Napoleon und der »Vaterländische Krieg« in Russland: Funktionen populärer Geschichtsdarstellungen im Jubiläumsjahr 1912 9783839452356

An examination of the commemoration of the "Patriotic War" in 1812 in the context of its 100th anniversary in

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Napoleon und der »Vaterländische Krieg« in Russland: Funktionen populärer Geschichtsdarstellungen im Jubiläumsjahr 1912
 9783839452356

Table of contents :
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Inhalt
Vorwort
1 Einleitung. Zur Bedeutung des »Vaterländischen Krieges« in der russischen Kultur
2 Zur Inszenierung der Macht: Das 100-jährige Jubiläum des »Vaterländischen Krieges«
3 Zwischen Subversion und Affirmation: Zur populärwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem »Vaterländischen Krieg« im Rahmen der »Gesellschaft für die Verbreitung des technischen Wissens« (ORTZ)
4 Der »Vaterländische Krieg« in der russischen historischen Prosa des 19. Jahrhunderts
5 Der »Vaterländische Krieg« in literaturkritischen und literarischen Diskursen des Jubiläumsjahres 1912
6 Napoleon und der »Vaterländische Krieg« zwischen Unterhaltung und offizieller Propaganda
7 Schlussbemerkungen: Napoleon und der »Vaterländische Krieg« in Russland
Literaturverzeichnis
Verzeichnis der Illustrationen
Autoren-, Werk- und Institutionenregister

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Konstantin Rapp Napoleon und der »Vaterländische Krieg« in Russland

Historische Lebenswelten in populären Wissenskulturen/ History in Popular Cultures | Band 19

Editorial In der Reihe Historische Lebenswelten in populären Wissenskulturen | History in Popular Cultures erscheinen Studien, die populäre Geschichtsdarstellungen interdisziplinär oder aus der Perspektive einzelner Fachrichtungen (insbesondere der Geschichts-, Literatur-und Medienwissenschaft sowie der Ethnologie und Soziologie) untersuchen. Im Blickpunkt stehen Inhalte, Medien, Genres und Funktionen heutiger ebenso wie vergangener Geschichtskulturen. The series Historische Lebenswelten in populären Wissenskulturen | History in Popular Cultures provides analyses of popular representations of history from specific and interdisciplinary perspectives (history, literature and media studies, social anthropology, and sociology). The studies focus on the contents, media, genres, as well as functions of contemporary and past historical cultures. Die Reihe wird herausgegeben von Sylvia Paletschek und Barbara Korte (geschäftsführend) sowie Judith Schlehe, Wolfgang Hochbruck, Sven Kommer und Hans-Joachim Gehrke.

Konstantin Rapp (M.A.), geb. 1983, ist Slavist und wissenschaftlicher Mitarbeiter im Sonderforschungsbereich SFB 1015 »Muße. Grenzen, Raumzeitlichkeit, Praktiken« der Universität Freiburg. Er forscht zu den unterschiedlichen Formen der Konzeptualisierung von Muße in der Sowjetunion der 1920er bis 1930er Jahre im Kontext der marxistischen Vorstellungen von Arbeit und Freizeit. Weitere Forschungsschwerpunkte sind die Prozesse der Kanonbildung in der russischen Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts und die deutsch-russische Universitätsgeschichte.

Konstantin Rapp

Napoleon und der »Vaterländische Krieg« in Russland Funktionen populärer Geschichtsdarstellungen im Jubiläumsjahr 1912

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2020 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld Umschlagabbildung: Jubiläumsplaketten Nr. CLII, CLIII, CLVI, CLVII. Quelle: Cholodkovskij/Godlevskij 1912:121-122, Rossijskaja Gosudarstvennaja Biblioteka, Moskau (RGB). Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-5235-2 PDF-ISBN 978-3-8394-5235-6 https://doi.org/10.14361/9783839452356 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Unsere aktuelle Vorschau finden Sie unter www.transcript-verlag.de/vorschau-download

Inhalt

Vorwort .................................................................................. 9 1 1.1 1.2 1.3 1.4 2 2.1 2.2 2.3 2.4 2.5

Einleitung. Zur Bedeutung des »Vaterländischen Krieges« in der russischen Kultur ............................................................ 11 Ziele und Fragestellungen der Arbeit .................................................................. 13 Vom »napoleonischen Mythos« zum »napoleonischen Narrativ«: Zur Entwicklung eines methodologischen Modells ....................................................................... 14 Zum Begriff des Populären und zur Bildung des Quellenkorpus ................................ 21 Gliederung und Aufbau der Arbeit. Technische Hinweise ........................................ 26 Zur Inszenierung der Macht: Das 100-jährige Jubiläum des »Vaterländischen Krieges« ........................................................................... 29 Die Institutionalisierung des Gedenkens an die Epoche von 1812 .............................. 29 Die Logik der medialen Geschichtsrepräsentation................................................ 33 Die Aufwertung des ›russischen Volkes‹: P.M. Andrianovs Jubiläumsbroschüre »Velikaja Otečestvennaja vojna. (Po povodu 100-letnego jubileja)« (1912) .................. 35 Die Inszenierung von Authentizität: A.I. Bachmet’evs »historische Chronik« »Dvenadcatyj god« (1912) ................................................................................. 42 Zwischenbilanz und Ausblick 2012 ..................................................................... 46

Zwischen Subversion und A rmation: Zur populärwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem »Vaterländischen Krieg« im Rahmen der »Gesellschaft für die Verbreitung des technischen Wissens« (ORTZ) .............. 49 3.1 Gründung, Struktur und Publikationen des ORTZ im Kontext des 100-jährigen Jubiläums ..............................................................50 3.2 Napoleon und der »Vaterländische Krieg« in Chrestomathien und Geschichtslesebüchern der Lehrabteilung des ORTZ..................................................................56 3.2.1 »Rasskazy po russkoj istorii. Obščedostupnaja chrestomat a« (1909-1918) ....... 57 3.2.2 »Kniga dlja čten a po istorii Novogo vremeni« (1910-1917)............................. 74 3.2.3 »Naše prošloe. Rasskazy iz russkoj istorii« (1913-1915) ..................................82 3.3 Zwischenbilanz.............................................................................................. 94

3

4 4.1 4.2 4.3 4.4 4.5 4.6

Der »Vaterländische Krieg« in der russischen historischen Prosa des 19. Jahrhunderts ...................................................................... 99 Zur Synthese von ›Fakt‹ und ›Fiktion‹ im historischen Roman: M.N. Zagoskin und A.S. Puškin ......................................................................... 104 Die Trennung von ›Fakt‹ und ›Fiktion‹: R.M. Zotov und D.S. Dmitriev......................... 111 Subjektiver Blick auf die nationale Epopöe: L.N. Tolstojs »Vojna i mir« .................... 117 Zur Adaption von Tolstojs Ästhetik in den 80er Jahren: G.P. Danilevsk s »Sožžennaja Moskva« (1886) ..................................................... 122 »Die einheitliche Bühne« der Geschichte: Der »Vaterländische Krieg« in der Prosa D.L. Mordovcevs............................................................................................ 137 Zwischenbilanz............................................................................................. 145

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Der »Vaterländische Krieg« in literaturkritischen und literarischen Diskursen des Jubiläumsjahres 1912 ......................................................... 149 5.1 Der »Vaterländische Krieg« im historischen und literaturwissenschaftlichen Diskurs der 1890er Jahre .....................................150 5.2 Der »Vaterländische Krieg« in literaturkritischen und pädagogischen Diskursen des Jubiläumsjahres 1912 ....................................... 154 5.3 Die Chronik eines großen Abenteuers: Zur Funktion der biographischen Perspektive bei der Popularisierung des »Vaterländischen Krieges« im Werk von V.P. Avenarius (1839-1923) .................................................................................................. 170 5.3.1 Biographie und literarische Tätigkeit von V.P. Avenarius. Forschungsstand ..... 170 5.3.2 Genese, Funktion und didaktisches Potenzial der Tagebuchform ................... 175 5.3.3 »Sredi vragov. Dnevnik junoši, očevidca vojny 1812 goda« (1912) ................... 183 5.3.4 Resümee zu Kapitel 5.3. ....................................................................... 205 5.4 Zwischen Abenteuer und psychischer Deformation: Der »Vaterländische Krieg« in der Prosa von I.A. Ljubič-Košurov ........................... 207 5.4.1 Biographie, Werk und Grundzüge der Poetik ............................................. 207 5.4.2 »Partizany 1812 goda« (1911) ................................................................... 211 5.4.3 »Požar Moskvy v 1812 godu« (1912) .......................................................... 227 5.4.4 Resümee zu Kapitel 5.4. ....................................................................... 247 6

Napoleon und der »Vaterländische Krieg« zwischen Unterhaltung und o zieller Propaganda....................................................................... 251 6.1 B.A. Ščetinin: »Otrublennyj palec (Ėpizod iz ėpochi Otečestvennoj vojny)« (1912) ....... 252 6.2 Der »Vaterländische Krieg« in musikalischen Medien des Jahres 1912..................... 260 6.3 Der »Vaterländische Krieg« im russischen Kino lm des Jahres 1912 ....................... 275 6.4 Zwischenbilanz............................................................................................ 288

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Schlussbemerkungen: Napoleon und der »Vaterländische Krieg« in Russland .... 313

Literaturverzeichnis.................................................................... 323 Verzeichnis der Illustrationen .......................................................... 375 Autoren-, Werk- und Institutionenregister .............................................. 377

Vorwort

Die vorliegende Monographie ist eine überarbeitete und erweiterte Fassung meiner Dissertation, die ich 2016 an der Universität Freiburg verteidigt habe. Bei der Entstehung dieser Arbeit wurde ich von vielen Menschen unterstützt, denen ich danken möchte. Mein herzlicher Dank gilt Prof. Dr. Elisabeth Cheauré und Prof. Dr. Dietmar Neutatz für die jahrelange und konstruktive Betreuung meiner Dissertation. Prof. Dr. Cheauré danke ich insbesondere dafür, mich mit der ematik der populären Geschichte bekannt gemacht zu haben, und für den Luxus, während meines Studiums und während der Promotion kontinuierlich an spannenden emen arbeiten zu dürfen und daraus zu lernen. Ich danke auch den Kolleginnen und Kollegen aus der DFG-Forschergruppe »Historische Lebenswelten«, in deren Rahmen die Dissertation entstanden ist, insbesondere Prof. Dr. Barbara Korte und Prof. Dr. Sylvia Paletschek für die Aufnahme meines Buches in die Publikationsreihe des Projekts. Der Austausch mit meinen russischen Kollegen, Prof. Dr. Evgenija N. Stroganova und Prof. Dr. Michail V. Stroganov, die mich nicht zuletzt durch ihre Lehrveranstaltungen an der Universität Freiburg als Wissenscha tler geprägt haben, trug ebenfalls zur Entstehung dieser Arbeit bei. Für konstruktive Anregungen und die langjährige Unterstützung danke ich Frau Dr. habil. Galina N. Ul’janova, Historikerin am Institut der Russischen Geschichte der RAN, Moskau, Prof. Dr. Aleksej Žerebin, Staatliche Pädagogische Herzen-Universität, Sankt Petersburg, und Prof. Dr. Dirk Kemper, Russische Staatliche Universität für Geisteswissenscha ten (RGGU), Moskau. Meine Kollegen am Slavischen Seminar der Universität Freiburg haben mich bei meiner Arbeit stets unterstützt. Dr. Felix Keller gab mir wertvolle Literaturhinweise und stellte mir antiquarische Buchausgaben zur Verfügung. Prof. Dr. Peter Drews gebührt mein Dank für lebendige Diskussionen über die Fragen der Übersetzung und für die enzyklopädischen Exkurse zu unterschiedlichsten emen der slavistischen Kulturwissenscha t. Für eine lange Begleitung während des Studiums und bei der Promotion danke ich Frau Dr. Heidrun Igra. Besonders in der letzten Phase der Publikation standen mir Prof. Dr. Heinrich Kirschbaum, Dr. Sonja Erhardt und Dr. Elke Schumann stets zur Seite.

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Napoleon und der »Vaterländische Krieg« in Russland

Frau Annette Ehinger, Geschä tsführerin der Gemeinsamen Kommission der Philologischen und der Philosophischen Fakultät der Univsersität Freiburg, danke ich für die Unterstützung während der Promotion und für die ermutigenden Gespräche darüber, wie man den Fallen des Perfektionismus entkommen kann. Ich danke auch ganz herzlich allen, die mich unterstützt haben: Xenia Hübner, Bianca Schlawin, Olga Gorfinkel, Natalia Mikhailova, Natalia Kostenok, Laura Ritter, Oxana Klingberg, Eugen Wingert und Anna Reichert. Mein besonderer Dank gilt Frau Dr. Regine Nohejl, die mich von den ersten Tagen meines Studiums an begleitete und ihre Begeisterung für die Wissenscha t mit mir teilte, die in einem inspirierenden Dialog viele Anregungen für meine Arbeit gab und mein Manuskript mehrmals Korrektur gelesen hat. Schließlich wäre die Publikation nicht ohne Unterstützung meiner Eltern möglich gewesen, die meine ersten Zuhörer waren und die die ganze Zeit hinter mir gestanden haben. Freiburg i.Br., im Dezember 2019 Konstantin Rapp

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Einleitung. Zur Bedeutung des »Vaterländischen Krieges« in der russischen Kultur

Es ist kaum möglich, über die Prozesse der Identitätsbildung in Russland zu sprechen, ohne dabei auf die traditionellen Narrative über den russischen Krieg gegen Frankreich im Jahre 1812 zurückzugreifen, der in Russland traditionell als »Vaterländischer Krieg« [»Otečestvennaja vojna«] bezeichnet wird. Man betont den enormen patriotischen Aufschwung, der alle Bevölkerungsschichten nach dem Einfall Napoleons in Russland erfasst habe, die Schlacht von Borodino, aus der zwar kein eindeutiger Sieger hervorgegangen sei, die jedoch bis heute als Beispiel für den präzedenzlosen Mut der Russen gelte; den Brand von Moskau, der als Katastrophe und zugleich als Symbol der Selbstaufopferung der Stadtbewohner für das Wohl von ganz Russland sowie den göttlichen Willen angesehen werde, mit dessen Hilfe Russland aus einer scheinbar unterlegenen Situation heraus den technisch überlegenen Gegner in die Flucht getrieben habe. Es handelt sich dabei um wirkungsmächtige Ideologeme, die sich im Zuge der Institutionalisierung des Gedenkens an den »Vaterländischen Krieg« im 19. Jahrhundert formten und die ihren Niederschlag in den Debatten der Westler und Slavophilen sowie in den Schlüsseltexten der russischen Literatur fanden. Diese Ideologeme sind in der russischen Kultur bis heute wirksam. Infolge der napoleonischen Invasion bildete sich in Russland ein Narrativ heraus, in dem einerseits die Vorstellung von der ständigen Bedrohung aus dem Westen und andererseits die Logik ihrer Überwindung formuliert wurde: Trotz der anfänglichen Schwierigkeiten und der kriegstechnischen Überlegenheit des Westens werde Russland schließlich einen geistig-moralischen Sieg erringen und den Westen im messianischen Sinne retten. Dieses Narrativ, so die Grundthese des slavistischen Teilprojekts1 der interdisziplinären DFG-Forschergruppe 875 »Historische Lebenswelten in populären Wissenskulturen«2 , das 2011-2013 an der Universität Freiburg unter der Leitung 1

2

»Napoleon, Borodino und der ›Vaterländische Krieg‹. Geschichtspopularisierungen im Kontext nationaler Identitätsfindung in Russland« . .

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Napoleon und der »Vaterländische Krieg« in Russland

von Prof. Dr. Elisabeth Cheauré arbeitete, wird in Russland insbesondere in Krisensituationen aktiviert und zeichnet sich durch große Variabilität aus. Eine Untersuchung dieses Narrativs kann als Basis für die Hinterfragung und die Einsicht in die Konstruiertheit der traditionellen Geschichtsvorstellungen dienen. Damit lassen sich nicht nur die Mechanismen des kulturellen Gedächtnisses analysieren, sondern auch die identitätssti tenden Fragen nach dem Verhältnis zwischen Europa und Russland, Individuum und Staat, nach der Rolle der Kunst u.Ä. näher beleuchten. Durch teilnehmende Beobachtung der Jubiläumsfeierlichkeiten von 2012 wurde die Funktionalisierung des Gedenkens an den »Vaterländischen Krieg« in Russland von der slavistischen Arbeitsgruppe bis in die jüngste Gegenwart verfolgt, wobei insbesondere die Figur Napoleons als Projektions läche für unterschiedliche Diskurse diente (vgl. Cheauré 2013, Nohejl 2013; Rapp 2013; Nohejl/Rapp 2013; Cheauré/Nohejl 2014; Cheauré 2014; Šore/Nochejlʼ/Rapp 2015; Rapp 2018). Die Hinwendung zur Geschichte des »Vaterländischen Krieges« im heutigen Russland erscheint besonders aufschlussreich vor dem Hintergrund der Tendenz zur allmählichen Rückkehr zu einem normativen Geschichtsverständnis, die im Kontext der Identitätskrise infolge des Zerfalls der Sowjetunion zu sehen ist. Im Jahre 2009 wurde von Präsident Medvedev eine Kommission zur Vorbeugung gegen »Fälschungen der Geschichte zum Nachteil Russlands« gegründet,3 womit der russische Staat seinen Anspruch auf die Deutungshoheit über die nationale Geschichte artikulierte. Das Bestreben, die Auslegung der Geschichte des »Vaterländischen Krieges« für sich in Anspruch zu nehmen, drückte sich auch in der Gründung einer staatlichen Kommission4 und eines Ö fentlichen Beirats5 3

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Ukaz Prezidenta Rossijskoj Federacii ot 15 maja 2009 g. N. 549 »O Komissii pri Prezidente Rossijskoj Federacii po protivodejstviju popytkam fal’sifikacii istorii v uščerb interesam Rossii« [Ukaz des Präsidenten der Russischen Föderation vom 15. Mai 2009, Nr. 549 »Über die Kommission beim Präsidenten der Russischen Föderation zur Vorbeugung von Fälschungen der Geschichte zum Nachteil der Interessen Russlands«], http://kremlin.ru/acts/bank/29288. Das Gesetz trat mit dem Ukaz Nr. 183 vom 14. Februar 2012 zwar außer Kra t, jedoch wurde die Verhinderung von angeblichen Geschichtsfälschungen zu einem wichtigen Anliegen des »Jahres der russländischen Geschichte« [»God rossijskoj istorii«] erklärt, das von Präsident Medvedev für das Jahr 2012 ausgerufen wurde (vgl. Punkt 8a), . Gosudarstvennaja komissija po podgotovke k prazdnovaniju 200-letija pobedy Rossii v Otečestvennoj vojne 1812 goda [Staatliche Kommission zur Vorbereitung auf die Ausrichtung des 200-jährigen Jahrestags des Sieges Russlands im Vaterländischen Krieg von 1812], vgl. den Ukaz Nr. 1755 vom 28. Dezember 2007, ; . Obščestvennyj sovet po sodejstviju Gosudarstvennoj komissii po podgotovke k prazdnovaniju 200-letija pobedy Rossii v Otečestvennoj vojne 1812 goda [Ö fentlicher Beirat zur Unterstützung der Staatlichen Kommission zur Vorbereitung auf die Ausrichtung des 200-jährigen

1 Einleitung. Zur Bedeutung des »Vaterländischen Krieges« in der russischen Kultur

aus, die von Präsident Putin bereits 2007 initiiert und mit der Organisation und Durchführung des Jubiläums 2012 betraut wurden (vgl. Nohejl 2013:65). Mit der Neugründung der Russischen Militärhistorischen Gesellscha t [Rossijskoe Voenno-Istoričeskoe Obščestvo] – einer Institution, die 1912 mit dem Ausrichten des 100-jährigen Jubiläums betraut war und die 2012 von Präsident Putin unter dem Vorsitz von Kulturminister Vladimir Medinskij wieder ins Leben gerufen wurde6 , wird ein a firmativer Anschluss an die russische imperiale Tradition geradezu überdeutlich. Somit avanciert das 100-jährige Jubiläum 1912 nicht nur zu einer wichtigen Etappe jahrhundertelanger Tradierung der Erinnerung an den »Vaterländischen Krieg«, sondern auch zu einem wichtigen Hintergrund für die aktuellen kulturpolitischen Prozesse, den es näher zu erforschen gilt.

1.1

Ziele und Fragestellungen der Arbeit

In der vorliegenden Arbeit werden die unterschiedlichen Repräsentations- und Popularisierungsformen des russischen »Vaterländischen Krieges« 18127 im Kontext von dessen 100-jährigem Jubiläum untersucht. Es soll der Frage nachgegangen werden, inwiefern die Darstellungen Napoleons und des »Vaterländischen Krieges« in wissenscha tlichen und literarischen Texten sowie in populären Medien im Jahr 1912 in den Diskussionen um die russische nationale Identität funktionalisiert wurden. Es handelt sich um eine kultur- und literaturwissenscha tlich orientierte Arbeit, die von einer konstruktivistischen Geschichtsau fassung ausgeht und die ›historische Wahrheit‹ als Resultat diskursiver Prozesse betrachtet, die ständig neu ausgehandelt werden: »Was ›objektives Wissen‹ genannt wird, ist bei Lichte besehen nichts weiter als ein intersubjektives Wissen, das auf Hypothesen beruht. Wahrheit ist, was ich und andere für wahr halten und einander als Wahrheiten bestätigen.« (Baberowski 2005:28). Die Ausdi ferenzierung von wissenscha tlichen, literarischen und populären Diskursen ermöglicht es, die E fekte der populären

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Jahrestags des Sieges Russlands im Vaterländischen Krieg von 1812], vgl. . Vgl. den Ukaz Nr. 1710 vom 29. Dezember 2012 ; . Die Forschungsliteratur zu den napoleonischen Kriegen und zur Epoche von 1812 ist sehr umfangreich. Die russische Forschungsliteratur wird in Überblickswerken (z.B. Abalichin/Dunaevskij 1990; Bol’šakova 2012) sowie in der historiographischen Doktordissertation des Historikers Igorʼ Aleksandrovič Šein beleuchtet (Šein 2002, 2013). Die wichtigsten Publikationen aus der westlichen Forschung erwähnt in seiner umfassenden Studie der britische Historiker Dominic Lieven, dessen Buch »Russia Against Napoleon« (Lieven 2010) auch in russischer Übersetzung vorliegt (Liven 2012).

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Napoleon und der »Vaterländische Krieg« in Russland

Tradierung der Erinnerung an den »Vaterländischen Krieg«, wie die des intermedialen Transfers zwischen Bild und Wort, zwischen Egodokument und schöngeistiger Literatur, zwischen ›hohen‹ und ›niederen‹ Gattungen, zu beschreiben. Dabei wird die Jubiläumsfeier 1912, die landesweit mit großem institutionellem Aufwand begangen wurde, als Leitdiskurs und institutioneller Rahmen begri fen. Durch eine Analyse der bisher kaum untersuchten populären Geschichtsdarstellungen, die im Kontext des Jubiläums entstanden und die o fizielle Lesart der Geschichte verbreiten sollten, lässt sich die Erinnerung an Napoleon und den »Vaterländischen Krieg« in die Prozesse nationaler Identitätsfindung in Russland einordnen.

1.2

Vom »napoleonischen Mythos« zum »napoleonischen Narrativ«: Zur Entwicklung eines methodologischen Modells

Um die Ambivalenz der Figur Napoleons in der russischen Kultur und deren vielfältige Konnotierungen auf der Textebene herauszuarbeiten und eine Metaebene für die Untersuchung der Jubiläumsmedien zu konstruieren, werden in der vorliegenden Arbeit zwei methodologische Modelle entwickelt, die aus der gemeinsamen Arbeit des oben erwähnten Teilprojekts der DFG-Forschergruppe »Historische Lebenswelten in populären Wissenskulturen« hervorgingen: das Modell des »napoleonischen Mythos« und das des »napoleonischen Narrativs«. Diese Modelle, die einander komplementär ergänzen, sollen im Folgenden näher erläutert werden. Das Forschungsfeld zum Mythos ist heutzutage kaum zu überblicken, doch zeugt der breite Gebrauch dieses Terminus davon, dass verschiedenste Disziplinen einen großen »Bedarf« nach einer solchen Kategorie haben (vgl. Barner/Detken/Wesche 2003:8-9). Eine Möglichkeit der terminologischen Eingrenzung bieten die sog. »Minimaldefinitionen«, wobei das Spannungsverhältnis des Mythos zur Wahrheit, zur Literatur, zum historiographischen Wissen sowie die ständige Hinterfragung der Funktionen des Mythischen im Kontext der jeweiligen Fragestellung produktiv gemacht werden (vgl. Barner/Detken/Wesche 2003:10-16; SchmitzEmans 2004:9-10). Während die Mythisierung Napoleons im europäischen Kontext geradezu als »überforschte[r] [Forschungs-]Gegenstand« (Broich 2004:258) gelten kann (vgl. dazu Wülfing 1991; Beßlich 2007; Grünes 2010), scheint der russische »napoleonische Mythos«, insbesondere die Funktion der Napoleon-Figur als Projektions läche für verschiedene politische und kulturgeschichtliche Diskurse, noch nicht genügend untersucht zu sein. Als Vorarbeiten dazu lassen sich Untersuchungen betrachten, die die literarische Rezeption der Napoleon-Figur bei den russischen ›Klassikern‹ untersuchen (z.B. Murav’eva 1991; Vol’pert 2010). Vom zunehmenden Interesse an der Mythosforschung in Russland zeugen auch in den letzten Jahrzehnten erschienene Sammelwerke, die sich der Aufarbeitung der russischen eorien des Mythos

1 Einleitung. Zur Bedeutung des »Vaterländischen Krieges« in der russischen Kultur

(Toporkov 1997), der identitätssti tenden Rolle des Mythos und dessen Ästhetik (Chrenov 2011) sowie dem Zusammenhang der Kategorie des Mythischen mit der Massenkultur (Syrov 2010) widmen, ohne jedoch auf die ematik der napoleonischen Kriege direkt einzugehen. Schließlich sind Arbeiten zu nennen, die sich dem Mythosbegri f zunehmend im konstruktivistischen Sinne zuwenden (Matjušenko 2003; Čerepanova 2011; Velikaja 2011; Zagidullina 2012; Denisenko 2012) und deren Aufmerksamkeit sich verstärkt auf die Funktion der Napoleon-Figur in der gegenwärtigen russischen Gesellscha t richtet (vgl. Rapp 2014:18-19). In Anlehnung an die Arbeiten von Mircea Eliade (Eliade 2003), Jan Assmann (Assmann 2003), Molly Wesling (Wesling 2001) und Elena Matjušenko (Matjušenko 2003) wird der »napoleonische Mythos« in der vorliegenden Arbeit als Rezeptionsphänomen und Ergebnis diskursiver Prozesse aufgefasst, d.h. als Resultat mehrerer verschiedenartiger Bewertungen und Deutungen von Napoleons realem historischem Wirken, die sich in einer konkreten historischen Epoche entfalten, im Spannungsfeld zwischen der gesamteuropäischen und der spezifisch russischen Kultur stehen und durch den individuellen Blick der einzelnen Interpreten (Schri tsteller, Kommentatoren, Historiker) beein lusst werden (vgl. Matjušenko 2003:174) (Ill. 1): Illustration 1: Schematische Darstellung der konstruktivistischen Au fassung des »napoleonischen Mythos« nach Matjušenko 2003. Abendländischer/gesamteuropäischer kulturhistorischer Hintergrund

Konkrete historische Epoche

Die reale Tätigkeit Napoleons wird bewertet, rezipiert und medial repräsentiert

Persönlichkeit des Interpreten (Schriftstellers, Kommentators, Historikers)

Spezifik der russischen Kultur

Dieser konstruktivistische Ansatz erlaubt es einerseits, die Napoleon-Figur als Projektions läche für verschiedene Diskurse, als »locus of organization for cultural texts of di ferent genres, and functions as the subject of a cultural mythology« (Wesling 2001:xiii) zu betrachten. Andererseits berücksichtigt er auch die Dialektik

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Napoleon und der »Vaterländische Krieg« in Russland

des Personenmythos, wie er von der Vorstellung einer kulturellen Leitfigur [russ. ›kul’turnyj geroj‹] im modernen Verständnis der Neuzeit hervorgebracht wird (vgl. Virolajnen 1995): Obwohl sich Napoleon in bestimmte Traditionen aktiv einschreibt, wird er von diesen gleichzeitig unwillkürlich geprägt bzw. von seinen Zeitgenossen und Nachfahren durch bestimmte Archetypen der jeweiligen Kultur wahrgenommen. In der europäischen Kultur wurde der »napoleonische Mythos« im Wesentlichen durch die Ereignisse der Französischen Revolution vorbereitet. Sie ermöglichte erst den Aufstieg Napoleons und brachte den Kult einer starken, aktiven Persönlichkeit hervor, mit der er assoziiert wurde (vgl. Matjušenko 2003:175-176). Nicht zuletzt dank seiner gezielten Medienpolitik und Selbstdarstellung in der Kunst wurde Napoleon, der sich zu Caesar, Augustus und Alexander dem Großen stilisieren ließ (vgl. Reichardt/Schmidt/ amer 2010:8-9), vor dem Krieg von 1812 vor allem mit der heroisch-römischen Tradition assoziiert. Dabei wurden seine Eigenscha ten als starke Persönlichkeit, als self made man, Kämpfer für die Freiheit und die Ideale der Französischen Revolution sowie als genialer Politiker und Feldherr hervorgehoben (vgl. Matjušenko 2003:177-179). Auch in der frankophilen russischen Gesellscha t des frühen 19. Jahrhunderts genoss Napoleon insbesondere im liberal gesinnten Adel große Popularität, die jedoch mit dem Beginn des Krieges vorläufig abbrach. Ähnlich wie nach den napoleonischen Kriegen in Europa und in Einklang mit russischen eschatologischen Vorstellungen wurde Napoleon dämonisiert und als »Antichrist«, »apokalyptisches Tier« und »Geißel der Völker« stilisiert (vgl. Matjušenko 2003:182; Murav’eva 1991:67). Diese Bilder wurden von der o fiziellen Presse während des Krieges dazu genutzt, um in der Bevölkerung Hass und Rachegefühle gegen die Franzosen zu schüren (vgl. Nesterova 2006; Stroganov 2012:214-244). Das Napoleon-Bild wurde auch in großem Maße durch visuelle Medien – Karikaturen und die lubki [Holzschnittdrucke] – geprägt, die erstmals eine einheitliche Symbolik für das Russentum (Bauern, Recken, Kosaken) in Opposition zum Gegner festschrieben (Višlenkova 2005:127-133; Višlenkova 2011:154-209; Norris 2006). Die lubki stellten das ›einfache Volk‹ – Bauern, Frauen und Kinder – als groß, stark und überlegen gegenüber den Franzosen dar (vgl. den »Russischen Herkules« [»Russkij Gerkules«] Ivan Ivanovič Terebenevs (1780-1815), Višlenkova 2011:199, 251-252). Die in den Karikaturen und lubki festgehaltene Symbolik ebnete den Weg zur Entwicklung des literarischen Diskurses und begünstigte die Entstehung einer nationalen Rhetorik (vgl. Višlenkova 2005:145-146). Mit dem fortschreitenden Erfolg der russischen Armee wurde Napoleon allmählich zum »kleinen Teufel/Dämon« [»besovsk[aja] nečist[ʼ]«] herabgestu t (vgl. Nesterova 2006:261) und insbesondere durch die lubki karnevalisiert (vgl. Cheauré 2014). Die Katastrophe der napoleonischen Armee in Russland avanciert zum zentralen Wendepunkt des russischen »napoleonischen Mythos«, der eine bemerkens-

1 Einleitung. Zur Bedeutung des »Vaterländischen Krieges« in der russischen Kultur

werte Umkehrung der Verhältnisse mit sich bringt. Der Sieg über einen scheinbar überlegenen Gegner wird dabei entsprechend den russischen messianischen Vorstellungen als Folge der ›Hybris‹ des Westens interpretiert. Daraus wird die wahre Größe Russlands abgeleitet, das sich als legitimer Nachfolger des Römischen Reiches stilisiert (vgl. schon das Ideologem von Moskau als »3. Rom« nach dem Fall von Konstantinopel 1453). Der Krieg mit Napoleon wird zur ultimativen Schlacht gegen das Böse stilisiert, in der Russland die entscheidende Rolle als ›Retter Europas‹ zugesprochen wird (vgl. Cheauré 2013; Nohejl 2013). Durch Napoleons Niederlage in Russland und insbesondere nach seinem Tod in der Verbannung auf St. Helena wandelte sich das Napoleon-Bild erneut, es wurde nunmehr eine tragische Linie des »napoleonischen Mythos« aktiviert: »Republik – Imperium – Fall« [»respublika – imperija – padenie«] (Matjušenko 2003:178). Ähnlich wie der »Kulturheld« Prometheus wird Napoleon retrospektiv zu einem Träger der republikanischen Werte der Französischen Revolution und der Au klärung stilisiert, der dafür mit Verbannung bestra t wird bzw. der seine früheren Ideale durch seinen Despotismus unterminiert (vgl. Matjušenko 2003:177-179; Vol’pert 2010:345346). Dazu kam die russische romantische Tradition, in der die Motive des Leidens, der Einsamkeit und der Verbannung eine wichtige Rolle spielen. Diese Interpretation wurde auch durch eine besondere Kenosis-Rezeption in Russland (vgl. Röhrig 2006; Kissel 2004:5-7; U felmann 2010), d.h. die Vorstellung, dass man seine göttliche Mission nach dem Vorbild des leidenden Christus gerade im persönlichen Leid, in Selbstaufgabe oder gar im Tod erfüllt, sowie durch spätere historische Ereignisse, z.B. den Dekabristenaufstand 1825, begünstigt (vgl. Matjušenko 2003:189-190). Die Vorstellung von der heroischen und der tragischen Linie des »napoleonischen Mythos« erlaubt es, die russische Napoleon-Rezeption im Spannungsfeld dieser beiden Pole zu verorten: Die Dämonisierung Napoleons tritt nicht mit seiner romantischen Überhöhung in Widerspruch, sondern verschmilzt mit ihr in komplexer Weise. Diese Ambivalenz lässt sich am Beispiel von zwei Schlüsseltexten der russischen Literatur veranschaulichen, die bereits in den 20er – 30er Jahren des 19. Jahrhunderts eine fortschreitende Mythisierung Napoleons widerspiegeln. Im Gedicht Aleksandr Sergeevič Puškins (1799-1837) »Napoleon« (1821, publ. 1826) wird der Krieg mit Napoleon im messianischen Sinne als Voraussetzung für eine Besinnung des »russischen Volkes« auf seine »hohe Bestimmung« stilisiert. Zugleich ru t der Dichter zur Identifikation mit Napoleon auf, der für ihn gerade »in der Finsternis der Verbannung« zum Symbol der »ewigen Freiheit« avanciert. Das messianische Pathos und das Mitleid mit dem gefallenen Helden werden seitdem zu besonderen nationalen Charakterzügen der russischen Kultur stilisiert (vgl. Vol’pert 2010:356-357):

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Napoleon und der »Vaterländische Krieg« in Russland

Да будет омрачен позором Тот малодушный, кто в сей день Безумным возмутит укором Его развенчанную тень! Хвала! он русскому народу Высокий жребий указал И миру вечную свободу Из мрака ссылки завещал. (Puškin 1977:60) So sei mit Schande be leckt Jener Kleinmütige, der heutzutage Mit einem unsinnigen Vorwurf seinen Entthronten Schatten beunruhigen möchte! Lob! Er zeigte dem russischen Volk Seine hohe Bestimmung Und verkündete der Welt die ewige Freiheit Aus der Finsternis der Verbannung. Im Gedicht Michail Jur’evič Lermontovs (1814-1841) »Dva velikana« [»Zwei Riesen«] (1832, publ. 1842), das sich stark an der folkloristischen Tradition orientiert, findet sich bereits das zentrale Bild des »russischen Recken«, der den angeblich übermächtigen Napoleon mit Leichtigkeit besiegt. Charakteristisch ist dabei die Logik, die Lermontov dem Krieg gegen Napoleon mithilfe der Naturmetaphorik zuschreibt: Er wird als zyklisch wiederkehrende, bedrohliche, aber vorübergehende Wettererscheinung (»Kriegsgewitter«) imaginiert, wobei Napoleon am Ende des Gedichts in seiner traditionellen mythischen Rolle des Rebellen wieder seinem Element, dem »Meer« und dem »Sturm«, zugeführt wird: Два великана В шапке золота литого Старый русский великан Поджидал к себе другого Из далеких чуждых стран. За горами, за долами Уж гремел об нем рассказ; И померяться главами Захотелось им хоть раз. И пришел с грозой военной Трехнедельный удалец, –

1 Einleitung. Zur Bedeutung des »Vaterländischen Krieges« in der russischen Kultur

И рукою дерзновенной Хвать за вражеский венец. Но улыбкой роковою Русский витязь отвечал; Посмотрел – тряхнул главою... Ахнул дерзкий – и упал! Но упал он в дальнем море На неведомый гранит, Там, где буря на просторе Над пучиною шумит. (Lermontov 1989a:262) Zwei Riesen In einer Mütze aus gegossenem Gold Erwartete ein alter russischer Riese/Recke Bei sich einen anderen Aus weit entfernten fremden Ländern. Hinter Bergen, hinter Tälern Rumorte schon ein Gerücht über ihn; Und sie bekamen Lust, sich Wenigstens einmal miteinander zu messen. Und nun kam mit Kriegsgewitter Ein dreiwöchiger Wagehals – Und gri f mit frecher Hand Nach dem feindlichen Kranz. Doch mit einem verhängnisvollen Lächeln Antwortete der russische Recke; [Er] schaute hin – schüttelte sein Haupt... Der Freche ächzte – und fiel! Doch fiel er im weit entfernten Meer Auf unbekanntem Stein, Dort, wo der Sturm in der Weite Über dem Abgrund des Meeres rauscht.

