscheinlich im kommenden Jahrzehnt verschärfen. Maha Hosain Aziz Zivilgesellschaftliche Organisationen spielen im politischen Prozess eine gewichtige Rolle. Unter dem Gesichtspunkt der Partizipation sind sie insbesondere auf internationaler Ebene legitimiert, an politischen Entscheidungen mitzuwirken. Die letztverbindliche Entscheidung über hoheitliche Maßnahmen muss aber den demokratisch legitimierten Organen vorbehalten bleiben. Rudolf Mellinghoff 21

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Die erst junge Allianz der europäischen Staaten droht bereits wieder auseinanderzufallen. Um dem Einhalt zu gebieten, muss ein neues Narrativ geschaffen werden, nachdem Europa als Friedensbringer und -wahrer an Überzeugungskraft und Attraktivität verloren hat. Dieses neue Narrativ könnte ein Ertrag der Corona-Krise sein, nämlich ein Europa gemeinsamer Rechte und Verantwortlichkeiten. Christoph G. Paulus Die Volksrepublik China hat sich zu einem Systemrivalen entwickelt und macht dem Westen in seinem Wohlstandsversprechen Konkurrenz. Angesichts der weiter zunehmenden politischen und wirtschaftlichen Bedeutung Chinas sollten sich die liberalen Demokratien der Welt zu einer strategischen Allianz D-10 (zehn Demokratien) zusammenschließen, um in dem Systemwettbewerb bestehen zu können. Sven Simon Die Digitalisierung hat massive Auswirkungen auf die Arbeitswelt und auf die Geschäftsmodelle großer Unternehmen: Digitale Plattformen sind das Geschäftsmodell des 21. Jahrhunderts. Der Vormachtstellung chinesischer und amerikanischer Unternehmen kann Europa nur mit einer innovationsfreundlichen Infrastruktur und einem gemeinsamen Ansatz begegnen, um seine Wettbewerbsfähigkeit zu sichern. Gisbert Rühl Das Älteste erneut denken: Der Kapitalismus versiegt. Bazon Brock Über die systemische Planung der Gesundheitspolitik hinaus müssen wir auch externe Faktoren 22

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tigen, zum Beispiel die planetare Gesundheit, ökologische Systeme und die Umweltbedingungen, die einen Einfluss auf die menschliche Gesundheit haben. Wir müssen unser Denken vernetzen und die globale Gesundheit als ein ganzheitliches System verstehen. Garrett Wallace Brown Je solidarischer die Weltgemeinschaft bei der Verteilung von Impfstoffen ist, desto kürzer werden die Zeiträume bis zum Erreichen einer ausreichenden Immunität zwischen einzelnen Ländern sein. Bezüglich Immunität gilt dasselbe wie bezüglich Preparedness: das schwächste Glied in der Kette bestimmt den Erfolg für alle. Lothar H. Wieler Ob die Pandemie zu neuen Gemeinwohlkonstellationen führt, ist offen. Eines zeigt sie gewiss: Die hohe Zeit der Differenzierungstheoretiker ist vorbei, wenn diese ihre Gemeinwohlvoraussetzungen nicht in den Blick nehmen. Eine Umkehrung des Ausgangspunktes ist angesagt. Timo Meynhardt Zur Zäsurbildung gehört der gesicherte Blick auf eine Vorvergangenheit. Die Corona-Pandemie besitzt noch kein abgrenzbares Ancien Régime. Dennoch erhöht die Vielzahl der  Paradoxien die Wahrscheinlichkeit einer Welt im Umbruch, zwischen Transition und Transformation, nicht revolutionär in einem einzigen Moment entstanden, sondern inkremental durch die allmähliche Entfaltung und die immer längere Dauer der Krise. Wir können heute nicht mehr so sicher sein wie noch vor einem Jahr, ob sich unter der Oberfläche des vermeintlich 23

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Bekannten, der scheinbaren Wiederholung, der präfigurierten Gegenwart, nicht doch ganz Neues ergibt, das den hermeneutischen Rahmen der Kontinuitätserzählung durchbricht. Jörn Leonhard

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Die neue geopolitische Konstellation: Legitimitätskonflikte zwischen Institution und Aktion

Niemand bestreitet es. Wir stehen in einer neuen geopolitischen Konstellation. Die siebzig Jahre lang gültige, die multilateral geprägte atlantische Weltordnung: Sie verblasst. Unter der im Allgemeinen sanften Hegemonie der USA hatte sich seit 1945 ein charakteristischer Prozess der Internationalisierung entwickelt. Internationale Organisationen von UNO über EU, ASEAN , IWF, Nato, WTO oder OECD bis hin zu internationalen Gerichtshöfen markieren die Welt überstaatlicher Politik. Von dort aus ließen sich die alten Machtstaaten zunehmend in die Pflicht nehmen. Die fortbestehenden nationalen Primärräume des Politischen wurden durch ein immer dichter werdendes Geflecht aus Verträgen und internationalen Organisationen moderiert und strukturiert. Der jedenfalls theoretisch bestehende absolute Souveränitätsanspruch der Staaten wurde durch das Prinzip wechselseitiger Bindung relativiert. Hier, auf internationalen Konferenzen oder europäischen Ratssitzungen, wurden gemeinsame Ziele formuliert, Absprachen getroffen, Kompromisse erreicht. Es ging um die Gewährleistung offener Handelswege und fairer Handelsbedingungen, Währungs- und Konjunkturfragen, 25

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Rüstungsbegrenzung, gemeinsame Friedenssicherung, Kriegsfolgeneindämmung. Grenzüberschreitende Themen wie Bildung, Bekämpfung von Epidemien, Sicherung der Welternährung, Artenschutz, das Weltklima, die Diskussion über soziale oder ökologische Projekte: All das wuchs bis heute zusammen zu einer überstaatlichen Agenda. Jahrzehntelang verfestigten sich Institutionen des »Global Government«.1 Nach dem Ende des Kalten Krieges sah es so aus, als ob »Global Government« nicht nur eine technisch kühle Beschreibung für eine zwischenstaatliche Konferenz- und Verhandlungskultur sei, sondern das Zeug dazu habe, eine Art Weltregierung hervorzubringen und allmählich das Ende der Staaten als bestimmende Subjekte der Geschichte einzuläuten. Der scharfsinnige Denker der Spätaufklärung Immanuel Kant hatte in seinem philosophischen Entwurf Zum ewigen Frieden die beiden Wege zivilisierter Staatenverbindungen oder einer einheitlichen Weltrepublik konzeptionell ausgelotet.2 Thomas Hobbes hatte zuvor den neuzeitlichen absolutistischen Staat des 17.  Jahrhunderts gerechtfertigt, also legitimiert mit dem Bild der Menschen im Naturzustand, in dem jeder des anderen Feind sei und das Recht des Stärkeren, also kein Recht herrsche. Freiheit, als individuelle verstanden, war für Hobbes demnach nur möglich, wenn man in den Zustand der Gesetzlichkeit unter der Herrschaft des Rechts und eines Inhabers des Gewaltmonopols – des Leviathans – eintritt. Diese rationale, vernünftige Legitimierung des Staates wendet Kant nunmehr auf einer höheren Ebene, die Welt der Staaten, an. Auch in dieser Welt souveräner Staaten herrscht ursprünglich das ungezügelte Recht des 26

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keren: mit dem ius ad bellum, dem Recht zum Krieg. Der Prozess der Zivilisierung der Staaten bis hin zum internationalen Gewaltverbot3 ist einer, der Gesetzlichkeit auch zwischen den Staaten hervorbringt und allmählich dafür Garantien schafft.4 Aber Immanuel Kant hat Hobbes nicht einfach nur eine Ebene höher gezont von der Welt der Individuen in die Welt der Staaten. Der Königsberger Philosoph hat doch etwas tiefgehender gedacht als der Staatspraktiker Thomas Hobbes. Denn wäre Kant dem Vorbild Hobbes in der Ebenenverschiebung treu geblieben, so hätte er einen Weltstaat, einen Welt-Leviathan vernunftphilosophisch verlangen müssen. Aber genau das hat Kant nicht getan. Obwohl er im internationalen Friedensgebot die Substanz des Weltbürgerrechts eines jeden Menschen sieht, hält er den Krieg zwischen Staaten notfalls sogar für das kleinere Übel im Vergleich zu einem Weltstaat, der bereits in seiner funktionell notwendigen Distanz zu allen konkreten Lebensverhältnissen und angesichts des Rechts von politischen Gemeinschaften, sich selbst zu verfassen, nur als seelenlose Despotie (»seelenloser Despotism«) enden könne.5 Dennoch konnte man seit 1990 den Eindruck gewinnen, dass eine international vernetzte Elite ein Projekt der Denationalisierung und der Entstaatlichung zugunsten neuer Formen des Regierens mit aller Kraft beförderte. Für manche irregeleiteten Geister der Gegenwart wirken Außenpolitiker und Diplomaten, Intellektuelle und Unternehmer, NGO s und Wissenschaftsräte, Beamte der EU -Kommission und OECD Experten oder global operierende politische Stiftungen und Richter internationaler Gerichte wie die Elemente 27

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eines Netzwerks von Geheimgesellschaften mit einer womöglich destruktiven, jedenfalls nicht demokratisch legitimierten Agenda. So ähnlich müssen traditionelle Anhänger des absoluten Königtums oder des Ständestaates die Freimaurer zur Zeit der Aufklärung mit Argusaugen betrachtet haben. Heute fallen Namen wie »Bilderberg-Konferenz«, George Soros oder Bill und Melinda Gates bei jedem Verschwörungstheoretiker, der etwas auf sich hält. Doch es gibt keine dunkle Verschwörung. Was es über Jahrzehnte hinweg gab, war und ist ein rational begründetes Einverständnis und ein gut gemeinter kosmopolitischer Common Sense, wonach jeder Schritt in supranational verstärkte Bindungen gerechtfertigt ist, und zwar wegen der Gefahren eines neu aufflammenden machtstaatlichen Atavismus. Jeder Mechanismus der Staateneinbindung galt als gut, jede Verstärkung wechselseitiger Abhängigkeiten galt als positiv. Am Ende eines Verhandlungsmarathons in Brüssel konnte Staatspräsident Macron Ende Juli 2020 den Eintritt in eine gemeinsame Verschuldung angesichts der CoronaHilfsmaßnahmen nicht etwa nur als notwendiges Übel rechtfertigen, sondern ihn als historischen Schritt feiern. Die Sachzwänge vergangener Integrationsschritte, die als zukunftsgewisse Denationalisierung begriffen wurden, wie die Währungsunion oder die gemeinsame Asylpolitik, entfalten heute Wirkungen, die als Entgrenzungsdruck auf klassischen Institutionen lasten – Institutionen wie die Demokratie, das parlamentarische Budgetrecht, die Stabilität von Währungen oder die der Finanzmärkte. Innen und Außen sind eigentümlich verschränkt. Globale Wirtschaft bringt enorme 28

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teile, aber sie kann auch als exogen nicht beherrschbares Geschehen im Inneren von Staaten erhebliche Anpassungsschwierigkeiten und Kosten verursachen. Die Regierungen reagieren auf globale (exogene) Unsicherheiten, indem sie ihre öffentlichen Ausgaben für die soziale Sicherheit der Binnenwirtschaft erhöhen. Wenn dann eine höhere wirtschaftliche Integration eine höhere globale Unsicherheit hervorruft, kann das die Vorteile der Globalisierung zunichte machen.6 Dasselbe gilt aus kultureller Perspektive.7 Die Architekten der Überstaatlichkeit haben sich mit guten Gründen als Vertreter der Aufklärung und als Pioniere universeller Menschenrechte und globaler Gemeinwohlbelange verstanden. Aber heute stehen sie reaktiven Gegenkräften gegenüber. Aber wer waren genau die Akteure dieser multilateralen Weltordnung, die jetzt aus den Fugen gerät? Die wichtigen Akteure auf dieser Bühne waren das diplomatische Personal der Staaten, aber auch internationale Wissenschaftsorganisationen, global operierende Unternehmen, private Hilfsfonds, wirtschaftliche Interessenvertretungen und politisch aufgestellte Nichtregierungsorganisationen. Der große Prozess der Globalisierung fand statt in dieser Rahmenordnung, die sich allmählich selbst stabilisierte und selbstverständlich wurde. Unter den Bedingungen des Kalten Krieges war diese multilaterale Rahmenordnung stets prekär. Aber ihre rituellen Abläufe und ihre Verhaltensstandards standen doch für eine vorherrschende, linear verlaufende mächtige Tendenz. Über Jahrzehnte ist auch soziologisch und sozialpsychologisch nachweisbar eine internationale Elite entstanden, die in ihren Staaten und 29

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in ihren nationalen Kulturräumen sich als progressiv versteht und auf die Disziplinierung des Staatenegoismus hinwirkt.8 Das Projekt heißt Zivilisierung der alten Machtstaaten durch neue Formen rationaler politischer Kooperation und Regelbildung. Doch Geschichte verläuft selten linear. Sie bewegt sich nicht immer auf einer von der Vernunft gezeichneten Straße des Fortschritts. Es gab und gibt die Tendenz zur Internationalisierung ebenso wie diejenige der Resilienz, jene Hartnäckigkeit und das Beharrungsvermögen nationaler und regionaler Herrschaftsräume. Die Tücke eines dialektischen Geschichtsverlaufs kann darin liegen, dass auch die besten Kräfte Gegenkräfte hervorrufen können, die – wenn sie mächtig genug sind – durchaus vom »Pfad des Fortschritts« wieder ablenken können. Das geht auch zurück auf genuine Bedingungen politischer Herrschaft, die gerade in Spannungslagen oder bei zentrifugalen Wirkkräften auf starke Identitätsmuster angewiesen sind: Gemeinschaftsgefühle aus kultureller, sprachlicher, sozialstruktureller, familiärer, ethnischer oder immer wieder auch religiöser Provenienz.9 Hinzu tritt ein gefährlicher Verlust des Institutionenwissens. Wer den Staat nur in seiner machtstaatlichen Verirrung der großen Weltkriege betrachtet und als Gefahr für den Frieden und globale Gemeinwohlziele wahrnimmt, dem entgeht womöglich das gewaltige Leistungspotenzial dieser neuzeitlichen Herrschaftsform. Die Institution des modernen Staates hatte die Komplexität des politischen Systems reduziert. Konzentration der Staatsgewalt, professioneller Beamtenapparat, rationale Herrschaft durch kodifiziertes Recht 30

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und der Glaube an wissenschaftlichen, technischen und sozialen Fortschritt: das alles sind Kennzeichen des modernen Staates. Gerade mit dem demokratischen Verfassungsstaat entstand eine Institution, die auch in einer funktional ausdifferenzierten Gesellschaft als ihre handlungsfähige Mitte betrachtet werden konnte. Denn hier findet sich eine Mitte, die durch die volonté générale der Bürger und durch ihre stetige Zustimmung in Wahlen und Abstimmungen (Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG) legitimiert wird.10 Doch die wachsende Leistungsfähigkeit des Staates und pluralistische Offenheit im Innern und die gerade nach 1945 und dann nach 1990 vollzogene Öffnung des Staates nach außen erhöhte wieder die Unübersichtlichkeit des politischen Systems. Die innere Pluralisierung der liberalen Gesellschaften und ihre äußere Konföderierung vor allem im supranationalen Europa bannte die Diktatur- und Kriegsgefahr wirkungsvoll. Transnationales Regieren unter Beibehaltung nationaler und regionaler Gesetzgebung und Verwaltung machte aber Politik enorm kompliziert. Die Wirklichkeit politischer Herrschaft erinnert heute wieder an vorneuzeitliche Muster, die der rationale Staat einst überwunden hatte. Die Neuordnung der EU oder die Änderung des US -amerikanischen Wahlsystems ist etwa so »einfach« wie eine grundlegende Sozial- und Wirtschaftsreform im alten kaiserlichen China oder die Neuordnung des Finanz- und Heerwesens im mittelalterlichen Heiligen Römischen Reich. Die stark ausdifferenzierte horizontale und vertikale Teilung der Gewalten ist dabei nicht die einzige Ursache. Poli31

https://doi.org/10.5771/9783835346598

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tische Blockaden, eine Erosion von Institutionen lassen sich auch in Staaten wie den USA ohne supranationale Tradition beobachten. Der öffentliche Meinungsraum ist einerseits globalisiert und er ist universell zentriert mit seiner Betonung von Menschenrechten, Diversität und einer globalen Gemeinwohlagenda. Dabei abstrahiert sich beim liberal-progressiven Teil des politischen Spektrums das Gemeinschaftsgefühl in globale Verhältnisse und parzelliert sich zugleich in Gruppenidentitäten des diversen Denkens. Die politische Linke ist insofern zugleich kosmopolitisch universell so ausgreifend, wie sie mit ökologischer Lokalität und gruppenspezifischer Identitätsbetonung partikularistisch und trennend ist. Der konservative, der rechte Flügel des politischen Systems sucht Gemeinschaften weiter in kulturellen oder nationalen Erfahrungsräumen und nimmt die globale Perspektive geopolitisch als Thema nationaler Selbstbehauptung und Weltgestaltung auf. Dabei wird von beiden politischen Großrichtungen –  wenngleich in unterschiedlicher Weise – der öffentliche Meinungsraum »provinziell« und sogar tribal zergliedert, er ist im Inneren verstärkt in fragmentierten Erlebnisräumen zerklüftet. Auch der politische Steuerungsehrgeiz erzeugt ungeheure Komplexität. Das lässt die Möglichkeiten der Beobachtung von maßgeblicher Wirklichkeit schwinden, weil einfach zu viel geschieht und es sachlich kompliziert ist. Der unentwegte Versuch, mit Gesetzen und Verordnungen die Gesellschaft zu steuern oder sogar komplett zu transformieren, der Versuch, durch fiskalische und monetäre Interventionen Wirtschaftskrisen und Ungleichgewichte zu bekämpfen, hat zu einer 32

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ckenden Überregulierung und zu einer Hybridisierung der Finanz- und Fiskalwirtschaft geführt, die alte Institutionen wie das Bankensystem oder die Notenbankpolitik an ihre Grenzen führt. Solchen Entgrenzungsdruck gibt es nicht nur in der EU, sondern auch in Japan, Brasilien oder Nordamerika. Die indischen politischen Philosophen Ramashray Roy und Raj Kamal Srivastava haben in ihren Dialogues on Development die Unfähigkeit der politischen Gesetzgebungsmaschinerie, sich selbst zu begrenzen, zu disziplinieren, als deren größten Nachteil bezeichnet: »The greatest drawback of our rulers is their lack of discipline. They cannot maintain discipline among themselves nor can they maintain discipline over their administrative machinery.«11 Politik in einem theoretisch anspruchsvollen Sinne ist nicht einfach nur Gesetzgebung und die Vollstreckung von Gesetzen im Verwaltungsvollzug. Politische Herrschaft findet statt in einem offenen und vernetzten Kommunikationsprozess, in dem über Gemeinwohlziele debattiert wird und der erst am Ende eines langen Prozesses auf die Erzwingung von Gehorsam gerichtet ist. Eine Klimaschutzkonferenz beispielsweise diskutiert darüber, ob das 2-Grad-Ziel bis Ende des Jahrhunderts ein vernünftiges und konsensfähiges Projekt ist, dann richten sich internationale Organisationen und supranationale Einrichtungen wie die EU darauf aus und die einzelnen Staaten verpflichten sich entsprechend durch eine innerstaatliche Regelsetzung oder die völkervertragliche Unterwerfung unter Emissionshandelssysteme. Die transnationale Vernunft verfolgt solche großen Projekte und sieht sich dabei bereits aus der Sache und aus dem Telos der Geschichte legitimiert. 33

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Wer den weltweiten Hunger, die Unterdrückung der Frauen in rückständigen Gesellschaftsformationen, wer Analphabetismus, Kindersterblichkeit und Seuchen, die globale Erwärmung und ihre Folgen bekämpft, der ist sachlich und moralisch legitimiert. Neben die klassische Legitimität der völkerrechtlichen Staatenbeziehungen trat mehr und mehr die Legitimität internationaler Projekte, der Eigenwert von Zusammenarbeit und die sachliche Autorität von Einrichtungen wie etwa der Weltgesundheitsorganisation (WHO). An internationale Organisationen dockten sich Expertengruppen und politische Akteure der NGO s oder privater Stiftungen wie die von Melinda und Bill Gates an. Neben den üblichen diplomatischen Regierungskonferenzen entstand ein überstaatlicher Kommunikations- und Aktionsraum, der auf die Willensbildung staatlicher und internationaler Organe einwirkte oder mit komplementären oder initiativen Aktionen selbst Hilfe leistete, etwa bei der Bewältigung von Hungerkatastrophen, der Entwicklungsförderung, schulischer Bildung oder der Folgen des Klimawandels. Diese Eine-Welt-Konstellation wirkte nach dem Ende des Kalten Krieges wie die unbestreitbare Matrix einer universellen Weltordnung. Weltrepublikanischer Geist durchwehte die intellektuellen und medialen Interpretationen. Die technische Realisierung und Verbreitung des World Wide Web schien eine technologische und politisch-strukturelle Koinzidenz zu sein: Der amerikanische Vizepräsident Al Gore sprach Anfang der 90er Jahre von der »digitalen Agora«. Der Traum von einer globalen Demokratie und ganz neue Formen der Partizipation schienen möglich; das Denken in 34

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rechtlichen und völkerrechtlichen Kategorien dagegen erschien altmodisch. Auch große und alte Demokratien wie die englische sollten nur als Ordnungsräume denkbar sein, die an globale Gemeinwohlbelange ausgerichtet und institutionell gebunden sind. Das weltweite Netz wirkte wie der Schlussstein eines Logos der Geschichte: Zu Beginn des zweiten Jahrzehnts unseres Jahrhunderts erkannten viele im arabischen Frühling den notwendigen und folgerichtigen Aufstand junger Menschen, die ihre Rebellion in sozialen Netzwerken verabredeten.12 Die Massendemonstrationen ebenfalls überwiegend junger Menschen in Hongkong im Widerschein ihrer Smartphones waren bereits 2014 das Sinnbild der digitalen Agora, die jeden nationalen und territorialen Herrschaftsanspruch zu einem hoffnungslosen Unterfangen zu erklären schien.13 Doch die Entwicklung einer normativ und institutionell eingebundenen Souveränität stößt seit längerem an Grenzen. Was wir heute erleben, ist eine Rebellion gegen diese Ordnung, eine ernstzunehmende »Konterrevolution«. In diesem Ringen entsteht eine neue geopolitische Konstellation. China hat die atlantische Ordnung als Bedingung des eigenen wirtschaftlichen Aufstiegs nur als Vorgegebenes hingenommen, wollte aber nie Teil dieser Ordnung werden. Das alte China war sinozentrisch und sah in der Umgebung nur Vasallen. Als im 19.  Jahrhundert die Europäer mit ihren Handelsprinzipien und der formalen Staatengleichheit China zerstörten, war die Rede von den »ungleichen Verträgen«, die als Erinnerung bis heute ein wichtiger Merkposten für Pekings Politik bleiben. Die Panzer auf dem 35

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Platz des Himmlischen Friedens 1989 waren ein deutliches Signal, dass China nach innen sich weder liberalisiert noch demokratisiert und sich auch nach außen nicht multilateral einbinden lassen wird. Für China geht es um die Harmonie, um das Ansehen und die Selbstbehauptung ihres Gemeinwesens, und nicht um die Zentralität universeller Menschenrechte. Partei und Staat haben in China das liberale Weltbild mit seinem universellen Anspruch als subversive Gefahr klassifiziert.14 Je mächtiger das Land wird, je stärker die USA ihre hegemoniale Stellung aufs Spiel setzen und je länger die Europäer unfähig bleiben, sich selbst als eigenständige globale Macht zu entfalten, desto deutlicher verschieben sich die Proportionen geopolitischer Machtmechanik.15 Seit der Machtübernahme Putins, seit der neo-osmanischen und autokratischen Politik Erdoğans in der Türkei vergrößert sich die Zahl antiwestlicher Spieler. Aus der multilateralen wird eine multipolare Welt. Auch die westlichen Demokratien verlieren jene Festigkeit, die sie im kalten Krieg stark gemacht hatte. Die USA sind innerlich zerrissen, von rechts und links wird provoziert, werden Gräben vertieft. Auch jenseits von Trump dürfte »America First« auf der Tagesordnung des alten Hegemons stehen. Der Brexit erfolgte unter der zündenden Parole »Take back control«.16 Für kontinentaleuropäische Vertreter des öffentlichen Meinungsraums war das ein typisch englischer Spleen, vielleicht sogar das Ergebnis einer von innen und außen gesteuerten Manipulation des Referendums, jedenfalls ein komplett unverständliches Abweichen von der sicheren Straße der Vernunft. Aber jene Hälfte der britischen Öffentlichkeit, die für den Brexit votierte, wollte 36

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vor allem die eigene demokratische Selbstbestimmung wieder zurück und lehnte eine immer engere Union ab. Abgelehnt wurde damit auch ein Projekt, das unter maßgeblicher Beteiligung des Vereinigten Königreichs einst auf den Weg gebracht worden war und das jetzt an einer Wegegabelung steht.17 Weitermachen und den Kopf einziehen? Oder müssen neue Allianzen geschmiedet werden, um der Falle des neuen FreundFeind-Mechanismus zu entkommen? Wer es heute wirklich ernst meint mit globalen Projekten, der muss eine Bedingung jeden politischen Handelns erkennen. Moralische und sachliche Diskurse sind immer an institutionelle Kontexte gebunden. Wer eine moralisch oder sachlich gut begründete Position kompromisslos vertritt, kann Respekt verdienen. Wenn er diese Position aber so vertritt, dass die Institutionen rechtsstaatlicher Demokratien beschädigt werden, dann verletzen er oder sie die Grundbedingungen politischer Moral. Es gibt beispielsweise sehr gute Gründe, den Ausstieg aus der Kohleverstromung zu fordern. Aber es gibt keinen einzigen guten Grund, in einer Demokratie Gewalt gegen Polizeibeamte anzuwenden.18 Der Zorn junger Menschen über eine ihrer Ansicht nach verfehlte Klimapolitik ist legitim. Doch die Behauptung eines Totalversagens einer ganzen Generation oder des von Lobbyisten unterwanderten Parlamentarismus desavouiert die Demokratie. In der Migrationskrise ab 2015 waren Staaten oder die allermeisten Bürger, die kritisch einer auf Kontrolle verzichtenden Öffnung von Grenzen gegenüberstanden, keine Schurkenstaaten oder inhumane Menschen, keine schlechten Christen. Aber der moralische Mechanismus der Freund-Feind-Lager37

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bildung schnappte wie eine Falle zu. Entgegenstehende politische Meinungen müssen stärker ausgetragen und ausgehalten werden, bevor die Klappe des moralischen Unwerturteils fällt. Wer Menschen in seiner Würde verletzt, zu Gewalt und zum Hass aufruft, verdient die Missachtung und gegebenenfalls die Härte des Rechtsstaats. Aber Debatten müssen jenseits dieser Grenzen offen geführt werden – ohne mit Mechanismen einer politisch verzweckten Moral den Meinungsgegner vorschnell zum Feind, zum Bösen zu machen. Die neue Allianz von politischen Amtsinhabern und zivilgesellschaftlichen Akteuren muss das neu entstandene, das lähmende politische Lagerdenken überwinden, und zwar nicht mit dem Ziel einer neuen Konformität, sondern gerade umgekehrt mit dem Ziel einer neuen Streitkultur. Die neue geopolitische Konstellation ist es, die zum Umdenken zwingt. Die Demokratien werden mehr in sich selbst investieren müssen, in die Vitalität und die Funktionsfähigkeit ihrer Staaten, damit sie in die Geltung der Menschenrechte und in kollektive Güter der Menschheit weltweit investieren können. Eine Politik, die bereit ist, umzudenken, wird die Handlungsfähigkeit und die Selbstbehauptung von Institutionen wieder viel ernster nehmen und mit jedem Sachthema verbinden. In den Institutionen ist die Weisheit der Jahrhunderte gespeichert. Wir wissen, dass ein freier Welthandel nicht nur für Immanuel Kant eine Voraussetzung des Weltfriedens war. Wir wissen, dass die Marktwirtschaft, vor allem die soziale Marktwirtschaft, jeder staatlichen Kommandowirtschaft weit überlegen ist. Wir wissen, dass ohne einen wirksamen 38

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staat keine individuelle Freiheit möglich ist. Niemand sollte hinter John Locke, den Staatsphilosophen der Aufklärung und der amerikanischen Unabhängigkeit, zurückfallen und glauben, dass man Frieden gegen Freiheit oder umgekehrt tauschen könnte. Und niemand sollte glauben, dass Frieden und gerechter Wohlstand auf Dauer aus Unfreiheit wachsen könnte. Eine der grundlegenden Institutionen ist der Rechtsstaat.19 Die Unabhängigkeit der Gerichte ist ebenso wichtig wie der Respekt für öffentliche Bedienstete, die die Demokratie an ihren Platz gestellt hat. Polizistinnen, Feuerwehrleute oder Rettungssanitäter sind an das Recht gebunden, bedürfen insofern der rechtlichen und öffentlichen Kontrolle, sie dürfen aber auch einen wirksamen Schutz erwarten, wenn sie angegriffen werden. Politische Kultur, die hier den Respekt verliert, verliert eine ihrer Lebensadern. Politische Urteilskraft verlangt die Fähigkeit zur Kontextualisierung und zur soziokulturellen Nachhaltigkeit. Wer eine nachhaltige Demokratie will, wird nicht nur in den Klimaschutz investieren, sondern auch die Staatshaushalte ausgewogen halten und demokratische Verantwortlichkeit für das Budget nicht in ungewissen gemeinsamen Schuldverschreibungen auflösen wie Würfelzucker im heißen Tee. Nachhaltige Politik fördert technologische Pionierleistungen und die eigene Wettbewerbsfähigkeit. Sie erkennt Bildung und soziale Integration in den Arbeitsmarkt als Voraussetzung einer solidarischen Gesellschaft. Die individuelle Freiheit, unsere angeborenen Menschenrechte, die jedem gleich zustehen, bilden das eine Band einer normativen Doppelhelix, die einem ande39

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ren Informationsstrang gegenüberliegt.20 Dieses andere Band ist die gemeinsame, die politische Freiheit, also Volkssouveränität, gemeinschaftliche Selbstbestimmung – beides wird in einem geordneten Verfassungsstaat als Unterscheidbares zusammengeführt. Beide genetischen Codes der individuellen Selbstentfaltung und der gemeinschaftlichen Selbstbestimmung sind nie identisch, aber sie gehören zusammen und sie sind die Voraussetzung für die Selbstbehauptung des Westens in einer neuen geopolitischen Konstellation, die am Ende des Tages in eine neue ausgewogene Friedensordnung münden wird.

Anmerkungen 1 Joel P. Trachtman, The Future of International Law: Global Government, Cambridge 2013. 2 Immanuel Kant, Zum ewigen Frieden und Auszüge aus der Rechtslehre, mit einem Kommentar von Oliver Eberl und Peter Niesen, Berlin 2011. 3 »Alle Mitglieder unterlassen in ihren internationalen Beziehungen jede gegen die territoriale Unversehrtheit oder die politische Unabhängigkeit eines Staates gerichtete oder sonst mit den Zielen der Vereinten Nationen unvereinbare Androhung oder Anwendung von Gewalt.« Art. 2 Nr. 4 UN -Charta. 4 Dazu schon: Michael Zürn, »Positives Regieren« jenseits des Nationalstaates. Zur Implementation internationaler Umweltregime, Zeitschrift für Internationale Beziehungen, 4.  Jahrg., H. 1., 1997, S. 41!ff.; ders., Regieren jenseits des Nationalstaates, Berlin 1998. 5 Kant (Anm. 2), Erster Zusatz, 2. 6 Siehe dazu die Literaturauswertung von Canh Phuc Nguyen und Christophe Schinckus, The spending behaviour of Government through the lenses of global uncertainty and economic integration, Journal for Economic Forecasting, 23, 2020, S. 35!ff.

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  7 Rüdiger Safranski, Wieviel Globalisierung verträgt der Mensch?, München 2019.   8 Lasse Folke Henriksen und Leonard Seabrooke, Elites in transnational policy networks, Global Networks 2020, https: //doi.org/10.1111/glob.12301, abgerufen am 9.!11.!2020.   9 Jede politische Herrschaft muss die unwahrscheinliche Asymmetrie von Befehl und Gehorsam rechtfertigen und auch affektiv grundieren: Es geht dabei immer auch um Einheitsfiktionen, siehe dazu Udo Di Fabio, Herrschaft und Gesellschaft, Studienausgabe, Tübingen 2019, S. 22!ff. 10 Klaus Thomalla, »Herrschaft des Gesetzes, nicht des Menschen«, Tübingen 2019, S.  232!ff.; Georges Goedert, Die souveräne Gemeinschaft und ihre Untertanen. Zur »volonté générale« bei Jean-Jacques Rousseau, in: Perspektiven der Philosophie, Neues Jahrbuch, Band 38, 2012, S. 257!ff. 11 Ramashray Roy und Raj Kamal Srivastava, Dialogues on Development. The Individual, Society and Political Order, New Delhi 1986, S. 97. 12 Kamal Eldin Osman Sali, The Roots and Causes of the 2011 Arab Uprisings, Arab Studies Quarterly, Vol. 35, 2013, S. 184!ff. 13 Fern Tay Huey, Hong Kong student »umbrella revolution« movement takes to social media to separate fact from fiction in pro-democracy protests,  ABC News 30.!9.!2014, https:// www.abc.net.au/news/2014-09-30/feature-social-media-usein-hong-kong-protests/5780224, abgerufen am 7.!12.!2020. 14 Barbara Lippert und Volker Perthes (Hg.), Strategische Rivalität zwischen USA und China, SWP Studie (1) 2020, S.  38. Siehe eine etwas ältere Analyse zur kulturellen Prägung Chinas in der Außenpolitik: Jürgen Bellers, Politische Kultur und Außenpolitik im Vergleich, Berlin 1999, S. 42!ff. Die ebenfalls ältere Wahrnehmung, dass China ideologische Fixierungen allmählich aufgebe (siehe etwa Hans Helmut Taake, China: von der ideologischen Fixierung zu außenpolitischem Pragmatismus, in: Entwicklungspolitiken. 33 Geberprofile, hg. von Reinold E. Thiel, Hamburg 1996, S. 233!ff.), müsste wohl zwischenzeitlich dahingehend fortgeschrieben werden, dass eine neue Ideologisierung auf dem Weg ist, der allerdings vom Marxismus weg eher zu einem Sino-Nationalismus weist. 15 Hanns W. Maull (Hg.), Auflösung oder Ablösung? Die internationale Ordnung im Umbruch, SWP-Studie S 21, 2017.

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16 Man musste von der Stimmigkeit dieser These (»a fools’ game«?) nicht überzeugt sein, um ihre Wirkung wahrzunehmen: Juliette Ringeisen-Biardeaud, »Let’s take back control«: Brexit and the Debate on Sovereignty, French Journal of British Studies, XXII -2, 2017. 17 Di Fabio (Anm. 11), S. 235!ff. 18 Das Recht diskutiert indes bereits auch in der Schweiz über eine neue Nachgiebigkeit: Andrés Payer, Klimawandel als strafrechtlicher Notstand. Zugleich Besprechung des Urteils des Bezirksgerichts Lausanne PE19.000742/PCL/llb vom 13.!1.!2020, sui generis 2020, S. 226!ff. 19 Hasso Hofmann, Geschichtlichkeit und Universalitätsanspruch des Rechtsstaats, in: Der Staat, 34, 1995, S.  1!ff.; Thomalla (Anm. 10), S. 387!ff. 20 Udo Di Fabio, Schwankender Westen, München 2015, S. 137!ff.

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Stefan Korioth

Legitimität in der neuen Weltordnung

I. Eine zentrale Figur in dem 2015 erschienenen Roman Unschuld (im Original Purity) des amerikanischen Autors Jonathan Franzen ist Andreas Wolf, Sohn eines DDR-Funktionärs und Betreiber der im südamerikanischen Urwald versteckten Enthüllungsplattform »Sunlight Project«. Diese Plattform sammelt und verbreitet mit der Hilfe idealistischer Computerexperten geheime Daten von Regierungen und Rüstungsunternehmen. Das Ziel ist, die Welt gerechter und transparenter zu machen. Anklänge an »Wikileaks« drängen sich auf. Tatsächlich aber setzt Andreas Wolf auch Gewalt, Geld, Täuschung und Manipulation ein, der Anspruch seiner Plattform, legitime Interessen zu verfolgen, ist fragwürdig. »Unschuldig« ist jedenfalls niemand. Was in dem Roman als vielschichtiges Beziehungsgeflecht in einer sich wandelnden Welt entfaltet wird, in der Kenntnisse aus untergegangenen Überwachungsstaaten für gegenwärtige Verhaltensbeeinflussung nützlich sind, lässt sich auch als große Frage nach der Legitimität individuellen, gesellschaftlichen und politischen Handelns unter heutigen Bedingungen lesen. Dann illustriert das Buch drastisch die heutige Verunsicherung 43

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darüber, was richtig oder falsch und was legitim oder illegitim ist. Mehr noch: Legitimität als Schlüsselbegriff sozialer Ordnungen hat allein in den letzten dreißig Jahren einen weiten Weg zurückgelegt, Legitimationsvorstellungen haben bezeichnende Wechsel ihrer Bezugspunkte durchlaufen. Legitimität in einem weiten Sinn bedeutet die Überzeugung von Mitgliedern einer Gesellschaft und Herrschaftsunterworfenen, die Regeln und Ziele des Zusammenlebens seien angemessen und berechtigt. Darauf basiert der Geltungsanspruch einer Ordnung, vor allem eines politischen Systems, und das Recht auf Regieren. In einem engeren Sinn und als Rechtsbegriff meint Legitimität herkömmlich das positive Urteil über die Richtigkeit der staatlichen Ordnung und umfasst diejenigen Maßstäbe, nach denen sich jedes Regieren und jede Verhaltensbestimmung verantworten muss. Der Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte (1966) rechnet zu diesen Maßstäben der Legitimität vor allem das Selbstbestimmungsrecht des Volkes (Art.  1), freie Wahlen (Art. 25) und die effektive Achtung der wesentlichen Menschenrechte (Art. 2). Mit Erfolg Legitimität beanspruchen zu können, ist eine Grundvoraussetzung für die Akzeptanz kollektiver Entscheidungen und das Ausüben politischer Herrschaft. Jeder politisch Handelnde, nicht nur Regierende, hat das höchste Interesse an solcher Legitimität. Der Bezugspunkt der Legitimität war lange Zeit der zumeist nach nationalen Prinzipien geordnete und geschlossene Staat. Heute dagegen gibt es viele Quellen für Regeln und Herrschaft, staatliche, nichtstaatliche, supra- und internationale, hierarchische und 44

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erarchische. Was bedeutet es, wenn Legitimität ihren klaren Bezugspunkt verliert? Wie lässt sich Legitimität in pluralen Ordnungen erklären und herstellen? Warum denken heute viele, transnationale private Organisationen, wie z.!B. »Wikileaks« (oder, bei Jonathan Franzen, das imaginäre »Sunlight Project«), verdienten mehr Vertrauen und könnten mehr Legitimität für sich beanspruchen als Regierungen? Dem gelten die folgenden Überlegungen, die zunächst die Entwicklung der Legitimationsvorstellungen beleuchten (II .) und dann ihre gegenwärtigen Voraussetzungen (III .).

II. Mittelalterliche Legitimität war religiöse Legitimität der Herrschaft, durch Akklamation der Unterworfenen bestätigt und durch persönliche Autorität des Herrschers bekräftigt. Aus ihr leitete sich die Rechtmäßigkeit der einzelnen Entscheidungen ab. Die Legitimität der Herrschaft sicherte gegen Usurpation, schützte Land und Leute aber auch gegen Tyrannei, weil sie neben dem Grund auch die Grenzen der Herrschaft bezeichnete. Der spätere absolute Herrscher ist der ausdrücklich von Gottes Gnaden berufene Herrscher, dessen Legitimität nunmehr aber eine dynastische, vererbliche ist, aus der Majestas, Glanz und Gloria sich ableiten. Mit der französischen Revolution ändert sich alles. Jetzt tritt Legitimität erstmals in einen Wechselbezug mit der Legalität, der Rechtmäßigkeit von Regierungshandeln auf der Grundlage von geschriebenen Gesetzen und vor allem geschriebenen Verfassungen. Die religiöse und 45

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sche Legitimität der Herrschaft verschwindet. Dagegen wehren sich – ein letztes Mal und ohne langanhaltenden Erfolg – die europäischen Herrscher auf dem Wiener Kongress, die das »Legitimitätsprinzip« berufen, um zu rechtfertigen, dass trotz der Neuordnung Europas durch Napoleon ohne weiteres die alten Mächte wieder in ihre Rechte einrücken sollten. Nach diesem Legitimitätsprinzip sollten die napoleonischen Kriege nur Tatsache, Gewalt ohne Legitimation gewesen sein, die das historische Recht störten, das nunmehr wiederhergestellt werden müsse. So einfach aber ging es nicht. Nach Einführung der geschriebenen Verfassungen standen die monarchische und die verfassungsrechtliche Legitimation nebeneinander, bis sich mit der Rechtsstaatlichkeit und, zeitlich folgend, der Volkssouveränität das Prinzip der Legalität, der nach selbstbestimmten Gesetzen ausgeübten und begrenzten Herrschaft, in den Vordergrund schob. Die Entwicklung bilanzierte zu Beginn des 20.  Jahrhunderts Max Weber, der zwischen traditionaler, charismatischer und legaler Herrschaft unterschied. Die legale Herrschaft ist für ihn das Formprinzip der Moderne – legitimiert wird sie durch vorgegebene, feststehende Regeln, meist in Gestalt des Rechts, die durch eine rational arbeitende Bürokratie vollzogen werden. Nach Webers berühmter Definition liegt die Gemeinsamkeit der drei Herrschaftstypen darin, dass sie die »Chance« bedeuten, »für einen Befehl bestimmten Inhalts bei angebbaren Personen Gehorsam zu finden.«1 Im Gegensatz zur rein faktischen »Macht« ist »Herrschaft« durch den »Legitimitätsglauben« charakterisiert. Der moderne Verfassungsstaat drehte das alte Prinzip, wonach aus der Legitimität die Rechtmäßigkeit 46

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folgte, um. Jetzt war die Herrschaft der Gesetze, die Legalität, Ursprung der Legitimität. »Der Gesetzgebungsstaat«, so vermerkte Carl Schmitt mit kritischem Unterton, »ist das typische Vehikel einer mit Parteiprogrammen ausgerüsteten reformistisch-revisionistischevolutionistischen Ära, die den ›Fortschritt‹ durch richtige Gesetze auf parlamentarisch-legalem Wege zu verwirklichen sucht.« Hier herrsche das neue »Ethos des richtiges Recht richtig normierenden« Staates. »Wenn in diesem System Worte wie ›legitim‹ oder ›Autorität‹ überhaupt noch gebraucht werden, so nur als Ausdruck der Legalität«.2 Aus der Legalität soll die Legitimität folgen – oder beide sind sogar identisch. Dass dies allerdings schnell Risse bekam, schilderte Schmitt schon für das Deutschland der Weimarer Republik. Wenn alle Bestrebungen und Interessen Inhalt der Legalität werden können, dann schlägt der »eigentümliche Rationalismus des Legitimitätssystems […] in sein Gegenteil um«.3 Die Neuordnung nach dem Zweiten Weltkrieg wollte Beliebigkeit verhindern. Jetzt normierte die Verfassung ausdrücklich unverrückbare Inhalte; die »Wertordnung« des Grundgesetzes war der Ausdruck des neuen Wegs, der stark ausgeweiteten Legalität das Anrecht auf Legitimität zu geben. Auch das stieß an Grenzen. Erste Probleme zeigten sich in den 1980er Jahren, als unter dem Schlagwort des »zivilen Ungehorsams«, z.!B. des Widerstands gegen die Atomkraft und in Gestalt von Hausbesetzungen, höhere und bessere Berechtigungen gegen die Legalität ausgespielt wurden. Auch die Gewährung von »Kirchenasyl« für Personen, die nach den Regeln der Legalität kein Recht auf Aufenthalt in der Bundesrepublik haben, 47

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zählt zu diesen Phänomenen der neuen Legitimität, die sich bewusst gegen die Legalität wendet und Sanktionen in Kauf nimmt. Die Reaktion des Staates war nur gelegentlich die harte Durchsetzung der Legalität, aktuell etwa gegenüber »Reichsbürgern«, die der geltenden Ordnung vollständig Legalität und Legitimität absprechen. Viel häufiger versuchte der Staat, durch Verhandeln, durch Kommunikation und Nachgeben zu Lösungen zu gelangen, wobei es mal weniger und mal mehr Geschick und Erfolg gab. Aus dem legitimen Leviathan wurde zunächst der gebändigte Leviathan, der sich dann zum nützlichen Haustier verwandelte.4

III. Der Staat ist aber nicht nur bei solchen gesellschaftlichen Konflikten im Inneren und hier kraft freier Entscheidung zum Herrschaftsmanager mit angegriffener Legitimität geworden. Globalisierung und Internationalisierung haben ihn auf ganz anderen Feldern entthront und den Herrschaftsmonopolisten in den Wettbewerb mit supra- und internationalen Organisationen sowie Nichtregierungsorganisationen und Unternehmen gezwungen. Wie lässt sich in diesen Verflechtungen Legitimität herstellen, also – ganz im Sinne Max Webers – der Glaube daran, dass die aus jetzt multiplen Quellen stammenden Regeln angemessen und berechtigt sind? Dabei ist zunächst zu unterscheiden. Eine Gruppe der genannten nichtstaatlichen Organisationen leitet sich, wie vor allem die Europäische Union und die Vereinten Nationen, von Staaten ab, die als 48

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der des Clubs über dessen Aufgaben, Pflichten, Befugnisse und Finanzierung bestimmen. Hier lässt sich Legitimität, so schwierig das im Einzelfall sein mag, von den Mitgliedern herleiten. Dies gilt auch für transnationale Organisationen mit begrenztem Aufgabenkreis, der aber höchste Bedeutung haben kann, wie etwa im Fall der Welthandelsorganisation, der Weltbank und des Internationalen Währungsfonds. Die zweite, quantitativ und qualitativ immer wichtigere Gruppe, sind Global-Governance-Institutionen in einem weiten Sinn. Sie sind völlig von Staaten und Staatengemeinschaften entkoppelt. Dazu zählen Nichtregierungsorganisationen (NGO s), unter denen Umweltverbände wie »Greenpeace« oder kapitalismuskritische Gruppen wie »Attac« besonders wichtig sind, aber auch spontane wie die »Fridays for Future«-Bewegung, global agierende Stiftungen und weltweit tätige Unternehmen, in deren Hand und Oligopol die Versorgung mit allgemein benötigten Gütern liegt, insbesondere digitale Angebote. Für viel Diskussion haben im Zuge der Finanzkrise 2008/2009 auch Anwaltsfirmen gesorgt, die –  teilweise sogar im Auftrag staatlicher Gesetzgeber – die Regelwerke entwarfen und verfassten, an die dann die von ihnen beratenen Finanzinstitute gebunden sein sollten. All diese ganz verschiedenen Gruppen nehmen für sich eine aus ihrer selbstgesetzten Aufgabe hergeleitete Legitimation in Anspruch, sei sie aus moralischer Autorität, Sachkenntnis oder kritischer zivilgesellschaftlicher Begleitung drängender Fragen wie der Energieversorgung oder des Schutzes der Umwelt abgeleitet. Viele von ihnen verfolgen aber häufig bei näherem Hinsehen auch partikulare Interessen mit der Gefahr, 49

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dass besser organisierte und finanzstärkere Interessen auch stärker Gehör finden und sich durchsetzen. Dass solche Verbände, Unternehmen und Vereine partikulare Rechte wie jeder Verband vertreten und beanspruchen können, versteht sich von selbst und ist nicht der entscheidende Punkt. Sie wollen mehr, nämlich mit, neben oder auch gegen den Staat öffentliche Legitimität. Diese ihnen von vornherein abzusprechen entspräche zwar der klassischen Sicht des Völker- und Verfassungsrechts, die das Gemeinwohl bei Staaten und Staatenvereinigungen angesiedelt sieht, löst aber keines der drängenden Probleme und will ignorieren, was nun einmal existiert. Auf der Habenseite der neuen Mitbewerber um Legitimität steht, dass die meisten von ihnen innovativ sind und neue Ideen schneller in den globalen Diskurs einspeisen können als die behäbig gewordenen öffentlichen Institutionen. Also muss es um formale und inhaltliche Kriterien gehen, die unter bestimmten Umständen solchen Verbänden Legitimation und Legitimität verschaffen können. Die formalen Maßstäbe sind Partizipation und Transparenz, die Mitbestimmung und Kontrolle ermöglichen und damit das für Legitimität unverzichtbare Vertrauen schaffen. Partizipation verlangt, dass es für diejenigen, die direkt oder indirekt von solchen Organisationen betroffen sind, Mitwirkungsmöglichkeiten geben muss, Transparenz verlangt die Offenlegung der Entscheidungswege und Finanzquellen. Mit der Unterwerfung unter Kontrollinstanzen muss das Verbandshandeln einer Rechtmäßigkeitskontrolle zugänglich sein. Interne Kontroll- und Rechtmäßigkeitskontrollen, auch private Gerichtsbarkeit in Gestalt von Schiedsgerichten, 50

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wie etwa bei internationalen Sportverbänden, können nur einen begrenzten Anwendungsbereich haben und staatliche und internationale Gerichte nicht verdrängen. Absolute Grenzen der Handlungsfreiheit vom Staat entkoppelter Verbände bestehen dort, wo es um die Anwendung von Rechtszwang und die Kompetenz zur allgemein verbindlichen Rechtsetzung geht. Inhaltlich kann es eine Legitimität solcher Verbände nur bei einer – ebenfalls der Kontrolle unterworfenen – Gemeinwohlorientierung geben. Dabei kann es nicht ausbleiben, dass eine Vielfalt von Ansichten zu einer Fragmentierung dessen führt, was im Angesicht krisenhafter Erscheinungen in allen Lebensbereichen getan wird oder getan werden soll. All diese Anforderungen sind inzwischen mehrfach ganz praktisch geworden. In Deutschland gibt es etwa ein Umwelt-Rechtsbehelfsgesetz, das sich auch mit der Frage befasst, unter welchen Voraussetzungen private Verbände, gleichsam als Vertreter des Gemeinwohls neben dem (und gegen den) Staat, Klage gegen staatliche Maßnahmen im Umweltbereich erheben können. Das Gesetz sagt (§!3 UmwRG), dass dies möglich ist, wenn die Umweltvereinigung gemeinwohlbezogene Ziele verfolgt, als gemeinnützig im Sinne des Steuerrechts anerkannt ist und im Inneren demokratisch strukturiert ist. In einem konkreten Einzelfall hat der Bundesfinanzhof als oberstes Gericht in Steuerfragen eine Anerkennung der kapitalismuskritischen Gruppe »Attac« als gemeinnützig im Sinne des Steuerrechts verworfen; eine allgemeine politische Ausrichtung, verbunden mit »drastischen Ausdrucksmitteln«, reiche dazu nicht: »Wer politische Zwecke durch Einfluss51

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nahme auf politische Willensbildung und Gestaltung der öffentlichen Meinung verfolgt, erfüllt keinen gemeinnützigen Zweck« im Sinne der Abgabenordnung. Politische Betätigung und »Bildung vollzieht sich in geistiger Offenheit. Sie ist nicht förderbar, wenn sie eingesetzt wird, um die politische Willensbildung und die öffentliche Meinung im Sinne eigener Auffassungen zu beeinflussen.«5 Wohlgemerkt: Hier geht es nicht um die unbestrittene grundrechtliche Freiheit und Legitimation, politischen Einfluss zu nehmen und eigene Auffassungen mit möglichst großem Nachdruck in den öffentlichen Diskurs einzubringen, sondern allein darum, ob der Staat partikulare Stellungnahmen steuerlich begünstigen muss oder kann. Völlig neu sind Modelle der Zuordnung und Abgrenzung staatlicher und nichtstaatlicher Legitimitätsträger nicht. Sie erinnern in manchem an das jahrhundertealte Miteinander und Gegeneinander von Staat und Kirchen, in dem letztere ebenfalls einen öffentlichen Auftrag und Gemeinwohlorientierung für sich in Anspruch nahmen. Hier besteht die Lösung vieler Rechtsordnungen darin, den Religionsgemeinschaften neben dem Grundrecht der Religionsfreiheit ausdrücklich Autonomie in eigenen Angelegenheiten zu gewähren, die aber nicht von der Beachtung des für alle geltenden Gesetzes freistellt (in Deutschland Art. 140 GG!/!Art. 137 Abs. 3 WRV ). Allerdings zeigt diese Parallele auch die Probleme der Übertragung eines solchen Autonomieansatzes auf Global-Governance-Institutionen. Es bedürfte eines Weltstaates, um globalen NGO s kontrollierbare Autonomie zu gewähren und dieser effektive Grenzen zu ziehen. Dieser Weltstaat aber, genauso wie eine 52

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»subsidiäre Weltorganisationsform«, eine »subsidiäre Weltrepublik« (Otfried Höffe) wird Utopie bleiben. Deshalb wird es sich empfehlen, neben dem geschilderten Sphärendenken noch einen weiteren Ansatz zu verfolgen, der bereits in den 1980er Jahren, damals allein auf innerstaatliche Vorgänge bezogen, von Michel Foucault entwickelt wurde.6 Er empfahl, bei Fragen der Legitimität nicht von den Institutionen, sondern von der Tätigkeit des Regierens, Planens und Gestaltens auszugehen. »Gouvernementalität« sei ein informationsbasiertes Einrichten von Lebenszusammenhängen, das keineswegs staatszentriert sein müsse, sondern alle Kräfte- und Einflussbeziehungen zu berücksichtigen habe. Das war hellsichtig, weil es im Zeitalter globaler Legitimität tatsächlich auf Kommunikation und Koordination unterschiedlicher Interessen und Legitimitätsträger ankommt. Nur, und dieses Problem bleibt: Wer setzt die Regeln? Die bestehenden Staaten werden mitwirken, wenn sie sich einer Veränderung bewusst sind: »Das hierarchische Rechtsmodell der westlichen Rechtskulturen durchläuft in der emergierenden Weltgesellschaft eine Mutation, die es zu ›etwas anderem‹ macht.«7 Am Ende wird vielleicht ein horizontal verknüpftes und globales Recht stehen, das aus verschiedenen Quellen stammt.

Anmerkungen 1 Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, Tübingen 1922, Erster Teil, III . 2 Carl Schmitt, Legalität und Legitimität, München 1932, S. 12-14. 3 Schmitt (Anm. 2), S. 15.

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4 Erhard Denninger, Der gebändigte Leviathan, Baden-Baden 1990, S. 29. 5 BFH , NJW 2019, 877 (Urteil vom 10. Januar 2019, V R 60/17). 6 Michel Foucault, Geschichte der Gouvernementalität, Bd.  I und II , Berlin 2004. 7 Marc Amstutz und Vagios Karavas, Rechtsmutation: Zu Genese und Evolution des Rechts im transnationalen Raum, in: Rechtsgeschichte, 9 (2006), S. 14!ff., 15.