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Napoleon und der »Vaterländische Krieg« in Russland

Die charakteristische Interpretation des »Vaterländischen Krieges«, die in den zwei Linien und ambivalenten Zuschreibungen des russischen »napoleonischen Mythos« festgehalten wird, lässt sich in Form eines Narrativs analytisch greifen, das im Folgenden als das »napoleonische Narrativ« bezeichnet wird. Als analytischer Leitbegri f wird das »napoleonische Narrativ« in der vorliegenden Arbeit auf drei Ebenen verwendet: 1. Als für Russland spezifische Logik der Interpretation der historischen Ereignisse des »Vaterländischen Krieges«, die sich zu folgender Formel zusammenfassen lässt: Trotz der anfänglichen technisch-materiellen Überlegenheit des Westens wird Russland letztendlich einen geistig-moralischen Sieg über den westlichen Gegner erringen und den Westen im messianischen Sinne retten (vgl. Nohejl 2013:61-62; Šore/Nochejlʼ/Rapp 2015:178). Diese Vorstellung von der ständigen Bedrohung aus dem Westen und der Logik von deren Überwindung, die sich in Russland insbesondere im Zuge der staatlichen Vereinnahmung des Gedenkens an den Krieg von 1812 herausgebildet hat, dient als Metaebene für die Untersuchung der Jubiläumsmedien des Jahres 1912. 2. Als eigentliche Erzählung über die Invasion Napoleons in Russland im Jahr 1812, die sich in visuellen, literarischen und historiographischen Quellen niederschlug und sich entsprechend der oben beschriebenen Logik in den zentralen Topoi der Kriegsgeschichte manifestiert. Zu den zentralen Topoi des »napoleonischen Narrativs« zählen z.B. die Überquerung der Memel und die Invasion der Grande Armée in Russland; der Rückzug der russischen Armee und die Aufgabe von Smolensk; die Absetzung und Abwertung Michail Bogdanovič Barclay de Tollys (17611818) und die Ernennung Michail Illarionovič Kutuzovs (1745-1813) zum Oberbefehlshaber der russischen Armee; die Schlacht von Borodino; der Kriegsrat von Fili und die Aufgabe Moskaus; der Einzug Napoleons in Moskau; die Plünderung und der Brand Moskaus; der Rückzug der napoleonischen Armee aus der Hauptstadt; die Verfolgung der Grande Armée im Partisanen- und »Volkskrieg«; die Schlacht an der Berezina und die Vertreibung der napoleonischen Armee aus Russland. Diese Topoi werden im jeweiligen Kapitel anhand konkreter Quellen ausführlich besprochen. 3. Im semiotischen Sinne wird unter dem »napoleonischen Narrativ« ein einheitlicher ›Text‹ des Krieges von 1812 verstanden, der bestimmte Topoi, Motive und Figuren beinhaltet und durch die Hybridisierung unterschiedlicher Medien und der Quellen unterschiedlicher Gattungen entsteht. Dieser Kanon des »Vaterländischen Krieges« wurde im Kontext des 100-jährigen Jubiläums erstmals in seinen Grundrissen re lektiert und kam in Jubiläumsanthologien und Geschichtslehrbüchern zum Ausdruck (vgl. Kap. 3.2., 5.2.). Eine Untersuchung dieses ›Textes‹ im Sinne von Jean-François Lyotards »master narrative« (vgl. Lyotard 1989) und Katerina Clarks »master plot« (vgl. Clark 1985) erlaubt es, die Prozesse der diskursiven Formung des kulturellen Gedächtnisses nachzuvollziehen sowie die ideologische

1 Einleitung. Zur Bedeutung des »Vaterländischen Krieges« in der russischen Kultur

Funktionalisierung der Erinnerung an den Krieg von 1812 analytisch zu greifen. Wie es der Historiker der Europäischen Universität in Sankt Petersburg Vladimir Lapin betont, Имена героев, названия мест, где происходили судьбоносные для страны или нации сражения, обычно составляют символический ряд, который обозначает контуры картины прошлого в том виде, в каком его воспринимает массовое историческое сознание. Такой »военно-патриотический« блок исторической памяти включает в себя набор из нескольких десятков событий, имен и топонимов, образующих более или менее стройный иерархический ряд. […] Бородино, Кутузов, Багратион, Барклай, партизан Давыдов, Василиса Кожина, пожар Москвы, Малоярославец, Березина – все это стало символами, объединяющими нацию, поскольку абсолютное большинство воспринимает их паролями отечественной воинской славы. (Lapin 2012b:88) Die Namen der Helden und der Orte, an denen die für das Land und die Nation schicksalha ten Schlachten stattfanden, bilden in der Regel eine symbolische Reihe, die die Konturen eines Bildes der Vergangenheit nachzeichnet, so wie das historische Massenbewusstsein diese wahrnimmt. Ein solcher »militärpatriotischer« Block des historischen Gedächtnisses beinhaltet ein Set von einigen Dutzend Ereignissen, Namen und Toponymen, die eine mehr oder weniger logische hierarchische Reihe bilden. […] Borodino, Kutuzov, Bagration, Barclay, der Partisan Davydov, Vasilisa Kožina, der Brand von Moskau, Malojaroslavec, die Berezina – all das wurde zu Symbolen, die die Nation einigen, da sie von der absoluten Mehrheit als Parolen des vaterländischen militärischen Ruhmes wahrgenommen werden. Der analytische Begri f des »napoleonischen Narrativs« erlaubt es einerseits, die Überlegungen von Hayden White zu berücksichtigen, der auf die Rolle literarischer Muster und Genres in der Geschichtsschreibung sowie auf die identitätsstiftende Rolle von Narrativen hinwies (vgl. White 1973). Andererseits kann man damit auch an Richard Wortman (Wortman 1995, 2000) anknüpfen, der sein analytisches Modell der »Szenarien der Macht« [»scenarios of power«] in einer Diskussion mit russischen Kollegen als »das Narrativ einer jeden Herrscha tsperiode, das die Bedeutung der Zeremonien und deren Ausführung formte« [»доминирующий нарратив каждого царствования, который формировал исполнение и значение разнообразных церемоний«], präzisierte (Kak sdelana istorija 2002:54).

1.3

Zum Begriff des Populären und zur Bildung des Quellenkorpus

Zu den Grundthesen der oben erwähnten DFG-Forschergruppe, die sich der interdisziplinären Erforschung der Popularisierung von historischem Wissen in ver-

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Napoleon und der »Vaterländische Krieg« in Russland

schiedenen Kulturen der Welt widmete (vgl. Korte/Paletschek 2009; Pirker 2010; Cheauré/Nohejl 2014), gehörte die Überlegung, dass nationale Identitäten in weit größerem Maße durch populäre Geschichtsdarstellungen geprägt werden als z.B. durch die traditionelle akademische Geschichtsschreibung. Dies führt zu der Frage, welche Rolle diesen Medien bei der Tradierung der Erinnerung an den Krieg von 1812 in Russland zukam und bis heute zukommt. Die Ausgangsthese der vorliegenden Arbeit lautet, dass gerade den populären Medien eine Schlüsselrolle bei der Verankerung der staatso fiziellen Kriegsinterpretation auf der Alltagsebene im Rahmen der Jubiläumskultur zukam. Die Schwierigkeit, den Begri f des Populären im Kontext der russischen Kultur zu definieren, ergibt sich bereits aus deren traditioneller Dualität, die sich auf das Fehlen einer Mittelebene zwischen »Hoch« und »Nieder« im christlich-orthodoxen Weltbild zurückführen lässt (vgl. Lotman/Uspenskij 1977). Vor dem Hintergrund des hohen Prestiges literarischer Texte, das die russische schöngeistige Literatur von den altkirchenslavischen Schri ten erbte, ist auch eine besondere Sensibilität für die ›Wahrheit‹ eines Textes zu sehen, die eine Schlüsselrolle in der Poetik der historischen Prosa spielt (vgl. Ungurianu 2007; Soročan 2008). Schließlich führt die traditionell unzureichende Ausdi ferenzierung der gesellscha tlichen Diskurse dazu, dass wissenscha tliche, historiographische und literarische Texte nicht streng genug voneinander abgegrenzt werden können, sodass gerade der russischen schöngeistigen Literatur die Rolle eines universellen Diskussionsmediums zukommt (vgl. Parthé 2004:5). Die Vorstellung vom Populären impliziert eine Hierarchie, die sich besonders in den russischen literaturkritischen Debatten über die historische Prosa zeigt und sich aus den Zuschreibungen der zeitgenössischen Akteure rekonstruieren lässt. Dabei wird ein Kanon russischer ›Klassiker‹ (z.B. A.S. Puškin, M.Ju. Lermontov, Lev Nikolaevič Tolstoj (1828-1910)) traditionell der ›historischen Belletristik‹ (z.B. Dmitrij Savvatievič Dmitriev (1848-1915), Daniil Lukič Mordovcev (1830-1905), Grigorij Petrovič Danilevskij (1829-1890)) gegenübergestellt, die selbst in der jüngsten russischen Literaturwissenscha t, die sich um einen konstruktivistischen Zugang zur historischen Prosa bemüht (z.B. Soročan 2008; Penskaja 2012), als qualitativ minderwertig angesehen wird. Untersuchungen der russischen historischen Prosa belegen, dass die ›Authentizität‹ literarischer Geschichtsdarstellungen [russ. ›dostovernost’‹, ›istoričeskaja pravda‹] ein Schlüsselkriterium bei der Unterscheidung von ›Klassikern‹ und ›Belletristen‹ darstellt (vgl. Al’tšuller 1996; Ungurianu 2007, 2011; Soročan 2008; Penskaja 2012). Es handelt dabei um komplexe Konstruktionen bzw. Authentizitätsfiktionen (vgl. Pirker 2010; Saupe 2017), die auch zu den wichtigen künstlerischen Mitteln der schöngeistigen Literatur zählen (vgl. Ungurianu 2007:40-54). Von der Überlegung ausgehend, dass der Anspruch der o fiziellen Literaturkritik auf eine faktisch korrekte Darstellung des »Vaterländischen Krieges« zugleich die Deutungshoheit der o fiziellen Machteliten bei der Interpretation der

1 Einleitung. Zur Bedeutung des »Vaterländischen Krieges« in der russischen Kultur

nationalen Geschichte zum Ausdruck bringt, ist danach zu fragen, mithilfe welcher künstlerischer Verfahren die Authentizitätsfiktion in populären Geschichtsdarstellungen hergestellt und/oder (bewusst) unterminiert wurde. Um diese Frage zu beantworten, erweist es sich als produktiv, populäre Darstellungen des »Vaterländischen Krieges« aus der Perspektive des Verhältnisses von ›Fakt‹ und ›Fiktion‹ zu betrachten. Die fiktionale Gestaltung des Krieges von 1812 in literarischen Texten kann dabei als eine Projektion traditioneller Genres, Sujets und Motive der russischen Literatur auf die als ›faktual‹/historisch korrekt geltenden Topoi der offiziellen Geschichtsinterpretation bzw. des »napoleonischen Narrativs« betrachtet werden (vgl. Kap. 4). Diese konstruktivistische Perspektive erlaubt es, den Akzent auf die Poetik der populären Medien zu legen, die es aus ihrer jeweiligen Funktion heraus zu beschreiben und zu präzisieren gilt. Dabei ist die Erkenntnis der DFG-Forschergruppe »Historische Lebenswelten« zu berücksichtigen, dass populäre Geschichtsdarstellungen weniger durch objektive Mittel (etwa durch historische Dokumente und Artefakte), sondern vielmehr durch emotionale Involvierung den Leser dazu bringen, sich mit den jeweiligen Inhalten zu identifizieren (vgl. Pirker/Rüdiger 2010:16). Mit dem Begri f des Populären werden insbesondere die Tradition der ›niederen‹ bzw. ›Volksliteratur‹ und die ›Autoren der zweiten Reihe‹ in den Blick genommen. Die Ausdi ferenzierung der populären Ebene erfolgt dabei einerseits aus den impliziten Wertungen und Zuschreibungen der zeitgenössischen Akteure, wenn sie z.B. von ›belletristischen‹ Werken sprechen. Andererseits wird der Populärbegri f pragmatisch im Hinblick auf die Verbreitung des »napoleonischen Narrativs« definiert, womit die dem Begri f innewohnende Semantik der ›Verbreitung‹ produktiv gemacht wird: Ein Medium ist insofern populär, als es das »napoleonische Narrativ« popularisiert bzw. verbreitet. Eine solche extensive Deutung des Populären soll es ermöglichen, die beiden Pole des dichotomischen Modells ›Hochkultur‹ – ›Niederkultur‹ funktional, d.h. auf der Metaebene der Verbreitung der o fiziellen Kriegsinterpretation bzw. des »napoleonischen Narrativs« zu erfassen. Somit liegt ein wichtiges Ziel der vorliegenden Arbeit darin, die traditionellen Dichotomien von ›Hoch-‹ und ›Nieder-‹ bzw. ›Populärkultur‹ oder von ›Fakt‹ und ›Fiktion‹ zu hinterfragen. Das Quellenkorpus der vorliegenden Arbeit setzt sich aus ausgewählten Medien des Jubiläumsjahres 1912 zusammen, die im Zuge des 200. Jubiläums des »Vaterländischen Krieges« 2012 durch eine umfassende Digitalisierung von Archivund Bibliotheksbeständen erstmals in elektronischer Form ö fentlich zugänglich gemacht wurden.8 Obwohl es sich um eine gezielte Auswahl handelt, machen diese 8

Zu nennen sind z.B. folgende Online-Projekte: https://www.prlib.ru/collections/467016; ; ; ; ; ; ; .

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Napoleon und der »Vaterländische Krieg« in Russland

Materialien deutlich, in welchem immensen Umfang die ematik des »Vaterländischen Krieges« in den Medien des Jubiläumsjahres 1912 präsent war. Eine typologische Beschreibung und Analyse dieser verschiedenartigen Medien stehen noch weitgehend aus und stellen eine notwendige Voraussetzung für eine umfassende Untersuchung des 100-jährigen Jubiläums des »Vaterländischen Krieges« in Russland dar (vgl. Cimbaev 2007). Die vorliegende Arbeit versteht sich als Beitrag zur Systematisierung der Quellen. Entsprechend den identifizierten Diskursfeldern wird der Schwerpunkt auf populärwissenscha tliche, pädagogische, literaturkritische und literarische Werke gelegt. Die Quellen werden nach den folgenden Kriterien ausgewählt: •



Chronologische Eingrenzung auf die Jahre 1911-1913 und expliziter Bezug auf das 100-jährige Jubiläum, z.B. durch Paratexte (z.B. »1812-1912«, »K jubileju Otečestvennoj vojny« [»Zum Jubiläums des Vaterländischen Krieges«], »Stoletie Otečestvennoj vojny« [»Der 100. Jahrestag des Vaterländischen Krieges«] u.a.); Inhaltliche/thematische Eingrenzung nach den Schlüsselfragen und Topoi des »napoleonischen Narrativs« (z.B. Napoleon und Kutuzov; Schlacht von Borodino; Aufgabe und Brand Moskaus; Partisanen- und »Volkskrieg« u.a.).

Mit dem Modell eines »Kulturkreislaufs« [»Circuit of Culture«] lässt sich ein komplexes System kultureller Zusammenhänge veranschaulichen, aus denen die diskursive Wirkung eines Textes erschlossen werden kann: »[T]o study [a text or artefact] culturally, one should at least explore how it is represented, what social identities are associated with it, how it is produced and consumed, and what mechanisms regulate its distribution and use.« (Du Gay u.a. 1997:3). Die vorliegende Arbeit versteht sich als eine Vorstufe zu einer solchen umfassenden Analyse. Aufgrund der Quellenlage lassen sich die populären Medien des Jubiläumsjahres 1912 vor allem auf den Ebenen der Textproduktion und der zeitgenössischen und späteren Rezeption untersuchen. Mithilfe eines diskursanalytischen Zugri fs (vgl. Jäger 1997) sollen dabei die ideelle Ausrichtung und institutionelle Verankerung des jeweiligen Autors bzw. Interpreten sowie die intendierte Zielgruppe des Textes rekonstruiert und insbesondere die Logik herausgearbeitet werden, mithilfe derer der Rezipient dazu gebracht wird, sich mit den Ereignissen der russischen Geschichte zu identifizieren. Die Repräsentation des Krieges von 1812 in den Medien des Jubiläumsjahres 1912 lässt sich im Spannungsfeld zwischen drei Polen verorten (Ill. 2): 1. Auf der Ebene der historischen Stilisierung werden jene elementaren Mittel untersucht, mit denen der Text Bezug auf eine historische Epoche nimmt, um als ein Werk der historischen Prosa zu gelten. Hierzu werden die im Text erwähnten Kriegsrealien, Toponyme, historischen Persönlichkeiten und chronologischen Eckpunkte beschrieben sowie auch Erzählperspektive, Figurenrede, sujetbildende

1 Einleitung. Zur Bedeutung des »Vaterländischen Krieges« in der russischen Kultur

Illustration 2: Schematische Darstellung des methodologischen Zugri fs.

Repräsentation der Geschichte in den Jubiläumsmedien Historische Stilisierung

Ideologische Lenkung

Bezug auf die historische Epoche   

Anpassung an das traditionelle „napoleonische Narrativ“

Zeit, Ort, Ereignisse Personengestaltung inkl. Figurenrede Sujetbildende Motive

  

Verarbeitete Topoi Logik der Geschichtsdarstellung Semantik der literarischen Form

Didaktische Aspekte Spielerisches Lernen  Allgemeinbildung und Aufklärung für Kinder und Erwachsene

Motive und intertextuelle Parallelen, die sprachlich-stilistische Gestaltung des Textes und im breiten Sinne die »symbolischen Ordnungen« (Schneider 2001:47), über die die historische Kulisse konstruiert wird. Die Herausarbeitung der historischen Stilisierung der Jubiläumstexte ermöglicht es, die implizite Zielgruppe zu identifizieren, auf die Erwartungshaltung der zeitgenössischen Kritik zurückzuschließen und die Texte aus der Perspektive der Entwicklung der russischen historischen Prosa zu betrachten. 2. Auf der Ebene der ideologischen Lenkung wird die Funktionalisierung der Geschichtsdarstellung untersucht. Hier steht die Logik der literarisch vermittelten Geschichtsdarstellung im Mittelpunkt: Die Mittel der historischen Stilisierung werden dabei unter dem Aspekt der Verbreitung bzw. Popularisierung des »napoleonischen Narrativs« betrachtet. Gerade die Einheit des traditionellen »napoleonischen Narrativs«, das nahezu keine zufälligen Ereignisse beinhaltet, lenkt die Aufmerksamkeit auf die Funktion der literarischen Umrahmung. Es gilt, die Prinzipien herauszuarbeiten, mittels derer der Leser dazu gebracht wird, sich mit den Ereignissen der russischen nationalen Geschichte zu identifizieren. 3. Die Ausdi ferenzierung der didaktischen Aspekte zielt darauf ab, die Funktionalisierung der Darstellung des Krieges von 1812 im pädagogisch-didaktischen Diskurs zu verdeutlichen. Dieser zeigt sich zunächst unabhängig vom Krieg von 1812 in der ausführlichen Erklärung der physikalischen Phänomene, in der genauen Beschreibung von Geräten, Vorrichtungen und Werkstätten sowie in der Vermittlung von allgemeinen Kenntnissen über die russische nationale Geschichte. Die Anregung zum spielerischen Lernen erscheint jedoch ambivalent, da z.B. der affirmative Umgang mit Wa fen als Element der militärpatriotischen Erziehung der Jugend – und somit als Teil der ideologischen Lenkung – gelesen werden kann.

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Napoleon und der »Vaterländische Krieg« in Russland

Dieses methodologische Modell soll als idealtypische Vorlage dienen. Der hybride Charakter der populären Medien zeigt sich gerade darin, dass nicht in jedem Text alle drei Aspekte gleichermaßen zur Geltung kommen, sodass die spezifische Fragestellung jeweils aus der Analyse des konkreten Textes heraus entwickelt werden soll.

1.4

Gliederung und Aufbau der Arbeit. Technische Hinweise

Die Arbeit besteht aus sieben Kapiteln. In der Einleitung (Kapitel 1) werden Fragestellungen, Ziele und methodologische Grundlagen der Arbeit erläutert. Kapitel 2 bietet einen Überblick über die Institutionalisierung der Erinnerung an den Krieg von 1812 im 19. und 20. Jahrhundert und die o fiziellen Maßnahmen des 100-jährigen Jubiläums. Die Betrachtung der russischen Jubiläumstradition hat zum Zweck, die Funktionalisierung der Erinnerung an den »Vaterländischen Krieg« im Sinne des »napoleonischen Narrativs« und deren mediale Inszenierung zu beschreiben. Vor diesem Hintergrund soll in den folgenden Kapiteln durch die exemplarische Untersuchung ausgewählter Institutionen, Akteure und Medien der Frage nachgegangen werden, inwiefern die populären Medien des Jubiläumsjahres das traditionelle »napoleonische Narrativ« stützten oder unterminierten. Mit der Tätigkeit der Moskauer Gesellscha t für die Verbreitung des technischen Wissens [Obščestvo rasprostranenija techničeskich znanij, ORTZ], wird in Kapitel 3 die Tätigkeit einer aus privater Initiative entstandenen wissenscha tlich-technischen Vereinigung thematisiert, die im Zuge der ›großen Reformen‹ der 1860er Jahre entstand und sich der Popularisierung des technischen und geisteswissenscha tlichen Wissens widmete. Im Jubiläumsjahr legte die Historische Kommission der Lehrabteilung des ORTZ die siebenbändige Ausgabe »Der Vaterländische Krieg und die russische Gesellscha t« [»Otečestvennaja vojna i russkoe obščestvo«, OVIRO] (Dživelegov/Mel’gunov/Pičeta 1911-1912) vor, in der der Versuch einer umfassenden interdisziplinären Bestandsaufnahme der Epoche von 1812 unternommen wurde. Außerdem engagierten sich die Autoren im pädagogisch-didaktischen Bereich und gaben Chrestomathien und Lesebücher für Schüler und Erwachsene heraus. Anhand dieser pädagogischen Werke soll die ›liberale‹ Interpretation des »Vaterländischen Krieges« herausgearbeitet werden, die sich durch eine Polemik mit dem russischen Staat und ein Interesse für die Lage des russischen Volkes auszeichnet. In Kapitel 4 wird anhand der Werke A.S. Puškins, Michail Nikolaevič Zagoskins (1789-1852), D.S. Dmitrievs, L.N. Tolstojs, G.P. Danilevskijs und D.L. Mordovcevs die russische historische Prosa des 19. Jahrhunderts beleuchtet, die einen Hintergrund für die Untersuchung der literarischen Texte des Jubiläumsjahres 1912 liefern soll.

1 Einleitung. Zur Bedeutung des »Vaterländischen Krieges« in der russischen Kultur

Kapitel 5 widmet sich zunächst literaturkritischen Texten der 1890er Jahre, in denen die ematik des »Vaterländischen Krieges« vor dem 100-jährigen Jubiläum aktualisiert wird. Im Anschluss werden wissenscha tliche, pädagogisch-didaktische und literaturkritische Texte aus dem Jubiläumsjahr 1912 analysiert, die sich mit der Epoche von 1812 auseinandersetzen und in denen die literarischen Werke über den »Vaterländischen Krieg« behandelt werden, die im Kontext des 100jährigen Jubiläums entstehen. Vor dem Hintergrund dieser Debatten werden mit Vasilij Petrovič Avenarius (1839-1923) und Ioasaf Arianovič Ljubič-Košurov (18721937) zwei Schri tsteller vorgestellt, die an die Tradition der russischen historischen Prosa anknüp ten und im Jubiläumsjahr historische Romane und Erzählungen über den Krieg von 1812 für Kinder vorlegten. In Kapitel 6 wird am Beispiel einer Erzählung Boris Aleksandrovič Ščetinins (18??–nach 1912), der hybriden Gattungsformen der »musikalischen Bilder« und des neuartigen Mediums Film die Funktionalisierung der Napoleon-Figur im Spannungsfeld zwischen o fizieller Propaganda und Unterhaltung betrachtet. Dabei soll untersucht werden, inwiefern sich die kommerzielle Unterhaltungskultur, die über die Literatur für Kinder hinausging und sich an Erwachsene richtete, mit dem »napoleonischen Narrativ« auseinandersetzte und eine alternative Interpretation des »Vaterländischen Krieges« zuließ. Im Schlussteil (Kapitel 7) werden die Ergebnisse der Arbeit zusammengefasst. Der systematische Blick auf die Tradierungsformen des »Vaterländischen Krieges« im Spiegel der populären Medien des Jubiläumsjahres 1912 wird durch ein Autoren-, Werk- und Institutionenregister ergänzt. Hier soll durch eine Zusammenführung verschiedenartiger Quellen das Prinzip des »napoleonischen Narrativs« als einheitlicher populärer ›Text‹ der Epoche von 1812 veranschaulicht werden.

Technische Hinweise Die Schreibweise russischer Zitate aus der Zeit vor der Rechtschreibreform 1918 wurde an die moderne russische Rechtschreibung angepasst. Die Namen der historischen Persönlichkeiten (z.B. Aleksandr I.) werden zwecks Einheitlichkeit wissenscha tlich transliteriert. Die doppelten Anführungszeichen werden für die Begri fe »Vaterländischer Krieg« und »Volkskrieg« als Entlehnungen aus dem Russischen sowie für die analytischen Termini »napoleonischer Mythos« und »napoleonisches Narrativ« verwendet. Die einfachen Anführungszeichen kennzeichnen ein Zitat im Zitat und dienen darüber hinaus der Hervorhebung einzelner Lexeme. Damit werden althergebrachte, aus der untersuchten Zeit stammende Redeweisen (z.B. ›ruhmreiche Epoche von 1812‹) oder auch etablierte Termini (z.B. ›historische Wahrheit‹, ›Fakt‹) markiert, um eine kritische Distanz zu diesen Bezeichnungen zu signalisieren bzw. ihren diskursiven Charakter zu betonen.

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Napoleon und der »Vaterländische Krieg« in Russland

Datenangaben vor 1918 folgen dem julianischen Kalender. Alle Übersetzungen wurden, wenn nicht anders angegeben, vom Verfasser angefertigt. Alle URLs wurden zuletzt am 26. August 2019 aufgerufen.

2 Zur Inszenierung der Macht: Das 100-jährige Jubiläum des »Vaterländischen Krieges«

2.1

Die Institutionalisierung des Gedenkens an die Epoche von 1812

Das 100-jährige Jubiläum des »Vaterländischen Krieges«, das vor dem Niedergang des russischen Imperiums landesweit mit großem Aufwand und sehr feierlich begangen wurde, stellt eine wichtige Etappe bei der Tradierung und Fortschreibung des »napoleonischen Narrativs« dar. Dass in der Zeit um 1900 besonders viele Jubiläen gefeiert wurden, war keineswegs ein russisches Spezifikum, sondern ein »transnationales Phänomen« (Tsimbaev 2004:80). Parallelen zu den russischen dynastischen Jubiläen finden sich in Deutschland etwa in den Feiern zum 200-jährigen Jubiläum des Bestehens des Preußischen Königreichs 1901; zu militärischen Jubiläen – im 1900-jährigen Jubiläum des Sieges im Teutoburger Wald 1909 sowie den Jahrhundertfeiern zur Völkerschlacht von Leipzig. Auch die europäischen Regierungen versuchten, durch den Rückgri f auf die nationale Vergangenheit patriotische Gefühle bei den Massen zu wecken und ihre Macht symbolisch zu festigen (vgl. Tsimbaev 2004:80-81; Schneider 2001:47). Im Gegensatz zu lokalen Feiern lässt sich durch Jubiläen ein breiteres Publikum erreichen und somit eine größere ideologische Wirkung erzielen (vgl. Müller 2004). Zudem zwingen insbesondere die »runden Daten« die jeweilige Generation dazu, »Stellung zur Geschichte zu beziehen«. Dank seiner Zyklizität eignet sich das historische Jubiläum dafür, historische Kontinuitäten zu erkennen bzw. diese retrospektiv zu konstruieren (vgl. Cimbaev 2007:456-457). Mit der o fiziellen Begehung des 100-jährigen Jubiläums wurde in Russland eine Feiertradition etabliert, die es zuvor in dieser Intensität nicht gab und die insofern ein Novum in der russischen Kulturgeschichte darstellte. Zuvor waren die Jubiläen des Krieges von 1812 stets durch eine Kontroverse um die Deutungen des Krieges bestimmt, sie waren aufgrund ihrer politischen Brisanz in der Zeit von 1862 bis 1897 aus dem ö fentlichen Leben nahezu verschwunden (vgl. D’jakov 1981:307; Schneider 2001:48). Die Formung der kollektiven Erinnerung an die Epoche von 1812 und die Etablierung des ö fentlichen Gedenkens lassen sich in einigen Etappen

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Napoleon und der »Vaterländische Krieg« in Russland

verfolgen (vgl. Gavrilova 2004:59; Stroganov 2012:245-250; Ul’janova 2013), die im Folgenden beleuchtet werden sollen. Die ersten Jahrestage nach 1812 wurden nicht gefeiert, da das Land unter anderem auch mit den Zerstörungen und den wirtscha tlichen Folgen des Krieges zu kämpfen hatte (vgl. Celorungo 2007; Smirnova 2012:157; Ul’janova 2013:503). Danach setzte eine kulturelle Verarbeitung der Kriegserfahrung ein, z.B. durch Anfertigung von Porträts der Kriegshelden und somit durch eine erste visuelle Fixierung der Erinnerung an die Schlacht von Borodino und die Kampagne von 18131814 durch den englischen Maler George Dawe (1781-1829). In den Jahren 1818 bis 1828 fertigte dieser über 300 Porträts der russischen Militärführer und Generäle, die später in der sog. Kriegsgalerie des Jahres 1812 [Voennaja galereja 1812 goda] im Winterpalast [Zimnij dvorec] in Petersburg ausgestellt wurden, die am 25. Dezember 1826, zum 14. Jahrestag der Vertreibung der napoleonischen Armee aus Russland, feierlich erö fnet wurde (vgl. Glinka 1988; Podmazo 2012). Die Institutionalisierung des Gedenkens an 1812 ging auch mit einer ersten Markierung der Erinnerungsorte einher. Dies geschah nicht nur durch die Schaffung neuer Denkmäler, z.B. der Aleksandrsäule [Aleksandrovskaja kolonna/Aleksandrijskij stolp] 1834 im Au trag von Nikolaj I. (vgl. Švedova 2006; Nohejl 2014:5557), sondern auch durch die Umfunktionalisierung bereits vorhandener Gebäude, wie z.B. der Kazaner Kathedrale [Kazanskij sobor] in Sankt Petersburg. 1813 wurden dort die sterblichen Überreste Kutuzovs beigesetzt und eine erste Sammlung von Trophäen und Fahnen angelegt. 1837 wurde der Architekturkomplex der Kazaner Kathedrale um die Denkmäler für Kutuzov und Barclay de Tolly ergänzt (vgl. Smirnov 1986; Smirnov 2012a:274; Smirnov 2013:167-168; Bočkov 2013). Bezeichnenderweise standen am Beginn des Gedenkens an den Krieg von 1812 o t private Initiativen, die vom Staat allmählich vereinnahmt wurden (vgl. Stroganov 2012:246). Als Beispiel kann die Gründung des Spaso-Borodinskij-Klosters auf dem Feld von Borodino durch Margarita Michajlovna Tučkova (1781-1852) dienen, das am vermutlichen Sterbeort ihres in der Schlacht von Borodino gefallenen Ehemannes Generalmajor Aleksandr Alekseevič Tučkov IV. (1777-1812) errichtet wurde (vgl. Seledkina 1994; Semeniščeva 2012). Auch das erste Konzept der ChristErlöser-Kathedrale [Chram Christa Spasitelja]1 , die von Aleksandr I. bereits 1812 zum Dank an Gott und als Denkmal für das russische Volk und seinen Mut im Kampf gegen Napoleon in einem Manifest angedacht worden war (vgl. Wortman 1995:221-222), stammte von keinem professionellen Architekten, sondern von dem

1

Zur Geschichte der Christ-Erlöser-Kathedrale vgl. ausführlich Chram Christa Spasitelja 1986; Kiričenko/Denisov 1997; Gentes 1998; Sidorov 2000; Smirnov 2012a:261-279. Für wertvolle Literaturhinweise und die mir zur Verfügung gestellten antiquarischen Buchausgaben danke ich herzlich Herrn Dr. Felix Keller.

2 Zur Inszenierung der Macht: Das 100-jährige Jubiläum des »Vaterländischen Krieges«

Maler Aleksandr Lavrent’evič Vitberg (1787-1855). Zum 5-jährigen Jubiläum 1817 legte Aleksandr I. den Grundstein der Kathedrale auf den Vorob’evy gory in Moskau (vgl. Wortman 1995:236-238), doch wurde Vitbergs Projekt nicht verwirklicht und in den 20er Jahren abgebrochen. Der Bau der Kathedrale wurde erst 1839 unter Nikolaj I. wieder aufgenommen. Sie wurde von dem Architekten Konstantin Andreevič Ton (1794-1881) im traditionellen byzantinisch-russischen Stil an einem neuen Ort unweit vom Kreml auf der Volchonka erbaut und 1883 eingeweiht (vgl. Wortman 1995:383-387; Nohejl 2014:58-59). Die Kirche wurde in der Stalinzeit im Zuge einer Umgestaltung Moskaus 1931 gesprengt und 2000 am alten Ort wiederaufgebaut. Die Wiedererrichtung der Christ-Erlöser-Kathedrale in der postsowjetischen Zeit ist als Wiederaufnahme der vorrevolutionären Tradition zu sehen, darunter auch die Funktion als Kirchendenkmal [chram-pamjatnik] für die Gefallenen im Krieg von 1812 (vgl. Cheauré 2013:38). Einen wichtigen Schritt zur Institutionalisierung des ö fentlichen Gedenkens an den Krieg von 1812 stellen die 30er Jahre des 19. Jahrhunderts dar. Der 25. Jahrestag der Schlacht von Borodino 1837 zeichnete sich durch das Erscheinen einer Reihe von Egodokumenten und literarischen Werken aus, die den Anspruch der gebildeten Ö fentlichkeit auf die Teilnahme an den Jubiläumsfeierlichkeiten zum Ausdruck brachten (vgl. D’jakov 1981:303). Allerdings gerieten solche Quellen allmählich mit der o fiziellen Geschichtsinterpretation in Widerspruch, welche in Einklang mit dem Staatsmodell Sergej Semenovič Uvarovs (1786-1855) »samoderžavie – pravoslavie – narodnost’« [»Orthodoxie – Autokratie – Volk«] die Rolle der Autokratie und des göttlichen Willens im Krieg zunehmend in den Vordergrund rückte (vgl. Tartakovskij 1980:192-194, 212-213). Die o fizielle Interpretation der Kriegsereignisse wurde insbesondere durch eine o fizielle historiographische Beschreibung des Krieges von 1812 gefestigt, die von Nikolaj I. mit einem Manifest an den Historiker Generalleutnant Aleksandr Ivanovič Michajlovskij-Danilevskij (1789-1848) initiiert wurde. Seine 1839 erschienene vierbändige »Beschreibung des Vaterländischen Krieges des Jahres 1812« [»Opisanie Otečestvennoj vojny 1812 goda«] (Michajlovskij-Danilevskij 1839) stellte eine wichtige Etappe bei der Systematisierung der Quellen zur Geschichte des »Vaterländischen Krieges« dar. Der Sieg über Napoleon wurde bei Michajlovskij-Danilevskij vor allem der göttlichen Fügung und dem Zaren Aleksandr I. zugeschrieben (vgl. Tartakovskij 1980:207; D’jakov 1981:304-305; Schneider 2001:48, 55). Michajlovskij-Danilevskij erhielt Zugang zu den Archiven und regte die Einsendung von Memoiren von Kriegsteilnehmern an (vgl. Tartakovskij 1980:202-210; Malyškin 2002; Temjakov 2014), wobei er auch als Zensor wirkte (vgl. Sapožnikov 2012). Mit seinem weiteren Werk, einer vierbändigen Biographie Aleksandrs I. und seiner Mitstreiter, deren Porträts in der Kriegsgalerie im Winterpalast ausgestellt wurden (Michajlovskij-Danilevskij 1845-1849), wurde außerdem ein Transfer zwischen der visuellen und der historiographischen

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Napoleon und der »Vaterländische Krieg« in Russland

Linien des Gedenkens geleistet (vgl. Šul’c 2016). Damit wurden unter Nikolaj I. entscheidende Schritte zur Scha fung einer o fiziellen Geschichte des Krieges von 1812 unternommen. Die ideologische Vereinnahmung lässt sich insbesondere am Bedeutungswandel des Begri fs »Otečestvennaja vojna« beobachten. War dieser zu Kriegszeiten kaum bzw. nur als militärischer terminus technicus gebräuchlich (etwa ›Verteidigungskrieg auf eigenem Territorium‹), wurde er in den 30er – 40er Jahren des 19. Jahrhunderts zu einem Ideologem ausgebaut (vgl. Stroganov 2012:205). Somit wurde die für das traditionelle »napoleonische Narrativ« zentrale Vorstellung von der Vereinigung aller Schichten vor dem Hintergrund der gemeinsamen Gefahr geprägt. Eine erste große Feier des Krieges von 1812 fand 1839 zum 25. Jahrestag des Einmarsches der russischen Truppen in Paris in Borodino statt. Am 27. Jahrestag der Schlacht von Borodino, dem 26. August 1839, wurde ein Monument auf der Raevskij-Schanze feierlich erö fnet (vgl. Seledkina 1997, 2010). Außerdem fanden auf dem Feld von Borodino große militärische Manöver unter Leitung Nikolajs I. statt. Diese bemerkenswerte Verschränkung zweier historischer Daten spiegelt den Prozess diskursiver Aushandlung des zentralen Erinnerungsortes und Kriegsereignisses wider (vgl. Kucharuk 2002). Somit wurde die Form der Begehung als Kriegsjubiläum mit Gottesdiensten, Militärparaden, Erö fnungen von Denkmälern in Anwesenheit ausländischer Ehrengäste und ehemaliger Kriegsteilnehmer für weitere Jubiläen des »Vaterländischen Krieges« festgelegt (vgl. D’jakov 1981:304; Boldina 1997, 2006; Gorbunov 2012). Durch die im Vorfeld der Feier getro fenen staatlichen Maßnahmen, z.B. den Freikauf des Dorfes Borodino am 25. Jahrestag der Schlacht von Borodino, dem 26. August 1837, durch Nikolaj I. als Geschenk für den ronfolger Aleksandr II. (vgl. Prochorov 2002), wurde dieser Ort außerdem in die Dynastiegeschichte der Romanovs eingeschrieben (vgl. Wortman 1995:369). Die Feier von 1839 gab einen Impuls für die Gründung eines lokalen Museums (vgl. Prochorov 2002, 2011; Prochorov/Pčelov 2004), sodass eine Basis für die weitere Memorialisierung des Feldes von Borodino gelegt und somit Voraussetzungen für die Etablierung Borodinos als zentralem Erinnerungsort des »Vaterländischen Krieges« gescha fen wurden (vgl. Gorbunov 1995; Malyškin 2000; Boldina 2006; Obščestvennyj sovet 2011; Semeniščeva 2015; Buckler 2013). Die unerwünschte politische Resonanz, die die Jubiläen des »Vaterländischen Krieges« ständig begleitete, hielt das Regime davon ab, nach 1839 weitere Jubiläen des »Vaterländischen Kriegs« durch große Feiern zu begehen (vgl. D’jakov 1981:303307; Tsimbaev 2004:85). Die 50-jährige Feier des »Vaterländischen Krieges« 1862 fiel mit der Abscha fung der Leibeigenscha t zusammen und wurde nur am Rande der Feierlichkeiten zum 1000-jährigen Bestehen Russlands in Novgorod gefeiert (vgl. Tartakovskij 1980:234; Schneider 2001:48). Auch das Jubiläumsjahr 1897 blieb im Schatten (vgl. D’jakov 1981:307-308). Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurden jedoch Jubiläen plötzlich mit großer Intensität begangen, was einem »Jubiläums-

2 Zur Inszenierung der Macht: Das 100-jährige Jubiläum des »Vaterländischen Krieges«

fieber« glich (vgl. Tsimbaev 2004:75). Die vielen kleineren Jubiläen von Ämtern und Ministerien,2 die zu Beginn des 20. Jahrhunderts parallel zu den großen Staatsjubiläen gefeiert wurden, deuten darauf hin, dass nun alles gefeiert wurde, was den Ruhm des russischen Staates unterstreichen konnte, und all das vermieden, was an Reformen und Veränderungen erinnern konnte (vgl. Tsimbaev 2004:82, 85). Den Höhepunkt der großen Staatsjubiläen wie dem 200-jährigen Jubiläum der Schlacht bei Poltava 1909 (vgl. Cimbaev 1999) und dem 100-jährigen Jubiläum des »Vaterländischen Krieges« 1912 stellte das 300-jährige Jubiläum der Romanov-Dynastie 1913 dar (vgl. Wortman 2000:439; Schneider 2001:45; Tsimbaev 2004:97).

2.2

Die Logik der medialen Geschichtsrepräsentation

Nach der Niederlage im russisch-japanischen Krieg 1904/05 und der russischen Revolution 1905/06, die das russische Imperium pro forma in eine konstitutionelle Monarchie verwandelte, stand die russische Regierung vor der Aufgabe, die innere Krise im Land unter Kontrolle zu bringen (vgl. Tsimbaev 2004:85). Es gab Unruhen bei der Flotte, rund 200 Arbeiter wurden in einer Goldmine im Nordosten Sibiriens am Fluss Lena bei einer Demonstration erschossen (vgl. Tsimbaev 2004:87), was an den »blutigen Sonntag« 1905 erinnerte. Das Jubiläum von 1912 sollte eines der Mittel sein, mit denen die russische Regierung die Nation ›um den ron‹ vereinigen wollte. Dabei orientierte sie sich an vergangenen Siegen, vor allem aber an der alten Triade des staatso fiziellen Modells Uvarovs: »Orthodoxie – Autokratie – Volkstum« (vgl. Tsimbaev 2004:88). Der Anspruch des russischen Staates auf die Auslegung der russischen nationalen Geschichte zeigte sich darin, dass das Jubiläum von 1912 durch den Staat, das Militär und die Kirche unter weitgehendem Ausschluss der Ö fentlichkeit organisiert wurde. Die Planung der Jahrhundertfeier war mit einem enormen institutionellen und bürokratischen Aufwand verbunden und wurde im Rahmen der 1907 gegründeten Kaiserlichen Russischen Militärhistorischen Gesellscha t [Imperatorskoe Russkoe Voenno-Istoričeskoe Obščestvo, IRVIO] über mehrere Kommissionen koordiniert.3 Die Gesellscha t bestand aus Militärangehörigen, Historikern, Beam2

3

Eine »bürgerliche« Tradition der Jubiläen von Ämtern und Ministerien entstand Mitte des 19. Jahrhunderts, stand jedoch ihrem Ausmaß und ihrer ideologischen Wirkung in der Ö fentlichkeit nach eindeutig im Schatten der »staatlich-militärischen« Jubiläen. Die Opposition der beiden Linien wurde besonders zu Beginn des 20. Jahrhunderts deutlich, als Nikolaj II. die Ministerienfeiern ignorierte und die militärischen Jubiläen bevorzugte (vgl. Raskin 2006:7980). Zur Tätigkeit des IRVIO vgl. Gabaev 1940; D’jakov 1971; Kočetkov 1965; Samošenko/Petrova 1989; Borisnev 1996, 2007; Uspenskaja 2000; Smirnova 2015. Die Neugründung der Russischen Militärhistorischen Gesellscha t [Rossijskoe voenno-istoričeskoe obščestvo] im Jahr

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Napoleon und der »Vaterländische Krieg« in Russland

ten sowie Vertretern der russischen Geistlichkeit und verstand sich als Beratungsorgan des Kriegsministeriums, das für die Organisation der Feierlichkeiten verantwortlich war, und der 1910 Allerhöchst gegründeten Interministeriellen Kommission für die Jubiläumsfeierlichkeiten des Vaterländischen Krieges [Vysočajše utverždennaja Mežduvedomstvennaja komissija po jubilejnym toržestvam Otečestvennoj vojny], die die Planung auf oberster Ebene koordinierte (vgl. Schneider 2001:49; Tsimbaev 2004:89-91). Das Jubiläum wurde im ganzen Imperium nach einem von der Kommission erstellten Plan in identischer Weise gefeiert. Dabei lassen sich die folgenden Ebenen erkennen: Zu den o fiziellen Feierlichkeiten, an denen nur ein ausgewählter Personenkreis teilnehmen dur te (z.B. Mitglieder der Zarenfamilie und der Regierung, ausländische Ehrengäste und Nachfahren der Kriegsteilnehmer), gehörten Gottesdienste, Militärparaden, Kirchenprozessionen, Kranzniederlegungen und Erö fnungen von Denkmälern. Auf der unteren Ebene der Unterhaltungskultur, die allen o fenstand, fanden Kulturabende, Illuminationen, Feuerwerke, Massenspektakel und Kinoau führungen statt. Den kulturellen Rahmen der Jahrhundertfeier bildeten Ausstellungen, ö fentliche Lesungen und eaterau führungen, die in zahlreichen Publikationen und materiellen Artefakten ihren Niederschlag fanden (vgl. Schneider 2001:45; Tsimbaev 2004:82-83; Lapin 2012a). Die Logik der medialen Repräsentation des »Vaterländischen Krieges« im Rahmen der Jubiläumskultur des Jahres 1912 wurde von dem Tübinger Kulturwissenscha tlers Kurt Schneider und dem Moskauer Historiker Konstantin Cimbaev herausgearbeitet (Schneider 2001; Tsimbaev 2004). Durch die Aktivierung der Tradition der großen historischen Jubiläen und die Hinwendung zu den früheren militärischen Siegen versuchte der russische Staat, eine symbolische Identität der ›ruhmreichen Epoche von 1812‹ und des Jubiläumsjahres 1912 im Rahmen der Festkultur zu suggerieren, um die krisenha te Gegenwart auszublenden. Die Vorstellung von der kollektiven Kriegserfahrung wird laut Schneider dadurch konstruiert, dass individuelle Erfahrungen »durch vielfältige Kommunikationsprozesse nach verschiedenen Deutungsmustern gefiltert werden« und sich in »symbolischen Ordnungen« niederschlagen, die sich in Ritualen, stereotypen Bildern und Symbolen manifestieren (vgl. Schneider 2001:46-47). »Eine auf diese Weise vermittelte Kriegserfahrung wirkt ihrerseits erfahrungsbildend und kann Gesellscha ten für die Bewälti-

2012 zeugt von einem a firmativen Anschluss des heutigen Russlands an die imperiale Jubiläumstradition (vgl. Nohejl, 2013; Šore/Nochejlʼ/Rapp 2015). Es gibt allerdings private Initiativen, unter anderem aus den russischen Reenactment-Kreisen (vgl. Nohejl 2013), die einen wichtigen Beitrag zur Systematisierung von wissenscha tlichen und Archivpublikationen leisten und einen kritischen Blick auf das IRVIO werfen. Vgl. den Blog des Petersburger Historikers Konstantin L’vovič Kozjurenok, auf dessen Literaturhinweise die vorliegende Arbeit zurückgrei t: .

2 Zur Inszenierung der Macht: Das 100-jährige Jubiläum des »Vaterländischen Krieges«

gung von Krisen, aber auch für die Notwendigkeit neuer Kriege sensibilisieren.« (Schneider 2001:47). Die Identität von 1812 und 1912 wurde symbolisch über den neoklassizistischen Stil des frühen 19. Jahrhunderts, den »Style Empire«, vermittelt, in dem z.B. das zum Jubiläum von 1912 gebaute »Veteranenhaus« und andere Gebäude in Borodino errichtet wurden (vgl. Nikol’skij 1913:29-30). Durch die in Moskau und auf dem Chodynka-Feld bei Moskau, wo im Zuge der Moskauer Jubiläumsfeierlichkeiten am 27. August eine große Militärparade stattfand (Schneider 2001:53, 55), temporär aufgestellten Triumphbögen wurde das Moskau von 1912 zum Paris von 1814 stilisiert, als die russischen Truppen unter Aleksandr I. dort einmarschiert waren (Schneider 2001:45-46). Eine wichtige Rolle bei der Herstellung der Kontinuität spielte auch die imperiale Symbolik, mit welcher die Organisatoren des Jubiläums die ungebrochene Macht der Romanov-Dynastie unterstreichen wollten. Diese fand sich zum einen im ö fentlichen Raum, etwa in der feierlichen Verzierung der Straßen, wurde aber durch die au kommende kommerzielle Kultur auch im privaten Bereich verbreitet (vgl. Lapin 2012a; Limanova 2013:267-272). Dabei genoss Napoleon entgegen aller Bemühungen der o fiziellen Propaganda eine größere Popularität als der russische Zar (Schneider 2001:58, 64; Miščenko 1998:193). Die symbolische Einheit der beiden Epochen wurde insbesondere durch illustrierte Jubiläumspublikationen konstruiert bzw. abgebildet. Als Beispiel kann das Album des Oberst des Generalstabs Vladimir Pavlovič Nikol’skij (1873-1960)4 »Borodinskaja bitva i ee 100-letnij jubilej. 24-26 avgusta 1812-1912« [»Die Schlacht von Borodino und ihr 100-jähriges Jubiläum. 24.–26. August 1812-1912«] (Nikol’skij 1913) dienen. Die Identität von 1812 und 1912 wird darin nicht nur im Titel, sondern auch durch die visuelle Gestaltung suggeriert, indem eine populärhistorische Skizze der Schlacht von Borodino mit Fotoaufnahmen der Zarenfamilie und Moskaus bei den Jubiläumsfeierlichkeiten von 1912 unterlegt wird.

2.3

Die Aufwertung des ›russischen Volkes‹: P.M. Andrianovs Jubiläumsbroschüre »Velikaja Otečestvennaja vojna. (Po povodu 100-letnego jubileja)« (1912)

Eine bedeutsame Weiterentwicklung der o fiziellen Kriegsinterpretation im Jubiläumsjahr 1912 bestand darin, dass die Rolle des ›russischen Volkes‹ erstmals o fiziell anerkannt und ausdrücklich im Jubiläumsmanifest gewürdigt wurde (vgl. Schneider 2001:48; Tsimbaev 2004:99). Die Teilnahme der unteren Schichten am Krieg

4

Zu Biographie und militärischer Lau bahn vgl. .

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Napoleon und der »Vaterländische Krieg« in Russland

stellte aufgrund ihrer jeweiligen aktuellen politischen Implikationen stets ein brisantes ema dar. Auch wenn der Kampf der Bauern gegen die Franzosen 1812-13 im visuellen Medium der lubok-Kultur zu Propaganda- und Mobilisierungszwecken kurzfristig hervorgehoben wurde (vgl. Višlenkova 2005:133-135), schrieb Aleksandr I. den Sieg von 1812-1814 später sich selbst, der Armee und dem göttlichen Willen zu (vgl. Schneider 2001:48, 55). In den 30er Jahren bediente sich der russische Staat durchaus der Vorstellung vom »Volkskrieg« [»narodnaja vojna«], allerdings wurde die Initiative der Russen dabei ausschließlich als Folge der Aufrufe des Zaren interpretiert und als Moment bespielloser patriotischer Einigkeit mit dem Herrscher dargestellt (vgl. Tartakovskij 1980:193). Die Vorstellung, dass sich ganz Russland ungeachtet der Standesunterschiede in einem »Volkskrieg« gegen den Feind mobilisiert, wurde bei allen späteren militärischen Kampagnen des russischen Imperiums bzw. in der Sowjetunion zu Propagandazwecken aktiviert (vgl. Fedotova 2011, 2015; Norris 2006; Žerdeva 2015; Dacišina 2011). In seinem »Höchsten Manifest über die Ausrichtung des 100-jährigen Jubiläums des Vaterländischen Krieges« [»Vysočajšij manifest o prazdnovanii 100-letnego jubileja Otečestvennoj vojny«], das am 26. August 1912 auf dem Borodino-Feld unterzeichnet wurde, äußerte Nikolaj II. seinen »unerschütterlichen« Wunsch, »vereinigt mit Unserem geliebten Volk das Schicksal Unseres Vaterlands zu Ruhm, Größe und Gedeihen zu lenken.« [» […] в единении c возлюбленным народом Нашим направлять судьбы Державы Нашей к славе, величию и преуспеванию ея.«] (Ašik 1913:326). Somit appellierte Nikolaj an das ›Szenario der Macht‹ im Sinne Aleksandrs I. und damit an das zentrale Ideologem des traditionellen »napoleonischen Narrativs«, nämlich an die unerschütterliche, vor allem religiös fundierte Einheit von Zar und Volk, wobei das Letztere nicht als souveräne Kra t, sondern in der traditionellen Symbiose mit dem Monarchen gedacht war (vgl. Wortman 1995:219; 221-223; Schneider 2001:54-55). Auch in seinem »Höchsten Befehl an Armee und Flotte« [»Vysočajšij prikaz armii i lotu«] (Ašik 1913:326), der am selben Tag und Ort vor den Truppen verlesen wurde, forderte Nikolaj mit ähnlichen Worten die Loyalität der Soldaten ein (vgl. Schneider 2001:53). Um ihre »Einheit mit dem Volk« zu inszenieren, bemühte sich die Regierung auch darum, »Veteranen« von 1812 zu finden. Dafür wurden Zirkulare an alle Gouvernements versandt, mit der Bitte, nach noch lebenden Kriegsteilnehmern zu suchen. Es wurden tatsächlich Personen, angeblich im Alter zwischen 110 bis über 120 Jahren, gefunden, aus deren Akten angeblich hervorging, dass sie am Krieg von 1812 teilgenommen hatten (vgl. Tsimbaev 2004:100; Ul’janova 2013:506-507; Bočkov 2012:11-15). Auch wenn es sich o fenbar um eine Inszenierung handelte, ließ sich gerade mithilfe der angeblichen »Veteranen« als Vertreter des »Volkes« eine direkte Kontinuität zwischen 1812 und 1912 herstellen. Sie wurden ins o fizielle Zeremoniell eingebunden und hatten eine privilegierte Stellung bei den Feierlichkeiten. Auch

2 Zur Inszenierung der Macht: Das 100-jährige Jubiläum des »Vaterländischen Krieges«

die Nachfahren von Veteranen von 1812, allerdings nur direkte männliche Nachfahren von Generälen und O fizieren, dur ten an den Feierlichkeiten in Borodino und Moskau teilnehmen (vgl. Schneider 2001:49; Ul’janova 2013:505). Somit wurde der Begri f ›Volk‹ auf bestimmte Volksvertreter eingeschränkt (vgl. Bočkov 2012). Die symbolische Anerkennung der Rolle des Volkes stützte sich auf konkrete soziale Maßnahmen. Die Regierung versuchte, durch karitative Maßnahmen – Schuldenerlässe, soziale Begünstigungen und Amnestie – das Prestige der Autokratie zu steigern. Bei den Hauptfeierlichkeiten in Moskau wurden die vom Zaren zur Verfügung gestellten 15.000 Rubel an die Armen verteilt. Das o fizielle Jubiläumsprogramm sah vor, insbesondere die Kriegsteilnehmer von 1812 bzw. deren Nachfahren finanziell zu entschädigen. Für die Nachfahren der Kriegsteilnehmer von 1812 sti tete der Zar 13 »Borodino-Stipendien«, mithilfe derer diese eine qualifizierte militärische Ausbildung beginnen konnten (vgl. Schneider 2001:50, 52). Allerdings waren die für die Zuweisung der Vergünstigungen zuständigen Ämter durch die zahlreichen Anträge und die notwendigen umfangreichen Recherchen überfordert. Aus Archivdokumenten geht hervor, dass ein Streit des IRVIO mit dem Kriegsministerium um die Finanzierung von geplanten Hilfen für die Nachfahren der Kriegsteilnehmer von 1812 dazu führte, dass für diese schließlich vom Kriegsministerium erheblich weniger Mittel bewilligt wurden, als ursprünglich vom IRVIO vorgesehen waren (vgl. Malyškin 1997:158-159). Wie wurde das Ideologem der engen Verbindung zwischen Herrscher und Volk in den Jubiläumspublikationen von 1912 konstruiert und vermittelt? Als Beispiel kann die Jubiläumsbroschüre des Oberstleutnants Pavel Markovič Andrianov (1877-1918)5 »Velikaja Otečestvennaja vojna. (Po povodu 100-letnego jubileja)« [»Der Große Vaterländische Krieg. (Anlässlich des 100-jährigen Jubiläums)«] (Andrianov 1912a) dienen, die in einem vom IRVIO organisierten Wettbewerb für eine populäre Darstellung der Geschichte des »Vaterländischen Krieges« prämiert und im Jubiläumsjahr in einer Au lage von eineinhalb Millionen Exemplaren gedruckt wurde.6 Als ordentliches Mitglied des IRVIO und Sekretär dessen Filiale in Odessa machte sich Andrianov bereits vor dem 100-jährigen Jubiläum als Autor einer Reihe von Jubiläumspublikationen z.B. zum 200. Jahrestag der Schlacht bei Poltava bekannt (vgl. Izvestija 1910a:28). Die prämierte Jubiläumsbroschüre erschien in der Redaktion des IRVIO in Sankt Petersburg (vgl. Andrianov 1912a:5; Izvestija 1912c:169) und lässt sich als gekürzte und überarbeitete Variante seiner umfangreicheren Publikation »Velikaja

5 6

Zu Biographie und militärischer Lau bahn vgl. ; . Der Wettbewerb des IRVIO wurde in Zusammenarbeit mit der Interministeriellen Kommission organisiert. Zur Planung und Durchführung des Wettbewerbs vgl. Izvestija 1910b:27-28, 1910c:25, 1911b:22, 1912b:116, 1912c:135, 1912d:169; Pervye pjatʼ let IRVIO 1913:36.

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Napoleon und der »Vaterländische Krieg« in Russland

Otečestvennaja vojna. Bor’ba Rossii s Napoleonom v 1812 godu« [»Der Große Vaterländische Krieg. Der Kampf Russlands mit Napoleon im Jahr 1812«] (Andrianov 1912b) betrachten, die in Odessa unter anderem als kostenlose Beilage zur Zeitschri t »Russkij voin« [»Der russische Krieger«] erschien (Andrianov 1912c).7 Der Titel spiegelt nicht nur die Etablierung der Bezeichnung »Vaterländischer Krieg« im kulturellen Gedächtnis wider, sondern drückt auch ein Bedürfnis nach feierlicher Steigerung des traditionellen Begri fs aus, die insbesondere im Hinblick auf die spätere Verwendung des Begri fs in Russland in Bezug auf den Zweiten Weltkrieg aufschlussreich erscheint (vgl. Stroganov 2012:195; Nohejl 2013:62). Ein Vergleich der prämierten Jubiläumsbroschüre mit der in Odessa erschienenen Ausgabe macht den Charakter der Korrekturen des IRVIO deutlich, nämlich die Reduktion des gesamteuropäischen historischen Kontextes auf die Konfrontation von Russland und Frankreich sowie die Rücknahme der positiven Eigenschaften Napoleons (z.B. Andrianov 1912b:46, 143). Vor allem wurde aber die Rolle des russischen Volkes in den Vordergrund gerückt, das zum Haupthelden und Sieger im »Vaterländischen Krieg« erklärt wird: В незабвенном 1812 г. весь русский народ совершил подвиг, все служили Отечеству, все несли жертвы. Одинаковыми чувствами проникнуты были все сердца на Руси, одинаковыми мыслями наполнены были все умы. Эти чувства были – любовь к Отечеству, эти желания – сокрушение дерзкого врага. И воодушевляемый такими чувствами и мыслями, русский народ вышел победителем. (Andrianov 1912a:6) Im unvergesslichen Jahr 1812 vollbrachte das ganze russische Volk eine Heldentat, alle dienten dem Vaterland, alle brachten Opfer. Von den gleichen Gefühlen waren alle Herzen in der Rusʼ durchdrungen, von den gleichen Gedanken alle Köpfe erfüllt. Diese Gefühle waren die Liebe zum Vaterland; diese Wünsche waren die Zerschlagung eines frechen Feindes. Und von solchen Gefühlen und Gedanken inspiriert, ging das russische Volk als Sieger aus dem Krieg hervor. 7

Von einer intensiven Beschä tigung Andrianovs mit der Geschichte des »Vaterländischen Krieges« und seiner breiten institutionellen Verankerung innerhalb des russischen Imperiums zeugen seine weiteren Publikationen zu diesem Thema. Eine dem Umfang der Jubiläumsbroschüre ungefähr entsprechende Ausgabe unter dem Titel »Velikaja Otečestvennaja vojna. 1812-1912« [»Der Große Vaterländische Krieg. 1812-1912«] wurde in Odessa von der Redaktion des militärhistorischen Almanachs »Rodina« [»Heimat«] herausgegeben (Andrianov 1912d). Außerdem erschien seine Beschreibung der Schlacht von Borodino in Form von Einzelbroschüren in der Reihe »Otečestvennaja biblioteka« [»Die Vaterländische Bibliothek«] in Petersburg (»Borodinskij boj« [»Die Schlacht von Borodino«], Andrianov 1912e) und als Jubiläumsausgabe des militärhistorischen Almanachs »Rodina« in Odessa (»Bitva gigantov. Borodinskoe sraženie 26-go avgusta 1812 goda« [»Die Schlacht der Giganten. Die Schlacht von Borodino am 26. August 1812«], Andrianov 1912f).

2 Zur Inszenierung der Macht: Das 100-jährige Jubiläum des »Vaterländischen Krieges«

Dies gilt umso mehr für die Schlacht von Borodino: »Каждый русский воин на Бородинском поле был герой. От первого генерала до последнего рядового все соперничали в мужестве и упорстве.« [»Jeder russische Krieger auf dem Feld von Borodino war ein Held. Vom ersten General bis zum letzten Soldaten – alle wetteiferten miteinander in Mut und Hartnäckigkeit.«] (Andrianov 1912a:51). Somit wird die zentrale Idee der Vereinigung aller Schichten ›um den ron‹ angesichts der gemeinsamen Gefahr für das Vaterland und deren erfolgreiche Überwindung in religiös fundierter Einheit von Zar und Volk formuliert, die insbesondere für die Gegenwart als Vorbild gelten soll. Das 100-jährige Jubiläum des »Vaterländischen Krieges« soll dabei als Anlass dazu dienen, diese Einheit zu vergegenwärtigen und die Heldentat des Volkes gebührend zu würdigen. Die von Inversionen und Partizipialkonstruktionen durchzogene Sprache zeigt Ähnlichkeit mit einem Dankgebet: Вспомним героя, солдата Александровских времен, исходившего своими победными стопами всю Европу до Парижа; вспомним серого ополченца в сермяге, лаптях, с крестом на шапке, явившегося на бранный пир по Царскому зову; вспомним единодушный благородный порыв всех слоев населения великой нашей родины, богатых и бедных, знатных и простых, молодых и старых, слившихся воедино, сплотившихся в одну могучую несокрушимую силу, чтобы отстоять свою родину от врага. Воздадим должную дань восхищения бессмертным в памяти народной вождям русской армии, славным орлам, водившим к победам рать русскую. Преклонимся с благоговением перед светлою памятью Императора Александра I, Благословенного, приявшего на себя тяжкий крест, положившего много трудов и сил на дело освобождения родины от грозного врага, слившегося духовно с великим своим народом в дни тяжких испытаний, в дни напряженной борьбы. (Andrianov 1912a:6) Erinnern wir uns an den Helden, den Soldaten der Aleksandrinischen Zeit, der mit seinen siegreichen Schritten ganz Europa bis Paris durchschritt; erinnern wir uns an den grauen Volksaufgebotskämpfer in Bauernrock und Bastenschuhen, mit einem Kreuz auf der Mütze, der auf den Ruf des Zaren zum Kriegsgelage kam; erinnern wir uns an den einmütigen edlen Drang aller Bevölkerungsschichten unserer großen Heimat, reich und arm, adlig und gemein, jung und alt, die sich alle vereinigten und zu einer gewaltigen unbesiegbaren Kra t verschmolzen, um ihre Heimat gegen den Feind zu verteidigen. Zollen wir den gebührenden Tribut der Bewunderung den im Volksgedächtnis unsterblichen Führern der russischen Armee, den ruhmreichen Adlern, die das russische Heer zu Siegen führten. Verbeugen wir uns in Ehrfurcht vor dem lichten Andenken an den Imperator Aleksandr I., den Gesegneten, der ein schweres Kreuz auf sich nahm und viel Kra t und Mühe darauf verwandt hat, die Heimat von dem bedrohlichen Feind zu befreien; der in

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den Tagen der schweren Prüfungen und des anstrengenden Kampfes mit seinem großen Volk geistig verschmolz. Trotz der scheinbaren Umkehrung von Hierarchien – gedankt wird an erster Stelle den Volksaufgebotskämpfern (»opolčency«) und »Soldaten«, dann allen Schichten der russischen Gesellscha t und schließlich der Militärführung und dem Zaren – wird deutlich, dass das Volk nicht als selbstständiges Subjekt, sondern stets auf den Aufruf des Zaren agiert, der sich als Hüter seiner Untertanen inszeniert und im Gegenzug Treue von ihnen einfordert. Dieser Logik folgend knüp t Andrianov den Beginn des »Volkskrieges« programmatisch an die Manifeste Aleksandrs I. vom 6. und 11. Juli 1812, in denen der Zar die Bildung eines Volksaufgebots verkündet und die Bewohner von Moskau zum Kampf gegen Napoleon aufru t (vgl. Andrianov 1912a:29-33): Все слои населения, одушевленные любовью к родине, серьезно готовились к борьбе. Нависшая опасность нашествия чужестранцев сплотила воедино весь русский народ. Смело можно сказать, что никогда еще в жизни русского государства не было такого единодушного слияния всего народа, охваченного одними и теми же чувствами и пожеланиями, как перед вторжением народов запада в Россию в 1812 г. (Andrianov 1912a:18) Alle Schichten der Bevölkerung, durch die Liebe zur Heimat beseelt, bereiteten sich ernstha t auf einen Kampf vor. Die drohende Gefahr des Einfalls von Ausländern vereinte das ganze russische Volk. Man kann ohne weiteres sagen, dass es in der Geschichte des russischen Staates noch nie eine solche einmütige Vereinigung des ganzen Volkes, das von denselben Gefühlen und Wünschen ergri fen war, gegeben hatte wie vor dem Einfall der Völker des Westens in Russland im Jahr 1812. Dabei verwendet Andrianov den Begri f »Volkskrieg« [»narodnaja vojna«] an dieser Stelle im Sinne von ›Krieg des ganzen russischen Volkes‹ und setzt sich damit von der Bedeutung ab, an der in didaktischen und literarischen Texten des Jubiläumsjahres sonst festgehalten wird, nämlich als spontaner Zerstörungskrieg durch selbstorganisierte Stadtbewohner und Bauerntruppen, der erst nach der Schlacht von Borodino und der Besetzung Moskaus einsetzt. Die ideologische Manipulation an dieser Stelle ist besonders im Vergleich zur ›liberalen‹ Kriegsinterpretation aufschlussreich, in der das Ideologem des »Volkskrieges« demontiert und der spontane Protest der Bauern nur auf den unmittelbaren Kontakt mit dem Gegner zurückgeführt und als A fektzustand diskreditiert wird (vgl. Kap. 3.2.2., 3.2.3., 5.3.3., 5.4.2., 5.4.3.). In für populäre Kriegsdarstellungen des Jubiläumsjahres typischer Weise gibt Andrianov die historischen Rahmenbedingungen in vereinfachter Form wieder.

2 Zur Inszenierung der Macht: Das 100-jährige Jubiläum des »Vaterländischen Krieges«

Trotz der knappen Angaben zu den Ursachen des Krieges (z.B. die Kontinentalblockade Englands und die Nachteile des Tilsiter Friedens für Russland) sieht der Autor den eigentlichen Grund in den persönlichen Ambitionen Napoleons: »Но все же главнейшей причиной вооруженного столкновения было громадное властолюбие Наполеона, его неукротимое желание быть единственным хозяином в Европе, полновластным повелителем народов.« [»Doch der wichtigste Grund des militärischen Kon likts war die gigantische Herrschsucht Napoleons, sein unbezwingbarer Wunsch, alleiniger Herrscher in Europa und unumschränkter Herr der Völker zu sein.«] (Andrianov 1912a:9). Dies dient insbesondere dazu, die religiös fundierte Einheit von Zar und Volk zu unterstreichen, wodurch der »Vaterländische Krieg« als ultimativer Kampf zwischen Gut und Böse dargestellt wird: »[…] Русский Царь сознавал, что волею Всемогущего Творца народу русскому надлежит выступить как грозному судье над ненасытным победителем Европы. В единодушии народа и армии наш Государь находил утешение перед великой борьбой.« [»[…] Der Russische Zar war sich dessen bewusst, dass es dem russischen Volk durch den Willen des Allmächtigen Schöpfers bestimmt ist, als Richter über den unersättlichen Bezwinger Europas aufzutreten. In der Eintracht von Volk und Armee fand unser Zar Trost vor dem großen Kampf.«] (Andrianov 1912a:19). Im Gegensatz zu Napoleon wird Aleksandrs Kriegsführung also nicht durch Willkür, sondern als notwendige Antwort auf die Aggression Napoleons im Namen Gottes legitimiert: »На начинающего Бог.« [»Gott ist gegen den, der anfängt.«] (Andrianov 1912a:19). Diese Einstellung prägt auch die Darstellung des russischen Volkes. Bei der Schilderung des besetzten Moskaus nimmt Andrianov Abstand von einem Topos, der in literarischen Texten des Jubiläumsjahres o t verarbeitet wird (vgl. Kap. 5.4.3.2.), nämlich dem patriotischen Abbrennen der Hauptstadt durch die Stadtbewohner. Vielmehr wird die Schuld am Brand dem Feind zugeschrieben: »[…] [О]ставшиеся в Москве жители безучастно смотрели на свои горевшие дома. Многие, видя разграбление имущества, предпочитали лучше уничтожить его, чем оставить на пользу врагам.« [»[…] [D]ie in Moskau zurückgebliebenen Bewohner schauten teilnahmslos auf ihre brennenden Häuser. Viele wurden Zeugen von Plünderungen und zogen es vor, ihren Besitz lieber zu vernichten, als ihn den Feinden zum Nutzen zu überlassen.«] (Andrianov 1912a:55-56). Diese kenotische Passivität des russischen Volkes dient als Hintergrund für das allmähliche Erwachen des »Volkszornes« [»народный гнев«] (Andrianov 1912a:60), der Napoleon für seine ›Hybris‹ schließlich bestra t. Bezeichnenderweise bleiben bei Andrianov die für die populären Kriegsdarstellungen des Jubiläumsjahres typischen Topoi der humanitären Versöhnung mit und der Gnade gegenüber dem besiegten Gegner aus (vgl. Kap. 3.2.3., 5.3.3.5., 5.4.3.4.). Stattdessen wird ein apokalyptisches Szenario entworfen, mit dem die eschatologischen Vorstellungen des russischen »napoleonischen Mythos« (vgl. Kap. 1.2.) aktualisiert werden: »Во

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всю мощь свою дивную, богатырскую размахнулась Русь на врага. Жестоко покарала она гостей самозваных, непрошенных. Кровавый пир шумел на Руси.« [»Mit all ihrer wundervollen reckenha ten Kra t holte die Rusʼ zum Schlag gegen den Feind aus. Grausam bestra te sie die falschen, ungeladenen Gäste. Ein blutiges Gelage lärmte in der Rusʼ.«] (Andrianov 1912a:77). Somit steht für Andrianov als Ergebnis des »Vaterländischen Krieges« keine humanitäre Versöhnung, die in literarischen Werken des Jubiläumsjahres o t zum Ausdruck kommt (vgl. Kap. 5.3.3.5., 5.4.3.4.), sondern die Konstatierung einer Dominanzstellung Russlands gegenüber dem Westen: »Победа России над Наполеоном выдвинула нашу родину на первое место среди великих держав, решающих судьбу человечества.« [»Der Sieg Russlands über Napoleon rückte unsere Heimat auf die erste Stelle unter den Großmächten, die über das Schicksal der Menschheit entscheiden.«] (Andrianov 1912a:79). Auch wenn sich Andrianovs Broschüre in einigen Aspekten von einer typischen Darstellung der Geschichte des »Vaterländischen Krieges« im Jubiläumsjahr 1912 abweicht, lassen sich daraus die implizierten Vorstellungen der Interministeriellen Kommission und des russischen Staates rekonstruieren. Dabei zeigt sich, wie die populären Medien das staatso fizielle ›Szenario der Macht‹ abbilden bzw. konstruieren und welche symbolische Wirkungsmacht die archaischen Vorstellungen des »napoleonischen Mythos« und das traditionelle »napoleonische Narrativ« besitzen. Gerade in der Schlusspassage (Andrianov 1912a:79) kann die symbolische Identität von 1812 und 1912, wie sie von den staatso fiziellen Jubiläumsmaßnahmen suggeriert wurde, nicht nur als Orientierung an der ›ruhmreichen Vergangenheit‹, sondern auch als o fensive Ausrichtung auf die Zukun t aufgefasst werden.

2.4

Die Inszenierung von Authentizität: A.I. Bachmet’evs »historische Chronik« »Dvenadcatyj god« (1912)

Während bei Andrianov in der beschwörenden Weise eines Gebets vor allem eine emotionale Involvierung des Lesers durch die Illusion einer ultimativen Erklärung historischer Ereignisse und eines unmittelbaren Zugangs zur ›Wahrheit‹ angestrebt wird, artikulierte der Staat seinen Anspruch auf die Auslegung der russischen nationalen Geschichte in großem Maße auch über die »objektive« Authentizität (vgl. Pirker/Rüdiger 2010:16), d.h. über die Forderung der Faktizität und historischen Detailtreue. Diese Tendenz zeigte sich z.B. bei der Erö fnung des Panoramas der Schlacht von Borodino, das von Franc Alekseevič Rubo [Franz Roubaud] (1856-1928) angefertigt wurde (vgl. Tsimbaev 2014). Einen wichtigen Schritt zur Memorialisierung und Institutionalisierung der Erinnerung an den »Vaterländischen Krieg« stellte auch die geplante, aber nicht verwirklichte Erö fnung eines Museums zum Jahr 1812 dar, die durch eine von Nikolaj II. 1908 gegründete Sonderkom-

2 Zur Inszenierung der Macht: Das 100-jährige Jubiläum des »Vaterländischen Krieges«

mission vorbereitet wurde (vgl. Božovskij 1913:3-9; Mitrošenkova/L’vov 2010). Die bereits gesammelten Gegenstände konnten im Jubiläumsjahr jedoch im Rahmen einer Ausstellung zum Jahr 1812 im Historischen Museum in Moskau ausgestellt werden (vgl. Božovskij 1912, 1913). Die Erö fnung des Museums wurde durch den Ersten Weltkrieg verhindert und konnte erst 100 Jahre später, zum 200-jährigen Jubiläum 2012, verwirklicht werden (vgl. Nohejl 2013; Šore/Nochejlʼ/Rapp 2015). Die Forderung nach der ›historischen Wahrheit‹ wurde im Rahmen des o fiziellen Jubiläumsprogramms auch im Repertoire der Kaiserlichen eater umgesetzt, und zwar mithilfe von neuartigen populären Au führungsformaten. Als Beispiel kann die »historische Chronik« Aleksej Ivanovič Bachmet’evs (ca. 1875-192?) »Dvenadcatyj god« [»Das Jahr 1812«] (Bachmet’ev 1912) dienen, die in einem von der Direktion der Kaiserlichen eater [Direkcija Imperatorskich Teatrov] 1910 ausgerufenen Wettbewerb prämiert wurde (vgl. Zograf 1966:461-462). In die Jury war auch ein Mitglied des IRVIO, der Historiker Konstantin Adamovič Voenskij (18601928), als Experte abgeordnet worden (vgl. Izvestija 1911a:4-5; 1912a:10-11). Bachmet’evs Stück wurde zum Au takt der eatersaison 1912/13 am 26. August 1912 im »Aleksandrinskij teatr« in Petersburg und im »Bol’šoj teatr« in Moskau gespielt und jeweils mit der Ouvertüre Petr Il’ič Čajkovskijs (1840-1893) »1812 god« [»Das Jahr 1812«] (1882) erö fnet (vgl. Jubilejnaja programma 1912; Kap. 6.2.). Nach Ende der o fiziellen Jubiläumsfeierlichkeiten lief das Stück im »Aleksandrinskij teatr« in Petersburg und im »Malyj teatr« in Moskau (vgl. Priloženie 1915:65, 72). Darüber hinaus wurde die Chronik auch in anderen Städten aufgeführt, z.B. über die Vermittlung einer lokalen Abteilung des IRVIO in Kiev (vgl. Martynov 1912). Mit ihren insgesamt 36 »Bildern« war Bachmet’evs Chronik ursprünglich auf drei Abende ausgelegt und wurde für die Jubiläumsau führung auf 10 »Bilder« gekürzt. Die Auswahl der Szenen richtete sich nach den zentralen Topoi des »napoleonischen Narrativs«, eine Rolle bei der Auswahl der Szenen spielte auch das Verbot der Zensur, die Figur des Zaren Aleksandr I. au treten zu lassen (vgl. Swi t 2002:98; Lapin 2012a:213). Bachmet’evs Stück war als eine ›lebendige‹ historische Chronik konzipiert und stellte die Ereignisse des Jahres 1812 mit historischen Figuren nach. Obwohl sich der Autor stark an militärhistorischen Dokumenten orientierte, macht seine Darstellung deutlich, wie stark die ›historische Wahrheit‹ im Jubiläumsjahr 1912 bereits durch literarische Geschichtsdarstellungen überformt worden und von diesen nur schwer zu unterscheiden war. Besonders deutlich ist der Ein luss von Lev Nikolaevič Tolstojs (1828-1910) »Vojna i mir« [»Krieg und Frieden«] (1868/69), das Bachmet’ev neben Kriegsgeschichten und Egodokumenten als Quelle für sein Stück angibt (vgl. Bachmet’ev 1912:[3]). Das Bühnenbild des 6. »Bildes«8 folgt dem Gemälde Aleksej Danilovič Kivšenkos (1851-1895) »Voennyj sovet v Filjach v 1812 godu« [»Der 8

Siehe Abbildung unter , .