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Maha Hosain Aziz

Unsere globale Legitimitätskrise

Seit etwa zehn Jahren beschäftige ich mich mit den Risiken für unsere politische und gesellschaftliche Stabilität. Zu Beginn fokussierte meine Arbeit auf die Risikoanalyse individueller Länder mit ihren nationalen Eigenheiten und historischen Besonderheiten, aber im Laufe der Jahre beobachtete ich zunehmend Anzeichen für länderübergreifende Parallelentwicklungen. Überall auf der Welt, unabhängig vom jeweiligen politischen oder wirtschaftlichen Kontext, schienen ähnliche Faktoren die Stabilität zu untergraben. Diese Erkenntnis bildet den Kern meiner These einer globalen Legitimitätskrise. Forschern, die sich an qualitativen Risikoanalysen dieser Form versuchen, fehlt es selten an Kritikern. Immer wieder ist der Einwand zu hören, dass die Forscher zu selten für ihre Irrtümer zur Rechenschaft gezogen würden. Prognosen, die auf Analysen der aktuellen Beschaffenheit unserer Welt basierten, seien – so wird argumentiert – letzten Endes nicht zuverlässiger als reine Mutmaßungen und Spekulationen. Wahr ist, dass keine Prognose mit hundertprozentiger Gewissheit zukünftige Entwicklungen voraussagen kann. Trotzdem möchte ich hier meine risikofokussierte Sicht der Welt darlegen. Ich glaube, dass sich die globale Legitimitätskrise der letzten zehn Jahre im kommenden 55

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zehnt – im Gefolge der Pandemie und trotz des Endes der Ära Trump – weiter verschärfen wird. Grundlagen der Geopolitik und unserer demokratischen Strukturen sowie elementare Normen von Wirtschaft und Gesellschaft wurden im Verlauf des vergangenen Jahrzehnts in Frage gestellt. Wenig spricht für die Annahme, dass sich das in den kommenden Jahren ändern wird. Geopolitisch stehen wir seit einigen Jahren am Scheideweg. Viele Beobachter sind der Meinung, dass die Präsidentschaft Donald Trumps der Welt den Appetit auf eine US -geführte globale Ordnung genommen habe. In Wahrheit jedoch wird die US -Hegemonie bereits seit mehr als zehn Jahren infrage gestellt – aus Gründen, die nichts mit Trump zu tun haben. Selbstverständlich ist es zu begrüßen, dass mit Joe Biden ein Mann anständigen Charakters und mit Respekt vor demokratischen Spielregeln ins Weiße Haus einzieht. Biden hat bereits klargemacht, dass die USA unter seiner Präsidentschaft ihren Anspruch auf die Führungsrolle in der Weltpolitik erneuern werden. Die Frage ist jedoch berechtigt, inwieweit die Welt – von den traditionellen US -Verbündeten einmal abgesehen – dies willkommen heißt. Eine globalistische US -Außenpolitik ist keine Garantie für eine Rückkehr zum status quo ante – oder für die Bereitschaft der internationalen Staatengemeinschaft, die Führungsrolle der USA anzuerkennen. In den letzten Jahren hat sich viel verändert. Neue Machtzentren sind entstanden, und allerorten sind neue Kräfte entfesselt worden. Die Ära nach dem Ende des Kalten Krieges – die Ära einer von den USA dominierten internationalen Staatengemeinschaft – gehört der Geschichte an. Dies haben die Entwicklungen der letzten zehn Jahre immer 56

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wieder demonstriert. Welche internationale Ordnung aber ist an deren Stelle getreten? In seinem Buch Has China Won? stellt Kishore Mahbubani eine Welt dar, die sich in der Dynamik der Rivalität zwischen den USA und China entfaltet. (Mahbuhani glaubt, dass sich diese Dynamik langfristig zugunsten Chinas entwickeln wird.) Wird das beginnende Jahrzehnt im Zeichen dieses Kräftemessens stehen? Oder durchleben wir nur ein kurzes Interregnum auf dem Weg zu einer neuen Hegemonie, in der die Führungsrolle von den USA auf China und andere Staaten in Asien übergeht, wie Parag Khanna in seinem Buch The Future Is Asian voraussagt? Es ist ebenfalls denkbar, dass wir auf eine multipolare Welt zusteuern, in der verschiedene Mächte die Dominanz über unterschiedliche Regionen und Dimensionen einer zunehmend komplexen Welt gewinnen. Vieles spricht für die Annahme, dass sich die Welt des nächsten Jahrzehnts zu einer Welt post-hegemonialer Strukturen entwickeln wird. Das anti-globalistische Vermächtnis des scheidenden US -Präsidenten könnte seinen Nachfolger daran hindern, eine fragmentierte Welt erneut zu vereinen. Von großer Relevanz ist in diesem Zusammenhang auch die zunehmende Bedeutung nicht-staatlicher Akteure. Während unseren Regierungen im Sturm geopolitischer Herausforderungen bisweilen die Orientierung verloren zu gehen droht, haben sich entschlossene Bürger – mit der Hilfe moderner Technologien – auf der weltweiten Bühne der Politik etabliert. Vor dem Hintergrund eines Mangels an politischen Initiativen zur Bekämpfung des Klimawandels waren es beispielsweise Greta Thunberg und andere Teenager, die der 57

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Forderung nach einer neuen Klimapolitik Gesicht und Stimme verliehen. Auch im Kampf gegen umstrittene Maßnahmen der Trump-Regierung zur Regelung von Einwanderung, Einreise und Frauenrechten spielten Bürgerproteste eine große Rolle. Um die Veränderungen unserer Welt zu verstehen, müssen wir die zunehmende Bedeutung nicht-staatlicher Akteure erkennen. Damit verbunden beobachten wir auch immer mehr Milliardäre, vor allem aus der Technologiebranche, die ihren Reichtum und Einfluss zur Verfolgung gesellschaftspolitischer Interessen nutzen. Wie schon seit längerem Bill Gates, nehmen mittlerweile viele Technologie-Milliardäre wie Jack Ma, Jack Dorsey und Elon Musk öffentlich Stellung zu und Einfluss auf Diskussionen in Politik und Gesellschaft. Auch dies ist ein klares Zeichen für einen scheinbaren Mangel an autoritativen Stimmen in vielen Fragen des öffentlichen Lebens. Viel deutet darauf hin, dass sich das Wesen der Macht zur Einflussnahme auf politische Entwicklungen weltweit zu verändern beginnt. Wir müssen uns von der Vorstellung trennen, dass diese Macht ausschließlich von Staaten – d.!h. letzten Endes von »Supermächten« – ausgeübt werden kann. In vielfacher Hinsicht sind schon heute manche Technologie-Unternehmen mächtiger als Regierungen.  Im Zeichen dieses Trends wird eine zuverlässige Voraussage zukünftiger Strukturen und Entwicklungen noch schwieriger – schon in den vergangenen zehn Jahren war es nicht einfach, die jeweils einflussreichsten gesellschaftlichen Kräfte zu identifizieren. Ein Konsens über die Struktur der internationalen Ordnung ist nicht in Sicht. Dies ist ein wesentliches Element unserer geopolitischen Legitimitätskrise. 58

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Eine nüchterne Analyse der inneren Lage vieler Länder muss unterdessen zu dem Schluss führen, dass die Bewohner dieser Länder – auch schon vor dem Ausbruch der Pandemie – weder mit ihren Regierungen noch mit der allgemeinen politischen Situation zufrieden waren. Politikwissenschaftler und selbst vereinzelte Politiker haben begonnen, die Eignung demokratischer Strukturen für die moderne Gesellschaft in Frage zu stellen. Lässt sich dieser Trend in den nächsten zehn Jahren umkehren? Wir dürfen nicht vergessen, dass die Ära einer US -geführten Staatenordnung und eines globalen Konsenses über die Bedeutung demokratischer Werte sowie über die Notwendigkeit zu ihrer Verbreitung nicht erst seit gestern zu Ende geht. An ihre Stelle ist eine politische Legitimitätskrise getreten: in Europa, Lateinamerika, manchen Ländern Asiens und in den USA zeigt sich ein »Globaler Frühling« regierungsfeindlicher Proteste nach dem Muster des Arabischen Frühlings. Vereint werden die Bewohner all dieser Länder und Regionen von dem Gefühl, dass eine bessere Politik und ein besseres politisches System möglich sein muss. Dieses Phänomen prägte die 2010er Jahre und wird – aller Voraussicht nach – auch die Entwicklungen des kommenden Jahrzehnts beeinflussen. Vielleicht ist die Demokratie am Ende doch nicht – Francis Fukuyama zum Trotz – das Wesen und das Ende der Menschheitsgeschichte. Wohin wird uns diese Suche führen? Es zeichnen sich derzeit am politischen Horizont noch keine Konturen eines neuen Systems ab. Die Entwicklung ist in vollem Gange. Nicht-staatliche Akteure – z.!B. zivile Protestbewegungen – versuchen, das Vakuum politi59

https://doi.org/10.5771/9783835346598

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scher Führung zu füllen. Auch Technologie-Milliardäre bieten Initiativen und Handlungsstrategien in Ländern, in denen Regierungen entsprechende politische Defizite aufweisen (z.!B. in den USA , Nigeria und Hongkong). Vielleicht brauchen wir in den kommenden Jahren eine politische Diskussion über einen anderen Gesellschaftsvertrag, der den neuen zivilgesellschaftlichen Akteuren Rollen und Verantwortlichkeiten zuordnet. Letzten Endes geht es um die Frage: Welche Ansprüche stellen wir an unsere Regierungen, und was können unsere Regierungen zu Recht von uns erwarten? Wenn wir uns einer solchen Neuordnung verweigern, müssen wir mit einer wachsenden Zahl und Intensität von Straßenprotesten rechnen, die ihre Regierungen herausfordern und sogar stürzen werden. Wir haben in den vergangenen Jahren in Ländern wie Nepal und Australien tätliche Angriffe auf Politiker erlebt und beobachtet, wie Politiker in Indien und den Malediven von aufgebrachten Menschenmengen mit Nahrungsmitteln beworfen wurden. In mehreren Ländern – z.!B. in Brasilien und Südkorea – führten Straßenproteste gegen Korruption zum Rücktritt führender Amtsträger. Es ist an der Zeit, über den Entwurf eines neuen Gesellschaftsvertrages nachzudenken, der den Anforderungen einer technologisch hochentwickelten Gesellschaft und der Bedeutung zivilgesellschaftlicher Bewegungen gerecht wird. Zahlreiche Studien haben demonstriert, dass die Existenz einer demokratischen Grundordnung für jüngere Menschen in den USA und Europa einen geringeren Stellenwert hat als für ihre Vorgängergenerationen.1 Unterdessen weist der Global Peace Index für das vergangene Jahrzehnt eine Zunahme öffentlicher 60

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schreitungen um 282 Prozent und eine Zunahme von Streiks um 821 Prozent aus.2 Menschen auf der ganzen Welt sehnen sich nach Alternativen. Dieses Verlangen gehört zweifellos zum Nährboden unserer globalen Legitimitätskrise. Was fordern und was erwarten wir von unseren Regierungen? Auch in dieser Frage befinden wir uns an einem Scheideweg. Was den Bereich der Wirtschaft angeht, so wissen wir alle, dass die Globalisierung durch ökonomischen Nationalismus und politischen Populismus unter Druck gesetzt wird. Der Vorwurf, die ökonomische Globalisierung sei für die zunehmende Polarisierung der Welt in Arm und Reich verantwortlich, wurde schon im Jahr 1999 zum Gegenstand von Straßenprotesten. Im vergangenen Jahrzehnt machten sich dann populistische Politiker diese Argumente zu eigen. Die wirklich drängende Herausforderung unserer Zeit ist jedoch eine Neuregelung unseres Verhältnisses zur menschlichen Arbeit. Die technologische Revolution wird nicht aufzuhalten sein. Seit Jahren warnen uns die Köpfe dieser Revolution vor den abzusehenden Folgen für den Arbeitsmarkt – bis zu 40 Prozent aller Arbeitnehmer, so heißt es, werden in den kommenden 10 oder 15 Jahren ihren Arbeitsplatz verlieren. (Diese Zahlen galten vor der Corona-Krise.) Was passiert mit all diesen Menschen, deren Lebenshorizonte durch Globalisierung und Jugendarbeitslosigkeit langfristig verengt wurden und die nun im Zuge der Automatisierung die ihnen verbliebene berufliche Existenz zu verlieren drohen? Dem Wirtschaftswissenschaftler Guy Standing zu Folge beobachten wir die Entstehung eines Prekariats – einer sozialen Schicht von Menschen, die 61

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sich im Zuge der oben dargestellten Entwicklungen von einem befristeten Job zum nächsten hangeln und denen unsere Gesellschaft weder die Zeit noch die Gelegenheit zur Entwicklung einer beruflichen Identität gibt.3 Zu den zahlreichen Gefahren, die mit einer entsprechenden Entwicklung verbunden sind, zählt die Zerrüttung der geistigen Gesundheit breiter Bevölkerungsschichten. Wollen wir dies verhindern, dürfen wir die Warnungen von führenden Köpfen der technologischen Revolution nicht länger in den Wind schlagen. Wir müssen ein neues Verhältnis zu unserer Arbeit entwickeln und uns fragen: Was sind und was repräsentieren wir über unseren produktiven Beitrag zur Volkswirtschaft hinaus? Müssen wir vielleicht eine neue »moralische Ökonomie« entwickeln oder den Wirtschafts- und Sozialvertrag neu formulieren, der uns in das Staats- und Gemeinwesen einbindet? Kommen wir damit zum vierten und letzten Aspekt der globalen Legitimitätskrise, dem Wandel unseres gesellschaftlichen Klimas. Im Verlauf der vergangenen zehn Jahre hat sich in Diskussionen innerhalb unserer Gesellschaft, unserer öffentlichen Institutionen und von manchen unserer politischen Parteien ein Klima des Hasses breit gemacht. Wir dürfen unsere Augen nicht abwenden, wenn Fremdenfeindlichkeit überall an Ausmaß und Intensität gewinnt, und wir sollten uns der Tatsache bewusst sein, dass es kein Gegen-Narrativ zum Hass gibt. Die neuseeländische Ministerpräsidentin Jacinda Ardern war meiner Meinung nach das einzige bedeutende Staatsoberhaupt, das vor COVID -19 dieses Thema deutlich angesprochen hat. Nach den Anschlägen von Christchurch im März 2019 forderte 62

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sie eine weltweite Kampagne gegen Hass und Extremismus. Wir brauchen eine umfassende Diskussion zur Identifizierung unserer gemeinsamen Werte. Das vergangene Jahrzehnt hat eine solche Diskussion nicht hervorgebracht. Wir können es uns nicht leisten, noch einmal zehn Jahre zu warten, wollen wir die Werte identifizieren, die unserer Identität als globaler Gemeinschaft zugrunde liegen. Dies sind die vier tragenden Elemente unserer globalen Legitimitätskrise. In allen entsprechenden Bereichen befinden wir uns an einem Scheideweg. Wahrscheinlich wird sich diese globale Legitimitätskrise – auch ohne einen Präsidenten Trump im Weißen Haus – im Laufe der kommenden zehn Jahre weiter verschärfen. Vor diesem Hintergrund brach vor einem Jahr die COVID -19-Pandemie aus. Im Hinblick auf die Legitimitätskrise hat diese Pandemie vor allem gezeigt, dass der Multilateralismus unter Führung der USA an sein Ende gekommen ist. Virtuelle Konferenzen der G7 und G20 können nicht über den Mangel an einer international koordinierten Reaktion auf die Herausforderungen der Pandemie hinwegtäuschen. Es ist ermutigend, dass der britische Premierminister Boris Johnson die Gründung eines D10-Forums demokratischer Staaten angeregt hat, und Joe Biden einen »globalen Gipfel für die Demokratie« anstrebt. Im Zeichen der COVID 19-Pandemie scheinen sich die weltweiten Gewichte aber von einer multilateralen Ordnung weg in Richtung auf ein System bilateraler Beziehungen zu verschieben. Vor dem Hintergrund des Mangels an einer global koordinierten Strategie zur Bekämpfung des Virus hat China durch die gezielte Versendung medizinischer 63

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darfsartikel und chirurgischer Masken an andere Länder seine bilateralen Beziehungen ausgebaut. Länder wie die Türkei und Kuba haben Ärzte in Drittländer entsandt. Die heutige Weltordnung ist durch einen COVID -19-Bilateralismus geprägt. Wie werden sich diese bilateralen Beziehungen entwickeln, und welchen Einfluss wird das auf die globale Stabilität haben? Diese Fragen sind zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht schlüssig zu beantworten. Auch die Beziehungen zwischen Staaten und nicht-staatlichen Akteuren müssen in diesem Zusammenhang beobachtet werden. Politisch und sozialpolitisch engagierte Milliardäre aus den USA und China pflegen im Zeichen des COVID -19-Bilateralismus gezielt Kontakte mit Staaten und Regierungen. Wie wird sich diese Dynamik im kommenden Jahrzehnt auf das globale Kräfteverhältnis auswirken? Fest steht, dass COVID -19 sich negativ auf die geopolitische Stabilität auszuwirken droht. Gleichzeitig aber bietet jede Krise auch eine Chance zur Entwicklung neuer Ideen. In welche Richtung wollen wir – vor dem Hintergrund der Legitimitätsdefizite zunehmend dysfunktionaler traditioneller Institutionen – die globale Entwicklung steuern? Können wir alternative Konzepte zum Verständnis der Welt von heute entwickeln? Ein Vorschlag wäre die Einrichtung eines beratenden Gremiums zur Bekämpfung der Pandemie nach dem Muster der G7. Es fällt auf, dass die meisten Staaten mit einer positiven Bilanz im Kampf gegen COVID -19 von Frauen regiert werden. Vielleicht wäre es vor diesem Hintergrund gar keine schlechte Idee, ein solches Beratungsgremium ausschließlich mit Frauen zu besetzen. Fest steht ebenfalls, dass COVID -19 ähnlich negative 64

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Auswirkungen auf unsere politische Legitimitätskrise zu nehmen droht. Ich würde mich selbst als eine Weltbürgerin mit pakistanischen Wurzeln charakterisieren. Mein Wohnsitz ist in New York, aber ich unterhalte auch enge Bindungen an London, weswegen ich beim Ausbruch der Pandemie die Pressekonferenzen von Präsident Trump und Premierminister Boris Johnson mit großem Interesse und in der Hoffnung auf eine schnelle und wirksame Antwort auf die Herausforderungen verfolgt habe. Ich war bereit, diesen Politikern mein Vertrauen zu schenken. Der Ausbruch der Krise gab Staaten und Regierungen die Möglichkeit, die im vorangegangenen Jahrzehnt verlorengegangene Legitimität ganz oder zumindest teilweise zurückzugewinnen. Schnell jedoch machte sich in der Bevölkerung Enttäuschung breit. In Großbritannien, den USA , Indien und vielen anderen Ländern entzündeten sich starke Proteste an den Maßnahmen der betreffenden Regierungen. Wir können daher erwarten, dass sich die Legitimitätskrise erneuern und vertiefen wird, wenn sich die Menschen in der Rückschau auf die Ereignisse der Pandemie ein Urteil gebildet haben. Haben unsere Regierungen genug zur Bekämpfung des Virus unternommen? Mussten wirklich so viele Menschen sterben? Die Erneuerung oder Neufassung des Gesellschaftsvertrags bietet einen möglichen Ausweg aus dieser Vertrauenskrise. Welche Maßnahmen erwarten wir von unseren Regierungen zur Bekämpfung des Virus? Warum geben wir – im Lichte der erfolgreichen Bilanz so vieler Politikerinnen inmitten der COVID Krise – den Frauen nicht mehr Chancen in unseren Regierungen? Und ist es nicht an der Zeit, die Rolle 65

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einflussreicher engagierter Milliardäre – von Männern wie Elon Musk, Jack Ma, Adrian Cheng und Bill Gates – neu zu definieren und gesellschaftlich festzusetzen? Eine entsprechende Initiative würde fraglos auf Widerstand stoßen – schließlich haben diese Akteure kein demokratisch legitimiertes Mandat. Aber wir müssen die Welt so nehmen, wie sie ist, und anerkennen, dass private Akteure in ein von Staaten und Regierungen geschaffenes Vakuum drängen. Eine Gruppe von 85  Personen, die »Millionaires for Humanity«, hat in einem offenen Brief die Regierungen der Welt zu einer Erhöhung der Steuern für Superreiche aufgefordert, um den gesellschaftlichen Wiederaufbau nach der CoronaPandemie zu finanzieren. Die uns bevorstehenden Herausforderungen, so heißt es, seien »durch Wohltätigkeit allein nicht zu bewältigen«. Die Entwicklung neuer Konzepte ist längst nicht mehr das Vorrecht staatlicher Institutionen. Ein neuer Gesellschaftsvertrag muss dem Rechnung tragen. Ein weiterer Punkt ist die finanzielle Hilfe, die viele Staaten ihren Bürgern in Aussicht gestellt haben. Großen Versprechungen zu Beginn der Pandemie folgten Vorbehalte. »Nicht allen«, so heißt es, werde man mit Finanzspritzen unter die Arme greifen können. Mit anderen Worten: Menschen werden unter der Last der Krise einknicken und stürzen. An den Rändern unserer Gesellschaft droht die Entstehung eines verarmten und psychisch zerrütteten Prekariats. Eine Möglichkeit zur Verhinderung solch einer Entwicklung ist der Aufbau einer »moralischen Ökonomie« auf der Grundlage einer Aktualisierung des bestehenden Sozialvertrags zwischen Staat und Bevölkerung. Welche Erwartungen 66

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stellen wir an den Staat? Welche Mindeststandards können wir zu Recht einfordern? Und ist es nicht an der Zeit, dem Recht auf die Gleichbehandlung von Mann und Frau durchgängig Geltung zu verschaffen? Nach einer Schätzung der Unternehmensberatung McKinsey könnten entsprechende Maßnahmen das Volumen des globalen Wachstums um 12 Billionen US -Dollar vergrößern.4 Ohne neue Ideen werden wir nur schwerlich einen Ausweg aus der Krise finden. Immer wieder diskutiert wird auch das Konzept eines bedingungslosen Grundeinkommens. Wäre dies eventuell ein Angebot an die am härtesten von COVID -19 betroffenen Bevölkerungskreise? COVID -19 hat schon heute seine Spuren in unserer Gesellschaft hinterlassen. Zu Beginn war viel von der verbindenden Kraft der Pandemie die Rede: schließlich sahen wir uns alle von demselben Feind bedroht. Nichts eint die Menschen so wie ihr gemeinsamer Wille zum Überleben. Dieses Gefühl von Einheit in der Krisengemeinschaft ist offensichtlich eine potenzielle Quelle großer Kraft. Aber schon früh erschienen Risse in dieser gemeinsamen Front: in den USA und manchen europäischen Ländern zeigten sich Fälle des Hasses auf Menschen ostasiatischer Herkunft, die aufgrund ihrer Herkunft als Sündenböcke für die Pandemie herhalten mussten. Und in Indien und Malaysia wurden Muslime zum Opfer gezielter Desinformationskampagnen. Bestehende Risiken für die gesellschaftliche Stabilität wurden auf diese Weise verschärft. Das Jahr 2020 demonstrierte allerdings auch die Fähigkeit der Menschen, sich um das Banner eines humanitären Wertes zu scharen und gemeinsam in den Kampf zu ziehen. In Reaktion auf den gewaltsamen Tod von George 67

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Floyd in den USA im Mai 2020 kam es in allen US Bundesstaaten und in mehr als 60 anderen Ländern zu spontanen Protesten gegen den Rassismus. Dies ist ein eindeutiger Beweis für die Existenz globaler Werte und die Möglichkeit, auf deren Grundlage eine globale, von Bürgern und nicht von Staaten getragene Gemeinschaft zu schaffen. Diese gemeinsamen Werte müssen wir international weiter diskutieren und identifizieren. Dies sind die Konturen einer Entwicklung, die sich in der Perspektive einer globalen Risikoanalyse abzeichnen. Die globale Legitimitätskrise des abgelaufenen Jahrzehnts wird sich im kommenden Jahrzehnt – auch unter einer neuen US -Regierung – aller Voraussicht nach verschärfen, nicht zuletzt auch aufgrund des langen Schattens, den COVID -19 auf unsere Gesellschaften wirft.

Anmerkungen 1 Siehe zum Beispiel Roberto Stefan Foa und Yascha Mounk, The Signs of Deconsolidation, in: Journal of Democracy 28, 2017, S. 5-15. 2 Institute for Economics & Peace, Global Peace Index 2020: Measuring Peace in a Complex World, Juni 2020, S. 2, https:// visionofhumanity.org/wp-content/uploads/2020/10/GPI_ 2020_web.pdf, abgerufen am 24.!11.!2020. 3 Guy Standing, The Precariat: The New Dangerous Class, London 2016. 4 McKinsey Global Institute, The Power of Parity: How Advancing Women’s Equality can Add $12 Trillion to Global Growth, September 2017, https://www.mckinsey.com/featuredinsights/employment-and-growth/how-advancing-womensequality-can-add-12-trillion-to-global-growth, abgerufen am 16.!11.!2020.

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Woher nehmen NGOs und andere zivilgesellschaftliche Akteure ihre Legitimation?

Einleitung Wenn wir uns mit neuen Konstellationen in der Gegenwart, der Veränderung von bestehenden Institutionen und der Legitimität von nationalen und globalen Akteuren, Handlungsformen und Einrichtungen beschäftigen, müssen wir auch auf das Engagement von Bürgerinnen und Bürgern in Nichtregierungsorganisationen (NGO s), Bürgerinitiativen, Interessenverbänden, gemeinnützigen Organisationen, Vereinen, Stiftungen oder Verbänden eingehen. Im Zuge der Globalisierung hat die Bedeutung von international vernetzten Nichtregierungsorganisationen zugenommen, die sich in den Bereichen von Umweltschutz, sozialer Gerechtigkeit und Menschenrechten engagieren. Vom Beginn der 1990er Jahre bis 2015 verdoppelte sich nahezu die Anzahl von NGO s.1 Sie betätigen sich als Lobbyisten, nehmen an internationalen Verhandlungen zur Entwicklung globaler Standards und Normen teil oder stellen sich als Dienstleister und Experten für Monitoring, Koordination oder Beratung zur Verfügung. Das Beispiel von »Fridays for Future« zeigt deutlich, dass aus einer überzeugenden sozialen Bewegung von Schülern und Studierenden in kurzer Zeit eine weltweite bedeutende 69

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Bewegung entstehen kann, die weite Bevölkerungskreise für sich gewinnt, das Handeln von Regierungen verändert und zu zahlreichen Unterstützungsorganisationen führt. Das zivilgesellschaftliche Engagement in Deutschland und in der globalisierten Welt ist vielfältig. Insbesondere in den Fällen, in denen Verbände, Vereine oder andere bürgerschaftlich organisierte Vereinigungen unmittelbaren Einfluss auf die Politik und die parlamentarische Entscheidung nehmen und beanspruchen, für eine große Mehrheit der Bevölkerung zu sprechen, stellt sich in der parlamentarisch verfassten Demokratie die Frage nach der demokratischen Legitimation. Dieser Beitrag soll nur einige wenige – notwendig fragmentarische  – Gedanken zu einem Thema beisteuern, zu dem es eine unüberschaubare Zahl von Publikationen und Beiträgen gibt.

1. Zivilgesellschaftliches Engagement Die liberalen Demokratiemodelle der Nachkriegszeit waren durch ein vergleichsweises stabiles System einer intermediären Interessenvermittlung durch Parteien, Verbände und Gewerkschaften geprägt. Diese hatten eine wesentliche Integrationsfunktion in der Gesellschaft und die Aufgabe, den Abstand zwischen den Bürgern und den politischen Entscheidungsträgern nicht zu groß werden zu lassen. Auch wenn diese Institutionen heute nach wie vor bestehen, kann nicht darüber hinweggesehen werden, dass sie im Laufe der Zeit ihre prägende Kraft, ihre alte Stärke und ihren Einfluss auf das 70

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politische Geschehen zumindest teilweise verloren haben. Es wird von einer Krise demokratischer Institutionen und von einem Zerfall des repräsentativ ausgerichteten Nachkriegsmodells gesprochen. Diese Krise, die gleichzeitig auch eine Krise des Kapitalismus sei, habe zu neuen Formen der Partizipation geführt.2 Mittlerweile sind zahlreiche Organisationen, Bewegungen und Handlungsformen entstanden, die auf die politische Gestaltung des Gemeinwesens Einfluss nehmen. Diese wurden und werden unter den Begriffen Dritter Sektor, Nichtregierungsorganisationen (NGO s), Non-Profit-Organisationen (NPO s), gemeinnützige Organisationen oder anderen Formen zivilgesellschaftlichen Handelns beschrieben. Spätestens seit Beginn der 1990er Jahre werden die vielfältigen Tätigkeiten, Handlungsformen und Organisationen unter dem Begriff der Zivilgesellschaft zusammengefasst. Das bürgerschaftliche Engagement wird als eine unverzichtbare Bedingung für den Zusammenhalt der Gesellschaft angesehen. Der Deutsche Bundestag beschäftigt sich mit diesem Thema und setzt Ende der 1990er Jahre eine Enquetekommission »Zukunft des bürgerschaftlichen Engagements« ein, die konkrete politische Strategien und Maßnahmen zur Förderung des freiwilligen, gemeinwohlorientierten, nicht auf materiellen Gewinn ausgerichteten bürgerschaftlichen Engagements in Deutschland erarbeiten soll. Am 3. Juni 2002 legt diese Kommission ihren umfangreichen Bericht vor.3 Das Erstarken der Zivilgesellschaft führt zur Gründung des Projekts »Zivilgesellschaft in Zahlen« (ZiviZ), das von der Bertelsmann Stiftung, dem Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft und der Fritz Thyssen Stiftung 71

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getragen wird. Das ZiviZ will insbesondere die Datenlage im Themenfeld Zivilgesellschaft verbessern, als »Think & Do Tank« analysieren, beraten und vernetzen und neue Impulse für eine starke Zivilgesellschaft setzen.4 Zivilgesellschaftliche Handlungsformen lassen sich bis in die Antike zurückverfolgen. Im englischsprachigen Rechtsraum gehört die Civil Society zum festen Bestandteil der Beschreibung von Organisationen, Vereinigungen und Bewegungen, die auf die Politik Einfluss nehmen. Trotzdem bleiben der Begriff und die Erscheinungsformen der Zivilgesellschaft vergleichsweise vage und unbestimmt.5 Vielfach wird die Zivilgesellschaft als Dritter Sektor neben Staat und Wirtschaft (bzw. Markt) eingeordnet. Andere bezeichnen sie als Raum zwischen Staat, Wirtschaft und Privatsphäre!/!Familie. Teilweise wird die Zivilgesellschaft auch positiv umschrieben, als die Gesamtheit der öffentlichen Assoziationen, Vereinigungen, Bewegungen und Verbände, in denen sich Bürger auf freiwilliger Basis versammeln. Dabei werden nicht nur feste Organisationen zur Zivilgesellschaft gezählt, sondern auch das ungebundene Engagement im Zusammenhang mit Demonstrationen, Streiks, Petitionen, Boykottmaßnahmen oder anderen Handlungsformen. Demgegenüber wird in der Politikwissenschaft nur das zivilgesellschaftliche Engagement in Organisationen, nicht aber der nicht organisierte Mensch als Individuum, zur Zivilgesellschaft gezählt. In der Diskussion über die Zivilgesellschaft lassen sich auch eher wertfreie und offene Beschreibungen sowie wertende Definitionen unterscheiden. Auf der einen Seite wird die Abgrenzung von Staat und Wirtschaft bzw. Markt sowie Privatheit und Familie als ausreichend angesehen. 72

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Andere Konzepte stellen auf moralische Wertvorstellungen wie Gewaltfreiheit, Selbstorganisation, Selbstbezogenheit oder andere republikanisch-demokratische Tugenden ab, fordern ein utopisches Moment und schließen z.!B. Stiftungen aus dem Begriff aus. In einer Handreichung für Mandatsträger, politische Berater, Medien und interessierte Bürgerinnen und Bürger definiert der Politikwissenschaftler und Historiker Robert Graf Strachwitz die Zivilgesellschaft eher weit.6 Er versteht darunter Bewegungen, Organisationen und Einrichtungen sowie zahlreiche unorganisierte oder spontane kollektive Aktionen, die auf Freiwilligkeit gegründet sind, subjektive Ziele des Allgemeinwohls verfolgen und keine staatlichen im Sinne von hoheitlichen Aufgaben wahrnehmen. Sie sind nicht auf Gewinnerzielung ausgerichtet, schütten Überschüsse aus ihrer Tätigkeit nicht an Mitglieder, Gesellschafter oder Dritte aus, handeln selbstermächtigt und selbstorganisiert und sind zu einem wesentlichen Teil auf Geschenke wie Empathie und Zeit sowie auf materielle Ressourcen anderer angewiesen sind. Nach ihrer Funktion können zivilgesellschaftliche Organisationen in Dienstleistungen, Themenanwaltschaft, Wächter, Mittler, Selbsthilfegruppen, Gemeinschaftsbildung, politische Mitgestaltung oder persönliche Erfüllung eingeteilt werden. Sie können staatliches Handeln unterstützen, sich von der Gesellschaft absondern oder ihre Stimme erheben. Sie können assoziativ organisiert werden wie Vereine, gebundene Organisationen darstellen wie Stiftungen oder als Gesellschaften Organisationen im Eigentum von Außenstehenden sein. Ihre Ziele sind außerordentlich vielfältig und können sich auf Wohlfahrtspflege, 73

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Forschung, Bildung und Erziehung, Kultur, Natur- und Umweltschutz, Sport, Menschen- und Bürgerrechte, Religion und weitere Ziele beziehen. Dies belegt, dass das Phänomen der Zivilgesellschaft außerordentlich breit angelegt ist. Dabei bleibt die empirische Basis der Kenntnis von der Zivilgesellschaft eingeschränkt. Zivilgesellschaftliche Organisationen sind nicht verpflichtet, der Öffentlichkeit Auskunft zu erteilen oder Berichte zu veröffentlichen. Amtliche Statistiken sind oft lückenhaft. Es gibt keine verbindlichen Richtlinien für die Erstellung von Rechenwerken oder die Bewertung von Vermögenswerten. Im Zuge der Globalisierung haben sich zivilgesellschaftliche Organisationen in zunehmendem Maße international organisiert. Sie treten z.!B. für die Menschenrechte, für die Korruptionsbekämpfung oder für den Umweltschutz ein. Zu nennen sind hier unter anderem weltweit bekannte Organisationen wie Ärzte ohne Grenzen, Attac, Amnesty International, Brot für die Welt, Greenpeace, Human Rights Watch, Internationales Rotes Kreuz, Terre des hommes, Transparency International (TI), World Wide Fund for Nature (WWF) oder zuletzt Fridays for Future. Sie sind global tätig und setzen sich als Lobbyisten für Gemeinwohlinteressen ein. Sie beteiligen sich an internationalen politischen Entscheidungsprozessen und wirken an Standards und Normsetzungen mit. Viele Organisationen engagieren sich zudem auf sozialem Gebiet, wie z.!B. dem Kampf gegen Armut und Hunger, und stellen Güter und Sachverstand zur Verfügung. Zahlreiche dieser zivilgesellschaftlichen Organisationen sind weltweit anerkannt, angesehen und mit hohen Ehrungen ausgezeichnet.7 74

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Global agierende zivilgesellschaftliche Organisationen stoßen jedoch auf Widerstand und werden insbesondere in totalitären Staaten zunehmend und teilweise erheblich an ihrer Arbeit gehindert oder sogar verboten. In der politischen Diskussion wird kritisiert, dass bei solchen Akteuren ein deutliches Nord-Süd-Gefälle bestehe, das zu einem politischen Übergewicht der entwickelten Länder auf der internationalen Bühne führe. Sie transportierten ein westlich geprägtes Weltbild, das sich durch Universalismus, Individualismus, Konsum und Kosten-Nutzen-Rationalität auszeichne. Eine unabhängige und kritische Zivilgesellschaft wird von vielen Regierungen in Afrika, Asien, Lateinamerika und im Nahen und Mittleren Osten abgelehnt. Ihre Versammlungs-, Vereinigungs-, Informations- und Meinungsfreiheit wird eingeschränkt, und sie wird oft überwacht, eingeschüchtert, diffamiert oder verboten. Seit einigen Jahren hat die Einschränkung von Handlungsspielräumen durch die sog. NGO -Gesetze eine neue Dimension erreicht.8 Diese zielen darauf ab, die Geldflüsse zu erfassen und die Arbeit durch Registrierungs- und Berichtspflichten einzuschränken oder die Organisation gänzlich zu verbieten. Da zahlreiche zivilgesellschaftliche Organisationen finanzielle Mittel oder Zuwendungen unmittelbar oder mittelbar von ausländischen Geldgebern erhalten, bezwecken die NGO -Gesetze, derartige Unterstützungen staatlich zu kontrollieren oder einheimische Initiativen von ausländischen Zuwendungen abzuschneiden. Insbesondere die politische Betätigung zivilgesellschaftlicher Organisationen wird als unzulässige Einmischung angesehen, zumal wenn sie aus dem Ausland finanziert wird. Vielfach berufen 75

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sich die Staaten auf die Souveränität des eigenen Landes, auch um die politische und ökonomische Macht der jeweiligen Regierung nicht zu gefährden. In mehr als 60 Ländern gibt es inzwischen restriktive NGO -Gesetze. Ergänzt werden sie durch Sicherheitsgesetze, Anti-Terrorgesetze und Mediengesetze, die stets zu einer mehr oder weniger weitgehenden Einschränkung der Handlungsfähigkeit zivilgesellschaftlicher Akteure führen. Für viele Länder wurde das russische NGO -Gesetz aus dem Jahr 2012 zum Vorbild, das alle Organisationen, die Geld aus dem Ausland bekommen und sich politisch betätigen, verpflichtet, sich als »ausländische Agenten« zu registrieren.9 Weil viele Organisationen dem nicht nachkamen, wurde das Gesetz dahingehend verschärft, dass der Staat die Registrierung auch gegen den Willen einer Organisation vornehmen und diese gegebenenfalls als »unerwünscht« erklären kann. Der jüngste Gesetzentwurf aus dem Jahr 2020 engt den Spielraum dieser Organisationen weiter ein, indem die »ausländischen Agenten« verpflichtet werden, das Justizministerium über alle geplanten Programme und Veranstaltungen zu informieren, die dann gegebenenfalls verboten werden können; außerdem besteht die Möglichkeit, die jeweilige Organisation aufzulösen und Einzelpersonen als »Agenten« einzuordnen.10 Indien hat ein NGO -Gesetz verabschiedet, wonach alle Organisationen, die Geld aus dem Ausland erhalten, eine Lizenz beantragen müssen mit der Maßgabe, dass mit dem Geld keine politische Arbeit finanziert werden darf. Das ägyptische NGO -Gesetz ermöglichte die Verhaftung von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die Gelder aus dem Ausland erhielten. Nach Interventionen 76

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des UNO -Menschenrechtsrats, der EU und der USA wurde das Gesetz abgeschwächt; doch nach dem neuen Gesetz können Behörden weiterhin hart gegen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von NGO s vorgehen.11 Auch Israel schreibt in seinem 2016 verabschiedeten NGO -Gesetz vor, dass alle Organisationen, die mehr als die Hälfte ihrer Gelder aus dem Ausland erhalten, dies mitteilen sowie im Parlament sich entsprechend kennzeichnen müssen. Selbst in Europa gab es entsprechende Bestrebungen. So sah das ungarische Transparenzgesetz vor, dass alle Organisationen, die Spenden aus dem Ausland erhalten, sich ab einem bestimmten Betrag bei den ungarischen Behörden registrieren lassen und angeben mussten, sie seien eine »aus dem Ausland unterstützte Organisation«. Der Gerichtshof der Europäischen Union sah darin einen Verstoß gegen Europarecht.12

2. Legitimation zivilgesellschaftlicher Organisationen Die Heterogenität zivilgesellschaftlicher Organisationen und Handlungsformen macht es schwer, für das Handeln der Zivilgesellschaft allgemeinverbindliche Regeln aufzustellen. Auch wenn heute nahezu überall von der großen Bedeutung der Zivilgesellschaft geredet wird, erfasst dieser Begriff doch sehr viele unterschiedliche Phänomene. Es kann sich um traditionelle, sehr alte und seit vielen Jahren anerkannte Institutionen handeln. Zivilgesellschaftliches Engagement kann jedoch auch nur vorübergehend, vereinzelt und lokal 77

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begrenzt sein. Ebenso wie in der Politik ändern sich die Schwerpunkte der zivilgesellschaftlichen Engagements, wie man unter anderem an der Friedensbewegung der 1960er Jahre, der Anti-Atomkraftbewegung oder der Occupy-Bewegung sehen kann. Unter moralischen und normativen Kriterien kann bürgerschaftliches Engagement auch nicht notwendigerweise als überlegen, höherwertig oder »gut« angesehen werden. Es umfasst höchst anerkennenswerte soziale Engagements, das Eintreten für Menschenrechte oder die Korruptionsbekämpfung ebenso wie hoch problematische Gruppen wie Pegida, die Identitäre Bewegung oder die radikalen Querdenker. Insbesondere auf internationaler Ebene kann jedoch festgestellt werden, dass zivilgesellschaftliche Organisationen seit den 1990er Jahren zu wichtigen Akteuren geworden sind. Während ursprünglich NGO s bei UN Verhandlungen entweder gar kein oder lediglich ein einfaches Teilnahmerecht hatten, verfügen sie heute bei der UN und deren Unterorganisationen über weitreichende Möglichkeiten; diese auf internationaler Ebene zumeist nicht ausdrücklich geregelt. Den zivilgesellschaftlichen Organisationen wird in der Regel auch kein umfassendes Teilnahmerecht als stimmberechtigtes Mitglied an Verhandlungen zugestanden. Die Mitwirkung der Zivilgesellschaft an internationalen Verhandlungen und Debatten ist jedoch heute allgemein anerkannt.13 Die Generalversammlung der Vereinten Nationen unterstützt generell die Beteiligung der Zivilgesellschaft in verschiedenen Politikbereichen; über den Umfang der Berechtigungen entscheiden dann die jeweiligen Sekretariate und deren Vorsitzende. Dabei 78

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wird heute den zivilgesellschaftlichen Organisationen mehr als ein Anwesenheitsrecht zugestanden: Sie haben die Möglichkeit, sich aktiv an den inhaltlichen Diskussionen zur Ausformulierung verbindlicher Vereinbarungen zu beteiligen, Reden zu halten und ihre inhaltlichen Positionen selbstständig zu vertreten. Bei den meisten Unterorganisationen der Vereinten Nationen ist die weitreichende Beteiligung von NGO s und anderen ebenfalls heute selbstverständlich. Auf supranationaler Ebene ist die Mitarbeit der Zivilgesellschaft am politischen Prozess sogar ausdrücklich geregelt. Art. 11 Abs. 2 des EU -Vertrages sieht vor, dass die Organe der EU einen offenen, transparenten und regelmäßigen Dialog mit den repräsentativen Verbänden und der Zivilgesellschaft pflegen.14 Konkretisiert wurde diese Bestimmung durch die Verordnung über eine Europäische Bürgerinitiative, die direktdemokratische Verfahren auf europäischer Ebene einführt.15 Auf nationaler Ebene ist das Engagement der Zivilgesellschaft im Gesetzgebungsverfahren ebenfalls weit vorangeschritten. Die Landesregierungen von Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz haben erste Formen der partizipativen Bürgerbeteiligung eingeführt. Dies ermöglicht Bürgerinnen und Bürgern über ein Beteiligungsportal an der Entstehung von Landesgesetzen mitzuwirken.16 Auch auf Bundesebene ist heute die Anhörung der Zivilgesellschaft im Gesetzgebungsverfahren selbstverständlich. Dabei wird auch im Bundestag über neue Formen demokratischer Beteiligung von Bürgern nachgedacht.17 Die Beteiligung zivilgesellschaftlicher Organisationen in politischen Entscheidungsprozessen und insbesondere die Einbeziehung global agierender NGO s 79

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auf internationaler und supranationaler Ebene wirft die Frage nach deren Legitimation auf. Worauf stützt sich deren Anspruch, an globalen und internationalen Verhandlungen beteiligt zu sein?18 Die Beteiligung an politischen Entscheidungsprozessen wird durchaus auch kritisch gesehen. Dies gilt insbesondere vor dem Hintergrund, dass sich viele zivilgesellschaftliche Organisationen bei ihrer Einbeziehung in politische Entscheidungsprozesse weniger auf ihre Mitglieder als auf die Menschheit, die Bürgerinnen und Bürger eines Landes oder die schweigende Mehrheit berufen. Sie treten als Anwalt der Natur oder als Vertreter der Menschheit auf, ohne dass zuvor festgestellt worden wäre, ob ihre Forderungen den Bedürfnissen und Wünschen der Bevölkerung entsprechen. Es ist auch nicht sichergestellt, dass die entsprechenden Organisationen repräsentativ ausgewählt und einbezogen werden. Daher wird nicht selten auf die gravierenden demokratischen Defizite trans- und internationaler Institutionen und Verfahren sowie auf die Risiken der Instrumentalisierung und Kooperation zivilgesellschaftlicher Organisationen hingewiesen.19 Die Frage nach der Legitimation zivilgesellschaftlicher Organisationen bei der politischen Willensbildung und Entscheidungsfindung hängt wesentlich davon ab, was darunter zu verstehen ist. Allein der Begriff ist vielgestaltig und wird in verschiedenen Disziplinen wie der Politikwissenschaft, der Philosophie, der Soziologie oder der Rechtswissenschaft unterschiedlich definiert.20 In historischer Dimension zeigt sich, dass sich der Grundgedanke der politischen Legitimation im Laufe der Zeit gewandelt hat.21 So waren im Mittelalter Gott 80

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und Tradition typische Quellen der Herrschaftsgewalt. Später entwickelte sich die Theorie vom Gesellschaftsvertrag als politische Herrschaftsorganisation. Im 18. und 19.  Jahrhundert widmete man sich der Volkssouveränität; die demokratischen Legitimationstheorien entwickelten sich im 19. und 20.  Jahrhundert. Die Globalisierung Ende der 1990er Jahre führte dann zu neuen Überlegungen zur Legitimation demokratischer Prozesse, zur Partizipation und zur Legitimation internationaler Entscheidungsfindung. Neben der historischen Dimension kann man auch auf unterschiedliche Konzepte abstellen.22 Dabei werden zum Beispiel die normative und die soziologische Legitimation unterschieden, des Weiteren die Legitimation durch Verfahren, die Input- oder die Output-Legitimation. Je nachdem, ob man ein eher formales und normatives Verständnis zugrunde legt, oder ob ein partizipatives oder am Prinzip der Nützlichkeit orientiertes Legitimationsverständnis den Ausgangspunkt bildet, führt dies zu unterschiedlichen Ergebnissen bei Beantwortung der eingangs gestellten Frage. Im Staatsrecht wird die Frage der demokratischen Legitimation gestellt, um den Einfluss des Volkes auf die Ausübung der Staatsgewalt zu gewährleisten. Dem liegt zugrunde, dass das Volk Träger und Inhaber der Staatsgewalt ist. Wenn Art. 20 Abs. 2 Satz 1  GG vorschreibt, dass alle Staatsgewalt vom Volk ausgeht, sind nur diejenigen Entscheidungen demokratisch legitimiert, die sich auf den Willen des Volkes stützen können. Als Formen werden die funktionelle, die organisatorisch-personelle und die sachlich-inhaltliche Legitimation unterschieden.23 Diese unterschiedlichen 81

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Legitimationsformen haben zum Ziel, einen effektiven Einfluss des Volkes auf die Ausübung der Staatsgewalt zu bewirken und sicherzustellen. Organisatorisch-personell liegt eine demokratische Legitimation dann vor, wenn die mit der Wahrnehmung staatlicher Angelegenheiten betrauten Amtswalter sich auf eine ununterbrochene, auf das Volk zurückführende Legitimationskette stützen können. Dadurch werden zugleich die staatlichen Organe, in denen und für welche die Amtswalter handeln, demokratisch legitimiert. Dabei ist sowohl eine mittelbare wie auch eine unmittelbare Legitimation durch das Volk zulässig. Ihrem Inhalt nach muss sich die Ausübung der Staatsgewalt ebenfalls auf den Volkswillen stützen. Derselbe Gedanke liegt auch dem unitarischen Legitimationsmodell oder der Input-Legitimation zugrunde, wonach das demokratische Prinzip institutionell allein von durch Wahlen legitimierten Akteuren verwirklicht wird. Da sich zivilgesellschaftliche Organisationen oder Akteure nicht auf einen derartigen Legitimationsakt stützen könnten, wird deren Beteiligung in den Entscheidungsverfahren kritisch gesehen. Die unzureichende Legitimation wird dabei nicht nur auf nationaler Ebene, sondern auch im internationalen Entscheidungsprozess thematisiert.24 Unter demokratischen Gesichtspunkten könne die Beteiligung zivilgesellschaftlicher Akteure sogar eher als problematisch angesehen werden, weil der maßgebliche Legitimationszusammenhang geschwächt zu werden drohe.25 Für die Entscheidungsfindung im internationalen politischen Prozess sind danach verfahrensrechtlich nur die von den nationalen Regierungen entsandten Vertreter hinreichend demokratisch legitimiert. Wolle 82

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man die demokratische Legitimierung der Entscheidungen internationaler Organisationen stärken, müsse der Weg über die jeweiligen nationalen Parlamente führen, die das kontrollieren, was Regierungen auf der internationalen Ebene tun und welchen Maßnahmen sie zustimmen. Die Beteiligung der Zivilgesellschaft ließe sich im Übrigen verfahrensmäßig nicht so organisieren, dass dies demokratischen Anforderungen genüge.26 Es gebe nur einen Begriff der demokratischen Legitimation, der sowohl für die staatliche als auch für die internationale und supranationale Ebene gelte. Die demokratische Legitimation erfordere die gleichberechtigte Beteiligung aller Regierten an der Ausübung von Hoheitsgewalt.27 Zwar dürfte es auch nach dieser Auffassung unproblematisch sein, zivilgesellschaftliche Organisationen im Zusammenhang mit der Entstehung von Gesetzen, internationalen Vereinbarungen oder vergleichbaren Regelungen anzuhören. Eine unmittelbare Beteiligung am Entscheidungsprozess selber würde jedoch der demokratischen Legitimation widersprechen. Demgegenüber haben insbesondere in der Politikwissenschaft Legitimationsmodelle an Bedeutung gewonnen, die an die Notwendigkeit der Beteiligung der Bürger am politischen Prozess oder an die funktionale Nützlichkeit für die Gesellschaft anknüpfen. In diesem Zusammenhang sind insbesondere die Konzepte der Output-Legitimation und die partizipatorischen Demokratietheorien von Bedeutung. So knüpft die Output-Legitimation nicht an prozedurale und verfahrensrechtliche Anforderungen an die Normsetzung an, sondern an das Ergebnis der Regelsetzung und damit an den Inhalt einer Regelung. Es kommt weniger 83

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rauf an, ob die Regelungen von demokratisch legitimierten Amtsträgern verantwortet werden. Vielmehr ist entscheidend, dass sie von den Adressaten akzeptiert werden, mit grundlegenden Normen, wie z.!B. den internationalen Menschenrechten, übereinstimmen und den Regeln guter Gesetzgebung entsprechen. Durch die Beteiligung der Zivilgesellschaft entstünden bessere Regelungen, weil sie auf einer breiteren Entscheidungsgrundlage und einer besseren Informationsgrundlage beruhten. Insbesondere das Konzept der Demokratie durch Partizipation verleiht der Zivilgesellschaft bei der Mitwirkung an nationalen und internationalen Regelungen Legitimation für ihr Handeln. Ausgehend von der Überlegung, dass in den bestehenden repräsentativen Demokratien ein Demokratiedefizit und ein Mangel an Beteiligungschancen besteht, wird eine Beteiligung vor allem besonders Entscheidungsbetroffener für erforderlich gehalten. Damit sollen mögliche Demokratiedefizite ausgeglichen und die Auffassung der Bürger besser berücksichtigt werden. Partizipation der Zivilgesellschaft führt zugleich zu mehr Transparenz; damit werden Entscheidungen nachvollziehbarer und kontrollierbarer. Im Völkerrecht wird die Beteiligung der Zivilgesellschaft unter dem Begriff des pluralistischen Legitimationsmodells angesprochen.28 Die Beteiligung von NGO s als Teil einer internationalen Zivilgesellschaft soll danach den demokratischen Gehalt von Entscheidungen auf internationaler Ebene steigern. Zivilgesellschaftliche Organisationen und Akteure bringen wesentliche Forderungen der Bürgerinnen und Bürger in das Verfahren ein, wenn sie in dem 84

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prozess beteiligt werden. Als wichtiger positiver Effekt wird hervorgehoben, dass durch die damit verbundene internationale Öffentlichkeit eine unerlässliche Transparenz internationaler Politik hergestellt wird. Insoweit besteht eine enge Verbindung zur sogenannten deliberativen Demokratie, die die öffentliche Erörterung unter Beteiligung der Bürger und deren Einfluss auf den Entscheidungsprozess in den Mittelpunkt stellt.

Schlussbemerkung Zivilgesellschaftlichen Organisationen kommt im politischen Prozess trotz mancherlei Bedenken und Einwänden eine wichtige und inzwischen allgemein anerkannte Rolle zu. In erster Linie geht es dabei nicht um die Entscheidungsverantwortung für bestimmte Regelungen, sondern um die Mitwirkung bei der Entstehung von nationalen, internationalen und supranationalen Entscheidungen. Die Partizipation führt im Idealfall zu besseren, weil auf verbesserter Informationsgrundlage fußenden Entscheidungen und damit zur Akzeptanz von Maßnahmen und Regelungen. Zivilgesellschaftliche Organisationen gehören daher heute zu den wesentlichen Akteuren in der Politikgestaltung. Sie decken Missstände auf, bringen wichtige Themen wie Umweltschutz, soziale Gerechtigkeit und Menschenrechte zur Sprache und sorgen dafür, dass soziale und ökologische Folgen menschlichen Handelns beachtet werden. Die Mitwirkung zivilgesellschaftlicher Organisationen und Akteure am politischen Entscheidungsprozess führt zu einer Öffentlichkeit, die der Gefahr des einseitigen 85

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flusses mächtiger Interessengruppen entgegensteht. Aus der Zivilgesellschaft können neue Themen und bisher vernachlässigte Aspekte in die Diskussion eingebracht werden. Internationale Organisationen, deren Verfahren zumeist auf althergebrachten, schwerfälligen und weitgehend auf den Nationalstaat beschränkten Institutionen beruhen, bedürfen der wichtigen Ergänzung durch die organisierte Zivilgesellschaft. Sie trägt dazu bei, dass Anliegen und Interessen der Bürger unmittelbar auf internationaler Ebene artikuliert werden können. Anders als die demokratisch legitimierten Staaten sind zivilgesellschaftliche Organisationen nicht darauf angewiesen, nach größtmöglichem Konsens und Ausgleich der verschiedenen Interessen zu suchen. Sie können aufgrund der intensiven Beschäftigung mit einem bestimmten Thema wichtige Aspekte in die politische Diskussion einbringen, die nicht durch zahlreiche Absprachen und Rücksichtnahmen abgeschwächt werden. Es obliegt dann den jeweiligen Entscheidungsträgern, die Argumente, Beiträge und Standpunkte zu berücksichtigen und zu gewichten. Zivilgesellschaftliche Organisationen verfügen in vielen Bereichen über Wissen und Ressourcen, das häufig denen von anderen Beteiligten überlegen sind. Dies rechtfertigt es, sie am politischen Prozess zu beteiligen, sie in Verhandlungen und Beratungen einzubeziehen und ihre Forderungen ernst zu nehmen. Dabei dürfen die teilweise erheblichen Defizite im Bereich der Zivilgesellschaft nicht übersehen werden. Die zivilgesellschaftlichen Organisationen sind selber nicht demokratisch legitimiert. Es ist nicht sichergestellt, dass sie die Interessen einer Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger vertreten, sie sind teilweise 86

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Vertreter von Partikularinteressen und ihre Anliegen sind oftmals nur auf ein bestimmtes Politikfeld begrenzt. Auch wenn die Zivilgesellschaft damit eine wichtige Rolle im politischen Prozess spielt, muss die letztverbindliche Entscheidung über hoheitliche Maßnahmen immer noch demokratisch legitimierten Organen vorbehalten bleiben. Diese haben nicht nur die Aufgabe, verschiedene Standpunkte, Argumente und Beiträge gegeneinander abzuwägen und in dem Entscheidungsprozess zu berücksichtigen. Vielmehr haben sie auch darauf hinzuwirken, dass die Beteiligung der Zivilgesellschaft ein möglichst breites Spektrum an unterschiedlichen Auffassungen in der Gesellschaft zum Ausdruck bringt und einzelne Interessen keinen übermäßigen Einfluss gewinnen.