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Kriegsrat in Fili«] (1880), das sich seinerseits eindeutig an Tolstojs Beschreibung orientiert (vgl. Ill. 17a in Kap. 6.3.). Dies wird insbesondere an der Figur des kleinen Mädchens Malaša deutlich, dessen naive Perspektive Tolstoj für die Schilderung des Kriegsrates in Fili nutzt. Auch wenn die einfache eaterpresse dem Jubiläumsstück mit Spott begegnete und es wegen seiner übermäßigen Nachahmung Tolstojs kritisierte (z.B. Obozrenie teatrov 1912c), waren es gerade die akademischen Kritiker, die auf eine ambivalente Wirkung populärer Geschichtsdarstellungen beim Publikum hinwiesen und die aufwändige Bühnengestaltung lobten. Der Kunsthistoriker, Musik- und eaterkritiker Ėduard Aleksandrovič Stark [Ps. Zigfrid] (1874-1942) bemängelte einerseits das Fehlen der Eigeninitiative und eines subjektiven Blicks des Autors auf den Krieg von 1812: […] Бахметьев не рискнул ни на какое субъективное освещение событий Отечественной войны, ни тем более на собственное толкование психологии ее главных деятелей и вытекавших отсюда их поступков, он остался только добросовестным рассказчиком всем известных главнейших фактов в их исторической последовательности, влагая в уста героев трагической эпопеи те именно речи и отдельные выражения, которые они на самом деле произносили и которые остались запротоколенными в многочисленных записках современников, внимательно г. Бахметьевым прочитанных. (Stark 1913:101) […] Bachmet’ev riskierte keinerlei subjektive Beleuchtung der Ereignisse des Vaterländischen Krieges, und noch weniger eine eigene Deutung der Psychologie seiner Hauptakteure und ihrer Taten, die sich daraus ergeben hatten; er blieb bloß ein gewissenha ter Erzähler von allgemein bekannten Fakten in ihrer historischen Abfolge, indem er den Helden jener tragischen Epoche genau die Worte und einzelnen Ausdrücke in den Mund legte, die diese tatsächlich gesagt hatten und die in zahlreichen zeitgenössischen Zeugnissen protokolliert worden sind, die Herr Bachmet’ev aufmerksam las. Andererseits zeigte der Kritiker Verständnis für die Art und Weise, wie Bachmet’ev in Anlehnung an historische Dokumente eine Authentizitätsfiktion herstellte, und wies auf die große Faszination hin, die von der ›lebendigen‹ Nachstellung historischer Episoden für das zeitgenössische Publikum ausging: Увидеть, точно вставшими из гроба, Юлия Цезаря, Наполеона, Кутузова, Суворова, увидеть даже просто только одну фигуру, независимо от того, что она станет говорить, – в этом есть какой-то своеобразный интерес и оригинальное удовольствие. И с этой стороны »Двенадцатый год« Бахметьева, как прохождение перед глазами зрителя целого ряда исторических образов, один другого славнее, составил зрелище весьма заманчивое, тем более что и театр прило-

2 Zur Inszenierung der Macht: Das 100-jährige Jubiläum des »Vaterländischen Krieges«

жил все усилия к тому, чтобы обставить спектакль как можно тщательнее, со всем вниманием к точности исторического воспроизведения, на какую только и способен Императорский театр. (Stark 1913:101-102) Julius Caesar, Napoleon, Kutuzov, Suvorov zu sehen, als wären sie aus dem Grabe aufgestanden, oder einfach nur eine solche Figur zu sehen, unabhängig davon, was sie sagt –, darin liegt ein gewisses eigenartiges Interesse und originelles Vergnügen. Und von dieser Seite war Bachmet’evs [Stück] »Das Jahr 1812«, das eine ganze Reihe historischer Gestalten – die eine ruhmreicher als die andere – vor den Augen des Zuschauers vorbeiziehen lässt, eine höchst verlockende Vorstellung, zumal auch das Theater sein Bestes dafür tat, das Theaterstück möglichst sorgfältig aufzuführen, mit aller Aufmerksamkeit bezüglich der Genauigkeit der historischen Darstellung, zu der das Kaiserliche Theater nur fähig ist. Den neuartigen Charakter von Bachmet’evs Inszenierung betonte auch der Schri tsteller, Literaturkritiker und Autor der Kunstzeitschri t »Apollon« Sergej Abramovič Auslender (1886/1888-1943), der die Chronik mit den ›bewegten Bildern‹ eines Kinofilms verglich: »Сцены Бахметьева […] не представляют, конечно, пьесы – это скорее программа для кинематографа. Так, нечто вроде кинематографического сеанса и устроили в Александринском театре.« [»Die Szenen Bachmet’evs […] stellen gewiss kein eaterstück dar – das ist eher ein Programm für einen Film. Man hat also im ›Aleksandrinskij teatr‹ eine Art Filmau führung veranstaltet.«] (Auslender 1912:185; vgl. Kap. 6.3.). Die Rezensionen auf Bachmet’evs Stück machen deutlich, dass der russische Staat im Rahmen des o fiziellen Jubiläumsprogramms den hohen Authentizitätswert der neuen populären Medien durchaus nutzte, um die o fizielle Kriegsinterpretation zu verbreiten. Inwiefern dabei die Faszination der Zuschauer den modernen Medien selbst oder der darin transportierten Geschichtsinterpretation galt, ist schwer zu entscheiden (vgl. Swi t 2002:228). Eine exemplarische Analyse der neuartigen Jubiläumsmedien aus dem Unterhaltungsbereich für Erwachsene in Kap. 6 zeigt, dass diese trotz einer satirischen Brechung des traditionellen Kriegsnarrativs keine alternative Lesart der nationalen Geschichte bieten. Vielmehr verschmelzen staatliche und private Interessen im kommerzialisierten Raum der Jubiläumskultur, in dem durch eine umfassende Hinwendung zur Epoche von 1812 für kurze Zeit eine symbolische Identität der Gegenwart mit der ›ruhmreichen Vergangenheit‹ inszeniert werden konnte.

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2.5

Zwischenbilanz und Ausblick 2012

Die Herausbildung des russischen »napoleonischen Narrativs« lässt sich anhand der Institutionalisierung der Erinnerung an die Epoche von 1812 im 19. und 20. Jahrhundert verfolgen. Dabei zeigt sich, dass die bemerkenswerte Umdeutung des Begri fs ›Vaterländischer Krieg‹ von einem Kriegsterminus zu einem Ideologem, in dem die religiös fundierte Einheit von Herrscher und ›Volk‹ angesichts der gemeinsamen Gefahr und die geistige Überlegenheit Russlands über den westlichen Gegner postuliert wurden, mit der Scha fung von Erinnerungsorten und mit der Stiftung o fizieller historiographischer Werke einherging. Eine besondere Rolle spielte dabei das Jubiläum von 1839, bei dem die Hegemonie des russischen Staates bei der Planung und Ausrichtung von Jubiläumsfeiern artikuliert und die Form des Gedenkens als Kriegsjubiläum für weitere Feiern festgelegt wurde. Das 100-jährige Jubiläum des »Vaterländischen Krieges« lieferte einen entscheidenden Impuls für die Aktualisierung des traditionellen »napoleonischen Narrativs« im 20. Jahrhundert. Eine wesentliche Modifikation der staatso fiziellen Kriegsinterpretation im Jahr 1912 bestand in der o fiziellen Anerkennung der Rolle des russischen Volkes im Kampf gegen Napoleon, wobei das ›Volk‹ nicht als Souverän, sondern in religiöser Einheit mit dem Herrscher gedacht wurde. Diese Vorstellung wurde in der prämierten Jubiläumsbroschüre P.M. Andrianovs popularisiert. Die Analyse eines weiteren prämierten Jubiläumswerkes, der »historischen Chronik« A.I. Bachmet’evs »Dvenadcatyj god«, macht deutlich, dass der russische Staat, der seinen Anspruch auf die Auslegung der russischen Geschichte durch die Forderung der Authentizität der verarbeiteten Quellen artikulierte, durchaus zu den neuartigen Medien gri f, die in der Wahrnehmung der Zeitgenossen einen hohen Authentizitätswert hatten. Daher darf die Grenze zwischen der ›hohen‹ und der ›niederen‹ Unterhaltungskultur im Jubiläumsjahr nicht zu eng gezogen werden (vgl. Schneider 2001:64). Gewiss kann man davon ausgehen, dass es der russischen Regierung gelang, Teile der Bevölkerung durch soziale Begünstigungen und Unterhaltungsangebote zu besän tigen und die innenpolitische Lage im Land kurzfristig zu stabilisieren. Trotz der berechtigten Kritik an der ungenügenden Organisation der Jubiläumsfeierlichkeiten (vgl. Tsimbaev 2004; Cimbaev 2007) kann man jedoch erkennen, dass die o fiziellen Jubiläumsfeierlichkeiten ihre Wirksamkeit nicht aus den konkreten sozialen Maßnahmen, sondern vor allem auf der symbolischen Ebene – aus der Partizipation an der Tradition des »napoleonischen Narrativs« ‒ bezogen. Die Wirkungsmacht der durch die Jubiläumsfeierlichkeiten von 1912 begründeten Tradition zeigte sich insbesondere dadurch, dass sie bei der Ausrichtung des 200-jährigen Jubiläums im Jahr 2012 explizit aufgegri fen wurde. Somit wurde über die sowjetische Zeit hinweg eine symbolische Brücke zur Epoche von 1912/1812 geschlagen. Von der a firmativen Aufnahme der vorrevolutionären Tradition zeu-

2 Zur Inszenierung der Macht: Das 100-jährige Jubiläum des »Vaterländischen Krieges«

gen die Erö fnung des 1912 geplanten Museums des Jahres 1812 im Historischen Museum in Moskau (vgl. Nohejl 2013; Šore/Nochejlʼ/Rapp 2015) und die Neugründung der Russischen Militärhistorischen Gesellscha t als koordinierendes Organ der russischen Regierung. Die umfassende Digitalisierung von Publikationen aus den Jahren 1812 und 1912 durch die russischen Archive und Bibliotheken lässt die Epoche von 1812 nun auch im digitalen Raum präsent werden. Die Hinwendung zu den traditionellen Kriegsnarrativen ist gerade vor dem Hintergrund der allmählichen Rückkehr Russlands zum normativen Geschichtsverständnis aufschlussreich (vgl. Šore/Nochejlʼ/Rapp 2015). Abgesehen von wenigen Versuchen, das Jubiläum von 1812 kritisch zu betrachten (z.B. Lapin 2015; vgl. Nohejl/Rapp 2013), die im Zuge der Aneignung westlicher eoriemodelle (Kuznecov/Maslov 2011) zu sehen und in Kooperation mit westlichen Forschern entstanden sind (Stroganov 2012), gab es eine Reihe von Publikationen, in denen traditionelle Ideologeme unkritisch aufgegri fen werden (z.B. Mel’nikova 2012). Das 200-jährige Jubiläum des »Vaterländischen Krieges« gab auch einen Impuls zur Fortschreibung des traditionellen »napoleonischen Narrativs«, indem es die Aufmerksamkeit auf die Kampagne von 1813/14 lenkte. Die jüngsten Publikationen zu diesem ema (z.B. Tchernodarov 2013; Sdvižkov 2015) lassen eine gewisse Nostalgie und die Sehnsucht nach einem starken Russland erkennen und zeugen von einer großen Aktualität und Variabilität des »napoleonischen Narrativs« (vgl. Rapp 2018).

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3 Zwischen Subversion und A rmation: Zur populärwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem »Vaterländischen Krieg« im Rahmen der »Gesellschaft für die Verbreitung des technischen Wissens« (ORTZ)

Während die staatso fizielle Interpretation des »Vaterländischen Krieges« durch die Werke der Ho historiker (z.B. A.I. Michajlovskij-Danilevskij), Archivmaterialien und traditionelle Formen der Jubiläumsbegehung geformt wurde (vgl. Kap. 2.1.), stellt sich die Frage nach der Rolle zahlreicher nichtstaatlicher freiwilliger Vereinigungen, die sich der Verbreitung von Wissen im weitesten Sinne widmeten (vgl. Gorochov 2010; Tumanova 2008, 2011; Kaplan 2012). Die Hinwendung zur Popularisierung des technischen sowie historischen Spezialwissens ist im Kontext der Modernisierung der russischen Gesellscha t seit den 60er Jahren des 19. Jahrhunderts zu sehen, die durch die ›großen Reformen‹ Aleksandrs II. eingeleitet wurde. Neben der Au hebung der Leibeigenscha t 1861 ist auch die Einrichtung der zemstva 1864 zu nennen, die die Selbstverwaltung vor Ort stärken sollten (vgl. Abramov 1998), sowie die Universitätsreformen von 1863, die unter anderem die Stellung von Privatdozenten festigten (vgl. Bohn 1998). Diese Reformen schufen eine Grundlage für die Entstehung einer neuen »Ö fentlichkeit« [»obščestvennost’«] (vgl. Bradley 2009; Tumanova 2002, 2011; Wartenweiler 1999), in der private Initiativen stärker zur Geltung kamen, und die sich für die Liberalisierung der russischen Gesellscha t einsetzte. Bildungsdidaktische Fragen und die Verbreitung von Wissen stellten für liberal gesinnte Intellektuelle eine Rückzugsnische dar und ermöglichten zugleich eine Polemik mit der russischen Autokratie und der o fiziellen Geschichtsau fassung, die im pädagogisch-didaktischen und populärwissenscha tlichen Bereich geführt wurde. Dieser Diskurs wurde umso bedeutsamer, als sich spätestens mit dem gewaltsamen Tod des ›Befreiungszaren‹ Aleksandrs II. 1881 die Tendenz zur allmählichen Rücknahme gesellscha tlicher Freiheiten abzeichnete. Daher stellt sich die Frage, inwiefern die Tätigkeit der freiwilligen Vereinigungen die Erinnerung an den »Vaterländischen Krieg« formte.

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Napoleon und der »Vaterländische Krieg« in Russland

3.1

Gründung, Struktur und Publikationen des ORTZ im Kontext des 100-jährigen Jubiläums

Die [Moskauer] Gesellscha t für die Verbreitung technischen Wissens [[Moskovskoe] Obščestvo rasprostranenija techničeskich znanij, ORTZ] wurde am 1. Juni 1868 unter der Patronage des Großfürsten Aleksej Aleksandrovič (1850-1908) gegründet und nahm 1869 ihre Tätigkeit auf. Aus der Satzung der Gesellscha t, die am 1. Juni 1869 verabschiedet wurde, geht hervor, dass das ORTZ zum Ziel hatte, […] содействовать усовершенствованию и распространению в России технических знаний вообще, преимущественно же усвоению усовершенствованных технических приемов в тех отраслях отечественной промышленности и ремесел, которые имеют более обширное практическое применение. (Ustav 1896:3) […] zur Weiterentwicklung und Verbreitung des technischen Wissens insgesamt in Russland beizutragen, vorrangig jedoch zur Aneignung von modernen technischen Verfahren in jenen Branchen der vaterländischen Industrie und des Handwerks, die eine breitere praktische Anwendung finden. Zu diesem Zweck dur te die Gesellscha t »mit entsprechender Erlaubnis« »technische Schulen und Lehrwerkstätten erö fnen«, »Ausstellungen veranstalten« und »Bücher verö fentlichen« (vgl. Ustav 1896:3). Zur Umsetzung dieser Ziele dur te das ORTZ außerdem »ständige Kommissionen«, »Spezialabteilungen und Kommissionen« auch vor Ort in den einzelnen Gouvernements gründen (vgl. Ustav 1896:6-7). Somit bot das ORTZ eine präzedenzlose horizontale Vernetzung, was als Prototyp moderner wissenscha tlicher bzw. intellektueller Netzwerke gesehen werden kann. Eine umfassende Untersuchung der institutionellen Strukturen des ORTZ steht noch weitgehend aus. Die Tätigkeit der Gesellscha t wurde nur gelegentlich in verschiedenen Zusammenhängen angesprochen. Die sowjetische Forschung lieferte deskriptive Werke, die sich vor allem auf die Verbreitung des technischen Wissens, z.B. technische Schulen und die Ausbildung von Arbeitern, konzentrierten (vgl. Gricenko 1968; Filippov 1978; Batyšev 1981; Stepanskij 1984:208). Die Frage nach dem sozialpolitischen Wirken und den Repräsentanten der freiwilligen Vereinigungen im russischen Imperium wurde vor allem in der westlichen Forschung aufgegri fen (vgl. Eklof 1990; Bohn 1998; Bradley 2009 sowie seine Publikation in russischer Sprache: Brėdli 2012). Die aktuelle russische Forschung zeigt Interesse am politischen und institutionellen Hintergrund für die Entstehung freiwilliger technisch-wissenscha tlicher Vereinigungen [russ. ›dobrovol’nye naučno-techničeskie obščestva‹] (vgl. Gorochov 2010, Tumanova 2002, 2008, 2011; Kaplan 2012; Fragenkatalog von Dneprov 2014:23). Außerdem werden die Strukturen des ORTZ im Kontext spezieller Fragestellungen beleuchtet. Zu nennen sind z.B. die Weiterbildung der russischen Lehrer, für die preisgünstige Bildungsreisen ins Ausland organi-

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siert wurden (vgl. Krupskaja 1957; Dolženko 1988:46-67), Fragen der technischen Ausbildung (vgl. Bradley 2009; Späth 1984) sowie Diskussionen um den Sammelband »Vechi« [»Wegzeichen«] (vgl. Oberländer 1965:58). Der Historiker Christopher Stroop wies darauf hin, dass einige Mitglieder des ORTZ durch die Herausgabe der Reihe »Vojna i kul’tura« [»Krieg und Kultur«] die Teilnahme Russlands am Ersten Weltkrieg aus religionsphilosophischer Sicht zu begründen bzw. zu propagieren versuchten (vgl. Strup 2014). Von besonderer Bedeutung für die pädagogische Tätigkeit und die Popularisierung des historischen Wissens war die 1871 gegründete Lehrabteilung [Učebnyj otdel] des ORTZ, in deren Rahmen zahlreiche Institutionen gegründet wurden (vgl. Gruzinskij 1902). 1890 wurde innerhalb der Lehrabteilung eine Kommission der Geschichtslehrer – die Historische Sektion [istoričeskaja sekcija] – gegründet, die sich mit Fragen der Methodologie der Geschichtsforschung, der Ausarbeitung von Schulprogrammen und der Verfassung von Lehrbüchern beschä tigte (vgl. Gruzinskij 1902:24, 26-27; Orlovskij 2002:83-84; Fuks 2011:133; Bohn 1998:112). Die Gründung der Historischen Sektion löste eine große Resonanz in Lehrerkreisen aus, was von einer guten Vernetzung der russischen Intellektuellen zeugt (vgl. Fuks 2011:133). Insbesondere sind Kontakte zur »Moskauer Schule« der Historiker um Vasilij Ospiovič Ključevskij (1841-1911) (vgl. Bohn 1998:112, 135-136, 153; Grišina 2010:202) sowie die Vernetzung von Spezialisten im Kontext der technischen Ausbildung von Ingenieuren zu nennen (vgl. Späth 1984:148-149, 347). Das Programm der Moskauer Historiker wurde 1890 in der Zeitschri t »Istoričeskoe obozrenie« [»Historische Rundschau«], dem Presseorgan der ein Jahr zuvor an der Petersburger Staatlichen Universität gegründeten Historischen Gesellscha t [Istoričeskoe obščestvo pri Peterburgskom universitete] (vgl. Kononova 1968; Orlovskij 2002:83-84; Fuks 2011:214), ausführlich besprochen. Aus der Besprechung geht hervor, dass die Historiker des ORTZ Geschichte als wesentlichen Teil der Allgemeinbildung und als einheitliche Disziplin betrachteten, die den Lernenden helfen sollte, den Prozess der historischen Entwicklung und der einzelnen Geschichtsereignisse darin zu verstehen. Die nationale Geschichte sollte dabei im Kontext der Weltgeschichte behandelt werden. Ein zentrales Moment der Popularisierung bestand darin, dass die Historiker des ORTZ bestrebt waren, die historische Entwicklung vor allem anhand außenpolitischer Ereignisse und herausragender historischer Persönlichkeiten zu veranschaulichen (vgl. Istoričeskoe obozrenie 1890:269–270). Dies kann auch als Strategie interpretiert werden, Kontroversen um die Auslegung der russischen nationalen Geschichte zu vermeiden. Aufschlussreich erscheint die folgende ese, die nicht nur die enge Verknüpfung zwischen Geschichte und Gegenwart zum Ausdruck bringt, sondern auch die Vorstellung der Historiker des ORTZ von der Funktion des Geschichtsunterrichts deutlich macht:

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Что касается воспитания морального или политического посредством исторического преподавания, то оно никоим образом не может быть поставлено целью, хотя бы и второстепенною, а должно быть рассматриваемо, лишь как естественный результат всякого разумного преподавания истории. (Istoričeskoe obozrenie 1890:269) Was die moralische oder politische Erziehung durch Geschichtsunterricht betri t, so kann diese keineswegs als Ziel, selbst als ein zweitrangiges, gesetzt werden, sondern muss als natürliches Ergebnis eines jeden vernün tigen Geschichtsunterrichts betrachtet werden. Während der erste Teil der Aussage jegliche ideologische Vereinnahmung des Geschichtsunterrichts ablehnt, wird dieser im zweiten Teil in Form eines Paradoxons gerade zur Basis für moralisches Handeln und politisches Bewusstsein erhoben. Die Aussage, deren rhetorische Form zweifelsohne den strengen Zensurbedingungen Rechnung trägt (vgl. Tumanova 2002:200), betont den diskursiven Charakter von Geschichtsvorstellungen und unterstreicht deren politische Aktualität. Dass die von der Historischen Sektion des ORTZ herausgearbeiteten Prinzipien von den russischen Lehrern außerhalb von Moskau und Petersburg zur Kenntnis genommen und selbst noch nach einigen Jahren ernstha t diskutiert wurden, lässt sich durch einzelne Publikationen zur Methodologie des Geschichtsunterrichts belegen (vgl. Kulžinskij 1913:17, 20-21, 86, 123; Andreevskaja/Bernadskij 1947:18-20; Fuks 2011:134). Aus einem Bericht des ORTZ geht hervor, dass es 1896 zu einer vorübergehenden Schließung der Lehrabteilung durch die Moskauer Regierung kam. Als Gründe dafür wurden angebliche Verstöße gegen die Satzung der Lehrabteilung genannt, und zwar durch die Veranstaltung von allgemeinbildenden Lesungen für Schüler sowie durch die Publikation von systematischen Programmen durch die Kommission für die Organisation der Heimlektüre1 (vgl. Gruzinskij 1902:33). Nach einer Übergangszeit wurde die Tätigkeit der Lehrabteilung im Rahmen der neu gegründeten Russischen Pädagogischen Gesellscha t bei der Kaiserlichen Moskauer Universität [Russkoe Pedagogičeskoe Obščestvo pri Imperatorskom Moskovskom Universitete] (vgl. Zmeev 2009) wieder aufgenommen, deren Satzung jedoch mehr Kontrolle über die einzelnen Kommissionen vorsah (vgl. Ustav pedagogičeskogo obščestva 1902). Diese Umstrukturierung lässt sich daher als teilweise staatliche Vereinnahmung der privaten Initiativen des ORTZ interpretieren. Spätestens ab 1

Die 1893 gegründete Kommission für die Organisation der Heimlektüre [Komissija po organizacii domašnego čtenija] setzte sich durch ö fentliche Lesungen und durch Literaturempfehlungen für Selbstbildung sowie für die Popularisierung des spezifischen natur- und geisteswissenscha tlichen Wissens ein (vgl. Izvestija i zametki 1893; Komissija 1894a; Komissija 1894b; Gruzinskij 1902:29; Bohn 1998:134, 153; Grečichin 2000).

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diesem Zeitpunkt erweist es sich als problematisch, die einzelnen Mitglieder institutionell genau zu verorten, weil sie gleichzeitig verschiedenen anderen Vereinigungen bzw. Kommissionen angehörten (vgl. Fuks 2011:133; Orlovskij 2002:83-84) und weil einige Kommissionen des ORTZ seit 1898 auch im Rahmen der Pädagogischen Gesellscha t arbeiteten (vgl. Gruzinskij 1902:34). Die jüngste Forschung belegt, dass die Lehrabteilung des ORTZ auch weiterhin unter staatlicher Beobachtung stand. Mehr als die Häl te der 1906 verzeichneten Mitglieder der Lehrabteilung galt als politisch verdächtig, worau hin die Lehrabteilung seit 1907 von der Moskauer Geheimpolizei heimlich beobachtet wurde (vgl. Tumanova 2002:213-214). Bezeichnenderweise sind die Publikationen des ORTZ im ausgehenden 19. Jahrhundert in Bezug auf die Epoche von 1812 sowie auf die russische Geschichte insgesamt nicht spezifisch markiert, was mit dem Ausbleiben des ö fentlichen Gedenkens an den »Vaterländischen Krieg« im 19. Jahrhundert korrespondiert (vgl. Kap. 2.1.). Die Hinwendung zur russischen Geschichte ist vor allem mit der jüngeren Generation der Historiker Aleksej Karpovič Dživelegov (1875-1952) (vgl. Devjatova 1999; Kirakosjan 2007), Vladimir Ivanovič Pičeta (1878-1947) (vgl. Savič 1949; Io fe 1996) und Sergej Petrovič Mel’gunov (1879-1956) (vgl. Emel’janov 1998; Christoforov 2003) verbunden, die sich 1901 in der neu gebildeten Historischen Kommission der Lehrabteilung des ORTZ [Istoričeskaja Komissija Učebnogo Otdela ORTZ] unter der Leitung von S.P. Mel’gunov vereinten (vgl. Otčet ORTZ 1902:5, 9-10; Emel’janov 1998:19; Mel’gunov 2003:103). Auch wenn die Historikergruppe um S.P. Mel’gunov heterogen war, kann man davon ausgehen, dass sie eine ›liberale‹ Geschichtsau fassung vertrat, die sich im Allgemeinen durch ein Interesse für die Lage des russischen Volkes bzw. der russischen Bauern, eine Polemik mit der Autokratie und eine antimilitaristische Haltung auszeichnete. Das Interesse der Autoren an der Lage des russischen Volkes zeigte sich auch darin, das sie 1911 eine sechsbändige Ausgabe »Velikaja reforma« [»Die große Reform«] zum 50-jährigen Jubiläum der Au hebung der Leibeigenscha t in Russland publizierten (Dživelegov/Mel’gunov/Pičeta 1911). Aus den Berichten der Lehrabteilung geht hervor, dass die ersten Überlegungen zum 100-jährigen Jubiläum des »Vaterländischen Krieges« von der Historischen Kommission bereits 1909 formuliert (vgl. Otčet ORTZ 1910:103) und 1911 unter dem Vorsitz von S.P. Mel’gunov konkret ausgearbeitet wurden (vgl. Otčet ORTZ 1913:117-119). Anlässlich des Jubiläums gab die Historische Kommission verschiedene populärwissenscha tliche und pädagogische Bücher heraus, die an ein breites Publikum gerichtet waren. Neben den populären Skizzen des Krieges von 1812 (Teplych 1912) und Lesebüchern für Schüler (Brodskij/Mel’gunovа/Sivkov/Sidorov 1912; Pičeta 1912a. Einige Beispiele werden ausführlich in Kap. 3.2. vorgestellt) ist die dreibändige Sammlung der Memoiren der französischen Kriegsteilnehmer »Francuzy v Rossii. 1812 g. Po vospominanijam sovremennikov-inostrancev« [»Franzosen in Russland. 1812. Nach den Erinnerungen von ausländischen Zeitgenossen«]

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(Vasjutinskij/Dživelegov/Mel’gunov 1912) zu nennen. In dieser Ausgabe kam die antimilitaristische Haltung der Autoren des ORTZ zum Ausdruck. Die Illusion eines unmittelbaren Zugangs zur Geschichte durch authentische Zeugen- und Zeitgenossenberichte wurde durch einen bewussten Verzicht auf Kommentare der Herausgeber und Korrekturen verstärkt. Die Darstellung des Krieges aus der Perspektive des Gegners erlaubte es zudem, die Idee von der allgemeinmenschlichen Tragik des Krieges zu vermitteln. Insbesondere hervorzuheben ist die reich illustrierte siebenbändige Ausgabe »Otečestvennaja vojna i russkoe obščestvo« [»Der Vaterländische Krieg und die russische Gesellscha t«, OVIRO] (Dživelegov/Mel’gunov/Pičeta 1911-1912).2 Die Ausgabe vereinte die Beiträge unterschiedlicher Spezialisten und hatte vor allem zum Ziel, die Epoche von 1812 durch ein breites Prisma des russischen gesellscha tlichen Lebens im Kontext der gesamteuropäischen Geschichte zu zeigen und das bereits vorhandene faktische Material über den »Vaterländischen Krieg« für künftige Forscher zu systematisieren. Aus dem Vorwort zum ersten Band geht hervor, dass die Herausgeber bestrebt waren, die eigene Vorgehensweise, Methodologie und Quellenauswahl für den Leser transparent zu machen, was von einem hohen Grad methodologischer Re lexion zeugt. Den Autoren, die verschiedenen Disziplinen angehörten und z.T. unterschiedliche ideologische Ansichten vertraten, wurde eine weitgehende Freiheit bei der Behandlung ihrer emen eingeräumt (vgl. Ot

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Die Prachtausgabe erschien im Verlag von Ivan Dmitrievič Sytin (1851-1934), einem der bedeutendsten Verleger an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert. Aus seinen 1922 verfassten und erst in der Sowjetzeit publizierten Erinnerungen geht hervor, dass er die Herausgabe der beiden Reihen »Velikaja reforma« und OVIRO mit angeregt und die Würdigung des »russischen Bauern« [»русский мужик«] ausdrücklich bejaht habe (vgl. Sytin 1962:94-97). Allerdings werden die Publikationen der Historischen Kommission des ORTZ in dem zu Lebzeiten Sytins anlässlich seiner 50-jährigen Verlagstätigkeit 1916 publizierten Sammelband »Polveka dlja knigi« [»Ein halbes Jahrhundert im Dienste des Buches«] nur sporadisch erwähnt (vgl. den Nachdruck Ravdanis/Denisova 2003:341, 344). Dabei wurde Mel’gunovs Historikerkreis zur »Kaiserlichen Russischen Technischen Gesellscha t« [»Imperatorskoe Rossijskoe [sic! Eig. »Russkoe«, K.R.] techničeskoe obščestvo«] gezählt (vgl. Ravdanis/Denisova 2003:274). Dies kann als Anzeichen für den polemischen Charakter der Publikationen des ORTZ betrachtet werden und unterstreicht nochmals die Schwierigkeit einer institutionellen Zuordnung der Historischen Kommission. Dass der Sammelband OVIRO sein kritisches Potenzial auch im heutigen historiographischen Diskurs in Russland behält, zeigte sich deutlich im Jubiläumsjahr 2012. Trotz der Digitalisierung der Prachtausgabe und deren zahlreicher Erwähnungen in Jubiläumspublikationen, wurde sie vor allem als Datenquelle genutzt, an sich jedoch kaum analysiert und vor allem als »große Errungenscha t der vaterländischen und Welthistoriographie« [»крупн[ое] завоевание[] отечественной и мировой историографии«] (Vandalkovskaja 2013:465) ideologisch vereinnahmt. Nur wenige Publikationen versuchen tatsächlich, die Entstehungsbedingungen des OVIRO zu klären (vgl. Smirnov 2012b) oder den kritischen Duktus der Autoren des ORTZ aufzugreifen (vgl. Gavrilova 2012:85-86).

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redakcii 1911:IV–VI), sodass ein multiperspektivischer und interdisziplinärer Blick auf die Epoche von 1812 entstand. Ein wichtiges Anliegen der Herausgeber war es, die Rolle des russischen Volkes im Krieg von 1812 zu würdigen. Dabei greifen die Autoren das staatso fizielle Ideologem vom allumfassenden Volkscharakter des »Vaterländischen Krieges« (vgl. Kap. 2.3.) zwar auf, deuten es jedoch in ihrem Sinne um, indem sie eine alternative Begründung dafür liefern. Anstatt die patriotische Vereinigung aller Schichten ›um den ron‹ zu betonen, erheben sie zum Haupthelden des Krieges den russischen Bauern, der jedoch infolge ausgebliebener liberaler Reformen und nachfolgender Reaktion zugleich zum größten Verlierer erklärt wird: […] [К]рестьяне были самым ожесточенным противником великой армии, в период отступления – противником опасным и беспощадным. Не даром этот последний период войны называют народной войной. Русский мужик был ее [войны, K.R.] героем, крестьянин – мужественный, самоотверженный, забывший свои собственные крепостные цепи, когда дело шло о борьбе за родину, и вернувшийся под патриархальное помещичье иго, когда ни одного француза не осталось в России. (Ot redakcii 1911:IV) […] [D]ie Bauern waren der erbittertste Gegner der Grande Armée, und während des Rückzugs [waren sie] ein gefährlicher und gnadenloser Gegner. Nicht umsonst wird diese letzte Kriegsperiode als Volkskrieg bezeichnet. Der russische mužik war sein [des Krieges, K.R.] Held – der mutige und selbstlose Bauer, der die Ketten seiner eigenen Leibeigenscha t vergaß, wenn es darum ging, für das Vaterland zu kämpfen, und der unter das patriarchale Joch der Grundbesitzer zurückkehrte, als kein einziger Franzose mehr in Russland zurückgeblieben war. Um ihr bildungsdidaktisches Vorhaben zu verwirklichen und ihre Geschichtsauffassung dem Leser zu vermitteln, bedienen sich die Autoren verschiedener Strategien der Popularisierung, indem sie auf eine einheitliche Vorstellung von der historischen Epoche setzen und eine emotionale Identifikation des Lesers mit der Ereignissen der nationalen Geschichte anstreben, jedoch auf streng wissenscha tlicher Basis und ohne »niedere chauvinistische Gefühle« [»низменные шовинистические чувства«] und »quasipatriotischen Jubel« [»quasi-патриотическое ликование«] (vgl. Ot redakcii 1911:V). Eine wichtige Rolle maßen die Herausgeber der visuellen Gestaltung ihrer Ausgabe bei, sie nutzten für die Illustration sowohl historische als auch speziell für die Ausgabe angefertigte Bilder, die den Prozess der historischen Entwicklung parallel zum Text multimedial verdeutlichen sollten (vgl. Ot redakcii 1911:VII–VIII). Gerade durch die Untersuchung der literarischen Diskurse der Epoche von 1812 und der ersten Häl te des 19. Jahrhunderts schufen sich die liberal orientierten Autoren des OVIRO eine Nische, in der sie mit der staatso fiziellen Kriegsinterpretati-

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on im Jubiläumsjahr 1912 polemisierten (einige Beispiele dazu werden ausführlich in Kap. 5.2. behandelt). Die wissenscha tliche Betrachtung des »Vaterländischen Krieges« im OVIRO wurde auch durch die kritischen Besprechungen der Jubiläumsliteratur von S.P. Mel’gunov und I. Vladislavlev in den vom ORTZ unterstützen pädagogischen Zeitschri ten »Vestnik vospitanija« [»Bote der Erziehung«] (Mel’gunov 1912a) und »Novosti detskoj literatury« [»Neuheiten aus der Kinderliteratur«] (Vladislavlev 1912) ergänzt (vgl. Kap. 5.2.). Dass das Interesse an der Epoche von 1812 bei den Wissenscha tlern der Historischen Kommission nicht nur durch das 100-jährige Jubiläum von 1912 bedingt war, zeigen ihre Publikationen, die über das Jahr 1912 hinausgehen (z.B. Dživelegov 1915; Mel’gunov 1923).

3.2

Napoleon und der »Vaterländische Krieg« in Chrestomathien und Geschichtslesebüchern der Lehrabteilung des ORTZ

Neben den bereits erwähnten Publikationen zur Epoche von 1812, die im Kontext des 100-jährigen Jubiläums entstehen, sind auch Chrestomathien und Geschichtslesebücher des ORTZ zu nennen, die dem kindlichen wie dem erwachsenen Leser einen Zugang zur russischen nationalen Geschichte auch durch ein Selbststudium ermöglichen sollten. Diese Texte zeichnen sich durch ihren betont wissenscha tlichen Charakter und eine methodologische Fundierung aus und lassen die konzeptuelle Entwicklung der ›liberalen‹ Geschichtsinterpretation der Mitglieder des ORTZ erkennen. Im Folgenden werden drei Ausgaben analysiert, die ab 1909 von den Historikern um S.P. Mel’gunov herausgegeben wurden. Durch einen Vergleich mit dem traditionellen »napoleonischen Narrativ« sollen die methodologisch-didaktischen Ansätze und die Logik der behandelten Geschichtsereignisse herausgearbeitet werden. Am Beispiel dieser Ausgaben lässt sich außerdem untersuchen, wie die pädagogische Idee der Verbreitung bzw. Popularisierung des historischen Wissens dazu funktionalisiert wurde, die Ansichten der Autoren des ORTZ zu vermitteln.

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3.2.1

»Rasskazy po russkoj istorii. Obščedostupnaja chrestomat a« (1909-1918)

3.2.1.1

1. Au age (1909)

Die Chrestomathie3 »Rasskazy po russkoj istorii. Obščedostupnaja chrestomatija« [»Erzählungen über die russische Geschichte. Eine allgemeinverständliche Chrestomathie«] (Mel’gunov/Petruševskij 19094 ) widmet sich der russischen Geschichte, die von den Anfängen des russischen Staates bis ins 20. Jahrhundert chronologisch behandelt wird. In den Jahren 1909 bis 1918 erschien sie in fünf Au lagen5 und wurde ständig erweitert (die Ausgabe von 1918 enthielt bereits ein Kapitel über die Februarrevolution 1917). In den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts wurden einzelne Teile aus der »Chrestomathie« in der Zeitschri t »Prepodavanie istorii v škole« [»Geschichtsunterricht in der Schule«] nachgedruckt, jedoch ohne die ematik des »Vaterländischen Krieges« (vgl. Nr. 1-4/1994). 1995 wurde die Ausgabe der »Chrestomathie« von 1918 komplett nachgedruckt (Popova/Popov 1995). Als zentrales Organisationsprinzip der Ausgabe lässt sich deren Allgemeinverständlichkeit [obščedostupnostʼ] erkennen, die sich in der Auswahl des Materials, in der methodologisch-didaktischen Aufarbeitung der Texte sowie in der Festlegung der Zielgruppe widerspiegelt. Die Herausgeber verarbeiten bereits auf dem Buchmarkt vorhandene »allgemeinzugängliche« bzw. »-verständliche« Texte, die dem Anspruch einer »elementaren Wissenscha tlichkeit« genügen. Der populärwissenscha tliche Ansatz drückt sich insbesondere im Anspruch auf eine »ganzheitliche« und »einheitliche« Darstellung der russischen Geschichte aus, und zwar sowohl auf der inhaltlichen Ebene als auch auf der Ebene der Methodologie, wie es im Vorwort der Herausgeber betont wird: »Задача редакции сводилась в данном случае к приданию возможного единства и цельности плану хрестоматии, так и точки зрения, под углом которой рассматривается исторический процесс.« [»Die Aufgabe der Redaktion bestand in diesem Fall darin, sowohl den Au bau der Chrestomathie als auch die Perspektive, aus der der historische Prozess betrachtet wird, nach einem möglichst einheitlichen und ganzheitlichen Plan zu gestalten.«] (3). Dies wurde zum einen über den breit angesetzten chronologischen Rahmen erreicht, der die Erklärung komplexer Zusammenhänge und zugleich die Konstruk3

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Bei einer Chrestomathie handelt es sich um eine Sammlung von Texten bzw. Textauszügen aus Primär- und/oder Sekundärwerken. Der Unterschied zu einer Anthologie besteht vor allem in deren didaktischer Absicht, die sich in der fachspezifischen Ausrichtung (z.B. Geschichtschrestomathie, russ. ›chrestomatija po istorii‹) sowie in deren Konzeption als Hilfsbzw. Begleitwerk für den Geschichtsunterricht oder für das Selbststudium zeigt. Die Texte werden o t für verschiedene Zielgruppen adaptiert. Im Weiteren beziehen sich die Seitenangaben in Klammern auf diese Ausgabe, K.R. 2. Au l. 1912 Moskva: I.D. Sytin; 3., durchgesehene Au l. 1915 Moskva: Zadruga; 4. Au l. 1917 Moskva: I.D. Sytin; [Zadruga]; 5. unveränderte Au l. 1918 Moskva: [I.D. Sytin]; Zadruga.