Anmerkungen 1 Bundeszentrale für politische Bildung, NGO s – Nicht-Regierungsorganisationen,!!!1.!10.!2017,!!!https://www.bpb.de/nach schlagen/zahlen-und-fakten/globalisierung/52808/ngos, abgerufen am 15.!12.!2020. 2 Colin Crouch, Neue Formen der Partizipation, Forschungsjournal Soziale Bewegung, 29 (3), 2016, S. 143!ff. 3 Bundestag Drucksache 14/8900 v. 3.!6.!2002. 4 Vgl. Zivilgesellschaft in Zahlen, https://www.ziviz.info/, abgerufen am 15.!12.!2020. 5 Zu den unterschiedlichen Definitionsversuchen sehr instruktiv und mit zahlreichen Nachweisen: Saskia Richter, Zivilgesellschaft – Überlegungen zu einem interdisziplinären Konzept. Version: 1.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 8.!3.!2016, http://docupedia.de/zg/richter_zivilgesellschaft_v1_de_2016, abgerufen am 15.!12.!2020; vgl. auch die Beschreibung in der Stellungnahme des Wirtschafts- und Sozialausschusses zum

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Thema »Die Rolle und der Beitrag der organisierten Zivilgesellschaft zum europäischen Einigungswerk« vom 22.!9.!1999 (1999/C 329/10), Amtsblatt Nr. C 329, 17.!11.!1999, S. 30. Rupert Graf Strachwitz, Basiswissen Zivilgesellschaft, Berlin: Maecenata Institut für Philanthropie und Zivilgesellschaft, Opuscula 140, Juli 2020, https://nbn-resolving.org/urn:nbn: de:0168-ssoar-68884-0, abgerufen am 15.!12.!2020; dieser Publikation sind auch die nachfolgenden Ausführungen entnommen. So wurde der Friedensnobelpreis 2017 der »Internationalen Kampagne zur Abschaffung von Atomwaffen (ICAN )«, 2013 der »Organisation für das Verbot chemischer Waffen (OPCW )«, 1999 den »Ärzten ohne Grenzen« und 1997 der »Internationalen Kampagne für das Verbot von Landminen« verliehen. Ausführlich mit zahlreichen Nachweisen: Barbara Unmüßig, Zivilgesellschaft unter Druck – shrinking – closing – nospace; Heinrich-Böll-Stiftung, Mai 2016, https://www.boell.de/ sites/default/files/uploads/2016/03/zivilgesellschaft_unter_ druck_shrinking_spaces.pdf, abgerufen am 15.!12.!2020. Betroffen waren unter anderem auch die deutschen politischen Stiftungen, wie die Konrad-Adenauer-Stiftung, die Friedrich-Ebert-Stiftung, die Heinrich-Böll-Stiftung oder die Friedrich-Naumann-Stiftung. Vgl. Tatjana Gluschkova, Neuer Gesetzesentwurf engt Spielraum von NGOs weiter ein, Memoiral Deutschland, November 2020, https://www.memorial.de/index.php/7872-neuer-gesetz entwurf-engt-spielraum-von-ngos-weiter-ein, abgerufen am 15.!12.!2020. Siehe: Amnesty International, Ägypten: neues repressives NGO -Gesetz verabschiedet 15.!7.!2019, https://www.amnesty. ch/de/laender/naher-osten-nordafrika/aegypten/dok/2019/ neues-repressives-ngo-gesetz-verabschiedet#, abgerufen am 15.!12.!2020; die Konrad-Adenauer-Stiftung musste auf Druck der ägyptischen Regierung das Land verlassen: vgl. Robert Roßmann, Das Problem mit den Punkten auf der Weltkarte, Süddeutsche Zeitung, 13.!11.!2020, https://www.sueddeutsche. de/politik/konrad-adenauer-stiftung-norbert-lammert1.5125266, abgerufen am 15.!12.!2020. Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Union vom 18. Juni 2020, Rechtssache C 78/18, EuZW 2020, 858.

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13 Vgl. dazu auch Tanja Brühl, Mehr Raum für die unbequemen Mitspieler?, in: NGO s als Legitimationsressource: Zivilgesellschaftliche Partizipationsformen im Globalisierungsprozess, hg, von Achim Brunnengräber, Ansgar Klein und Heike Walk, Berlin 2013, S. 137!ff. 14 Vgl. Stellungnahme des Wirtschafts- und Sozialausschusses (Anm. 5). 15 Verordnung (EU ) 2019/788 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 17. April 2019 über die Europäische Bürgerinitiative. 16 Vgl. dazu: Allianz Vielfältige Demokratie und Bertelsmannstiftung, Partizipative Gesetzgebung – Ein Modell zur Beteiligung von Bürgerinnen und Bürgern an Gesetzgebungsverfahren, 2017, https://www.bertelsmann-stiftung.de/en/publi cations/publication/did/partizipative-gesetzgebung, abgerufen am 15.!12.!2020. 17 Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages, Neue Formen demokratischer Beteiligung von Bürgern, Ausarbeitung vom 21.!2.!2018, WD3-3000-03718, https://www.bundes tag.de/resource/blob/550340/1cfa9b21f88835679b09f0eec7bf 60c0/WD-3-037-18-pdf-data.pdf, abgerufen am 15.!12.!2020. 18 Vgl. Heike Walk, Achim Brunnengräber und Ansgar Klein, NGO s – die ›Entschleuniger‹ der Globalisierung?, in: NGO s als Legitimationsressource: Zivilgesellschaftliche Partizipationsformen im Globalisierungsprozess, hg, von Achim Brunnengräber, Ansgar Klein und Heike Walk, Berlin 2013, S. 14. 19 Wolf-Dieter Narr, INGO s, Himalaya-Gebirge, Ozeane und raumenthobene Demokratie, in: NGO s als Legitimationsressource: Zivilgesellschaftliche Partizipationsformen im Globalisierungsprozess, hg, von Achim Brunnengräber, Ansgar Klein und Heike Walk, Berlin 2013, S. 53. 20 Vgl. zur Schwierigkeit einer Auseinandersetzung mit der politischen Legitimation: Luisa Girnus, Politische Legitimation und politisches Lernen, Berlin 2019, S. 11. 21 Vgl. u.!a.: Ulf Kemper, Politische Legitimität und politischer Raum im Wandel, Berlin 2015. 22 Vgl. zu den verschiedenen Konzeptionen z.!B. Joachim Blatter, Demokratie und Legitimation, in: Handbuch Governance, hg. von Arthur Benz, Susanne Lütz, Uwe Schimank und Georg Simonis, Berlin 2007. 23 Im Einzelnen Ernst-Wolfgang Böckenförde, Demokratie als

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Verfassungsprinzip, in: Handbuch des Staatsrechts, hg. von Josef Isensee und Paul Kirchhof, 3. Aufl. 2004, §!24 Rn. 14!ff. So insbes. Torsten Stein, Demokratische Legitimierung auf supranationaler und internationaler Ebene, ZaöRV, (64) 2004, S. 563. Vgl. lediglich berichtend: Armin von Bogdandy: Demokratie, Globalisierung, Zukunft des Völkerrechts – eine Bestandsaufnahme, ZaöRV, (63) 2003, S. 853 (873). Peter-Tobias Stoll, Globalisierung und Legitimation, zitiert nach: von Bogdandy (Anm. 25), Fn. 81. Stein (Anm. 24), S. 563. von Bogdandy (Anm. 25), S. 853 (874).

Clemens Fuest

Die »Soziale Verantwortung« der Unternehmen: Neue Allianzen zwischen Politik und Wirtschaft?

In Debatten über wirtschaftliche und soziale Missstände wird immer wieder angeprangert, Unternehmen würden Gewinne maximieren und dabei ihre soziale und gesamtgesellschaftliche Verantwortung vernachlässigen. Diese Kritik ist nicht neu; vor dem Hintergrund zunehmender Ungleichheit von Einkommen und Vermögen in vielen Industrieländern und wachsender Sorge über Umweltzerstörung und mangelnde Nachhaltigkeit erhält sie aber neue Brisanz. Die Forderung, Unternehmen sollten sich nicht auf Gewinnmaximierung konzentrieren, steht in einem deutlichen Gegensatz zu Ergebnissen der volkswirtschaftlichen Theorie, nach der Gewinnmaximierung in einer Wettbewerbswirtschaft auch der gesamtwirtschaftlichen Wohlfahrt dienen kann. Der vorliegende Beitrag untersucht die Forderung nach einer Ausrichtung der Unternehmen auf gesamtgesellschaftliche Ziele. Er führt zu drei zentralen Ergebnissen. Erstens dient die Gewinnmaximierung von Unternehmen gleichzeitig dem Gemeinwohl, sofern bestimmte Bedingungen erfüllt sind. Dazu gehören Spielregeln, die dafür sorgen, dass Kosten richtig zugerechnet werden, und verhindern, dass Unternehmen Marktmacht auf Kosten ihrer Kunden oder ihrer 91

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schäftigten und Lieferanten missbrauchen. Zweitens sollte man von der häufig geforderten und vielfach praktizierten Verankerung von Gemeinwohlzielen in der Governance von Unternehmen nicht zuviel erwarten. Es ist nicht die Aufgabe der Manager, mit Mitteln von Unternehmen, die ihnen nicht gehören, Ziele zu verfolgen, die nicht die ihrer Auftraggeber sind. Vorgaben der Politik an Unternehmen, die in Rechte der Eigentümer eingreifen, sind zulässig, weil sie demokratisch legitimiert sind. Das Handeln der Manager ist es nicht und es kann deshalb politisches Handeln nicht ersetzen. Drittens kann Gewinnmaximierung auch die Form einer Beeinflussung des politischen Prozesses durch Interessenvertreter von Unternehmen annehmen, die zu Lasten des Gemeinwohls geht. Um das einzudämmen, ist Transparenz der politischen Entscheidungsprozesse einschließlich der Tätigkeit von Lobbygruppen sowie der Rolle von Spenden bei der Parteienfinanzierung von größter Bedeutung. Allianzen zwischen Politik und Wirtschaft sollten also vor allem in der gemeinsamen Unterstützung für diese Spielregeln liegen, weniger in einer symbiotischen Kooperation, die leicht zu Kollusion auf Kosten Dritter führen kann. Ein gewisser Abstand und eine klare Verteilung und Abgrenzung von Verantwortung zwischen Entscheidungsträgern in Unternehmen und in der Politik sind notwendig. Die weitere Argumentation ist wie folgt strukturiert. Die Analyse beginnt mit der »klassischen« und provokanten These von Milton Friedman, nach der die soziale Verantwortung der Unternehmen gerade darin liegt, ihre Gewinne zu maximieren. Der zweite Abschnitt diskutiert das Verhältnis zwischen individuellen Interessen 92

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und gesamtgesellschaftlicher Wohlfahrt. Abschnitt drei erläutert, unter welchen Bedingungen Gewinnmaximierung von Unternehmen dem Gemeinwohl dient. Der vierte Abschnitt befasst sich mit Politikversagen in der Form, dass Unternehmen die staatliche Rahmensetzung zu ihren Gunsten beeinflussen. Abschnitt fünf untersucht, welche Folgen sich für das Gemeinwohl ergeben, wenn Unternehmen ihre Gewinne gar nicht maximieren, weil die Manager andere Ziele verfolgen als die der Eigentümer. Der sechste Abschnitt diskutiert die Idee, vermehrt Gemeinwohlziele in die Governance von Unternehmen aufzunehmen. Der siebte Abschnitt enthält die Schlussfolgerungen.

1. Die Friedman-These zur sozialen Verantwortung der Unternehmen »Die soziale Verantwortung von Unternehmen besteht darin, ihre Gewinne zu steigern.« So lautet der provozierende Titel eines Aufsatzes des Ökonomen und Nobelpreisträgers Milton Friedman, der am 13.  September 1970 in der New York Times erschien.1 Er gilt als einer der einflussreichsten Zeitungsbeiträge der letzten Jahrzehnte, aber er hat auch ungewöhnlich viel Kritik auf sich gezogen. Anlass für den Artikel waren damalige Forderungen, Unternehmen sollten nicht Gewinne maximieren, sondern andere Ziele verfolgen wie etwa Wohltätigkeit zu Gunsten der »Armen«, Umweltschutz, Bildung oder generell die Förderung der gesamtgesellschaftlichen Wohlfahrt. Derartige Forderungen werden auch heute immer wieder erhoben, 93

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bunden mit dem Vorwurf, eine Fokussierung auf Gewinnmaximierung sei moralisch verwerflich und aus gesamtwirtschaftlicher Perspektive schädlich. Milton Friedman weist das Postulat, Unternehmen sollten von den Interessen ihrer Eigentümer abweichenden Zielen verpflichtet sein, als totalitär und mit einer freiheitlichen Gesellschaft unvereinbar zurück. Er weist darauf hin, dass die Forderung, »soziale Verantwortung« zu zeigen, vor allem an Manager von Großunternehmen,!!!!!typischerweise!!!!!Aktiengesellschaften, herangetragen wird, weniger an Einzelunternehmer, die gleichzeitig Manager und Eigentümer ihrer Firma sind. Friedman argumentiert, dass Manager von Aktiengesellschaften allein von den Eigentümern beauftragt sind. Wenn Eigentümer von Unternehmen entscheiden, andere Ziele als die der Gewinnmaximierung zu verfolgen, ist dagegen nichts einzuwenden, denn sie verfügen über ihr Eigentum. Wenn Manager das tun, die nicht Eigentümer des Unternehmens sind, unternehmen sie mit dem Geld anderer Leute Dinge, für die sie nicht beauftragt worden sind. Falls die Eigentümer sie daran nicht hindern können, ist das vergleichbar mit einer Situation, in der sie die Eigentümer besteuern und die Steuergelder nach eigenem Gutdünken verwenden. Sie handeln damit wie eine staatliche Stelle, die Steuern erhebt und über die Verwendung der Einnahmen entscheidet. In einer freiheitlichen Demokratie obliegt die Aufgabe, Steuern zu erheben und über die Verwendung der Gelder zu entscheiden, Parlamenten und den von ihnen eingesetzten Regierungen. Dort, wo Besteuerungsansprüche des Staates enden, beginnt der Bereich des privaten Sektors, in dem Menschen im Rahmen 94

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der Gesetze frei darüber entscheiden können, wie sie mit ihrem Eigentum und ihren Ressourcen verfahren. Manager privater Unternehmen für staatliche Ziele einzuspannen bedeutet letztlich, auch den Privatsektor politischen Entscheidungsprozessen zu unterwerfen. Das, so Milton Friedman, sei nichts anderes als das Ersetzen der Marktwirtschaft durch eine sozialistische Wirtschaftsordnung, in der politische Prozesse über die Ressourcenverwendung entscheiden. In der öffentlichen Debatte über die Frage, wie Unternehmen sich verhalten und welche Ziele sie sich setzen sollten, wird Milton Friedmans These oft als Extremposition betrachtet und entsprechend kritisiert.2 Gleichzeitig wird sein Artikel als eine geistige Grundlage für den sogenannten »Shareholder-Value«-Ansatz betrachtet, nach dem Manager den Marktwert der Aktien ihres Unternehmens steigern sollten. Das ist nichts anderes als Gewinnmaximierung, angewendet auf den Fall von Aktiengesellschaften.

2. Individuelle Interessen und die gesamtgesellschaftliche Wohlfahrt Kann eine Gesellschaft, deren Mitglieder vor allem danach streben, den eigenen, individuellen Interessen zu dienen, funktionieren und für breite Gesellschaftsschichten Wohlstand erzeugen? Die Analyse dieser Frage, die vor allem auf marktwirtschaftliche Systeme bezogen wird, steht seit vielen Jahren im Mittelpunkt der volkswirtschaftlichen Forschung und wird auch in sozialwissenschaftlichen Nachbardisziplinen intensiv 95

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diskutiert. Dabei ist zunächst zu klären, ob man das Verfolgen der eigenen Interessen als eine Grundkonstante menschlichen Verhaltens ansieht. Der Begriff des »Eigeninteresses« ist dabei weit zu verstehen. Die meisten Menschen sind nicht Egoisten im engen Sinne. Im Gegenteil sind Kooperationsbereitschaft und Empathie wichtige menschliche Eigenschaften.3 Dennoch ist es empirisch gut belegt, dass ihr persönlicher Vorteil und der ihrer Familie und Freunde ihnen in der Regel wichtiger ist als Interessen der Gesamtbevölkerung des Landes, in dem sie leben, oder gar der Weltbevölkerung. Wenn man das bejaht, folgt daraus, dass Gesellschaften immer aus Mitgliedern bestehen, die ihre individuellen Interessen verfolgen, unabhängig davon, ob es sich um eine Marktwirtschaft handelt, eine Zentralverwaltungswirtschaft oder ein anderes System. Aus dieser Perspektive hängt der Erfolg einer Gesellschaft davon ab, ob ihre Institutionen das Verhalten ihrer Mitglieder so kanalisieren und koordinieren, dass einzelne Menschen mit dem Verfolgen ihrer Eigeninteressen auch dem Gemeinwohl dienen. Es gehört zu den großen Vorteilen einer Marktwirtschaft, dass sie dies leisten kann. Die von Adam Smith eingeführte Idee der »unsichtbaren Hand« sagt, dass Menschen, indem sie in einer Marktwirtschaft ihre persönlichen Ziele und Interessen verfolgen, gleichzeitig und von ihnen nicht beabsichtigt dem Gemeinwohl dienen. Unternehmer, die zueinander im Wettbewerb stehen und um Kunden konkurrieren, profitieren davon, wenn sie die Güter, die Konsumenten sich wünschen, zu möglichst geringen Kosten anbieten. Der Wettbewerb zwingt sie, das zu Preisen zu tun, die nicht allzu 96

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weit von den Herstellungskosten entfernt sind. In einer Zentralverwaltungswirtschaft verfolgen Menschen ebenfalls ihre individuellen Interessen, die Geschichte lehrt aber, dass dies zu Armut, Freiheitsbeschränkungen und Umweltzerstörung führt. Es fehlen die Anreize, schonend mit Ressourcen umzugehen und die Wünsche anderer – beispielsweise der Kunden eines Unternehmens – zu beachten. Es fehlt außerdem die Informationsverarbeitung, die das Preissystem leistet. Es geht also nicht darum, ob Menschen ihre eigenen Interessen verfolgen, das tun sie immer. Es kommt auf die Rahmenbedingungen an, unter denen das geschieht. In der modernen Volkswirtschaftslehre kann man den sogenannten ersten Hauptsatz der Wohlfahrtstheorie als eine Ausprägung der Idee der unsichtbaren Hand ansehen: Jedes Wettbewerbsgleichgewicht ist ein Pareto-Optimum. In einer Gesellschaft, in der Güter an Märkten mit flexiblen Preisen und Wettbewerb gehandelt werden, Unternehmen die Gewinnmaximierung als ausschließliches Ziel verfolgen und Konsumenten ebenfalls allein ihre individuellen Interessen verfolgen, stellt sich durch die Marktinteraktion gesamtwirtschaftliche Effizienz in dem Sinne ein, dass man durch Veränderungen des Marktergebnisses niemanden besserstellen kann, ohne dass jemand schlechter gestellt wird. Zwei Aspekte dieses Ergebnisses sind allerdings wichtig. Erstens sagt es nichts über Verteilungsprobleme. Es geht nur um die Größe des »Kuchens«, nicht darum, wie er aufgeteilt wird. Zweitens beruht es auf Prämissen, die im realen Wirtschaftsleben häufig verletzt sind. Marktmacht, asymmetrische Informationsverteilung, Externalitäten, rigide Preise und Liquidi97

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tätsbeschränkungen, unvollständige Verträge, all das sind Gründe dafür, dass Marktergebnisse häufig nicht effizient sind. Allerdings folgt daraus nicht notwendigerweise, dass staatliche Interventionen zu Verbesserungen führen. Soweit es um die Frage geht, ob gewinnmaximierende Unternehmen dem Gemeinwohl dienen, kommt hinzu, dass es in einer Welt, in der die Prämissen gelten, die dem ersten Hauptsatz der Wohlfahrtstheorie zu Grunde liegen, gar keine Unternehmen mit fest angestellten Beschäftigten geben sollte, schon gar nicht die Großunternehmen mit Tausenden von Angestellten, wie wir sie heute kennen. Bei friktionslos funktionierender Wirtschaft sollten alle Leistungen an Märkten gehandelt werden. Langfristige Anstellungsverträge und administrative Strukturen wären überflüssig. Dass Unternehmen komplexe Organisationen mit vielfältigen Prinzipal-Agenten-Beziehungen sind, hat Folgen für die Debatte.

3. Dienen gewinnmaximierende Unternehmen dem Gemeinwohl? Das Problem des Marktversagens Die These, dass Unternehmen am besten dem Gemeinwohl dienen, wenn sie ihre Gewinne maximieren, ist überzeugend, sofern die oben genannten Voraussetzungen des ersten Hauptsatzes der Wohlfahrtstheorie erfüllt sind. Das ist aber nicht immer der Fall. Wenn Unternehmen beispielsweise Umweltschäden verursachen, ohne dafür angemessen zur Kasse gebeten zu 98

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werden, oder wenn sie sich mit ihren Wettbewerbern absprechen und Kartelle bilden, dann führt Gewinnmaximierung nicht zur Maximierung der gesamtwirtschaftlichen Wohlfahrt. Die Wirtschaftstheorie spricht in diesen Fällen von Marktversagen. Daraus folgt aber nicht notwendigerweise, dass Unternehmen andere Ziele als die Gewinnmaximierung verfolgen sollten. In erster Linie hat die Politik die Aufgabe, auf das Marktversagen zu reagieren. Umweltsteuern oder Regulierungen sollten dafür sorgen, dass die gesamtwirtschaftlich relevanten Kosten wirtschaftlicher Aktivität auch in der privaten Kostenrechnung des Unternehmens auftauchen. Die Wettbewerbspolitik hat die Aufgabe, Kartelle und andere Wettbewerbsbeschränkungen zu verhindern. Unternehmen, die aus technologischen Gründen über Marktmacht verfügen, beispielsweise Betreiber von Telekommunikations- oder Energienetzen, werden reguliert, damit sie ihre Marktmacht gegenüber den Nachfragern nicht missbrauchen. Pharmaunternehmen haben erhebliche Informationsvorteile gegenüber Patienten, oft auch gegenüber Ärzten, die Medikamente verschreiben. Zulassungsverfahren und Regulierungen sollten dafür sorgen, dass die Medikamente sicher sind und sachgerecht verschrieben werden. Zunehmend kritisch gesehen werden auch die gesamtwirtschaftlichen und gesellschaftlichen Wirkungen der sozialen Medien. Unternehmen wie Facebook, Instagram oder Tiktok maximieren ihre Gewinne, indem sie um die Aufmerksamkeit der Nutzer konkurrieren. Je mehr Zeit die Nutzer mit diesen Medien verbringen, desto höher sind die Werbeeinnahmen. In dieser Kon99

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kurrenz werden Nutzer systematisch mit Nachrichten versorgt, die ihren beobachteten Präferenzen oder Neigungen entsprechen, damit sie möglichst lange auf der jeweiligen Plattform bleiben. Das hat verschiedene Konsequenzen. Zum einen ergibt sich daraus eine Tendenz zur Polarisierung, zur Verbreitung von Fehlinformationen (Fake News) oder zur gezielten Manipulation von politischen Haltungen und sogar Wahlen.4 Zum anderen können Suchtphänomene entstehen, mit höchst negativen Folgen für die Gesundheit der Betroffenen.5 Den Missbrauch von Kommunikationsinstrumenten und Suchtgefahren gibt es auch bei vielen anderen Produkten. In diesen Fällen sollte staatliche Regulierung vorsehen, dass die richtige Balance zwischen Konsumentensouveränität und Konsumentenschutz einschließlich des Schutzes von Kindern und Jugendlichen gewährleistet ist. Sofern also der Staat für die richtigen Rahmenbedingungen sorgt, können Marktstörungen behoben werden. Wenn öffentlich gefordert wird, Unternehmen sollten darauf verzichten, Gewinne zu maximieren und freiwillig andere Ziele, beispielsweise Umweltschutzziele oder sonstige Gemeinwohlinteressen verfolgen, ist es unter Ökonomen üblich, das zurückzuweisen und stattdessen zu verlangen, dass der Staat angemessene Voraussetzungen schafft. Falls das geschieht, ist man nicht davon abhängig, dass Unternehmen auf Appelle eingehen und ihr Verhalten entsprechend ändern. Wenn es richtig ist, dass Menschen vor allem ihre eigenen Interessen beachten, kann man nicht davon ausgehen, dass Appelle große Wirkung entfalten. Um etwas zu erreichen, muss man die gesetzlichen Gegebenheiten 100

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ändern. Allerdings betonen Ökonomen ebenfalls gerne, dass es nicht nur Marktversagen gibt, sondern auch Staatsversagen. Deshalb ist der Verweis auf die staatliche Rahmensetzung nur teilweise befriedigend. Das Risiko des Ausbleibens oder Scheiterns staatlicher Eingriffe wiederum hat teilweise mit dem Verhalten von Unternehmen zu tun.

4. Staatliche Rahmensetzung und der Einfluss von Unternehmen: Eine Variante des Politikversagens Sachgerechte wirtschaftspolitische Eingriffe können viele der Ineffizienzen und Fehlsteuerungen, die aufgrund der beschriebenen Unvollkommenheiten des Marktes entstehen, korrigieren. Allerdings kommt es nicht nur an privaten Märkten zu Friktionen, auch im politischen Prozess bestehen umfangreiche Informations- und Anreizprobleme. Regierungen sind nicht »allwissende, benevolente Dikatoren«, sondern Institutionen, in denen Menschen wie in privaten Märkten ihre individuellen Ziele verfolgen und in denen unterschiedliche Interessen aufeinanderprallen. Selbst wenn staatliches Handeln Marktstörungen prinzipiell beheben könnte, führen politische Entscheidungsprozesse keineswegs immer dazu, dass dies auch geschieht. In politischen Entscheidungsprozessen haben Interessengruppen die Möglichkeit, durch Lobbyarbeit Gesetze und das Handeln von Regierungen zu beeinflussen. Häufig ist Gesetzgebung ohne die Bereitstellung von Informationen durch die Vertreter betroffener 101

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Unternehmen oder Branchen kaum möglich. Das eröffnet verschiedene Möglichkeiten, auf Entscheidungen einzuwirken. In vielen Ländern sind politische Parteien von Spenden abhängig. Das erlaubt es Unternehmen und anderen finanzkräftigen Spendern, politischen Entscheidungsträgern ihre Wünsche mehr oder weniger subtil nahezulegen. Wenn Unternehmen ihre Gewinne maximieren, indem sie die Spielregeln des Wirtschaftsgeschehens zu ihren Gunsten verändern, kann das Ergebnis aus gesamtwirtschaftlicher Perspektive sehr schädlich sein. Ein vieldiskutiertes Beispiel ist die Regulierung der Banken und ihr Beitrag zur Entstehung der globalen Finanzkrise, die 2008 ausbrach. Über lange Zeiträume hinweg haben Banken und ihre Interessenvertreter im politischen Prozess Einfluss ausgeübt, damit die Finanzmarktregulierung ihnen weite Spielräume einräumt, mit sehr wenig Eigenkapital zu operieren, zur Risikobewertung komplexe und für die Aufsichtsbehörden ebenso wie für die eigenen Aufsichtsorgane schwer zu durchschauende Rechenmodelle zu verwenden und in extrem großem Ausmaß Fristentransformation zu betreiben.6 Damit gingen viele Banken große Risiken ein. Solange die wirtschaftliche Entwicklung gut verlief, haben Banken und vor allem Bankmanager außerordentlich hohe Einkommen und Gewinne erzielt. Dass das möglich war, lag nicht nur an der laxen Bankenregulierung. Dieses Wirtschaften mit äußerst geringem Eigenkapital hätte unter normalen Umständen dazu geführt, dass die Gläubiger der Banken mehr Eigenkapital einfordern oder so hohe Risikoprämien verlangen, dass das Geschäft sich nicht lohnt. Dazu kam es jedoch nicht, weil 102

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die Gläubiger damit rechnen konnten, dass in Schwierigkeiten geratene Banken durch staatliche Unterstützung gerettet werden, weil Bankenzusammenbrüche weitreichende negative Auswirkungen auf den Rest der Wirtschaft haben. Als im September 2008 die Investmentbank Lehman Brothers zur allgemeinen Überraschung nicht mit Steuergeldern gerettet wurde, entstanden massive Störungen im Finanzsystem. Es kam zu einem Kollaps des Vertrauens innerhalb des Finanzsektors, der weitere Banken in Schieflage brachte. Diese Banken wurden dann unter massivem Einsatz von Steuergeldern gerettet. In Finanzkrisen sind Regierungen also quasi gezwungen, die Banken mit Steuergeldern zu retten, um eine schwere Wirtschaftskrise zu verhindern. Das führt dazu, dass Gewinne, die in guten Zeiten anfallen, den Eigentümern und Managern der Banken zufließen, während Verluste, die in Krisen auftreten, von den Steuerzahlern getragen werden müssen. Gewinne werden privatisiert, Verluste werden sozialisiert. Aus gesamtwirtschaftlicher Sicht hat diese Form der Gewinnmaximierung, die auf der Durchsetzung verzerrter Spielregeln beruht, sehr negative Folgen. Zum einen kommt es zu einer hochgradig unfairen Bereicherung einiger weniger auf Kosten der Allgemeinheit. Zum anderen werden für die Banken Anreize geschaffen, übermäßig riskante Geschäfte einzugehen; es kommt zu einer massiven Fehlsteuerung von Ressourcen. Ähnlicher Einfluss von Lobbyarbeit existiert in anderen stark regulierten Sektoren, beispielsweise dem Pharmasektor oder in leitungsgebundenen Industrien in den Bereichen Energieversorgung oder Kommunikation. 103

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Auch die Digitalwirtschaft hat hohes Interesse daran, die regulatorischen Rahmenbedingungen in ihrem Sinne zu beeinflussen. In einer aktuellen Studie beschreibt Thomas Philippon, wie systematische Lobbyarbeit von Unternehmen und Branchenvertretern in den USA dazu geführt hat, dass der Wettbewerb immer stärker eingeschränkt wird.7 Die Folge ist, dass Güter sich zunehmend verteuern, Unternehmensgewinne wachsen, die Löhne der Beschäftigten sinken und Konsumenten benachteiligt werden, weil sie überhöhte Preise zahlen müssen oder qualitativ schlechte Produkte erhalten. Lobbying ist fester Bestandteil des demokratischen Prozesses und durch eine Reihe von Grundrechten geschützt. Es kann durchaus auch gesamtgesellschaftlich produktiv sein, wenn es dazu führt, dass Informationen in den politischen Prozess eingebracht werden, die Gesetze verbessern. Häufig führt Lobbyarbeit jedoch dazu, dass Partikularinteressen auf Kosten des Gemeinwohls privilegiert werden. Neben legaler Lobbyarbeit gibt es Fälle von Korruption. Es kommt vor, dass Unternehmen oder Einzelpersonen Entscheidungsträger in Regierungen bestechen und sich Vorteile verschaffen, oft auf Kosten der lokalen Bevölkerung. Das kann beispielsweise in der Form auftreten, dass Umweltgesetze nicht eingehalten und von staatlicher Seite auch nicht überwacht werden, oder durch die Vergabe überteuerter öffentlicher Aufträge zu Lasten der heimischen Steuerzahler. Intensiv diskutiert wird diese Form der Beeinflussung staatlichen Handelns in Entwicklungs- und Schwellenländern, in denen Governance-Strukturen schlecht entwickelt sind und die Kontrolle durch Medien nicht gut funktioniert. 104

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Korruption existiert aber auch in hochentwickelten rechtsstaatlichen Demokratien. Es liegt auf der Hand, dass Gewinnmaximierung in Form von Lobbying für staatlich gewährte Privilegien oder gar Korruption für die Gesellschaft insgesamt massiven Schaden anrichten kann. Es zeigt sich also, dass die Orientierung von Unternehmen am Ziel der Gewinnmaximierung umso eher mit dem Ziel der Maximierung der gesamtgesellschaftlichen Wohlfahrt vereinbar ist, je stärker staatliches Handeln auf dieses Ziel ausgerichtet ist. Wenn staatliches Handeln jedoch nicht sachgerecht auf Fälle von Marktversagen reagiert oder wenn Partikularinteressen in politischen Entscheidungen über das Gemeinwohl gestellt werden, kann private Gewinnmaximierung für die Gesellschaft insgesamt erheblichen Schaden anrichten.

5. Welche Folgen ergeben sich für das Gemeinwohl, wenn Unternehmen sich gar nicht gewinnmaximierend verhalten? Real existierende Unternehmen sind keine atomistischen Einheiten, die mechanisch Gewinne maximieren, sondern komplexe und teils sehr große Organisationen, die von einem administrativen Apparat geführt werden. Da die leitenden Manager üblicherweise nicht die Eigentümer sind, ist a priori unklar, ob sie ein Interesse daran haben, den Gewinn des Unternehmens zu maximieren. Häufig wird die Entlohnung der Manager an den Aktienkurs gebunden. Aktienkurse sind der vermutlich 105

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beste verfügbare Indikator zur Bestimmung des Unternehmenswerts, der dem Gegenwartswert der künftig zu erwartenden Gewinne entspricht. Die Ausrichtung der Managerinteressen an den Interessen der Eigentümer ist dennoch eine komplexe Aufgabe, die nicht reibungslos gelingt. Wenn Manager Mittel ihres Unternehmens für Projekte einsetzen, die ihnen persönlich mehr nutzen als dem Unternehmen, kann das nicht nur für die Eigentümer, sondern auch gesamtwirtschaftlich negative Folgen haben. Beispielsweise wurde Managern wie Jacques Nasser bei Ford, Jack Smith bei General Motors oder Jürgen Schrempp bei Daimler vorgeworfen, »EmpireBuilding« betrieben zu haben und dabei für große Fehlinvestitionen verantwortlich zu sein.8 Diese Fehlinvestitionen sind nicht nur für die Eigentümer schmerzlich, sondern auch gesamtwirtschaftlich schädlich. Hier ist nicht zu viel, sondern zu wenig Gewinnmaximierung die Ursache des Schadens. Die Frage des Zeithorizonts der Entscheidungsträger spielt eine wichtige Rolle in der aktuellen Debatte über Nachhaltigkeit in der Privatwirtschaft. Häufig wird Managern vorgeworfen, zu hohe Gehälter zu beziehen und sich zu sehr an kurzfristigen Erfolgen – wie z.!B. Quartalsergebnissen – zu orientieren. Gewinnmaximierung im Interesse der Eigentümer bedeutet im Prinzip jedoch langfristig angelegte, nachhaltige Maximierung von Gewinnen. Kontrovers diskutiert wird auch die Berücksichtigung langfristiger, aber langsam voranschreitender Veränderungen. Ein Beispiel ist der Klimawandel mit Maßnahmen der Politik zu seiner Eindämmung und zur Anpassung an steigende Temperaturen. Hier stellt sich die Frage, ob die Governance-Strukturen von 106

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Unternehmen sicherstellen, dass die Folgen dieser Entwicklung für das eigene Geschäftsmodell angemessen in Managemententscheidungen einbezogen werden. Wenn das in vielen Unternehmen nicht geschieht, kann es auch für die Politik schwerer werden, die notwendigen Anpassungen umzusetzen. Beispielsweise ist es problematischer, den CO2-Preis zu erhöhen, wenn Unternehmen nicht in klimafreundliche Technologien investiert haben. Mark Carney spricht in diesem Kontext von der »Tragödie des Zeithorizonts«, in Anlehnung an die »Tragödie der Allmende«.9 Es ist wichtig, dass Verträge von Managern und die Governance von Unternehmen Anreize für kurzfristige Gewinnmaximierung auf Kosten der mittel- und langfristigen Entwicklung vermeiden. Shareholder-Value-Maximierung bedeutet dass Aktienkurse bei funktionierenden Kapitalmärkten nicht primär von Quartalsgewinnen abhängig sind, sondern von der erwarteten langfristigen Entwicklung eines Unternehmens. Es gibt jedoch Kapitalmarktfriktionen, unter anderem weil Manager meistens besser über ihr Unternehmen informiert sind als externe Kapitalanleger. Deshalb stößt Langfristorientierung allein durch Maximierung des Börsenwerts an Grenzen. Es sind allerdings kaum bessere Indikatoren für Nachhaltigkeit der Erträge zu finden als Bewertungen an Kapitalmärkten.

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6. Gesamtgesellschaftliche Ziele in die Governance der Unternehmen aufnehmen? Es wird immer wieder gefordert, gesamtgesellschaftliche Ziele in der Governance von Unternehmen zu verankern und Manager zu verpflichten, ihr Handeln an diesen Zielen und nicht nur an den Wünschen der Eigentümer auszurichten. In vielen Unternehmen ist dies bereits der Fall, wobei nicht immer klar ist, welche Bindungskraft und Relevanz die verkündeten Ziele haben. Das ist aus verschiedenen Gründen problematisch. Wie von Milton Friedman erläutert, hat diese Form der Bindung von Privateigentum an politisch gesetzte Ziele den Charakter eines Eingriffs in Eigentumsrechte. Das ist nicht per se problematisch – viele Regelungen, Steuergesetze, Umweltauflagen, Bauvorschriften etc. haben diese Wirkung. Problematisch wird es, wenn den angestellten Managern zu großer Ermessensspielraum dabei zugestanden wird, gesellschaftliche Anliegen wie Nachhaltigkeit zu definieren und in unternehmerische Entscheidungen einfließen zu lassen. Vor allem können solche Klauseln das Prinzipal-Agenten-Problem zwischen Eigentümern und Managern verstärken. Manager mögen beispielsweise ein Interesse daran haben, sich mit dem Geld der Unternehmenseigner als Förderer ökologischer oder sozialer Zwecke zu profilieren; legitim ist das jedoch nicht. Die Verwendung von Steuergeldern ist legitim, weil und soweit sie demokratischer Kontrolle unterliegt. Manager unterliegen dieser Kontrolle nicht, sondern der Kontrolle durch die Eigentümer.

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7. Schlussfolgerung: Effektivität und Transparenz staatlichen Handelns sind entscheidend Um zu verhindern, dass das Handeln von Unternehmen berechtigten Anliegen der Gesellschaft insgesamt zuwiderläuft, kommt es entscheidend auf die staatlich gesetzten Rahmenbedingungen an. Je präziser externe Effekte unternehmerischen Handelns internalisiert, je wirksamer Marktmacht eingedämmt und Wettbewerb geschützt wird, desto mehr sind die Interessen der Eigentümer an hohen Gewinnen und die gesamtwirtschaftlichen Interessen kompatibel. Aus dieser Perspektive besteht die Arbeitsteilung zwischen Unternehmen und Regierungen darin, dass letztere durch geeignete Voraussetzungen dafür sorgen sollen, dass das private Gewinnstreben auch gesamtwirtschaftlich produktiv ist. Dabei darf allerdings nicht übersehen werden, dass der politische Prozess selbst von Unternehmen und ihren Lobbygruppen beeinflusst wird. Gewinnmaximierung kann auch bedeuten, die gesetzten Rahmenbedingungen zum eigenen Vorteil zu verändern, unter Umständen auf Kosten des Gemeinwohls. Für den Erfolg einer marktwirtschaftlich geprägten Wirtschaft ist es deshalb entscheidend, durch Transparenz politischer Entscheidungsprozesse einschließlich der Zusammenarbeit politischer Entscheidungsträger mit Lobbygruppen und Spendern insbesondere in der Parteienfinanzierung dafür zu sorgen, dass die Gemeinwohlorientierung staatlichen Handelns erhalten bleibt. Diesen Zielen ist nicht gedient, wenn Unternehmen Gewinnorientierung durch Gemeinwohlorientierung 109

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ersetzen und dabei die Grenzen zwischen Staatsaufgaben und unternehmerischer Verantwortung verwischen. Ganz im Gegenteil ist ein gewisser Abstand zwischen Politik und Unternehmen erforderlich, um Interessenkonflikte und den Eindruck von Kollusion zwischen Unternehmen und politischen Entscheidungsträgern zu vermeiden. Aus gesamtgesellschaftlicher Sicht produktive Allianzen zwischen Politik und Wirtschaft sollten also nicht in erster Linie eine Verflechtung und enge Kooperation zwischen Unternehmensvertretern und politischen Entscheidungsträgern beinhalten, sondern ein geteiltes Bewusstsein für die Spielregeln, die eingehalten werden müssen, damit individuelles Gewinnstreben wirklich dem Gemeinwohl dient. Anmerkungen 1 Milton Friedman, The social responsibility of business is to enhance its profits, in: New York Times Magazine 32 (13), 1970, S. 122–126. 2 Eine aktuelle Kritik der Friedman-These bietet etwa Martin Wolf, Milton Friedman was wrong on the corporation: The doctrine that has guided economists and businesses for 50 years needs re-evaluation, in: Financial Times, 8.  Dezember 2020, https://www.ft.com/content/e969a756-922e-497b-8550-94bfb 1302cdd, abgerufen am 11.!1.!2021. 3 Das betonen etwa Paul Collier und John Kay, Greed is Dead – Politics after Individualism, London 2020. 4 Siehe Carl Bergstrom und Joseph B. Bak-Coleman, Gerrymandering in social networks, in: Nature 573, 2020, S. 40-41 sowie Gillian Murphy et al., False memories for fake news during Ireland’s abortion referendum, in: Psychological Science 30, 2019, S. 1449–1459. 5 Vgl. Qinghua He et al., Brain anatomy alterations associated with Social Networking Site (SNS) addiction, in: Scientific Report 7, 2017, Article No. 45064.

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6 Siehe dazu etwa Anat Admati und Martin Hellwig, The Bankers’ New Clothes, Princeton und Oxford 2013, insbesondere Kapitel 12 (S. 192!ff.), in dem erläutert wird, warum Banken in ihrer Lobbyarbeit lange Zeit sehr erfolgreich waren und es teilweise bis heute sind. 7 Thomas Philippon, The Great Reversal: How America gave up on Free Markets, Cambridge, Mass. 2019. 8 https://www.autonews.com/article/20090505/BLOG01/ 905059984/watch-out-here-comes-another-empire-builder, abgerufen am 11.!1.!2021. 9 Mark Carney, Breaking the tragedy of the horizon – climate change and financial stability, Speech by Mr. Mark Carney, Governor of the Bank of England and Chairman of the Financial Stability Board, at Lloyd’s of London, London, 29 September 2015, https://www.bankofenland.co.uk/speech/2015/ breaking-the-tragedy-of-the-horizon-climate-change-andfinancial-stability, abgerufen am 9.!12.!2020.

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Eugénia C. Heldt

Sind internationale Organisationen die tragischen Helden der heutigen globalen Weltordnung?

Einführung Sind internationale Organisationen (IO s) die tragischen Helden der gegenwärtigen Weltpolitik? Wenn sie zu erfolgreich agieren und ihre Aufgaben vollständig erfüllen, riskieren sie, abgeschafft zu werden. Verselbstständigen sie sich und bewegen sich jenseits ihres übertragenen Mandats, werden sie von den Regierungschefs und der Öffentlichkeit kritisiert. Warum stehen IO s zunehmend am Pranger? Warum befinden sie sich in einer Art Dauerkrisenzustand? Und wie konnte es so weit kommen? Damit wir die gegenwärtige Krisensituation verstehen, ist es hilfreich, sich zu erinnern, wie alles begann. IO s gibt es schon seit über 200 Jahren und seitdem hat nicht nur ihre Anzahl stetig zugenommen, sondern auch der Umfang und die Komplexität ihrer Zuständigkeiten. Anfang des 20.  Jahrhunderts gab es um die 30 internationale Institutionen, heute sind es über 7.700. Die Mehrheit der heute existierenden internationalen Institutionen und Organisationen sind in der Nachkriegszeit entstanden – wie z.!B. die Vereinten Nationen. Der Rückzug der alten Weltmacht USA , der Aufstieg Chinas zur neuen Weltmacht, aber auch die 113

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Fragmentierung der institutionellen Landschaft und der damit einhergehenden Entstehung neuer informeller Kooperationsformen – u.!a. G7-, G8- oder G20-Gipfel – stellen die internationale Kooperation vor enorme Herausforderungen und zeigen, wie der Multilateralismus aus unterschiedlichen Richtungen angegriffen wird. Einige Beispiele aus der internationalen Politik verdeutlichen dies: – Bei der Welthandelsorganisation (WTO) blockieren die USA die Neubesetzung wichtiger Posten am Berufungsgericht und torpedieren somit die Funktionalität dieser Institution. – Mitten in der Corona-Pandemie kündigten die USA und Brasilien an, aus der Weltgesundheitsorganisation (WHO) austreten zu wollen. – Das Brexit-Referendum sowie der darauffolgende EU -Austritt Großbritanniens stellt eine Zäsur im Europäischen Integrationsprozess dar. Mit dem Vollzug des Brexits im Jahr 2020 kommt auch das Ende der Illusionen über die Irreversibilität des europäischen Integrationsprozesses. – Die Europäische Zentralbank (EZB) hat zwar den Euro gerettet, sieht sich aber seit der Eurokrise mit Anschuldigungen wie Vertragsbruch und Überschreitung ihres Mandats konfrontiert. Das jüngste Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Anleihenkauf stellt einen weiteren Höhepunkt dieser Kontroverse dar. All diese Ereignisse zeigen, dass IO s heute mehr denn je umstritten sind. Einige Staaten erwägen inzwischen sogar, ihre Mitgliedschaft in diesen multilateralen Foren aufzugeben. Es war kein Zufall, dass das Motto 114

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der Brexit-Kampagne der UKIP-Partei »Vote Leave, Take Control« war oder dass Donald Trump im US Präsidentschaftswahlkampf eine »America First«-Kampagne verfolgte. Um zu verstehen, warum sich IO s momentan in einer Art Dauerkrisenzustand befinden und ihre Autorität permanent angezweifelt wird, werde ich in diesem Beitrag auf zentrale Forschungsgegenstände und -wellen in den Internationalen Beziehungen eingehen sowie Erklärungen anbieten, warum der Multilateralismus und insbesondere internationale Institutionen und Organisationen in Frage gestellt werden. Dabei werde ich auf folgende drei Bereiche eingehen, die die Forschung über IO s in den letzten Jahrzehnten geprägt haben: (1) Entstehung, Übertragung von Kompetenzen und Ermächtigung von IO s; (2) Politisierung und Infragestellung ihrer Autorität; und (3) Anpassungsfähigkeit und Resilienz von IO s. Der Beitrag endet mit einem Appell für mehr Multilateralismus.

1. Entstehung, Übertragung von Kompetenzen und Ermächtigung von IOs Wenn Staaten sich dafür entscheiden, IO s zu gründen statt bilateral zu handeln, stellen sich die Fragen: Warum entstehen IO s, welche Aufgaben nehmen sie wahr und welche Kompetenzen werden ihnen übertragen? Bevor diese Fragen beantwortet werden, ist es wichtig zu wissen, was IO s ausmacht. In der politikwissenschaftlichen Teildisziplin der Internationalen Beziehungen unterscheidet man zwischen vier Typen 115

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von internationalen Institutionen: Organisationen; Regime; Netzwerke; Ordnungssysteme. Internationale Institutionen sind dauerhafte und miteinander verbundene Regel- und Normensysteme (formal und informell), die Verhaltensanweisungen vorschreiben, Aktivitäten beschränken und Verhaltenserwartungen bestimmen.1 IO s hingegen sind auf der Grundlage eines völkerrechtlichen Vertrages gegründet; umfassen mehr als drei Mitgliedstaaten; verfügen über eine ständige administrative Struktur, z.!B. ein Sekretariat; üben (delegierte und selbsterarbeitete) Entscheidungsbefugnisse aus und können daher als Akteure auftreten bzw. adressiert werden.2 Dies bringt uns zum nächsten Punkt, nämlich welche Aufgaben von IO s übernommen werden. Sie fungieren als Vermittler zwischen Staaten; sie dienen als Informationssammelstelle; sie definieren Erwartungen an angemessenes staatliches Verhalten; bieten Überwachungsmechanismen; stellen Normen- und Regelbrüche fest; legitimieren bzw. verhängen Sanktionen; regeln den Zugang nicht-staatlicher Akteure zu internationalen Verhandlungen; führen diverse Programme und Projekte in zahlreichen Ländern der Welt durch. Wie hat aber alles angefangen? Warum haben Staaten zu einem bestimmten Zeitpunkt es für erforderlich erachtet, die internationale Zusammenarbeit in Form von multilateralen Organisationen und Institutionen voranzutreiben? Die Lehren aus der Weltwirtschaftskrise der 1930er Jahre, der Aufstieg faschistischer Agressorstaaten und die Schrecken des Zweiten Weltkrieges führten dazu, dass Staatsmänner wie Winston Churchill und Franklin 116

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D. Roosevelt entschlossen waren, neue internationale Strukturen zur Bewältigung von Problemen zu schaffen, die von Natur aus grenzüberschreitend waren. Die Überzeugung, aus den Fehlern der Vergangenheit zu lernen, führte zur Schaffung solcher Strukturen, die eine bessere multilaterale Zusammenarbeit in Zukunft ermöglichen sollten. Multilateralismus auf der Grundlage einer regelbasierten Weltordnung mit starken IO s sollte Frieden und Wohlstand sichern, gleichzeitig Armut und Arbeitslosigkeit reduzieren sowie den freien Handel und die Menschenrechte weltweit fördern. Infolgedessen wurden die Vereinten Nationen und die Bretton Woods-Institutionen (die Weltbank und der Internationale Währungsfond [IWF]) gegründet. Mit der Unterzeichnung der Römischen Verträge 1957 wurden die supranationalen Institutionen geschaffen und der europäische Integrationsprozess in Gang gesetzt. Mit der Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft beschlossen damals die sechs Mitgliedstaaten, ihre Souveränität in bestimmten Politikbereichen auf die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft zu übertragen. Integration bedeutet somit die freiwillige Abgabe von Kompetenzen an das supranationale Gebilde EU. Inzwischen wird das Experiment EU in anderen Regionen der Welt nachgeahmt, wie zum Beispiel durch Mercosur oder ASEAN . Obwohl internationale und europäische Institutionen im Laufe der Zeit zu einem zentralen Bestandteil der Weltordnung geworden sind, sind sie höchst umstritten. Bei der Erfüllung ihrer Aufgaben mischen sie sich in die Souveränität der Staaten ein und eignen sich selbstständig neue Kompetenzen an. Dies führt 117

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wiederum zu Auseinandersetzungen mit den Mitgliedstaaten oder zu massiver öffentlicher Kritik. Teilweise wird IO s unterstellt, außer Kontrolle geraten zu sein und sich wie Amok laufende Agenten zu verhalten.3 Ich bezeichne die internationalen Organisationen als tragische Helden der internationalen Politik, denn wenn sie zu eng mit den Mitgliedstaaten zusammenarbeiten, werden sie als Marionetten in den Händen der mächtigsten Staaten im System gesehen – wie gegenwärtig die Kritik an der engen Zusammenarbeit der WHO mit China zeigt. Wenn sie sich hingegen emanzipieren und in eigener Regie handeln – wie die gestalterische Rolle der EZB während der Eurokrise beweist4 – wird ihnen Machtüberschreitung vorgeworfen. Im Projekt »Delegation of Power and Empowerment of International Organizations over Time« (finanziert vom European Research Council) haben wir zum ersten Mal systematisch die Daten über die Kompetenzen sowie die materiellen Ressourcen (Haushaltsmittel und Personalausstattung) von sechs der wichtigsten IO s seit ihrer Entstehung bis heute gesammelt. Darüber hinaus haben wir den Ermächtigungsprozess – definiert als der Transfer von Kompetenzen und materiellen Ressourcen  – von IO s gemessen und untersucht.5 Eines der zentralen Ergebnisse dieses Projekts war, dass IO s finanzielle und Personalressourcen zu ihren Gunsten, also zur eigenen Ermächtigung strategisch nutzen können.6 Auf der Grundlage des Prinzipal-AgentenAnsatzes haben wir untersucht, welche Aufgaben an IO s übertragen worden sind und welche Ressourcen ihnen Mitgliedstaaten zur Verfügung gestellt haben seit ihrer Gründung Anfang der 1950er Jahre bis heute. Am 118

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spiel der EU können wir diesen Ermächtigungsprozess im Zeitverlauf sehr gut veranschaulichen. Seitdem sich die EU -Mitgliedstaaten in den 1960er Jahren entschlossen hatten, die ausschließliche Kompetenz in der Handelspolitik an die Europäische Kommission zu geben, um von einer Position der Stärke aus (als Einheit) mit anderen Ländern entsprechende Abkommen auszuhandeln, vertritt die Kommission die EU -Mitgliedstaaten bei den WTO -Verhandlungen. Unsere Studien aus diesem Projekt zeigen, dass der graduelle Ermächtigungsprozess dieser neuen Akteure mit einem Ausbau an Kontrollmechanismen einherging, da Staaten in einigen Fällen der Meinung waren, dass IO s und europäische Institutionen die ihnen übertragenen Kompetenzen überschritten und entgegen der Interessen ihrer Mitgliedstaaten gehandelt hatten – in der Prinzipal-Agenten-Sprache wird dies als agency slack bezeichnet. Daher wurden globale Institutionen teils als »Errant Agents«7 und als institutionelle Frankensteins porträtiert,8 welche sich der Kontrolle ihrer Prinzipale (Mitgliedstaaten) entledigt haben. Für die Forschung zu IO s stellt sich somit die zentrale Frage: Unter welchen Bedingungen kommt es bei IO s zu agency slack – also einer Abweichung vom Mandat und Verhalten entgegen der Intention der Prinzipale? Die Mehrheit der Studien in diesem Bereich übersieht bislang, dass agency slack auch eine positive Nebenwirkung der Machtübertragung sein kann. IO s wurden mit Ermessensspielraum und mit Autonomie ausgestattet, damit sie als eigenständige Akteure agieren können und nicht ausschließlich nur das tun, was Mitgliedstaaten von ihnen erwarten. In einer weiteren 119

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Studie am Lehrstuhl für European and Global Governance an der Hochschule für Politik!/!T UM School of Governance der TU München vergleichen wir 25 UN Organisationen, um erstmalig agency slack zu konkretisieren und zu zeigen, welche notwendigen und ausreichenden Bedingungen Voraussetzung dafür sind. Wir haben herausgefunden, dass die Organisationsstruktur, insbesondere der Ermessensspielraum von IO s bei der Einstellung von Personal, eine notwendige Bedingung für das Auftreten von agency slack ist. Der »Verdacht« von agency slack, also die eigenmächtige Überschreitung ihrer Kompetenzen und die Einengung der nationalen Souveränität – sei es im Berufungsgericht der WTO oder die Rolle der EZB in der Eurokrise9 – führte in den letzten Jahren zunehmend zur Politisierung und Auseinandersetzungen über die Legitimität des Handelns von nicht-majoritären Institutionen.

2. Politisierung und Infragestellung von Autorität Die Übertragung von Kompetenzen an IO s hat in den letzten Jahrzehnten zu einem quantitativen und qualitativen Bedeutungszuwachs dieser Institutionen geführt. Quantitativ, da es kaum einen Politikbereich gibt, der nicht mindestens durch einige internationale Institutionen und Organisationen geregelt wird. Und qualitativ, weil internationale Normen und Regeln inzwischen »Gesetzeswirkung« in den nationalen Rechtssystemen haben.10 Die Ermächtigung von IO s führte zu einer 120

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Verrechtlichung der Internationalen Beziehungen. Dies wiederum trug zu Legitimitätsfragen und zu einer Politisierung ihres Handelns bei. Machtmissbrauch in Form von Vergewaltigungen durch UN -Blauhelme in Bosnien; dysfunktionale interne Organisationsstrukturen; teure internationale Bürokraten; Unfähigkeit, die UN Governance-Struktur mit ihren fünf Veto-Mächten (eine Reliquie aus der Nachkriegszeit) zu reformieren; fehlende Legitimität und wenige Rechenschaftspflichtmechanismen sind einige der meisterhobenen Vorwürfe. Die Bedenken hinsichtlich der Legitimität und Rechenschaftspflicht von IO s erreichten in den neunziger Jahren im Zusammenhang mit den Korruptionsskandalen der Weltbank und der abnehmenden Relevanz des IWFs einen Höhepunkt. Dies gipfelte in der Kampagne »50 Jahre ist genug«, die darauf abzielte, die Weltbank und den IWF abzuschaffen. Diese Politisierungswelle führte dazu, dass die Weltbank sich intern reformierte und neue Anpassungsstrategien entwickelte, um resilienter zu werden. Sie verstärkte die Zusammenarbeit mit Nichtregierungsorganisationen und richtete interne Rechenschaftspflichtmechanismen ein. Heute ist die Weltbank eine der transparentesten Organisationen weltweit.11 Dies übersetzte sich auch in die Ausweitung von demokratischem Einfluss auf ihre Aktivitäten. Sie umfassen: besseren Zugang der Zivilgesellschaft; Erhöhung der Transparenz des Entscheidungsfindungsprozesses; und Rechenschaftspflicht innerhalb der Weltbank.12 Inzwischen ist nicht nur die fehlende Rechenschaftspflicht eine Herausforderung, sondern auch, was es für die Weltordnung bedeutet, wenn durch 121

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verschiebungen im globalen Regieren der demokratische Fortschritt untergraben wird. Denn der Aufstieg von autokratisch regierten Ländern, wie zum Beispiel China, begrenzt den demokratischen Einfluss auf IO s und kann somit langfristig den Niedergang der globalen Demokratie bedeuten. Autokratien wollen in erster Linie ihre nationale Souveränität ausweiten und möglichst wenig Mitspracherecht an IO s übertragen. Wenn sie neue IO s gründen, sorgen sie dafür, dass demokratische Kontrollmechanismen schwach ausgeprägt sind.13

3. Anpassungsfähigkeit und Resilienz Eine weitere Frage ist der Umgang von IO s mit der gerade dargestellten Kritik.14 Bisherige Antworten von IO s beinhalteten die Erhöhung der Transparenz bei Entscheidungsfindungsprozessen, eine Öffnung zur Außenwelt, die Entwicklung neuer Kommunikationsstrategien, eine Ausweitung des eigenen Mandats oder die Einführung von mehr Rechenschaftspflichtmechanismen. Viele von ihnen haben auch als Anpassungsstrategie neue Aufgabenfelder erobert. Der IWF und die Weltbank haben ihr Mandat dermaßen erweitert, dass Kritiker ihnen vorwerfen, dass sie sich »verzettelt« hätten. So umfasst die Auslegung des Begriffs »Entwicklung« der Weltbank heute Fragen der Umwelt, Gesundheit, Bildung und sogar Gender-Aspekte. Vertreter der Zivilgesellschaft, aber auch einige Mitgliedstaaten forderten, dass zumindest der IWF sich auf seine Kernaufgaben konzentrieren solle, zu denen vor allem die Sicherung der Finanzstabilität sowie die Förderung von 122

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Wachstum und Handel gehören, statt sich mit Themen wie wirtschaftliche Inklusion, Geschlechtergerechtigkeit, Ungleichheit, Armut und Umweltschutz in seinen Analysen und Förderprogrammen zu beschäftigen. Die Unzufriedenheit der Mitgliedstaaten mit den alten IO s hat dazu beigetragen, dass informelle Formen der internationalen Kooperation entstanden sind – wie z.!B. die G7 oder G20-Formate – die als Minilateralismus15 bezeichnet werden und den Multilateralismus und stärkere institutionalisierte Formen der Zusammenarbeit schwächen. Diese alternativen Foren sind flexibler und erlauben es den Mitgliedstaaten, schneller zu reagieren. Durch die Gründung neuer konkurrierenden internationaler und regionaler Organisationen sind komplexe internationale Regime entstanden, bei denen es manchmal schwer nachzuvollziehen ist, wer die fokale intergouvernementale Organisation – also die zentrale Anlaufstelle – in einem bestimmten Politikfeld ist. Heute müssen die alten internationalen Organisationen mit der stattfindenden Machtverschiebung zurechtkommen. Eine Studie zur Thematik »Der Niedergang der globalen Demokratie« zeigt beispielsweise, dass der Aufstieg von Ländern wie China den demokratischen Einfluss auf IO s untergräbt.16 Die Unzufriedenheit des Landes mit den alten, von westlichen Ländern dominierten IO s hat dazu geführt, dass man alternative Institutionen, wie z.!B. die Neue Entwicklungsbank, errichtete. Dadurch konnte China sowohl die Good GovernanceRegeln der Weltbank bei der Vergabe von Mitteln für Entwicklungsprogramme umgehen als auch seine Verankerung in der Weltpolitik stärken. Die Entstehung neuer paralleler Strukturen hatte zur Folge, dass eine 123

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fragmentierte institutionelle Landschaft entstanden ist. Diese stellt eine weitere zentrale Herausforderung für die multilaterale Weltordnung dar. Im Bereich der globalen Internet-Governance gibt es beispielsweise eine Vielfalt an intergouvernementalen und nicht-staatlichen Organisationen. Der Rückzug der Staaten aus diesem Bereich hatte zur Folge, dass inzwischen ein privates Unternehmen, die Internet Corporation for Assigned Names and Numbers (ICANN ), für die Vergabe von Internet-Adressen zuständig ist. Die Internationale Fernmeldeunion (ITU ) spielt hingegen keine signifikante Rolle mehr. Das gleiche gilt für die Weltorganisation für geistiges Eigentum (WIPO) und die WTO. Im Bereich der globalen Gesundheitspolitik versucht die WHO ihre Fokalität zurückzugewinnen, indem sie die Zusammenarbeit mit den Mitgliedstaaten in der Corona-Pandemiesituation durch die sogenannte WHO Trial Initiative verstärken will. Denn der Wandel der WHO -Finanzierung von staatlichen Pflichtbeiträgen zu freiwilligen Zuwendungen in den letzten Jahrzehnten hat inzwischen zu einer Unterfinanzierung dieser Organisation und zu einer Privatisierung der globalen Gesundheitspolitik geführt. Die WHO musste nach privaten Geldgebern suchen und wird heute mehrheitlich durch die Bill & Melinda Gates Stiftung finanziert. Diese Abhängigkeit von externen!/!privaten Geldgebern hat die unbeabsichtigte Konsequenz, dass kurzfristige Ergebnisse und Erfolge in den Mittelpunkt gerückt sind und langfristige Krankheitsbekämpfung in Form von Grundlagen-Gesundheitsprogrammen in den Hintergrund geriet. 124

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Ein weiteres Rätsel in den Internationalen Beziehungen ist die Frage, warum IO s fast nie aufgelöst werden. Bestehende IO s zu reformieren oder sogar abzuschaffen ist ein schwieriges Unterfangen, weil in den meisten Fällen alle Mitglieder zustimmen müssen. Allerdings sind die bisherigen Forschungsarbeiten in diesem Bereich teilweise unbefriedigend und konzentrierten sich hauptsächlich auf einzelne Organisationen wie die NATO.17 So ist es beispielsweise ein Mysterium, warum die NATO bis heute existiert, obwohl der Kalte Krieg seit über 30 Jahren beendet ist.

Schluss Heute mehr denn je brauchen wir eine multilaterale Weltordnung, in der globale Interessen über nationalen Interessen stehen. Die gegenwärtige Fragilität des multilateralen Systems kann nur durch eine Stärkung des Multilateralismus überwunden werden. Dies muss rechtlich abgesichert sein, damit IO s nicht permanent von Staats- und Regierungschefs angegriffen werden. Gegenwärtig ist der Internationale Strafgerichtshof, zuständig für Völkermord und Kriegsverbrechen, ein zahnloser Tiger, da der mächtigste Staat im System – die Vereinigten Staaten – den internationalen Strafgerichtshof nicht anerkennt und sogar als illegitim bezeichnet. Ein ähnliches Schicksal könnte dem Berufungsgericht der WTO bevorstehen. Die EU mit ihren starken supranationalen Institutionen – wie z.!B. der Europäische Gerichtshof – könnte als Vorbild für eine stärkere multilaterale Weltordnung mit starken IO s dienen. 125

EUGÉNIA C. HELDT

Damit IO s aus der gegenwärtigen Krise gestärkt hervorgehen, müssen wir auch kritisch hinterfragen, ob die Welt wirklich über 7.000 internationale Institutionen braucht oder ob eine zentrale Anlaufstelle pro Politikfeld ausreichend ist. Der IWF ist ein Paradebeispiel dafür, wie ein Transformationsprozess gelingen kann. Ende der 1990er Jahre stand der IWF kurz vor dem Aus, da ihm die »Kunden« ausgegangen sind. Mit der Finanzkrise ist der IWF mit seiner fachspezifischen Expertise wie ein Phoenix aus der Asche wiederauferstanden. Das Gleiche könnte infolge der COVID 19-Pandemie mit der WHO passieren. Die gegenwärtige Unterfinanzierung und somit die Privatisierung der globalen Gesundheitspolitik hat dazu geführt, dass es kaum Grundlagenforschung in der globalen Gesundheitspolitik gibt und dass die WHO nicht adäquat auf die Pandemie reagieren konnte. Wir leben in einer interdependenten Welt, in der Länder aufeinander angewiesen sind – kein Land ist eine einsame Insel. IO s sind zentrale Bausteine für die Aufrechterhaltung und Einhaltung der Spielregeln des globalen Regierens. Sie brauchen Ermessensspielraum, um unabhängig von Staaten zu handeln und auch unbequeme, aber notwendige Entscheidungen zu treffen. Des Weiteren leisten sie technische Hilfe vor Ort, fungieren als Vermittler zwischen Staaten, helfen Nationalismus und territoriale Grenzen zu überwinden, machen globales Regieren effizienter, schaffen einen neutralen Rahmen mit Regeln und Verfahren zum Informationsaustausch und dienen als »Schiedsrichter« zur Interessenvermittlung und Bearbeitung von Konflikten. Der Weltfrieden ist ein zerbrechliches Gut, das am 126

INTERNATIONALE ORGANISATIONEN

besten durch die Mitwirkung und Mitgestaltung von internationalen und europäischen Institutionen geschützt und gestärkt werden kann. Es wäre daher von zentraler Bedeutung und ein wichtiges Zeichen, wenn Staaten wieder auf multilaterale Kooperationsformen setzen und unilaterales Handeln einschränken, denn: Eine institutionalisierte Welt ist wahrscheinlich die schlechteste aller Regierungsformen – abgesehen von all den anderen Formen.18

Anmerkungen 1 Robert O. Keohane, International Institutions and State Power: Essays in International Relations Theory, Boulder, CO 1989, S. 3. 2 Eugénia da Conceição-Heldt, Martin Koch und Andrea Liese (Hg.), Internationale Organisationen als Forschungsgegenstand. Oder: »Über Blinde und die Gestalt des Elefanten«, Politische Vierteljahresschrift, Sonderheft 49, 2015, S.  4-27, hier S. 9. 3 Eugénia da Conceição-Heldt, Do Agents »Run Amok«? Agency Slack in the EU and US Trade Policy in the Doha Round, Journal of Comparative Policy Analysis, 15 (1) 2013, S. 21-36. 4 Eugénia Heldt und Tony Mueller (2020), The (Self-)Empowerment of the European Central Bank during the Sovereign Debt Crisis, Journal of European Integration, 2020, S.  1-16, DOI: 10.1080/07036337.2020.1729145. 5 Mehr Informationen zum Projekt: https://delpowio.eu, abgerufen am 7.!12.!2020. 6 Eugénia Heldt und Henning Schmidtke, Measuring the Empowerment of International Organizations: The Evolution of Financial and Staff Capabilities, Global Policy 8 (S5) 2017, S. 51-61. 7 Eugénia Heldt, (2017) Regaining Control of Errant Agents? Agency Slack at the European Commission and the World Health Organization, Cooperation and Conflict, 52 (4) 2017, S. 469-484.

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EUGÉNIA C. HELDT

  8 Darren G. Hawkins, David A. Lake, Daniel L. Nielson und Michael J.Tierney (Hg.), Delegation and Agency in International Organizations, Cambridge 2006.   9 Heldt und Mueller (Anm. 4). 10 Conceição-Heldt, Koch und Liese (Anm. 2). 11 Eugénia Heldt, Lost in Internal Evaluation? Accountability and Insulation at the World Bank, Contemporary Politics, 24 (5) 2018, S. 568-87. 12 Eugénia Heldt und Henning Schmidtke, Global Democracy in Decline?, Global Governance: A Review of Multilateralism and International Organizations, 25 (2) 2019, S. 231-254. 13 Heldt und Schmidtke (Anm. 12). 14 Klaus Dingwerth, Antonia Witt, Ina Lehmann, Ellen Reichel und Tobias Weise (Hg.), International Organizations under Pressure: Legitimating Global Governance in Challenging Times, Oxford 2019. 15 K. Orfeo Fioretos, Minilateralism and Informality in the International Monetary System’, Review of International Political Economy, 26 (6) 2019, S. 1136-1159. 16 Heldt und Schmidtke (Anm. 12). 17 Celeste A. Wallander, Institutional Assets and Adaptability: NATO After the Cold War, International Organization, 54 (4) 2003, S. 705-735. 18 Robert O. Keohane und Joseph S. Nye, Power and Interdependence, New York 2001.

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Wolfgang Schön

Fehlt eine Weltregierung?

Es gibt keine Weltregierung. Das ist schön und schrecklich zugleich. Es ist schön, weil es die totale Kontrolle menschlichen Lebens auf unserem Planeten verhindert. Es ist schön, weil es jedem Menschen, der mit dem politischen System seines Landes nicht einverstanden ist, das Recht offenhält, in einem anderen Land ein besseres Leben zu finden. Es ist schrecklich, weil wirtschaftliche, kulturelle und militärische Konflikte zwischen Nationen unkontrolliert eskalieren können. Es ist schrecklich, weil eine Weltregierung in der Lage wäre, den globalen Herausforderungen der Menschheit – von der Klimakatastrophe über die internationale Migration bis hin zum demographischen Wandel – zielsicher zu begegnen. Es lässt sich schnell Einigkeit darüber erzielen, dass eine Weltregierung nicht nur in der Gegenwart, sondern auch für die Zukunft eine reine Utopie bildet. Doch es bleiben zwei Fragen – die eine ist theoretischer, die andere praktischer Natur. Die theoretische Frage ist darauf gerichtet, ob die positiven Aspekte einer globalen politischen Herrschaft deren negative Konsequenzen überwiegen würden. Und die damit verbundene praktische Frage geht dahin, ob die Staaten durch ihr politisches Handeln versuchen sollten, sich dem Ziel einer globalen Governance immer weiter anzunähern. 129

WOLFGANG SCHÖN

Beginnen wir mit der ersten Frage: Wäre eine Weltregierung summa summarum eine gute Sache? Natürlich verlangt dies nach einer differenzierten Betrachtung. Stellen wir uns das politische System einer solchen Weltregierung als Diktatur oder als Demokratie vor? In einer globalen Diktatur wird – soviel scheint auf den ersten Blick klar – niemand leben wollen. Doch mag man einwenden, dass in Zeiten existenzieller Bedrohung – man denke nur an die Klimakatastrophe – vielleicht nur eine hartes Kommandosystem in der Lage ist, diejenigen massiven Opfer an persönlicher Freiheit und wirtschaftlichem Wohlstand durchzusetzen, die erforderlich sind, um die größten denkbaren Schäden für Umwelt und Menschheit abzuwenden. Schließlich haben schon die Römer in Zeiten größter Not und auf begrenzte Zeit einen dictator mit der Rettung der res publica beauftragt. Voraussetzung für den Erfolg wäre aber nicht nur ein zeitliches Herrschaftslimit, sondern auch die persönliche Eignung des Regenten. Erfahrungen mit zeitgenössischen Diktatoren lassen dafür nichts Gutes hoffen. Und auch wenn Alleinherrscher oder Einparteienregime hin und wieder effektive Handlungsfähigkeit beweisen, etwa bei der Verordnung und Durchsetzung von Zwangsmaßnahmen zur Eindämmung von Infektionskrankheiten, möchte man die Kollateralschäden einer Diktatur, die von blühender Korruption bis zu massiven Menschenrechtsverletzungen reichen, nicht in Kauf nehmen. Diktaturen, so lässt sich schließlich beispielhaft anmerken, haben auch keine günstige Erfolgsbilanz im Umweltschutz. Was wäre von einer demokratisch legitimierten Weltregierung zu halten? Wir sprechen von einer Staatsform, 130

FEHLT EINE WELTREGIERUNG?

deren Gesetze durch ein Weltparlament erlassen, deren Institutionen durch eine Weltjustiz gebändigt, deren globale Politik einem weltweit konstituierten Wahlvolk verpflichtet wäre. Wäre das ein Traum oder eine Horrorvorstellung? Zunächst einmal: Die real existierenden wirtschaftlichen, kulturellen, religiösen und regionalen Konflikte, die unsere Gegenwart prägen, wären nicht auf Anhieb verschwunden. Sie wären nur – wie auch alle anderen politischen Herausforderungen – in das Internum eines einheitlichen Staates verlagert. Jegliche Außenpolitik würde zur »Weltinnenpolitik« im wörtlichen Sinne. Und deren Gelingen würde voraussetzen, dass die zugleich globalen und »innerstaatlichen« Streitbeilegungsmechanismen eines solchen Weltstaats effektiv mit diesen Herausforderungen umgehen können. Einfach ist das nicht: Wie soll ein demokratisch organisierter Weltstaat mit nahezu acht Milliarden Staatsangehörigen Interessengegensätze zwischen hoch diversen Gruppen, zwischen Mehrheiten und Minderheiten auf allen Kontinenten bewältigen? Wie soll eine Weltregierung sachangemessene Informationen einholen, um ihren politischen Aufgaben vor Ort gerecht zu werden? Welche Zwangsmittel werden einer Weltregierung zugestanden, die ein globales Gewaltmonopol beanspruchen soll? Wie stellt man sich die Finanzierung eines Weltstaats vor, dessen Einwohner in dramatisch ungleichen wirtschaftlichen Verhältnissen leben? Das vielleicht wichtigste Argument gegen einen demokratisch verfassten Weltstaat lautet aber: Ein solcher Staat wäre rein technisch nicht weit entfernt von der geschilderten weltweiten Diktatur. Denn wenn es erst einmal gelungen ist, alle Nationen der Welt zu einem 131

WOLFGANG SCHÖN

zentral verwalteten Gesamtstaat zusammenzuschließen, dann kann jede Schwäche der leitenden Institutionen dafür genutzt werden, ein einheitliches Kommandosystem zu etablieren. Es müssten nur noch wenige Schrauben gedreht werden. Jedem, der in den letzten Jahren erlebt hat, wie schnell demokratisch konstituierte Staaten ohne wesentliche Änderung ihrer verfassungsrechtlichen Strukturen in autoritäre Systeme verwandelt werden können, muss vor einer solchen Perspektive angst und bange sein. Und am Ende einer solchen Transformation bliebe für die freiheitsliebenden Menschen kein Staat mehr übrig, in den eine Emigration noch möglich erscheint. Es hat also sein Gutes, dass eine Weltregierung nicht existiert. Und doch fehlt sie in dem Sinne, dass die von ihr wahrzunehmenden Funktionen ausgeübt werden müssen. Wer kümmert sich um die Schaffung und Wahrung globaler öffentlicher Güter? Wer sorgt für ein gesundes Maß an weltweiter Umverteilung zwischen Reich und Arm? Dies alles bedarf der Koordination zwischen den fortexistierenden Nationalstaaten. Diese Koordination kann »weich« oder »informell« – etwa durch abgestimmtes soft law – erfolgen, sie kann sich aber auch in harten Verträgen oder gar in der Einrichtung supranationaler Institutionen niederschlagen, was in den vergangenen Jahrzehnten immer häufiger vorgekommen ist. Auch wenn unterschiedliche Härtegrade des jeweiligen Engagements denkbar sind, fehlt es den für die Einhaltung dieser Verträge zuständigen Einrichtungen in der Regel an dem, was eine wirkliche Zentralregierung auszeichnen würde: an der militärisch-polizeilichen Fähigkeit zum »unmittelbaren 132

FEHLT EINE WELTREGIERUNG?

Zwang«. Ganz unabhängig von einem unterentwickelten Sanktionensystem besteht aber auch ein materieller Unterschied zwischen der vertraglichen Bindung im Staatenbund und dem institutionellen Unterworfensein im Bundesstaat: Verträge können gekündigt werden. Zuletzt hat die republikanisch geführte US -Regierung gezeigt, wie einfach es ist, ein Netz vertraglicher Verpflichtungen legal abzustreifen, und wie man hochdifferenzierte Institutionen wie die Welthandelsorganisation mit Verzögerungstaktiken erodiert. Das bedeutet: Wenn es keine globale Zentralgewalt gibt, bedarf es anderer Mechanismen, um global angestrebte Politikziele zu verwirklichen. Diese Mechanismen müssen darauf angelegt sein, den Interessen der Einzelstaaten an dem Abschluss und der Befolgung völkervertraglicher Bindungen zu entsprechen. Ökonomisch formuliert ist daher incentive compatibility das Gebot der Stunde. Ob es um die weltweite Steuerkoordinierung durch die OECD geht oder um die Umweltziele des Klimaabkommens von Paris – man muss Staaten dafür gewinnen, sich aus eigenem wohlverstandenem Interesse diesen Verträgen zu unterwerfen und die Bindung auch dann beizubehalten, wenn es zu innerstaatlichen Konflikten oder internationalen Wettbewerbsnachteilen führt. Faktisch soll dies vor allem dann funktionieren, wenn die wechselseitige vertragliche Vernetzung zwischen den Staaten eine so hohe Dichte erreicht hat, dass der kalkulierte Ausstieg aus einem einzelnen Vertrag einem Staat so hohe Nachteile im übrigen Vertragsgeflecht zufügen würde, dass sich das System selbst stabilisiert. Doch stehen dem auch Nachteile gegenüber: Sachlich-wissenschaftliche 133

WOLFGANG SCHÖN

Problembefunde und politische Lösungen werden in einem solchen Vertragsnetz gleichsam dauerhaft »eingefroren«. Die spontane Anpassungsfähigkeit gegenüber sich wandelnden politischen Herausforderungen wird geschwächt. Nicht von ungefähr haben Staaten wie das Vereinigte Königreich und die Vereinigten Staaten in den letzten Jahren einen nahezu gewaltsamen Ausbruch aus langfristigen freiwilligen Bindungen gesucht, um ihre staatliche Handlungsfähigkeit in the long run zu erhalten. Die erfolgreichen Koordinierungsmechanismen des europäischen Binnenmarkts, über Jahrzehnte eine Erfolgsgrundlage des Wirtschaftswachstums in der Europäischen Union – sie können auch durch Überregulierung und Erstarrung kontraproduktiv wirken. Und staatliche Flexibilität benötigt man nicht nur deshalb, um veränderte politische Präferenzen durchzusetzen. Man braucht sie schlicht auch, damit sich die Realität in unvorhergesehener Weise verändern kann. An dieser Stelle kommt der zwischenstaatliche Wettbewerb ins Spiel, der es in einer global koordinierten – und erst recht in einer zentral gelenkten – Welt nicht so leicht hat. Diesen Wettbewerb zwischen den Staaten darf man sich nicht (nur) als Nullsummenspiel zwischen starken und schwachen Parteien vorstellen, in dem feste Summen als Gewinne hin und her geschoben werden. Der staatliche Regulierungswettbewerb ist auch – im Sinne von Friedrich August von Hayek – ein Entdeckungsverfahren besseren Rechts, ein »edler Wettstreit« um die angemessene Lösung von Problemen. Als solcher erfüllt er zwei Zwecke, die in einem einheitlichen Weltstaat nur schwer verwirklicht werden können. Zum einen adressiert er das 134

FEHLT EINE WELTREGIERUNG?

mationsproblem, welches eine (wenn auch gutwillige) entrückte Weltregierung bei ihrem politischen Handeln notwendig begleitet und schwächt. Zum anderen sichert der Staatenwettbewerb dem einzelnen Bürger den unverzichtbaren Freiraum, durch einen persönlichen Austritt in ein anderes Herrschaftsgebiet für sich selbst eine bessere Zukunft zu sichern und den beteiligten Staaten »mit den Füßen« eine Lektion zu erteilen. Der Regulierungswettbewerb ist daher nicht nur instrumentell als alternatives Gesetzgebungsverfahren zu begreifen. Er ist zutiefst mit der personalen Freiheit des Einzelnen und dem daraus fließenden ursprünglichen und menschenrechtlich gesicherten Emigrationsrecht verbunden. Wer einer Weltregierung unterworfen ist, die keinen Wettbewerb zu fürchten hat, wird ihr an keinem Ort der Erde entkommen. Wie kann es aber gelingen, im institutionellen Wettbewerb zwischen Staaten wichtige globale Ziele zu verwirklichen, ohne an den Interventionen der Trittbrettfahrer und Blockierer zu scheitern? Ein erster Schritt muss darin bestehen, dass sich die demokratisch legitimierten Staaten ihrer eigenen Zielsetzungen vergewissern. Geht es nur darum, den Wohlstand und die Wohlfahrt des eigenen Volkes zu mehren? Das ist die traditionelle Arbeitsplatzbeschreibung staatlicher Hoheitsträger, die auch das Bonner Grundgesetz im Amtseid des Bundeskanzlers aufscheinen lässt. Oder sind Staaten in der Lage, globale Gemeinwohlziele in ihre Handlungsperspektive aufzunehmen? Wie weit reicht der Gemeinsinn einzelner Gemeinwesen? Letztlich hängt die richtige Antwort auf diese Frage nicht primär von dem Eigenwillen oder den Eigeninte135

https://doi.org/10.5771/9783835346598

WOLFGANG SCHÖN

ressen der zuständigen Organwalter ab. Sie entscheidet sich an dem Willen und Selbstverständnis der Bürger und Bürgerinnen, die als »Staatsvolk« souverän durch Wahlen und Abstimmungen die großen Linien der Politik ihres Landes bestimmen. Empfindet sich ein Volk als solidarisch mit anderen Völkern? Versteht der Einzelne sich nicht nur als Mitglied einer »Weltbevölkerung«, sondern auch eines »Weltvolks«? Und sind die Mitglieder dieses Weltvolkes bereit, ihre Sympathien und ihre Ressourcen mit allen anderen zu teilen, die auf diesem Planeten schicksalhaft festsitzen? Die Theorie des Staatsrechts kann uns darüber so wenig belehren wie die Axiome der politischen Ökonomie. Das Resultat kann sich nur im Diskurs einer Weltöffentlichkeit entwickeln, die über lokale und innerstaatliche (oder auch innereuropäische) Zirkel hinausreicht. Die jüngsten Erfahrungen der Corona-Pandemie könnten vermuten lassen, dass in fundamentalen Krisen letztlich »jeder sich selbst der Nächste« ist und lange verabschiedet geglaubte Grenzlinien zwischen »uns« und »euch« wieder gezogen wurden. Doch muss dies nicht das letzte Wort sein. Der maßgebliche Prüfstein wird der Klimawandel sein, dessen Folgen global eintreten und dessen Ursachen nur global bekämpft werden können. Für unsere Ausgangsfrage bedeutet das: Die Einsetzung einer Weltregierung ist nicht zu erwarten, sie ist auch nicht gewollt. Aber aus den Völkern der Welt ein »Weltvolk« zusammenzuführen, das sich als zugehörig und solidarisch versteht, wäre ein gewaltiger Schritt. Diese Entwicklung wird nicht allein »von oben« in Gang gesetzt werden können, nicht nur durch das Denken und Handeln von Institutionen und Eliten. Sie 136

FEHLT EINE WELTREGIERUNG?

muss ihren Ausgang nehmen in den Köpfen von Milliarden Weltbürgern, die sich nicht einem engstirnigen Nationalismus verpflichtet sehen, aber auch nicht als wurzellose citizens of nowhere verstehen, sondern als freie Bürger einer Weltgemeinschaft, die in Sorge füreinander verbunden sind. Wenn dieses Selbstverständnis entsteht, dann bedarf es keiner Weltregierung, sondern dann kann freiwillige Kooperation zwischen souveränen Staaten, dynamisiert durch einen ideenreichen Systemwettbewerb, Antworten auf globale Fragen anbieten.

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Bazon Brock

Wer den zerstörerischen Ernstfall … verhindern will, muss mit ihm rechnen

Am Vereinshaus der hochwerten Lübecker Kaufmannschaft verkündet »seit alters« eine Schönschriftbotschaft, dass miteinander Handel Treibende keinen Krieg führen. Noch im Juni 1914 ließen sich aufgeklärte Humanisten in liberalen Blättern von der frohen Botschaft ergreifen, dass in Europa kein Krieg möglich sei, weil alle potenziellen Kriegsgegner durch intensive Handelsbeziehungen aneinander gebunden seien. Und wer würde schon einen ständig wachsenden ökonomischen Vorteil aufs Spiel setzen wollen? Zudem seien ja die Herrscher- und Adelshäuser Europas und besonders die deutschen und englischen aufs Engste verschwistert und verschwägert. Das aristokratische Pathos der Blutsbande erwies sich tatsächlich auch für Bürger als gemütsergreifend. Allerdings genau in gegenteiliger Hinsicht. Denn bald, scheinbar wirtschaftlich ganz widersinnig, rasten die Europäer im Namen des Blutes ihrer Vaterländer gegeneinander. Natürlich könnte jedes Schulkind wissen, dass es so etwas wie das reine Blut der arischen oder sonstigen Abstammungslinien nicht gibt. Einheit durch Reinheit war und ist Hirngespinst, bloßes Kontrafaktum. Aber alle Kulturen beziehen ihre Stärke aus der 139

BA ZON BROCK

nung der Macht des Kontrafaktischen, der Religionen, Weltanschauungen, Mythologien, Epen und Märchen. Die Macht des Kontrafaktischen ist das bedeutendste Faktum für jedes Kollektiv und seine proklamierte Kultur. Ist es auch Wahnsinn, so erzeugt es doch unabdingbar stärkste Wirkung. Als historischen Höhepunkt darf man getrost die Parzival-Gesetze der Nationalsozialisten (Reichsparteitag Nürnberg, 1935) verstehen, wenn man dabei nicht vergisst zu bedenken, dass es in der Geschichte keine Einmaligkeiten, sondern nur Gesetzmäßigkeiten gibt. Es besteht nicht der geringste Zweifel, dass »America first« oder das chinesische Vormachtstreben wie alle nationalistischen Bekenntnisse immer noch und immer wieder von der kulturverwandtschaftlichen Nähe des Wir getragen werden, auch wenn man den Kapitalfluss für bedeutsamer halten will als den Blutfluss. Was sollte das heißen? Kapitalinteressen stehen nicht im Gegensatz zum Nationalismus. Die angeblich harten Fakten des Ökonomischen widersprechen nicht den zauberhaften Kräften der Märchen und Religionen. Schließlich ist der Kapitalismus selbst zur stärksten Religion der Weltgeschichte geworden und seine weltumspannenden märchenhaften Kräfte wirken Wunder, die alle historischen Wundertaten in unvorstellbarem Maße überbieten. Seit Milliarden Dollar jährlich allein in Film-, TV- oder Streaming-Produktionen fließen, stützen modernistisch angepasste Sagen massenwirksam den Glauben an die wunderbare Welt des Konsumerismus, der universal verbreiteten Vision des Lebens im Paradies. Wie aber kommt es dann zur Gefährdung oder gar Zerstörung dieser Wunder des Glaubens in den 140

WER DEN ZERSTÖRERISCHEN ERNSTFALL …

fällen der Kulturkriege? Wenn der Kapitalismus universal herrscht, müsste er doch gerade aus ökonomischem Interesse den Weltfrieden garantieren. Zumal wenn Frieden heißt, den Kapitalismus und damit die Weltreligion weiterhin wirksam zu erhalten. Wie wäre das erreichbar? Mit der »Balance of Power« zwischen den beiden Kräften des In-die-Welt-Bringens durch Güterproduktion und Aus-der-Welt-Bringens der produzierten Güter durch Gebrauch, Verbrauch, Vermüllung. Kriege sind aus kapitalistischer Sicht Voraussetzung für die Fortsetzbarkeit des Produzierens von Gütern aller Art, darunter vor allem Waffen. Klassischerweise produzierte man mit den Waffen als Waren die Mittel des radikalen, schnellen Verbrauchs der Dinge. Denn Zerstörung ist die mächtigste Form der Entsorgung und damit Voraussetzung für die Aufrechterhaltung der Gütermassenproduktion. Aber ist die Wirkung von Waffen, aufs Ganze gesehen, tatsächlich immer noch größer als die Wirkung von Verfallsdaten, die Produkte aus der Welt bringen sollen, wenn sie nicht verbraucht wurden? Weniger ehrbare Kaufleute glauben längst erkannt zu haben, wie man den Warenumsatz entscheidend erhöhen könne. Man verkauft mit den Waffen zugleich die Garantie, den Wiederaufbau des Zerstörten mit allen ökonomischen Mitteln zu gewährleisten. Eine wunderbare Rückversicherung, wie im kleinen Einzelnen jeder effektive Verkehrsunfall das Bruttosozialprodukt steigert und jede alternative Energie die gewinnbringende Fortsetzung von Geschäften der Energiewirtschaft garantiert. Warum aber ist dann die heutige Weltlage nach allgemein geäußertem Gefühl so instabil? Die Antwort mag 141

BA ZON BROCK

für Repräsentativdenker Europas immer noch überraschend sein. Sie lautet: Die für die Aufrechterhaltung des Kapitalismus notwendige Balance von In-die-WeltBringen und Aus-der-Welt-Bringen lässt sich nicht länger gewährleisten. Dafür ist die sogenannte Klimakrise mit all ihren ökologischen Folgen sprechendes Beispiel. Die Ressourcen der schöpferischen Hervorbringung sind doch nicht unbegrenzt, weil auch das Ingenium der Menschheit durch die Gesetze der Natur beschränkt wird. Evolutionär genutzte Jahrmilliarden können nicht von einem Jahrhundert scheinbar grenzenloser Schöpferkraft der Menschen aufgewogen werden. Wir müssen also mit dem entscheidenden Ernstfall, dem Versagen des Kapitalismus, rechnen. Das heißt wohl im Wesentlichen, mit schnell verstärkter Renationalisierung zu rechnen und der damit verbundenen Grundentscheidung interessengeleiteter Allianzen, der Unterscheidung von Freund und Feind. Die stärksten Polarisierungen dieser Art sind durch das Versagen des Kapitalismus in den Konfrontationen von China, den USA und Europa zu sehen, deren jeweiliger innerer Zusammenhalt zudem noch durch innerstaatliches Vormachtstreben der Religionen und Ethnien gefährdet ist. Zur Bewältigung dieser Bedrohung müsste Macht in einer Weise eingesetzt werden, die jedenfalls rechts- und sozialstaatlich verpflichteten Demokratien weitgehend widerspräche. Es bliebe dann die Option Sicherheit vor Freiheit, wobei, wie die Geschichte lehrt, selbst mit den rigidesten Mitteln Sicherheit doch längerfristig nicht garantiert werden kann. Kein Weg, keine Chance, kein Ausweg – nirgendwo? Bestenfalls ein Aufschub, wenn es gelänge, einen 142

WER DEN ZERSTÖRERISCHEN ERNSTFALL …

tungsfähigen Kapitalismus durchzusetzen. Das hieße, endlich wieder den Markt als regulative Kraft zu etablieren, denn der bisherige, nicht ökonomische, sondern bloß ideologische Kapitalismus hatte ja gerade durch Subventionen und andere erkaufte Interventionen den Markt jener Funktionslogik beraubt, die ihn tatsächlich zu begründen vermöchte. Bisher gibt es noch gar keinen ökonomischen Kapitalismus, wenn auch hie und da ein paar glorreiche Kapitalisten.

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Stefan Oschmann

Kooperation stärkt das Immunsystem der Weltgemeinschaft

»Komplexes funktionelles System eines Organismus zur Abwehr schädlicher oder körperfremder Organismen zum Erhalt von Körperfunktionen.«1 So beschreibt das legendäre medizinische Nachschlagewerk Pschyrembel das Immunsystem. Verschiedene Organe, Zelltypen und Moleküle arbeiten hocheffektiv zusammen, um unseren Körper zu schützen – von der Barrierefunktion der Haut und Schleimhäute über verschiedene Zellen, die Eindringlinge erkennen und unschädlich machen, bis hin zu Lymphsystem, Milz und Knochenmark, die diese Zellen produzieren und transportieren. Warum beginne ich einen Text über Zusammenarbeit mit dieser – stark vereinfachten – Darstellung unserer Immunabwehr? Weil uns die Evolution hier lehrt, wie ganz unterschiedliche, hoch spezialisierte Akteure in einem eng abgestimmten Zusammenspiel mit immer neuen Herausforderungen umgehen und so letztendlich unser Überleben ermöglichen. Ein solch komplexes, funktionelles System benötigen wir auch in unserer vernetzten Welt. Denn wir sind mit ernsten globalen Risiken konfrontiert, gegen die ein Land oder eine Gruppe allein wenig ausrichten kann. Die Corona-Pandemie hat das nachdrücklich unterstrichen, der Klimawandel ist ein weiteres 145

STEFAN OSCHMANN

Beispiel. Ähnlich wie beim Immunsystem halte ich es für unerlässlich, dass wir vielfältige Stärken, Perspektiven und Methoden bewusst verknüpfen, um gesunde Zukunftsaussichten für uns alle sicherzustellen. Mit anderen Worten: Wir brauchen als Weltgemeinschaft einen stärkeren multilateralen Schulterschluss über Landesgrenzen hinweg. Und wir brauchen deutlich mehr sektorübergreifende Partnerschaften zwischen Politik, Wissenschaft, Wirtschaft und weiteren Bereichen wie beispielsweise Nichtregierungsorganisationen (NGO s) oder Stiftungen. Das Tempo und die Dramatik der COVID -19-Pandemie haben uns hier sowohl Fehlentwicklungen als auch positive Beispiele eindrücklich vor Augen geführt. Welche Rückschlüsse, wie wir unsere Kooperationsmodelle nachhaltig weiterentwickeln können, lassen sich daraus speziell im Hinblick auf das Gesundheitswesen ziehen?

Globalisierung als Chance begreifen Die zentrale Bedeutung von international abgestimmten Vorgehensweisen ist zu Beginn der Pandemie rasch deutlich geworden: So wie Viren mühelos Landesgrenzen überwinden, muss dies ebenfalls für koordinierte Maßnahmen zu ihrer Bekämpfung gelten. Die nationalistischen Tendenzen der vergangenen Jahre sind auch vor diesem Hintergrund keine gute Entwicklung. Das heißt, wir wären gut beraten, die Vorteile der Globalisierung wieder für mehr Menschen erlebbar und nachvollziehbar zu machen. Die zunehmende weltweite Vernetzung hat zu höherer Produktion und 146

KOOPER ATION STÄRK T DAS IMMUNSYSTEM

vität geführt, Arbeitsplätze geschaffen, Löhne gesteigert und Preise gesenkt – und zwar sowohl in Industrienationen als auch in ärmeren Ländern.2 Als Wissenschaftler möchte ich ergänzen: Wir haben heute in nie zuvor gekanntem Ausmaß Zugriff auf Fortschritte in Technologie und Forschung, die rund um die Welt erarbeitet werden. Auch das macht unser Leben besser. Unterm Strich profitieren wir also davon, wenn die Weltgemeinschaft enger zusammenrückt. Gerade durch internationale Kooperation im Gesundheitsbereich können wir Wohlstand und Sicherheit rund um den Globus fördern. Ein zentrales Thema ist dabei die sogenannte Universal Health Coverage, eines der Entwicklungsziele der Vereinten Nationen. Aktuell hat mindestens die Hälfte der Weltbevölkerung keinen Zugang zu einer grundlegenden Gesundheitsversorgung. Schon aus ethischen Gründen haben wir eine Verantwortung, diese Situation gemeinsam zu ändern. Gleichzeitig dient eine robuste globale Gesundheitsversorgung uns allen. Stichwort Pandemiebekämpfung: COVID -19 hat deutlich gemacht, wie sehr es auf starke Gesundheitssysteme ankommt, um derartige Krisen einzudämmen oder sie im Idealfall zu verhindern. Je instabiler die Versorgungsstrukturen einer Region sind, desto schneller sind die Ausbreitung und desto dramatischer die Folgen. Das heißt konkret: In Bezug auf Epidemien sind wir als weltweite Gemeinschaft nur so sicher wie das schwächste Land. Doch auch darüber hinaus haben wir als globale Gemeinschaft viel zu gewinnen, wenn wir die Gesundheitsversorgung weltweit verbessern. Wie eng die Entwicklung der Wirtschaft mit Gesundheitsfragen 147

STEFAN OSCHMANN

verbunden ist, haben wir alle während der Pandemie erlebt. Tatsächlich hat das McKinsey Global Institute errechnet, dass dieser Effekt noch weit größer ist, als der Wirtschaftseinbruch durch COVID -19 vermuten lässt. Demzufolge drücken gesundheitliche Probleme das weltweite BIP um etwa 15 Prozent – jedes Jahr. Ein enormer Effekt, der die Auswirkungen von Corona bei weitem übersteigt. Umgekehrt könnte sich jeder Dollar doppelt bis vierfach auszahlen, der in die Gesundheit fließt.3 Der weltweite Einsatz für eine bessere Gesundheitsversorgung ist also in jeder Hinsicht ein lohnendes Ziel. Wie kommen wir dabei voran? Ich bin fest davon überzeugt, dass starke internationale Organisationen hier ein entscheidender Erfolgsfaktor sind. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) ist der richtige Akteur, um ein globales Vorgehen in Sachen Gesundheit zu koordinieren. Tatsächlich leistet die WHO in vielen Bereichen hervorragende Arbeit, auf die wir fundamental angewiesen sind. Wahr ist allerdings ebenfalls, dass die WHO in den vergangenen Jahren massiv geschwächt wurde – sowohl strukturell als auch finanziell.4 Jetzt gilt es, dass wir gegensteuern. Wir müssen die Ressourcen und das Know-how der WHO ausbauen und weiter fördern. Sie muss sich noch besser vernetzen und sich insbesondere in puncto Digitalisierung weiterentwickeln. Dann kann die WHO das globale Drehkreuz für Wissen und Maßnahmen rund um eine bessere Gesundheitsversorgung sein, das wir dringend brauchen.

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KOOPER ATION STÄRK T DAS IMMUNSYSTEM

Ein solidarisches Europa stärken Auch ein starkes Europa ist für den Umgang mit komplexen Herausforderungen schlichtweg notwendig. Sicher hat die EU ihre Möglichkeiten in der Corona-Pandemie noch nicht voll zu nutzen gewusst. Gleichzeitig waren die vielen Beispiele europäischer Solidarität ganz klar positive Signale in einer Zeit mit zu vielen nationalen Alleingängen. Ob es um Unterstützung bei der Versorgung von Kranken ging, um den Zugriff auf medizinische Ausrüstung oder um wirtschaftliche Hilfen für die Mitgliedstaaten – in allen diesen Bereichen hat die EU nach Anlaufschwierigkeiten gezeigt, dass sie mehr sein kann als die Summe ihrer Teile.5 Gerade bei Gesundheitsthemen ist das für viele Menschen besonders wichtig. Wenn es gelingt, die Zusammenarbeit in diesem Bereich weiter auszubauen und zusätzlich mit dem Aufbaufonds für die Wirtschaft zukunftsweisende Branchen zu fördern, eröffnet sich für Europa durchaus die Chance, global an Gewicht zu gewinnen. So kann ein einiges Europa in vielfacher Hinsicht ein »gesundes« Europa sein. Entsprechend begrüße ich es sehr, dass die EU die Bedeutung einer intensiven Kooperation gerade in Gesundheitsfragen vermehrt in den Blick nimmt. Das EU4Health-Programm ist beispielsweise eine sinnvolle Initiative, um die Europäische Union besser auf Gesundheitskrisen vorzubereiten, die Koordinierung zwischen den Staaten zu verbessern und sicherzustellen, dass genügend Fachpersonal und Versorgungsgüter vorhanden sind.6 Die Bündelung bestimmter Kompetenzen auf europäischer Ebene ist ebenfalls ein guter Schritt. Dazu 149

STEFAN OSCHMANN

gehören die Pläne, das Europäische Zentrum für die Prävention und die Kontrolle von Krankheiten (ECDC) zu einem schlagkräftigen Reaktionszentrum für internationale Gesundheitskrisen auszubauen. Der Aufbau einer europäischen Version der US -amerikanischen BARDA ,7 also einer Agentur für biomedizinische Forschung und Entwicklung, bringt uns ebenfalls voran. So können wir in Zukunft grenzübergreifende Risiken minimieren und im Notfall schneller reagieren.8 Gerade jetzt kann die EU positive Impulse setzen und ein überzeugendes Zielbild dafür schaffen, wie wertebasierte internationale Zusammenarbeit gelingen kann. Das ist sicher kein einfacher Weg – und Unsicherheit und Populismus machen ihn nicht leichter. Doch in vielen Fällen sind die Grundlagen für mögliche Erfolgsgeschichten bereits gelegt. Das zeigt ein Blick auf die äußerst dynamische europäische Biotech-Szene. Ich bin überzeugt: Gerade was innovative Unternehmen im Gesundheitsbereich angeht, kann Europa seine führende Position mit den richtigen Maßnahmen weiter ausbauen. Eine wichtige Voraussetzung dafür sind gute Regelungen für den Umgang mit Daten. Mit der Datenschutzgrundverordnung hat die EU weltweit Standards gesetzt, an denen sich auch andere Länder orientieren – von Chile bis Südkorea.9 Und tatsächlich kann das hohe Niveau beim Datenschutz speziell für neue Geschäftsmodelle rund um die Gesundheit ein Standortvorteil für Europa sein. Schließlich gibt es kaum sensiblere Informationen als solche mit Gesundheitsbezug. Deshalb brauchen wir zusätzlich gerade im medizinischen Bereich klare ethische Richtlinien, wie wir mit 150

KOOPER ATION STÄRK T DAS IMMUNSYSTEM

Daten und Algorithmen umgehen – und zwar weltweit. Vor allem für Merck als forschendes Gesundheitsunternehmen ist das wichtig. Denn unser Erfolg hängt entscheidend davon ab, dass wir das Vertrauen verschiedenster Stakeholder genießen, von Patienten über Behörden bis hin zur Gesamtgesellschaft. Gleichzeitig erleben global tätige Unternehmen wie wir täglich, wie fatal ein internationaler Flickenteppich ethischer Standards sowohl für den medizinischen Fortschritt als auch für die Wettbewerbsfähigkeit sein kann. Europa kann hier mit zielführenden Vorschlägen vorangehen. Und wir haben weiteres Potenzial: Die zentralisierten Gesundheitssysteme in Europa stellen einen wertvollen Datenpool dar. Wenn wir Wege finden, diese Daten anonymisiert und sicher auszuwerten, kann das enorme Fortschritte für die Entwicklung neuer Therapien ermöglichen, beispielsweise für die Krebsbekämpfung. Dass die EU die Jahre bis 2030 zur »digitalen Dekade« machen möchte, mit massiven Investitionen in gemeinsame Datenräume, in künstliche Intelligenz und in die nötige Infrastruktur, ist ein wichtiger Schritt zur richtigen Zeit.10 Ein weiterer sinnvoller Ansatz wäre die gezielte Förderung eines europäischen Ökosystems für Innovationen. In Europa gibt es zahlreiche hervorragende Forschungseinrichtungen, hoch innovative Unternehmen und gut ausgebildete Nachwuchskräfte. Mit diesem Pfund sollten wir wuchern. Dazu gehört ein Wettbewerbsrecht, das über den europäischen Markt hinausblickt und der Entstehung von globalen Champions aus Europa nicht im Wege steht. Sinnvoll wäre es außerdem, Investitionen in Startups aus den Bereichen 151

STEFAN OSCHMANN

Technologie und Forschung zu erleichtern – gerade in Zeiten, in denen es für junge, hoch innovative Unternehmen zunehmend schwierig wird, sich zu finanzieren. 70 Prozent der deutschen Startups sehen einer Studie zufolge ihre Existenz durch die Corona-Pandemie bedroht.11 In Ländern wie den USA oder Israel erleben wir außerdem, dass für eine stabile Innovationskultur insbesondere der intensive Austausch zwischen Wissenschaft, Wirtschaft und Staat erfolgversprechend ist. Bei Deutschland und Europa habe ich immer wieder den Eindruck, dass wir in dieser Hinsicht noch Berührungsängste abbauen sollten. Das bringt mich zur zweiten Gruppe von Modellen, die wir für eine gute Zukunft brauchen: die Kooperation über verschiedene Sektoren hinweg.

Berührungsängste zwischen Sektoren abbauen Ein Paradebeispiel, wieviel sich auf diese Weise erreichen lässt, kommt tatsächlich aus Europa: die Innovative Medicines Initiative (IMI). Dabei handelt es sich um die weltgrößte öffentlich-private Partnerschaft im Bereich der Biowissenschaften. Die EU und die europäische Pharmaindustrie haben hier gemeinsam bereits mehr als fünf Milliarden Euro zur Verfügung gestellt, die vor allem in Projekte aus dem präkompetitiven Feld fließen, also in die Grundlagenforschung.12 Dieser Ansatz hat sich als äußerst erfolgreich herausgestellt. IMI geförderte Projekte haben zur Identifizierung von Biomarkern geführt und zur Entwicklung von Impfstoffen 152

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gegen das Ebola-Virus. Entsprechend fördert die IMI auch die Forschung zur Corona-Pandemie. Das hierfür gegründete Konsortium CARE , an dem Merck beteiligt ist, widmet sich der Suche nach Behandlungsmethoden für COVID -19 und hat das Ziel, langfristig das Wissen über die Krankheit zu erweitern. Tatsächlich zeigt der Umgang mit dem Corona-Virus auf vielfache Weise, wie wertvoll es ist, dass unterschiedliche Sektoren ihre Stärken verbinden. Das fängt bei der Pandemie-Prävention an. Dass die Wahrscheinlichkeit für Pandemien wächst, war vielen Experten seit langem bewusst. Das hängt mit Aspekten wie der zunehmenden Urbanisierung, dem Klimawandel und der globalen Vernetzung zusammen, aber auch mit den unterentwickelten Gesundheitssystemen in vielen Weltregionen. Dazu, wie wir uns am besten auf solche Ereignisse vorbereiten, gibt es nach wie vor Gesprächsbedarf. Ein erstes wegweisendes Ergebnis solcher Diskussionen war 2017 die Coalition for Epidemic Preparedness Innovations (CEPI). Dabei handelt es sich um eine öffentlich-private Partnerschaft von Staaten, Stiftungen, Forschungseinrichtungen und Pharmaunternehmen mit dem Ziel, die Entwicklung von Impfstoffen zu beschleunigen. Tatsächlich zeigt gerade die Impfstoffentwicklung gegen das SARS -CoV-2-Virus (der COVID -19-Erreger) in vielerlei Hinsicht, wie verschiedene Sektoren eng abgestimmt zusammenarbeiten – und damit in nie dagewesener Geschwindigkeit vorankommen.13 – Regierungen und Behörden übernehmen eine koordinierende Rolle. Sie stellen sicher, dass die Zulas153

https://doi.org/10.5771/9783835346598

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sung den üblichen hohen Anforderungen entspricht, und sie unterstützen die Impfstoffentwicklung mit öffentlichen Mitteln.14 Eine weitere wichtige Aufgabe ist die spätere Verteilung des Impfstoffs; das gilt sowohl für die Verteilung auf verschiedene Länder als auch für die Frage, welche Bevölkerungsgruppen zu welchem Zeitpunkt geimpft werden. Die internationale Abstimmung fällt dabei in die zentralen Kompetenzen der WHO, unterstützt von Organisationen wie der GAVI Impfallianz. Dabei gilt es insbesondere zu verhindern, dass einzelne Regierungen Impfstoffe ausschließlich für das eigene Land sichern. – Die Forschungseinrichtungen widmen sich der Aufgabe, den Wissensstand über das Virus und die Krankheit, die es auslöst, voranzutreiben. Dass die Lernkurve dabei enorm steil ist, liegt nicht zuletzt daran, wie bereitwillig und umfassend neue Erkenntnisse rund um den Globus geteilt werden. In dieser Hinsicht erreicht die Kooperation im Rahmen der Pandemie eine völlig neue Qualität. Auf der Basis der gewonnenen Erkenntnisse suchen Unternehmen und Forschungsinstitute Impfstoffkandidaten. – NGO s und Stiftungen wie die Bill & Melinda Gates Foundation können wichtige Impulsgeber sein, indem sie beispielsweise vernachlässigte Themen auf die Tagesordnung setzen, unterrepräsentierten Gruppen eine Stimme geben und neue Allianzen anstoßen. Außerdem können sie Staaten punktuell unterstützen, wenn bestimmte Strukturen fehlen. Insgesamt ermöglicht diese koordinierte Aufgabenteilung beeindruckende Ergebnisse. Normalerweise 154

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ert der Gesamtprozess zur Entwicklung neuer Impfstoffe etwa sieben Jahre. Beim COVID -19-Erreger erhielten Behörden weltweit schon nach wenigen Monaten erste Zulassungsanträge für Vakzine. Tatsächlich können viele Initiativen, die der Allgemeinheit dienen, von der engen Verzahnung verschiedener Sektoren profitieren. Zum unternehmerischen Denken gehört es beispielsweise, klare Ziele zu definieren und diese mit einem bestimmten Budget in einer festgelegten Zeit zu erreichen. Diese Praxisorientierung sowie die finanziellen Möglichkeiten von Unternehmen können Projekte entscheidend voranbringen.15 Was haben umgekehrt die Unternehmen davon, sich über ihr Kerngeschäft hinaus zu engagieren? Die Liste ist lang und geht weit über bloße Imagepflege hinaus. Der Erfolg eines führenden Wissenschafts- und Technologieunternehmens ist beispielsweise untrennbar mit der hohen Motivation seiner Mitarbeiter verbunden. Unternehmen erzielen nachweislich bessere Ergebnisse, wenn sie klar definiert haben, welchen gesellschaftlichen Beitrag sie leisten wollen. Bei Merck lautet dieser sogenannte Purpose: »Fortschritt lebt von neugierigen Köpfen«. Wir arbeiten an technologischem Fortschritt, von dem alle etwas haben. Darüber hinaus zeigen die erwähnten Untersuchungen zum großen Einfluss der Gesundheit auf die Wirtschaftsentwicklung, dass Unternehmen von verbesserten gesellschaftlichen Rahmenbedingungen profitieren. Und wenn wir beispielsweise im Rahmen von CEPI die Grundlagenforschung vorantreiben, kommt das letztlich unserer eigenen Innovationskraft zugute.

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Gemeinsam Zukunft sichern Entsprechend engagiert sich Merck in einer ganzen Reihe von öffentlich-privaten Projekten, auch im Rahmen der Corona-Pandemie. Der Unternehmensbereich Healthcare hat beispielsweise der WHO ein bewährtes Medikament gegen Multiple Sklerose für eine Studie gespendet, die einen möglichen Nutzen bei der Behandlung von COVID -19 untersucht. Im Rahmen des CARE -Konsortiums helfen wir mit, die Forschung und Entwicklung rund um das Corona-Virus zu beschleunigen. Auch mit der Bill & Melinda Gates Foundation haben wir uns zu diesem Zweck zusammengetan. Tatsächlich haben wir schon lange vor der Pandemie die Erfahrung gemacht, dass öffentlich-private Partnerschaften gerade im Gesundheitsbereich viele Vorteile bringen. Gemeinsam mit anderen Pharmaunternehmen haben wir in Zusammenarbeit mit der WHO und der Gates Foundation den Kampf gegen sogenannte vernachlässigte Tropenkrankheiten aufgenommen, die die Entwicklung in bestimmten Weltregionen stark hemmen. Merck verfolgt dabei das Ziel, die Wurmkrankheit Bilharziose auszurotten, die jedes Jahr etwa 200.000 Menschenleben fordert. Dafür spenden wir bis zu 250 Millionen Praziquantel-Tabletten jährlich. Aktuell forschen wir außerdem mit Partnern an einer neuen Formulierung des Wirkstoffs für Kinder unter sechs Jahren. Zusätzlich unterstützen wir den Ausbau und Erhalt von sanitärer Infrastruktur in den betroffenen Regionen und investieren dort in Bildungsprojekte zum Thema Gesundheit. Ein weiteres Beispiel ist der AMR Action Fund, für den mehr als 20 Pharmaunternehmen insgesamt eine 156

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Milliarde US -Dollar zur Verfügung gestellt haben. Dank dieser Summe sollen bis zum Jahr 2030 neue Antibiotika entstehen. Das Konzept wurde gemeinsam mit der WHO und der Europäischen Investitionsbank entwickelt – und es hat einen ernsten Hintergrund. Jedes Jahr sterben weltweit etwa 700.000 Menschen, weil immer mehr Keime gegen vorhandene Antibiotika resistent sind. Wenn wir nicht bald handeln, könnte diese Zahl rasch steigen, zumal wir für eine Vielzahl medizinischer Behandlungen auf eine Begleittherapie durch wirksame Antibiotika angewiesen sind. Für neue Präparate gibt es paradoxerweise keinen klassischen Markt, denn um ihre Wirksamkeit zu bewahren, werden sie so wenig wie möglich eingesetzt. Das hat bereits mehrere kleinere Firmen in den Konkurs getrieben, die an der Entwicklung neuer Antibiotika gearbeitet haben. Keine Nation und keine Organisation kann dieses komplexe Problem alleine lösen. Deshalb hilft der AMR Action Fund, die aktuelle Finanzierungslücke zu schließen und verschafft den Gesetzgebern damit Luft, geeignete Marktinstrumente zu entwickeln, um den Ursachen dauerhaft entgegenzuwirken. Unterm Strich zeigen alle diese Beispiele, dass wir die vielschichtigen Herausforderungen unserer Zeit nur gemeinsam anpacken können – denn sie betreffen uns alle auf vielfältigste Art und Weise. Egal, wo wir leben. Egal, in welchem Bereich wir tätig sind. Die CoronaPandemie hat diese gegenseitige Abhängigkeit besonders spürbar gemacht. Damit wirft sie auch die Frage auf, was wir für den Umgang mit anderen globalen Krisen lernen können – man denke nur an den Klimawandel. 157

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Für mich steht außer Frage: So wie wir alle ein Stück weit Verantwortung für die Gesundheit der anderen tragen, so sollte jede und jeder einen Beitrag leisten, um die Lebensgrundlage auf unserem Planeten zu bewahren. Das gilt auch für Unternehmen. Ich glaube, dass die Pandemie für die Bewältigung der Klimakrise und anderer Mammutaufgaben ein Stück weit Hoffnung geben kann. Denn wir sehen, dass das Vertrauen in Forschung und Wissenschaft in dieser Zeit gewachsen ist. Und ich bin davon überzeugt: Gerade beim Klimawandel kommen wir mit einer reinen Verzichtsstrategie nicht weiter. Wir brauchen »Technologies for Future« – innovative Technologien, die die Erderwärmung bremsen oder sogar umkehren können. Wenn es uns gelingt, die positive Kraft von Forschung und Entwicklung gemeinsam mit Partnern aus allen Sektoren und rund um den Globus zu bündeln, dann entsteht genau das komplexe, funktionelle Immunsystem, das die Weltgemeinschaft dringend braucht, um dauerhaft gesund zu bleiben.