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tion von historischen Parallelen erleichtern sollte. Zum anderen manifestierte sich die »Ganzheitlichkeit der Darstellung« in der Vielfalt der herangezogenen Quellen, mithilfe derer sich ein facettenreiches Bild der russischen Geschichte konstruieren ließ. Es wurden wissenscha tliche, belletristische Werke und Egodokumente verarbeitet, wobei es sich um eine repräsentative Materialauswahl handelte. Die ausgewählten Fragmente sollten nach der Logik der Herausgeber die ideelle Ausrichtung der Ausgangstexte widerspiegeln und den Leser zu einer weiterführenden Lektüre anregen. Dabei nahmen die Herausgeber ausdrücklich Abstand von »nationalistischen« oder »chauvinistischen« Werken (vgl. 3). Das Prinzip der »Allgemeinverständlichkeit« spiegelt sich auch in der breiten Zielsetzung der »Chrestomathie« und deren Hinwendung zu einer breiten Zielgruppe wider. Sie richtete sich vor allem an »erwachsene Besucher von Sonntagsschulen« [»взрослые ученики […] воскресных школ«], konnte aber auch als Lehrbuch für »die unteren Jahrgänge der Mittelschulen« [»в младших классах средних учебных заведений«] und in »städtischen Schulen« [»в городских школах«] sowie als Lesebuch für das Selbststudium genutzt werden (vgl. 3-4). Somit speist sich die Illusion eines authentischen und unmittelbaren Zugangs zur Geschichte nicht nur aus dem Anspruch, durch die Zusammenstellung von Texten verschiedener Gattungen aus dem Fundus der bereits vorhandenen »allgemeinzugänglichen« bzw. »allgemeinverständlichen« Literatur eine »einheitliche und ganzheitliche« Vorstellung von der russischen Geschichte zu vermitteln, sondern auch aus dem Bestreben der Herausgeber, dem Leser – mit entsprechender methodischer Anleitung – eine selbstständige Wissensaneignung zu ermöglichen. Diese wird im einführenden Kapitel »Woher wir unsere Vergangenheit kennen« [»Otkuda my znaem naše prošloe«] geboten, das auf einem Text des Historikers, eines der Gründer des ORTZ und des Vaters S.P. Mel’gunovs, Petr Pavlovič Mel’gunov (1847-1894), basiert.6 Der Geschichtsbegri f wird anhand einer organischen Geschichtsau fassung mithilfe der Generalisierung individueller Geschichte auf den Ebenen der Familie, der Stadt, des Staates und des Volkes erklärt: Что за наука история? Чему она учит? Чтобы ответить на эти вопросы, посмотрим, что происходит с нами самими и вокруг нас. Мы видим, что и мы сами во многом меняемся с годами, и вокруг нас многое изменяется на свете. Пусть каждый из нас оглянется на свое собственное прошедшее: не велико оно, а между тем сколько уже перемен произошло в нем – с нами самими, в нашем семействе, в наших занятиях и т.д. 6

Der Text »Čto takoe istorija?« [»Was ist Geschichte?«] diente P.P Mel’gunov als Einleitung zu seinem erstmals 1879 erschienenen Geschichtslehrbuch »Pervye uroki istorii. Drevnij Vostok« [»Erste Geschichtslektionen. Alter Orient«] (Mel’gunov 1879) und wurde seit 1914 in dem von S.P. Mel’gunov mit gegründeten Verlag »Zadruga« (s.u.) als Sonderdruck in mehreren Au lagen verö fentlicht (vgl. 3. Au lage Mel’gunov 1917).

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Такие перемены происходят не только с отдельными людьми, но и с целыми городами, с целыми государствами и народами. (5) Was für eine Wissenscha t ist die Geschichte? Was lehrt sie? Um diese Fragen zu beantworten, werfen wir einen Blick darauf, was mit uns selbst und um uns herum geschieht. Wir sehen, dass nicht nur wir selbst uns mit den Jahren in vielem verändern, sondern es verändert sich auch vieles in der Welt um uns herum. Blicke jeder von uns auf seine eigene Vergangenheit: Sie ist zwar nicht groß, doch wie viele Veränderungen geschahen darin – mit uns selbst, in unserer Familie, in unseren Beschä tigungen usw. Solche Veränderungen geschehen nicht nur mit einzelnen Menschen, sondern mit ganzen Städten, ganzen Staaten und Völkern. Somit wird die Geschichte als genuin dynamisches Phänomen definiert, das sich grundsätzlich nur durch seine Veränderung beschreiben lässt. Zudem impliziert die Definition P.P. Mel’gunovs, dass die Veränderung, abhängig von der gewählten Perspektive, nicht nur auf der Makroebene eines globalen Geschichtslaufs, sondern auch auf der Mikroebene des Beobachters stattfindet. Die subjektive Vorstellung von der Dynamik historischer Prozesse wird in einem weiteren Schritt auf eine wissenscha tliche Basis gestellt, indem postuliert wird, dass die Geschichte »aus den Quellen berichtet« [»история […] повествует из источников«] (5). P.P. Mel’gunov entwir t eine Quellentypologie, die den verschiedenen Quellenarten (mündliche, schri tliche und materielle Quellen) einen jeweils steigenden Authentizitätsgrad zuteilt. Diese allgemeinen Informationen sollen dem Leser einen elementaren Zugang zur Geschichte ermöglichen. Aus den bibliographischen Angaben der »Chrestomathie« geht hervor, dass sie von einem »Kreis von Lehrerinnen« [»кружок преподавательниц«] unter der Anleitung von S.P. Mel’gunov und V.A. Petruševskij vorbereitet wurde (vgl. 1). Zwar lassen sich aus dem Inhaltsverzeichnis und dem Haupttext die genauen Beiträge der jeweiligen Autorinnen nicht erschließen, man kann jedoch von der gesamten Verantwortung der beiden Herausgeber für den Text ausgehen. Die redaktionelle Arbeit lässt sich an der Gliederung der »Chrestomathie« erkennen. In jedem Kapitel werden die referierten Originalquellen angegeben, die zu einem einheitlichen Narrativ zusammengefügt werden, indem sie gekürzt, mit neuen Titeln bzw. Untertiteln sowie mit einer durchgehenden Nummerierung versehen werden. Die Behandlung der Epoche von 1812 beginnt mit der Schilderung der innenpolitischen Lage in Russland vor dem Krieg, wofür sich die Herausgeber auf die Publikation des Pädagogen und Literaturhistorikers Jakov Lazarevič Barskov (1863-1938) »Rossija v 1801 godu« [»Russland im Jahr 1801«] (Barskov 1903) und die populärhistorische Skizze A. Tverskajas (Lebensdaten unbekannt) »Carstvovanie Aleksandra 1-go i vosstanie dekabristov« [»Die Herrscha t Aleksandrs I. und der Dekabristen-

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aufstand«] (Tverskaja 1907) stützen. Bereits über die Titel der verarbeiteten Prätexte wird ein Koordinatensystem entworfen, in dem die russische Geschichte im Spannungsfeld zwischen der Alltagsgeschichte und dem aus der Sicht der Autoren der »Chrestomathie« zentralen Kontrapunkt des frühen 19. Jahrhunderts, dem Dekabristenaufstand von 1825, verortet wird. Die Darstellung der Geschichte des frühen 19. Jahrhunderts, dessen Beginn symbolisch mit der Inthronisation Aleksandrs I. angesetzt wird, ist vom Pathos der nicht erfüllten Ho fnungen auf liberale Reformen gekennzeichnet und beruht auf einer konsequenten Diskreditierung des Zaren als vermeintlich liberalem Herrscher (vgl. die Abschnitte 171. »Vocarenie Aleksandra I« [»Inthronisation Aleksandrs I.«] und 172. »Pervye gody carstvovanija Aleksandra I« [»Die ersten Herrscha tsjahre Aleksandrs I.«]). Dabei wird die jeweilige historische Epoche, wie für literarische und populärwissenscha tliche Geschichtsdarstellungen typisch, vor allem über ihre Schlüsselfiguren charakterisiert, und der Lauf der Geschichte als Resultat der persönlichen Eigenscha ten und Ambitionen des Herrschers dargestellt. So wird Aleksandrs Abrücken von den liberalen Reformen an seiner »Charakterschwäche« [»слабохарактерный«] und »Unentschlossenheit« [»нерешительный«] festgemacht: »Но Александр, обладая нерешительностью, в конце концов испугался.« [»Doch der unentschlossene Aleksandr bekam letztendlich Angst.«] (368). Dabei wird die Niederlage bei Austerlitz 1805 zu einem traumatischen Initiationsmoment für den jungen Zaren stilisiert: »То [поражение при Аустерлице, K.R.] были первые уроки жизни. Александр познакомился с действительностью, с самою жизнью. Он увидал, что не все дается так легко, как кажется […].« [»Dies [die Niederlage bei Austerlitz, K.R.] waren die ersten Lektionen des Lebens. Aleksandr lernte die Wirklichkeit, das eigentliche Leben kennen. Er sah, dass einem nicht alles so leicht gelingt wie man denkt […].«] (369). Somit werden Aleksandrs frühere liberale Pläne als jugendliche Illusionen entlarvt bzw. lediglich auf den Einluss seines früheren liberalen Freundeskreises, des sog. »Ino fiziellen Komitees« [»Негласный комитет«], zurückgeführt, von dem sich der Zar später trennte (vgl. Abschnitt 172.2. »Razryv s druz’jami« [»Bruch mit den Freunden«] (368)). Die Koalitionskriege gegen Frankreich werden einerseits durch Aleksandrs Bestreben begründet, die »Flamme der Revolution« von Russland fernzuhalten (vgl. 373), und andererseits wiederum mit seiner »Charakterschwäche« erklärt: »[…] иностранные государи склонили слабохарактерного царя сообща идти против французов.« [»[…] die ausländischen Herrscher bewogen den charakterschwachen Zaren dazu, gemeinsam gegen die Franzosen zu ziehen.«] (369). Das Scheitern des ausführlich beschriebenen Reformprojekts Michail Michajlovič Speranskijs (17721839) markiert die endgültige Rückkehr Aleksandrs zur konservativen Politik am Vorabend des Krieges von 1812 (vgl. 371). Als positive Kontrastfolie zum betont negativen Bild des russischen Zaren fungiert ein romantisiertes Bild Napoleons, das in Opposition zu dem Aleksandrs kon-

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struiert wird. Als einer der »berühmten Feldherren, die Ruhm und Liebe von Armee und Volk erlangten« [»знаменитые полководцы, приобретшие славу и любовь войска и народа«] (373), wird Napoleon in Einklang mit der heroischen Linie des russischen »napoleonischen Mythos« (vgl. Kap. 1.2.) zum Träger der Freiheitsideale der Französischen Revolution stilisiert, die in der ›liberalen‹ Interpretation der Autoren der »Chrestomathie« als Strafe für die Nicht-Einhaltung der Versprechen des Monarchen an seine Untertanen und zugleich als ein romantisiertes utopisches Vorbild bzw. Handlungsmuster für das russische Volk fungiert: »Народ французский, угнетенный тяжелыми налогами, произволом, насилием, казнокрадством, восстал на защиту своих прав […]. […] [Ф]ранцузы вместо короля начали выбирать президента, и Франция была объявлена республикой.« [»Das französische Volk, unterdrückt durch drückende Steuern, Willkür, Gewalt, Unterschlagung von Staatsgeldern, erhob sich, um seine Rechte zu verteidigen […]. […] [D]ie Franzosen begannen, anstatt des Königs einen Präsidenten zu wählen, und Frankreich wurde zur Republik erklärt.«] (368-369). Die Figur Napoleons erweist sich als besonders geeignet, um die Vorstellung von der engen Verbindung zwischen Zar und Volk zu unterminieren, die in Russland insbesondere nach dem Krieg von 1812 zu einem Ideologem ausgebaut und später zum zentralen Element des nationalen Modells Sergej Semenovič Uvarovs (1786-1855) ›pravoslavie – samoderžavie – narodnostʼ [›Orthodoxie – Autokratie – Volk‹] und des »napoleonischen Narrativs« wurde (vgl. Kap. 2.1., 2.3.). Während Aleksandrs reaktionäre Politik als eine allmähliche Entfremdung des Herrschers von seinem Volk interpretiert wird, zeichnet sich das Bild Napoleons vor allem durch dessen Einheit mit Armee und Volk aus. Zwar wird im Text hervorgehoben, dass der »französische General« Napoleon »den ron gewaltsam ergri f« [»захватил престол«] (369), jedoch werden seine Kriege entsprechend dem Bild des erfolgreichen Feldherrn durch weitere Siege legitimiert: »Опираясь на преданное ему войско, Наполеон мечтал о новых победах и завоеваниях.« [»Napoleon stützte sich auf sein ihm treu ergebenes Heer und träumte von neuen Siegen und Eroberungen.«] (373). Die Funktionalisierung der Darstellung des »Vaterländischen Krieges« in der Polemik der Herausgeber mit der russischen Autokratie lässt sich an der Modifikation des traditionellen »napoleonischen Narrativs« veranschaulichen. Diese zeigt sich zunächst in dessen radikaler Komprimierung: Die Herausgeber verzichten nicht nur auf traditionelle Topoi (z.B. die Verteidigung von Smolensk, die Schlacht von Borodino und die Aktionen der russischen Armee), sondern nehmen auch Abstand von den etablierten Bezeichnungen historischer Realien. Der lediglich eine halbe Seite umfassende Abschnitt über den »Vaterländischen Krieg« trägt den betont neutralen Titel »Vojna s francuzami« [»Der Krieg mit den Franzosen«] (373). Die bereits erwähnte Reduktion des militärischen Kon likts auf die A fekte bzw. persönlichen Ambitionen der beiden Herrscherfiguren Aleksandr und Napoleon bildet zweifelsohne die fortschreitende Mythisierung der Epoche von 1812 ab, wie

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sie bereits in Michail Jur’evič Lermontovs (1814-1841) Gedicht »Dva velikana« [»Zwei Riesen«] (1832, publ. 1842) zum Ausdruck kam (vgl. Kap. 1.2.). Diese Vereinfachung lässt sich aber auch als Versuch interpretieren, durch das Festhalten der bloßen Faktizität der Ereignisse deren Mythisierung bzw. ideologischer Vereinnahmung durch den russischen Staat entgegenzuwirken, auch wenn das Ergebnis des Krieges aus der russischen Sicht nicht in Frage gestellt wird: »Между Наполеоном и Александром возникло сначала недоверие, а потом и открытая вражда. Эта вражда кончилась войной 1812 года. Французы были побеждены и изгнаны из России.« [»Zwischen Aleksandr und Napoleon entstanden zunächst Misstrauen und dann erklärte Feindscha t. Diese Feindscha t endete mit dem Krieg von 1812. Die Franzosen wurden besiegt und aus Russland vertrieben.«] (373). Viel ausführlicher wird dagegen die Besetzung von Moskau durch die französische Armee behandelt. Der verhältnismäßig längste Abschnitt über den Aufenthalt der Franzosen in Russland (vgl. Abschnitt 175. »Francuzy v Rossii« [»Die Franzosen in Russland«] (373-385)) rekurriert auf die traditionellen Topoi des »napoleonischen Narrativs« und weist einen dramatischen Au bau auf, der sich auch in der Untergliederung des Textes in fünf Unterkapitel widerspiegelt: »I. V’’ezd Napoleona v Moskvu« [»I. Der Einzug Napoleons in Moskau«]; »II. Napoleon v Moskve« [»II. Napoleon in Moskau«]; »III. Požar Moskvy« [»IV. Der Brand von Moskau«]; »IV. Vyezd Napoleona iz Moskvy« [»IV. Der Auszug Napoleons aus Moskau«]; »V. Otstuplenie velikoj armii« [»V. Der Rückzug der Grande Armée«]. Auch setzt sich der Abschnitt stilistisch vom lakonischen Autorenstil des vorherigen Textes ab. Der dem Abschnitt zugrunde liegende Text des Literaturhistorikers Ivan Ivanovič Ivanov (1862-1929) (Ivanov 1899) gibt seinerseits an vielen Stellen das Werk von Napoleons Adjutant Philippe Paul de Ségur (1780-1873) »Histoire de Napoléon et de la Grande-Armée pendant l’année 1812« (1824) wieder.7 Im ersten Unterkapitel, dem der Charakter einer Exposition zukommt, wird der Einzug der französischen Armee in Moskau beschrieben. Die Einnahme von Moskau wird dabei allegorisch als Sieg über ganz Russland begri fen und dient dazu, eine letzte Einheit zwischen der französischen Armee und ihrem Imperator in der allgemeinen Begeisterung und der scheinbaren Erfüllung aller Wünsche zu demonstrieren. Der Einzug in Moskau scheint die heroischen Eigenscha ten Napoleons als »uneingeschränkter Herrscher« endgültig zu bestätigen: »Он воображал 7

Ségurs Text war in Russland bekannt. Lev Nikolaevič Tolstoj (1828-1910) nutzte ihn bei der Arbeit an »Vojna i mir« [»Krieg und Frieden«] (1868/69) (vgl. Pokrovskij 1912a:117). Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurden Ségurs Memoiren bzw. Teile davon mehrfach ins Russische übersetzt (z.B. Segjur 1911; vgl. Tarasevič 2003:6-8). Aus methodologisch-didaktischer Sicht entspricht die Heranziehung der Egodokumente, auch der des Gegners, den Prinzipien der Gattungsvielfalt und der multiperspektivischen Beleuchtung der Geschichtsereignisse, die insbesondere in der 3. Au lage der »Chrestomathie« (s.u.) sowie in späteren Publikationen des ORTZ verwirklicht wurden (vgl. Kap. 3.2.2., 3.2.3.).

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себя неограниченным повелителем громадного народа. Видневшиеся вдали кремлевские дворцы он считал последней гранью, откуда его власть распространится на весь мир.« [»Er bildete sich ein, uneingeschränkter Herrscher eines riesigen Volkes zu sein. Die in der Ferne sichtbaren Paläste des Kreml hielt er für eine letzte Grenze, von wo aus sich seine Macht über die ganze Welt verbreiten würde.«] (374). Die Begeisterung der Franzosen schlägt jedoch im II. Unterkapitel ins Gegenteil um, als sie Moskau leer und verlassen vorfinden. Der Einzug der französischen Armee in Moskau wird mit dem »Hinabsteigen in ein Grab« verglichen, und zwar in zweifacher Hinsicht: als Strafe für Napoleons ›Hybris‹ entsprechend den eschatologischen Vorstellungen des russischen »napoleonischen Mythos« (vgl. Kap. 1.2.) und als Scheitern der liberalen Ideen der Französischen Revolution im »Todesreich« der russischen Autokratie. Trotz all seiner mythischen Eigenscha ten als vom Glück begünstigter erfolgreicher Feldherr vermag es Napoleon nicht, die Situation in Moskau zu wenden (vgl. Potapova 2012:103 und die Argumentation S.P. Mel’gunovs in Kap. 3.2.2.). Die heroische Linie des »napoleonischen Mythos« schlägt somit in die tragische um. Das Leitmotiv des Todes wird dabei durch das des Fatums bzw. der Vorahnung einer bevorstehenden Katastrophe verstärkt: »Крики стали замолкать, восторг сменился изумлением и ужасом. Казалось, войска вступали в могилу, тяжелые предчувствия овладели самыми отважными и пылкими…« [»Die [Jubel]Schreie begannen zu verstummen, auf die Begeisterung folgten Erstaunen und Entsetzen. Es schien, als würden die Truppen in ein Grab hinabsteigen; selbst die Tapfersten und Eifrigsten packte eine drückende Vorahnung…«] (375). Der Brand von Moskau (Unterkapitel III) wird zum Höhepunkt von Napoleons absoluter Macht und Ohnmacht zugleich stilisiert: »[…] По Кремлю неслись крики: ›пожар!‹ и чередовались с возгласом: ›Да здравствует император‹. Это кричали гвардейцы, – любимейшее войско Наполеона, стоявшее на бивуаках у кремлевских дворцов.« [»Im Kreml erschallten die Rufe ›Feuer!‹, die sich mit dem Ausruf ›Es lebe der Imperator!‹ abwechselten. Es waren die Garden – Napoleons Lieblingsheer, das in Biwaks vor den Moskauer Palästen lagerte.«] (377). Der »grausame Schmerz der Enttäuschung« [»жестокая боль разочарования«] und die »ausweglose Verzwei lung« [»безысходное отчаяние«] lassen die despotischen Charakterzüge Napoleons deutlich werden, die mit seinem heldenha ten Bild beim Einzug in Moskau kontrastieren. Napoleon hält an seinen »blendenden Berechnungen« [»ослепительные расчеты«] fest und erscheint nunmehr als »selbstsicherer Herrscher«, gegen dessen Autorität man nicht au kommen kann (vgl. 376). Als Kehrseite des Heldenha ten wird Napoleons »unbezwingbare Bosheit« [»неукротимая злоба«] thematisiert, die ihn »aus Rache« den Moskauer Kreml sprengen lässt (Unterkapitel IV, vgl. 379). Bezeichnenderweise wird dabei indirekt auch die traditionelle Vorstellung von der Größe und Einzigartigkeit Moskaus als »heiliger Stadt der Russen« [»священный город русских«] (373) gefestigt, indem auf ih-

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re Unzerstörbarkeit hingewiesen wird: »Cоборы остались невредимы. […] Взрывы больше напугали жителей, чем причинили вреда Кремлю.« [»Die Kirchen blieben unversehrt. […] Die Explosionen erschreckten mehr die Stadtbewohner, als dass sie dem Kreml Schaden zufügten.«] (379). Schließlich wird das zuvor aufgebaute positive Bild Napoleons – ähnlich wie beim russischen Zaren – durch dessen allmähliche Entfremdung von seiner Armee unterminiert. Der Text macht vor allem Napoleons fatalistischen Glauben an den Sieg für die Niederlage der französischen Armee verantwortlich (vgl. 382), die in Moskau demoralisiert und durch den zu spät angeordneten Abzug dem russischen Winter überlassen wird (vgl. 378-379; 381-382). Das abschließende Unterkapitel V gilt der »Flucht« der französischen Armee aus Russland, die von der persönlichen Tragödie Napoleons abgegrenzt wird und die allgemeinmenschliche Tragödie des Krieges zum Ausdruck bringt: »[…] [Д]ля [иноземцев] начинался путь небывалых страданий, путь жесточайшей гибели, о какой только повествует человеческая история.« [»[…] [F]ür die [Fremden] begann ein Weg des nie dagewesenen Leidens, ein Weg des grausamsten Untergangs, von dem die menschliche Geschichte berichtet.«](379). Die Schilderung des Rückzugs der französischen Armee aus der Perspektive des Gegners erlaubt es den Herausgebern zwar, eine Heroisierung des Krieges zu vermeiden, jedoch wird dabei die Vorstellung von der Größe Russlands indirekt aufgewertet. Die zitierten Egodokumente der französischen Teilnehmer der Kampagne von 1812, darunter auch Napoleons, zeigen die für den »napoleonischen Mythos« typische oxymoronha te Verquickung von Tragischem und Exotisch-Abenteuerlichem und vermitteln ein ambivalentes Bild vom schrecklichen und zugleich faszinierenden Moskau: Французские офицеры и солдаты – немногие счастливцы, успевшие спастись от гибели и потом в старости вспоминавшие злополучный поход, – не могли забыть своих первых впечатлений, когда пред ними открылась единственная в мире панорама златоглавой Москвы. (373, Hervorhebung K.R.) Französische O fiziere und Soldaten – jene wenigen Glücklichen, die sich vor dem Untergang/Tod/Verderben hatten retten können und sich später im Alter an den verhängnisvollen Feldzug erinnerten, konnten ihre ersten Eindrücke nicht vergessen, als sich vor ihnen das in der Welt einzigartige Panorama Moskaus mit seinen goldenen Kuppeln erö fnete. Много лет спустя, в изгнании, на острове Св. Елены он [Наполеон, K.R.] вспоминал до малейших подробностей свои впечатления и любил рассказывать о них. Это были едва ли не сильнейшие и глубочайшие душевные волнения всей его жизни. (377, Hervorhebung K.R.)

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Viele Jahre später, in der Verbannung, auf der Insel St. Helena erinnerte er [Napoleon, K.R.] sich bis ins kleinste Detail an seine Eindrücke und liebte es, davon zu erzählen. Das waren wohl die stärksten und die tiefsten Seelenregungen seines ganzen Lebens. Die Geschichte der napoleonischen Kriege wird mit der Schilderung von deren Bedeutung für die russische Armee abgeschlossen (vgl. Abschnitt 176. »Vlijanie zagraničnych pochodov na armiju« [»Der Ein luss der Auslandsfeldzüge auf die Armee«] (382-383)). Hierfür bedienen sich die Herausgeber der populären Broschüre des russischen Historikers und Literaturwissenscha tlers, des Enkels des Dekabristen Ivan Dmitrievič Jakuškin (1793-1857), Vjačeslav Evgen’evič Jakuškin (1856-1912) »Dekabristy, kto oni byli i čego oni choteli« [»Dekabristen, wer sie waren und was sie wollten«] (vgl. Jakuškin 1906:9-11). In dem Abschnitt werden zum einen die enttäuschten Ho fnungen des progressiven russischen Adels auf liberale Reformen nach dem Ende der napoleonischen Kriege 1815 thematisiert. Sie werden als unmittelbarer Hintergrund für den Dekabristenaufstand 1825 betrachtet, der in der »Chrestomathie« zum eigentlichen Kontrapunkt der Regierungszeit Aleksandrs I. und des frühen 19. Jahrhunderts avanciert. Zum anderen wird das Leid des russischen Volkes im »Vaterländischen Krieg« nicht an den unmittelbaren Kriegsereignissen des Jahres 1812, sondern vor allem an deren Folgen festgemacht, und zwar an der langjährigen Reaktion und der weiteren Versklavung der Bauern. Dabei schreiben die Herausgeber bereits 1909 dem »russischen Volk« die zentrale Rolle beim Sieg über Napoleon zu, noch bevor sie beim 100-jährigen Jubiläum 1912 o fiziell anerkannt wurde (vgl. Kap. 2.3.), und nehmen somit eine zentrale ese ihrer Jubiläumspublikationen vorweg (vgl. Kap. 3.1., 5.2.): Тот народ, который так самоотверженно восстал в 1812 году против нашествия французов, который столько трудов и доблести положил на дело освобождения Европы, который принес отечеству и долгу столько жертв, остался по-прежнему в рабстве у помещиков; освободив отечество, освободив других, он не завоевал свободы себе. (382) Jenes Volk, das sich im Jahre 1812 so selbstlos gegen den Einfall der Franzosen erhoben, das so viel Mühe und Heldenmut bei der Befreiung Europas gezeigt und das seine P licht gegenüber dem Vaterland so aufopfernd erfüllt hatte, blieb nach wie vor in der Leibeigenscha t der Gutsherren; nachdem es das Vaterland und die anderen befreit hatte, erkämp te es keine Freiheit für sich selbst. Dass die »Chrestomathie« von den Spezialisten durchaus wahrgenommen und kritisch diskutiert wurde, lässt sich aus den Rezensionen schließen, die im »Žurnal Ministerstva Narodnogo Prosveščenija« [»Journal des Ministeriums der Volksaufklärung«] (Fedorov 1909) sowie in den Zeitschri ten »Istoričeskij vestnik« [»Histo-

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rischer Bote«] (Birjukov 1910) und »Russkoe bogatstvo« [»Russischer Reichtum«] (Russkoe bogatstvo 1910) erschienen sind. Die Rezensenten erkannten die ›liberale‹ Ausrichtung der »Chrestomathie«, die sie an der Auswahl der emen (z.B. die Schrecken der opričnina, die Ermordung Petrs III. und Pavels I., die Last der Leibeigenscha t) (vgl. Birjukov 1910:268; Fedorov 1909:114-115) sowie an der Aussparung der Expansionsgeschichte und der Außenpolitik des Russischen Reiches und einiger für die Staatsgeschichte repräsentativer Ereignisse (z.B. die Eroberung von Kazanʼ, die Erschließung von Sibirien und die Gründung von Sankt Petersburg) festmachten (vgl. Fedorov 1909:113). Aufgrund dieser Verschiebung der Perspektive auf angeblich »unbedeutende Fakten« [»незначительные факты«] der russischen Geschichte sprach der Rezensent des Ministeriums der Volksau klärung der »Chrestomathie« die Fähigkeit ab, den »Gang des historischen Prozesses des russischen Lebens« »richtig« vermitteln zu können: »Читатель сборника не может представить себе верно хода исторического процесса русской жизни […].« [»Der Leser des Sammelbandes kann sich keine richtige Vorstellung vom Gang des historischen Prozesses des russischen Lebens machen […].«] (Fedorov 1909:113). Diese Bewertung legt den normativen Charakter des o fiziellen historischen Narrativs o fen und macht deutlich, dass der Anspruch des russischen Staates auf die Auslegung der nationalen Geschichte vor allem durch eine historisch ›korrekte‹ Darstellung bestimmter historischer Topoi artikuliert wurde (vgl. Ponikarova 2005:236-238). Charakteristisch ist auch die negative Haltung der Kritiker gegenüber der Heranziehung »belletristischer« Quellen, d.h. von Fragmenten aus historischen Romanen oder der »Geschichte des russischen Staates« [Istorija Gosudarstva Rossijskogo«] (1818) Nikolaj Michajlovič Karamzins (1766-1826) (vgl. Birjukov 1910:268; Russkoe bogatstvo 1910:102-103). Der anonyme Rezensent der Zeitschri t »Russkoe bogatstvo« bemängelte, dass der aus den Werken unterschiedlicher Gattungen und verschiedener Autoren zusammengestellte »bunte« [»пестрый«] Text es dem Leser nicht erlaube, die Ansichten der jeweiligen Autoren näher kennen zu lernen (vgl. Russkoe bogatstvo 1910:102). Dies spricht indirekt für einen didaktischen Erfolg der Herausgeber, denn das historische Material wurde nun nicht mehr auf der Ebene der zitierten Werke, sondern im populärhistorischen Narrativ neu interpretiert. Der »unbestimmte Gesamtcharakter des Buches« [»неопределенность общего характера книги«] (Russkoe bogatstvo 1910:103) erschwerte für die Kritiker eine eindeutige ideologische Zuordnung und Bewertung der Ausgabe, was den Weg zur Verbreitung eines alternativen Blicks auf die russische Geschichte erö fnete. Unterschiedlich wurden die Allgemeinverständlichkeit des Materials und die Sprache der »Chrestomathie« bewertet. Während die Rezensenten des »Istoričeskij vestnik« und des »Russkoe bogatstvo« das Buch eher für die unteren Klassen der Mittelschulen als geeignet betrachten, da »die meisten Abschnitte in Kindersprache verfasst sind« [»большинство отрывков написаны детским языком«] (vgl. Birjukov 1910:269), merkt der Rezensent des Ministeriums an, dass »[…] viele

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Artikel Fragen behandeln, für deren Verständnis eine ziemlich gute Kenntnis der Geschichte erforderlich ist«, und dass diese Artikel »in einer Sprache verfasst sind, die für einen unvorbereiteten Leser schwer zugänglich ist […].« [»[…] многие статьи касаются вопросов, для понимания которых требуется довольно хорошее знание истории, и изложены языком, малодоступным для неподготовленного читателя […].«] (Fedorov 1909:114). Daraus lässt sich schließen, dass die Autoren des ORTZ bei ihrer Ausrichtung auf eine breite Zielgruppe den erwachsenen Leser in größerem Maße als zugegeben im Blick hatten, sodass von einer größeren popularisierenden Wirkung der »Chrestomathie« auszugehen ist.

3.2.1.2

3. Au age (1915)

Die Schilderung des »Vaterländischen Krieges« in der Ausgabe von 1909 wurde unverändert in die 2. Au lage der »Chrestomathie« im Jubiläumsjahr 1912 übernommen (Mel’gunov/Petruševskij 1912). In der 3. Au lage 1915 (Mel’gunov/Petruševskij 19158 ) wurde der Teil über den »Vaterländischen Krieg« jedoch wesentlich überarbeitet. Dies lässt sich sowohl auf die notwendigen Zugeständnisse an die o fizielle Interpretation des »Vaterländischen Krieges«, die beim 100-jährigen Jubiläum 1912 artikuliert wurde, als auch auf eine methodologisch-didaktische Perfektionierung der »Chrestomathie« zurückführen, die von einer konsequenten Arbeit des Herausgeberkollektivs zeugt. Die konzeptuelle Weiterentwicklung der »Chrestomathie« lässt sich zunächst am Prinzip der intensiven Verwendung der eigenen Materialien festmachen. In der 3. Au lage stützen sich die Herausgeber weitgehend auf die Publikationen des ORTZ, was unter anderem durch die Gründung der kooperativen Verlagsgenossenscha t »Zadruga« durch S.P. Mel’gunov (vgl. Emel’janov 1998:255) 1911 ermöglicht wurde. Die Schilderung der Ereignisse vor dem und während des »Vaterländischen Krieges« anhand der Texte von Ja. Barskov und A. Tverskaja wird nun durch die Publikation eines Mitglieds der Lehrabteilung, N.[P.] Teplych (Lebensdaten unbekannt), ergänzt (Teplych 1912). Teplych reichte sein Manuskript bereits 1904 bei der Historischen Kommission ein, sein Buch konnte jedoch »aus verlagstechnischen Gründen« nicht zeitnah erscheinen und wurde erst im Jubiläumsjahr 1912 vom Historiker Ivan Matveevič Kataev (1875-1946) überarbeitet und herausgegeben (vgl. Teplych 1912:3; Otčet ORTZ 1913:126, 153; Novosti detskoj literatury 1912c:27). Für die Beschreibung des Aufenthalts der Franzosen in Moskau (vgl. 406-415) verarbeiten die Herausgeber zahlreiche Egodokumente nicht nur der ausländischen (de Ségur, Laugier, O’Meara), sondern auch der russischen Zeitgenossen (D.N. Sverbeev, N.N. Murav’ev, N.I. Turgenev), die sie dem von der Historischen Kommission des ORTZ 1912 herausgegebenen Sammelband »Rossija i Napoleon. Otečestvennaja vojna v memuarach, dokumentach i chudožestvennych proizvedenijach. Illjustrirovannyj 8

Im Weiteren beziehen sich die Seitenangaben in Klammern auf diese Ausgabe, K.R.

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sbornik« [»Russland und Napoleon. Der Vaterländische Krieg in Memoiren, Dokumenten und künstlerischen Werken. Ein illustrierter Sammelband«] entnehmen (Brodskij/Mel’gunovа/Sivkov/Sidorov 1912). Dadurch wurde der multiperspektivische Ansatz der Herausgeber bei der »ganzheitlichen« Schilderung der Geschichtsereignisse weiterentwickelt. Der Anschluss an die o fizielle Kriegsinterpretation auf der thematischen Ebene zeigt sich in der Wiederaufnahme der traditionellen Topoi bzw. Bezeichnungen, z.B. »Vaterländischer Krieg«. Der Text von 1915 nimmt Abstand von der scharfen Charakterisierung Aleksandrs I. als charakterloser Mensch und Herrscher in der 1. und 2. Au lage der »Chrestomathie«. Die schematische Reduktion der Gründe des Krieges auf die Ambitionen der beiden Monarchen wird zugunsten eines di ferenzierteren historisch-politischen Bildes aufgegeben, wobei die Idee eines gesamteuropäischen antinapoleonischen Bundes in den Vordergrund tritt. Als unmittelbarer Anlass für den Krieg von 1812 werden demnach die Folgen der Kontinentalblockade für die russische Wirtscha t genannt (vgl. 401-402) (vgl. Kap. 3.2.2.). Auch die ursprünglich starke Stilisierung Napoleons zum Träger der Freiheitsideale der Französischen Revolution weicht seiner traditionellen Rolle als Usurpator des rones, der über ganz Europa herrschen will: »Он [Наполеон, К.R.] хотел быть повелителем всей Европы. […] [Александр] разделял общее негодование европейских монархов против ›императора-самозванца‹, ›коронованного солдата‹. Могуществу Наполеона нужно было положить конец, пока еще борьба с ним представлялась возможной.« [»Er [Napoleon, K.R.] wollte Herrscher von ganz Europa werden. […] [Aleksandr] teilte die allgemeine Empörung der europäischen Monarchen über den ›selbsternannten Imperator‹, den ›gekrönten Soldaten‹. Man musste seiner Macht ein Ende setzen, solange ein Kampf gegen ihn noch möglich schien.«] (400). Im Gegensatz zu der lediglich zwei Absätze umfassenden Beschreibung des Krieges in vorigen Ausgaben liefert die Au lage von 1915 eine detaillierte Chronik des Krieges von 1812, die die Invasion der napoleonischen Armee in Russland, den Kampf um Smolensk, die Absetzung von Michail Bogdanovič Barclay de Tolly (1761-1818) und die Ernennung Michail Illarionovič Kutuzovs (1745-1813) zum Oberbefehlshaber der russischen Armee sowie die Schlacht von Borodino umfasst (vgl. 402-406). Nun werden auch der Mut und die hohen Verluste der russischen Armee bei der Verteidigung der russischen Städte thematisiert: »[…] [Н]ужны были геройские усилия для того, чтобы задержать Наполеона и не пустить его в Смоленск, прежде чем обе западные армии не соединились здесь.« [»[…] [E]s waren heldenha te Anstrengungen nötig, um Napoleon aufzuhalten und ihn nicht nach Smolensk hineinzulassen, bevor sich die beiden westlichen Armeen dort vereinigen konnten.«] (402); »Смоленск, однако, достался неприятелю с большим уроном.« [»Allerdings konnte Smolensk vom Gegner nur mit großen Verlusten eingenommen werden.«] (403). Trotz der ideologischen Anpassung der Au lage von

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1915 kann man erkennen, dass die ematisierung der heldenha ten Aktionen der russischen Armee zugleich Raum für Kritik an den o fiziellen Regierungsmaßnahmen vor Ort erö fnete. Zwar wird Kutuzov nach seiner Entscheidung, Moskau aufzugeben, als Retter der russischen Armee apostrophiert (vgl. 404), doch lässt die Beschreibung seiner Ernennung zum Oberbefehlshaber auch den naiven Glauben der O fiziere und Soldaten an ihn und somit die Mythisierung bzw. die ideologische Vereinnahmung seiner Figur erkennen: »Когда весть о назначении Кутузова главнокомандующим достигла армии, офицеры и солдаты поздравляли друг друга как бы с победой или с прибытием новой армии.« [»Als die Nachricht über die Ernennung Kutuzovs zum Oberbefehlshaber die Armee erreichte, beglückwünschten sich O fiziere und Soldaten, als ob sie einen Sieg errungen hätten oder als ob neue Truppen hinzugekommen wären.«] (407). Die ematik der patriotischen Propaganda wird auch im neu hinzugefügten Abschnitt über den Aufenthalt des Zaren Aleksandr I. in Moskau aufgegri fen (vgl. 403-404), der auf den Notizen des russischen Diplomaten Dmitrij Nikolaevič Sverbeev (1799-1874) basiert (vgl. Sverbeev 1899:64-65). Darin wird der o fizielle Patriotismus diskreditiert, indem die vom Zaren geforderte Einheit aller Schichten angesichts des Krieges als eine Inszenierung des Moskauer Oberkommandierenden Fedor Vasil’evič Rostopčin (17631826) und des Bürgergouverneurs Vasilij Aleksandrovič Obreskov (1782-1834) entlarvt wird (vgl. 404). Anhand der Skizze Teplychs (vgl. Teplych 1912:37-44) und der Notizen Sverbeevs (vgl. Sverbeev 1899:69-72) prangern die Herausgeber der »Chrestomathie« die Unfähigkeit der Moskauer Regierung an, eine frühzeitige Evakuierung der Zivilbevölkerung aus Moskau zu organisieren (vgl. 405-406), und üben Kritik daran, dass die Regierungskreise und der Adel dabei privilegiert worden seien (vgl. 409-410). Der Abschnitt über den Aufenthalt der Franzosen in Moskau folgt der Logik der vorherigen Au lagen. Dabei werden im Text von 1915 mehrere autobiographische Quellen herangezogen, die die historischen Personen der Epoche von 1812 buchstäblich zu Wort kommen lassen, z.B. General de Ségur. Anstatt der Skizze I.I. Ivanovs (Ivanov 1899), die in den früheren Au lagen der »Chrestomathie« genutzt wurde und in der Ségurs Text indirekt wiedergegeben wird, verarbeiten die Herausgeber in der 3. Au lage im Abschnitt »Napoleon na Poklonnoj gore« [»Napoleon auf dem Verneigungshügel«] (407-409) eine Textstelle aus dem Sammelband »Rossija i Napoleon« (Brodskij/Mel’gunovа/Sivkov/Sidorov 1912:174-176), die ihrerseits auf einer russischen Ausgabe von Ségurs Memoiren basiert, die 1911 von der Genossenscha t »Bildung« [Tovariščestvo »Obrazovanie«] herausgegeben wurde (vgl. Segjur 1911:56-59). Neben den Memoiren von General de Ségur werden nun auch die Egodokumente niederer Ränge, z.B. die Memoiren des französischen O fiziers Césare Laugier de Bellecour (1789-1871) verarbeitet. Als Quelle für den Abschnitt »V vidu Moskvy 2 sentjabrja« [»Im Angesicht von Moskau am 2. September«] (406-407)

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dient ein Fragment von Laugiers Tagebuch, das zuvor im Sammelband »Rossija i Napoleon« publiziert und laut den Herausgebern dafür neu übersetzt wurde (vgl. Brodskij/Mel’gunovа/Sivkov/Sidorov 1912:IV, 173-174). Der Text im Sammelband entspricht bis auf kleinste Abweichungen dem der Einzelausgabe von Laugiers Tagebuch, die ebenfalls von der Historischen Kommission herausgegeben wurde und im Verlag »Zadruga« erschien (vgl. Lož’e 1912:160-162). An dieser Stelle wird das Prinzip der Nutzung des eigenen Materials deutlich. Die Eigenperspektive der französischen Kriegsteilnehmer wird durch die Verarbeitung der Notizen des russischen Staatsmannes und Generals Nikolaj Nikolaevič Murav’ev (Karsskij) (1794-1866) um die Fremdwahrnehmung eines russischen Augenzeugen ergänzt. Das für die »Chrestomathie« gekürzte und redigierte Textfragment folgt dem im Sammelband »Rossija i Napoleon« abgedruckten Text (Brodskij/Mel’gunovа/Sivkov/Sidorov 1912:265-269), der seinerseits auf einer Publikation von Murav’evs »Zapiski« in der Zeitschri t »Russkij archiv« [»Das russische Archiv«] basiert (Murav’ev 1885:397-400). Bemerkenswert ist hier die Einführung einer Archivpublikation, die mehrfach gekürzt bzw. adaptiert und auf diese Weise für ein breites Publikum zugänglich gemacht wird. Die sehr naturalistische Schilderung des Abzugs der französischen Armee von Murav’ev wird in der »Chrestomathie« vor allem auf zwei Topoi reduziert: Auf das unmenschliche Leid des Gegners und die A fekte des Krieges, die zur pathologischen Grausamkeit führen (vgl. 412-415). Diese Quellen ermöglichen einen di ferenzierteren Blick auf die Lage der französischen Armee in Moskau. Die Authentizitätsfiktion der Beschreibung wird insbesondere durch die Personalisierung der Darstellung gesteigert. Als Beispiel dafür kann die Verarbeitung der Erinnerungen des Chirurgen Barry Edward O’Meara (1786-1836) dienen, der Napoleon auf St. Helena begleitete. O’Mearas Memoiren »Napoleon in Exile, Or, A Voice from St. Helena« erschienen erstmals 1822 in London (O’Meara 1822). Teile davon wurden von der Historischen Kommission für die Sammlung der Memoiren ausländischer Kriegsteilnehmer »Francuzy v Rossii« neu ins Russische übersetzt (vgl. Vasjutinskij/Dživelegov/Mel’gunov 1912:č. 3, 382-385) sowie im Sammelband »Rossija i Napoleon« verwendet (vgl. Brodskij/Mel’gunovа/Sivkov/Sidorov 1912:191-192), der als Quelle für die 3. Au lage der »Chrestomathie« dient. Dies ist nicht nur ein Beleg für die intensive Nutzung eigener Materialien, sondern auch dafür, wie eine fremdsprachige Quelle im Kontext der Popularisierung des historischen Wissens neu übersetzt und dem russischen Leser zugänglich gemacht wird. O’Mearas Memoiren lassen Napoleon im Abschnitt »Napoleon o moskovskom požare« [»Napoleon über den Brand von Moskau«] (410-411) buchstäblich selbst zu Wort kommen, wenn er in der 1. Person retrospektiv über den Brand von Moskau berichtet. Bezeichnenderweise weicht in der Ausgabe der »Chrestomathie« von 1915 Napoleons fatalistische Entschlossenheit, den Krieg weiterzuführen, einer entschuldigenden Geste, die gewiss auch im Zusammenhang mit dem laufenden Ers-

3 Zwischen Subversion und A rmation

ten Weltkrieg zu sehen ist. Napoleon drückt seine Bewunderung über die Opfertat der Bewohner von Moskau aus und wertet das russische Volk aus der Perspektive des besiegten Gegners auf: »Этот ужасный пожар все разорил. Я был готов ко всему, кроме этого. Одно это не было предусмотрено: кто бы подумал, что народ может сжечь свою столицу?« [»Dieser schreckliche Brand hat alles vernichtet. Ich war auf alles gefasst außer auf das. Nur das war nicht vorhersehbar: Wer hätte denn gedacht, dass das Volk seine Hauptstadt abbrennen würde?«] (410-411). Die Transponierung des sonst im publizistischen Stil gehaltenen Autorenberichts aus dem Jahr 1909 in einen quasi-autobiographischen Text evoziert die Illusion des unmittelbaren Berichts eines Beteiligten, dessen Wahrnehmung des Brandes von Moskau – in Einklang mit dem russischen »napoleonischen Mythos« – zwischen dem Schrecklichen und dem Erhabenen schwankt: »О! Это было величественнейшее и самое устрашающее зрелище, когда-либо виданное человечеством!!!« [»Oh! Das war das grandioseste und furchtein lößendste Spektakel, das die Menschheit je gesehen hat!!!«] (411). Eine bemerkenswerte Neuerung der Ausgabe von 1915 stellt der abschließende Abschnitt über die Lage der Bauern und der Armee nach dem Krieg dar, der gewiss auch vor dem Hintergrund der o fiziellen Anerkennung des »Volkskrieges« im Jubiläumsjahr 1912 zu sehen ist (vgl. 415; Kap. 2.3.). Der Text folgt dem Buch »La Russie et les Russes« [»Rossija i russkie«; dt. »Russland und die Russen«] des liberalen Denkers und kün tigen Dekabristen Nikolaj Ivanovič Turgenev (1789-1871), das 1847 erstmals in französischer Sprache erschien und Anfang des 20. Jahrhunderts ins Russische übersetzt wurde. Sowohl im Sammelband »Rossija i Napoleon« (Brodskij/Mel’gunovа/Sivkov/Sidorov 1912:325-326) als auch in der »Chrestomathie« wird die von der Russischen Gesellscha t für Druck- und Verlagswesen [Russkoe Tovariščestvo pečatnogo i izdatel’skogo dela] in der Reihe »Biblioteka dekabristov« [»Bibliothek der Dekabristen«] herausgegebene »erste russische Übersetzung« von Turgenevs Text aus dem Jahr 1907 verarbeitet (Turgenev 1907:23-24). Turgenev betont in seinem Text die »Tapferkeit« des »freiwilligen Kampfes« der Bauern gegen die Franzosen, weist aber zugleich auf deren mangelnden Widerstand gegen ihre adligen Herren hin und führt die ausgebliebene Au hebung der Leibeigenscha t nach dem Krieg von 1812 auf die Passivität der Bauern zurück: »Спустя долгое время, когда первое волнение крестьян улеглось само собой, и когда административная машина заработала правильно, все вернулось к обычному порядку.« [»Nach langer Zeit, als sich die ersten Unruhen der Bauern von alleine legten und die Maschine der Administration wieder ordentlich zu funktionieren begann, kehrte alles zur gewohnten Ordnung zurück.«] (415). Damit würdigen die Herausgeber den Beitrag des russischen Volkes zum »Vaterländischen Krieg«, problematisieren aber auch das mangelnde Bewusstsein der Bauern als soziale Schicht, das sie unter den Bedingungen der Leibeigenscha t in Russland nicht entwickeln konnten. Damit legen die Autoren der »Chrestomathie« das traditionelle ›Szenario der Macht‹

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o fen, das im Zuge des 100-jährigen Jubiläums aktualisiert wurde und in dem das ›Volk‹ nicht als souveräne Kra t agiert, sondern stets in Abhängigkeit vom Zaren steht (vgl. Kap. 2.3.). Resümee Die von der Gruppe junger Historiker um S.P. Mel’gunov herausgegebene »Chrestomathie« markiert die Hinwendung der Historischen Kommission der Lehrabteilung des ORTZ zur russischen Geschichte und lässt sich als Vorstufe für eine komplexe Betrachtung der Epoche von 1812 in der siebenbändigen Reihe »Otečestvennaja vojna i russkoe obščestvo« betrachten. Darin werden methodologisch-didaktische Prinzipien entwickelt, mithilfe derer die Herausgeber ihre ›liberale‹ Geschichtsinterpretation popularisierten. Zu deren Grundzügen gehörten das Interesse für die Lage des russischen Volkes und die daraus resultierende Kritik an der Autokratie und an der Unfreiheit der russischen Gesellscha t. Die Herausgeber bedienen sich unterschiedlicher Strategien der Popularisierung von historischem Wissen, um dieses für eine breite Zielgruppe – sowohl den kindlichen als auch den erwachsenen Leser – zugänglich zu machen. Dazu gehört vor allem der Anspruch auf eine einheitliche Vorstellung vom Prozess der geschichtlichen Entwicklung. Diese wird zugleich auf eine wissenscha tliche Basis gestellt, indem die Herausgeber Geschichtsereignisse im breiten historischen Kontext verorten und auf die Subjektivität der Beobachter-Instanz hinweisen. Ein multiperspektivischer Blick auf die Geschichte wird auch dadurch konstruiert, dass sich die »Chrestomathie« aus bereits vorhandenen Texten unterschiedlicher Gattungen zusammensetzt, welche zu einem einheitlichen populärhistorischen Narrativ zusammenmontiert werden. Aufschlussreich sind die in der »Chrestomathie« entwickelten Strategien des Umgangs mit der staatso fiziellen Kriegsinterpretation. Die Herausgeber greifen das traditionelle »napoleonische Narrativ« zwar auf, deuten es jedoch im Sinne ihrer Polemik mit der o fiziellen Geschichtsau fassung um. Dies zeigt sich z.B. im Verzicht auf traditionelle Bezeichnungen und in der Verschiebung des Akzents auf die negativen Folgen der napoleonischen Kriege für die russische Gesellscha t, nämlich eine andauernde reaktionäre Politik und weitere Versklavung der Bauern. Die Reduktion der Ursachen des Krieges auf die Ambitionen der Herrscher bildet einerseits die Mythisierung der Geschichte ab. Die Vereinfachung der Logik der historischen Prozesse kann sich aber auch als hilfreich erweisen, um der Mythisierung der Geschichte entgegenzuwirken. Gerade die Hinwendung zum russischen »napoleonischen Mythos« erlaubt es den Autoren, die traditionellen Zuschreibungen an die Napoleon-Figur in ihrem Sinne zu funktionalisieren. Die Romantisierung und Heroisierung Napoleons wird zunächst dazu genutzt, die idealtypische Einheit zwischen dem Monarchen und seinen Untertanen zu inszenieren und vor

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diesem Hintergrund das Abrücken Aleksandrs I. von den liberalen Reformen und seine Entfremdung vom russischen Volk anzuprangern sowie das propagierte Bild von Aleksandr als ›Retter Europas‹ zu unterminieren. In einem zweiten Schritt erweist sich Napoleons fatalistischer Glaube an den Sieg als hilfreich, um seine despotischen Züge zu demonstrieren und – wie zuvor bei Aleksandr – die Entfremdung von seiner Armee darzustellen. Somit avanciert die enge Bindung zwischen Herrscher und Volk zu einer Rezeptionskonstante, die als solche nicht in Frage gestellt und von den Akteuren jeweils mit unterschiedlichen Bedeutungen belegt wird. Auch wenn die Herausgeber den Schluss nahelegen, dass Aleksandr I. das Versprechen an sein Volk nicht gehalten habe, werden traditionelle Vorstellungen in der Polemik mit der o fiziellen Geschichtsau fassung nicht nur demontiert, sondern auch indirekt gefestigt. Die grundlegende Überarbeitung des Abschnitts über den »Vaterländischen Krieg« in der 3. Au lage der »Chrestomathie« von 1915 lässt sich als ideologische Anpassung an die o fizielle Kriegsinterpretation betrachten, die durch das 100-jährige Jubiläum ausgelöst wurde. Die Zugeständnisse an das traditionelle Narrativ zeigen sich in der Rücknahme der negativen Zuschreibungen an Aleksandr I. sowie im inhaltlichen Ausbau des Narrativs, das nun mehr traditionelle Topoi enthält und eine detailliertere Chronologie des Kriegsgeschehens bietet. Trotzdem behalten die Herausgeber ihre kritische Intention bei, die sich vor allem an der Demontage des o fiziellen Ideologems des »Volkkrieges« verfolgen lässt. Die Herausgeber werten den Beitrag des russischen Volksaufgebots und der Bauerntruppen zu den Aktionen der professionellen Armee als eine entscheidende Kra t im Sieg über Napoleon auf und kritisieren die Maßnahmen der Regierung, die hohe Verluste unter der Zivilbevölkerung verursacht hätten. Eine konsequente konzeptuelle Weiterentwicklung der »Chrestomathie« lässt sich insbesondere an einer intensiven Verarbeitung der Egodokumente französischer und russischer Teilnehmer unterschiedlicher Ränge erkennen. Dabei ist insbesondere das Prinzip der Nutzung der eigenen Materialien hervorzuheben, was von engerer Vernetzung und zunehmender Autonomie des Autorenkollektivs zeugt. In der 3. Au lage greifen die Herausgeber auf andere Publikationen der Historischen Kommission wie das Lesebuch »Rossija i Napoleon« (Brodskij/Mel’gunovа/Sivkov/Sidorov 1912) oder die Memoirensammlung »Francuzy v Rossii« (Vasjutinskij/Dživelegov/Mel’gunov 1912) zurück, in denen verschiedenartige Texte bereits zusammengesetzt oder auch neu übersetzt wurden. Die Darstellung des Krieges aus der Perspektive des Gegners erweist sich als hilfreich, um die traditionelle Heroisierung des Krieges zu vermeiden, einen multiperspektivischen Blick auf den Krieg zu konstruieren und die Idee von der allgemeinmenschlichen Tragik des Krieges zu vermitteln. Zugleich führt die Schilderung der Besetzung Moskaus aus der französischen Perspektive auch zur indirekten Aufwertung Russlands aus der Perspektive des Gegners, was die traditionelle Vorstellung von der Aufgabe Mos-

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kaus als ultimatives Opfer der Russen für ihr Vaterland indirekt stützt. Anhand der Funktionalisierung der zentralen Ideologeme des »napoleonischen Narrativs« kann man also erkennen, dass diese in der Polemik der Autoren des ORTZ zwar umgedeutet, jedoch zugleich auch indirekt gefestigt werden.

3.2.2

»Kniga dlja čten a po istorii Novogo vremeni« (1910-1917)

Die fün bändige »Kniga dlja čtenija po istorii Novogo vremeni« [»Lesebuch zur Geschichte der Neuzeit«] (Berdonosov/Vasjutinskij/Dživelegov/Mel’gunov/Percev/ Pičeta 1910-19179 ) behandelt die europäische und russische Geschichte vom ca. 14. bis Ende der 70er Jahre des 19. Jahrhunderts. Es kann als eines der zentralen Projekte der Historischen Kommission der Lehrabteilung des ORTZ betrachtet werden, das seit 1907 im Kreis der Historiker um S.P. Mel’gunov vorbereitet wurde (vgl. Otčet ORTZ 1908: 71-76; Otčet ORTZ 1910:103). Das »Lesebuch« war als Fortsetzung der von dem Historiker und Rechtswissenscha tler Pavel Gavrilovič Vinogradov (1854-1925) 1896 bis 1899 herausgegebenen vierbändigen Reihe »Kniga dlja čtenija po istorii srednich vekov« [»Lesebuch zur Geschichte des Mittelalters«] (Vinogradov 1896-1899) geplant. Ein wichtiger Unterschied zum Vorgänger bestand jedoch in der Hinwendung zur russischen Geschichte, die in Vinogradovs Reihe nicht behandelt bzw. nur zur Erklärung der Geschichte der West- und Ostslaven thematisiert wurde (vgl. Ot redakcii 1910:III). Das Bestreben der Herausgeber, die russische Geschichte in die europäische zu integrieren, beruhte auf deren Überzeugung, dass diese soziologisch nicht von der westeuropäischen getrennt behandelt werden könne (vgl. Ot redakcii 1910:III) und dass ökonomische Faktoren dabei eine Schlüsselrolle spielten. Der methodologische Ansatz des »Lesebuches« bestand also »[…] in der Anerkennung der strengen Einheit des historischen Prozesses und des engen Zusammenwirkens zwischen den Faktoren der materiellen und der ideellen Kultur unter der Vorherrscha t ökonomischer Faktoren.« [»[…] в признании строгого единства исторического процесса и тесного взаимодействия между факторами материальной и идейной культуры при гегемонии факторов экономических.«] (Ot redakcii 1910:IV). Die Herausgeber halten an den Prinzipien fest, die zuvor auch in der »Chrestomathie« weiterentwickelt wurden (vgl. Kap. 3.2.1.), und richten das »Lesebuch« an den kindlichen wie den erwachsenen Leser, wobei die Ideen der (außerschulischen) Selbstbildung und des eigenständigen Interesses an Geschichte im Vordergrund stehen. Zugleich greifen die Autoren die breit formulierten Zielsetzungen von Vinogradovs Ausgabe auf:

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Band I (1910); Band II (1911); Band III (1912); Band IV, Teil 1 (1913); Band IV, Teil 2 (1914); Band V (1917).

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Дать преподавателю книгу, которая помогла бы ему освежить свои знания, дать ученику старших классов, заинтересовавшемуся историей, возможность расширить свой научно-исторический кругозор и освоиться с методами, господствующими в современной науке, дать широким слоям читающей публики пособие для самообразования […]. (Ot redakcii 1910:III) Dem Lehrer ein Buch an die Hand zu geben, das ihm hil t, seine Kenntnisse aufzufrischen; dem an Geschichte interessierten Schüler der oberen Klassen die Möglichkeit zu geben, seinen wissenscha tlich-geschichtlichen Wissenshorizont zu erweitern und sich die in der modernen Wissenscha t vorherrschenden Methoden anzueignen; den breiten Schichten des Lesepublikums ein Lehrbuch zur Selbstbildung zur Verfügung zu stellen […]. Im Unterschied zur »Chrestomathie«, die aus bereits vorhandenen Texten kompiliert wurde, setzte sich das »Lesebuch« aus speziell dafür verfassten Beiträgen unterschiedlicher Spezialisten zusammen, wobei den Autoren »die volle Freiheit« bei der Auswahl der »Leitidee« der ihnen in Au trag gegebenen Texte eingeräumt war (vgl. Ot redakcii 1910:IV). Die von der Historischen Kommission erarbeitete Konzeption des »Lesebuches« sah sogar ausdrücklich vor, dass die Autoren nach ihrem Bemessen unterschiedliche Quellen, z.B. Primärtexte, Übersetzungen oder bereits vorhandene wissenscha tliche Literatur verarbeiten konnten (vgl. Otčet ORTZ 1908:76). Die Heranziehung eigener Materialien wurde in einer Rezension der Zeitschri t »Russkoe bogatstvo« als »neuer Typus« einer Chrestomathie [»новый вид хрестоматии«] positiv bewertet. Gleichzeitig wies der anonyme Rezensent auf die »übermäßige Schwierigkeit« [»чрезмерная трудность«] einiger Artikel für den unvorbereiteten Leser hin (vgl. Russkoe bogatstvo 1912:128). Daraus kann man schließen, dass die Autoren der Historischen Kommission – genauso wie bei der »Chrestomathie« (vgl. Kap. 3.2.1.) – trotz ihrer Ausrichtung auf die Schüler oberer Klassen den erwachsenen Leser in einem größeren Maße berücksichtigten als im Vorwort angegeben. Entsprechend dem postulierten Prinzip der Integration setzt sich die Geschichte der Neuzeit in jedem Band aus Beiträgen zur westeuropäischen und zur russischen Geschichte zusammen, wobei die Geschichte Westeuropas als Erstes behandelt wird und somit als unmittelbarer Hintergrund für die russische Geschichte dient. Die Geschichte des frühen 19. Jahrhunderts und der »Vaterländische Krieg« werden in dem 1912 erschienenen III. Band des »Lesebuches« behandelt. Der Beitrag des Historikers und Soziologen Nikolaj Ivanovič Kareev (1850-1931) »Vlijanie franсuzskoj revoljucii na drugie strany« [»Der Ein luss der Französischen Revolution auf andere Länder«] (Kareev 1912) skizziert den historisch-politischen Hintergrund der napoleonischen Kriege und stilisiert die Französische Revolution als Schlüsselereignis für die gesamteuropäische Geschichte des 19. Jahrhunderts. Der

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Jura-Professor und spätere Geschä tsführer des Ministerrats der Weißen Regierung A.V. Kolčaks Georgij Gustavovič Tel’berg (1881-1954) fokussiert in seinem Beitrag »Liberal’nye tečenija v Rossii v pervoj četverti XIX veka« [»Liberale Strömungen in Russland im ersten Viertel des 19. Jahrhunderts«] (Tel’berg 1912) die russische Geschichte und beleuchtet das Scheitern der liberalen Pläne Aleksandrs I. und die einsetzende Reaktion vor dem Hintergrund des »Vaterländischen Krieges«. Die Schilderung der innenpolitischen Entwicklung Russlands wird von Vladimir Ivanovič Pičeta (1878-1947) im darau folgenden Beitrag »Fritredery i protekcionisty v Rossii v pervoj četverti XIX v.« [»Freihändler und Protektionisten in Russland im ersten Viertel des 19. Jahrhunderts«] (Pičeta 1912b) aus einer ökonomischen Perspektive ergänzt. Im Anschluss daran beleuchtet der Beitrag des Historikers und Lehrbuchautors Ivan Matveevič Kataev (1875-1946) »Russkoe obščestvo v ėpochu Otečestvennoj vojny« [»Die russische Gesellscha t in der Epoche des Vaterländischen Krieges«] (Kataev 1912a) die Auswirkungen des Krieges auf die russische Gesellscha t und die Rolle des ›Volkes‹ im Krieg von 1812. Im Beitrag von Matvej Kuz’mič Ljubavskij (1860-1936), Historiker und späterer Rektor der Moskauer Universität, »Carstvo Pol’skoe i ego konstitucija 1815 goda« [»Das Königreich Polen und seine Verfassung des Jahres 1815«] (Ljubavskij 1912) werden die restaurativen Tendenzen nach den napoleonischen Kriegen in Russland vor dem Hintergrund der polnischen Geschichte beleuchtet. Die Interdisziplinarität des methodologischen Zugri fs zeigt sich in der Hinwendung zur Geschichte des russischen Mystizismus im Beitrag von S.P. Mel’gunov »Misticizm i reakcija v carstvovanie Aleksandra I. (Posle Otečestvennoj vojny)« [»Mystizismus und Reaktion in der Regierungszeit Aleksandrs I. (Nach dem Vaterländischen Krieg)«] (Mel’gunov 1912d). Diese spezifische Perspektive erweist sich als hilfreich, um eine Kontinuität vom »Vaterländischen Krieg« bis zum Dekabristenaufstand zu konstruieren, der zum logischen Schlusspunkt des ersten Viertels des 19. Jahrhunderts avanciert (vgl. den Beitrag des Historikers Vasilij Ivanovič Semevskij (1849-1916) »Političeskie i obščestvennye idei dekabristov« [»Die politischen und gesellscha tlichen Ideen der Dekabristen«] (Semevskij 1912)). Die Darstellung der russischen Geschichte des frühen 19. Jahrhunderts im »Lesebuch« zeigt die charakteristische ›liberale‹ Logik, die bereits in der »Chrestomathie« formuliert war und die sich vor allem durch das Interesse der Autoren für die Lage des russischen Volkes auszeichnet (vgl. Kap. 3.2.1.). Die Beleuchtung des »Vaterländischen Krieges« aus der Perspektive der nicht verwirklichten liberalen Reformen Aleksandrs I. verschiebt den Akzent auf die tragischen Folgen der Kriege 1812-1814, die nicht nur hohe Verluste, sondern auch eine lang andauernde Reaktion mit sich brachten. Eine bemerkenswerte Abweichung vom traditionellen »napoleonischen Narrativ« manifestiert sich sowohl im Verzicht auf die traditionellen Topoi wie die ›Schlacht von Borodino‹ oder den ›Bauernkrieg‹ als auch in der Distanzierung vom heroisierenden Pathos. Dabei verändert sich auch die ›Dramaturgie‹ des Narrativs: Der Krieg gegen Napoleon wird nicht mehr zum Höhepunkt

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der russischen Geschichte des ersten Viertels des 19. Jahrhunderts stilisiert, sondern vor allem als Vorstufe des Dekabristenaufstandes 1825 gesehen. Das »Lesebuch« lässt sich als ein umfassender wissenscha tlicher Kommentar zum komprimierten Narrativ der »Chrestomathie« betrachten, welches nunmehr in den Kontext der westeuropäischen Geschichte eingebettet wird. Jeder Autorenbeitrag wird durch eine umfangreiche bibliographische Liste referierter bzw. weiterführender Literatur ergänzt, welche auf Archivpublikationen, Egodokumente, wissenscha tliche und pädagogische Texte in verschiedenen Sprachen sowie auf die eigenen Publikationen des ORTZ verweist, worin sich insbesondere das Prinzip der intensiven Verwertung des eigenen Materials zeigt. Der wissenscha tliche Ansatz der Herausgeber spiegelt sich auch im Verzicht auf heterogenes illustratives Material wider, wie es noch in der »Chrestomathie« vorhanden war, sodass der Text selbst zum Hauptmedium der Vermittlung des Wissens avanciert. Die Grundzüge der Interpretation des »Vaterländischen Krieges« lassen sich anhand der Beiträge N.I. Kareevs, G.G. Tel’bergs, I.M. Kataevs und S.P. Mel’gunovs exemplarisch demonstrieren. Die Autoren nehmen Abstand von der vereinfachten, typisierenden und auf die persönlichen Charaktereigenscha ten bzw. Ambitionen der Herrscher reduzierten Geschichtsdarstellung zugunsten einer genaueren Beschreibung der sozialpolitischen Rahmenbedingungen. Im Beitrag von N.I. Kareev zeigt sich der analytische Zugri f in der Di ferenzierung zwischen den »Ereignissen«, die sich auf der elementaren Ebene auf die Handlungen von einzelnen Individuen, historischen Persönlichkeiten oder Völkern zurückführen lassen, und dem »Alltag« als Gesamtheit verschiedenartiger gesellscha tlicher Beziehungen, der seinerseits die globalen Umwälzungen, z.B. die »Ereignisse« einer Revolution, widerspiegelt (vgl. Kareev 1912:569). Entsprechend diesem methodologischen Ansatz werden die Handlungen Aleksandrs I. von G.G. Tel’berg konsequent im Kontext seiner kulturellen und sozialpolitischen Umgebung betrachtet sowie im Hinblick auf das Wohl des Volkes kritisch hinterfragt. Somit wird z.B. die gescheiterte Befreiung der Bauern im frühen 19. Jahrhundert auf das Fehlen jener »objektiven Kra t« bzw. Gesellscha tsschicht zurückgeführt, die davon profitiert hätte: »[…] не было общественного класса, жизненным интересам которого была бы необходима политическая реформа.« [»[…] es gab keine gesellscha tliche Klasse, für deren Lebensinteressen eine politische Reform notwendig gewesen wäre.«] Den Bauern selbst, die lediglich als »Objekt des [Leibeigenscha ts]rechts [der Gutsherren]« [»объект [крепостнических] прав [помещиков]«] fungieren, wird aufgrund ihrer Versklavung und mangelnder Bildung jegliches politische Bewusstsein abgesprochen (vgl. Tel’berg 1912:614). Als Gegenpol zur absoluten Zarenmacht konstruiert I.M. Kataev die Vorstellung von der »ö fentlichen Meinung« [»общественное мнение«] (Kataev 1912a:668), die als Kreuzungspunkt unterschiedlicher Interessen der politischen Akteure: des konservativen Adels, der progressiven Krä te, der Freimaurer usw. beschrieben wird.

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Zu den wichtigen Anliegen Kataevs gehört es, die Abhängigkeit des Zaren von dieser Kra t zu zeigen. Diese Intention spiegelt sich auch in den Zwischentiteln seines Beitrags wider, z.B. »Oppozicija v Moskve i v provincii« [»Die Opposition in Moskau und in der Provinz«] (Kataev 1912a:657-659); »Oppozicija i imp[erator] Aleksandr« [»Die Opposition und der Imp[erator] Aleksandr«] (Kataev 1912a:659); »Otvet Aleksandra« [»Aleksandrs Antwort«] (Kataev 1912a:660); »Ustupki imp[eratora] Aleksandra obščestvennomu mneniju« [»Zugeständnisse des Imp[erators] Aleksandr an die ö fentliche Meinung«] (Kataev 1912a:668). Dieser Ansatz ermöglicht es, oppositionelle Strömungen in Russland historisch zu begründen und diese im Jubiläumsjahr 1912 zu einem kontrapräsentischen Topos zu erheben. Eine ähnliche Funktion kommt im Beitrag G.G. Tel’bergs der ausführlichen Erörterung des Reformprojekts Speranskijs zu, insbesondere seinen Überlegungen zur Scha fung einer »Volksvertretung« [»народное представительство«] und einer »Staatsduma« [»государственная дума«], die unter den veränderten Bedingungen der politischen Ö fentlichkeit nach der Revolution 1904/05 neu diskutiert werden (vgl. Tel’berg 1912:610611). Eine wichtige Rolle bei der Erörterung der Epoche von 1812 spielt die konsequente Dekonstruktion der Vorstellung vom »Volkskrieg« [»narodnaja vojna«], der im traditionellen »napoleonischen Narrativ« auf die patriotische Vereinigung aller Schichten im Kampf gegen Napoleon anspielt und die Aktionen der spontan gebildeten Bauerntruppen bezeichnet, die einen Zerstörungskrieg im Rücken des Gegners betrieben. I.M. Kataev polemisiert mit dem französischen Marschall Gouvion Saint-Cyr (1764-1830), der den Mut und den Kampfgeist der Russen bewundert und ihnen einen »natürlichen«, d.h. übernationalen, von den Besonderheiten des jeweiligen Staates unabhängigen idealen Patriotismus zuschreibt: »[…] как бы ни были различны формы правления и общественного положения народов, нигде не будет недостатка в хороших воинах, чтобы защищать отeчество, в которое вторглись иностранцы.« [»[…] so sehr sich die verschiedenen Regierungsformen und die gesellscha tliche Situation der Völker unterscheiden, wird es nirgendwo an guten Kämpfern mangeln, um das Vaterland zu beschützen, das von Fremden überfallen wurde.«] (Kataev 1912a:683). Kataev hält mit den Worten des russischen Admirals Pavel Vasil’evič Čičagov (1767-1849) kritisch dagegen, dass ein solcher Patriotismus in einem »despotischen Staat« kaum möglich sei: »Патриотизм (сознательный) есть чувство слишком возвышенное, чтобы он мог в значительной степени развиться в деспотическом государстве. В инстинктивной любви к своему очагу нельзя отказать русским; но ее нельзя смешивать с просвещенной любовью к своему отечеству свободных народов.« [»Der (bewusste) Patriotismus ist ein zu hohes Gefühl, als dass er in einem despotischen Staat in beträchtlichem Maße entstehen könnte. Eine instinktive Liebe zur Heimat kann man den Russen nicht absprechen; doch man kann diese nicht mit der aufgeklärten Liebe der freien Völker zu ihrem Vaterland vermengen/vergleichen.«] (Kataev 1912a:684, Hervorhebung

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K.R.). Somit wird der ›wahre‹ Patriotismus im Rückgri f auf den Au klärungsdiskurs des 19. Jahrhunderts explizit mit der Freiheit des Volkes verbunden, wodurch die Rückständigkeit Russlands angeprangert wird (vgl. Kataev 1912a:681). In einem weiteren Schritt wird der spontane »Volkskrieg« als ein von der russischen Regierung gelenkter Protest entlarvt, den Kataev auf konkrete Maßnahmen der Regierung zurückführt, nämlich auf die Scha fung des Volksaufgebots [russ. ›narodnoe opolčenie‹] durch Aleksandr I., die Spendenaktionen des Adels und der Geistlichen (vgl. Kataev 1912a:678-679) und insbesondere auf publizistische Texte, z.B. den Text N.M. Karamzins »Zapiska o drevnej i novoj Rossii« [»Denkschri t über das alte und neue Russland«] (1811) sowie auf die propagandistischen Schriften des Moskauer Gouverneurs F.V. Rostopčin und des russischen konservativen Schri tstellers und Publizisten, des Herausgebers der Zeitschri t »Russkij vestnik« [»Russischer Bote«], Sergej Nikolaevič Glinka (1776-1847) (vgl. Kataev 1912a:664-668, 676-677). Auch wenn Kataev diese Maßnahmen für insgesamt notwendig und wirksam hält und z.B. die Spenden des Moskauer Adels »aus eigener Initiative« als ein Moment patriotischer Einigung hervorhebt (vgl. Kataev 1912a:678), betont er deren gelenkten Charakter und richtet seine Kritik vor allem gegen die o fiziöse Propaganda. Trotz der kritischen Hinterfragung des o fiziellen Patriotismus zeigt Kataevs Geschichtsdarstellung einige Zugeständnisse an die traditionelle Kriegsinterpretation, z.B. bei der Darstellung Aleksandrs I., der im Gegensatz zur »Chrestomathie« als guter Diplomat und im gewissen Sinne als Opfer seiner konservativen Umgebung dargestellt wird. Als positiv bewertet Kataev die Entscheidung des Zaren, nicht alle möglichen Ressourcen des Volksaufgebots gleichermaßen zu mobilisieren, sondern deren Last auf die einzelnen Gouvernements zu verteilen (vgl. Kataev 1912a:678-679). Zur zentralen Kritikfigur der russischen Regierung avanciert der Moskauer Gouverneur Rostopčin, den Kataev als ra finierten politischen Agitator und »Despoten« schildert (vgl. Kataev 1912a:670, 675). Eine kritische Bilanz zu den Folgen der napoleonischen Kriege für Russland wird von S.P. Mel’gunov gezogen. Als Gesamtergebnis des Krieges von 1812 stehen für ihn die schnelle Rückkehr zur alten Ordnung (vgl. Mel’gunov 1912d:711) und vor allem die einsetzende Reaktion fest, die er speziell an dem von der Regierung nach 1812 betriebenen Mystizismus festmacht (vgl. Mel’gunov 1912d:734). Während Kataevs Argumentation auf einer vorsichtig-kritischen Hinterfragung der o fiziellen Maßnahmen basiert, legt Mel’gunov die Logik des traditionellen »napoleonischen Narrativs« in der expressiven Weise eines gekonnten Publizisten o fen. Zunächst führt er den russischen Sieg über Napoleon mithilfe eines Zitats aus einem Brief Rostopčins strikt auf geopolitische Faktoren zurück: »Император России всегда будет грозен в Москве, страшен в Казани и непобедим в Тобольске.« [»Der russische Imperator wird immer furchterregend in Moskau, schrecklich in Kazanʼ und unbesiegbar in Tobol’sk sein.«] (Quellenangabe bei Šil’der 1897b:373, Fn. 124)

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– und folgert daraus: »Победила в значительной степени сама природа.« [»Gesiegt hatte in großem Maße die Natur selbst.«] (Mel’gunov 1912d:713). Dabei bedient sich Mel’gunov seinerseits eines Ideologems, das der französischen Interpretation des Krieges von 1812 zugrunde liegt, aber auch im russischen »napoleonischen Mythos« positiv konnotiert ist (z.B. der russische Winter als »Verbündeter« der russischen Armee, vgl. Boele 1994). Diese Schilderung wird ähnlich wie in der »Chrestomathie« (vgl. Kap. 3.2.1.) mit der Vorstellung vom russischen Zarenreich als Napoleons »Sarg« ergänzt und damit in eine Polemik mit der russischen Autokratie eingebunden. Dabei deutet Mel’gunov die Worte des Staatssekretärs Aleksandr Semenovič Šiškov (1754-1841) »Войдя в Россию […] ›Наполеон затворился в гробе, из которого не выйдет жив.‹« [»Als Napoleon nach Russland kam […] ›schloss er sich in einem Sarg ein, aus dem er nicht mehr lebendig herauskommen würde.‹«] (Mel’gunov 1912d:713; vgl. Šiškov 1870:159) in seinem Sinne um und charakterisiert das russische Imperium als »Sarg« für jegliche liberalen Ideen (vgl. Potapova 2012:103). Die auf diese Art konstruierte ›Nullstufe‹ der Kriegsdarstellung, die dessen Verlauf angeblich auf reine ›Fakten‹ und ›natürliche Gegebenheiten‹ reduziert, wird in einem zweiten Schritt als Basis dazu genutzt, die nachfolgende ideologische Vereinnahmung des »Vaterländischen Krieges« im Sinne von S.S. Uvarovs nationalem Modell ›Orthodoxie – Autokratie – Volk‹ aufzuzeigen (vgl. Kap. 2). Dabei spricht Mel’gunov erstaunlich o fen die zentrale Komponente von Aleksandrs ›Szenario der Macht‹ an, nämlich die göttliche Fundierung der Zarenmacht: »Могла ли, однако, эта проза удовлетворить тех, кто чувствовал себя победителями величайшего военного гения того времени […]? Нет, надо было отыскать более глубокое объяснение пронесшимся, как вихрь, историческим событиям. Провидение руководит судьбами мира: оно ниспосылает испытания народам.« [»Doch konnte diese Prosa diejenigen zufriedenstellen, die sich als Sieger über das größte Militärgenie jener Zeit sahen […]? Nein, man musste eine tiefere Erklärung für die historischen Ereignisse finden, die wie ein Wirbelsturm vorbeigefegt waren. Es ist die Vorsehung, die über das Schicksal der Welt herrscht: Sie sendet den Völkern Prüfungen.«] (Mel’gunov 1912d:713). Mel’gunov formuliert die ese, dass die allmähliche Selbststilisierung Aleksandrs I. zum Werkzeug Gottes, die sich auf die christliche Vorstellung von der »Ergebenheit/Demut des Volkes« [»смирение народа«] stützte, die entscheidende Rolle bei der gescheiterten Befreiung der Bauern nach dem Krieg von 1812 gespielt und deren weitere Versklavung begünstigt habe (vgl. Mel’gunov 1912d:715). Mel’gunovs Strategie besteht also darin, das traditionelle »napoleonische Narrativ« nicht nur mit rationalen wissenscha tlichen Argumenten zu entkrä ten, sondern durch eine expressive Darlegung seiner Logik und durch seine Hyperbolisierung bzw. Ad-absurdum-Führung. Mit bitterer Ironie stellt er die Notwendigkeit von Reformen in Russland in Frage: »Да и что, наконец, нужно избранному Богом народу?« [»Was braucht denn schon ein von Gott auserwähltes Volk?«] (Mel’gunov 1912d:715); »Нужна ли реформа в том го-

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сударстве, благоденствие которого как бы отмечено печатью Божественного Провидения?« [»Ist denn eine Reform in einem Staat nötig, dessen Wohlergehen sozusagen den Stempel der göttlichen Vorsehung trägt?«] (Mel’gunov 1912d:716). Vor diesem Hintergrund erklärt Mel’gunov den »russischen Bauern« zum eigentlichen Helden des »Vaterländischen Krieges«: »[…] в действительности героем войны явился русский крестьянин.« [»[…] in Wirklichkeit war der russische Bauer Held des Krieges.«] (Mel’gunov 1912d:713). Somit formuliert Mel’gunov zwar dieselbe ese, die im Jubiläumsjahr 1912 auch durch die o fiziellen Feierlichkeiten vermittelt wurde (vgl. Kap. 2), liefert aber dafür eine alternative Begründung, die die staatso fizielle Kriegsinterpretation unterminiert. Resümee Mit seiner wissenscha tlichen Herangehensweise und seinem interdisziplinären Ansatz bietet das »Lesebuch« ein di ferenzierteres Bild der Epoche von 1812, das aus der Gesamtheit sozialpolitischer, ideengeschichtlicher und ökonomischer Faktoren rekonstruiert wird und bereits durch seine Multiperspektivität der ideologischen Vereinnahmung des »Vaterländischen Krieges« entgegenwirkt. Ähnlich wie die »Chrestomathie« (vgl. Kap. 3.2.1.) richtet sich das »Lesebuch« an eine breite Zielgruppe und betont die Idee der Selbstbildung, die somit auch außerhalb des regulären Schulunterrichts verankert wird. Durch eine anspruchsvolle Darbietung des Materials erweist es sich insbesondere auch für den erwachsenen Leser als geeignet. Die methodologisch-didaktische Weiterentwicklung des »Lesebuches« gegenüber der »Chrestomathie« besteht in der Verwendung eigener, speziell für das »Lesebuch« verfasster Beiträge unterschiedlicher Spezialisten, wobei die Heterogenität der Ansichten der einzelnen Autoren programmatisch beibehalten wird. Dadurch kommen die unterschiedlichen ideologischen Ansichten der jeweiligen Spezialisten zum Ausdruck, was auch für eine weitere Etablierung der Historikergruppe um S.P. Mel’gunov und die Stärkung der Zusammenarbeit innerhalb der Historischen Kommission spricht. Der systematisch-wissenscha tliche Ansatz des »Lesebuches« drückt sich im Anspruch auf eine einheitliche Darstellung der russischen und der europäischen Geschichte aus, die auf den Metaebenen der wirtscha tlichen, aber auch der ideellen Entwicklung (Mystizismus) interdisziplinär beleuchtet wird. So wird z.B. die ›ö fentliche Meinung‹, die im Beitrag I.M. Kataevs als wirksamer Gegenpol zur Zarenmacht fungiert, als diskursiver Raum konzeptualisiert, in dem unterschiedliche soziale Interessen aufeinandertre fen. Dies ermöglicht es insbesondere, oppositionelle Bewegungen in Russland historisch zu begründen. Das »Lesebuch« legt zwei unterschiedliche Strategien der kritischen Auseinandersetzung mit dem traditionellen »napoleonischen Narrativ« nahe. Einerseits erö fnet der historiographische Diskurs den Autoren den Weg zu einer kritischen

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Hinterfragung der o fiziellen Geschichtsinterpretation mithilfe eines systematisch-wissenscha tlichen Ansatzes, wie man es anhand der Beiträge von N.I. Kareev und I.M. Kataev erkennen kann. Zugleich deutet sich ein weiteres Muster an, nämlich eine emotional aufgeladene Entkrä tung der staatso fiziellen Kriegsinterpretation durch deren Hyperbolisierung und Ad-absurdum-Führung im Beitrag von S.P. Mel’gunov. Darin zeigen sich insbesondere der hybride Charakter und das propagandistische Potenzial populärwissenscha tlicher Medien, denn gerade Mel’gunovs Beitrag steht an der Grenze zwischen Wissenscha t und emotional aufgeladenem politischem Pamphlet. Somit kann man davon ausgehen, dass die traditionellen Vorstellungen, z.B. die Rolle des russischen Winters oder der göttlichen Vorsehung im Krieg von 1812, trotz ihrer Demontage und polemischen Umdeutung, indirekt mit aktualisiert und gefestigt werden.