Anmerkungen 1 Pschyrembel Online, Immunsystem, August 2020, https:// www.pschyrembel.de/immunsystem/K0AMH/doc/, abgerufen am 9.!11.!2020. 2 Interview mit Gita Gopinath, An economist explains the pros and cons of globalisation, World Economic Forum 11.!4.!2019, https://www.weforum.org/agenda/2019/04/an-economistexplains-the-pros-and-cons-of-globalization-b2f0f4ae76/, abgerufen am 9.!11.!2020. 3 McKinsey Global Institute, Prioritizing health: A prescription for prosperity, Juli 2020, https://www.mckinsey.com/indust ries/healthcare-systems-and-services/our-insights/prioriti

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zing-health-a-prescription-for-prosperity, abgerufen am 9.!11. 2020. Uta Steinwehr, Die Weltgesundheitsorganisation im Krisenmodus, Deutsche Welle 18.!5.!2020, https://www.dw.com/de/ die-weltgesundheitsorganisation-im-krisenmodus/a-53473614, abgerufen am 9.!11.!2020. Europäische Kommission, Coronakrise: Gelebte europäische Solidarität, https://ec.europa.eu/info/live-work-travel-eu/health/ coronavirus-response/coronavirus-european-solidarityaction_de, abgerufen am 9.!11.!2020. Europäische Kommission, Fragen und Antworten zum neuen Programm EU4Health, 28.!5.!2020, https://ec.europa.eu/com mission/presscorner/detail/de/QANDA_20_956,!!abgerufen am 9.!11.!2020. Biomedical Advanced Research and Development Authority (BARDA). Ursula von der Leyen, State of the Union Address, 16.!9.!2020, https://ec.europa.eu/commission/presscorner/detail/ov/ SPEECH_20_1655, abgerufen am 9.!11.!2020. Alexander Fanta, DSGVO: Starkes Gesetz, holprige Durchsetzung, Netzpolitik 24.!6.!2020, https://netzpolitik.org/2020/ starkes-gesetz-holprige-durchsetzung/, abgerufen am 9.!11. 2020; Europäische Kommission, Gemeinsame Erklärung zum 2.  Jahrestag der Datenschutzgrundverordnung, https:// ec.europa.eu/commission/presscorner/detail/de/statement_ 20_913, abgerufen am 9.!11.!2020. von der Leyen (Anm. 8). Bundesverband Deutsche Startups e.!V., Startup-Verband legt Corona-Studie vor – Sieben von zehn Startups fürchten um ihre Existenz; 31.!3.!2020, https://deutschestartups.org/ 2020/ 03/31/startup-verband-legt-corona-studie-vor-jedes-siebtestartup-fuerchtet-um-die-existenz, abgerufen am 9.!11. 2020. Innovative Medicines Initiative, https://www.imi.europa.eu, abgerufen am 9.!11.!2020. Die Bundesregierung, Das ist der Stand der Impfstoffforschung, 4.!11.!2020, https://www.bundesregierung.de/breg-de/ themen/coronavirus/coronavirus-impfung-1788988,!! abgerufen am 9.!11.!2020. Die Bundesregierung, Impfstoff-Förderung angelaufen, 15.!9. 2020, https://www.bundesregierung.de/breg-de/themen/the menseite-forschung/corona-impfstoff-1787044, abgerufen am 9.!11.!2020.

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15 Mark R. Kramer und Marc W. Pfitzer, The Ecosystem of Shared Value, Harvard Business Review Oktober 2016, https: //hbr.org/2016/10/the-ecosystem-of-shared-value, abgerufen am 9.!11.!2020.

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Gemeinwohl in Bewegung: Die Pandemie als Katalysator

»One thing the coronavirus crisis has already proved is that there really is such a thing as society.«1 Der britische Premier Boris Johnson spricht aus, was offensichtlich ist: Es geht nur gemeinsam, das kollektive Überleben erfordert Solidarität und die Mitwirkung aller. Mit diesem Satz zu Beginn der COVID -19-Pandemie im März 2020 bringt Johnson allerdings gleichzeitig etwas ins Rollen, was als intellektuelle Zäsur mit offenem Ausgang verstanden werden kann. Dazu ein Rückblick: Die damalige britische Premierministerin Margaret Thatcher hatte 1987 in einem Interview den berühmt-berüchtigt gewordenen Satz »There is no such thing as society« formuliert. Aus dem Kontext des deutlich nuancierteren Interviews gerissen, wurde dieser Satz zur Signatur ihrer Amtszeit und zur Kurzformel der Akzentverschiebung hin zu mehr Selbstverantwortung des Einzelnen und weg von staatlicher Unterstützung. Je nach ideologischer Ausrichtung wurde der Grundgedanke zum Baustein politischer Programme und wirkt bis heute nach. Ganz sicher würde sich Thatcher nicht mit jeder Auslegung ihrer Worte einverstanden erklären. Eines aber darf man ihr unterstellen: Sie war fest davon überzeugt, dass dem Gemeinwohl (sie nannte es »flourishing 161

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society«) am besten damit gedient sei, wenn jeder für sich selbst und sein unmittelbares Umfeld Verantwortung übernimmt. Die Pandemie macht nun deutlich, wie voraussetzungsreich eine solcherart liberale Perspektive ist. Schon jetzt ist absehbar, dass die Auswirkungen der Pandemie sich auf die ganze Gesellschaft erstrecken und nicht nur einzelne Bereiche erfassen. Es werden neue Gemeinwohlkonstellationen entstehen, die im besten Fall die Gesellschaft als Ganze resilienter, widerstandsfähiger und lebensfähiger machen. Im Folgenden möchte ich aufzeigen, welche Anstöße für das Gemeinwohldenken durch die Pandemie sich bereits abzeichnen und wie diese produktiv genutzt werden können.

Was die Pandemie zeigt Das erste Jahr der COVID -19-Krise führt uns (wieder einmal) vor Augen, wie abhängig wir alle von einem funktionierenden Gemeinwesen sind. Die Idee des autonomen Individuums, das seine Ziele verfolgt, für sich und andere Verantwortung übernimmt, erweist sich als wenig tragfähig, wenn die dafür notwendigen Voraussetzungen gegenseitiger Abhängigkeiten nicht beachtet werden. Genau dies ist der berechtigte Vorwurf an einen Individualismus, der in erster Linie auf Freiheitsrechten beharrt, ohne die dafür erforderliche soziale Verbundenheit (»Sozialität«) zu erkennen und zu würdigen. Die Qualität der Beziehungen (»Verbundenheiten«) in Familie, am Arbeitsplatz, im öffentlichen Leben, die 162

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als positive wie negative Abhängigkeiten erlebt werden, zeigt sich im Infektionsgeschehen so banal wie brutal allein schon an der Gefahr, die von gemeinsam genutzter Luft ausgeht. Wir sind existenziell auf saubere Atemluft und damit darauf angewiesen, die Wahrscheinlichkeit einer Virusübertragung über den Luftweg zu minimieren. Niemand besitzt »Lufthoheit« – über die Atemluft sind wir alle miteinander auf einer biologischen Ebene miteinander verbunden, noch bevor wir ein Wort miteinander gesprochen haben. Atemluft ist immer soziale Atemluft. Wir erleben es als einschneidende Veränderung in allen Lebensbereichen, wenn wir den gewohnten Anteil gemeinsamer Atemluft reduzieren müssen. Größere physische Abstände führen zu größeren sozialen Abständen, die teilweise enorme Anpassungsleistungen erfordern und unser gesellschaftliches Zusammenleben stark beeinflussen. Wie man die veränderten Distanzverhältnisse auch bewertet, keiner kann sich der durch die neuen Luftverhältnisse wieder in den Vordergrund gerückten Einsicht verwehren, wie voraussetzungsreich unsere moderne Lebensweise ist und wie stark wir auf andere angewiesen sind. Ohne verlässliche Rahmenbedingungen, zu denen wir durch unser eigenes Handeln selbst beitragen (und sei es »nur« das wohlverstandene Eigeninteresse der räumlichen Distanzierung), ist ein Ausüben individueller Freiheitsansprüche gar nicht denkbar. Das Bewusstwerden der eigenen Verletzbarkeit ist ein wesentliches Moment für die jeweils ganz subjektive Erfahrung, warum das eigene Wohl vom Wohl der anderen abhängt und dieses wiederum beeinflusst. Keiner von uns kann im wörtlichen wie übertragenen 163

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Sinne im luftleeren Raum überleben und jeder füllt das »Vakuum« durch seinen Beitrag mit. Dieses außerhalb unseres persönlichen Wollens liegende systemische Aufeinander-Angewiesensein übersteigt oft unser Wahrnehmungsvermögen. Deshalb tun sich Viele schwer, die funktionale Wichtigkeit sozialer Verbundenheiten (einschließlich ihrer biologischen Vorbedingungen) als Voraussetzung für individuelle Freiheiten zu erkennen. Für so manchen wird erst im Krisenfall offenbar, wie jede Form von Selbstverwirklichung durch erlebte Autonomie, Selbststeuerung und Selbstwirksamkeit sich als fragiles Ergebnis einer höchst kollektiven Leistung erweist: Ohne Gemeinwohl keine Freiheit, ohne Wir kein Ich – wir »sind« nur durch andere und mit anderen. Ich denke, diese augenöffnende Erfahrung eines Primats des Sozialen ist die Hauptaussage der Anmerkung von Boris Johnson und weniger die Frage nach der Rolle des Staates und der Verantwortung des Einzelnen.

Die Renaissance des Gemeinwohldenkens Das Gemeinwohldenken erfährt nicht erst seit der aktuellen Pandemie einen Aufschwung. Seit der Finanzkrise 2008/9 und mit den immer deutlicher heraufziehenden Klimaszenarien hat die individualistische Denkweise bereits einen Knacks bekommen. Die Corona-Krise gibt der Gemeinwohlorientierung eine noch stärkere, vielleicht sogar jähe Wendung. Sie könnte die aktuellen Antworten auf die Frage nach dem Gemeinwohl sogar in einem Ausmaß erschüttern, wie das Erdbeben von Lissabon im Jahre 164

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1755 die Philosophen aufgerüttelt hat, neu und anders über die Rolle des Menschen in seinen Verbundenheiten mit der Welt nachzudenken. Im 21.  Jahrhundert geht es nicht mehr in erster Linie darum, wie ein gütiger Gott ein Unheil zulassen konnte (Theodizee-Problem). Die heutige Frage ist, wie die moderne, offene Gesellschaft auf Krisen reagieren sollte, die nur durch massive Einschränkungen persönlicher Freiheiten überwunden werden können. Wie ist dann das Verhältnis von Gemeinwohl und Freiheit zu denken? Gemeinwohl ist kein Gegensatz zur Freiheit eines jeden und aller, sondern deren Voraussetzung – ganz im Sinne des Zweiten Vatikanischen Konzils. Dort wurde Gemeinwohl gefasst »als die Gesamtheit jener Bedingungen des gesellschaftlichen Lebens, die sowohl den Gruppen als auch deren einzelnen Gliedern ein volleres und leichteres Erreichen der eigenen Vollendung ermöglichen.«2 Zu dieser Systemperspektive kommt die lebensweltliche Sicht, nach der Gemeinwohlerfahrung zu verstehen ist als generalisierte Sozialerfahrung in Form von intuitivem Wissen über die Sozialverhältnisse […] Gemeinwohl ist für jeden von uns wichtig, weil wir uns nicht einfach eine Welt erfinden können, sondern vieles bereits vorfinden, was für uns alle bedeutsam ist. Gemeinwohl steckt sozusagen auch in den Rahmenbedingungen, die kollektiv gesetzt werden. Es sind Ermöglichungsbedingungen in einem Beziehungsfeld, die unserer Identität und Selbsterzählung Richtung und Struktur geben.3 165

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Diese im Grunde urliberale Denktradition hatte es allerdings nicht leicht in den letzten Dekaden und die Gemeinwohlskepsis hatte Konjunktur. Klug geworden aus der Erfahrung des Dritten Reiches, wurde oft das Kind mit dem Bade ausgeschüttet und die ursprünglich wohlbedachte Zurückhaltung ungeniert mit Autoritätsverweisen (vor allem mit Carl Schmitts Diktum: »Wer bonum commune sagt, will betrügen«)4 aufgeladen. Zusammen mit der fortschreitenden funktionalen Differenzierung wird der Kern des Gemeinwohldenkens immer weiter ausgehöhlt und verdampft scheinbar zu individuellen Lebensstilen (»Singularitäten«).5 Ob nun in der Privatisierungswelle von Einrichtungen der Daseinsvorsorge, in Verwaltungsreformansätzen oder in der Wirtschaftswelt, überall war man der Überzeugung, das Gemeinwohl stelle sich am ehesten ein, wenn ökonomische und insbesondere wettbewerbliche Maximen zum Tragen kommen. Wenn jeder an sich denkt, ist für alle gesorgt – dies war das Mantra in der Tradition von Adam Smith, dem schottischen Moralphilosophen, dessen Sicht ganz zu Unrecht auf die »unsichtbare Hand« der Marktkräfte verkürzt wurde. Gemeinwohlverweigerer sahen in der modernen Gesellschaft keine verbindenden systemrelevanten Qualitäten mehr und wollten gar der Wirtschaft eine Gemeinwohlverpflichtung wegphilosophieren. Dies dürfte sich als kurzsichtig erweisen. Welche Rolle Gemeinwohlfragen in der Bevölkerung spielen, verdeutlicht regelmäßig der GemeinwohlAtlas, eine repräsentative Befragung zu Themen des Gemeinwohls. So waren 2019 in Deutschland 81 Prozent der Befragten besorgt, dass dem Gemeinwohl im Land 166

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nicht genügend Aufmerksamkeit geschenkt werde.6 Der Bedarf, das Verbindende in der Gesellschaft wieder stärker in den Blick zu nehmen, ist keineswegs allein eine akademische Debatte.

Jenseits differenzierungstheoretischer Akzente: Umkehrung des Ausgangspunktes Kommt nun etwas ins Rutschen? Die Antwort muss in der Art und Weise unseres Zusammenlebens gesucht werden und führt dann schnurstracks zur Gemeinwohlfrage, die auf Erden und nicht im Himmel beantwortet werden will. Zur Disposition steht nicht weniger als die Umkehrung des Ausgangspunktes, wonach nicht die funktionale Differenzierung, sondern die sozialen Verbundenheiten die Basis für das moderne Gemeinwesen bilden. Es ist die Qualität der Verbundenheiten zwischen den Menschen, auf der jede Gesellschaftsordnung aufbaut und aus der sie ihre legitimierende Kraft bezieht. Von dort kommt auch der notwendige Rückhalt, der eine soziale Ordnung erst überlebensfähig macht. Wir sehen jetzt, wie stark zum Beispiel unser Wirtschaftssystem von diesen Verbundenheiten abhängt und ohne diese nicht funktionieren kann. Die gegenseitige soziale Bejahung, das Primat des Sozialen, baut selbst auf psychologischen und, wie wir nun sehen, auch biologischen Verbundenheiten auf, die uns in einem viel stärkeren Ausmaß voneinander abhängig machen, als uns lieb sein kann. Das Soziale bildet den Rahmen, in dem sich Individualitätsformen erst entwickeln können. 167

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Man darf daher vermuten, dass durch COVID -19 beschleunigt die hohe Zeit der Differenzierungstheorien zu einem Ende kommt und Integrationstheorien wieder Konjunktur haben. Gesellschaften sind demnach weniger anhand der Differenzierungen, Singularitäten oder Eigenlogiken zu beschreiben, sondern vielmehr und stärker anhand der sie prägenden Verbundenheiten. Was lange nicht ins Bewusstsein gehoben werden musste, wird nun deutlich: Differenzierungen muss man sich leisten können. Wo diese zu groß werden und das Verbindende unterminieren, nimmt das Gemeinwohl Schaden. Mit der Umkehrung des Ausgangspunktes kommt ein weiterer Gedanke ins Spiel: Entdifferenzierung bedeutet Rückführung auf allgemeinere Fragen der Verbundenheit und damit Komplexitätsreduktion. Dieses Wechselspiel von Differenzierung und Entdifferenzierung benötigt gemäß der Entwicklungspsychologie nach Jean Piaget ein dynamisches Gleichgewicht der Einordnung von neuen Erfahrungen in bestehende Weltbilder (Assimilation) und Veränderung dieses Weltbildes selbst durch neue Erfahrungen (Akkommodation).7 Die »Zumutungen« der Perspektivenvielfalt in der Moderne8 erzwingen geradezu neue Formen der akkommodierenden Komplexitätsverarbeitung und Vereinfachung. In der entstehenden neuen Qualität werden bisherige Differenzierungen auf einem neuen Niveau integriert. Was vorher schwierig und kompliziert aussah, wird plötzlich in einem neuen Licht verständlich und offenbart eine innere Ordnung, zum Beispiel ein Muster, eine Regel oder ein System. Dieser durch Jean Piaget entwicklungspsychologisch beschriebene 168

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nismus ist notwendig, um die Fülle unterschiedlicher Perspektiven in einen kohärenten Zusammenhang zu bringen, ohne den absichtsvolles Handeln nicht möglich ist. Entdifferenzierungen bieten die Chance, neue Wege einzuschlagen, wo sich vor lauter Paradoxien und Dilemmata kein Ausweg mehr aufzutun scheint. Die zumutungsreichen Differenzierungstendenzen überfordern ansonsten schnell den menschlichen Verstand, mit der Perspektivenvielfalt umzugehen, und erweisen sich als verwirrend. Für das Gemeinwohldenken noch bedeutsamer ist aber das mit dem Differenzierungsdiskurs verknüpfte Verschleiern von fundamentalen gegenseitigen Abhängigkeiten, wie sie uns durch die Pandemie wieder bewusst werden. Damit ist nicht ein Plädoyer für einen Abbruch der Differenzierungsdebatte aufgrund einer existenziellen Gefahr gemeint, die uns eine Besinnung auf »das Wesentliche« lehrt. Vielmehr geht es darum, eine Akkommodation voranzutreiben, sodass alle Akteure gleichberechtigt am Gemeinwohl partizipieren (können). Man könnte auch sagen: Es geht um einen neuen Blick auf das, was Friedrich Hölderlin den einzigen »Streit in der Welt« nannte, »was nämlich mehr sei, das Ganze oder das Einzelne«. Wie sich Gemeinwohldenken tatsächlich umorientieren wird, bleibt abzuwarten. Die Krise für die Durchsetzung eigener Überzeugungen (z.!B. zum Klimawandel oder zur Globalisierung) nutzen zu wollen, ist sicher legitim. Dies geht im individuellen Lebensraum leichter als in einer komplexen Gesellschaft. Ein Beispiel: Auf eine Kreuzfahrt zu verzichten ist einfacher, als neue Schiffsantriebe für die gesamte Branche zu erwirken. 169

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Eine Lehre lässt sich aber schon jetzt ableiten: Eine Antwort, warum das Gemeinwohldenken wieder an Bedeutung gewonnen hat, liegt in der neuen Sensibilität für Verletzbarkeit im Allgemeinen. Gemeint ist nicht Hypersensibilität für Identitätsangriffe aufgrund von Anderssein oder Fremdheitserfahrungen, sondern eine neue Aufmerksamkeit für die prinzipielle Gefährdetheit des Lebens.9 Indem der Einzelne sich seiner eigenen Verletzbarkeit bewusst wird, besteht die Chance, die fundamentale Abhängigkeit von anderen zu erkennen. Diese Ethik der Verletzbarkeit ist zugleich eine Ethik des Gemeinwohls, wie sie sich widerspiegelt in der Debatte um »vulnerable Gruppen« in der Gesellschaft, die es besonders vor dem Virus zu schützen gilt. In der Ausrichtung auf die universelle Lebensbedingung der Verletzbarkeit und damit ein Gemeinwohlprinzip liegt eine große Chance jenseits von Identitätspolitik – für eine neue Solidarität, für eine moderne Form der Barmherzigkeit und damit für eine neue Liberalität, bei der zuerst der Mensch unabhängig von Herkunft und ethnischer Zuschreibung in seinen Entfaltungsmöglichkeiten gesehen wird. Diese Rückführung auf das Menschsein an sich wäre dann ein unvermuteter Gemeinwohlfortschritt, der seinerseits wieder neue Differenzierungen und Perspektiven erlaubt. Die moderne Gesellschaft mit ihrer hochgradigen funktionalen Differenzierung wird sich so wieder ihrer Gemeinwohlbasis bewusst, die sie aus den Augen zu verlieren schien.

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Aggregatzustände des Gemeinwohls Während in der Corona-Pandemie die Luftqualität auf neue Weise und buchstäblich existenziell bedeutsam wurde, erweist sich die Redeweise vom Gemeinwohl als geteilter Luft, die niemandem allein gehört, zu der jeder beiträgt, die jeder verschmutzen oder sauber halten kann usw., auch in allgemeiner Weise als nützlich, den sozialen und dynamischen Charakter des Gemeinwohls zu beschreiben. Nicht umsonst halten sich in der Alltagssprache metaphorische Formulierungen, wie etwa »sich Luft machen«, »dicke Luft« oder »dünne Luft«. Zur Unterscheidung, was in den kommenden Debatten nur »heiße Luft« ist und wo wirklich etwas in Bewegung kommt, lohnt es sich, auf die Idee der Aggregatzustände der öffentlichen Meinung von Ferdinand Tönnies, einem der Gründerväter der Soziologie, zurückzublicken.10 Damit ist der griffige Gedanke verbunden, das Aufkommen und Vergehen von Gemeinwohlüberzeugungen prozesshaft zu fassen. Auf das Gemeinwohl angewendet, lassen sich drei in ihrer Verbindlichkeit andersartige Formen unterscheiden: Festes, solides Gemeinwohl (z.!B. Demokratieprinzip), flüssiges Gemeinwohl (z.!B. Diskussion um neue Formen der Bürgerbeteiligung) und gasförmiges Gemeinwohl (z.!B. Einfluss sozialer Medien auf die kollektive Willensbildung). Je nach Zustandsform geht es um mehr oder weniger verbindliche Werte, Regeln und Normen. In einer liberalen, offenen Gesellschaft muss das Gemeinwohl in Bewegung bleiben und Phasenübergänge in alle Richtungen zulassen, solange diese innerhalb der verfassungsmäßigen Ordnung begründet 171

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werden können oder zu einer Anpassung derselben führen. Während wir in normalen Zeiten uns eher mit luftartigen und flüssigen Formen des Gemeinwohls beschäftigen und (feine) Unterschiede kultivieren können, kommen in Krisensituationen dessen festere Bestandteile umso deutlicher zum Vorschein. Tragen diese nachhaltig oder sind sie auf Sand gebaut? Zerstört das auch nur temporäre Außerkraftsetzen von verrechtlichten Gemeinwohlüberzeugungen deren innere Bejahung? Was passiert, wenn sich bisherige Selbstverständlichkeiten individueller Freiheit als kontraproduktiv für das kollektive Überleben erweisen? Es sind die breit akzeptierten und stabilen Gemeinwohlgrundlagen, ohne die wir uns die Oberflächendifferenzierungen (Singularitäten, Filterblasen, Echokammern) gar nicht leisten können, wenn das Überleben auf dem Spiel steht. Umgekehrt birgt die Überhöhung einzelner scheinbar in Stein gemeißelter Werte genau die Gefahr ihrer Zerstörung. Der Zweck hat noch nie die Mittel geheiligt. Jetzt wird sichtbar, wie es um das Gemeinwohl wirklich steht, ob aufgebrochene Routinen des Alltagslebens in Partnerschaften, in Familien, in den Unternehmen und Behörden, im Grunde in allen Bereichen des Zusammenlebens wieder greifen oder irreversible Veränderungen eintreten und völlig andere Verbundenheiten und damit Gemeinwohlkonstellationen entstehen. So ist offen, ob die aus der Not vorangetriebenen technologieunterstützten Interaktionsformen sich verfestigen oder lediglich eine temporäre Verflüssigung von vorher lockeren Verbindlichkeiten sind. Der 172

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aus größte Härtetest für das Gemeinwohl dürfte aber die Frage sein, ob die durch die Krise sich möglicherweise verschärfenden Diskrepanzen zwischen sozial, kulturell und ökonomisch Privilegierten und allen anderen zu Unzufriedenheit, sozialen Konflikten und Entfremdung führt, die dann auch Steine ins Rollen und die Verhältnisse zum Tanzen bringen kann. Das genannte Beispiel der Frage nach Veränderungen in der kollektiven Willensbildung (Demokratieprinzip, neue Formen der Bürgerbeteiligung, Einfluss sozialer Medien auf die kollektive Willensbildung) ist eine nach veränderten Gemeinwohlkonstellationen, d.!h. dem Potenzial zur Vermittlung individueller Bedürfnisbefriedigung und funktionierendem Gemeinwesen im Bereich von Teilhabe und Teilnahme an gesellschaftlichen Prozessen. Gemeinwohlkonstellationen auf ihren Aggregatzustand zu befragen, hat einen ganz praktischen Wert: Der Leser dieses Beitrages nehme in einer Tageszeitung einen Kommentar zu politischen, wirtschaftlichen, kulturellen oder sozialen Fragen zur Hand und suche nach festen, flüssigen und gasförmigen Bestandteilen des Gemeinwohls. In vielen Fällen wird sich dies als erhellend erweisen, um mögliche Gemeinwohlentwicklungen zu erkennen. Die Herausforderung besteht darin, die Veränderungen der Aggregatzustände des Gemeinwohls auf ihren Beitrag zum funktionierenden, lebendigen Gemeinwesen zu überprüfen. Entscheidungsträger stehen in Verantwortung, bei der Gemeinwohlfrage gut abzuwägen, wo sie gerade den Meißel anlegen bzw. etwas verfestigen möchten. Die große Deutungs- und in der 173

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Konsequenz Führungsleistung besteht in der Fähigkeit, das Gemeinwohl im Konkreten zu suchen, aber nicht damit zu verwechseln. Als »notwendige Fiktion« weist die Gemeinwohlerfahrung zwangsläufig über die unmittelbaren Tatsachen hinaus bzw. kann aus ihnen nicht direkt abgeleitet werden.11 Die »Fakten« müssen erst in der gedanklichen Vorstellung auf ihre mögliche Gemeinwohlerfahrung hinterfragt werden. Diese besteht in einer inneren Bejahung oder Ablehnung von sozialen Tatsachen. Die Zuschreibung eines Gemeinwohlwertes ist keineswegs beliebig oder gar willkürlich, wenn man den Gedanken vom Primat des Sozialen ernst nimmt und subjektive Bewertungen selbst als Ausdruck von sozialen Prozessen sieht, durch die der Einzelne gesellschaftliche Werte und Normen verinnerlicht hat. Diese Paradoxie der sogenannten immanenten Transzendenz des Gemeinwohls lässt sich auf den Punkt bringen: »Gemeinwohl als Erfahrungskategorie des Sozialen zu erfassen bedeutet zwangsläufig, auf die Wahrnehmungsfähigkeiten beim Individuum zu setzen, ja letztlich darauf setzen zu müssen. Damit sind nicht einfach sinnliche Eindrücke gemeint, sondern die Fähigkeit, eigene Erfahrungen mit der Sozialwelt in einen subjektiven Bedürfnishintergrund zu übersetzen und emotional einzuordnen.«12 In der akuten Corona-Krise ist – wie bereits erwähnt – die eigene Verletzbarkeit und der Zusammenhang zwischen individuellem und kollektivem Überleben der Schlüssel für die Gemeinwohlrelevanz. Nach der Krise werden wieder andere Relevanzgesichtspunkte nach vorn rücken, wie die historische Analyse vergangener Pandemien nahelegt.13 174

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Postpandemisches Gemeinwohl Im Sommer 2020 – im ersten Jahr der Pandemie – erhobene Daten zeigen, dass sich mit der Corona-Krise das Gemeinwohlbewusstsein in der Bevölkerung verändert. So geben 60  Prozent der Befragten an, dass ihnen das Gemeinwohl wichtiger geworden sei.14 Ob dieser Effekt von Dauer ist, bleibt abzuwarten. An vielen Stellen sehen Kommentatoren bereits jetzt katalytische Wirkungen der Pandemie am Werk, die neue Entwicklungen ermöglichen oder sich bereits abzeichnende beschleunigen bzw. in eine bestimmte Richtung lenken. Steht sogar wieder einmal ein grundlegender Wandel, eine Metanoia, der Menschen zum guten Leben in Gemeinschaft und Gesellschaft an? Für Entscheidungsträger in Wirtschaft, Politik und Gesellschaft ist die Dynamisierung des Gemeinwohls Chance und Risiko zugleich. Argumente zur Gemeinverträglichkeit, Gemeinförderlichkeit oder Gemeinwohlinnovation, aber auch Gemeinwohlverletzung und Gemeinwohlschädigung sind gut geeignet, komplexe Entscheidungen zu legitimieren oder zu delegitimieren. Ohne Zweifel wird diese Art der Begründungserleichterung oder auch Begründungsbeschwerung in den nächsten Jahren zentrale Diskurse in der Öffentlichkeit bestimmen. Der tiefere Grund dafür liegt in der Integrationskraft des Gemeinwohldenkens, um entstehende Widersprüche und Paradoxien durch Verlagerung auf eine andere Bezugsebene zu überwinden. Nicht ein Noch-Mehr an Reflexion, sondern eine attraktive Kombination von gedanklicher Reflexion und emotionaler Ansprache ist dann das Erfolgsrezept. Gemeinwohl 175

TIMO MEYNHARDT

kann nie wahr oder falsch sein – es geht immer um die Durchsetzung bestimmter Werthaltungen, die sich subjektiv bewähren und kollektive Bejahung erfahren. In Krisensituationen entstehen immer wieder Scheidewege, an denen es im aufgeklärten Europa bei aller Bewegungsfreiheit des Gemeinwohls nur einen Kompass geben kann: die Unantastbarkeit der Würde des Einzelnen. Insofern sollte jetzt die Zeit der liberalen Gemeinwohldenker anbrechen, die sich die Voraussetzungen für die freie Entfaltung eines jeden und damit aller zur Denkmaxime machen. Die Gemeinwohlfrage wird zur liberalen Frage schlechthin.

Anmerkungen 1 Boris!!!Johnson,!!!Videobotschaft,!!!https://t.co/kxdqItMYSE, Twitter, 29. März 2020, abgerufen am 30.!1.!2021. 2 Zweites Vatikanisches Konzil, Pastorale Konstitution, Gaudium et spes. Über die Kirche in der Welt von heute, Rom: Acta Apostolicae Sedis 58, 1966. 3 Timo Meynhardt, Ohne Gemeinwohl keine Freiheit: Zur Psychologie des Gemeinwohls, in: Freiheit und Gemeinwohl: Ewige Gegensätze oder zwei Seiten einer Medaille?, hg. von Hans-Jürgen Papier und Timo Meynhardt, Hamburg 2016, S. 188. 4 Zitiert nach: Josef Isensee, Gemeinwohl und öffentliches Amt. Vordemokratische Fundamente des Verfassungsstaates, Wiesbaden 2013, S. 39. 5 Andreas Reckwitz, Die Gesellschaft der Singularitäten: Zum Strukturwandel der Moderne, Berlin 2018. 6 www.gemeinwohlatlas.de, abgerufen am 30.!1.!2021. 7 Jean Piaget, Das Erwachen der Intelligenz beim Kinde. Stuttgart 2003. 8 Peter Strohschneider, Zumutungen: Wissenschaft in Zeiten von Populismus, Moralisierung und Szientokratie, Hamburg 2020.

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GEMEINWOHL IN BEWEGUNG

  9 Judith Butler, Gefährdetes Leben. Politische Essays, Frankfurt a.!M. 2005. 10 Ferdinand Tönnies, Kritik der öffentlichen Meinung, Berlin!/ Heidelberg 1922/2013. 11 Timo Meynhardt, Public value inside: What is public value creation?, in: International Journal of Public Administration, 32. Jg., Heft 3-4, 2009, S. 192-219. 12 Timo Meynhardt (Anm. 3), S. 180. 13 Laura Spinney, 1918 – Die Welt im Fieber: Wie die Spanische Grippe die Gesellschaft veränderte, München 2018. 14 www.gemeinwohlatlas.de, abgerufen am 30.!1.!2021.

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Christoph G. Paulus

Wieder-Annäherungen in Europa

1. Der Ausgangspunkt Die nachfolgenden Ausführungen thematisieren keine neue Konstellation der Gegenwart, sondern plädieren für die – in den Augen des Verfassers dieser Zeilen dringend benötigte – Erneuerung einer bestehenden Allianz; sie knüpfen dabei an Beobachtungen an, die er im Vorjahresband der vorliegenden Convoco-Edition vorgetragen hat. Dort ging es um den Nachweis des Wertes der Vielgestaltigkeit Europas.1 Nunmehr geht es dagegen um die Suche danach, wie man das Erreichte wahren oder gar intensivieren kann, nachdem es zu zerbrechen droht. Um des besseren Verständnisses willen sei noch einmal kurz rekapituliert: Bekanntlich ist die europäische Geschichte blutgetränkt. Als gälte es, Heraklits Diktum, dass der Krieg der Vater aller Dinge sei, zu beweisen, nutzte man über nahezu zwei Jahrtausende jede sich bietende – reale oder einfach nur zu einer solchen hochstilisierte – Gelegenheit, aufeinander einzuschlagen. Wie unter einem Mikroskop offenbart sich diese Haltung in den 30 Jahren des eben nur mit dieser Zeitspanne gekennzeichneten Krieges. Noch bis heute darf in Frage gestellt werden, ob sich von 1618 bis 1648 nur ein einziger 179

CHRISTOPH G. PAULUS

Krieg abgespielt hat oder aber ein Bündel von Kriegen, weil viele Herrscher wieder einmal die Zeit gekommen sahen, sich wechselseitig zu bekämpfen und es, weil dort ohnedies bereits ein Schlachtfeld war, auf dem Areal der deutschen Staaten zu tun. Selbst Feinde von außen – die Mongolen etwa oder die Osmanen – vermochten die wechselseitig feindselige Haltung der Europäer nicht zu ändern und zwischen den Staaten einen Schulterschluss – und sei er auch nur temporär – herbeizuführen. Dieser traurige, in der erlebten Wirklichkeit aber natürlich je entsetzliche Befund ging einher mit all den kulturellen Errungenschaften, die das europäische Erbe ausmachen und deren Aufzählung sich bekanntlich weit über die Renaissance und die Kuckucksuhr2 hinaus erstreckt. Doch sollte man sich in einer immer dichter bevölkerten Welt auf keinen Fall mit diesem Antagonismus von Kultur und Krieg abfinden wollen; das wäre ein Spiel mit dem Feuer in einer Zeit, in der immer häufiger auch die kleinsten Konflikte irgendwo auf dem Erdball das Potenzial in sich tragen, einen Weltkrieg auszulösen. So war es denn auch der Zweite Weltkrieg, der erstmalig in der Geschichte europäische Staatsoberhäupter dazu veranlasste, ernsthaft ein unkriegerisches Nebeneinander auf diesem Kontinent zu erwägen und ein solches in die Wege zu leiten. Das war der Auftakt zu den Europäischen Verträgen, deren Verfasser dabei vernünftig genug vorgingen, gerade nicht ein uniformes Gebilde, sondern ein, wie es damals de Gaulle formulierte, »Europa der Vaterländer« anzustreben. Aus Vielen sollte nicht Eines gemacht werden (so das Motto der Vereinigten Staaten von Amerika), sondern man wollte in Vielfalt vereint sein. 180

WIEDER-ANNÄHERUNGEN IN EUROPA

2. Die erste Lösung und ihre schwindende Attraktivität Aus juristischer Perspektive ist hervorzuheben, dass dieser epochale Schritt nicht nur die Entschlossenheit großer und groß denkender Politiker vorausgesetzt hat, sondern dass diese ein juristisches Instrumentarium zur Erreichung ihrer Absichten eingesetzt haben – nämlich Verträge. Diese wurden also in ihrem Wortsinn instrumentalisiert; teilt doch der »Vertrag« mit seinem korrespondierenden Verb »sich vertragen« das Bedeutungselement des Frieden-Stiftens, wie das noch deutlicher bei seinem lateinischen Pendant »pactum« und dem dazugehörenden Verb »pacisci« (»befrieden, Frieden herstellen«) zutage tritt. Diese Etymologie ist mehr als nur intellektuelle Spielerei, sie ist vielmehr Programm. Denn es sollte nie mehr Krieg zwischen den europäischen Nachbarn geben. Die (erneute) Zeitspanne von etwa 30 Jahren zuvor hatte nicht nur den Kontinent, sondern praktisch die gesamte Welt an den Abgrund geführt. Der Horror war von allen unmittelbar erlebt worden, war allen Zeitgenossen tief in Leib und Seele eingeprägt. Deswegen heißt es in der Präambel des Vertrages zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft: ENTSCHLOSSEN , durch diesen Zusammenschluß ihrer Wirtschaftskräfte Frieden und Freiheit zu wahren und zu festigen, und mit der Aufforderung an die anderen Völker Europas, die sich zu dem gleichen hohen Ziel bekennen, sich diesen Bestrebungen anzuschließen …

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CHRISTOPH G. PAULUS

Dies ist eine an Bedeutsamkeit kaum zu überbietende Aussage: das hohe Ziel von Friede und Freiheit – also genau der antipodische Kontrast zu dem zuvor erlebten Krieg und seiner Knechtschaft – sollte mittels der Verträge erzielt werden, wobei als Motor der Zusammenschluss der Wirtschaftskräfte dienen sollte. Statt Konkurrenz also Bündelung, statt einem Neben- oder Gegeneinander ein Miteinander. Noch deutlicher als in dem 1957 in Kraft getretenen EWG -Vertrag wird der Versuch, die kriegerische Vergangenheit in eine friedfertige Zukunft mittels einer Zusammenführung von Wirtschaftskräften umzuwandeln, in der Präambel zur Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl zum Ausdruck gebracht; in dem schon 1952 in Kraft getretenen Vertrag dazu heißt es: – in der Erwägung, daß der Weltfriede nur durch schöpferische, den drohenden Gefahren angemessene Anstrengungen gesichert werden kann, – in der Überzeugung, daß der Beitrag, den ein organisiertes und lebendiges Europa für die Zivilisation leisten kann, zur Aufrechterhaltung friedlicher Beziehungen unerläßlich ist, – in dem Bewußtsein, daß Europa nur durch konkrete Leistungen, die zunächst eine tatsächliche Verbundenheit schaffen, und durch die Errichtung gemeinsamer Grundlagen für die wirtschaftliche Entwicklung aufgebaut werden kann, – in dem Bemühen, durch die Ausweitung ihrer Grundproduktionen zur Hebung des Lebensstandards und zum Fortschritt der Werke des Friedens beizutragen, 182

WIEDER-ANNÄHERUNGEN IN EUROPA

– entschlossen, an die Stelle der jahrhundertealten Rivalitäten einen Zusammenschluß ihrer wesentlichen Interessen zu setzen, durch die Einrichtung einer wirtschaftlichen Gemeinschaft den ersten Grundstein für eine weitere und vertiefte Gemeinschaft unter Völkern zu legen, die lange Zeit durch blutige Auseinandersetzungen entzweit waren, und die institutionellen Grundlagen zu schaffen, die einem nunmehr allen gemeinsamen Schicksal die Richtung weisen können … Hier wird also noch unmittelbarer als dort die Geschichte in Bezug genommen – und zwar in ihrer blutig-zerstörerischen wie auch in ihrer zivilisationsfördernden Erscheinung –, um die Abkehr einzuleiten, zu rechtfertigen und deren Notwendigkeit zu begründen. Die Verträge (bekanntlich kommt als Dritter im Bunde noch der Euratom-Vertrag hinzu) verstanden sich mithin tatsächlich im Wortsinne als Friedensbringer, und das haftet ihnen als Narrativ auch weiterhin an. Nun weist ein Narrativ nahezu immer zwei Seiten auf; die eine positiv, die andere nicht zwingend negativ, aber doch weniger positiv. Die positive Seite eines Narrativs – oder auch Gründungsmythos’ – ist die Kondensierung einer Startbedingung, die das der Unternehmung des Narrativs (vorliegend also der Gründung einer Europäischen Gemeinschaft) zugrundeliegende Geschehen in leicht fassbarer, eingängiger und vermittelbarer Weise festhält. Was konnte für die Überlebenden des jüngsten Schreckens überzeugender und eindringlicher sein als endlich erlangter Friede nach buchstäblich tausenden von Jahren Krieg? 183

CHRISTOPH G. PAULUS

Die weniger positive Seite dieses Narrativs ergibt sich zum einen aus ihrer allzu süffigen Eindringlichkeit, zum anderen aus ihrer Abhängigkeit von Anschauung und Erfahrung. Was zunächst Ersteres anbelangt, so übertüncht das große, bedeutungsgeladene Wort »Frieden« allzu leicht die Einsicht, dass mit dem Niederlegen der Waffen nicht gleichzeitig – und schon gar nicht zwingend – Harmonie einhergeht. Natürlich verfolgen alle beteiligten Mitgliedstaaten nach wie vor ihre je nationalen Interessen – insbesondere, weil nur dort die Wähler für ihre Wiederwahl sitzen. Aber auch über dieses kurzatmige Kalkül hinaus ist unmittelbar einleuchtend, dass mit einem Vertragsschluss nicht etwa der Erfahrungsballast der vorausgegangenen Jahrhunderte über Bord geworfen wäre. In dem Kampf um die Durchsetzung der eigenen Interessen verzichtet man auf den Gebrauch von Waffen, nicht aber auf die Erreichung dieses Ziels mit anderen Mitteln. Deswegen gibt es ja die mühseligen und schier endlosen Debatten um jeweils aufs Neue wieder ex ante nicht wirklich prognostizierbaren Ergebnisse. Sie sind Ausdruck der europäischen Vielfalt und, zumindest in der Rückschau, Beleg für die Einzigartigkeit des europäischen Projekts. Was zum anderen die Abhängigkeit von Anschauung und Erfahrung anbelangt, so hat das Narrativ paradoxerweise unter dem mit ihm verbundenen, durchschlagenden Erfolg zu leiden: Der Segen der in der europäischen Geschichte erstmaligen 70-jährigen Friedensphase hat ganze Generationen groß werden lassen, für die kriegerische Auseinandersetzung allenfalls eine Sache von Auslandsnachrichten oder von Computerspielen, nicht aber von eigener Anschauung ist. Man 184

WIEDER-ANNÄHERUNGEN IN EUROPA

braucht gar nicht einmal den von den Behavioural Economists herausgearbeiteten Rezenzeffekt zu bemühen, wonach das zeitnächste Ereignis das Bewusstsein viel stärker prägt als frühere (vielleicht mit Ausnahme des ersten, sog. Primäreffekt); bereits der gesunde Menschenverstand lässt unmittelbar einleuchten, dass für diese Generationen die Wahrung (nicht: Schaffung!) von Frieden keine zu andauernder Anstrengung verpflichtende Aufgabe ist, sondern der selbstverständliche Ist-Zustand. Für diese Generationen ist das Friedensnarrativ der Europäischen Verträge möglicherweise nicht viel mehr als eine nostalgische Verklärung von längst überwundenen Gefahren. Nimmt man zu diesem Befund noch hinzu, dass sich seit de Gaulles Anrufung der Vaterländer (s.!o.) nicht nur die wirtschaftlichen, sondern auch die politischen Ambitionen der Europäischen Union drastisch gesteigert haben, dass der Mitgliederbestand enorm gewachsen ist – und zwar auch um Staaten, die einen ganz anderen historischen Hintergrund und Erfahrungsschatz bzw. -ballast vorzuweisen haben –, und dass der Einflussbereich »Europas« und seine für jeden Einzelnen unmittelbar fühlbare Wirkkraft gegenüber dem historischen Ausgangszustand überproportional gewachsen ist, zeigt sich, dass auch in dieser Hinsicht das Friedensnarrativ fast schon wie ein zu eng gewordenes Kleidungsstück wirkt. Seine Botschaft wird dem Anspruch und dem Bestreben des Gebildes nicht mehr gerecht. Nichts bringt diesen Befund so deutlich zum Ausdruck wie der Brexit: die kriegerische europäische Geschichte ist verdrängt durch die erfolgsgekrönte Geschichte des Commonwealth. Die Gefahr ist noch 185

CHRISTOPH G. PAULUS

keineswegs gebannt, dass weitere Mitgliedstaaten die endlich Frieden schaffende Kraft der Verträge glauben vernachlässigen zu dürfen und meinen, ihre Wohlfahrt auf rein nationalen Bahnen erlangen zu können.

3. Corona als Wegweiser für eine neue Lösung Aus den vorstehend aufgezeigten Zusammenhängen wird erkennbar, dass ein neues Narrativ das Mindeste ist, was die europäische Idee zu ihrem weiteren Fortbestand benötigt. Dass sich dieses nicht auf eine rein wirtschaftliche Zielrichtung beschränken darf, sollte in einer zunehmend die Sinnsuche wieder aktivierenden Zeit klar sein. Es muss vielmehr einen über das Materielle hinausreichenden Sinn anbieten, der darüber hinaus einen zukunftsweisenden Aspekt enthält, um ihn vor allzu schneller Überalterung zu bewahren. Der Hinweis zu einem derartigen Narrativ lässt sich der gegenwärtigen Pandemie des COVID -19-Erregers entnehmen – er besteht in einer Gemeinsamkeit von Rechten und Verantwortlichkeiten. Um die Eignung dessen als neues Narrativ erkennen zu können, bedarf es zunächst einmal einer Rückschau. Gemeinsamkeit von Rechten und Verantwortlichkeiten impliziert: einander helfen und unterstützen, füreinander einstehen. Das hat es in der europäische Geschichte der letzten eineinhalb Jahrtausende allenfalls im Hinblick auf eigene Staatsinteressen (der Feind meines Feindes ist mein Freund) gegeben, nicht aber um einer angestrebten Gemeinsamkeit willen. So banal es auch klingen mag: Die Folge dieses über Jahrhunderte 186

WIEDER-ANNÄHERUNGEN IN EUROPA

praktizierten Defizits ist: Ein solches Gemeinsamkeitsempfinden muss gelernt werden, um in das kollektive Bewusstsein eindringen zu können. Für den Verfasser dieser Zeilen ist diese Notwendigkeit besonders gut erkennbar in einem Vergleich mit der Geschichte des Insolvenzrechts. Auch wenn das dem ersten Anschein nach weit hergeholt sein mag, zeigt doch ein zweiter, etwas konzentrierterer Blick, dass die europäische Idee immer dann erheblichen Belastungen ausgesetzt ist und mithin Stützung benötigt, wenn es um Verteilungskämpfe geht, wenn also – wie auch im Falle eines jeden Konkurses bzw. jeder Insolvenz – ein sog. common pool-Problem besteht, d.!h. wenn ein Topf vorhanden ist, der nicht genügend Mittel enthält, um allen Ansprüchen genügen zu können. Das eindringlichste, aber auch dramatischste Beispiel ist die Griechenlandkrise und der dabei tobende Kampf um Verteilung und Ausgleich. Diese Krise und der Umgang mit ihr hat bekanntlich viel Vertrauen in Europa zerstört, und zwar weit über das unmittelbar betroffene Griechenland hinaus. Wie auch (zumindest unterschwellig) bei der Griechenlandkrise ging es bei Konkursen nach dem durch das Abendland geprägten Verständnis immer um Schuld. Weil das so war, durfte der nicht leistende Schuldner im früh-republikanischen Rom von seinen Gläubigern in Stücke geschnitten werden (XII -Tafelgesetz, 450 v.  Chr. – mitsamt der Reminiszenz in Shakespeares Kaufmann von Venedig), und auch im Mittelalter bis weit in die Neuzeit hinein drohte dem Bankrotteur immer mal wieder die Todesstrafe, der er sich entweder durch Flucht oder durch Selbsttötung 187

CHRISTOPH G. PAULUS

(vgl. nur den Hamburger Kaufmann Bendix Grünlich in Thomas Manns Buddenbrooks) zu entziehen versuchte. Aber selbst wenn er am Leben bleiben durfte, war der Bankrotteur regelmäßig zu einem elenden Leben verdammt, etwa im Schuldturm. Dass diese schuldkulturelle Zuweisung3 keineswegs naturgegeben ist, zeigt sich im antiken östlichen Mittelmeerraum, wo etwa im Alten Testament oder auch im Codex Hamurapi eine Schuldknechtschaft nach einigen wenigen Jahren automatisch endete; eine Tötung stand da gar nicht erst zur Debatte. Dieser östlichen Einstellung nähern wir Heutigen uns allmählich an. Statt den Schuldner töten zu dürfen oder ihn wenigstens mit Schmach und Schande zu belegen, sieht das Gesetz nunmehr vor, dass die Gläubiger ihm wieder auf die wirtschaftlichen Beine verhelfen können, indem sie sein Geschäft retten. Entscheidend ist dabei, dass aufgrund der veränderten Lebens- und Wirtschaftsumstände diese 180-Grad-Umkehr des Verhaltens der Gläubiger nicht etwa Ausdruck einer ihnen aufoktroyierten Humanität ist, sondern geradezu zwingende Folge ihrer ureigenen Interessen.4 Und doch: Das überkommene Verständnis des Insolvenzrechts als eines zumindest auch strafenden Rechts ist stark genug, um auch Jahrzehnte nach der Einführung der Rettungsoption vehementen Widerständen ausgesetzt zu sein. Auch hier muss also erst mühsam und zeitaufwändig gelernt werden, was für einen selbst gut ist. Das ist im Insolvenzrecht deswegen erstaunlich, als es Anklänge an eine Abkehr von allzu rigiden Schuldzuweisungen und Bestrafungen gelegentlich auch im abendländischen Bereich gegeben hatte. Wenn der 188

WIEDER-ANNÄHERUNGEN IN EUROPA

Schuldner etwa deswegen pleite gegangen war, weil ihn ein Schicksalsschlag getroffen hatte, gegen den er sich beim besten Willen nicht hat wappnen können – eine Flut etwa, ein Blitzschlag oder eine Feuersbrunst –, wurden zumindest mildere Regeln angewendet. Dasselbe Muster wurde auch in den beiden letzten Jahrzehnten hierzulande wiederholt angewendet: Wenn ein Unwetter zur Überflutung ganzer Regionen (etwa in Sachsen oder in Bayern) geführt hat, wurde schleunigst das Gesetz geändert, um dessen Striktheit abzumildern. Das ist Ausdruck von Gemeinsamkeit von Rechten und Verantwortlichkeit; denn hier sind die alten Verhaltensmuster fehl am Platz und laufen den eigenen Interessen zuwider. Damit sind wir wieder bei der gegenwärtigen Corona-Pandemie angelangt. Es tritt ein Schadensereignis ein, das keinem schuldhaften Verursacher zugewiesen werden kann. Wie ein Tsunami hat es flächendeckend Schaden angerichtet, und es war mehr oder minder Zufall, ob dieser Tsunami jemanden als Gläubiger oder als Schuldner getroffen hat. Dadurch ist es auch hier wieder zu einem common  pool-Problem gekommen. Die nationalen Gesetzgeber haben (praktisch weltweit) umgehend eingegriffen, um die schlimmsten Verwerfungen abzumildern.5 Jetzt aber kommt das entscheidend Neue: Auf europäischer Ebene hat sich angesichts der Ungeheuerlichkeit, der Größe und der Dramatik der Krisensituation gleichfalls die Erkenntnis durchgesetzt, dass geholfen werden müsse. Das geschah denn auch – und zwar in durchaus gewaltigem Ausmaß! Als einzelne Maßnahmen sind hier zu erwähnen: 189

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1. Die Kommission verfolgt einen zweistufigen Plan: auf der ersten Stufe geht es um die Stärkung der Resilienz und um Schadensbeseitigung; dafür sind 750 Mrd. € bereitgestellt. Auf der zweiten Stufe geht es um ein langfristiges Budget in Höhe von 1.1 Billionen €. 2. Die Europäische Zentralbank hat gleichfalls ein 750-Mrd.-€-Hilfspaket zur Verfügung gestellt, das u.!a. auf einen erleichterten Zugang zu Krediten zielt. 3. Der Europäische Stabilitätsmechanismus bietet für zweieinhalb Jahre ein 240-Mrd.-€-Programm für besonders günstige Kredite und ohne weitere volkswirtschaftliche Konditionalität. 4. Der deutsch-französische Vorschlag vom 18.  Mai 2020, in dem ein 500-Mrd.-€-Rettungspaket anstelle der zuvor noch hitzig debattierten Euro-Bonds angeboten wird. Ein eindrucksvolleres Gemeinsamkeitsbekenntnis lässt sich kaum vorstellen. Es beruht nicht nur auf Altruismus, sondern auch und besonders auf den wohlverstandenen eigenen Interessen eines jeden Mitgliedstaates – geht es doch um die Behauptung der kollektiven Stärke. Würde es gelingen, dieses Maßnahmenpaket als den Auftakt für ein neues Verständnis des Miteinander darzustellen und zu verstehen, und würde sich das dazugehörende Narrativ um diesen Gedanken gemeinsamer Rechte und Verantwortlichkeiten ranken, wäre ein Fundament geschaffen, auf dem die jetzigen wie auch die kommenden Generationen ein Bild von Europa vermittelt bekommen, das zukunftsträchtig und attraktiv ist. Es ist die Schaffung eines Europas, das in seiner ganzen Vielgestaltigkeit zwar immer schwierig, aber auch immer gemeinbezogen und damit lebenswert ist. 190

WIEDER-ANNÄHERUNGEN IN EUROPA

Anmerkungen 1 Siehe Christoph G. Paulus, Über den Wert der Vielgestaltigkeit Europas, in: Der Wert Europas in einer bedeutsameren Weltgeschichte, hg. von Corinne M. Flick, Göttingen 2020, S. 291–303. 2 Dies ist eine Anspielung auf das berühmte Bonmot in dem Film »Der dritte Mann« von Carol Reed. Es ist der von Orson Welles bei den Dreharbeiten improvisierte und in die Filmgeschichte als »Kuckucksuhr-Rede« eingegangene Monolog, den Harry Lime am Riesenrad des Wiener Praters hält. Er sagt dort: »In Italy for thirty years under the Borgias they had warfare, terror, murder, bloodshed – they produced Michelangelo, Leonardo da Vinci and the Renaissance. In Switzerland they had brotherly love, five hundred years of democracy and peace and what did that produce? The cuckoo clock.« – Die Bedeutung ist: Krieg und Terror bringen Großes hervor, Frieden und Demokratie nur so banale Dinge wie die Kuckucksuhr. In einem Gespräch erklärte Welles später: »Als der Film herauskam, wiesen mich die Schweizer sehr freundlich darauf hin, dass sie niemals irgendwelche Kuckucksuhren hergestellt haben – sie kamen alle aus dem Schwarzwald …« 3 Dazu Ruth Benedict, The Chrysanthemum and the Sword – Patterns of Japanese Culture, Boston 1946. 4 Vgl. Christoph G. Paulus, Ausdifferenzierungen im Restrukturierungs- und Insolvenzrecht zum Schutz der Gläubiger, Juristenzeitung, 2019, S. 11!ff. 5 Nach Schätzungen des IWF (Sept. 2020) sind mehr als 11.7 Billionen Dollar zur Rettung der Volkswirtschaften aufgewendet worden. International Monetary Fund, Fiscal Monitor: Policies for Recovery, October 2020, S. xi.