3.2.3

»Naše prošloe. Rasskazy iz russkoj istorii« (1913-1915)

Das zweibändige Lesebuch »Naše prošloe. Rasskazy iz russkoj istorii« [»Unsere Vergangenheit. Erzählungen aus der russischen Geschichte«] (Višnjakov/Mel’gunov/ Syroečkovskij/Syroečkovskij 1913-191510 ) wurde als »Reihe elementarer Skizzen der russischen Geschichte« [»ряд элементарных очерков по русской истории«] für »die unteren Klassen der mittleren Schule« [»в низших классах средней школы«] konzipiert und behandelt die Zeit von der Kiever Rusʼ bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts (Wahlen zur ersten Duma 1906) (vgl. Ot redakcii 1913:III). Die Entstehung des »Lesebuches« ist im Kontext einer didaktischen Polemik zu sehen, die durch die Einführung des Geschichtsunterrichts in den unteren Schulklassen 1901-1902 angeregt wurde und an der sich die Historische Kommission der Lehrabteilung des ORTZ aktiv beteiligte (vgl. Ot redakcii 1913:III; vgl. Orlovskij 2002:83; Ponikarova 2005:59, 154-155). Das »Lesebuch« wurde als experimentelle Ausgabe und als Ergänzung zu herkömmlichen Lehrbüchern konzipiert und sollte eine Lücke im entsprechenden Segment der pädagogischen Literatur schließen: »[…] книга является лишь первым опытом, который должен подвергнуться видоизменениям согласно указаниям опыта и критики.« [»[…] das Buch ist nur ein erster Versuch und soll nach entsprechenden Hinweisen aus der Praxis und von den Kritikern modifiziert werden.«] (Ot redakcii 1913:III). Da der Geschichtsunterricht in den unteren Klassen vor allem »von der Person des Lehrers abhängig ist«, wurde das »Lesebuch« auch als Hilfsmaterial für den Lehrer konzipiert, der es »entsprechend seiner Unterrichtsmethode einsetzen kann« (Ot redakcii 1913:IV). Ferner war das Lesebuch für die »Heimlektüre« bzw. »Selbstbildung« der Schüler bestimmt und konnte auch in »Volksschulen« verwendet werden (vgl. Ot redakcii 1913:IV, VII).

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Teil I (1913); Teil II (1915).

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Im Gegensatz zum Lesebuch »Kniga dlja čtenija po istorii Novogo vremeni«, in dem mithilfe eines wissenscha tlichen Ansatzes und interdisziplinärer Fragestellungen eine Abstraktionsebene zum Gegenstand der Darstellung konstruiert wurde (vgl. Kap. 3.2.2.), zielt »Naše prošloe« ganz im Sinne der populären Medien auf ein unmittelbares Eintauchen des kindlichen Lesers in eine historische Epoche ab. Zu einer Art ›Metadiskurs‹, mithilfe dessen »unsere Vergangenheit« illustriert und durch den Leser erschlossen werden soll, avanciert der nationale Alltag [russ. ›byt‹], der zum Fokus typischer Erscheinungen des historischen Lebens und zum organisierenden Zentrum des historischen Materials wird: »[…] [Э]пизод допускался только тогда, когда он был ярким выражением тех или других общих явлений исторической жизни и […] давал возможность достигнуть большей картинности изложения.« [»[…] [E]ine Episode wurde nur ausgewählt, wenn sie die eine oder andere allgemeine Erscheinung des historischen Lebens in schärfster Ausprägung zeigte und […] es dadurch möglich wurde, eine größere Bildlichkeit der Darstellung zu erreichen.«] (Ot redakcii 1913:IV–V). Die Beiträge für »Naše prošloe« wurden speziell von einem Autorenkollektiv angefertigt. Wie bei den anderen Sammelbänden der Historischen Kommission des ORTZ gewährten die Herausgeber den Autoren die Freiheit, die Form der Darstellung selbst zu wählen (vgl. Ot redakcii 1913:V). Zugleich stellten sie sich die Aufgabe, eine »möglichst klare Vorstellung von der gesetzmäßigen Entwicklung historischer Ereignisse zu vermitteln« [»дать возможно ясное представление о закономерном развитии исторических явлений«] (Ot redakcii 1913:IV) und ausschließlich »authentisches« und »dokumentarisch belegtes« Material zu verwenden: »Вымышленного, недостоверного и незасвидетельствованного документом или иным историческим памятником не должно было быть в книге.« [»Es sollte kein ausgedachtes, unglaubwürdiges und nicht durch ein historisches Dokument oder ein anderes historisches Zeugnis bestätigtes Material in dem Buch geben.«] (Ot redakcii 1913:V). Die Authentizitätsfiktion wurde in großem Maße auch durch die visuelle Gestaltung der Ausgabe und den intermedialen Transfer hergestellt, indem die sorgfältig ausgesuchten und auf ihre Wahrheitstreue hin geprü ten Bilder (183 Abbildungen auf insgesamt 844 Seiten in zwei Teilen) als Vorlage für das historische Narrativ dienten: »[…] некоторые рассказы специально приноравливались к имеющимся историческим картинам.« [»[…] einige Erzählungen wurden speziell an die vorhandenen historischen Gemälde angepasst.«] (Ot redakcii 1913:IV). Aufgrund des jungen Alters der Zielgruppe wurde der Schwerpunkt des »Lesebuchs« auf die Ereignisse der russischen Innenpolitik gelegt (vgl. Ot redakcii 1913:V). Insofern stellte die Hinwendung zum »Vaterländischen Krieg« eine Ausnahme dar, die im Vorwort zum 2. Band (1915) durch den großen Ein luss des Krieges auf den nationalen Alltag ausdrücklich begründet wurde: »Эти моменты нельзя было обойти в книге, посвященной преимущественно быту: слишком

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глубоко было влияние этих событий на внутреннюю жизнь России.« [»Diese Momente konnte man in einem Buch, das sich hauptsächlich dem Alltag widmet, nicht umgehen: Zu tief war der Ein luss dieser Ereignisse auf das innere Leben in Russland.«] (Ot redakcii 1915:[3]). Die Darstellung des Krieges von 1812 in »Naše prošloe« lässt eine Ähnlichkeit mit den anderen Publikationen des ORTZ erkennen. Die Gliederung des Abschnitts über das frühe 19. Jahrhundert zeigt direkte Parallelen zur »Chrestomathie« (vgl. Kap. 3.2.1.). Die Geschichte erscheint in einer Reihe einheitlicher und in sich abgeschlossener Skizzen, die sich um die Schlüsselfiguren oder -ereignisse der russischen Geschichte ranken. Dies verdeutlicht die Tendenz zur Vereinfachung und Fiktionalisierung der Geschichte sowie zur Bildung eines einheitlichen historischen Narrativs. Der Umgang mit Quellen lässt sich mit dem folgenden Zitat aus der Skizze T.S. Vyšinskajas (Lebensdaten unbekannt) »Vstuplenie na prestol Aleksandra I. 1. Neglasnyj komitet. 2. Speranskij« [»Die Inthronisation Aleksandrs I. 1. Das Ino fizielle Komitee. 2. Speranskij«] (Vyšinskaja 1915) illustrieren, die den Abschnitt über das frühe 19. Jahrhundert einleitet und die die Stimmung in der russischen Gesellscha t nach dem Tod Pavels I. beschreibt: »[1.] Все умы и сердца успокоились. [2.] Общество как бы возродилось к новой жизни, очнувшись от терроризма (жестокости) человека, который [3.] четыре года не ведая, что творит, мучил вверенное ему царство. [4.] Ни слова о покойном, чтобы и минутно не помрачить сердечного веселья, которое горело у всех в глазах; ни слова о прошедшем. Все о настоящем и будущем«, пишет один современник. (Vyšinskaja 1915:186, Nummerierung der Fragmente K.R.) »[1.] Alle Geister und Herzen beruhigten sich. [2.] Die Gesellscha t war wie zu neuem Leben auferstanden, nachdem sie nach dem Terror (der Grausamkeit) jenes Menschen, der [3.] vier Jahre lang, ohne zu wissen, was er tut, das ihm anvertraute Land quälte, wieder zu sich gekommen war. [4.] Kein Wort über den Verstorbenen, um nicht für einen Augenblick die herzliche Freude zu trüben, die bei allen in den Augen leuchtete; kein Wort über das Vergangene. Alles über Gegenwart und Zukun t«, schreibt ein Zeitgenosse. Die Passage wird dem Leser als Äußerung »eines Zeitgenossen« [»пишет один современник«] präsentiert und suggeriert den Eindruck einer einheitlichen Aussage. Eine Analyse der Textgenese zeigt jedoch, dass es sich um eine Kompilation mehrerer Quellen handelt. Als Vorlage diente der Text des russischen Historikers Nikolaj Karlovič Šil’der (1842-1902), den der Autor in mehreren Variationen in seinen Biographien der Zaren Aleksandr I. (vgl. Šil’der 1896:167-168; Šil’der 1897a:7) und Pavel I. (vgl. Šil’der 1901:496-498) verwendete. Bereits bei Šil’der handelt es sich um eine aufwändige Montage aus mehreren Quellen. Das Fragment 1) stammt nach

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Šil’ders Angaben von A.S. Šiškov (vgl. Šil’der 1897a:7, 1901:496) und lässt sich tatsächlich anhand von dessen »Notizen« belegen (vgl. Šiškov 1870:81). Beim Fragment 2) handelt es sich o fenbar um eine sinngemäße Paraphrase mehrerer Quellen, darunter in französischer Sprache, die Šil’der in seinem Text anführt (vgl. Šil’der 1896:167-168; Šil’der 1897a:7). Der mit 3) gekennzeichnete Nebensatz zeigt Ähnlichkeit mit den Notizen des Memoiristen Filipp Filippovič Vigelʼ (1786-1856) (vgl. Vigelʼ 1923:121). Das Fragment 4) stammt wiederum von Vigelʼ (vgl. Vigelʼ 1923:122), den Šil’der an dieser Stelle auch als Quelle angibt (vgl. Vigelʼ 1923:121). Die Analyse zeigt, dass die Zusammenfügung mehrerer Quellen bereits im historiographischen Diskurs dazu führen kann, dass einzelne Prätexte nicht mehr eindeutig identifizierbar sind. Mit der Verarbeitung von Šil’ders Text im Lesebuch »Naše prošloe« durch T.S. Vyšinskaja lässt sich eine weitere Stufe der Hybridisierung illustrieren. Hier verschmelzen die einzelnen Quellen zu einem einheitlichen Narrativ. Dabei wird das Zitat für den kindlichen Leser zusätzlich adaptiert: Dem Fremdwort »terrorizm« wird in Klammern eine Erklärung der zeitgenössischen Bedeutung hinzugefügt [»жестокость«], und das Herausfallen eines Wortes im Zitat »вверенное ему [Богом] царство« [»das ihm [von Gott] anvertraute Land«] lässt sich durch die fortschreitende Säkularisierung erklären. Die aufwändige Konstruktion macht den Mechanismus der Herstellung einer Authentizitätsfiktion deutlich: Die Autoren konstruieren die fiktive Perspektive eines Zeitgenossen, die sich aus historischen Dokumenten zusammensetzt. Eines ähnlichen Kunstgri fs bediente sich mit seiner Tagebuchfiktion V.P. Avenarius, um eine wahrheitsgetreue Vorstellung von einer historischen Epoche zu vermitteln (vgl. Kap. 5.3.2.). Ähnlich wie in der »Chrestomathie« wird die Geschichte des 19. Jahrhunderts in »Naše prošloe« mit der Inthronisation Aleksandrs I. angesetzt. Entsprechend dem auf den Alltag gerichteten Fokus werden die Charaktereigenscha ten des Zaren direkt aus den Umständen seiner Erziehung durch seine Großmutter Ekaterina II. und General Frédéric-César Laharpe (1754-1838) abgeleitet, der Aleksandr angeblich zu sehr verwöhnt und dadurch unfähig zu ernstha ter Arbeit erzogen habe: »Лагарп тоже очень полюбил своего ученика и даже слишком баловал его, не заставлял его трудиться, почему Александр не привык к серьезной и упорной работе. Это впоследствии вредило ему даже в государственных делах.« [»Auch Laharpe hatte seinen Schüler sehr lieb gewonnen und verwöhnte ihn sogar zu sehr, er zwang ihn nicht zur Arbeit, weswegen Aleksandr an eine ernsthafte und beharrliche Arbeit nicht gewöhnt war. Dies schadete ihm später sogar bei den Staatsangelegenheiten.«] (Vyšinskaja 1915:187). Gleichzeitig werden die Charaktereigenscha ten des Zaren auch auf den negativen Ein luss des ›verlogenen‹ Ho lebens zurückgeführt: »Александру надо было стараться: везде быть приятным – не рассердить сурового отца и не обидеть любимую бабушку. Это сделало его навсегда неискренним, скрытным.« [»Aleksandr musste sich anstrengen: mit allen freundlich sein – den strengen Vater nicht verärgern und die

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geliebte Großmutter nicht kränken. Dies machte ihn für immer unaufrichtig und verschlossen.«] (Vyšinskaja 1915:188). Schließlich wird Aleksandr mit den Worten Ekaterinas als Mensch der Widersprüche charakterisiert (vgl. Vyšinskaja 1915:188). Das anschließende Unterkapitel über den russischen liberalen Staatsmann Michail Michajlovič Speranskij (1772-1839) wird als Kontrastfolie zur Biographie des Zaren konzipiert. Speranskijs einfache Abstammung und sein bescheidener Bildungsweg unterstreichen umso mehr seine Talentiertheit und herausragende Kompetenz, die in »Naše prošloe« über die Aleksandrs gestellt werden. Beim Vergleich der beiden historischen Figuren avanciert die »Nähe zum Volk und zum russischen Leben« zu einer Schlüsseleigenscha t, was die Regierung des Zaren im kritischen Licht erscheinen lässt: »Он [Speranskij, K.R.] был ему [dem Zaren, K.R.] необходим в деле преобразования, как человек близкий к народу и русской жизни. Он лучше самого Александра и первых его друзей мог видеть, что необходимо России.« [»Er [der Zar, K.R.] brauchte ihn [Speranskij, K.R.] für die Sache der Umgestaltung Russlands als Menschen, der dem Volk und dem russischen Leben nahestand. Speranskij konnte besser als Aleksandr selbst und seine engsten Freunde sehen, was Russland braucht.«] (Vyšinskaja 1915:191). Speranskijs Bedeutung als Staatsman wird auch aus seinem langen Dienstweg bzw. aus dem Ein luss abgeleitet, den er auf viele Sphären des gesellscha tlichen Lebens in Russland nehmen konnte (nach dem »Vaterländischen Krieg« war Speranskij als Gouverneur in Sibirien tätig und unter Nikolaj I. an einer Verbesserung der russischen Gesetze beteiligt). Seine Person illustriert eine Kontinuität des russischen Reformdenkens, die durch den Krieg von 1812 und die nachfolgende reaktionäre Politik vorläufig abgebrochen bzw. in den privaten Bereich (Geheimzirkel) verlagert wird und den Weg zum Dekabristenaufstand von 1825 ebnet. Die Erörterung der Gründe für den »Vaterländischen Krieg« in der Skizze des Anhängers der Partei der kadety, Abgeordneten der ersten russischen Duma und Publizisten Viktor Petrovič Obninskij (1867-1916) »Til’zit« [»Tilsit«] (Obninskij 1915a) lässt sich im Spannungsfeld zwischen wissenscha tlicher Objektivität und fortschreitender Mythisierung betrachten. Zwar werden die ökonomisch-politischen Umstände, nämlich die Konfrontation Frankreichs mit England, der Tilsiter Frieden und die Kontinentalblockade, mit entsprechender Vereinfachung konkret benannt, doch wird der Krieg zugleich durch die Ambitionen des französischen Imperators erklärt. Dabei werden Napoleons mythische Züge als glücklicher und unbesiegbarer Feldherr aktiviert, die sich aus der heroischen Linie des russischen »napoleonischen Mythos« speisen (vgl. Kap. 1.2.). Bemerkenswert ist, dass Napoleon dabei mit einer Ironie geschildert wird, die über den Erfahrungshorizont des kindlichen Lesers hinausgeht und sich o fenbar an den erwachsenen Leser richtet:

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В случае победы над Россией, и Англия легко могла быть приведена к покорности. Наполеон же, как всякий хороший полководец, – а этого качества за ним никто не отрицал, – никогда не думал о возможности своего поражения. Вот почему он с легким сердцем перебросил, пять лет спустя после этого свидания [1807 in Tilsit, K.R.], свою армию через тот же голубой и глубокий Неман. (Obninskij 1915a:195) Im Fall eines Sieges über Russland konnte auch England leicht zum Gehorsam gezwungen werden. Und wie jeder gute Feldherr – und diese Eigenscha t sprach ihm keiner ab –, dachte Napoleon nie über eine mögliche Niederlage nach. Deswegen warf er fünf Jahre nach diesem Tre fen [1807 in Tilsit, K.R.] seine Armee leichten Herzens über dieselbe blaue und tiefe Memel. Napoleons »Glück« und sein fatalistischer Glaube an den Sieg werden an dieser Stelle vor dem Hintergrund der allgemeinmenschlichen Tragödie des bevorstehenden Krieges mithilfe einer Prolepse kritisch re lektiert und betonen die Klu t zwischen den Ambitionen des Herrschers und den Bedürfnissen seines Volkes: Но тогда, в 1807 году, никто в Тильзите не думал […] о том, что скоро будут брести здесь жалкие остатки наполеоновской армии обратно во Францию, навстречу недалекой гибели и самого Наполеона и созданного им могущества французской империи. (Obninskij 1915a:195-196) Doch damals, im Jahr 1807, dachte niemand in Tilsit […] daran, dass sich hier bald die jämmerlichen Reste der napoleonischen Armee nach Frankreich zurückschleppen werden, ihrem baldigen Untergang entgegen, dem Napoleons selbst und dem Untergang der von ihm gescha fenen Macht des französischen Imperiums. Ähnlich wie in den bereits besprochenen Geschichtslesebüchern der Historischen Kommission der Lehrabteilung des ORTZ ist die weitere Darstellung des Krieges von 1812 von antimilitaristischem Pathos gekennzeichnet und wird aus der Perspektive der napoleonischen Armee geschildert. In einem weiteren Beitrag »Na puti k Moskve« [»Auf dem Weg nach Moskau«] (Obninskij 1915b) verwendet V.P. Obninskij die Notizen der französischen Kriegsteilnehmer, die zuvor in dem von der Historischen Kommission herausgegebenen Sammelband »Francuzy v Rossii« erschienen waren (Vasjutinskij/Dživelegov/Mel’gunov 1912). Dies lässt sich anhand der Adaption der Erinnerungen des Oberchirurgen der französischen Armee Dominique-Jean Larrey (1766-1842)11 illustrieren:

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Zur Verarbeitung der Figur Larreys bei V.P. Avenarius vgl. Kap. 5.3.3.5.

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…Наполеон перелистал еще несколько бумаг. Вот донесение главного врача армии, Ларрея. Он сообщал, что вместо белья раненых заворачивают в бумагу, найденную в уцелевшем архиве, а вместо корпии к ранам прикладывают паклю. Это значило – смерть от заражения крови. (Obninskij 1915b:199) …Napoleon blätterte noch ein paar Papiere durch. Hier ein Bericht des Oberarztes der Armee, Larrey. Er berichtete, dass man Verletzte anstatt in Wäsche in Papier einwickle, das man in einem unversehrt gebliebenen Archiv gefunden habe, und dass man anstatt von Scharpie Werg an die Wunden anlege. Dies bedeutete Tod durch Blutvergi tung. Das Fragment zeigt, dass Egodokumente in eine fiktionale Rahmenhandlung eingebunden [›Napoleon liest Militärberichte‹] und für den kindlichen Leser zusätzlich erklärt werden (Gefahr der Sepsis bei Benutzung von Werg anstatt von medizinischem Verbandsmaterial). Entsprechend dem methodologischen Ansatz von »Naše prošloe« avanciert insbesondere die Figur Napoleons als Schlüsselfigur der Zeit zum organisierenden Zentrum der Skizzen über den »Vaterländischen Krieg«. Bereits das Vordringen der Franzosen in Russland wird im Spannungsfeld zwischen Napoleons euphorischer Begeisterung und tiefer Verzwei lung beschrieben. Auch die Schlacht von Borodino wird in charakteristischer Weise umgedeutet. Zwar wird zuvor die Vorstellung von der Schlüsselrolle der Schlacht nochmals bekrä tigt: »Теперь от этого сражения всех их [французов, K.R.] отделял только один день. Ему суждено было решить участь Москвы и самого Наполеона.« [»Nun trennte sie [die Franzosen, K.R.] nur noch ein Tag von dieser Schlacht. Sie sollte über das Schicksal von Moskau und von Napoleon selbst entscheiden.«] (Obninskij 1915b:200). Eine detaillierte Darstellung des Schlachtgeschehens bleibt jedoch aus, stattdessen widmet sich das Kapitel unter dem Titel »Borodino« (Obninskij 1915c) der Tragödie nach der Schlacht, die aus der Sicht Napoleons gezeigt wird, als dieser die Reste seiner Truppen am darau folgenden Tag mustert. Der traditionellen Heroisierung des Krieges wird die Schilderung der schweren Verluste auf beiden Seiten in der naturalistischen Weise Lev Nikolaevič Tolstojs (1828-1910) gegenübergestellt: Победа, – если это была победа, как учат нас историки, – досталась французам слишком дорогой ценой, чтоб можно было как-нибудь праздновать ее. […] [В]ойна показывала страшное лицо свое, всем одинаково суля истребление. (Obninskij 1915c:201) Für den Sieg – wenn es denn ein Sieg war, wie uns die Historiker lehren –, hatten die Franzosen einen zu hohen Preis bezahlt, als dass man ihn noch irgendwie hätte feiern können. […] Der Krieg zeigte sein schreckliches Gesicht und verhieß allen in gleicher Weise Vernichtung.

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Diese Passage erscheint gleich in mehrerer Hinsicht aufschlussreich. Der Autor stärkt zwar indirekt die traditionelle Vorstellung von der geistigen Überlegenheit der Russen, indem er den Franzosen den Sieg abspricht. Die Betonung des Muts und der Selbstaufopferung der Russen mündet jedoch nicht in die für das »napoleonische Narrativ« zentrale Idee der patriotischen Einheit von Zar und Volk. Dieser wird das »schreckliche Gesicht« des Krieges entgegengehalten, dem beide Seiten gleichermaßen ausgeliefert sind. Zugleich wird durch eine korrigierende Geste auch eine grundsätzlich kritische Haltung gegenüber der Meinung von »Historikern« vermittelt. Diese au fallende Variation des traditionellen Kriegsnarrativs und das antimilitaristische Pathos sind sicherlich auch vor dem Hintergrund des laufenden Ersten Weltkrieges zu sehen. Angesichts der vielen Opfer ist Napoleon tief bestürzt und zeigt sogar Einsicht in die Unnötigkeit des Krieges. Die Reduktion des Krieges auf seine persönlichen Ambitionen wird auch an dieser Stelle dazu genutzt, seine Entfremdung von Armee und Vaterland zu zeigen: [Bei der Behandlung der Verletzten, K.R.] Наполеон приказал не делать различия между ними и своими. С удивлением заметили тут слезы на всегда холодном и неподвижном лице императора. Все эти погибшие и пострадавшие люди, из которых многих он знал в лицо, отдали вчера свои жизни, или пролили кровь за дело, которое только его одного интересовало и которое совсем, совсем не нужно было Франции, ни семьям погибших, ни им самим. (Obninskij 1915c:202) [Bei der Behandlung von Verletzten, K.R.] befahl Napoleon, keinen Unterschied zwischen den eigenen und den fremden zu machen. Mit Erstaunen sah man Tränen auf dem sonst stets kalten und ausdruckslosen Gesicht des Imperators. All diese getöteten und verletzten Menschen, von denen er viele persönlich kannte, hatten gestern ihr Leben gegeben oder ihr Blut vergossen für eine Angelegenheit, die nur ihn persönlich interessierte und die weder Frankreich noch die Familien der Gefallenen noch diese selbst brauchten. Bei der Schilderung der weiteren Topoi der Besetzung von Moskau und der Flucht der französischen Armee aus Russland bedienen sich die Autoren von »Naše prošloe« zum einen der Fremdperspektive des Gegners, wie z.B. die Literaturwissenscha tlerin und Schri tstellerin Lina Samojlovna Nejman (1887–[1971]) in ihrer Skizze »Francuzy v Moskve« [»Die Franzosen in Moskau«] (Nejman 1915). V.P. Obninskij erteilt in seinem Beitrag »Begstvo iz Moskvy« [»Die Flucht aus Moskau«] (Obninskij 1915e) der o fiziellen Interpretation des Brandes von Moskau als freiwillige Opfertat der Stadtbewohner eine Absage und weist auf unterschiedliche objektive Ursachen hin, z.B. die bewusste Zerstörung von Hab und Gut, die Plünderung der Stadt durch Franzosen und zurückgebliebene Russen sowie den starken Wind. Zugleich spricht der Autor o fen über die Plünderungen, an denen sich sowohl die Franzosen

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als auch die Russen beteiligten, um sie aus moralischerer Sicht zu verurteilen (vgl. Obninskij 1915e:209-210). Damit werden in einer für Kinder zugänglichen Form die Facetten eines komplexen emas aufgegri fen, mit dem sich die Autoren der Historischen Kommission bereits im Jubiläumsjahr 1912 beschä tigten (z.B. Kataev 1912b, Žarinov 1912; Mel’gunov 1912b). Zum anderen rückt die Lage der russischen Bevölkerung in den Mittelpunkt. Ähnlich wie im »Lesebuch zur Geschichte der Neuzeit« (vgl. Kap. 3.2.2.) und in der 3. Au lage der »Chrestomathie« (1915) (vgl. Kap. 3.2.1.2.) werden die »Führungslosigkeit« [»безначалие«] in Moskau und die aggressive Propaganda des Moskauer Gouverneurs Rostopčin kritisiert, der durch seine Plakate zwar Hass gegen die Franzosen schürte, dabei jedoch die Gefahr durch die anrückende französische Armee verharmloste und die Evakuierung der Hauptstadt zu spät befahl (vgl. die Skizze »Opolčenie« [»Das Volksaufgebot«], Obninskij 1915d). Auch die Bildung eines Volksaufgebots durch den Moskauer Adel, die traditionell als Akt patriotischer Einheit von Zar und Volk gilt (vgl. Kap. 2.3.), wird als Inszenierung Rostopčins entlarvt. Dies lässt sich mit dem anschließenden Kapitel des Historikers Andrej Kiprianovič Kabanov (1876–[1921]) über die Auswahl der Bauern zum Volksaufgebot illustrieren (»V opolčenie vybirajut« [»Es wird zum Volksaufgebot ausgewählt«], Kabanov 1915). Der Text lässt sich als populäre Adaption von Kabanovs Beitrag aus dem Sammelband »Otečestvennaja vojna i russkoe obščestvo« betrachten (Kabanov 1912), der auf umfangreichem Archivmaterial basiert. Die im historischen Präsens gestaltete Alltagsskizze in »Naše prošloe« zeigt, wie die Gutsherren ihre Bauern teils wegen deren »Laster« [»за пороки«], teils zur Abschreckung anderer [»во страх другим«] zum Aufgebot schicken, oder auch, um kranke oder arbeitsunfähige Bauern loszuwerden. Dadurch wird die traditionelle Vorstellung vom patriotischen Aufschwung relativiert und insbesondere die Leibeigenscha t angeprangert (vgl. Kabanov 1915:206). Dennoch würdigt V.P. Obninskij den Beitrag der »ополченцы« [»Landwehrmänner«] zur Verteidigung Russlands, indem er auf deren Unterstützung der regulären russischen Armee hinweist: Плохо вооруженные и почти непригодные для боевых действий, войска эти [ополченцев, K.R.] употреблялись больше на земляные работы или для охраны перевязочных пунктов и обозов. Но и такая помощь была нелишней: […] кто знает, не будь у Кутузова под Смоленском и после него ополченцев, бородинская битва могла бы закончиться еще большим поражением русской армии. (Obninskij 1915d:205) Schlecht bewa fnet und für Kamp handlungen fast ungeeignet, wurden diese Truppen [der Landwehrmänner, K.R.] mehr zum Schanzen oder zur Bewachung von Verbandspunkten und Wagenzügen eingesetzt. Doch auch eine solche Hilfe war nicht unnötig: […] wer weiß, hätte Kutuzov bei Smolensk und danach

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kein Volksaufgebot gehabt, so hätte die Schlacht von Borodino mit einer noch größeren Niederlage der russischen Armee enden können. Eine wichtige Rolle spielt auch die Auseinandersetzung mit dem Ideologem des »Volkskrieges«. Die traditionelle Vorstellung vom allumfassenden Kampf gegen Napoleon wird z.B. dadurch dementiert, dass der »Volkskrieg« auf die Orte des unmittelbaren Kontaktes der Zivilbevölkerung mit dem Gegner reduziert wird: Раздражение против французов сказывалось только там, где они проходили, а в нетронутых войной губерниях население оставалось совершенно покойным. Поэтому и шум, поднятый дворянством в Москве, не оставил серьезного следа ни в то время, в войну 1812 года, ни в ее истории. (Obninskij 1915d:205) Der Ärger über die Franzosen zeigte sich nur dort, wo sie durchmarschierten, aber in den vom Krieg unberührten Gouvernements blieb die Bevölkerung absolut ruhig. Deswegen hinterließ der vom Adel in Moskau erhobene Lärm keine ernsthafte Spur, weder während der Zeit des Krieges von 1812 noch in seiner Geschichte. Diese Au fassung des »Volkskrieges« kann man als typisch für die Autoren der Historischen Kommission der Lehrabteilung des ORTZ betrachten, die ihre Ansichten auch in anderen Publikationen im Kontext des 100-jährigen Jubiläums artikulierten (vgl. Alekseev 1912; Knjaz’kov 1912; Dživelegov 1912). Schließlich wird die traditionelle heroisierende Darstellung des »Volkskrieges« aus psychologischer Perspektive als kollektiver A fektzustand verfremdet. Im Kapitel »Narodnaja vojna« [»Der Volkskrieg«] (Obninskij 1915f) schildert V.P. Obninskij in Anlehnung an das »Tagebuch der Partisanenkämpfe des Jahres 1812« [»Dnevnik partizanskich dejstvij 1812 goda«] des Dichters und O fiziers Denis Vasil’evič Davydov (1784-1839) (vgl. Davydov 1893:44-45) den Überfall einer Bauerntruppe auf ein französisches Soldatenlager. Die Bauern folgen einem Befehl Davydovs und erschießen die Franzosen systematisch, oder sie handeln mit Kosaken um den Preis für gefangene Soldaten (vgl. Obninskij 1915f:216-218). Damit wird nicht nur die offizielle Vorstellung von der Führungsrolle der russischen Armee bzw. der regulären Partisanentruppen problematisiert, die den Protest der Bauern von oben lenkten und sie gegen »den Franzosen« au hetzten. Obninskij spricht auch die psychische Deformation der Bauern als vom Krieg berührter Subjekte an, die bereits im Jubiläumsjahr 1912 in der Prosa von V.P. Avenarius (vgl. Kap. 5.3.2.) und I.A. Ljubič-Košurov (vgl. Kap. 5.4.2.3.) thematisiert wurde: »Но ненависть не утоляется жалостью. Только убив нескольких человек, опомнились и успокоились крестьяне.« [»Doch Hass lässt sich nicht durch Mitleid besän tigen. Erst nachdem sie einige Menschen getötet hatten, kamen die Bauern zu sich und beruhigten sich.«] (Obninskij 1915f:216). Eine prinzipielle Neuerung des Narrativs von »Naše prošloe« besteht allerdings darin, dass V.P. Obninskij die Grausamkeit der Bauern

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auf ihre mangelnde Bildung und somit explizit auf die Leibeigenscha t zurückführt: Время было тогда тяжелое. Ни грамоты настоящей, ни разумных людей по деревням почти что не было. Само крепостное право приучало всех к жестокостям, и нельзя нам было бы судить токаревских мужиков за пытки и издевательства над и без того полумертвыми французами, если б они поступили с ними, как во многих селах тогда поступали. Но тут в Токареве проснулась жалость в женщинах. Они дружно напали на старосту, советовавшего перебить пленных, и разобрали их по домам. (Obninskij 1915f:217-218) Damals war eine schwierige Zeit. In den Dörfern gab es fast keine intelligenten Menschen, die lesen und schreiben konnten. Die Leibeigenscha t lehrte alle die Grausamkeit, und wir dürfen die Bauern/mužiki aus Tokarevo nicht wegen Foltern und Misshandlungen der ohnehin schon halbtoten Franzosen verurteilen, wenn sie diese so behandelten, wie man es damals in vielen Dörfern tat. Doch nun erwachte bei den Frauen in Tokarevo Mitleid. Sie fielen gemeinsam/einig über den Dorfältesten her, der dazu geraten hatte, die Gefangenen zu töten, und nahmen sie zu sich nach Hause. Zwar wird die Vorstellung von der Grausamkeit des »Volkskrieges« charakteristischerweise durch den traditionellen Topos des Mitleids mit dem leidenden Gegner ergänzt, die hohe messianische Bedeutung dieses Topos wird jedoch durch die allgemeinmenschliche Tragödie des Krieges nivelliert, indem sowohl die Bauern als auch die wenigen geretteten Franzosen vor allem als Opfer des Krieges dargestellt werden (vgl. Obninskij 1915f:218). Die Folgen des »Vaterländischen Krieges« für die russische Gesellscha t werden ähnlich wie in der 3. Au lage der »Chrestomathie« (1915) (vgl. Kap. 3.2.1.2.) und im »Lesebuch zur Geschichte der Neuzeit« (vgl. Kap. 3.2.2.) anhand der Lage der russischen Bauern gemessen und im Ergebnis betont negativ beurteilt. Im Beitrag des russischen Historikers und Spezialisten für die Dekabristen-Zeit und das frühe 20. Jahrhundert Boris Evgen’evič Syroečkovskij (1881-1961) »Posle Otečestvennoj vojny« [»Nach dem Vaterländischen Krieg«] (Syroečkovskij 1915), der sich unter anderem an den »Notizen« des Dekabristen I.D. Jakuškin orientiert (vgl. Jakuškin 1908:7-8), wird die reaktionäre Politik der russischen Regierung nach der Kampagne 1813-1815 als Voraussetzung für die Entstehung von Geheimzirkeln und für den Dekabristenaufstand von 1825 stilisiert, wodurch eine Kontinuität der liberalen Krä te der russischen Gesellscha t betont wird. Resümee Am Beispiel des Lesebuches »Naše prošloe« lassen sich die kritische Auseinandersetzung der Autoren des ORTZ mit dem »napoleonischen Narrativ« nach dem 100-