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Sven Simon

Ein neues Bündnis der Demokratien

Im Frühjahr 2019 veröffentlichte die Europäische Kommission ein Strategiepapier zur Zukunft der europäischchinesischen Beziehungen. Darin heißt es: »China ist in verschiedenen Politikbereichen ein Kooperationspartner, mit dem die EU eng abgestimmte Ziele verfolgt, ein Verhandlungspartner, mit dem die EU einen Interessenausgleich finden muss, sowie zugleich ein wirtschaftlicher Konkurrent in Bezug auf technologische Führung und ein Systemrivale, der alternative Governance-Modelle propagiert.« Die Kommission charakterisierte die Volksrepublik China somit als einen »wirtschaftlichen Wettbewerber« und als einen »Systemrivalen (systemic rival")«.1 Insbesondere diese zweite Charakterisierung stellt eine maßgebende Zäsur in der europäischen Außenpolitik dar. Als eines der letzten von der scheidenden Juncker-Kommission veröffentlichten Grundsatzdokumente repräsentiert die Kommission mit ihren strategischen Perspektiven einen Paradigmenwechsel in der Rhetorik der Europäer, das Ende einer Periode, die der französische Historiker François Godement als »Flitterwochen« der chinesisch-europäischen Beziehungen bezeichnete. 2 Diese begann Godement zufolge in den späten 1990er Jahren, als die Empörung des Westens über die Niederschlagung der 193

SVEN SIMON

gung auf dem Platz des Himmlischen Friedens allmählich nachließ und China vor dem Hintergrund seines Beitritts zur Welthandelsorganisation im Jahr 2001 eine neue Phase der Reform- und Öffnungspolitik einzuleiten schien. Hoffnungen auf eine Liberalisierung Chinas erfüllten sich aber in der Folgezeit nicht, insbesondere unter der Ägide von Xi Jinping als paramount leader. Empirisch wie anekdotisch lässt sich zeigen, dass westliche Öffentlichkeiten in den vergangenen Jahren spürbar skeptischer gegenüber China und seinem Staatssystem geworden sind. Das Bewusstsein, dass sich das Gleichgewicht der durch China geschaffenen Herausforderungen und Chancen verschoben hat, ist in Europa gewachsen. Der Umgang mit dem Wiederaufstieg Chinas stellt nicht nur einzelne Staaten vor eine Herausforderung, sondern entfacht einen neuen Systemwettbewerb zwischen liberalen Demokratien und autoritären Einparteienstaaten. Wortschöpfungen wie Systemrivalen wecken Assoziationen mit dem Kalten Krieg und den Erfahrungen in der Auseinandersetzung mit der Sowjetunion. Doch anders als zu jener Zeit findet heute kein Export des chinesischen Staatsmodells mit dem etwas sperrigen Titel »Sozialismus für das 21. Jahrhundert mit chinesischen Charakteristiken« in andere Länder statt. Peking hat – anders als Moskau seinerzeit – keine eigene Internationale gegründet, der Parteien in anderen Staaten angehören und die seinen außenpolitischen Interessen folgen. Sowohl das Angebot als auch die Nachfrage nach Xi-ismus als einer kohärenten, staatstragenden Ideologie analog zu marxistisch-leninistischen Revolutionsexporten des 20.  Jahrhunderts sind außerhalb 194

EIN NEUES BÜNDNIS DER DEMOKR ATIEN

Chinas überschaubar. Was bedeutet es also vor diesem Hintergrund, die Volksrepublik als einen Systemrivalen zu betrachten? China nutzt eigene Werkzeuge des Multilateralismus, um seine Normen zu internationalisieren. Unter Normen kann man Ian Manners (2002) folgend nicht bloß Rechtsnormen verstehen, die dazu führen, Praktiken als »normal« zu begreifen, sondern die Gesamtheit allen staatlichen Handelns.3 Transmissionsriemen für diese Konstruktion von Normalität ist einerseits der Aufbau eigener internationaler Organisationen und andererseits bilaterale Vereinbarungen. Dazu gehören der Aufbau eigener multilateraler Institutionen wie der Asia Infrastructure Investment Bank (AIIB), der Schanghaier Organisation für Zusammenarbeit oder auch bilaterale Initiativen unter dem Dach der Belt and Road Initiative. Die Wirkmechanismen eines solchen Normenexports sind diffuser als in vorherigen Systemwettbewerben und dennoch gleichsam existent. Die Europäische Kommission beschreibt diese in dem eingangs erwähnten Strategiepapier wie folgt: Chinas Geschäfts- und Investitionstätigkeit in Drittländern, einschließlich auf dem westlichen Balkan, in der Nachbarschaft der EU und in Afrika, ist weit verbreitet. Chinesische Investitionen haben zum Wachstum vieler empfangender Volkswirtschaften beigetragen. Gleichzeitig vernachlässigen diese Investitionen häufig die sozioökonomische und finanzielle Nachhaltigkeit und können zu einer hohen Verschuldung und einer Übertragung der Kontrolle über strategische Vermögenswerte und Ressourcen 195

SVEN SIMON

führen. Dies beeinträchtigt die Bemühungen um eine gute soziale und wirtschaftliche Regierungsführung und vor allem um Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte.4 Zusammengefasst befürchtet die Kommission also, dass chinesischer Einfluss in den genannten Regionen zu einer Unterminierung westlicher Normen führen könnte.

Pekings Investitionen in normativen Einfluss Das Engagement Chinas in den Staaten Mittel- und Osteuropas, insbesondere auch auf dem Westbalkan, bietet hierfür eine interessante Fallstudie. Nach der Finanzkrise 2009 suchten chinesische Staatsunternehmen vermehrt den Marktzugang im östlichen Europa.5 2012 richtete die Regierung der Volksrepublik eine Kreditlinie in Höhe von 10 Mrd. US -Dollar ein, um die Entwicklung bilateraler Projekte mit mittel- und osteuropäischen Ländern zu fördern. Zur selben Zeit wurde ein multilaterales Forum institutionalisiert, welches in der europäischen Öffentlichkeit unter dem Titel 16!+!1-Initiative bekannt geworden ist. Die Initiative umfasst elf ostund mitteleuropäische Mitgliedstaaten der EU (Bulgarien, Kroatien, Tschechische Republik, Estland, Ungarn, Lettland, Litauen, Polen, Rumänien, die Slowakei und Slowenien) sowie die fünf Westbalkanstaaten, welche von der Volksrepublik China anerkannt werden (Albanien, Bosnien-Herzegowina, Nordmazedonien, Montenegro, Serbien). Anfang 2019 trat Griechenland bei, sodass die Initiative nun unter dem Namen 17!+!1 firmiert. 196

EIN NEUES BÜNDNIS DER DEMOKR ATIEN

Auf den jährlichen Treffen der 17!+!1 werden Verträge zwischen chinesischen Unternehmen, die sich größtenteils in Staatsbesitz befinden, und europäischen Regierungen unterzeichnet. Daraus folgen Investitionen in Infrastruktur- und Energieprojekte und Unternehmensakquisitionen. Zu den Vorzeigeprojekten gehört der Bau einer Autobahn von Belgrad nach Bar in Montenegro an der Adriaküste, die Hochgeschwindigkeitseisenbahnstrecke Budapest - Belgrad und Investitionen in serbische Stahlwerke und Eisenerzminen. Solche Investitionen werden meist von den Empfängerländern durch Kredite chinesischer Staatsbanken und verbunden mit bestimmten vertraglichen Garantien finanziert.6 Dabei korreliert die Beteiligung Chinas an Infrastrukturprojekten mit direkten oder indirekten Verstößen gegen europäisches Recht. Nach europäischem Recht müssen alle staatlichen Infrastrukturaufträge über einer de minimis-Schwelle von 5,3 Mio. Euro im Rahmen einer EU -weiten Ausschreibung vergeben werden. Es ist Mitgliedstaaten ausdrücklich untersagt, Auftragsvergaben durch Einzelfallgesetze zu erlassen. Darüber hinaus stellen staatliche Subventionen von mehr als 200.000 Euro über einen Zeitraum von drei Jahren staatliche Beihilfen dar und müssen von der Europäischen Kommission genehmigt werden.7 Dies soll verhindern, dass der Staat durch Eingriffe in den marktwirtschaftlichen Wettbewerb Champions auswählt und diesen unfaire Wettbewerbsvorteile verschafft. Der Modus Operandi chinesischen Vorgehens unterscheidet sich davon grundlegend. Projekte im Rahmen der 17!+!1-Initiative werden unter Umgehung öffentlicher Ausschreibungen oftmals direkt an chinesische Staats197

https://doi.org/10.5771/9783835346598

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unternehmen vergeben. In vielen Fällen ist für solche Ausschreibungen eine Ad-hoc-Gesetzgebung erforderlich. Dabei nehmen die nationalen Regierungen der Beitrittskandidaten auf dem Westbalkan offenbar in Kauf, dass dies faktische Hindernisse in den Beitrittsverhandlungen schafft – zu denen Kapitel zum Beschaffungswesen und Investitionsrecht gehören. Während europäische Direktinvestitionen auf dem Westbalkan ihrer Natur nach weitgehend marktorientiert sind, werden diese auf chinesischer Seite staatlich getrieben. Verbunden mit mangelnder Transparenz sind solche Projekte daher besonders anfällig für Korruption. Dazu kommen fehlende finanzielle Nachhaltigkeitsprüfungen, die Überschuldung begünstigen. Im Jahr 2018 wurden bereits 40  Prozent der Staatsverschuldung Montenegros, 20 Prozent Nordmazedoniens, 14 Prozent von Bosnien und Herzegowina und 12  Prozent von Serbien von chinesischen Gläubigern gehalten. Diese Entwicklung begünstigt neue finanzielle Abhängigkeiten und schafft damit politische Einflussmöglichkeiten für China. Ein mittlerweile recht bekanntes Beispiel dafür ist das Veto Griechenlands im Rat gegen eine Resolution zur Menschenrechtslage in China 2017 – in enger zeitlicher Abfolge zu einer Investitionsentscheidung der staatlichen chinesischen Reederei COSCO zugunsten des Hafens von Piräus. Anders als die EU setzt China keine innenpolitischen Reformen in den Empfängerländern für seine Investitionen voraus. Diese ostentative Nichteinmischung in innere Angelegenheiten, wie es staatliche Stellen in Peking gerne verlauten lassen, bei gleichzeitiger Einforderung außenpolitischer Loyalität bedroht das 198

EIN NEUES BÜNDNIS DER DEMOKR ATIEN

sche Integrationsmodell in unserer Nachbarschaft. Es schafft Fehlanreize für lokale Akteure, eigene Reformen aufzuschieben und gleichzeitig China als alternative und vermeintlich bedingungslose Finanzierungsquelle zur EU zu nutzen. Damit schwächt China die Kapazität der EU, ihre Nachbarschaft politisch in die europäischen Integrationsprozesse einzubinden und ihre Normen zu exportieren. Die Europäische Kommission erkennt an, dass solche normativen Konflikte nicht unbedingt von der chinesischen Regierung beabsichtigt sind. »Sehr oft wird diese Praxis nicht aktiv vor Ort betrieben, sondern durch bloße Trägheit gefördert, da sie Chinas eigenes Unternehmensverhalten und politische Governance-Standards widerspiegelt.«8 Der normative Einfluss Chinas wurzelt also in dem, was der österreichische Jurist Georg Jellinek zu Beginn des 20.  Jahrhunderts einst als »normative Macht des Faktischen« bezeichnete. Die bloße handelspolitische Präsenz Chinas reicht aus, um europäische Bemühungen um den Export des eigenen Normsystems, selbst in der eigenen unmittelbaren Nachbarschaft, in Frage zu stellen. Unter dieser Prämisse ist der gegenwärtige Systemwettbewerb zu verstehen.

Multilateralismus als Fundament einer neuen China-Politik In der Praxis ist dabei Mittel- und Osteuropa nur ein Randgebiet von Chinas geoökonomischem und geopolitischem Vorgehen. Normative Konflikte treten verstärkt bezüglich der Seegrenze und der Navigationsfreiheit im 199

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Südchinesischen Meer, in Bezug auf den Status Hongkongs unter der chinesisch-britischen Erklärung von 1984 und in einer Vielzahl handelspolitischer Themen zutage. Aus europäischer Perspektive stehen hierbei unfaire Handelspraktiken im Vordergrund. Der Schutz des geistigen Eigentums europäischer Unternehmen ist nach wie vor mangelhaft, so kommen 80 Prozent aller gefälschten Produkte auf dem europäischen Markt nach Schätzungen der Europäischen Kommission aus China. Noch immer schützt die chinesische Judikative oftmals lokalpolitische Interessen statt der Rechtsansprüche ausländischer Investoren. Der in weiten Teilen bestehende Joint-Venture-Zwang verschärft das Problem des Technologietransfers ebenso wie strategische Investitionen in europäische Spitzentechnologien – als Beispiel sei hier der Aufkauf des deutschen Roboterbauers Kuka genannt. Dazu kommen teils grobe Verzerrungen des marktwirtschaftlichen Wettbewerbs durch Staatsinterventionen. Ein Beispiel hierfür ist der Ausschluss westlicher Technologieunternehmen aus nahezu allen digitalen Märkten. Aber auch die weitverbreitete Praxis, sogenannte Champions staatlicherseits auszuwählen und durch Subventionen internationale Konkurrenz zu unterbieten. Kurzum: es besteht in Teilen kein regulatorisches level playing field, also kein faires Spielfeld im Wettbewerb zwischen der EU und China. Angesichts der weiter zunehmenden politischen und wirtschaftlichen Bedeutung Chinas können einzelne liberale Demokratien nur durch koordiniertes gemeinschaftliches Handeln auf Dauer bestehen. Die bestehenden westlichen Institutionen sind dafür zu klein bzw. in ihrem Auftrag nicht präzise genug gefasst. Die 200

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britische Regierung hat hierzu nach dem Brexit die Institutionalisierung einer Allianz der G7-Staaten plus Südkorea, Australien und Indien vorgeschlagen. Unter dem Schlagwort D-10 (zehn Demokratien) besteht bereits seit 2014 ein Strategieforum der transatlantischen Denkfabrik Atlantic Council. Eine solche strategische Allianz könnte der erste Schritt zu einer effektiveren multilateralen Antwort auf den Wiederaufstieg Chinas zur Großmacht bilden. Dabei gilt es für einzelne westliche Akteure, den Versuchungen unilateralen Agierens zu widerstehen. Etwaige Hoffnungen auf situative wirtschaftliche Vorteile durch ad hoc-Absprachen mit Peking sind kurzsichtig. Als warnendes Beispiel hierfür dienen die mit den Europäern, Japan und Australien nicht-koordinierten Verhandlungen der amerikanischen Trump-Regierung. In der Konsequenz verstärkte dieses Vorgehen der USA die Bereitschaft der Europäer zügig ein eigenes Investitionsschutzabkommen mit China abzuschließen, um gegenüber dem Phase-One-Deal nachzuziehen. Verhandlungstaktisch vielversprechender dürfte langfristig eine disziplinierte transatlantische und indo-pazifische Partnerschaft im Umgang mit China sein. Die Erfahrungen der COVID -19-Pandemie zeigen die akute Notwendigkeit einer Diversifizierung von Lieferketten und einer Unabhängigkeit Europas von chinesischen Produzenten, nicht nur in medizinischen Gütern. Hier könnten die D-10 ebenso wie bei dem Ausbau kritischer Infrastrukturen, beispielsweise von 5G-Netzen, koordinierend tätig werden. Eine Beteiligung von Huawei und ZTE an kritischen Infrastrukturen in der EU mutet angesichts des staatlichen Einflus201

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ses auf die chinesische Privatwirtschaft fahrlässig an. Stattdessen könnten gemeinsame handels- und technologiepolitische Kooperationen zu einer Unabhängigkeit demokratischer Staaten von chinesischen Lieferketten in kritischen Wirtschaftsbereichen führen. Der neu gewählte amerikanische Präsident Joe Biden hat eine entsprechende Bereitschaft bereits signalisiert. Mit einer solchen engen Koordination in strategischen Versorgungsketten könnten unsere Gesellschaften resilienter und innovativer werden. Ein derartiges politisches Entkoppeln von bestehenden Abhängigkeiten sollte jedoch maßvoll und unter dem Grundsatz des Vorrangs marktwirtschaftlicher Prinzipien durchgeführt werden. Außer in klar definierten kritischen Bereichen müssen Lieferketten durch den Markt und nicht durch staatliche Interventionen etabliert werden. In der Handelspolitik könnten die D-10 – möglicherweise mit der Ausnahme Indiens, welches sich traditionell gegenüber handelspolitischen Liberalisierungen eher reserviert verhält – neue Impulse für die Reform der Welthandelsorganisation geben. Mittel- bis langfristig wäre sogar eine Aufwertung bestehender bilateraler Handelsabkommen zwischen den D-10 zu einer Freihandelszone anzudenken. Diese würde auf absehbare Zeit einen substanziellen Anteil der globalen Jahreswirtschaftsleistung vereinen und damit die geoökonomische Stellung liberaler Demokratien im Systemwettbewerb mit China absichern. Nur durch solche Kooperationen kann die Europäische Union angesichts ihres sinkenden Bevölkerungs- und Wirtschaftsanteils ihre Vorreiterrolle in Regulierungsfragen langfristig erhalten. Auch geopolitisch könnten die D-10 ein 202

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Gegenwicht zu dem zunehmend aggressiven Expansionismus der Xi-Administration bilden, bspw. durch konzertiertes Handeln gegenüber völkerrechtswidrigen Annexionen im Südchinesischen Meer oder Verletzungen der Autonomierechte Hongkongs. Dabei sollte die gemeinsame Haltung gegenüber China selbstbewusst und prinzipientreu sein, nicht jedoch feindlich oder auf regime change in Peking abzielend. Letzteres würde die liberalen Demokratien in eine politische Sackgasse manövrieren und gleichzeitig eine Eskalationsspirale in Ostasien heraufbeschwören. Stattdessen sollte der Staatsführung in Peking kontinuierlich die Möglichkeit zur gesichtswahrenden Verständigung geboten werden, dies gilt gleichermaßen für geopolitische wie wirtschaftliche Fragen. Die Europäische Union mit ihrer Expertise im Zusammenführen verschiedener Rechtskulturen in einem gemeinsamen Binnenmarkt könnte der Schrittmacher einer D-10-Allianz sein. Dies gilt zuletzt auch deshalb, da die EU mit den meisten Staaten der D-10 entweder bereits über ein Handelsabkommen verfügt oder sich in entsprechenden Verhandlungsprozessen befindet. Zusammenfassend muss die Europäische Union im Verbund mit anderen liberalen Demokratien also einen neuen multilateralen Ansatz verfolgen, um in dem Systemwettbewerb mit China dauerhaft bestehen zu können.

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Anmerkungen 1 Europäische Kommission, EU -China – A Strategic Outlook, 2019, S.  1, https://ec.europa.eu/commission/sites/beta-politi cal/files/communication-eu-china-a-strategic-outlook.pdf, abgerufen am 18.!1.!2021. 2 François Godement, China’s Relations with Europe, in: China and the World, hg. von David Shambaugh, Oxford 2020, S. 251-269, hier S. 251. 3 Ian Manners, Normative Power Europe: A Contradiction in Terms?, in: Journal of Common Market Studies 2, 2002, S. 235-258. 4 Europäische Kommission (Anm. 1), S. 4. 5 Ardian Hackaj, The Pragmatic Engagement of China in the Western Balkans. Südosteuropa Mitteilungen 1, 2019, S. 66-77, hier S. 67, https://cdinstitute.eu/wp-content/uploads/2019/05/ Pragmatic-Engagement-of-China-in-the-Western-Balkans. pdf, abgerufen am 18.!1.!2021. 6 Jacob Mardell, China’s Economic Footprint in the Western Balkans, Bertelsmann Stiftung 2019, https://www.bertelsmann-stiftung.de/en/our-projects/germany-and-asia/news/ asia-policy-brief-chinas-economic-footprint-in-the-westernbalkans, abgerufen am 18.!1.!2021. 7 Verordnung (EU ) Nr. 1407/2013. 8 Michal Makocki und Zoran Nechev, Balkan corruption: The China connection. European Union Institute for Security Studies, Juli 2017. S. 4, https://doi.org/10.2815/53274, abgerufen am 18.!1.!2021.

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Europa sollte in der Digitalisierung verstärkt zusammenarbeiten

Die Corona-Pandemie hat in Europa tiefe Spuren hinterlassen. Noch sehr lange werden wir uns an geschlossene Schulen, das eingefrorene Kulturangebot, eine stillstehende Wirtschaft und unzählige Videokonferenzen erinnern. Die Pandemie hat viel verändert, aber auch viel in Bewegung gebracht – mit am deutlichsten wurde das im Bereich der Digitalisierung. Während vor der Pandemie zahlreiche Unternehmen beim Thema »Mobiles Arbeiten« lediglich an Schlagworte aus dem Silicon Valley dachten und auch technisch noch im Vorgestern gearbeitet haben, mussten sie die digitale Aufrüstung nach dem Ausbruch von Corona teilweise binnen weniger Tage und Wochen nachholen. Ein Kraftakt, wie es sicherlich viele rückblickend beschreiben würden. Das belegen auch die Zahlen: Satya Nadella, CEO von Microsoft, erklärte im Handelsblatt, dass Microsoft im dritten Quartal 2020 fünf Milliarden Meeting-Minuten an nur einem einzigen Tag gesehen habe.1 Das ist beachtlich – und ist für mich einmal mehr Beleg dafür, wie wichtig die Digitalisierung der Wirtschaft ist. Unternehmen, die frühzeitig die digitale Transformation vorangetrieben haben, konnten die negativen Effekte der Pandemie erheblich abmildern. Die tägliche Arbeit läuft weitestgehend reibungslos weiter, nur eben am Schreibtisch zu Hause. 205

GISBERT RÜHL

Bei Klöckner & Co, weltweit einem der größten produzentenunabhängigen Stahl- und Metalldistributoren und einem der führenden Stahl-Service-Unternehmen, hat sich die frühzeitige Investition in die Digitalisierung ausgezahlt. Die Umstellung auf Homeoffice haben wir wie andere digitalaffine Unternehmen problemlos gemeistert und gleichzeitig sichergestellt, dass alle Mitarbeiter weiterhin effizient und produktiv arbeiten können. Gleichzeitig haben wir den Umsatzanteil über digitale Kanäle mit stark erhöhter Geschwindigkeit auf über 40 Prozent gesteigert – hier zahlt sich aus, dass wir der Digitalisierung schon seit Jahren höchste Priorität einräumen. Dabei werden die von unserer Digitaleinheit, kloeckner.i, entwickelten digitalen Tools intensiv genutzt. Letztendlich geht es aber nicht nur darum, mit digitalen Tools Teilprozesse zu automatisieren. Wir wollen neue, plattformbasierte Geschäftsmodelle schaffen, mit denen die Kernprozesse von Klöckner & Co nahezu vollständig automatisiert werden können. Die Digitalisierung verändert Struktur und Organisation eines Unternehmens kaum – vielmehr unterstützt sie die Mitarbeiter mit verschiedenen Werkzeugen bei ihrer täglichen Arbeit und bindet zudem die Kunden online ein. Bei plattformbasierten Geschäftsmodellen greifen die Mitarbeiter nicht mehr in die Kernprozesse ein, sondern gestalten die KI -gesteuerte Organisation, in der alle Kernprozesse automatisiert ablaufen. Das ist der Unterschied zwischen Digitalisierung und digitaler Transformation.

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Die Digitalisierung verändert die Arbeitswelt massiv – von flexiblen Arbeitszeitmodellen bis hin zum Wegfall vieler Tätigkeiten und einer gesellschaftlichen Herausforderung In den kommenden zehn Jahren wird sich die Arbeitswelt durch digitale Geschäftsmodelle tiefgreifend verändern, wobei die Digitalisierung schon heute unsere Arbeitswelt massiv beeinflusst. Gut ein Sechstel der Berufstätigen in Deutschland arbeitet bereits teilweise mobil – von unterwegs oder von zu Hause aus. Bedingt durch die Corona-Krise hat sich die Nutzung des Homeoffice vervielfacht: Im Jahr 2018 gaben nur rund fünf Prozent der Beschäftigten in Deutschland an, mindestens die Hälfte der Arbeitstage von zu Hause aus zu arbeiten, im April 2020 war es bereits knapp ein Viertel. Gepaart mit flexiblen Arbeitszeitmodellen wie Gleitzeit und Vertrauensarbeitszeit entstehen Freiräume, die sich für Arbeitgeber und Arbeitnehmer gleichermaßen auszahlen. Studien belegen schon heute niedrigere Betriebskosten und eine höhere Produktivität der Mitarbeiter im Homeoffice. Hinzu kommen geringere Kosten für Büroflächen sowie die eingesparte Zeit des Pendelns zwischen Wohnort und Arbeitsplatz. Doch nicht nur die Rahmenbedingungen, sondern auch die Art der Arbeit ändert sich durch den zunehmenden Einsatz digitaler Hilfsmittel. So bieten in Deutschland mittlerweile rund fünf Prozent der wahlberechtigten Bevölkerung ihre Arbeitsleistung als sogenannte »Crowdworker« an. Es entsteht eine Bandbreite an Jobs, bei denen Unternehmen Aufgaben und Projekte über eine Online-Plattform an eine Gruppe von Internetnutzern auslagern. 207

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Die klassische Beziehung zwischen Unternehmen und deren Mitarbeitern beginnt sich damit zumindest in Teilen aufzulösen. Auch die Anwendung von Künstlicher Intelligenz, kurz KI , eröffnet zahlreiche Möglichkeiten, Aufgaben und Prozesse einfacher, flexibler und agiler zu gestalten. Der zunehmende Einsatz von KI wird Menschen bei Routinetätigkeiten entlasten – aber auch Berufe überflüssig machen, die zum Teil eine sehr umfangreiche Ausbildung erfordern. Ich möchte zwei Beispiele nennen. 2019 hat die Google KI zum ersten Mal bei Lungenkrebsdiagnosen eine geringere Fehlerquote erzielt als sehr gut ausgebildete und erfahrene Radiologen. Dadurch ergeben sich enorme Vorteile für die Patienten und das Gesundheitssystem, da die Behandlung einfacher Fälle sicherer und günstiger erfolgen kann als durch eine Fachkraft. Die Ärzte gewinnen zunächst mehr Zeit für die komplizierteren Fälle. Nach und nach wird die KI aber so weit entwickelt sein, dass sie auch schwierigere Diagnosen stellen kann, womit sich Radiologen wieder neue Aufgabenfelder in der Diagnostik erschließen müssen – oder sie werden überflüssig. Das weitere Beispiel ist die Übersetzungsbranche. Bereits heute lassen sich seitenlange Dokumente binnen Sekunden online mit Hilfe von KI übersetzen. Auch wenn die Qualität dieser Übersetzungen sich noch nicht auf dem Niveau professioneller Übersetzer bewegt, sind die Fortschritte in den vergangenen Jahren bemerkenswert. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis menschliche Übersetzer nicht mehr erforderlich sind. Obwohl sich dadurch viele Chancen eröffnen, gehen wir in Europa und insbesondere in Deutschland 208

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häufig von negativen Auswirkungen für unsere Gesellschaft aus: Unternehmen würden durch künstliche Intelligenz und Automatisierung lediglich ihre Gewinne maximieren, indem sie nur noch wenige gut bezahlte Mitarbeiter beschäftigen, die die Kernprozesse automatisieren. Ein Großteil der Gesellschaft werde dann nicht mehr gebraucht und bekomme zum Erhalt des sozialen Friedens ein bedingungsloses Grundeinkommen, lautet häufig die Meinung in der breiten Bevölkerung. Aber ist ein solches Szenario realistisch? Auch wenn es bereits bei den vergangenen industriellen Revolutionen Gewinner und Verlierer gab, so hat sich langfristig die Lebensqualität und das Wohlstandsniveau der Menschen insgesamt signifikant erhöht. Auch in der aktuellen digitalen Revolution spricht vieles dafür, dass es wieder so kommen wird. Die Vorreiterunternehmen in ihren jeweiligen Branchen werden zunächst Überrenditen erzielen, bis ihre Wettbewerber nachgezogen haben. Bei einem funktionierenden Wettbewerb sinken die Preise aufgrund optimierter Kostenstrukturen und Produkte und Dienstleistungen werden für breitere Bevölkerungsschichten erschwinglich. Durch den technologischen Fortschritt entstehen zudem neue Produkte und Dienstleistungen – und damit gänzlich neue Industriezweige mit neuen Arbeitsplätzen. Damit diese Arbeitsplätze auch in Europa entstehen können, müssen wir die neuen Technologien und Innovationen allerdings annehmen und fördern. Verschließen wir uns vor Veränderungen, wird der zukünftige Wohlstand in anderen Teilen der Welt gewonnen. Ein wesentlicher Faktor, um die positiven Effekte für die Gesellschaft und die Entwicklung von Innovationen sicherzustel209

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len, ist ein funktionierender Wettbewerb; dafür müssen Politik und Wettbewerbsbehörden sorgen. Denn das Winner takes it all-Prinzip der Plattformökonomie bringt keine gerechte Wohlstandsverteilung mit sich. Am Horizont zeichnen sich daher erste Tendenzen ab, die eine Regulierung großer Digitalplattformen nahelegen: In den USA wird teilweise die Zerschlagung von Google gefordert, in Europa wurde im Dezember 2020 ein Gesetzesvorschlag (Digital Services Act) zur Regulierung von Plattformunternehmen vorgelegt und in Deutschland wird gerade an der GWB -Gesetzesnovelle gearbeitet. Durch die exponentielle Entwicklung und Verbreitung von Plattformen sind wir allerdings gezwungen, schnell zu handeln. Wenn es Jahre dauert, bis solche Regulierungen wirksam werden, laufen wir ständig hinterher.

Die Vormachtstellung chinesischer und amerikanischer Technologieunternehmen bei digitalen Plattformen ist kaum noch aufzuholen Die dominierenden Geschäftsmodelle des 21. Jahrhunderts bestehen aus digitalen Plattformen. Die wertvollsten und wachstumsstärksten Unternehmen der Welt haben ein plattformbasiertes Geschäftsmodell. Bekannte Unternehmen wie Amazon, Uber oder Airbnb leben dieses Modell vor. Ihr Erfolg zeigt deutlich, dass ihre digitalisierten Services für die Kunden oft einfacher zugänglich und komfortabler zu nutzen sind als Angebote in der analogen Welt. Unter den zehn wertvollsten Unternehmen der Welt befinden sich sieben 210

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formunternehmen – vor zehn Jahren war es nur ein einziges. In wenigen Jahren wurden die etablierten Industrieunternehmen an der Spitze von digitalen Herausforderern wie Apple, Amazon oder Alphabet abgelöst. Und die Start-up-Welt zieht nach, setzen doch die meisten sogenannter Unicorns – junge, nicht börsennotierte Unternehmen mit einem Unternehmenswert von mehr als einer Milliarde US -Dollar – auf plattformbasierte Geschäftsmodelle. Die weltweit erfolgreichsten Plattformunternehmen kommen ausschließlich aus den USA und aus China. Microsoft, Apple und Amazon sind jeweils höher bewertet als alle Dax-30-Unternehmen zusammen. Der Börsenwert von Apple hat im August dieses Jahres als erstes US -Unternehmen die Schwelle von zwei Billionen US -Dollar überschritten. In der Liste der 20 größten Tech-Konzerne stellen die USA zwölf und China acht Unternehmen – einen europäischen Wettbewerber sucht man vergebens. Worin ist diese Vormachtstellung der amerikanischen und chinesischen Tech-Konzerne begründet? Unternehmen in den USA und in China sind uns heute in zahlreichen Bereichen überlegen. Sie haben riesige Tech-Player (ursprünglich aus dem Business-to-Consumer-Bereich; B2C), die gigantische Mengen an Daten sammeln, analysieren und auswerten können. Hinzu kommen deutlich mehr Investitionskapital für Technologie, Innovationen oder Mergers and Acquisitions und ein enges Netz aus Politik, Wirtschaft und Wissenschaft. Auch mitten in der Corona-Krise investieren Unternehmen wie Facebook oder Alibaba Milliarden in Zukunftstechnologien, während deutsche und 211

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ische Unternehmen einen harten Sparkurs fahren und wichtige Investitionen stoppen. Alibaba beispielsweise investiert 28 Milliarden US -Dollar in seine Cloud-Infrastruktur – während Unternehmen wie Continental oder Daimler ihre Forschungsausgaben zurückfahren. Kurz gesagt fehlt in Europa die Infrastruktur für Disruption. Dies beginnt bei Netzen und Datennutzung, geht über Regulierung und Finanzierungsstrukturen bis hin zu Themen wie Ausbildung, Kooperationen und Mindset. All diese Faktoren verhindern derzeit disruptive Entwicklungen und sorgen dafür, dass uns andere Länder überholen – und ihren Vorsprung ausbauen. Aber in Europa werden erste wirtschaftliche Allianzen gegen die Übermacht der ausländischen Tech-Konzerne sichtbar. Ob allerdings Projekte wie der Kartendienst HERE , eine Automobilkonzern-Allianz gegen Google, oder die Log-in-Allianz, bestehend aus RTL , ProSieben und Zalando, ausreichen, um zu einem langfristig relevanten Player der globalen Digitalisierung zu reifen, ist fragwürdig. Denn obwohl die Europäische Union mit 446 Millionen Einwohnern etwa 118 Millionen mehr Menschen zählt als die USA , haben wir strukturelle Nachteile. In Europa stehen wir vor sprachlichen, kulturellen und regulatorischen Herausforderungen, die es in China oder den USA so nicht gibt. Betrachtet man allein die Sprache, wird dieser Unterschied besonders deutlich. In der EU haben wir 24 unterschiedliche Amtssprachen – zum Vergleich: 70 Prozent der Chinesen sprechen Mandarin, alle US -Amerikaner sprechen Englisch. Fest steht trotzdem: Europäische Allianzen sind unausweichlich, wenn wir unsere Wettbewerbsfähigkeit behalten wollen. Wir müssen also die 212

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lichen Schwächen durch die strukturellen Unterschiede anerkennen und die uns gegebene Vielfalt nutzen, um keinen substanziellen Nachteil gegenüber größeren Einzelmärkten zu erhalten. Denn die europäische Diversität kann bei der Schaffung von Innovationen ein Vorteil sein. In Europa müssen wir bei der Entwicklung von neuen Ansätzen intensiver zusammenarbeiten als große Nationalstaaten, da wir zwischen den Unterschieden der einzelnen Nationalstaaten und ihren Einwohnern vermitteln müssen, um ans Ziel zu gelangen. Gleichzeitig verfügen wir im weltweiten Vergleich über deutlich diversere Perspektiven, wenn wir über ein Problem gemeinsam nachdenken. Das klingt zunächst nach zwei Nachteilen, allerdings sind konstruktive Zusammenarbeit und unterschiedliche Perspektiven zwei wesentliche Elemente bei der Entwicklung von Innovationen. Doch diese können nur auf dem richtigen Nährboden entstehen: passende Regulatorik und finanzielle Unterstützung. Eine spannende Entwicklung zeigt sich gerade in Asien, wo Milliarden in Business-to-Business-Plattformen; B2B) investiert werden. Dies kann ein Indiz dafür sein, in welcher Region die Zukunft der plattformbasierten Geschäftsmodelle liegen wird. Gerade für Deutschland sind B2B-Märkte traditionell wichtig und auch für unser Unternehmen sehen wir in diesen Märkten großes Potenzial. Deshalb haben wir vor drei Jahren XOM Materials gegründet und sind seither dem Ziel, eine führende B2B-Plattform für Stahl- und Metallprodukte sowie weitere Materialien aufzubauen, deutlich nähergekommen. Neben Klöckner & Co haben auch andere deutsche und europäische Unternehmen er213

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kannt, dass digitale Plattformen im B2B-Bereich Mehrwert schaffen. Beispiele für funktionierende Lösungen sind Siemens Lufthansa Technik oder ABB mit ihrer jeweiligen Plattform. Diese Initiativen verdeutlichen, wie sich die industrielle Stärke der deutschen Wirtschaft dazu nutzen lässt, die Plattformökonomie maßgeblich voranzutreiben. Ich bin zuversichtlich, dass sich von diesen Ambitionen ausgehend ein konkurrenzfähiges Ökosystem für B2B-Plattformen in Europa entwickeln kann. Allerdings nur, wenn wir noch mehr investieren, die Politik den regulatorischen Rahmen richtig setzt und jedes Unternehmen die Bereitschaft seiner Mitarbeiter stärkt, Veränderungen mitzutragen und voranzutreiben.

Europa braucht eine innovationsfreundliche Infrastruktur und einen gemeinsamen Ansatz – nur so bleiben wir wettbewerbsfähig und sichern unseren Wohlstand Beim Thema Plattformen haben wir in Europa bereits Fehler gemacht und sind durch verkrustete Strukturen weit zurückgefallen. Teilt man das »Spiel« um die Vorherrschaft beim Thema Plattformen wie beim Eishockey in Drittel ein, stellen wir fest, dass wir im ersten Drittel, dem B2C-Bereich, bereits verloren haben. Auch im zweiten Drittel, den Cloud-Plattformen, konnten sich andere Unternehmen etablieren. Daher ist der Versuch, mit GAIA-X eine wettbewerbsfähige europäische Cloud gegen die Übermacht von Amazon, Microsoft und Google zu etablieren, wenig 214

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sprechend. Der Vorsprung der amerikanischen CloudAnbieter ist derart groß, dass es kaum möglich sein wird, eine adäquate Alternative zu entwickeln. Auch scheint ein Konsortium von mittlerweile 300 Unternehmen und Institutionen nicht geeignet, um die großen Plattformunternehmen wirksam anzugreifen. Wir haben hier schlicht einen zu großen Rückstand. Während die US -Unternehmen und Alibaba in China seit Jahren in dieser Richtung forschen und Innovationen vorantreiben, kommen wir Europäer im Jahr 2020 mit GAIA-X auf den Markt. Wir haben ein besonderes Selbstverständnis und gehen hier einen europäischen Weg. Das ist in Ordnung, aber wir sollten uns nicht der Illusion hingeben, einen globalen Champion zu schaffen, der den etablierten Anbietern auf diesem Gebiet den Rang abläuft. Anstatt mit einem ähnlichen Versuch zu scheitern, wie vor einigen Jahren bereits mit der Idee einer europäischen Suchmaschine, sollten wir uns durch die europäische Lösung notwendiges Wissen aneignen und uns anschließend darauf konzentrieren, die bestehenden – und fast schon perfektionierten – Clouds zum Aufbau digitaler Geschäftsmodelle im Bereich B2B und Industrie 4.0 zu nutzen. Wenn wir uns darauf fokussieren, auf den bestehenden Cloud-Plattformen industriespezifische Plattformen und Applikationen zu entwickeln, haben wir die Chance, zumindest mitzuhalten. Dafür brauchen wir eine innovationsfreundliche Infrastruktur. Dazu zählt beispielsweise eine funktionierende 5G-Netzinfrastruktur, die eine umfassende Datenerhebung ermöglicht, sowie eine einheitliche und industriefreundliche Regulierung bei der Datenspeicherung und nutzung. Wir sind es gewohnt, ausschwei215

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fende und akademische Diskussionen um die »richtige« Datenstrategie zu führen, anstatt die Unternehmen loslegen zu lassen. Diese regulatorische Unsicherheit verhindert vor allem dringend notwendige Investitionen in wichtige Bereiche. Der europäische PluralismusGedanke steht effizienten und wettbewerbsorientierten Innovationen im Weg. Im letzten Konjunkturpaket stellte die Bundesregierung bis 2025 rund zwei Milliarden Euro für die Forschung an Quantencomputern zur Verfügung. Allerdings hinken wir im Wettbewerb mit den USA und mit China bereits jetzt hinterher. Davon abgesehen ist es ohnehin nicht zielführend, wenn wir Deutschen den Alleingang wagen. Im europäischen Verbund könnten wir deutlich mehr Kapital aufbringen und so zumindest den Abstand verringern. Schaffen wir das nicht, verlieren wir in vielen Bereichen die Wettbewerbsfähigkeit und gefährden unseren Wohlstand. In der EU wurde 2019 ein Bruttoinlandsprodukt von etwa 14 Billionen Euro erwirtschaftet, das ist etwas mehr als in China im gleichen Zeitraum. Es sollte also ausreichend Kapital vorhanden sein, um Innovationen zielgerichtet in relevanten Branchen zu fördern. Es ist an der Zeit, die EU als wirtschaftliche Einheit zu verstehen, die im Wettbewerb mit anderen Weltmächten steht. Durch europäische Champions wird nicht nur Europa insgesamt gestärkt, sondern auch die Nationalstaaten – nur so können wir unsere europäische Souveränität aufrechterhalten und unseren Wohlstand sichern. Es scheint, als hätten wir das verstanden: Im August 2019 hat die EU -Kommission die Idee für einen »European Future Fund« in den Raum gestellt. Dieser Zukunftsfonds sollte mit 100 Milliarden Euro ausgestattet 216

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werden, um mit europäischen Unternehmen die internationalen Technologie-Giganten zu überholen. Eine gute Idee, die bisher aber genau das geblieben ist – nur eine Idee. Es fehlt die zentrale Stimme eines geeinten Europas, die Technologieunternehmen europäisch denken lässt.

Anmerkung 1 Axel Postinett, Microsofts Cloud wächst weiter – aber die ersten Corona-Folgen sind spürbar, Handelsblatt 22.!7.!2020. https://www.handelsblatt.com/technik/it-internet/software konzern-microsofts-cloud-waechst-weiter-aber-die-erstencorona-folgen-sind-spuerbar/26029566.html?ticket=ST3459171-LdNIrAlXIWEOGVhc666e-ap6, abgerufen am 28.!9.! 2020.

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Garrett Wallace Brown mit Convoco im Gespräch

Wie COVID-19 die globale Gesundheitspolitik herausfordert

Convoco: Governance-Strukturen im globalen Gesund-

heitswesen sind in den vergangenen 20 Jahren stark gewachsen. Wie hat sich die Gesundheitslandschaft seit dem Jahr 2000 verändert? Garrett Wallace Brown: Im Verlauf der vergangenen 20 Jahre hat sich die Zahl der globalen Gesundheitsorganisationen ebenso massiv vermehrt wie die Zahl einschlägiger Initiativen und das Volumen ihrer Haushalte. Nur ein Beispiel: auf dem G8-Gipfeltreffen in Japan des Jahres 2000 wurden gleich zwei wichtige Initiativen aus der Taufe gehoben, der Globale Fonds zur Bekämpfung von AIDS , Tuberkulose und Malaria (der GFATM) und die Impfallianz Gavi. Der GFATM wurde mit einem Startkapital von 10 Milliarden US -Dollar ausgestattet. Im Zeitraum zwischen 2000 und 2013 verdreifachte sich das Volumen der Entwicklungshilfe für Ausgaben der öffentlichen Gesundheit mit einer jährlichen Wachstumsrate von durchschnittlich mehr als 11  Prozent. Zahlreiche umfassende Programme wurden in dieser Zeit ins Leben gerufen. Eine der jüngeren Initiativen ist die Global Financing Facility, die weltweit die gesundheitliche Versorgung von Müttern, Kindern und Jugendlichen verbessern will.

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GARRET T WALL ACE BROWN

Aus demselben Zeitraum stammen auch die Millenniums-Entwicklungsziele zur gesundheitlichen Versorgung und die daran anknüpfenden Ziele für nachhaltige Entwicklung der Agenda 2030. Die Formulierung dieser Nachhaltigkeitsziele reflektierte einen einzigartigen Konsens zugunsten der Schaffung eines Systems der universalen Gesundheitsversorgung mit Absicherung gegen finanzielle Risiken, Zugang zu grundlegenden Gesundheitsdiensten und Verfügbarkeit bezahlbarer Arzneimittel und Impfstoffe (Ziel 3.8). Gemeinsam haben diese politischen Initiativen die Verbreitung weltweit tätiger Gesundheitsorganisationen begünstigt und dem Thema globale Gesundheit ein konstantes Maß an Aufmerksamkeit verschafft. Allerdings ließe sich wohl nur schwer argumentieren, dass sich die weltweite Gesundheitspolitik im Zuge dieser Entwicklung maßgeblich verbessert habe und dass wir im Begriff stünden, die Herausforderungen der globalen Gesundheit zu meistern. Wo Erfolge zu verzeichnen waren, haben sich diese oft als isolierte Fortschritte oder als Stückwerk entpuppt. Die COVID -19-Krise hat die Risse in der Fassade der globalen Gesundheitspolitik zum Vorschein gebracht. C: Eine der Ursachen für das langsame Fortschrittstempo der weltweiten Gesundheitsvorsorge ist Ihrer Ansicht nach ein institutioneller »Gridlock«. Können Sie das näher ausführen? GWB: Eine der Hauptursachen für diesen Gridlock in der globalen Gesundheitspolitik ist die große Anzahl von Akteuren, die eine wirksame Koordination

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COVID -19 UND GLOBALE GESUNDHEITSPOLITIK

erschwert. Jeder dieser Akteure hat seine eigenen Interessen und Prioritäten. Je mehr Akteure zu einem gemeinsamen Projekt beitragen, desto größer die Reibungsverluste, die bei dem Versuch zur Erzielung eines Konsenses entstehen. Zu den größten Problemen der aktuellen Gesundheitsdiplomatie zählen die Flickschusterei und die Verzögerungen, die sich infolge unilateralen Handelns ergeben. Dies ist das Dilemma, wenn zahlreiche globale Institutionen mit unterschiedlichen Finanzierungsquellen und Strategien gleichzeitig agieren. Im Jahr 2018 gab es auf der Welt 3.401 global operierende Gesundheitsorganisationen. Diese Zahl schließt weder die nationalen noch die ausschließlich bilateral operierenden Organisationen ein (z.!B. die Ministerien für Entwicklungshilfe wie DFID oder USAID), und ebenso wenig Unterorganisationen der Vereinten Nationen wie die Weltgesundheitsorganisation WHO oder UNICEF. Insgesamt haben wir es im globalen Gesundheitswesen mit etwa 4.000 institutionellen Akteuren zu tun, die alle ihre eigenen Initiativen verfolgen. Manche dieser Organisationen bemühen sich um eine globale Koordination, manche nicht. Das führt zu einer Fragmentierung der Institutionenlandschaft. Nehmen wir als Beispiel die COVID -19-Krise, die das Problem der Fragmentierung anschaulich demonstriert. Wer übernimmt die Beobachtung von Entwicklungen, die rasche Formulierung von Reaktionen und die Festlegung verbindlicher Richtlinien? Wer ist für die Konzeption wirksamer Gegenmaßnahmen verantwortlich – was auch bedeutet: wer ist letztlich der Öffentlichkeit ge221

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GARRET T WALL ACE BROWN

genüber verantwortlich? Intuitiv würde man hier an die WHO denken, allerdings kann diese ihrer Aufgabe zur Koordination der verschiedenen Institutionen kaum noch nachkommen. Das ist eine Folge der Kürzung ihrer Mittel, unzureichender Kooperation der Mitgliedstaaten und komplexer politischer Konstellationen in der Weltgesundheitsversammlung. Die Reaktion auf den Ebola-Ausbruch in Westafrika vor ein paar Jahren wurde nicht von der WHO, sondern weitgehend von Médecins Sans Frontières – Ärzte ohne Grenzen – koordiniert, einer Nichtregierungsorganisation mit begrenzten Ressourcen. Wenn man sich auf die nationale Ebene konzentriert, da die meisten gesundheitlichen Krisen ja auch in einem nationalen Rahmen bekämpft werden, dann verschärft das jedoch das Problem unkoordinierter Strategien und Programme. In der COVID -19-Krise haben Großbritannien, Schweden, Deutschland und die USA allesamt unterschiedliche Lockdown-Strategien, mit vielfältigen und potenziell gefährlichen Konsequenzen, verfolgt. C: In welchem Ausmaß hat die COVID -19-Krise diese institutionellen Probleme bloßgelegt? GWB: Das lässt sich gut am Beispiel der Internationalen Gesundheitsvorschriften veranschaulichen. Diese IGV sollen uns dabei helfen, die grenzübergreifende Ausbreitung von gesundheitlichen Krisen einzudämmen und zu bekämpfen. Die Wahrheit ist jedoch, dass das System an einem chronischen Finanzmangel leidet und dass sich weniger als die Hälfte der Unterzeichnerstaaten an ihre Vertragspflichten halten. Zu diesem Kreis

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zählen auch wohlhabende Länder wie z.!B. Frankreich. Diese Staaten sollten ab dem Jahr 2016 ihre Pflichten erfüllen, aber dazu ist es einfach nicht gekommen. In der COVID -19-Krise haben einige Staaten sogar gegen die Internationalen Gesundheitsvorschriften verstoßen. Die internationale Staatengemeinschaft wurde nicht rechtzeitig informiert und nötige Maßnahmen wurden nicht umgesetzt. Die WHO verfügt über keinerlei Instrumente zu Vollzug oder Sanktionierung der Richtlinien und kann lediglich durch öffentliche Identifizierung säumiger Mitgliedstaaten die betreffende Regierung »an den Pranger stellen«. Wenn es sich jedoch bei diesem um einen maßgeblichen Beitragszahler wie China und die USA handelt, offenbaren sich schnell die Grenzen. Präsident Trumps Entscheidung, aus der WHO auszutreten, illustriert das Dilemma der WHO bei Disputen mit großen und mächtigen Staaten.1 Hinzu kam, dass nicht alle Regierungen von Beginn an willens waren, den Ernst der Lage zu erkennen. Großbritannien und die USA sind passende Beispiele für Staaten, die eine Politik des Abwartens verfolgten. Damit wurde gegen das erste Gebot aller Quarantäneund Lockdown-Maßnahmen verstoßen: Es gilt schnell und resolut handeln, auf der niedrigsten Ebene und in Zusammenarbeit mit der betroffenen Bevölkerung. Dann gibt es den Pandemic Emergency Fund, der im Jahr 2015 auf dem G7-Gipfeltreffen in Deutschland beschlossen wurde als Reaktion auf den Ausbruch der Ebola-Epidemie in Westafrika. Es handelt sich dabei um einen Finanzierungsmechanismus mit einem Volumen von bis zu 500 Millionen US -Dollar zur schnellen Bereitstellung von Krediten für Staaten, in denen eine 223

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Epidemie droht zur Pandemie zu werden. Der Fonds erhielt jedoch nicht die ihm versprochene finanzielle Unterstützung und wurde auch nicht zur Bekämpfung der aktuellen Pandemie eingesetzt, in erster Linie, weil er bei der Weltbank angesiedelt ist. Antragsteller müssen zunächst Qualifikationshürden überwinden – die zum Beispiel für China und Indien zu hoch wären. Ein führender Vertreter der Weltbank bezeichnete die Initiative als »völlige Blamage«. Diejenigen Staaten, die theoretisch zum Erhalt der Mittel berechtigt wären, stehen bereits unter einer enormen Schuldenlast. Warum also sollten diese Länder sich zusätzliche Schulden aufbürden, wenn sie bereits ihre bestehenden Darlehen nicht zurückzahlen können? Und warum sollten sie das Darlehen beantragen, wenn sie davon ausgehen können, dass eine andere Form der Finanzhilfe kommen wird, sobald sich das Problem auf andere Staaten ausweitet? Im Endeffekt hat sich der G7-Plan von 2015 nicht als geeignetes Instrument einer wirksamen gesundheitspolitischen Strategie gezeigt. Zum Zweck einer besseren Koordination der internationalen Bemühungen schufen die G7 Anfang 2014 die Global Health Security Agenda, die anschließend auch von den G20 unterstützt wurde. Aber auch diese Initiative ist unterfinanziert und die Koordination ist mangelhaft. Viele Staaten haben sich diesen Verantwortlichkeiten schlicht nicht gestellt. Geplant war die Vernetzung intellektueller wie technologischer Ressourcen zur Bekämpfung schwerwiegender gesundheitlicher Risiken wie zum Beispiel der Entwicklung antibiotika-resistenter Keime (AMR). Daraufhin ist aber leider nur wenig geschehen, und AMR ist nach 224

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wie vor eine schwere globale Bedrohung. Wir sprechen hier von ca. 300 Millionen Todesopfern gegen Mitte des 21. Jahrhunderts. C: Sie haben bereits angedeutet, dass die globale Ge-

sundheitspolitik zunehmend politisiert wird. Verschärft diese Entwicklung die Fragmentierung und Ineffektivität von Institutionen? GWB: Die Vorstellung, dass das Thema Gesundheit un-

politisch ist, bzw. entpolitisiert werden muss, ist ein großer Trugschluss. Gesundheit hat immer auch eine politische Dimension. Der Patient, der eine zu seiner Gesundung erforderliche Therapie erhält, steht am Ende eines Prozesses, der mit einer mutmaßlich politischen Entscheidung über die Verfügbarmachung der betreffenden Therapie begann. Wenn wir morgen eine große Zahl von Menschenleben retten wollen, müssen wir den Menschen heute Zugang zu sauberem Wasser und Seife verschaffen. Erforderlich dafür sind politische Entschlossenheit und Kompetenz. Wir müssen fragen, wie wir die einschlägigen politischen Prozesse demokratisch legitim und zweckgerecht gestalten und wie wir den bestehenden Richtlinien mehr Durchsetzungskraft geben können – wie wir, zum Beispiel, erreichen können, dass die Internationalen Gesundheitsvorschriften flächendeckend befolgt werden, die die Staatengemeinschaft warnen und mobilisieren sollen, wenn eine Epidemie droht zur Pandemie zu werden. Wir haben auch die Mechanismen eines für entsprechende Notfälle konzipierten Finanzierungssystems, aber die einzelnen Länder müssen sich 225

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verpflichten, dieses System auch finanziell zu tragen. Im Falle von COVID -19 hat es die Regierung Chinas aber im Lichte eigener Interessen versäumt, rechtzeitig den Alarm auszulösen – unter anderem aufgrund ausländischer Direktinvestitionen und des Unwillens, als Regierung Schwäche zu zeigen. Solche Denk- und Handlungsmuster sind gefährlich, weil das globale öffentliche Wohl auf der universalen Befolgung bestimmter Grundregeln basiert. Die Weltgesundheitsorganisation WHO hatte bereits im November 2019 Zugang zu Informationen über COVID -19, vielleicht sogar noch einen Monat früher, aber konnte die Welt nicht auf die drohende Gefahr aufmerksam machen, weil ihr – in gewisser Hinsicht – die Hände gebunden waren. Zum Teil hat das etwas mit der Geschichte der Organisation zu tun. In der Vergangenheit ist die WHO verschiedentlich dafür kritisiert worden, die Alarmglocken zu früh oder zu spät geläutet zu haben. Auch weiß die WHO oftmals nicht, wie sie mit ihrer politischen Situation umgehen soll. Ohne eine WHO, die ihre Aufgaben selbstbewusst in Angriff nimmt, sinken jedoch unsere Chancen auf den Aufbau eines effizienten Systems der globalen Gesundheitsvorsorge. Meiner Ansicht nach müssen wir fragen: Wie können wir Staaten wie China dazu verleiten, ein solches System politisch zu unterstützen? Wie können wir Institutionen schaffen, die den Herausforderungen und Bedrohungen effektiv entgegentreten können? Wie erreichen wir, dass Staaten wie die USA solche Institutionen unterstützen, obwohl sie sich auf einem Rückzug aus der internationalen Politik befinden. Hier brauchen wir die 226

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Politik, denn all dies sind Fragen, die nur im Rahmen politischer Prozesse beantwortet werden können. C: Unter den vielen Akteuren im Bereich Global Health gibt es auch Privatorganisationen, die im Lauf der Jahre stark an Einfluss gewonnen haben, allen voran die Bill & Melinda Gates Foundation. Wie beurteilen Sie diese Entwicklung? GWB: Man kann das aus zwei Richtungen betrachten.

Einerseits schaffen diese Stiftungen, private und mutilaterale Initiativen, neue Innovationspotenziale. Sie kommen von außerhalb, sind weniger in eingefahrenen Prozessen gefangen und können frische Lösungsmodelle liefern. Diese Stiftungen konzentrieren sich zumeist auf ein oder zwei spezifische Probleme und gehen diese mit einem funktionalistischen Ansatz an. Bill und Melinda Gates zum Beispiel haben fraglos eine Reihe von Innovationen der globalen Gesundheitsfürsorge finanziert, zum Beispiel die Entwicklung billiger und einfach einzusetzender Moskitofallen in Afrika. Diese Fallen haben sich in einigen Regionen als kosteneffizientes Mittel zur Bekämpfung der Malaria bewährt. Darüber hinaus wurden neue elektronische Anwendungen entwickelt, Laborforschung betrieben und Informationssysteme im Gesundheitsbereich verbessert. Andererseits ist aber auch zu bedenken, dass diese Initiativen die institutionelle Fragmentierung verschärfen und die Gestaltung eines globalen Gesundheitssystems noch schwieriger machen. Jede neue Initiative oder Organisation macht den Dschungel aus überlappenden Zuständigkeitsbereichen sowie parallel laufen227

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den Programmen noch undurchdringbarer, gleichzeitig kann es passieren, dass Lieblingsprojekte von Stiftern verfolgt werden. Hinzu kommt, dass viele Privatinitiativen unternehmerischen Erfahrungen entspringen mit dem Glauben, dass bestimmte Produkte und Vertriebsformen auf das globale Gesundheitswesen übertragen werden können. Seit dem Jahr 2000 hat sich zum Beispiel die Zahl der IT-Lösungen (Software und Anwendungen) in der öffentlichen Gesundheitsfürsorge vervielfacht. Allzu oft handelt es sich hierbei um Projekte ohne irgendeinen Bezug zu dem konkreten Kontext, um technische Spielereien, die wenig zur Lösung des eigentlichen Problems beitragen. Dies wirft Fragen auf zu Finanzierungsquellen, epistemischer Autorität und Machtverhältnissen. Veranschaulichen lässt sich dieses Problem am Beispiel Tansanias, eines Landes, das 47,5 Prozent seiner Ausgaben für das Gesundheitswesen aus externen Quellen bestreitet. Wenn eine große Stiftung einem Land wie Tansania eine Spende in Aussicht stellt, ihr finanzielles Engagement jedoch von der Einhaltung bestimmter Bedingungen abhängig macht, können Sie in der Regel davon ausgehen, dass das Nehmerland diesen Bedingungen zustimmt. Dies gilt auch dann, wenn sich die lokalen Behörden durchaus darüber im Klaren sind, dass durch die betreffende Vereinbarung örtliche Strukturen politischer Verantwortlichkeit untergraben werden und dass die Ideen der Spenderorganisation den vor Ort tatsächlich bestehenden Herausforderungen nicht gerecht werden. Hier zeigen sich große Bedenken bezüglich der bestehenden Machtverhältnisse und epistemischer 228

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rität, aber auch über die Nachhaltigkeit einschlägiger Projekte. Was passiert, wenn die Finanzquelle versiegt? Wenn das Nehmerland seinen Wohlstand nicht zu mehren vermag, dann ist die Hoffnung, dass es die Verantwortung für die entsprechenden Projekte selbst übernehmen kann, gering. Das Resultat sind perspektivlose Stückwerkprojekte mit begrenzter Lebensdauer und einem oftmals jähen Ende. Dies führt nicht zu einer langfristigen Verbesserung der globalen Gesundheitssituation. C: Entstehen hier auch Probleme der Legitimität? Schließlich haben private Förderer einen erheblichen Einfluss auf die Prioritäten einer globalen Gesundheitspolitik. GWB: Das Beispiel von Bill und Melinda Gates demonstriert das bereits von mir erwähnte Problem der epistemischen Autorität. Bill und Melinda Gates haben eine Autorität des Wissens vergleichbar derjenigen einflussreicher Fachzeitschriften. Aber damit stellen sich Fragen nach der Quelle dieser Autorität. Warum hat eine einzelne Person wie Bill Gates dasselbe Stimmrecht im Vorstand des Global Fund wie die EU oder die USA? Warum soll seine Stiftung die zweitwichtigste Finanzquelle der WHO sein, direkt hinter der Regierung der USA? Welche Konsequenzen hat das für die Gesundheitspolitik? Warum gibt das Fernsehen Bill Gates eine Plattform für seine Kritik an der Entscheidung der Trump-Regierung, die Zahlungen an die WHO auszusetzen? Die Sorge besteht, dass man sich das Recht zur Ein-

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flussnahme auf die Politik und ihre Prioritätenliste erkaufen kann. Es ergeben sich zusätzliche Fragen der Verantwortlichkeit und Transparenz. Präsident Trump ist dem US -Kongress gegenüber verantwortlich, seine Entscheidungen unterliegen der Aufsicht des Obersten Gerichtshofes, seine Politik existiert im Kräftefeld der »Checks and Balances« des US State Departments, und letzten Endes ist er gegenüber den US -amerikanischen Wählern verantwortlich. Wem gegenüber ist Bill Gates rechenschaftspflichtig? Es gibt in diesem Sinne niemanden. Dasselbe gilt für die Transparenz. Trump, der bei der Bekämpfung von COVID -19 viele Fehler gemacht hat, unterliegt der scharfen Beobachtung der Medien. Bill Gates aber wird nicht mit demselben Maß gemessen, obwohl er zwei Jahre lang, auf dem Höhepunkt der Wirtschaftskrise, den Global Fund im Alleingang finanziert hat. Sollte sich die Auffassung mehren, dass Bill Gates seinen Einfluss ohne demokratische Legitimierung, auf undurchsichtige Weise und unbelastet von einer Pflicht zur Ablegung von Rechenschaft ausübt, wird die Unterstützung für die entsprechenden Institutionen sinken. Compliance-Probleme und mehr perspektivlose Projekte, die in der Sackgasse enden, werden die Folge sein. Setzt sich jedoch – unter Berufung auf das Innovationsargument – die Sichtweise durch, dass er über eine Legitimierung verfügt, die ihre Wurzeln im Erfolg der von ihm geleisteten Arbeit hat, wird man es allgemein begrüßen, dass hier jemand mit gutem Beispiel voranschreitet und das eingefahrene globale System umgeht. Die Frage ist letztlich die: Verfolgen wir einen utilitaristischen Ansatz im Sinne von »der Zweck heiligt 230

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die Mittel«? Oder legen wir Wert auf korrekte Abläufe und sagen, wir müssen bestimmten Verfahrensweisen folgen. Ich bevorzuge letzteres. C: Private Akteure haben also in den letzten Jahren

einen wichtigen Beitrag zur Finanzierung geleistet, aber langfristig drohen diese Legitimationsdefizite die Fundamente des globalen Gesundheitssystems zu untergraben. GWB: Ja, dieser Einschätzung würde ich voll zustimmen. Wir sind uns alle einig, so glaube ich, dass die WHO entweder von Grund auf reformiert oder durch eine andere Institution ersetzt werden muss. Niemand denkt, dass die WHO ein hoffnungsloser Fall ist, aber sie läuft Gefahr, komplett handlungsunfähig zu werden. Zum Teil gehen die aktuellen Probleme der Organisation auf die Zweckgebundenheit ihrer Mittel zurück. In der Vergangenheit zahlten die Mitgliedstaaten ihre Beiträge, und die WHO konnte dann die betreffenden Mittel für die von der Weltgesundheitsversammlung beschlossenen Projekte und andere WHO -Programme ausschütten. Aktuell kann die WHO nur noch über ein Drittel ihres Haushalts in dieser Form frei verfügen. Die verbleibenden zwei Drittel sind an bestimmte Programme gebunden, mit denen nationale Interessen und persönliche Präferenzen individueller Geldgeber verfolgt werden oder die anderweitig mit externen Prioritäten abzustimmen sind. Die WHO kann die einschlägig verfügbar gemachten Mittel nur entsprechend den von den Gebernationen vorgeschriebenen Konditionen

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wenden. Dies trägt zur Fragmentierung bei, verhindert Skaleneffekte und macht eine langfristige, kohärente Strategie schwierig. C: Der Ansatz von Nationalstaaten in der Weltgesund-

heitspolitik zeigt sich oft als eine Strategie der Sicherung vor äußeren Bedrohungen. Der Fokus liegt auf Überwachung und Eindämmung. Müssen wir mehr Aufmerksamkeit auf die Prävention und Stärkung internationaler Gesundheitssysteme legen? GWB: Ich glaube fest an das Motto, dass ein Gramm Vorbeugung soviel wert ist wie ein Pfund Therapie. COVID -19 wird uns Billiarden von Euros und Dollars kosten, aber das hätte nicht so sein müssen. Für einen Bruchteil dieser Summe können wir eine zweckgerechte globale Institution aufbauen und die nationalen Gesundheitssysteme derjenigen Länder robuster und widerstandsfähiger machen, in denen die meisten Bedrohungen ihren Ursprung haben. Es ist ja nicht von ungefähr, dass die Ebola-Seuche in Westafrika und in Ländern mit schwach ausgebildeten Gesundheitssystemen ausbrach. Aber auch einige wohlhabende Länder leiden unter einer unzureichenden Gesundheitsversorgung und ignorieren soziale Grundursachen einer schlechten Gesundheit. SARS und COVID -19 nahmen von China aus ihren Weg in die Welt. China verfügt über ein funktionsfähiges Gesundheitssystem und hätte die Dinge besser in den Griff bekommen müssen. Die Reaktion auf den Ausbruch des Virus aber war dem Ernst der Lage nicht angemessen, was demonstriert, dass das Gesundheitssystem Chinas nicht so

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send ist, wie es sein sollte. Wir haben ferner gesehen, in welchem Maße medizinferne Kontextfaktoren wie politische und wirtschaftliche Zwänge das Vorgehen der Gesundheitsbehörden beeinflussen können. Auch Besonderheiten der nationalen Kultur spielen hier eine Rolle. Chinesische Essensmärkte sind seit langem als potenzielle Herde einer Verbreitung zoonotischer Krankheiten bekannt und sollten nicht wie gehabt weiterbestehen dürfen. Die Durchsetzung hygienischer Mindestvoraussetzungen ist aus epidemiologischer Sicht zwingend – das hätte schon nach dem Ausbruch der SARS -Epidemie erfolgen müssen. Zusammenfassend würde ich argumentieren, dass eine wirksame Kontrolle von Krankheiten die Stärkung der öffentlichen Gesundheitssysteme ebenso erfordert wie eine Reform der Internationalen Gesundheitsvorschriften, geeignete Systeme zur Überwachung von Vorschriften bzw. zur Verfolgung einschlägiger Verstöße, schnelle Reaktion auf neu aufkommende Pathogene sowie die völlige Isolation von Infektionsherden auf der niedrigstmöglichen Ebene. Die öffentliche Gesundheit ist ein globales Gemeinschaftsgut erster Ordnung. C: Brauchen wir einen holistischeren Ansatz in Global

Health? Viele Leute scheinen die Rolle zu unterschätzen, die Umwelt und Gesellschaft für die Gesundheit und speziell beim Ausbruch von Infektionskrankheiten spielen. GWB: Das stimmt, ein großes Problem ist das, was einige Kollegen und ich das »Pasteur’sche Paradigma« getauft haben, nämlich die irrige Annahme, dass es für

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jedes Pathogen ein Gegenmittel gibt. Man nimmt die Ankunft des Pathogens zur Kenntnis, verhängt eine Ausgangssperre, und wartet auf die Entwicklung eines wirksamen Impfstoffs. Dies ist auch bei COVID -19 die Strategie. Es gibt aber keine Garantie dafür, dass wir immer einen Impfstoff finden werden. Die Logik dieses Pasteur’schen Paradigmas offenbart einen grundlegenden Fehler in unserem Denken zum Ursprung von Pathogenen (Viren). Pathogene entstehen nicht aus dem Nichts, sondern unter dem Einfluss bestimmter Faktoren und Umstände in Umwelt und Gesellschaft. Denken Sie zum Beispiel an einen Marktplatz, auf dem Lebensmittel verkauft werden. Dort werden bisweilen lebende Tiere unter Bedingungen und in einer räumlichen Nähe zueinander aufbewahrt, die eine gegenseitige Übertragung von Pathogenen gestattet. Oder denken Sie an die Zerstörung ganzer Ökosysteme, in deren Folge Menschen sich in unmittelbarer Nähe von Tieren und Insekten ansiedeln, die – wie z.!B. Waldfledermäuse und Zecken – als Überträger schwerer Krankheiten bekannt sind. Oder berücksichtigen Sie auch, inwieweit Begleiterkrankungen – bei denen es sich oft um direkte Folgen moderner Lebensstile handelt – die Tödlichkeit entsprechender Krankheiten weiter steigern. All das sind soziale Faktoren, in die wir durch langfristige präventive Maßnahmen eingreifen können. Meine Kollegen und ich vertreten den Standpunkt, dass dieses »ein Pathogen, ein Heilmittel«-Modell gemeinsam mit dem Glauben an die Fähigkeit der Wissenschaft, unsere Probleme »wegzuimpfen«, die Entwicklung langfristiger Konzepte zur Vorbeugung von 234

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Krankheiten verhindert. Das Modell berücksichtigt in unzureichendem Umfang die Notwendigkeit zur Stärkung unserer öffentlichen Gesundheitssysteme und zu Reflektionen über die Form unserer Kontakte mit bestimmten Teilen der Tierwelt. Die Verabreichung unnötig hoher Dosen von Antibiotika an Tiere zum Beispiel kann, wenn sie nicht umsichtig ausgeführt wird, einen Beitrag zur Verbreitung antibiotikaresistenter Keime leisten. Das alles sind soziale Verhaltensweisen. Wenn wir hier an den richtigen Stellschrauben drehen, können wir Krankheiten anders bekämpfen als durch überstürztes Suchen nach einem Impfstoff. Wir müssen die bestehenden Paradigmen aus dem richtigen Blickwinkel betrachten. Wir haben immer noch kein Mittel zur Heilung von HIV!/!A IDS . Wir können lediglich die an dieser Krankheit leidenden Menschen – durch den Einsatz kostspieliger Therapien – am Leben erhalten. Viele Wissenschaftler mögen es nicht, wenn man ihnen gegenüber das Pasteur’sche Paradigma als einen Teil des Problems identifiziert. Vielfach hat sich aus den 50er Jahren ein nahezu religiöser Glaube an die Kraft der Wissenschaft zu unser aller Rettung überliefert. Ich kenne viele Wissenschaftler, die an eine Hierarchie des Wissens glauben, in der die Naturwissenschaften ganz oben thronen, hoch über den Gesellschaftswissenschaften. Dies untergräbt viele der von mir hier zum Thema Prävention unterbreiteten Vorschläge. Wir haben es nicht mit einem strikten Entweder-Oder zu tun, die Methoden naturwissenschaftlicher und sozialer Ansätze müssen sich nicht gegenseitig ausschließen. Im Gegenteil: im vorliegenden Fall repräsentieren sie die zwei Seiten derselben Medaille. 235

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C: Sie haben bereits einige Bereiche mit Verbesserungsbedarf identifiziert, aber welche Maßnahme sollte Ihrer Meinung nach ganz oben auf der Prioritätenliste stehen, wenn wir das weltweite Risiko künftiger Pandemien reduzieren wollen? GWB: Hier sind kürzlich verschiedene Ideen ins Gespräch gebracht worden: ein flächendeckendes europäisches Gesundheitssystem, ein G20-Gipfel für Gesundheitspolitik, und Ex-Premierminister Gordon Brown hat sogar vorgeschlagen, die globale Gesundheitspolitik für die Dauer der Krise in die Hände einer Art Weltregierung zu legen. Das BMJ (British Medical Journal) regte in einem Artikel an, eine internationale Agentur zu gründen, die mit dem weltweiten Ankauf und Vertrieb von Impfstoffen betraut ist. Anderenfalls, so die Fachzeitschrift, drohe die Entstehung eines wettbewerbsintensiven Impfstoffmarktes, auf dem finanzstarke Akteure ärmere Rivalen ausstechen und es zu Engpässen kommt. Ich halte all diese Ideen für gut, aber gleichzeitig auch für kurzatmige, vielleicht nicht praktikable Lösungen. Einige meiner Kollegen und ich haben als Alternative eine Strategie angedacht, die wir als »systemisches Denken für eine globale Gesundheitspolitik« bezeichnen. Systemisches Denken prägt seit Jahren die nationale Gesundheitspolitik vieler Länder. Es basiert auf einer ganzheitlichen Analyse der sechs von der WHO aufgelisteten Bausteine für ein Gesundheitssystem: Gesundheitsdienste, Gesundheitsfachkräfte, Gesundheitsinformationssysteme, Medizinprodukte, Finanzierung und Governance. Diese Funktionen muss ein

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sundheitssystem erbringen und sinnvoll miteinander einen. Wir versuchen nun, dieses systemische Denken in eine globale Dimension zu übertragen. Hierzu verwenden wir die sechs von der WHO genannten Kernfunktionen – zuzüglich eines Bausteins mit der Bezeichnung »Bevölkerungen« – zur Identifizierung und Eliminierung von Defiziten im aktuellen System. Das Modell der Bausteine ist nicht ohne Mängel und Gegenstand zahlreicher Kontroversen, weswegen wir mit unserem Projekt auch versuchen, einige dieser Mängel zu beheben. Ferner gilt es, bei der Übertragung systemischer Denkweisen auf die globale Ebene dem Prinzip der Subsidiarität Geltung zu verschaffen, lokale Gesundheitssysteme zu stärken und örtliche Besonderheiten einzubeziehen. Über die systemische Planung der Gesundheitspolitik hinaus müssen wir auch externe Faktoren berücksichtigen, zum Beispiel die planetare Gesundheit, ökologische Systeme und die Umweltbedingungen, die einen Einfluss auf die menschliche Gesundheit haben. Auch Unternehmen bzw. deren Verhaltensweisen sind in diesem Zusammenhang zu berücksichtigen. Mit anderen Worten: wir müssen unser Denken vernetzen und die globale Gesundheit als ein ganzheitliches System mit entsprechenden Funktionen und Mechanismen verstehen. C: Verlangt diese Methode eine stärkere Zentralisierung

auf der politischen Ebene, um der Fragmentierung internationaler Governance zu entkommen?

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GWB: Das ist ein Weg, aber man könnte auch ein System mit mehreren Ebenen wechselseitig operierender Mechanismen der Verantwortlichkeit schaffen. Viele Wege führen nach Rom. Man darf nur nicht versuchen, staatliche Strukturen in die Dimension einer globalen Ordnung hinein zu kopieren. Staaten und die internationale Staatengemeinschaft gehorchen unterschiedlichen Prinzipien. Wichtig ist: man muss umsichtig vorgehen und kreativ. Vielleicht stellt sich am Ende heraus, dass die WHO -Bausteine völlig ungeeignet für das von uns erstellte Modell sind – in welchem Fall wir uns etwas Neues einfallen lassen müssten. Montaigne sagte zur Idee des Wandels bereits im 16. Jahrhundert sinngemäß: Wir müssen zunächst erkennen, dass das, was wir tun, schlecht ist – und dass wir es besser machen wollen. Mein Verdacht ist jedoch, dass die internationale Staatengemeinschaft sich mit einer Verbesserung des Systems zur Überwachung von Pandemien begnügen wird. Einzelne Staaten werden die Qualität ihrer nationalen Sicherheitsmaßnahmen erhöhen und Notlager für lebenswichtige Güter anlegen. Das ist besser als nichts, aber noch lange nicht genug. Wie in der Vergangenheit wird man nach billigen Lösungen suchen und, wo dies möglich ist, eine marktbasierte Finanzierung anstreben. Kurzatmige Halblösungen eignen sich jedoch nur schlecht zur Bewältigung langfristiger Probleme. Die Weltbevölkerung nähert sich der Marke von 10 Milliarden Menschen. Je mehr Menschen sich auf dem Erdball tummeln, desto größer die Gefahr, dass Epidemien zu Pandemien eskalieren. Die Natur verfügt über gnadenlos effiziente Methoden zur Umgehung aller von uns

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entwickelten Gegenmaßnahmen. Deswegen müssen wir unsere Maßnahmen so robust wie möglich gestalten. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis Viren mutieren und sich an veränderte äußere Umstände anpassen. Viren kümmern sich nicht um Grenzen zwischen Staaten, nicht um Selbstwertgefühle, nicht um Geld, nicht um politische Macht. Diese Pathogene sind auf ein einziges Ziel hin programmiert: Reproduktion. Und dafür brauchen sie Wirtszellen. C: Eine grundlegende Reform des weltweiten Gesundheitssystems erfordert einen entsprechenden politischen Willen. Schon bei der Einführung eines einheitlichen Gesundheitssystems auf europäischer Ebene ist man aber bislang nicht über die Phase unverbindlicher Diskussionen hinausgekommen, wohl auch, weil man den Widerstand vieler Bürger fürchtet. Glauben Sie, dass Ereignisse wie die aktuelle COVID -Krise die Bereitschaft der Menschen verstärkt, sich selbst und uns alle als Angehörige einer globalen Gemeinschaft zu begreifen – und die Gesundheit von Menschen auf der anderen Seite der Welt als persönliches Anliegen? GWB: Spontan würde ich sagen: nein. COVID -19 ist

keine metaphysische Kraft zum Aufbau internationaler Solidarität im Sinne moralischer Pflichten, die sich allein in unserer geteilten Menschlichkeit begründen. COVID -19 hat aber sehr wohl demonstriert, dass unser eigenes Wohlergehen in mancher Hinsicht eng mit dem Wohlergehen anderer verknüpft ist. Hieraus könnte sich dann eines Tages so etwas wie Solidarität entwickeln. 239

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Dies wäre ein Prozess der allmählichen Einsicht, motiviert durch unser Eigeninteresse. Auf diese Weise kann COVID -19 uns den Sinn für gemeinsame Ziele und Interessen schärfen und zur Bildung von Solidarität führen. Ob das heißt, dass wir uns demnächst alle als Weltbürger verstehen im metaphysischen Sinne von Immanuel Kant oder den stoischen Philosophen ist eine andere Frage. Ich habe da so meine Zweifel, dass das in naher Zukunft geschehen wird. Die physischen und gesellschaftlichen Auswirkungen von COVID -19 könnten allerdings auf einer rein praktischen und funktionalen Ebene die Voraussetzungen für eine intensivere globale Zusammenarbeit schaffen. Hieraus kann sich eine stärkere Identifikation als Bewohner in einer gemeinsamen Welt und eine Beziehung gegenseitiger Solidarität entwickeln. Das ist schließlich genau die Entwicklung, die sich vor vielen Jahren auf der Ebene der Nationalstaaten vollzogen hat. Die Menschen erkannten den Zusammenhang ihrer verschiedenen Eigeninteressen und forderten die Bildung von Institutionen zur Abbildung und Förderung dieser gemeinsamen Interessen. Die Geschichte ist voll von Beispielen, in denen verschiedene Gemeinschaften sich zu größeren Gesellschaften zusammenschließen. Ich halte es daher nicht für ausgeschlossen, dass sich diese Prozesse auf globaler Ebene wiederholen können. Die persönliche und gemeinschaftliche Motivation für die Schaffung eines umfassenderen, globaleren Konzeptes der Gemeinschaft durch COVID -19 wird oft als Weltrisikogesellschaft bezeichnet. Diese Idee geht auf den deutschen Soziologen Ulrich Beck zurück. Beck zufolge begünstigen existenzielle Bedrohungen der 240

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Menschheit – und COVID -19 ist eine – die Entstehung eines Bewusstseins gemeinsamer Risiken, die ihrerseits die Entwicklungen geteilter, kosmopolitischer Identitäten vorantreiben können. Beck bemühte sich stets um die gegenseitige Berücksichtigung von Erkenntnissen aus Geschichts- und Sozialwissenschaften. Das bekannteste von ihm zitierte Beispiel ist die Entstehung der Vereinten Nationen, die, so Beck, ohne den Zweiten Weltkrieg und den Holocaust nicht möglich gewesen wären. Globale Solidarität habe sich erst im Schatten des globalen Risikos eines totalen, alles vernichtenden Kriegs entwickelt. Viele unserer internationalen Gesetze wie zum Beispiel die Genfer Konvention verdanken ihre Schaffung diesen schrecklichen menschlichen Tragödien. Beck war der Meinung, dass der Klimawandel sich als nächstes Risiko dieser Größenordnung erweisen und die Bildung einer Weltrisikogesellschaft sowie die Entwicklung kosmopolitischer Identitäten beschleunigen könne. Ich persönlich halte diese Einschätzung für falsch. Der Klimawandel vollzieht sich über einen zu langen Zeitraum. Es fehlt das Element der unmittelbaren Bedrohung. Der Klimawandel erreicht nicht dieselbe Bewusstseinsebene wie das COVID -19-Virus, das jeden von uns betrifft – es wird geschätzt, dass zeitweise die Hälfte aller Menschen der Welt im Lockdown waren. Mit anderen Worten: Die Risiken von COVID -19 sind spürbar, sie gehören zu unseren täglichen Erfahrungen, und wir verstehen alle, was für uns auf dem Spiel steht – unsere soziale Existenz, unser körperliches Wohlbefinden, unsere Arbeitsplätze, unser materieller 241

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Wohlstand – und was unserer Gesellschaft droht, von der Massenarbeitslosigkeit bis hin zum Anstieg von häuslicher Gewalt. Die Krise geschieht heute, nicht morgen, und wir sind in Echtzeit mittendrin. Ich glaube, dieses »Mittendrin-Sein« ist ein wichtiges psychologisches Element der Reise vom Ich zum Wir, zu Gefühlen der Gemeinsamkeit, zum Verständnis einer geteilten Geschichte, zur Entstehung gemeinsamer Werte, zu Solidarität und zu Kooperation. Wenn irgendein Ereignis die Chance zur Schaffung einer globalen Risikogesellschaft und einer »solidarischeren« Zukunft hat, dann ist es dieses hier. COVID -19 hat das Zeug, uns zum Überdenken unserer gesellschaftlichen Grundwerte zu bewegen. Hegel sagt: »Die Eule der Minerva beginnt ihren Flug erst mit der einbrechenden Dämmerung« – wir brauchen einen gewissen Abstand von den Dingen, um sie korrekt zu analysieren. Die meisten Leute fassen dieses Zitat von Hegel eher negativ auf, aber ich glaube, dass unser Horizont sich bereits zu verdunkeln begonnen hat und dass die Eule – ein Symbol der Weisheit – ihre Schwingen nun ausbreiten kann – nicht weil dies das Ende des einen Tages ist, sondern der Übergang zum Beginn des nächsten. Hoffen wir, dass wir alle aus dieser Periode der Dunkelheit die richtigen Schlussfolgerungen ziehen.

Anmerkung der Herausgeberin 1 Zum Zeitpunkt der Publikation scheint es sehr wahrscheinlich, dass die USA unter dem neuen Präsidenten Joe Biden der WHO wieder beitreten wird.

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COVID-19 und das Robert Koch-Institut: Rahmenbedingungen und Grundsätzliches zur Bekämpfung einer Pandemie in Deutschland Zusammenfassung Die aktuelle COVID -19-Pandemie zeigt eindrücklich, dass eine Pandemie weit über eine reine Gesundheitskrise hinausgehen kann, da sie zusätzlich weitreichende ökonomische, ökologische und gesellschaftspolitische Auswirkungen hat. Die aktuelle internationale Gesundheitskrise beweist zudem, dass die Warnungen vieler Wissenschaftler und Verantwortungsträger vor den Auswirkungen dieser Pandemie mit einem hochkontagiösen Infektionserreger berechtigt waren. Auch stimmt die Einschätzung, dass viele Länder nicht adäquat auf Pandemien vorbereitet sind und das schwächste Glied in der Kette den Erfolg der anderen Länder mitbestimmt.1 Diese Tatsachen – gepaart mit der Vorhersage, dass es nicht die letzte Pandemie gewesen sein wird – fordern von allen Ländern neben einer klaren Strategie zur Bekämpfung der aktuellen Pandemie eine strategische und nachhaltige Vorbereitung auf zukünftige Pandemien. Unbestritten ist ein hinreichend ausgestattetes Gesundheitssystem für eine erfolgreiche Bekämpfung erforderlich. Aber es ist leider nicht jedem bewusst, dass dies neben der ambulanten und stationären Krankenversorgung vor allem den Bereich der 243

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blic Health-Kapazität betrifft. Dazu gehört u.!a. der Öffentliche Gesundheitsdienst, ohne den die Eindämmung einer Pandemie nicht möglich ist. Folgerichtig muss dem Bereich Public Health endlich die verdiente Aufmerksamkeit und Wertschätzung geschenkt werden, und zwar durch hinreichende personelle und finanzielle Untermauerung. Weiterhin gehören eine gute Staatsführung (Governance) und eine gebildete und resiliente Bevölkerung zur Basis einer erfolgreichen Pandemiebekämpfung. Deshalb ist es wichtig, zukünftig die Bevölkerung in Form verschiedener Interessengruppen ebenfalls in transdisziplinären Forschungsvorhaben an nationalen Forschungsagenden zu beteiligen. Aufgrund der großen gesamtgesellschaftlichen Auswirkungen von Pandemien reicht die wissenschaftliche Einbeziehung verschiedener Disziplinen (Interdisziplinarität) alleine tatsächlich nicht aus.

Einleitung Dieser Beitrag bietet eine Übersicht gesetzlicher, institutioneller und fachlicher Rahmenbedingungen sowie Strategien zur Bewältigung einer Pandemie in Deutschland, er stellt die Bekämpfungsstrategie jedoch nicht im Detail dar. Explizit muss betont werden, dass ohne ein entsprechendes Bildungsniveau und eine Umsetzungsfähigkeit der Bevölkerung (Empowerment) sowie eine gute Governance der jeweiligen Staatsführungen auch gute fachliche und institutionelle Voraussetzungen keine Garantie sind für eine adäquate Bewältigung. Ohne Vertrauen in die handelnden Akteure gelingt die 244

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Eindämmung einer Pandemie nur bedingt. Eine Voraussetzung für derartiges Vertrauen sind neben fachlicher Expertise und hinreichender Ressourcen Forschungsagenden von Nationen, in denen über die Integration verschiedener Disziplinen hinweg (Interdisziplinarität, also die Kombination verschiedener Wissenschaftsdisziplinen) eine Transdisziplinarität gelebt wird, also der zusätzliche Einbezug von Interessengruppen (Stakeholder) in die jeweiligen Forschungsprozesse. Transdisziplinarität ist eine conditio sine qua non insbesondere für eine erfolgreiche Nachhaltigkeits- und Resilienzforschung.2 Daher ist Transdisziplinarität neben fachlicher, infrastruktureller und pekuniärer Ressource die entscheidende Voraussetzung für die Bewältigung dieses gesellschaftlich derart einschneidenden Ereignisses. In Deutschland wird dieser Ansatz im Bereich der Infektionsforschung aktuell lediglich vom Forschungskonsortium »InfectControl2020«3 konzeptionell gelebt. Dem Anspruch der Transdisziplinarität trägt ebenfalls das »Zukunftsforum Public Health«4 Rechnung, welches vor wenigen Jahren auf Initiative u.!a. des Robert Koch-Instituts gegründet wurde. In diesem Beitrag wird nicht auf den Einfluss von Fake News und Verschwörungstheorien eingegangen, ebenso wenig auf die Problematik der Infodemics, also der Überflutung mit Informationen. Aber klar ist: Diese Komponenten beeinflussen den Erfolg der Pandemieeindämmung stark. Was sind die Erfolgsrezepte für eine optimale Pandemiebekämpfung? Da steht ganz oben eine klare Strategie, deren Ziel es ist, die Gesundheit und das Leben möglichst vieler Menschen zu schützen. Diese Strategie ist mit dem Influenza-Pandemieplan5 gegeben, 245

LOTHAR H. WIELER

der als Grundlage auch zur Bekämpfung der COVID 19-Pandemie dient. Dieser Plan fußt auf drei Säulen: der Eindämmung (Containment), dem Schutz (Protection) und der Milderung (Mitigation). Jedoch müssen diese drei Säulen nicht nur von den drei Bereichen des Gesundheitssystems (Öffentlicher Gesundheitsdienst, ambulante und stationäre Versorgung) bewältigt werden, sondern es ist zusätzlich eine gesamtgesellschaftliche solidarische Anstrengung vonnöten. Auf Regierungsebene wird in diesem Zusammenhang der Begriff des whole-of-government-Ansatzes genutzt.6 Da eine Pandemie viele Bereiche der Gesellschaft betrifft, ist die koordinierte Zusammenarbeit mehrerer Ministerien, öffentlicher Verwaltungen und öffentlicher Institutionen erforderlich, denn nur so ist sie gemeinsam zu meistern. Diese Zusammenhänge sind anschaulich im »Rahmenkonzept mit Hinweisen für medizinisches Fachpersonal und den Öffentlichen Gesundheitsdienst in Deutschland«7 beschrieben.

Rahmenbedingungen der Pandemie-Bekämpfung Was ist überhaupt eine Pandemie? Sie wird als eine Epidemie definiert, »die sich über ein sehr weites Gebiet erstreckt, internationale Grenzen überschreitet und in der Regel eine große Zahl von Menschen betrifft«.8 Für das Management einer Pandemie ist also nicht nur die Resilienz eines nationalen Gesundheitssystems und seiner lokalen Behörden entscheidend, sondern auch die internationalen Kommunikationswege und supranational entwickelte Handlungsstrategien, wie der seit 246

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den 1990er Jahren durch die WHO entwickelte und fortlaufend adaptierte Plan für das Risikomanagement einer globalen Influenza-Pandemie.9 Die zentrale globale Rahmenvereinbarung zur Verhinderung und zum Management von Infektionsepidemien sind die Internationalen Gesundheitsvorschriften (IGV ),10 deren aktuelle Fassung 2005 von der jährlich stattfindenden World Health Assembly (WHA) der WHO ratifiziert wurde. Somit bestehen klare Rahmenbedingungen für nationale Vorbereitungen inklusive von Pandemieplänen. Die Dynamik der Ausbreitung von Infektionskrankheiten durch Bevölkerungswachstum, Urbanisierung, Alterung, Migration, internationale Handels- und Reiseverbindungen, Flugverkehr und die Adaptation von Mikroorganismen nimmt weltweit zu.11 Ausbrüche der jüngeren Vergangenheit wie SARS 2003, Influenza 2009, EHEC 2011, MERS CoV 2012 oder Ebola 2014/15 zeigen die unterschiedliche Resilienz von Gesundheitssystemen, die auf Prävention und Preparedness basiert, d.!h. der Vorbereitung und Einsatzbereitschaft von Menschen, Ressourcen und Maßnahmen. Die »stille« Pandemie der Antibiotika-resistenten bakteriellen Infektionserreger darf hier nicht unerwähnt bleiben, denn sie steht in der Regel nur bei akuten Ausbrüchen im Fokus, tatsächlich aber stellt sie eine enorme und kontinuierlich zunehmende Krankheitslast (burden of disease) dar.12 Wir haben in den letzten Jahrzehnten immer wieder erleben müssen, dass die Bekämpfung von Epidemien initial auf rein biomedizinische Maßnahmen fokussierte, obwohl die Umsetzung von Maßnahmen ja nur gelingen kann, wenn die Betroffenen, also die Bevölke247

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rung des jeweiligen Landes oder der jeweiligen Region, diese verstehen und akzeptieren. Daher sind zusätzlich insbesondere die Sozial- und Verhaltenswissenschaften einzubeziehen. Ein zentraler Aspekt ist auch die immense Herausforderung der Risikokommunikation. Diese Wissenschaftsbereiche sollten daher ebenfalls intensiv gefördert und ausgebaut werden, denn nur wenn es gelingt, Schutzmaßnahmen im gesamtgesellschaftlichen Kontext plausibel zu begründen und zu vermitteln, kann eine Pandemie bewältigt werden. Ein Hinweis zum deutschen Gesundheitssystem: hinlänglich wahrgenommen werden die beiden Säulen der ambulanten und stationären Versorgung. Diese sind sehr gut ausgestattet und setzen in Deutschland mittlerweile weit über 300 Milliarden Euro pro Jahr um. Hingegen fand die dritte Säule, der Öffentliche Gesundheitsdienst, vor der COVID -19-Pandemie wenig Beachtung, sowohl in der medialen Berichterstattung als auch in medizinischen Fachkreisen. Die fundamentale Bedeutung des Öffentlichen Gesundheitsdienstes, dessen Expertise ja weit mehr Facetten umfasst als nur den Infektionsschutz, wird im Rahmen der aktuellen COVID -19-Pandemie jedoch wie im Brennglas sichtbar. Ohne die generischen Maßnahmen des Infektionsschutzes – Prävention durch Selbstschutz, Hygiene, Quarantäne und Isolierung – stünde unser Land in der COVID -19-Pandemie, bei aktuell fehlender Immunität der Bevölkerung gegen SARS -CoV2 und bis Weihnachten 2020 fehlendem Impfstoff und spezifischer Therapie, deutlich schlechter da. Kontaktnachverfolgung, Quarantäne (Absonderung von Ansteckungsverdächtigen) und Isolierung (Absonderung von Infizierten und 248

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Erkrankten) sind die universelle Basis der Bekämpfung von Epidemien, denn Infizierte und Ansteckungsverdächtige, die eben keine weiteren Kontakte ausüben, sind in Quarantäne sowie Isolierung kein Ansteckungsrisiko für weitere Personen. Nur aufgrund dieser Werkzeuge werden auch zukünftige Ausbrüche effizient unterbunden, sie sind neben dem verantwortungsvollen Verhalten unserer Mitbürgerinnen und Mitbürger (Abstand halten, Hygieneregeln beachten, Alltagsmasken tragen) in dieser von einem Atemwegserreger hervorgerufenen Pandemie die Basis des Erfolges. Krisenerfahrungen lassen weiterhin stets die zentrale Bedeutung der Überwachung (Surveillance) sichtbar werden und machen die Wichtigkeit digitaler Anwendungen klar.13 Dazu gehört, dass Schwellenwerte für Ausbruchssignale festgelegt und Signale bewertet werden sowie niedrigschwellig eine standardisierte Risikobewertung durchgeführt wird. Im klassischen Sinne handelt es sich um eine kontinuierliche Lagebewertung, die desto fundierter ist, je exakter die entscheidenden Indikatoren bewertet werden können. Ist eine epidemiologische Lage eingetreten, werden zu ihrer Bewältigung Krisenstrukturen aktiviert, Aufgaben priorisiert und Risikobewertungen repetitiv durchgeführt. Auf der Grundlage zu identifizierender und zu generierender Evidenz müssen Empfehlungen erarbeitet und zielgruppenspezifisch kommuniziert, Infektionsschutzmaßnahmen ggf. angepasst und implementiert und die Gewährleistung der medizinischen Versorgung überwacht werden. Die Lagebewertung einer Pandemie mittels Surveillance umfasst drei Bereiche. Zum einen die Dynamik 249

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der Infektionen, hier werden üblicherweise Meldezahlen genutzt, mit denen Inzidenzen erfasst und berechnet werden können. In der aktuellen Pandemie hat sich z.!B. die 7-Tage-Inzidenz von 50/100.000 als Schwellenwert etabliert, der weltweit genutzt wird. Weiterhin ist der Infektionsverlauf z.!B. durch den effektiven R-Wert gekennzeichnet, einen Schätzwert, wie viele Personen durchschnittlich von einem Infizierten angesteckt werden. Dieser Wert schwankt stark in Abhängigkeit von den biologischen Eigenschaften des Erregers (Kontagiosität, Infektiosität), aber ebenso hängt er ab vom Verhalten der Menschen: bei der aktuellen COVID -19-Pandemie steht die Übertragung über die Ausatmung von Tröpfchen und Aerosolen im Zentrum. Daher sind enge Zusammenkünfte über längere Zeiträume für das SARS -CoV2 eine ideale Möglichkeit, von Infizierten auf andere Personen übertragen zu werden. Diese epidemiologischen Daten kann man auf einzelne geographische Bereiche, Lebensbereiche und bestimmte Personengruppen getrennt beziehen, je nachdem welche Informationen unter Wahrung des Datenschutzes und der Praktikabilität erhoben werden. Die Daten sind von ungeheurer Wichtigkeit, erlauben sie doch bei einheitlichen Falldefinitionen den Vergleich zwischen verschiedenen Ländern und Regionen weltweit. Weiterhin sollte die diagnostische Testung einbezogen werden. Hier spielt die Teststrategie der jeweiligen geographischen Region eine Rolle und natürlich auch, in Abhängigkeit von dieser Teststrategie, die Positivenrate. So gibt die WHO einen Schwellenwert von 5 Prozent Positivenrate als einen Schätzwert an, ab dem einzelne Länder das öffentliche Leben wieder normalisieren könnten, 250

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allerdings unter der Voraussetzung, dass dieser Wert mindestens zwei Wochen lang unterschritten wurde. Aus der Summe der genannten Informationen ergeben sich Hinweise darauf, ob z.!B. das Infektionsgeschehen in Ausbrüchen stattfindet oder ob es eine sogenannte Community-Transmission gibt, also eine Ausbreitung, die nicht mehr nachvollzogen werden kann. Der zweite wesentliche Aspekt ist die Krankheitsschwere. Hier sind sowohl Manifestationsindex (Zahl jener Infizierten, die erkranken) als auch die Schwere der Erkrankung, die Langzeitfolgen der Infektionen bis hin zur Letalität wichtige Kennzahlen. Ebenso ist wichtig, jene Bevölkerungsgruppen zu erfassen, die ein besonderes Risiko für schwere Krankheitsverläufe tragen.14 Die Krankheitsschwere ist zu Beginn einer Pandemie nur dann gut zu erfassen, wenn das entsprechende Land eine aussagefähige Surveillance etabliert hat. In Deutschland ist dies dadurch gegeben, dass das RKI – neben den gesetzlich definierten amtlichen Meldungen von Fallzahlen samt verschiedener Metadaten zu den einzelnen Fällen – über Jahre hinweg mehrere Werkzeuge für die syndromische Surveillance etabliert hat, mit welcher die Krankheitsschwere von Atemwegsinfektionen unter besonderer Betrachtung von Lungenentzündungen mit schwerem Verlauf in Echtzeit analysiert werden kann. Hierbei handelt es sich zum einen um ein Citizen-Science-Projekt (GrippeWeb), zum anderen um ICOSARI , ein Survey, der schwere Pneumonien im Krankenhaus erfasst. Weiterhin analysiert die Arbeitsgemeinschaft Influenza im Rahmen eines Sentinels das Vorkommen und die Typisierung von viralen Atemwegserregern. Alle Werkzeuge der Surveillance sind zu251

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sammenfassend dargestellt auf der RKI -Webseite sowie in einem kürzlich erschienenen Beitrag.15 Im Rahmen der COVID -19-Pandemie wurden weitere Werkzeuge etabliert.16 Als dritter Bereich ist die Kapazität der drei vorstehend genannten Säulen des Gesundheitssystems zu sehen. Ist einer der Bereiche überlastet, kann die Pandemie nicht mehr vollumfänglich kontrolliert werden. Sobald die Gesundheitsämter Infektketten nicht mehr vollständig nachvollziehen können, wird es neue Ausbrüche geben, und im Falle der COVID -19-Pandemie stellen aufgrund des Manifestationsorgans Lunge neben den Intensiv- insbesondere die Beatmungskapazitäten eine wichtige Größe dar.17 Wichtig zu verstehen ist aber, dass die überwiegende Zahl der COVID -19-Patienten im ambulanten bzw. stationären Bereich außerhalb der Intensivstationen behandelt wird, weshalb eine Fokussierung auf die Intensivstationen zu kurz greift. Wie bereits erwähnt, findet sich eine Zusammenfassung der entsprechenden Aktivitäten in einem Rahmenkonzept, welches unter Federführung des RKI erarbeitet wurde.18 Der Verlauf einer Epidemie oder Pandemie wird in vier Phasen unterteilt. Diese lassen sich nicht strikt voneinander trennen, da die Entwicklung der Lage sehr dynamisch sein kann und die Übergänge fließend verlaufen. Maßnahmen werden entsprechend der jeweiligen Situation ergriffen und unterscheiden sich hinsichtlich des Angriffspunkts, der gewählten Strategie und des avisierten Ziels. Zunächst wird auf die Eindämmung von Ausbrüchen (Containment) und den Schutz vulnerabler Gruppen (Protection) fokussiert. Dieser 252

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kus wird während der gesamten Pandemie nicht außer Acht gelassen. Hält das Infektionsgeschehen an, werden Maßnahmen zur Folgenminimierung (Mitigation) ergriffen, durch die schwere Krankheitsverläufe und eine Überlastung der Krankenversorgungssysteme vermieden werden sollen. In der Erholungsphase (Recovery) können der Lage entsprechend Bestimmungen gelockert oder ausgesetzt werden, und die Ergebnisse einer Evaluation des gesamten Verlaufs fließen zykloid in Prävention und Preparedness für zukünftige Ausbruchsgeschehen ein.19 Ein gutes Zusammenwirken verschiedener lokaler bis höchster politischer Ebenen ist ebenfalls für eine effektive Bekämpfung von Infektionskrankheiten ausschlaggebend. Rechtsgrundlage sind in Deutschland das »Gesetz zur Verhütung und Bekämpfung von Infektionskrankheiten beim Menschen« (Infektionsschutzgesetz; I fSG),20 die Verwaltungsvorschrift zur I fSG -Koordinierung, die Internationalen Gesundheitsvorschriften (IGV )21 sowie das IGV-Durchführungsgesetz (IGVDG).22 Sollte der Katastrophenfall ausgerufen werden, sind das Grundgesetz mit Artikeln zum Spannungs- und Verteidigungsfall sowie zu Rechts- und Amtshilfe im Katastrophenfall und das Zivilschutzund Katastrophenhilfegesetz die Grundlage. Bei überregionalen Ausbruchsgeschehen ist in Deutschland das Robert Koch-Institut (RKI) als zentrale Forschungs- und Referenzeinrichtung für Infektionskrankheiten des Menschen im Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Gesundheit für die Lageeinschätzung, die Informationsverarbeitung sowie für Kommunikation, Analyse von Maßnahmen und 253

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nostischen Verfahren zuständig. Die Aufgaben des RKI auf dem Gebiet der Infektionskrankheiten werden im I fSG näher geregelt. Dem RKI wird hier die Rolle einer zentralen Bundeseinrichtung zugewiesen; In diesen Zusammenhang gehört auch das IGVDG . Als besonderer Aufgabenkreis wurde nach dem 11.  September 2001 und den Milzbrandanschlägen in den USA die Prävention, Erkennung und Schadensbegrenzung bei Angriffen oder Anschlägen mit biologischen Agenzien im bestehenden rechtlichen Rahmen etabliert. Zur Informationsverarbeitung gehören die Generierung, Erhebung, Analyse und Bewertung von Daten, Erarbeitung von Empfehlungen und – falls ein Amtshilfeersuchen gestellt wird – die Ausbruchsuntersuchung vor Ort. Kommunikation und Koordination verlaufen sowohl horizontal und vertikal als auch national und international. Für die Bewertung der komplexen Zusammenhänge bei Datenerhebung und Datenanalyse, die sich im Rahmen einer Pandemie ergeben, ist neben der hohen wissenschaftlichen Expertise am RKI auch die detaillierte Kenntnis der Umsetzungsstrukturen und rechtlichen Rahmenbedingungen von entscheidender Bedeutung. Zudem müssen die Empfehlungen praktikabel sein. Das RKI meldet die Daten zur Infektionsepidemiologie an die europäische Behörde, das European Center for Disease Control (ECDC), und an die Weltgesundheitsorganisation (WHO). Ein regelmäßiger Informationsaustausch erfolgt über die webbasierte Plattform EWRS (Early Warning and Response System), auf der ECDC , EU -Kommission sowie EU - und weitere Staaten des europäischen Wirtschaftsraums miteinander vernetzt sind. Zwischen den WHO -Ländern werden 254

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Informationen über die streng gesicherte Plattform EIS (Event Information Site) ausgetauscht, auf die die nationalen Ansprechpartner (National Focal Points) im Fall von IGV-relevanten Ereignissen zugreifen. Zusätzlich zu diesen offiziell vorgegebenen Informationswegen finden kontinuierlich Austausche auf nationaler und internationaler Ebene sowohl bi- als auch multilateral statt. Diese werden von der WHO oder von einzelnen nationalen Public-Health-Instituten wie dem RKI veranstaltet. Zur Überprüfung der Strukturen für die Durchsetzung der IGV empfiehlt die WHO die freiwillige Durchführung einer sogenannten Joint External Evaluation (JEE), und zwar zusätzlich zur jährlichen verpflichtenden Selbstauskunft zur Bewertung der Kapazitäten eines Landes, Gesundheitsrisiken vorzubeugen, diese zu erkennen und schnellstmöglich darauf zu reagieren. Deutschland hat sich im Jahr 2019 erstmals einer JEE unterzogen und sich von der WHO und externen Expertinnen und Experten aus anderen Ländern beraten lassen. Die vier Hauptkomponenten des IGV Monitoring und Evaluation Framework (MEF) der WHO sind die verpflichtenden jährlichen Fragen (SPAR), After Action Reviews (AAR), Simulationsübungen (SimEx) und die JEE .23 Das unter Federführung des RKI entwickelte Rahmenkonzept24 beinhaltet bereits Lehren aus der JEE . Eine weitere sehr erfolgreiche operative Struktur ist das bereits im Jahr 2000 gegründete Global Outbreak Alert & Response Network (GOARN ).25 das bei der WHO in Genf angesiedelt ist und als Netzwerk von mehr als 200 Partnerländern weltweit die Bekämpfung 255

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von Krankheitsausbrüchen unterstützt. Beteiligt sind unter anderem die US -amerikanischen Centers for Disease Control and Prevention, Public Health England, UNICEF, Ärzte ohne Grenzen sowie auch das RKI . Das RKI wurde 2019 zum weltweit ersten WHO Collaborating Centre for GOARN ernannt.26 Im Rahmen von GOARN werden auf Anfrage Mitarbeiter zu Auslandseinsätzen entsendet. Das RKI war in den letzten fünf Jahren an insgesamt 14 GOARN -Operationen mit über 100 Einsätzen beteiligt, fünf der Einsätze fanden im Rahmen der Eindämmung der COVID -19-Pandemie statt: dies waren Einsätze im Iran, auf den Philippinen (2!x), in Tadschikistan und in Turkmenistan (Stand: 15. November 2020). Darüber hinaus hat das RKI im Rahmen seiner weltweiten Kooperationen bei der COVID -19-Pandemie bislang mehr als 60 Länder mit Feldeinsätzen (Assessment oder Training), Diagnostik (Laborausrüstung, Diagnostikmaterial) sowie technischer Beratung unterstützt. Hier zahlt sich die intensive internationale Forschungstätigkeit der letzten Jahre aus, die durch das Global Health Protection Programme (GHPP) nochmals eine exzellente Erweiterung erfahren hat.27 Einen im Sinne von Empowerment und Capacity Building vergleichbaren Peer-to-Peer-Ansatz wie die JEE verfolgt die International Associaton of National Public Health Institutes (IANPHI). Diese Organisation von aktuell mehr als 100 nationalen Public HealthInstituten aus über 90 Ländern hat die Stärkung der globalen Kapazitäten im Bereich der öffentlichen Gesundheit zum Ziel.28 Auch hier ist das RKI als Gründungsmitglied von Beginn an vertreten. 256

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Lokale Behörden sind in einem Infektionsgeschehen als Teil des Öffentlichen Gesundheitsdienstes (ÖGD) unverzichtbar. Nur durch Erfassen und Weitergabe von Meldungen an die übergeordneten Behörden ist eine Risikoeinschätzung für die Bevölkerung möglich. Darüber hinaus haben die Gesundheitsämter die Aufgabe, die Eindämmung eines Ausbruchs durch Kontaktnachverfolgung zu erreichen. In der Bewältigung der aktuellen SARS -CoV-2-Pandemie wurde die zwingende Notwendigkeit der Stärkung des ÖGD deutlich. Kurzfristige Lösungen in Form personeller Unterstützung durch andere Behörden waren im Sinne einer intersektoriellen Gesundheitspolitik (Health through all policies) zu begrüßen, auch die durch das RKI per Ferntraining zu Containment Scouts ausgebildeten Studierenden der Medizin oder anderer Gesundheitswissenschaften stellen lediglich eine Interimslösung dar. Nach einem aktuellen Entwurf von Bund und Ländern ist ein »Pakt für den öffentlichen Gesundheitsdienst« vorgesehen, durch den vier Milliarden Euro des Bundes in den kommenden fünf Jahren in die Behörden fließen sollen.29 Allein 3,5 Milliarden Euro sollen für den Personalaufbau und die Steigerung der Attraktivität des Öffentlichen Gesundheitsdienstes (ÖGD) aufgewendet werden. Neben biomedizinischen und infektionsepidemiologischen Forschungsaktivitäten zum besseren Verständnis und zur Lösung medizinischer Aufgaben im Zusammenhang mit der Pandemie wird in vielen Bereichen des Gesundheitswesens auch in digitale Lösungen erfolgreich investiert. So hat z.!B. das RKI auf nationaler Ebene und in Kooperation mit Telekommunikationsan257

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bietern, Start-up-Unternehmen und Fachgesellschaften innerhalb kürzester Zeit die Corona-Datenspende-App, die Corona-Warn-App und das DIVI -Intensivregister entwickelt sowie anhand aggregierter anonymisierter Mobilfunkdaten Mobilitätsprofile der Bevölkerung erstellt (Stand: 15.  November 2020). Mit letzteren kann die Wirkung der Kontaktbeschränkungsmaßnahmen belegt werden.

Fazit Eine Pandemie, hervorgerufen durch einen über die Atemwege übertragbaren Erreger, gegen den die Weltbevölkerung keine Immunität besitzt, stellt bei entsprechender Krankheitslast eine immense gesamtgesellschaftliche Herausforderung dar. Diese Krise ist nicht nur eine Gesundheitskrise, sondern sie hat zusätzlich weitreichende ökonomische, ökologische und gesellschaftspolitische Auswirkungen. Dabei muss bedacht werden, das Ökonomie und Gesundheit zwei Seiten derselben Medaille sind, sie also nicht gegeneinander ausgespielt werden dürfen.30 Für unser Land wie für viele andere Länder auch stellt in der aktuellen Pandemie jedoch die Abwägung zwischen gesundheitlichem und wirtschaftlichem Wohlergehen in der SARS -CoV2-Pandemie eine große Herausforderung dar.31 Tatsächlich ist noch nicht abzusehen, wie groß die Belastung der sozialen und finanziellen Sicherungssysteme der Gesellschaft durch die Erkrankung COVID -19 im Vergleich zu Erkrankungen infolge der Schutzmaßnahmen ist; Kohortenstudien mit längerer 258

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dauer werden zeigen, wie sich die Einschränkungen des öffentlichen Lebens und physische Distanzierung zum Beispiel auf die mentale Gesundheit oder Entwicklung verschiedener Bevölkerungsgruppen auswirken. Erst wenn ein relevanter Teil der Weltbevölkerung – aktuell gehen wir von ca. zwei Drittel der Menschen aus – durch eine Impfung eine Immunität gegen das Virus ausgebildet hat, ist die COVID -19-Pandemie unter Kontrolle. Dieser Zustand wird in verschiedenen Regionen der Welt zu unterschiedlichen Zeiten erreicht sein. Je solidarischer die Weltgemeinschaft bei der Verteilung von Impfstoffen ist, desto kürzer werden die Zeiträume bis zum Erreichen einer ausreichenden Immunität zwischen einzelnen Ländern sein. Bezüglich Immunität gilt dasselbe wie bezüglich Preparedness: das schwächste Glied in der Kette bestimmt den Erfolg für alle. Daher sollte uns allen daran gelegen sein, jedes einzelne Land zu stärken. Health equity – Gesundheit als gleiches Recht für Alle. Das sollte unser aller Ziel sein.

Anmerkungen 1 Global Preparedness Monitoring Board, A World at Risk, Annual Report, September 2019, https://apps.who.int/gpmb/as sets/annual_report/GPMB_annualreport_2019.pdf, abgerufen am 12.!1.!2021; https://www.ghsindex.org, abgerufen am 12.!1.!2021; Deutscher Bundestag, Bericht zur Risikoanalyse im Bevölkerungsschutz 2012, Drucksache 17/12051, 3.!1.!2013, https://dipbt.bundestag.de/dip21/btd/17/120/1712051.pdf, abgerufen am 12.!1.!2021. 2 Carolina Adler, Gertrude Hirsch Hadorn, Thomas Breu, Urs Wiesmann und Christian Pohl, Conceptualizing the transfer of kowledge across cases in transdisciplinary Science, in: Sustainability Science 13, 2018, S. 179-190.

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  3 https://www.infectcontrol.de/de/, abgerufen am 12.!1.!2021.   4 https://zukunftsforum-public-health.de/, abgerufen am 12.!1. 2021.   5 Robert Koch-Institut, Nationaler Pandemieplan Teil I: Strukturen und Maßnahmen, 2.!3.!2017, https://www.gmkonline. de/documents/pandemieplan_teil-i_1510042222_1585228735. pdf, abgerufen am 12.!1.!2021; Robert Koch-Institut, Nationaler Pandemieplan Teil II: Wissenschaftliche Grundlagen, https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/I/Influenza/Pande mieplanung/Downloads/Pandemieplan_Teil_II_gesamt.pdf? __blob=publicationFile, abgerufen am 12.!1.!2021.   6 Tom Christensen und Per Lægreid, The Whole-of-Government Approach to Public Sector Reform, in: Public Administration Review 67, 2007, S. 1059–1066.   7 Robert Koch-Institut, Rahmenkonzept mit Hinweisen für medizinisches Fachpersonal und den öffentlichen Gesundheitsdienst in Deutschland, Oktober 2019, https://www.rki. de/DE/Content/Infekt/Preparedness_Response/Rahmenkon zept_Epidemische_bedeutsame_Lagen.pdf?__blob=publica tionFile, abgerufen am 12.!1.!2021.   8 Miquel Porta (Hg.), A Dictionary of Epidemiology. 6th ed., Oxford 2014.   9 World Health Organisation, Pandemic Influenza Risk Management, https://www.who.int/influenza/preparedness/pan demic/influenza_risk_management_update2017/en, abgerufen am 12.!1.!2021. 10 Gesetz!!!!zu!!!!den!!!!Internationalen!!!!Gesundheitsvorschriften (2005) (IGV ) vom 23.  Mai 2005, https://www.rki.de/DE/ Content/Infekt/IGV/Gesetz_IGV_de-en.pdf?__blob=pub licationFile, abgerufen am 12.!1.!2021. 11 Hans Heesterbeek et al., Modeling infectious disease dynamics in the complex landscape of global health, in: Science 347, 2015. 12 Alessandro Cassini, Burden of AMR Collaborative Group. Attributable deaths and disability-adjusted life-years caused by infections with antibiotic-resistant bacteria in the EU and the European Economic Area in 2015: a population-level modelling analysis. Lancet Infect Dis. 2019 Jan;19(1):56-66. doi: 10.1016/S1473-3099(18)30605-4. 13 Lothar H. Wieler, What is the Real Threat of Pandemics?, in: Crossing Boundaries in Science 2019; S.  125-136; doi: 10. 24395/01_0021.

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14 Andrew T. Levin et al., Assessing the age specificity of infection fatality rates for COVID -19: systematic review, metaanalysis, and public policy implications, in: European Journal of Epidemology 35, 2020, S. 1123-1138. 15 Lothar H. Wieler (Anm. 13). 16 https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Co ronavirus/nCoV.html, abgerufen am 12.!1.!2021. 17 https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Co ronavirus/Intensivregister.html, abgerufen am 12.!1.!2021. 18 Robert Koch-Institut (Anm. 7). 19 Robert Koch-Institut, Nationaler Pandemieplan Teil I (Anm. 5). 20 http://www.gesetze-im-internet.de/ifsg/index.html, abgerufen am 12.!1.!2021. 21 Gesetz!!!!zu!!!!den!!!!Internationalen!!!!Gesundheitsvorschriften (Anm. 10). 22 http://www.gesetze-im-internet.de/igv-dg/,!!!!abgerufen!!!!am 12.!1.!2021. 23 Joint External Evaluation. https://www.rki.de/DE/Content/ Infekt/IGV/JEE.html, abgerufen am 12.!1.!2021. 24 Robert Koch-Institut (Anm. 7). 25 https://extranet.who.int/goarn/, abgerufen am 12.!1.!2021. 26 https://www.rki.de/DE/Content/Institut/WHOCC/WHO _CC_GOARN_inhalt.html, abgerufen am 12.!1.!2021. 27 Global Health Protection Programme, https://ghpp.de/de/, abgerufen am 12.!1.!2021. 28 IANPHI , https://www.ianphi.org/, abgerufen am 12.!1.!2021. 29 https://www.bundesgesundheitsministerium.de/service/be griffe-von-a-z/o/oeffentlicher-gesundheitsheitsdienst-pakt. html, abgerufen am 12.!1.!2021. 30 Florian Dorn et al., Das gemeinsame Interesse von Gesundheit und Wirtschaft: Eine Szenarienrechnung zur Eindämmung der Corona-Pandemie, ifo Schnelldienst Digital, 2020, 1, Nr. 06 31 Juliet Bedford et al., Living with the COVID -19 pandemic: act now with the tools we have, Comment, in: The Lancet 396,!!!2020,!!!https://doi.org/10.1016/S0140-6736(20)32117-6, abgerufen am 12.!1.!2021.

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Corona als globale Epochenzäsur? Historische Annäherungen

Wie wird »Corona« irgendwann gewesen sein?1 Was man in der Zeitform des Futur Zwei so ausdrückt, verweist auf das Grundproblem, was einen Erfahrungsumbruch oder gar eine epochale Schwelle auszeichnet und wie historische Zäsuren aus der Logik der Rückschau entstehen: nämlich im nachgelagerten Blick auf mittelund langfristige Konsequenzen. Dazu benötigen Historiker in der Regel längere Erfahrungsdistanzen. Das Ancien Régime als Epochenbegriff und analytische Kategorie der Zeit vor der Französischen Revolution entstand eben nicht im Jahr 1789, sondern erst aus dem Blick skeptischer Zeitgenossen des 19.  Jahrhunderts. Der französische Schriftsteller Alexis de Tocqueville und der Schweizer Historiker Jacob Burckhardt waren sich jedenfalls darin einig, dass auch ihre eigene Gegenwart in den 1840er, 1850er oder 1870er Jahren noch zu jenem Revolutionszeitalter gehörte, das mit den Ereignissen 1789 allenfalls eingesetzt hatte, aber weit über dieses Jahr und andere Schwellendaten wie 1799 oder 1815 hinauswies. Der strukturelle Wandel ließ sich nicht durch chronologische Markierungen bezwingen, die eine Klarheit des Vorher und Nachher suggerierten, der sich die Revolution als Prozess mit vielen ungleichzeitigen Ausläufern entzog. 263

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So steht jede Prognose, ohnehin nicht die Domäne des Historikers, unter dem Vorbehalt der mehr oder minder plausiblen Spekulation, formuliert unter den Bedingungen andauernder Unsicherheit. Im Moment der noch unabsehbaren Krise über die Wirkung einer weltweiten Pandemie als historische Zäsur nachzudenken, ist reizvoll, aber das heuristische wie hermeneutische Eis ist und bleibt dünn. Dennoch gibt es aus der historischen Perspektive zumindest einige vorläufige Beobachtungen, die helfen mögen, manches an dieser unübersichtlichen Gegenwart besser einzuordnen. Dabei gibt es keine historischen Blaupausen für Krisenbewältigung in der Gegenwart. Eher dienen die historischen Sehepunkte einer produktiven Verfremdung. Der explorative Modus der Erkenntnis in der Krise ist nicht das Besserwissen, sondern das Mehrsehen. Aus dieser Perspektive sind die folgenden symptomatischen Beobachtungen des Historikers formuliert.

1. Thematische Analogie: Pandemie und Krieg Pandemien mit Kriegen und Revolutionen, jedenfalls mit historischen Krisen zu vergleichen, liegt im Moment der akuten Bedrohung und des Ausnahmezustands von Gesellschaften nahe. Und tatsächlich dominierten in den ersten politischen Reaktionen auf die Corona-Krise zunächst verdächtig häufig Kriegsmetaphern. Und doch nivellieren solche Vergleiche die erheblichen Unterschiede zwischen Krieg und Pandemie. Denn Kriege entstehen letztlich als Ergebnisse konkreter politischer Entscheidungsprozesse in menschlichen 264

CORONA ALS GLOBALE EPOCHENZ ÄSUR?

Gesellschaften, denen sich das Virus entzieht. Erst in der Zuschreibung durch Menschen erhält das Virus ein spezifisches Feindbild, das bis zur Ethnisierung reicht, etwa in der Zuschreibung von vermeintlicher Verantwortung bestimmter Länder für die Ausbreitung und Ansteckung.

2. Chronologische Analogie: Corona und die Spanische Grippe von 1918/19 Häufig wird in der derzeitigen Diskussion auf die Erfahrung der Spanischen Grippe am Ende des Ersten Weltkriegs verwiesen. Doch die Unterschiede zwischen dem historischen Ereignis und der Gegenwart sind aufschlussreich.2 Die Grippepandemie am Ende des Ersten Weltkrieges hatte zunächst Afrika, Asien, die Vereinigten Staaten und Lateinamerika heimgesucht, bevor sie schließlich am Ende des Weltkrieges nach Europa gelangte. Die hohen Opferzahlen offenbarten vielerorts das Ausmaß der Erschöpfung der Menschen in den unmittelbar und mittelbar von über vier Jahren Krieg betroffenen Gesellschaften. Weil im neutralen Spanien die Zeitungen weitgehend unzensiert über die Auswirkungen der Grippe berichten konnten, erhielt die Pandemie den Namen »Spanische Grippe«. Über wirksame Mittel gegen die Erkrankung und vor allem die mit ihr häufig einhergehende Lungenentzündung verfügte man nicht. Ihr Haupterreger, das H1N1-Virus, sollte erst in den 1990er Jahren nachgewiesen werden. Auch für 1918/19 gilt, dass sich das welthistorische Ereignis der Spanischen Grippe erst im Rückblick 265

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schloss. Dass die Pandemie am Ende mehr Opfer forderte als der Krieg an militärischen und zivilen Opfern zusammen, blieb im Moment der akuten Krise 1918/19 unbekannt. Das spiegelte einen im Vergleich zur Gegenwart völlig anderen globalen Kontext wider. Denn die Zeitgenossen vor 100 Jahren waren durch viele andere Umbrüche an den militärischen Fronten und in den Heimatgesellschaften ergriffen, seien es Kriegsende, Revolutionen oder aufkeimende Bürgerkriege in vielen Teilen Europas, sei es der Zerfall alter Imperien wie des Zarenreichs, der Habsburgermonarchie und des Osmanischen Reichs oder die Bildung neuer Staaten. Die während des Krieges immer wieder erhoffte Nachkriegsphase, die so häufig erträumte Zukunft, erschien in ihrer Offenheit nun doppelt verheißungsvoll und bedrohlich. So wurde die Spanische Grippe die Katastrophe im Schatten vieler parallel ablaufender Krisen, während sie gleichzeitig noch vor Waffenstillständen und Friedenskonferenzen einen unsichtbaren weltweiten Zusammenhang schuf, eine Globalität der Infektionsketten und Ansteckungsverläufe. Viele Menschen in den Kriegsgesellschaften erinnerte die Grippe zudem an eine Grunderfahrung der Soldaten im Krieg: an die permanente Todesnähe und die Zufälligkeit des Sterbens. Die Corona-Pandemie entstand seit Ende 2019 nicht vor dem Hintergrund eines globalen Krieges, der 1918/19 mit Ausbildungslagern, Lazaretten und weltweiten Truppentransporten dynamische Verbreitungsorte und epidemiologische Highways aufwies. Anders als heute gab es damals kaum geteiltes Expertenwissen, keine internationale Gesundheitsorganisation, keine stündlich aktualisierten und abrufbaren Daten über die 266

CORONA ALS GLOBALE EPOCHENZ ÄSUR?

Ausbreitung der Krankheit oder gar eine koordinierte Suche nach einem Impfstoff. Aber ähnlich wie 1918 legt die Pandemie auch jetzt die Mechanismen weltweiter Ströme und das Ausmaß internationaler Verflechtungen offen – daher der Fokus auf die globale Mobilität von Informationen und Kapital ebenso wie von Touristen und Wirtschaftsakteuren. In den ersten Infektionswellen mochte man die Pandemie gar als eine Krankheit omnimobiler Globalisierungsprofiteure ansehen, denen jedes Reiseverbot wie eine Einschränkung lange gewährter Grundfreiheiten vorkommen musste. Inzwischen hat sich gezeigt, darin der Spanischen Grippe wiederum ähnlich, wie stark von der Pandemie gerade die sozial Schwächeren betroffen sind. Wie 1919 offenbart Corona eine eigene soziale Hierarchie der Opfer.

3. Post-Corona: »translatio imperii«? Was bedeutet die Corona-Pandemie für die Weltordnung der Gegenwart? Handelt es sich um einen Anlass, einen Katalysator von Prozessen, deren Ursprünge vor Ausbruch der Pandemie liegen, oder stellt die Pandemie eine neuartige Ursache für eine qualitative Veränderung der geopolitischen Konstellation in unserer Gegenwart dar, gar eine translatio imperii, also die Ablösung eines Weltreichs durch ein anderes, oder jedenfalls den Auftakt zu einer globalen Neuaustarierung von Machtverhältnissen? Die Bildung von Großreichen, ihre Machtsicherung und Erosion sowie die translatio imperii als Ablösungskrisen charakterisieren historische Prozesse seit 267

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Jahrtausenden. Globale Auf- und Abstiege und damit verknüpfte Allianzwechsel sind der Normalfall der Geschichte. Aus der Krise des Römischen Reiches, der Teilung zwischen West- und Ostrom, entstanden konkurrierende imperiale Ideen in Rom und Konstantinopel, seit dem 15.  Jahrhundert und der Übernahme Ostroms durch die Muslime ergänzt um die Translation des oströmischen Erbes nach Moskau bzw. St. Petersburg, wo sich die Vorstellung eines »Dritten Rom« entwickeln konnte. Die Verdrängung Schwedens als nordosteuropäische Imperialmacht durch das Russland Peters des Großen machte den Aufstieg des Zarenreiches zur kontinentaleuropäischen Großmacht erst möglich – auch dies eine translatio imperii im Zeichen des Krieges. Schließlich beschleunigten die Umbrüche des Ersten und Zweiten Weltkriegs den Bedeutungsverlust des fünfgliedrigen europäischen Großmächtesystems, der von Großbritannien, Frankreich, Russland, Habsburg und Preußen gebildeten Pentarchie, dessen Transformation aber schon seit dem Ende des 19. Jahrhunderts mit den außereuropäischen Imperialakteuren USA und Japan begonnen hatte. Während zwischen 1917 und 1923 die kontinentaleuropäischen Imperien zerfielen, erreichten die Kolonialimperien Großbritannien und Frankreich mit der Aufteilung des territorialen Erbes Deutschlands und des Osmanischen Reiches ihre maximale Ausdehnung. Am Ende des 20. Jahrhunderts stand das Ende des Kalten Krieges 1989/91 für einen neuerlichen imperialen Umbruch. Zum weltpolitischen Ordnungsdenken gehört seit jeher die Vorstellung der imperialen Hegemonie, oft gekoppelt mit einem besonderen Friedensanspruch der 268

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Imperien, sei es die Pax Augustana im antiken Römischen Weltreich, die Interpretation des Heiligen Römischen Reichs deutscher Nation als pazifizierende Pufferzone in Europa nach 1648, von der kein Angriffskrieg ausgehen konnte, die Pax Britannica, Americana, Sovietica im 19. und 20.  Jahrhundert oder das globale Friedens-, Wohlfahrts- und Gesundheitsversprechen Chinas in der Gegenwart, das als Beweis imperialer Stärke zum Selbstbild Pekings gehört. Nach weltpolitischen Krisen und Umbrüchen, nach der Auflösung oder dem Untergang von Imperien zumal, lässt sich ein charakteristisches Nebeneinander von Sehnsucht nach strukturierender Ordnung einerseits und gleichzeitiger Multipolarität andererseits feststellen. Das verbindet bei allen Unterschieden die Momente nach dem Abschluss der Napoleonischen Kriege und des Wiener Kongresses 1815, nach Abschluss des Krimkrieges 1856, nach der Etablierung neuer Nationalstaaten der Italiener und Deutschen 1871, die Phasen nach den beiden Weltkriegen des 20. Jahrhunderts, aber auch nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und dem Ende des Kalten Krieges 1989/90 und erneut unsere Gegenwart. Solche Suchbewegungen und Orientierungsprozesse sind an sich nicht neu, aber sie sind in der Corona-Krise viel deutlicher als zuvor erkennbar. Manche dieser Prozesse haben ihre Ursprünge vor dem Ausbruch der Pandemie, sodass ihre Konturen jetzt stärker hervortreten und Entwicklungen beschleunigt werden. Hier wirkt Corona zunächst eher als Katalysator und nicht als die ganz große Disruption, als Effizienztest und Intensivierung des Kampfes um die weltweite Deutungshoheit im Medienzeitalter mit 269

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Smartphone, Künstlicher Intelligenz und der Algorithmisierung, aber auch als Legitimationstest und Loyalitätsprüfung. Drei imperiale Narrative sind dabei zu beobachten: Erstens der Konflikt zwischen den Vereinigten Staaten und China als Imperialmächte mit klassischen und neuen Instrumenten. Dazu zählen das Territorium als Interessenzone und zugleich entterritorialisierte Währungen der Macht wie Finanzkapital, Wissen und die Kontrolle von Plattform-Unternehmen. Durch diese Elemente verstärken sich gewisse Tendenzen der sogenannten »Neuen Kriege«, die seit dem Ende des Kalten Krieges zu beobachten sind, vor allem eine Entkonturierung von Konflikten. Das ergänzt die in den »Neuen Kriegen« vorherrschende asymmetrische Amalgamierung von Elementen aus Staaten-, Bürger-und Religionskriegen, von Warlordismus, Terror und Bandenkriminalität. Im Falle Chinas tritt neben den Fokus auf das Ostchinesische Meer das Programm einer »Neuen Seidenstraße« und der Konzern Huawei als global operierende Technologiebasis, während sich in Hongkong und am Umgang mit ethnischen und religiösen Minderheiten der autoritär-repressive Charakter des Regimes erweist. Dabei handelt es sich im Selbstbild der chinesischen Eliten gerade nicht um einen »Aufstieg« des eigenen Landes, der primär in der europäisch-transatlantischen Wahrnehmung dominiert, sondern um die Rückkehr zu imperialen Ursprüngen der Vormoderne, vor der »Great Divergence« sozioökonomischer Überlegenheit westlicher Gesellschaften seit dem 18. Jahrhundert und der Demütigung Chinas durch die europäischen Kolonialmächte im 19. und frühen 20. Jahrhundert. 270

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Zweitens können das Projekt der europäischen Integration und die Europäische Union der Gegenwart als »benevolentes Imperium« beschrieben werden, das keine Offensivkriege führt und dem es gelang, den historischen Konfliktraum Kontinentaleuropas dauerhaft zu befrieden. Die Integration Europas erlaubte nach 1945 nicht zuletzt durch die Einbindung der Bundesrepublik, in den 1970er Jahren durch die Integration Griechenlands, Spaniens und Portugals nach autoritär-diktatorischen Regimephasen und schließlich nach 1989/90 durch die sukzessive Einbeziehung der ostmittel-, ost- und südosteuropäischen Staaten eine dauerhafte Pazifizierung und Stabilisierung Europas. Doch diese Erfolge der Vergangenheit gerieten bereits mit der Auflösung Jugoslawiens und der Eskalation ethnischer Gewalt in der Folge in eine Krise. In der Gegenwart kommen weitere Krisensymptome hinzu, sei es durch die Systemkonkurrenz autoritärer und populistischer Regime von außen oder durch innere Krisen um den Austritt Großbritanniens aus der Union sowie die Kontroversen um die Anwendung demokratischer und rechtsstaatlicher Normen in osteuropäischen Mitgliedstaaten. In der Ostukraine, in Syrien und Nordafrika zeigen sich die Wirkungsgrenzen der Europäischen Union als Friedensakteur. Schließlich lassen sich, drittens, in der Gegenwart Tendenzen der Re-Imperialisierung nach dem Ende des Kalten Krieges und im Zeichen einer neuen Multipolarität ausmachen: sei es in der Türkei durch neo-osmanische Ansätze, die in der Umwidmung der Hagia Sophia auch geschichtspolitisch und religiös akzentuiert werden, oder in der Anlehnung an die imperiale Vergan271

https://doi.org/10.5771/9783835346598

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genheit in Russland, wie sie in der Feier des 8. Mai 1945 und dem betonten Schutzversprechen der russischen Orthodoxie deutlich hervortreten. Imperialität bedeutet in diesen Kontexten aber nicht nur Geschichtspolitik, sondern besitzt eine ganz konkrete Dimension in territorialen Ansprüchen und entsprechenden Interventionen wie auf der Krim, in der Ostukraine, in Syrien und Libyen. Erleben wir am Ende gar eine neue translatio imperii, den Übergang vom Imperium Americanum in ein imperiales Jahrhundert Chinas? Auf jeden Fall hat die Corona-Krise den Konflikt zwischen den beiden Imperialmächten im Sinne einer great power rivalry erheblich zugespitzt. Wenn zum Imperium Größe, zeitliche Dauer und eine normative Mission gehören, dann steht das Selbstbild der USA als neues Jerusalem mit dem Ziel der Demokratisierung der Welt unter erheblichem inneren und äußeren Druck, sichtbar an der krisenhaften Eskalation der Präsidentschaft von Donald Trump und Chinas gleichzeitiger Rückbesinnung auf eine eigene imperiale Vergangenheit und im Versprechen von Stärke, Wohlfahrt und Gesundheit, die bewusst mit dem Narrativ der Schwäche westlicher Demokratien verknüpft wird.

4. Globalisierung, Deglobalisierung, Glokalität Schon nach der Zäsur des Ersten Weltkriegs bildete sich ein Wechselspiel zwischen Globalisierung und Deglobalisierung heraus, das auch für die Zeit nach Corona als geopolitische Neuaustarierung von Gewichten 272

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kennzeichnend sein dürfte. Die 1920er und 1930er Jahre wurden zu einem Beispiel für die Koexistenz von globaler Kooperation und internationaler Verflechtung einerseits und gleichzeitiger Abschottung und Entflechtung andererseits. Während die Vereinigten Staaten finanzund wirtschaftspolitisch durch die Ergebnisse des Weltkrieges eine nie zuvor erreichte globale Wirkung entfalten konnten, vom Dawes-Plan über den Young-Plan bis zum Hoover-Moratorium zur Entschärfung der deutschen Reparationszahlungen als Kernproblem der Nachkriegszeit, berief sich ihre Regierung nach der Nichtratifizierung des Versailler Vertrags und der Völkerbundakte sowie dem Scheitern des durch den amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson personifizierten Internationalismus zunächst auf eine frühe Variante des »America First«. Sie verband sich nach 1919 mit rassischer Exklusion nach innen, die sich in schweren Rassenunruhen mit Hunderten von Toten und einem neuen antibolschewikischen Feindbild im »Red Summer« von 1919 niederschlug, sowie einer verschärften Immigrationspraxis nach außen. Historisch standen nach tiefgreifenden Krisenerfahrungen strukturelle Globalisierung, idealtypisch in der Revolutionierung von Kommunikationstechnologie wie dem Telegraphen im 19. und dem Internet im 20. Jahrhundert, und sektorale Anti- oder Deglobalisierung, etwa in der Zurückweisung von Rechtsstaat und Demokratie, häufig nebeneinander. Beide Tendenzen konnten sich ergänzen und gegenseitig verstärken, etwa in der Berufung auf universelle Tendenzen zur Erweiterung der eigenen Handlungsmacht und jeweils partikularen Antworten, in der Paradoxie einer »glokalen« 273

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Konstellation also. Die Geschichte der nach 1917 durch den amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson und die russischen Bolschewiki formulierten neuen Idee der nationalen Selbstbestimmung im Gegensatz zum Gleichgewicht der Mächte und der Tradition der Geheimdiplomatie war dafür ein besonders eindrückliches Beispiel: Selbstbestimmung wurde zu einer globalen Vokabel der Ermächtigung, die aber je lokale Erwartungen provozierte und partikulare Handlungsspielräume widerspiegelte. Diese glokale Konstellation galt auch für die Epoche seit dem Ende des Kalten Krieges. Einerseits beschleunigte die supranationale Integration zumal in Europa die Erosion des tradierten Souveränitätsbegriffs von Nationalstaaten. Der überkommene Nationalstaat des 19.  Jahrhunderts verlor innerhalb der Europäischen Union aus zwei Richtungen an Bedeutung: durch Souveränitätstransfers im Rahmen der fortschreitenden europäischen Integration und zugleich durch neue Regionalismen, die sich wie in Schottland oder Katalonien zu Unabhängigkeitsbewegungen steigern konnten. Andererseits wirkt der Nationalstaat weiterhin als wichtige, ja vielerorts entscheidende politische, rechtliche und emotionale Referenz in Krisenphasen – sei es bei der Garantie von Spareinlagen wie in der Finanzkrise nach 2008, im Appell an die Schließung von Grenzen während der Flüchtlingskrise 2015 oder in der Erwartung staatlicher Krisenbewältigung und -vorsorge in der derzeitigen Corona-Pandemie. Es ist zumindest wahrscheinlich, dass die historisch begründete Spannung zwischen unterschiedlichen Globalisierungsverläufen und Deglobalisierung uns weiter begleiten wird. 274

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5. Neue Nationalismen durch Reterritorialisierung Blickt man auf die Reaktionen nach dem Ausbruch der Pandemie, fühlt man sich an den Satz des Schweizer Schriftstellers Max Frisch erinnert, wonach die Natur keine Katastrophen kenne – Katastrophen kenne allein der Mensch, sofern er überlebe.3 Damit ist die Deutungsebene berührt, sei es als Analyse, als Szenario, als Prophetie, Planung oder Prognose. Die Ansteckung wirkte und wirkt dabei als tiefgreifende und anhaltende Verunsicherung, weil überkommene Instrumente der Krisenbewältigungen zumindest in Frage gestellt werden. In den Momenten der unmittelbaren Bedrohung dominierte der Appell an den zunächst national definierten Gesundheits- und Vorsorgestaat. Hier zeigt sich die erwähnte Dichotomie zwischen globaler Herausforderung und partikularen Antworten besonders augenfällig. Jenseits objektivierbarer Fakten und wissenschaftlich abgesicherter Aussagen sind es die subjektiven Wahrnehmungen, auch ihre Manipulationen und Verzerrungen, die selbst zu handlungsleitenden Faktoren geworden sind. Dass das Virus weder nationale Zuordnung noch nationale Grenzen kennt, sagt also nichts über die Reaktion von Menschen aus, deren Handlung viel stärker von überkommenen Deutungsmustern präfiguriert wird. Das Schutzversprechen des Nationalstaates als Gesundheits- und Hygienestaat gehört dazu, auch in der schrill gesteigerten Version von Verschwörungstheorien oder in der Schuldzuschreibung gegenüber bestimmten ethnisch definierten Gruppen als 275

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liche »Überträger« – eine Reaktion, die zuweilen an den Umgang mit vermeintlichen »Feindausländern« (enemy aliens) während der Weltkriege erinnert. Wenn sich als Reaktionsmuster in den zurückliegenden Krisen, etwa in der Finanzkrise nach 2008 und zumal der Flüchtlingskrise von 2015, eher ein ethnisch konnotierter Nationalismus zeigte, so hat sich in der Corona-Krise eine Tendenz zur situativen Renationalisierung als territoriale Fixierung, als Tendenz zur Reterritorialisierung gezeigt. Plötzlich geschlossene Grenzen und der staatliche Anspruch, durch Kontrolle und Disziplinierung, zusätzlich gestützt auf die Definition eines Krisennotstands, gewohnte Verbindungen zu kappen und »Schutz«, »Ansteckung«, »Risiko« und den Zugang zu Impfungen territorial zu definieren, wirkte angesichts der bis zum Ausbruch der Pandemie geltenden Durchlässigkeit vieler Grenzen in Europa wie ein Atavismus. Auch wenn eine komplette Abkehr von der Globalisierung kaum denkbar ist, werden die Erfahrungen zu anderen Wirtschaftsprozessen führen. Der einzelne Staat wird nicht allein auf effiziente Lieferketten, sondern auch auf resiliente Logistik und weniger sektorale Abhängigkeit durch mehr strategische Bevorratung setzen. Der Staat als Lagerhaus wird gegenüber dem Bild des vulnerablen Gliedes einer globalen Lieferkette tendenziell an Bedeutung gewinnen. Corona verstärkt in dieser Hinsicht einen reterritorialisierten Nationalismus, in dem, wie oben skizziert, nicht zufällig an ältere Imperialtraditionen angeknüpft wird – in der chinesischen Staatspropaganda zur »Neuen Seidenstraße« und im Umgang mit Hongkong und Taiwan ist dies genauso erkennbar wie im 276

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hen Russlands auf der Krim, in der Ostukraine und in Syrien sowie in der Türkei mit der Mischung aus politisiertem Islam und betont antiwestlichem Stärkeversprechen.

6. Paradoxe Konstellationen als Abbild einer fluiden Gegenwart Die Gegenwart unter Corona-Bedingungen erweist sich, darin nicht unüblich für historische Krisen, immer mehr als Agglomeration von paradoxen Konstellationen.4 Sie geben einen besonderen Blick auf bestimmte Entwicklungen, Errungenschaften und Erbschaften der letzten Jahre und Jahrzehnte frei. Es spricht einiges dafür, dass diese Paradoxien uns zunächst auch in die nähere Zukunft begleiten werden. Dazu zählt zunächst das Nebeneinander von Wissen und Nichtwissen über die Pandemie, von global geteilten Informationen über Infektionswege, Krankheitsverläufe und Behandlungsmethoden unter den Bedingungen des Nichtwissens über realistische Medikamentierungen, langfristige Krankheitsfolgen, Immunitätsphasen oder wirtschaftliche und politische Konsequenzen der Pandemie. Hinzu kommt im Kontext der staatlichen Reaktionen, der Grenzschließungen, Lockdowns und Notstandsregime das Gefühl der beschränkten Handlungsmacht und der starken Einschränkung persönlicher Freiheitsrechte, aus der sich zugleich ein starkes Bewusstsein des Wertes eben dieser Freiheitsrechte und auch eine sehr selbstbewusste Rückeroberung etwa des öffentlichen Raums ergibt. Während die individuelle 277

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Handlungsmacht zunächst eingeschränkt war, hat sich jenseits von Verschwörungsnarrativen und Extremismen ein kritisches Bewusstsein vieler Bürger gegenüber staatlichen Institutionen und Eliten entwickelt, die auf die bloße Rückkehr zur alten Ordnung setzen. Anders ausgedrückt: Die Bürger unterziehen im Moment der Krise ihren Staat einem durch Unsicherheit radikalisierten Effizienzkriterium, das die Empfindlichkeit gegenüber der Einschränkung von individuellen Rechten erhöht. Schließlich gehört auch das bereits erwähnte Nebeneinander von Globalisierung und Deglobalisierung zur Paradoxie der Gegenwart: Neben der Globalität als epidemiologische Voraussetzung der Virusverbreitung und der weltweiten Dimension der Herausforderung stehen die partikularen Antworten, in Deutschland noch verstärkt durch die föderative und kommunale Staatlichkeit und die Neuakzentuierung des Subsidiaritätsprinzips. Das Nebeneinander von globalen und lokalen Antworten auf die Corona-Pandemie bringt vor allem eine permanente Vergleichskommunikation und damit einen latenten Konkurrenzmodus hervor: zwischen erfolgreicher und nicht erfolgreicher Virus-Eindämmung in verschiedenen Kommunen, Landkreisen, Bundesländern, europäischen Staaten, Staaten weltweit.

7. Legitimationstest unter den Bedingungen globaler Vergleiche Vor diesem Hintergrund verbietet sich ein einfacher Kausalzusammenhang zwischen Krisenerfahrung und 278

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autoritären Tendenzen, auf den man in der Frühphase der Krise oft stieß, häufig in Analogie zur Phase nach dem Ersten Weltkrieg. Aber die Corona-Krise findet nicht unter politisch selbstgewählten Bedingungen statt, sie ist keine einfache Passform für Diktaturen. Eher verstärkt sich der Eindruck der inkrementalen Entzauberung autoritärer Regime und neo-imperialer Forderungen, wenn sie die Effizienzerwartungen von Gesellschaften nicht erfüllen und die beanspruchten Problemlösungskompetenzen unterlaufen. Genau hier wirkt der Globalismus auf der Basis verfügbarer und teilbarer Wissensbestände, Daten und Nachrichten als Zuspitzung des Vergleichs. Andere Paradoxien ließen sich anführen – etwa die Gleichzeitigkeiten von Absenz und Präsenz, von Wachstum und Schrumpfung, von geteilten Erfahrungen bei gleichzeitiger innerer Polarisierung von Gesellschaften, von rationalen Orientierungen bei hochgradiger Emotionalisierung. Wo stehen wir also? Zur Zäsurbildung gehört der gesicherte Blick auf eine Vorvergangenheit. Die CoronaPandemie besitzt aber noch kein abgrenzbares Ancien Régime. Dennoch erhöht die Vielzahl der skizzierten Paradoxien die Wahrscheinlichkeit einer Welt im Umbruch, zwischen Transition und Transformation, nicht hiatisch und revolutionär in einem einzigen Moment entstanden, sondern inkremental durch die allmähliche Entfaltung und die immer längere Dauer der Krise. Dass wir im vermeintlich Neuen ganz viel Bekanntes wahrnehmen, dass wir die Krisen der Europäischen Union oder die amerikanisch-chinesische Imperialspannung durch die Problemsituation der Pandemie nunmehr 279

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präziser erkennen, ist das eine. Aber wir können heute eben nicht mehr so sicher sein wie noch vor einem Jahr, ob sich nicht unter der Oberfläche des vermeintlich Bekannten, der scheinbaren Wiederholung, der präfigurierten Gegenwart, nicht doch ganz Neues ergibt, das den hermeneutischen Rahmen der Kontinuitätserzählung durchbricht. Von Journalisten des Spiegel um einen kurzen Text zum Beginn des neuen Jahrzehnts gebeten, formulierte Botho Strauß im Januar 2020: Kaum etwas von den großen Weltveränderungen kommt in den vielen Zukunftsentwürfen des 20. Jahrhunderts vor: keine Antibabypille, nicht die Vergreisung der westeuropäischen Bevölkerung, keine deutsche Wiedervereinigung, keine digitale Revolution. Das Wichtigste kam unvorhergesehen. Zukunft, das Bevorstehende ist nur selten die Erfüllung dessen, was sich seit Langem anbahnt oder ersehnt wird. Die Geschichtsschreibung der Herleitung ist inzwischen eine fragwürdige Methode. Man möge sich einmal versuchen an einer Geschichtsschreibung der Emergenzen und Inkonsequenzen. Man möge das Disruptive unterscheiden vom Sichentwickelnden, möge jenes Geschehen entdecken in der Geschichte, das ohne Vorlauf und Vorbereitung passiert. Der Emergenzler – der keinen Tropfen Kontinuität mehr zu sich nimmt – wird Zukunft nicht mehr so nennen […]5

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Anmerkungen 1 Vgl. im folgenden Jörn Leonhard, Post-Corona: Über historische Zäsurbildung unter den Bedingungen der Unsicherheit, in: Bernd Kortmann und Günther G. Schulze (Hg.), Jenseits von Corona. Unsere Welt nach der Pandemie – Perspektiven aus der Wissenschaft, Bielefeld 2020, S. 197-203. 2 Jörn Leonhard, Der überforderte Frieden. Versailles und die Welt 1918-1923, 2. Aufl. München 2019, S. 11-15. 3 Max Frisch, Der Mensch erscheint im Holozän, Frankfurt a.!M. 1981 (zuerst: 1979), S. 103. 4 Lothar Gorris und Ivan Krastev, »Wir sehen, was wir vorher nicht sehen konnten«, Spiegel-Gespräch, in: Der Spiegel 27, 27. Juni 2020, S. 120. 5 Botho Strauß, Das Wichtigste kam unvorhergesehen, in: Der Spiegel 1, 28. Dezember 2019, S. 114.

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Die Beiträgerinnen und Beiträger

Dr. Maha Hosain Aziz ist Professorin, Autorin und Comiczeichnerin mit Schwerpunkt auf globalen Risiken und Prognosen im MA International Relations Program der NYU. Sie ist außerdem Expertin für Risiko im Global Future Council des World Economic Forum. Maha Aziz ist Autorin zweier Bücher: Im Jahr 2019 erschien ihr preisgekrönter Bestseller »Future World Order: A Global Legitimacy Crisis in the 2020s« (15  Prozent des Gewinns fließen über die Wohltätigkeitsorganisation Peace & Sport in den Gedenkfonds ihres Bruders für syrische Flüchtlingsjugendliche im jordanischen Lager Za’atari). Im Jahr 2021 erscheint der Nachfolger »A Global Spring: Navigating a Post-Pandemic World« (50  Prozent des Gewinns fließen in den COVID -19Solidaritätsfonds der WHO). Außerdem ist sie Zeichnerin des mit Preisen ausgezeichneten politischen Comicbuchs »The Global Kid« (veröffentlicht im Jahr 2016, alle Gewinne gehen an Wohltätigkeitsorganisationen für Bildung), das im Frühjahr 2021 als VR /AR-Märchenbuch für Kinder herausgebracht wird. Univ. Prof. em. Dr. sc. tc. h. c. Bazon Brock, Denker im Dienst und Künstler ohne Werk, ist emeritierter Professor am Lehrstuhl für Ästhetik und

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lung an der Bergischen Universität Wuppertal. Weitere Professuren an der Hochschule für bildende Künste Hamburg (1965-1976) und der Universität für angewandte Kunst Wien (1977-1980). 1992 erhielt er die Ehrendoktorwürde der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich und 2012 die Ehrendoktorwürde der Hochschule für Gestaltung Karlsruhe. 2014 bekam er die Honorarprofessur für Prophetie an der HBK saar, Saarbrücken, 2016 wurde ihm der Von der Heydt-Preis der Stadt Wuppertal verliehen und 2017 erhielt er das Österreichische Ehrenkreuz der 1.  Klasse für Wissenschaft und Kunst. Er entwickelte die Methode des »Action Teaching«, bei dem der Seminarraum zur Bühne für Selbst- und Fremdinszenierungen wird. Von 1968 bis 1992 führte er in Kassel die von ihm begründeten documenta-Besucherschulen durch. Von 2010 bis 2013 leitete er das Studienangebot »Der professionalisierte Bürger« an der HfG Karlsruhe. Rund 3000 Veranstaltungen und Aktionslehrstücke; u.!a. »Lustmarsch durchs Theoriegelände« (2006, in elf Museen). Er repräsentiert das »Institut für theoretische Kunst, Universalpoesie und Prognostik« und ist Gründer der Denkerei / Amt für Arbeit an unlösbaren Problemen und Maßnahmen der hohen Hand mit Sitz in Berlin (www.denkerei-berlin.de). Prof. Dr. Garrett Wallace Brown ist Inhaber des Lehrstuhls für Global Health Policy und Co-Director des Global Health Research Theme an der University of Leeds, UK . Er forscht und veröffentlicht zu den Themen Global Health Governance, Stärkung von Gesundheitssystemen und globale Gesundheitssicherheit. Sein

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besonderes Interesse gilt dabei der afrikanischen Gesundheits- und Entwicklungspolitik. Des Weiteren ist er als wissenschaftlicher Berater für Regierungs- und Nichtregierungsorganisationen sowie als Experte für die Medienberichterstattung der G7- und G20-Gipfel tätig. Prof. Brown forscht zudem in den Bereichen Politische Theorie und Rechtsphilosophie, u.!a. zu den Themen Kosmopolitismus, globaler Konstitutionalismus und politische Philosophie von Immanuel Kant. Zuletzt erschienene nicht-medizinische Publikationen: »The State and Cosmopolitan Responsibilities« (2019), »Kant’s Cosmopolitics« (2019). Seine Arbeit zu COVID -19 wurde im British Medical Journal veröffentlicht (2020). Prof. Dr. Eugénia da Conceição-Heldt hat seit dem 1. Juli

2016 den Lehrstuhl für European and Global Governance an der Hochschule für Politik der TU München inne. Die Forschungsschwerpunkte von Eugénia da Conceição-Heldt umfassen folgende Bereiche: Übertragung von Kompetenzen an internationale Organisationen; Europäische Integration; Global Economic Governance; Zwei-Ebenen-Ansatz; Verhandlungsanalyse; sowie Accountability im digitalen Zeitalter. Prof. Conceição-Heldt promovierte in Politikwissenschaft an der Freien Universität Berlin und habilitierte sich an der Humboldt-Universität zu Berlin. Sie war von März 2012 bis Juni 2016 Inhaberin des Lehrstuhls für Internationale Politik an der TU Dresden. Sie war unter anderem am Center for European Studies der Harvard University, am Europäischen Hochschulinstitut in Florenz und am Wissenschaftszentrum Berlin für 285

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Sozialforschung tätig. Sie hat vier Monographien und mehr als 20 peer-reviewed Zeitschriftenartikel publiziert sowie Sonderhefte in peer-reviewed Zeitschriften herausgegeben. Ihre Arbeiten wurden unter anderem in folgenden Zeitschriften veröffentlicht: »Journal of Common Market Studies«, »Journal of European Public Policy«, »Negotiation Journal«, »International Politics«, »Journal of Comparative Policy Analysis«, »Politische Vierteljahresschrift«, »Global Policy«, »Global Governance: A Review of Multilateralism and International Organizations«, und »Review of International Political Economy«. Prof. Dr. Dr. Udo Di Fabio begann seine berufliche Laufbahn 1970 als Kommunalverwaltungsbeamter im mittleren Dienst in Dinslaken. Während seiner dortigen Tätigkeit absolvierte er über den zweiten Bildungsweg das Abitur und studierte anschließend Rechtswissenschaften an der Ruhr-Universität Bochum sowie Sozialwissenschaften an der Universität Duisburg (jetzt Universität Duisburg-Essen). Nach Abschluss der beiden juristischen Staatsexamina in den Jahren 1982 und 1985 arbeitete er zunächst als Richter am Sozialgericht Duisburg, ehe er 1986 als wissenschaftlicher Mitarbeiter an das Institut für öffentliches Recht der Universität Bonn wechselte. Dort wurde er ein Jahr später promoviert. 1990 folgte die Promotion im Fach Sozialwissenschaften. – Nachdem er sich 1993 habilitiert hatte, wurde er im selben Jahr zum Universitätsprofessor für öffentliches Recht an der Westfälischen WilhelmsUniversität Münster berufen und folgte wenige Monate später einem Ruf an die Universität Trier. Von 1997 bis

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2003 lehrte er an der Ludwig-Maximilians-Universität in München, seit 2003 ist er Universitätsprofessor für öffentliches Recht an der Rheinischen FriedrichWilhelms-Universität in Bonn. Im Dezember 1999 wurde er zum Richter des Bundesverfassungsgerichts im Zweiten Senat ernannt. Sein Dezernat umfasste insbesondere das Europarecht, das Völkerrecht sowie das Parlamentsrecht. Weiterhin lehrt und forscht er in Bonn und ist seit 2016 Gründungsdirektor des Forschungskollegs normative Gesellschaftsgrundlagen (https:// www.forschungskolleg.eu). Dr. Corinne Michaela Flick, Doppelstudium der Rechts-

wissenschaft und der Literaturwissenschaft mit Nebenfach Amerikanistik an der Ludwig-MaximiliansUniversität München. Promotion zum Dr. phil. 1989. Rechtsanwältin bei der Bertelsmann Buch AG und bei Amazon.com. Seit 1998 Gesellschafterin der Vivil GmbH und Co. KG , Offenburg. Gründerin und Vorstand der Convoco Stiftung. Herausgeberin der Convoco Edition, bisher unter anderem erschienen »Kollektiver Rechtsbruch – Gefahr für unsere Freiheit« (2013), »Rechnen mit dem Scheitern: Strategien in ungewissen Zeiten« (2014), »Tun oder Nichttun – zwei Formen des Handelns« (2015), »Die Ohnmacht der Macht – Die Macht der Ohnmacht« (2016), »Autorität im Wandel« (2017), »Das Gemeinwohl im 21. Jahrhundert« (2018), »Die Zukunft des Kapitalismus« (2019), »Der Wert Europas in einer bedeutsameren Weltgeschichte« (2020). Seit 2019 ist Corinne Flick Vorsitzende des ESMT Kuratoriums Board of Ambassadors.

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Prof. Dr. Dr. h. c. Clemens Fuest promovierte 1994 an

der Universität zu Köln. 2001 Habilitation an der Ludwig-Maximilians-Universität München und Ruf auf den Lehrstuhl für wirtschaftliche Staatswissenschaften in Köln bis 2008 sowie eine Gastprofessur an der Wirtschaftsuniversität Luigi Bocconi, Mailand. 2008-2013 Professor für Unternehmensbesteuerung und Forschungsdirektor des Centre for Business Taxation, Oxford. 2013 bis März 2016 Präsident und wissenschaftlicher Direktor des Zentrums für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW ) Mannheim, Professor für Volkswirtschaftslehre an der Universität Mannheim. Seit April 2016 Präsident des ifo-Instituts, München. – Er ist u.!a. Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats beim Bundesministerium der Finanzen und des DeutschFranzösischen Rats der Wirtschaftsexperten, Mitglied der Europäischen Akademie der Wissenschaften sowie des Wissenschaftlichen Beirats der Ernst & Young GmbH und er ist Programmdirektor des Centre for Business Taxation der Universität Oxford. Er gehörte bis 2017 der »High Level Group on Own Resources« der Europäischen Union (Monti-Kommission) und bis 2019 der Mindestlohnkommission an. 2013 wurde er mit dem Gustav Stolper Preis des Vereins für Socialpolitik ausgezeichnet, 2019 mit dem Hanns Martin Schleyer-Preis für das Jahr 2018.  Er ist Mitglied zahlreicher deutscher und internationaler wissenschaftlichen Akademien und Vereinigungen und seit 2019 Präsident des International Institute for Public Finance. Clemens Fuest ist Autor von Büchern und Artikeln in nationalen und internationalen Fachzeitschriften, außerdem hat er viele Kommentare und Namensartikel zu 288

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aktuellen wirtschaftspolitischen Fragen verfasst, u.!a. in Zeitungen wie Handelsblatt, FAZ , SZ , WirtschaftsWoche oder Wall Street Journal. Prof. Dr. Stefan Korioth, Promotion zum Dr. jur. 1990,

Habilitation für Öffentliches Recht und Verfassungsgeschichte, ord. Professor für Öffentliches Recht, Verfassungsgeschichte und Staatslehre in Greifswald 19962000, seit 2000 Inhaber des Lehrstuhls Öffentliches Recht und Kirchenrecht an der Ludwig-MaximiliansUniversität München. – Veröffentlichungen u.!a.: »Integration und Bundesstaat« (1990), »Der Finanzausgleich zwischen Bund und Ländern« (1997), »Grundzüge des Staatskirchenrechts« (mit B. Jean d’Heur, 2000), »Das Bundesverfassungsgericht« (zusammen mit Klaus Schlaich, 11. Auflage 2018), ferner: »Staatsrecht I« (5. Auflage 2020). Prof. Dr. Jörn Leonhard  ist Inhaber des Lehrstuhls für Westeuropäische Geschichte an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg und Autor. Er studierte Geschichte, Politische Wissenschaft und Deutsche Philologie in Heidelberg und Oxford. Er promovierte 1998 und habilitierte 2004 an der Universität Heidelberg. 1998-2003 war Jörn Leonhard Fellow und Tutor an der Universität Oxford, 2001 Visiting Research Fellow der Alexander-von-Humboldt-Stiftung am German-American Center for Visiting Scholars in Washington, DC , seit 2002 Fellow of the Royal Historical Society London, und 2016/17 Senior Fellow des Instituts für Zeitgeschichte am Historischen Kolleg München. 2007-2012 war er Direktor der School of History am Freiburg

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Institute for Advanced Studies (FRIAS) und 2012/13 Gastprofessor an der Harvard University. Seine Forschung und Veröffentlichungen wurden vielfach mit Preisen ausgezeichnet. Zuletzt erschien seine Monographie »Der überforderte Frieden. Versailles und die Welt 1918-1923«  (2018). Seit 2015 ist er ordentliches Mitglied der Heidelberger Akademie der Wissenschaft, 2019 wurde er Honorary Fellow des Wadham College, University of Oxford. Prof. Dr. h. c. Rudolf Mellinghoff, Studium der Rechtswissenschaften in Münster, Referendarzeit in BadenWürttemberg, 1984-1987 wiss. Mitarbeiter an der Universität Heidelberg. 1987 Richter am Finanzgericht Düsseldorf. 1987-1991 wiss. Mitarbeiter am Bundesverfassungsgericht. 1989 Ernennung zum Richter am Finanzgericht. Juli 1991 bis Juni 1992 Referatsleiter im Justizministerium Mecklenburg-Vorpommern. Juli 1992 Richter am Finanzgericht Mecklenburg-Vorpommern. 1996 Ernennung zum Vorsitzenden Richter; daneben 1992-1996 im zweiten Hauptamt Richter am Oberverwaltungsgericht. 1995-1996 Mitglied des Landesverfassungsgerichts Mecklenburg-Vorpommern. 1997-2001 Richter am Bundesfinanzhof. Januar 2001 bis Oktober 2011 Richter des Bundesverfassungsgerichts (Zweiter Senat). November 2011 bis Juli 2020 Präsident des Bundesfinanzhofs. 2006 Verleihung der Ehrendoktorwürde der Universität Greifswald. 2007 Honorarprofessor an der Eberhard Karls Universität Tübingen. 2011 Verleihung des Großen Verdienstkreuzes mit Stern und Schulterband des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland. 2011–2017 Vorsitzender

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und seit 2018 stellvertretender Vorsitzender der Deutschen Steuerjuristischen Gesellschaft; Vorsitzender des wissenschaftlichen Beirats der Berliner Steuergespräche e.!V.; Chairman der Judicial Integrity Group; 2009-2011 Vorsitzender und seit 2012 stellvertretender Vorsitzender des Präsidiums der Deutschen Sektion der Internationalen Juristenkommission; Mitglied des Permanent Scientific Commitee der International Fiscal Association (IFA); Mitglied der Europäischen Akademie der Wissenschaft und Künste (Academia Scientiarum et Artium Europaea). Prof. Dr. Timo Meynhardt ist Inhaber des Dr. Arend

Oetker Lehrstuhls für Wirtschaftspsychologie und Führung an der HHL Leipzig Graduate School of Management und Leiter des Center for Leadership and Values in Society der Universität St. Gallen. Er wurde an der Universität St. Gallen zum Dr. oec. promoviert und habilitiert (venia legendi). Über mehrere Jahre war er Practice Expert bei McKinsey & Company. Timo Meynhardt forscht insbesondere auf dem Gebiet des Public Value (Wertschöpfung zum Gemeinwohl). In Forschung und Lehre kombiniert er psychologische und betriebswirtschaftliche Themen, insbesondere Public Value Management und Führung. Meynhardt ist Mit-Entwickler des Leipziger Führungsmodells und Mitherausgeber des »GemeinwohlAtlas« Deutschland und Schweiz, welcher den gesellschaftlichen Nutzen von Unternehmen und Organisationen transparent abbildet (www.gemeinwohlatlas.de; www.gemeinwohl.ch). Die von ihm entwickelte Public Value-Scorecard ist ein Managementtool zur Bewertung und Analyse des 291

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Public Value-Beitrages. Meynhardt ist Mit-Erfinder und Co-Juryvorstand des Public Value Awards für Startups.   Dr. Stefan Oschmann ist Vorsitzender der Geschäftsleitung von Merck. Bevor er Ende April 2016 dieses Amt übernahm, verantwortete er als stellvertretender Vorsitzender unter anderem die Konzernstrategie. Stefan Oschmann trat 2011 als Mitglied der Geschäftsleitung bei Merck ein und leitete bis Ende 2014 den Unternehmensbereich Healthcare. Er trieb die Neuausrichtung des Biopharma-Geschäfts durch optimierte Kostenstrukturen und gesteigerte Effizienz des Forschungsund Entwicklungsmodells voran. Hierzu zählte auch eine klare Priorisierung von Portfolioprojekten. Vor seinem Wechsel zu Merck war Stefan Oschmann beim US -amerikanischen Pharmaunternehmen MSD tätig und bekleidete dort verschiedene leitende Positionen. Seinen beruflichen Werdegang begann er bei einer Behörde der Vereinten Nationen, gefolgt von einer Anstellung beim Verband der Chemischen Industrie (VCI). Stefan Oschmann ist promovierter Veterinärmediziner und studierte an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Prof. (a. D.) Dr. Christoph G. Paulus, LL . M. (Berkeley),

Studium der Rechte in München, Promotion zum Dr. jur. 1980, Habilitation im Bürgerlichen und Zivilprozessrecht sowie im Römischen Recht 1991, Auszeichnung der Habilschrift mit der Medaille der Universität Paris II, 1989/90 Feodor Lynen-Stipendiat der Humboldt-Stiftung in Berkeley. Ao. Professor in Augsburg 1992-1994, von 1994 bis 2019 an der Juristischen Fakultät 292

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der Humboldt-Universität zu Berlin, 2008-2010 Dekan ebd. Berater des Internationalen Währungsfonds und der Weltbank. Unter anderem Mitglied des International Insolvency Institute, des American College of Bankruptcy und der International Association for Procedural Law. 2006-2010 Berater der deutschen Delegation bei UNCITRAL Verhandlungen zum Insolvenzrecht. Er ist im Herausgeberbeirat beispielsweise der »Zeitschrift für Wirtschaftsrecht« (ZIP), der »Norton Annual Review of International Insolvency« und der »International Insolvency Law Review«. Gisbert Rühl ist nach mehreren Stationen in leitenden

Positionen in der Industrie und Beratung seit 2005 im Vorstand des Klöckner & Co-Konzerns – zunächst als Finanzvorstand und seit 2009 als Vorsitzender des Vorstands. Aktuell treibt Gisbert Rühl mit voller Kraft die digitale Transformation von Klöckner & Co sowie die Entwicklung der unabhängigen Industrieplattform XOM Materials voran, bei der das Unternehmen eine Vorreiterrolle in der Industrie einnimmt. Herr Rühl engagiert sich darüber hinaus in verschiedenen Institutionen u.!a. als Vorstand der Gesellschaft der Freunde von Bayreuth und nimmt führende Rollen bei mehreren Initiativen des World Economic Forums ein. Prof. Dr. Dr. h. c. Wolfgang Schön studierte Rechts- und Wirtschaftswissenschaften an der Universität Bonn. Er war ordentlicher Professor an den Universitäten Bielefeld (1992-1996) und Bonn (1996-2002), bevor er im Jahr 2002 zum Wissenschaftlichen Mitglied und Direktor am Max-Planck-Institut für Steuerrecht und

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liche Finanzen in München ernannt wurde. Er ist Honorarprofessor an der Ludwig-Maximilians-Universität München, Mitglied der Global Law Faculty der New York University und International Research Fellow am Oxford University Centre for Business Taxation. Professor Schön war Vizepräsident der Max-Planck-Gesellschaft (2008-2014) und ist derzeit Vizepräsident der Deutschen Forschungsgemeinschaft (seit 2014). Er hat umfangreich zum Deutschen, Europäischen und Internationalen Steuer-, Gesellschafts- und Privatrecht publiziert. Prof. Dr. Sven Simon ist Inhaber des Lehrstuhls für Völ-

kerrecht und Europarecht mit öffentlichem Recht an der Philipps-Universität Marburg und seit 2019 Mitglied des Europäischen Parlaments. Er wurde 1978 geboren und studierte Rechtswissenschaften an der JustusLiebig-Universität Gießen sowie an der University of Warwick (England). Das Erste Juristische Staatsexamen legte er 2005 ab, 2009 wurde er mit einer europaund wirtschaftsvölkerrechtlichen Arbeit promoviert. Nach dem juristischen Vorbereitungsdienst mit Stationen in Frankfurt, Berlin, Tel Aviv und New York folgte 2010 das Zweite Juristische Staatsexamen. Im Anschluss kehrte er an die Justus-Liebig-Universität Gießen zurück, wo er fünf Jahre als Akademischer Rat tätig war. 2015 wurde er mit einer verfassungsrechtlichen Arbeit zu den Grenzen des Bundesverfassungsgerichts im europäischen Integrationsprozess habilitiert. Nach Gastprofessuren an der Freien Universität Berlin und der University of Wisconsin (USA) folgte Simon 2016 einem Ruf an die Philipps-Universität Marburg. Sven Simon 294

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ist stellvertretender Bundesvorsitzender der Deutschen Gesellschaft für die Vereinten Nationen. Prof. Dr. Lothar H. Wieler ist Präsident des Robert

Koch-Instituts in Berlin. Er war von 1998 bis 2015 Universitätsprofessor für Mikrobiologie und Tierseuchenlehre an der Freien Universität Berlin. Seine Forschung fokussiert auf dem »One Health-Ansatz« mit dem Schwerpunkt Zoonosen (Krankheiten, die zwischen Tieren und Menschen übertragen werden). Bei seinen Forschungsarbeiten interessieren ihn jene molekularen Mechanismen, die dafür verantwortlich sind, dass bakterielle Zoonose-Erreger verschiedene Wirte infizieren!!!!können.!!!!Dabei!!!!stehen!!Antibiotika-resistente und multi-resistente Bakterien im Fokus. Lothar Wieler ist Autor von mehr als 250 wissenschaftlichen Publikationen, ihm wurden mehrere wissenschaftliche Preise verliehen. Er ist Mitbegründer der Nationalen Forschungsplattform für Zoonosen, stellvertretender Vorstandssprecher des Forschungskonsortiums InfectControl 2020, das transsektorale Ansätze der Infektionsprophylaxe und -intervention im »One Health«Ansatz erforscht. Weiterhin ist er u.!a. Mitglied der STAG -IH (Strategic and Technical Advisory Group for Infectious Hazards) der Weltgesundheitsorganisation, des EACHR (WHO Europe Advisory Committee on Health Research) sowie Mitglied im Beirat für die Technologie- und Methodenplattform für die vernetzte medizinische Forschung e.!V. (TMF). Er ist Sprecher der InfectControl2020-Konsortia IRMRESS (Innovative Reduktion multi-resistenter Infektionserreger (MRE) und Etablierung einer Next-Generation295

https://doi.org/10.5771/9783835346598

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Sequencing basierten molekularen Surveillance) sowie Neobiom (Einflussfaktoren auf die Mikro-, Resistound Mykobiom-Entwicklung bei Frühgeborenen). Davor war Wieler Sprecher des BMBF -Verbundprojektes »FBI -Zoo« (Foodborne zoonotic Infections of Humans) sowie des Internationalen DFG -Graduiertenkollegs 1673 (Functional Molecular Infection Epidemiology). Seit 2010 ist Wieler gewähltes Mitglied der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina, wo er seit 2016 die Funktion eines Senators ausübt.

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