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jährigen Jubiläum des »Vaterländischen Krieges« sowie die methodologische Weiterentwicklung der ›liberalen‹ Geschichtsinterpretation der Historischen Kommission nachverfolgen. Die Autoren halten weiterhin an den Leitdiskursen der früheren Ausgaben, wie der Kritik an der Unfreiheit der russischen Gesellscha t, der Polemik mit der Autokratie und dem antimilitaristischen Pathos, fest. Im Vergleich zur »Chrestomathie«, in der bereits vorhandene Quellen verarbeitet werden (vgl. Kap. 3.2.1.), und dem »Lesebuch zur Geschichte der Neuzeit«, das die Geschichte des Krieges von 1812 aus der wissenscha tlichen Perspektive schildert (vgl. Kap. 3.2.2.), kann man im Falle von »Naše prošloe« in mehrerer Hinsicht von einer methodologisch-didaktischen Verbesserung der Ausgabe sprechen. Diese zeigt sich nicht nur in der Verwendung eigener Materialien des Autorenkollektivs, sondern auch in der doppelten Hinwendung zum Lehrer und zum kindlichen Leser unterer Klassen. Die Hinwendung zu einer jüngeren Zielgruppe und die Verwendung von Illustrationen lassen einerseits auf eine größere suggestive Wirkung und eine breitere Popularisierung des ›liberalen‹ Narrativs schließen. Andererseits macht ein ironischer Subtext an einigen Stellen deutlich, dass sich die Autoren auch an den erwachsenen Leser richteten. Die Konzeption von »Naše prošloe« als experimentelle Ausgabe, die aus den Bedürfnissen der pädagogischen Praxis heraus entwickelt wurde, unterstreicht zudem die hohe organisatorische und methodischdidaktische Kompetenz des Historikerkollektivs, dessen Position nun auch durch die Gründung des eigenen Verlags »Zadruga« gestärkt wurde. Der zentrale methodologische Ansatz, nämlich die Aneignung der kollektiven Geschichte (›naše prošloe‹) aus der Perspektive des russischen nationalen Alltags anhand wissenscha tlich geprü ter Fakten, verdeutlicht die zentrale Strategie der Popularisierung des historischen Wissens: die Literarisierung der Geschichte. Die starke Fiktionalisierung der historischen »Skizzen« (historisches Präsens, fiktive Namen und eine abgeschlossene Handlung im Rahmen einer Episode) erlaubte es außerdem, einen Abstand zur Rhetorik der o fiziellen Historiographie zu gewinnen. Die Konstruktion der fingierten Perspektive eines Zeitgenossen oder gar einer historischen Figur, die aus historischen Dokumenten rekonstruiert und in die fiktionale Handlung der einzelnen Skizzen eingebunden wird, erinnert an die historische Prosa von V.P. Avenarius (vgl. Kap. 5.3.3.). Dieses Modell wurde nun im pädagogischen Bereich aufgegri fen, sodass eine Schnittstelle zwischen den literarischen, populärwissenscha tlichen und bildungsdidaktischen Diskursen deutlich wird. In ihrer Auseinandersetzung mit dem traditionellen »napoleonischen Narrativ« setzen die Autoren von »Naše prošloe« weiterhin auf eine polemische Umdeutung dessen zentraler Topoi und bedienen sich dabei auch der traditionellen Zuschreibungen des russischen »napoleonischen Mythos« (vgl. Kap. 1.2.). Ähnlich wie in der »Chrestomathie« erweist sich die Napoleon-Figur als hilfreich, um die Einheit von Herrscher und Volk idealtypisch zu inszenieren und diese den russi-

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schen Verhältnissen entgegenzuhalten und dann die russische Kampagne von 1812 als Napoleons allmähliche Entfremdung von seiner Armee darzustellen. Auch zeigten die Autoren große Sensibilität für Veränderungen der staatso fiziellen Kriegsinterpretation, die sie in ihrem Sinne aufgri fen und umdeuteten. Dies wird am Beispiel der Demontage des Ideologems des russischen »Volkskrieges« deutlich. Die o fizielle Anerkennung der Rolle des Volkes unter der Führung der regulären Armee im Jubiläumsjahr 1912 erlaubte es nicht nur, die o fiziellen Maßnahmen der Regierung kritisch zu hinterfragen und aus humaner Perspektive zu problematisieren, sondern auch die Aktionen der opolčency als wesentlichen Beitrag zum Sieg über Napoleon aufzuwerten. Die traditionelle Vorstellung vom »Volkskrieg« wurde dabei insbesondere durch die Betonung der negativen Folgen des Krieges für die Bauern relativiert und als A fektzustand charakterisiert. Die Rekonstruktion der personellen Zusammensetzung des Autorenkollektivs von »Naše prošloe« zeigt, wie viele Spezialistinnen und Spezialisten unterschiedlicher Ausrichtung über die Historische Kommission der Lehrabteilung des ORTZ hinaus an der Ausgabe beteiligt waren. Dies macht eine breite interdisziplinäre Vernetzung im pädagogisch-didaktischen Bereich deutlich, die einer eigenen Untersuchung wert ist. Genauso breit ist das Spektrum der verarbeiteten Quellen, das von Egodokumenten und historiographischen Werken bis zu populärwissenscha tlichen Skizzen reicht. Es handelt sich dabei um mehrstufige Adaptionen verschiedenartiger Texte, die von einer großen Kompilationsleistung der Autorinnen und Autoren zeugen. Zugleich wird deutlich, dass die Konstruktion eines einheitlichen Geschichtsnarrativs unweigerlich zur Ausblendung bestimmter Nuancen der Prätexte mit sich bringt. Somit kommt populärwissenscha tlichen Geschichtsdarstellungen eine wichtige Funktion zu, insofern sie Egodokumente der Kriegsteilnehmer und Zeitgenossen, die zuvor aufgrund von Zensurbestimmungen nicht bzw. nur unvollständig oder in Spezialzeitschri ten erscheinen konnten, zu Beginn des 20. Jahrhunderts in den Diskurs über den »Vaterländischen Krieg« auf einfacher Ebene einspeisen und somit eine Nische für die Vermittlung einer alternativen Lesart der Geschichte scha fen konnten.

3.3

Zwischenbilanz

Die Tätigkeit der Moskauer Gesellscha t für die Verbreitung des technischen Wissens lässt sich als Beispiel für eine freiwillige wissenscha tliche Vereinigung betrachten, die im Zuge der ›großen Reformen‹ der 60er Jahre des 19. Jahrhunderts aus privater Initiative entstand und sich der Popularisierung von technischem und geisteswissenscha tlichem Spezialwissen widmete. Am Beispiel der Lehrabteilung des ORTZ und ihrer Historischen Kommission kann man erkennen, dass diese Institutionen eine wichtige Rückzugsnische für liberal gesinnte Intellektuelle boten,

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die ihre pädagogische Arbeit für die Polemik mit der russischen Autokratie funktionalisierten. Zu den Dominanten ihrer ›liberalen‹ Geschichtsinterpretation gehören das allgemeine Interesse an der Lage des russischen Volkes und eine antimilitaristische Haltung. Es ist die Historikergruppe um S.P. Mel’gunov, die sich, im Gegensatz zu den älteren Spezialisten der Lehrabteilung, der russischen Geschichte des 19. und des 20. Jahrhunderts zuwendet. Bereits eine erste Bestandsaufnahme zeigt, dass diese Historiker nicht nur in den teuren Prachtausgaben wie der siebenbändigen Reihe »Otečestvennaja vojna i russkoe obščestvo«, sondern auch im pädagogischen Bereich – in zahlreichen Chrestomathien und Lesebüchern – ihre Ideen entwickeln und artikulieren konnten. Der methodologisch-didaktische Ansatz der Autoren der Historischen Kommission manifestiert sich in den einheitlichen Herausgeberprinzipien. Hierzu gehört ein multiperspektivischer wissenscha tlicher Blick auf die jeweilige historische Epoche, der durch die Heranziehung von geprü ten und ›authentischen‹ Quellen unterschiedlicher Gattungen und einen interdisziplinären Zugri f der beteiligten Spezialisten konstruiert wurde. Des Weiteren sind die intensive Nutzung bzw. Weiterentwicklung der eigenen Materialien sowie ein hoher Grad an methodologischer Re lexion zu nennen, der sich in der O fenlegung von Editions- und Au bauprinzipien der jeweiligen Ausgabe zeigte. Ein wichtiges Prinzip der kollektiven Zusammenarbeit war es auch, die Heterogenität der Ansichten der jeweiligen Autoren beizubehalten. Die Herausgeber räumten ihnen viel Freiheit für die Gestaltung des jeweiligen emas unter den oben genannten Prämissen ein. Die Autoren waren bestrebt, eine wissenscha tlich fundierte und einheitliche Vorstellung von einer Epoche bzw. vom Prozess historischer Entwicklung zu vermitteln. Sie wurde dadurch konstruiert, dass die russische Geschichte im Kontext der gesamteuropäischen verortet oder aus der Perspektive übergeordneter Leitdiskurse betrachtet wurde (z.B. ökonomische Entwicklung, die Geschichte des Mystizismus, der nationale Alltag). Auch legten die Historiker des ORTZ mit ihrem methodologischen Ansatz Grundlagen für ein diskursives Verständnis historischer Prozesse, indem sie z.B. eine kritische Haltung des Lesers zu historischen Quellen förderten und diesen auf die Subjektivität der Beobachter-Instanz aufmerksam machten. Der wissenscha tliche Ansatz ist dabei im Spannungsfeld zum popularisierenden zu sehen. Ein einheitliches Bild wurde durch die Vereinfachung der Zusammenhänge und die Literarisierung der Geschichtsdarstellung vermittelt, die sich in der Reduktion der Gründe des Krieges auf die Ambitionen der historischen Figuren sowie in der starken Fiktionalisierung der »historischen Skizzen« zeigten. Die Behandlung der Epoche des Krieges von 1812 ist vom Interesse der Autoren an der Entwicklung liberaler Ideen in der russischen Gesellscha t geprägt. Daraus ergibt sich die betont negative Bewertung des »Vaterländischen Krieges«, der als Grund für die gescheiterte Umsetzung der Reformen Speranskijs und für

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die weitere Versklavung der Bauern nach 1812 betrachtet wurde. Das Ausbleiben der versprochenen liberalen Reformen nach dem Krieg wird zur Grundlage für die Entstehung der Geheimzirkel und für den Dekabristenaufstand 1825 stilisiert, der in den Geschichtsbüchern des ORTZ zum eigentlichen Kontrapunkt des frühen 19. Jahrhunderts avanciert. In den drei exemplarisch untersuchten Publikationen der Historischen Kommission lassen sich jeweils unterschiedliche Ansätze zur Popularisierung der Epoche von 1812 erkennen. Während sich die Herausgeber der Chrestomathie »Rasskazy po russkoj istorii« (1909-1918) auf die Verarbeitung bereits publizierter Texte und eine chronologische Darstellung der russischen Geschichte konzentrieren, wird diese im »Lesebuch zur Geschichte der Neuzeit« (1910-1917) als integraler Teil der westeuropäischen Geschichte betrachtet und in Form von Autorenbeiträgen auf wissenscha tlicher Ebene aus interdisziplinärer Sicht beleuchtet. Das Lesebuch »Naše prošloe« (1913-1915) bietet dagegen eine Reihe stark literarisierter Skizzen, die sich an den Lehrer und den kindlichen Leser richten und die russische Geschichte aus der Perspektive des nationalen Alltags zeigen. Die Hinwendung zu einer jüngeren Zielgruppe und die Herausgabe des Lesebuches im eigenen Verlag »Zadruga« lassen sich als Zeichen für eine methodologische Weiterentwicklung des didaktischen Ansatzes sowie für die institutionelle Unabhängigkeit des Autorenkollektivs interpretieren. Die von vielen Rezensenten angemerkte Komplexität der Darstellung in den Ausgaben der Historischen Kommission deutet darauf hin, dass die sich Autoren neben dem kindlichen Leser in einem größeren Maße als zugegeben auch an den erwachsenen Leser richteten. Mit ihren pädagogischen Werken im Jubiläumsjahr 1912 legten die Historiker des ORTZ eine alternative Interpretation des »Vaterländischen Krieges« vor, die den Weg zu einer kritischen Hinterfragung des traditionellen »napoleonischen Narrativs« erö fnete. Dabei lassen sich mehrere Strategien erkennen. Zum einen setzen die Autoren auf eine rational-wissenscha tliche Hinterfragung des historischen Narrativs, indem sie dem Leser die Vorstellung vom konstruktivistischen Charakter von Geschichtsdarstellungen vermitteln und eine alternative Sichtweise auf die bekannten Kriegsereignisse anhand neu eingeführter Fakten und Quellen bieten. Zentral ist dabei ein multiperspektivischer Blick auf die Geschichte, der auch mehrere Lesarten nahelegt. Dieser zeigt sich z.B. im bemerkenswerten Perspektivenwechsel bei der Schilderung des besetzten Moskau, das aus der Perspektive der französischen Armee und Napoleons gezeigt wird, oder im Verzicht auf traditionelle Bezeichnungen wie ›Vaterländischer Krieg‹, wodurch der Heroisierung des Krieges entgegengewirkt wird. Bei ihrer Polemik mit der staatso fiziellen Kriegsinterpretation bedienen sich die Autoren der traditionellen Vorstellungen des »napoleonischen Mythos« (vgl. Kap. 1.2.), der als Rezeptionskonstante fungiert und als solcher nicht direkt in Frage gestellt wird. Dies lässt sich anhand der Funktionalisierung der Napoleon-Figur

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erkennen, die stets als Kontrastfolie zum russischen Zaren Aleksandr I. fungiert. Die heroische Linie des »napoleonischen Mythos« und die mythischen Eigenschaften Napoleons als beliebter und erfolgreicher Feldherr und Träger der Freiheitsideale der Französischen Revolution werden bei der Schilderung der Invasion der Grande Armée in Russland und des Marsches auf Moskau dazu genutzt, die Einheit zwischen Herrscher und Volk als ‒ von Aleksandr nicht erfülltes ‒ Ideal gesellscha tlicher Ordnung zu inszenieren und dadurch das Ausbleiben der liberalen Reformen und die Leibeigenscha t in Russland anzuprangern. Zugleich legen die Autoren nahe, dass gerade die ebenfalls für den Mythos konstitutiven ambitionierten Eroberungspläne Napoleons und sein fatalistischer Glaube an den Sieg ihn daran hinderten, in Moskau rationale Entscheidungen zu tre fen und den Abzug seiner Armee rechtzeitig in die Wege zu leiten. Somit wird die tragische Linie des »napoleonischen Mythos«, die mit der Besetzung von Moskau und dem Abzug der französischen Armee aus Russland verbunden ist, in der ›liberalen‹ Geschichtsinterpretation der Autoren des ORTZ dazu funktionalisiert, die allmähliche Entfremdung Napoleons von seiner Armee und seinem Volk zu demonstrieren. Die polemische Auseinandersetzung der Autoren der Historischen Kommission mit der staatso fiziellen Kriegsinterpretation lässt sich auch anhand der Demontage des Ideologems vom »Volkskrieg« veranschaulichen. Dabei greifen sie die im Jubiläumsjahr o fiziell anerkannte Rolle des Volkes im Krieg von 1812 unter der Führung der regulären Armee zwar auf, liefern jedoch dafür eine alternative Begründung, indem sie den Akzent auf die Ine fizienz der Maßnahmen der Regierung verschieben und die systematische Vernichtung der Franzosen durch Partisanen- und Bauerntruppen als A fektzustand kennzeichnen. Das russische Volk avanciert nicht dank, sondern trotz der (ungenügenden) Maßnahmen der Regierung und der Beschwernisse des Volksaufgebots zum eigentlichen Helden des »Vaterländischen Krieges«. Damit bejahen die Historiker des ORTZ scheinbar das traditionelle »napoleonische Narrativ«, liefern dafür jedoch eine alternative Begründung. Eine weitere Strategie der Demontage des traditionellen Geschichtsnarrativs wird schließlich durch die Argumentation S.P. Mel’gunovs nahegelegt, der im expressiven Stil eines politischen Pamphlets die zentralen Ideologeme des »napoleonischen Narrativs« wie die göttliche Auserwähltheit des russischen Volkes und dessen untrennbare Einheit mit dem Zaren zwar direkt artikuliert, sie aber durch eine hyperbolische O fenlegung ihrer Logik zugleich ad absurdum führt. Trotz der eindrucksvoll vermittelten Vorstellung von der allgemeinmenschlichen Tragik des Krieges und der Demontage von Ideologemen kann man erkennen, dass die ›liberale‹ Geschichtsinterpretation der Autoren des ORTZ auch zur Aktualisierung und Festschreibung der traditionellen Stereotype, z.B. der Charaktereigenscha ten Napoleons, führt. Auch die für die Autoren des ORTZ als Ideal geltende Vorstellung von der Einheit der Interessen von Herrscher und Volk appel-

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liert im Grunde an das traditionelle ›Szenario der Macht‹ Aleksandrs I., nur stellen die Autoren des ORTZ die Interessen des Volkes in den Mittelpunkt bzw. sie bestreiten, dass Aleksandr diesem Ideal gerecht wurde. Somit lässt sich die Wirkung dieser Texte im Spannungsfeld zwischen Subversion und A firmation des o fiziellen Kriegsnarrativs beschreiben.

4 Der »Vaterländische Krieg« in der russischen historischen Prosa des 19. Jahrhunderts

Literarische Verarbeitungen der Epoche von 1812 lassen sich als ein Leitmedium der Tradierung der Erinnerung an den »Vaterländischen Krieg« in Russland betrachten. Gerade aufgrund der Schlüsselrolle der russischen schöngeistigen Literatur, verschiedene Diskurse zu integrieren und eine Polemik gegen die staatso fizielle Geschichtsinterpretation zu ermöglichen (vgl. Parthé 2004:4), kann die russische historische Prosa als wichtiger Ort der diskursiven Aushandlung des Bildes der Epoche von 1812 gelten. Erste literarische Werke entstehen bereits während des Krieges, allerdings unterliegen sie einer strengen Zensur und werden vom Staat ideologisch vereinnahmt (vgl. Sivkov 1912; Sidorov 1912a, 1912c; Stroganov 2012). Es handelt sich dabei überwiegend um lyrische Werke, die sich stark aus der Tradition des 18. Jahrhunderts speisen (vgl. Lejbov 1996; Stroganov 2012). Ein Beispiel dafür liefert die von Nikolaj Michajlovič Kugušev (1777–nach 1825) 1814 zusammengestellte zweibändige Textsammlung »Sobranie stichotvorenij, otnosjaščichsja k nezabvennomu 1812 godu« [»Sammlung von Gedichten zum unvergesslichen Jahr 1812«] (Ajzikova/Kiselev/Nikonova 2015), die gerade in den letzten Jahren neu herausgegeben und kommentiert wurde (vgl. Ajzikova/Kiselev/Nikonova 2015; Stroganov 2012; Anisimov 2017). Die Formung der literarischen Tradition geht mit der Herausbildung eines visuellen Kanons des Krieges von 1812 einher. Signifikant ist dabei der Zusammenschluss von Bild und Text, z.B. in der russischen Karikatur (vgl. Kuz’minskij 1912; Vereščagin 1912; Norris 2006; Stroganov 2012) oder im russischen lubok [Holzschnittdruck] (vgl. Kudelina 2003; Norris 2006; Višlenkova 2005, 2011). Diese hybriden Medien transportieren bereits bipolare Zuschreibungen an die NapoleonFigur, wie sie für den »napoleonischen Mythos« wichtig werden (vgl. Kap. 1.2.), und formen eine visuelle Beschreibungssprache des »Russentums«, in der die Russen als stark und übermächtig, die Französen hingegen als lächerlich und schwach dargestellt werden (vgl. Višlenkova 2005, 2011). In diesem Zusammenhang sind auch propagandistische Texte zu sehen wie die Plakate [russ. ›afiši‹] des Moskauer Gouverneurs Fedor Vasil’evič Rostopčin (1763-1826), in denen er die Franzosen karnevalisiert und dämonisiert und die russische Bevölkerung zur Vernichtung des

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Gegners aufru t (vgl. Mel’gunov 1912b, 1912c; Mendel’son 1912; Wortman 1995:220; Norris 2006:32-33; Stroganov 2012:131-174). Eine erste umfassende Betrachtung der literarischen und visuellen Verarbeitungen der Jahre 1812-14 wurde im Jubiläumsjahr 1912 von den liberal orientierten Wissenscha tlern des ORTZ im Sammelband »Otečestvennaja vojna i russkoe obščestvo« [»Der Vaterländische Krieg und die russische Gesellscha t«] vorgelegt (vgl. Kap. 3.1.). Dieses Material stellte für die Autoren einen wichtigen Bezugspunkt dar, anhand dessen sie mit der staatso fiziellen Kriegsinterpretation polemisierten (vgl. Kap. 5.2.). Die ersten epischen Verarbeitungen des Krieges von 1812 entstehen in den 30er Jahren des 19. Jahrhunderts. Sie sind von der visuellen Rhetorik der lubok-Bilder geprägt und stützen sich auf die bereits etablierte lyrische Tradition. In dieser Zeit wird das Gedenken an den Krieg durch die o fizielle Historiographie, z.B. das Werk des Militärhistorikers Aleksandr Ivanovič Michajlovskij-Danilevskij (1789-1848), die Maßnahmen der Memorialisierung (z.B. Schlachtfeld von Borodino, Christ-Erlöser-Kathedrale) und die ö fentliche Gedenkkultur in Form von staatlichen Jubiläen ideologisch vereinnahmt (vgl. Kap. 2.1.). Bedingt durch den polnischen Aufstand 1830-31 und die darau folgende Reaktion, zeigt die Prosa der 30er Jahre eine starke ›patriotische‹ Tendenz. Historische Ereignisse in den Werken Michail Nikolaevič Zagoskins (1789-1852) oder Rafail Michajlovič Zotovs (1795-1871) dienen vor allem dazu, die Konstanz der positiven Eigenscha ten der russischen Menschen im Sinne von Sergej Semenovič Uvarovs (1786-1855) nationalem Modell ›pravoslavie – samoderžavie – narodnost‹ [›Orthodoxie – Autokratie – Volk‹] und im Unterschied zum Gegner Frankreich zu demonstrieren (vgl. Tartakovskij 1980:193-194; 199-203; Wortman 1995:379; Soročan 2012:262-268). Mit der Hinwendung der russischen Literatur zu sozialen Problemen der Gegenwart lässt das Interesse für die historische Prosa und die Epoche von 1812 in den 40er – 60er Jahren des 19. Jahrhunderts nach (vgl. Tartakovskij 1980:226). Die ematik des »Vaterländischen Krieges« wird erst wieder Ende der 60er Jahre vor dem Hintergrund des Krimkriegs und der ›großen Reformen‹ in Lev Nikolaevič Tolstojs (1828-1910) monumentalem Text »Vojna i mir« [»Krieg und Frieden«] (1868/69) aktualisiert, der von den Kritikern zu einem Höhepunkt der russischen historischen Prosa erklärt wurde und die Vorstellung vom Krieg von 1812 nicht nur in Russland nachhaltig prägte (vgl. McPeak/Orwin 2012). In den 80er – 90er Jahren folgte eine zweite Welle der historischen Prosa (z.B. Grigorij Petrovič Danilevskij (1829-1890), Dmitrij Savvatievič Dmitriev (1848-1915), Daniil Lukič Mordovcev (1830-1905) u.a.), die sich mit der Ästhetik von Tolstojs »Vojna i mir« künstlerisch auseinandersetzt bzw. diese adaptiert und vereinfacht. Der folgende Überblick über die literarischen Diskurse der russischen historischen Prosa im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts soll als Basis für eine Ana-

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lyse der literarischen Werke im Jubiläumsjahr 1912 dienen.1 Es stellt sich die Frage, welche Formen der Repräsentation der Erinnerung an den »Vaterländischen Krieg« die realistische Tradition der russischen historischen Prosa im 19. Jahrhundert bot und mit welchen Mitteln Authentizitätsfiktionen erzeugt wurden. Die literarische Verarbeitung der Epoche von 1812 wird anhand der unterschiedlichen Verhältnisse von ›Fakt‹ und ›Fiktion‹ untersucht. Dabei werden unter ›Fakten‹ die als faktual geltenden Ereignisse des »napoleonischen Narrativs« und unter ›Fiktion‹ die Gesamtheit literarischer Sujets und Motive verstanden, mithilfe derer der historische Sto f ausgestaltet wird. Damit lässt sich nicht nur die weitere Tradierung der staatso fiziellen Kriegsinterpretation auf der inhaltlichen Ebene verfolgen, auch die Strategien von deren Verbreitung bzw. Popularisierung können näher beleuchtet werden. Dabei soll die Logik der literarischen Repräsentation historischer Ereignisse herausgearbeitet werden, die auf eine a firmative und/oder subversive Aktualisierung des »napoleonischen Narrativs« schließen lässt. Mit diesem Ansatz kann nicht nur an die westliche Forschung angeknüp t werden, die sich mit der »Narrativierung der Geschichte« [»plotting history«] in der russischen historischen Prosa beschä tigt und dabei auch die Prozesse der Kanonbildung in den Blick nimmt (vgl. Ungurianu 2007). Auch in der russischen Literaturwissenscha t etabliert sich zunehmend ein konstruktivistischer Ansatz, der über das stadiale Klassenmodell der sowjetischen Literaturwissenscha t (z.B. Petrov 1984) hinausgeht. Zunehmend werden die Genese der Gattung des historischen Romans beleuchtet (vgl. Malkina 2001) sowie die Autoren der ›zweiten Reihe‹ untersucht (vgl. Veršinina 1997; Kazanceva 2007, 2011; Soročan 2008, 2012; Penskaja 2012; Špilevaja/Bachmet’eva/Bezrukova 2017). Die konstruktivistische Vorstellung von den verschiedenen Formen der Repräsentation der Geschichte in literarischen Texten erlaubt es, von den Funktionen und »Tendenzen« der literarischen Geschichtsdarstellung zu sprechen und die »historische Belletristik« als einen »Metatext« einer Epoche zu begreifen (vgl. Nikul’šina 2010). Allerdings wird die russische Forschung noch in großem Maße durch dualistische Modelle geprägt. Das von A.Ju. Soročan entwickelte heuristische Modell, das die ›Klassiker‹ und die ›Belletristen‹ in eine Beziehung zueinander setzt, bedient sich der traditionellen Polarisierung der ›hohen‹ und ›niederen‹ Literatur und schreibt – trotz aller Relativierung – eine negative Wertung an »belletristische« Texte zugleich fest: Беллетрист – человек »печатного слова«, он мыслит литературными формулами, уже готовыми, раз и навсегда данными. Это могут быть формулы жанровые, сюжетные, языковые, но для беллетриста их существование не подвер1

Erste Impulse zur Systematisierung der russischen historischen Prosa über den »Vaterländischen Krieg« kamen aus dem pädagogischen Bereich (siehe Mez’er 1902:94-95). In der heutigen Forschung sind die wichtigsten Primärwerke z.B. bei Rebekkini 1998 und Ungurianu 2007 aufgeführt.

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жено сомнению. Беллетристические произведения могут быть разными по качеству, по целевой аудитории, по эстетическим установкам, но они основаны на использовании формул. А классические – нет. Это не хорошо и не плохо – подобные критерии вряд ли следует использовать в научном обиходе. Беллетрист мыслит формулами, классик их создает. (Soročan 2008:371-372) Ein Belletrist ist ein Mensch des »gedruckten Wortes«, er denkt in literarischen Formeln, die bereits fertig und ein für allemal gegeben sind. Dies können Gattungs-, Sujet- oder Sprachformeln sein, doch ihre Existenz steht für den Belletristen außer Zweifel. Belletristische Werke können sich in ihrer Qualität, Zielgruppe und ihren ästhetischen Einstellungen unterscheiden, aber sie basieren auf der Nutzung von Formeln. Klassische Werke hingegen – nicht. Dies ist weder gut noch schlecht – solche Kategorien sollte man in der wissenscha tlichen Praxis nicht benutzen. Der Belletrist denkt in Formeln, der Klassiker erscha t sie. Die Literaturwissenscha tlerin E.N. Penskaja formuliert die wichtige ese vom synthetischen Charakter des historischen Romans, der zugleich gerade aufgrund seiner Kurzlebigkeit (vgl. Ungurianu 2007:4) programmatisch von den ›Klassikern‹ wie L.N. Tolstoj abgegrenzt wird: Исторический роман подготовил классику, а затем, разобрав ее на отдельные составляющие, адаптировал для массового употребления […]. Исторический роман выполнил и важную »санитарную« функцию, впитывая, перерабатывая устаревшие, отжившие формы, при этом олитературивая историю и журналистику, адаптируя их для домашнего, »комнатного«, индивидуального потребления. Может быть, за счет своей универсальности данный жанр обречен умирать и возвращаться каждый раз на сломе времен. (Penskaja 2012:474) Der historische Roman bereitete die Klassik vor und adaptierte sie dann für den Massengebrauch, indem er sie in ihre einzelnen Bestandteile zerlegte […]. Der historische Roman erfüllte auch eine wichtige »Reinigungsfunktion«, indem er veraltete und überlebte Formen aufnahm und verarbeitete und dabei Geschichte und Journalistik literarisierte und diese für eine individuelle häusliche »Zimmerlektüre« adaptierte. Es kann sein, dass diese Gattung aufgrund ihrer Universalität dazu bestimmt ist, abzusterben und jedes Mal an der Bruchstelle der Epochen wiederzukehren. Die folgende Analyse der russischen historischen Prosa anhand der Verbreitung des »napoleonischen Narrativs« soll unter anderem auch als Versuch betrachtet werden, diesem traditionellen Dualismus entgegenzuwirken und die populärliterarischen Verarbeitungen der Epoche von 1812 aus funktionaler Perspektive aufzuwerten.

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Anhand des Romans »Roslavlev, ili Russkie v 1812 godu« [»Roslavlev, oder Die Russen im Jahr 1812«] (1831) wird zunächst gezeigt, wie M.N. Zagoskin in Anlehnung an Walter Scott (1771-1832) einen Text vorgelegt hat, dem eine patriotische und ideologisch konforme Interpretation des »Vaterländischen Krieges« zugrunde gelegt wurde. Am Beispiel der »künstlerischen Rezension« Aleksandr Sergeevič Puškins (1799-1837) auf Zagoskins »Roslavlev…« lässt sich veranschaulichen, wie dessen tendenziöse Darstellung entsprechend Puškins Forderung nach einer Synthese von ›Fakt‹ und ›Fiktion‹ modifiziert wurde. Dabei wird auch der Prozess der Bildung des russischen literarischen Kanons in den Blick genommen, da Puškin – nicht zuletzt vor dem Hintergrund der Romane von Zagoskin – zum Meister der russischen historischen Prosa stilisiert wurde und als solcher auch noch für die Kritiker im Jubiläumsjahr 1912 galt (Kap. 4.1.). Ein weiteres Modell des Verhältnisses von ›Fakt‹ und ›Fiktion‹ basiert auf der Trennung der ›historischen‹ und der ›literarischen‹ Linie, die sich im Text regelmäßig abwechseln. Das didaktische Potenzial dieses Modells, das bereits in den 30er Jahren des 19. Jahrhunderts in den Romanen von R.M. Zotov zu finden ist, wird am Beispiel eines »Boulevardromans« von D.S. Dmitriev aus den 80er Jahren veranschaulicht (Kap. 4.2.). Als Sonderfall der russischen historischen Prosa lässt sich der monumentale Text von L.N. Tolstoj »Vojna i mir« [»Krieg und Frieden«] (1868/69) betrachten, der die Tradition der literarischen Darstellung des »Vaterländischen Krieges« nachhaltig geprägt hat und bis heute prägt (Kap. 4.3.). Einerseits folgt Tolstoj den Prinzipien Puškins, indem er sich um eine aufwändige Integration der literarisch-fiktionalen Geschehnisse in den historischen Kontext bemüht. Andererseits liefert er eine betont subjektive Interpretation des »Vaterländischen Krieges«, die aufgrund ihrer künstlerischen Polyvalenz nicht ohne weiteres auf die strikte Logik des traditionellen »napoleonischen Narrativs« zu reduzieren war. Eine neue Welle der russischen historischen Prosa in den 80er – 90er Jahren des 19. Jahrhunderts lässt sich als eine Vereinfachung von Tolstojs Ästhetik im Medium der ›historischen Belletristik‹ beschreiben. Ein Beispiel der Auseinandersetzung mit der Tradition von »Vojna i mir« stellt der Roman von G.P. Danilevskij »Sožžennaja Moskva« [»Das verbrannte Moskau«] (1886) dar (Kap. 4.4.). Ein weiteres Beispiel der Adaption von Tolstojs Ästhetik liefern die Romane von D.L. Mordovcev (Kap. 4.5.). Gegen Ende des 19. Jahrhunderts zeigt sich eine Literarisierung der Geschichtsdarstellung, bei der die russische Geschichte als Quelle einer allgemeinmenschlichen Erfahrung erscheint und somit zur Projektions läche für Unterhaltung, Bildung und intellektuelles Spiel mit dem Leser wird. Die Grenze zwischen ›Fakt‹ und ›Fiktion‹ wird dabei beinahe aufgehoben bzw. bleibt nur für einen entsprechend gebildeten Leser sichtbar. Als Beispiel dafür kann Mordovcevs Roman »Dvenadcatyj god« [»Das Jahr 1812«] (1880) gelten.

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Zur Synthese von ›Fakt‹ und ›Fiktion‹ im historischen Roman: M.N. Zagoskin und A.S. Puškin

Als zentral für die Verarbeitung der ematik des »Vaterländischen Krieges« ist eine realistische Tradition der russischen historischen Prosa zu betrachten, die auf eine Synthese der ›historischen‹ und der ›literarischen‹ Linie abzielt und sich in Russland unter dem Ein luss des schottischen Schri tstellers Walter Scott (17711832) geformt hat.2 Für die Ästhetik von Walter Scott war sein Historismus maßgeblich, d.h. die Vorstellung, dass sich das Verhalten der Charaktere aus deren historischer Entwicklung ableiten lässt. Das Prinzip des Historismus setzte eine Synthese zwischen ›Fakt‹ und ›Fiktion‹ voraus: Im Vordergrund stehen bei Scott meist fiktive Protagonisten, die o t als Mittlerfiguren zwischen zwei Lagern fungieren und nicht in Kontakt mit den historischen Figuren kommen, welche meist im Hintergrund handeln (vgl. Al’tšuller 1996:11-28; Ungurianu 2007:15). Scotts Interesse am Alltag vergangener Epochen und sein Bestreben, das Leben aller sozialen Schichten zu erfassen, erö fneten für die russischen Autoren einen Weg zur Aufwertung der nationalen Geschichte. Auch der Schri tsteller und Dramatiker Michail Nikolaevič Zagoskin (1789-1852), der als einer der Begründer des russischen historischen Romans gilt, setzte sich intensiv mit der Ästhetik Walter Scotts auseinander (vgl. Al’tšuller 1996:65-107; Šochina 2010; Kopylov 2011). Sein erster Roman »Jurij Miloslavskij, ili Russkie v 1612 godu« [»Jurij Miloslavskij, oder Die Russen im Jahr 1612«] (1830) wurde von den Zeitgenossen mit großer Begeisterung aufgenommen. Darauf folgte sein zweiter Roman »Roslavlev, ili Russkie v 1812 godu« [»Roslavlev, oder Die Russen im Jahr 1812«] (1831), der sich den Ereignissen der napoleonischen Kriege widmet. Im Mittelpunkt von »Roslavlev…« steht der gleichnamige russische adlige O fizier, dessen Verlobte Polina sich in den gefangenen französischen O fizier Senikur [Sénicour] verliebt und diesen am Tag der Schlacht von Borodino heimlich heiratet. Im Weiteren besteht die Handlung im Wesentlichen darin, Polina für ihren »Verrat« zu bestrafen. Sie folgt ihrem Mann bis nach Danzig, Sénicour wird getötet, Polina verliert ihr Kind und wird schließlich durch ein russisches Geschoss getötet. Die Fabel macht deutlich, dass sich Zagoskins Roman durch eine stark o fiziöse Tendenz auszeichnet. Wie bereits die Untertitel seiner beiden Romane andeuten, dienen historische Ereignisse bei ihm vor allem dazu, die Konstanz der positiven nationalen Eigenscha ten der Russen im Sinne von Uvarovs nationalem Modell ›Orthodoxie – Autokratie – Volk‹ über zwei Jahrhunderte hinweg zu de-

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Ausführlich zur Rezeption von Walter Scott in Russland siehe Al’tšuller 1996; Ungurianu 2007:14-21; Penskaja 2012:425-429. Außerdem wurde dieser Aspekt im Scha fen A.S. Puškins (vgl. Levkovič 1969) und M.N. Zagoskins (vgl. Šochina 2010) intensiv untersucht.

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monstrieren.3 Somit werden die Prinzipien des Historismus im Sinne von Walter Scott in den Dienst einer einheitlichen und ideologisch konformen Geschichtsdarstellung gestellt (vgl. Levkovič 1969:178; Soročan 2008:40; Kopylov 2011:43). Unter diesen Prämissen erö fnete die historische Prosa dem Autor von »Roslavlev…« den Raum für einen freien Umgang mit historischen Fakten. Im Vorwort zu seinem Roman betonte Zagoskin den Unterschied zwischen dem historischen Roman und der Historiographie und verteidigte sein Recht auf »Erfindung« [»выдумка«] (Zagoskin 1902a:3; vgl. Kopylov 2011:43; vgl. Levkovič 1969:178-179; Soročan 2012:271). Allerdings führte die ideologische Funktionalisierung der Geschichtsdarstellung zur übertriebenen Didaktisierung des Erzählens sowie zu gezwungenen, realitätsfernen Wendungen der Handlung, was bereits von den zeitgenössischen Kritikern zu den Mängeln des Romans gezählt wurde (vgl. Filippova 1962:55; Dmitrieva 1993:4546; Al’tšuller 1996:90, 93; Ungurianu 2007:69-70). Die historische Prosa Zagoskins stellte einen wichtigen Bezugspunkt für Aleksandr Sergeevič Puškin (1799-1837) dar. In seiner Rezension auf den ersten Roman Zagoskins, »Jurij Miloslavskij…«, formulierte Puškin sein eigenes idealtypisches Prinzip des historischen Romans: Die »Romangeschichte« soll sich »ohne Gewalt in den Rahmen eines historischen Ereignisses einfügen lassen.« [vgl. »Романическое происшествие без насилия входит в раму обширнейшую происшествия исторического.«] (Puškin 1978a:73; vgl. Levkovič 1969:178). Dieser Ansatz, der eine aufwändige künstlerische Synthese der beiden Linien voraussetzt, lässt sich anhand des kurzen Textfragments »Roslavlev« (1831, publ. 1836) (Puškin 1978b) veranschaulichen, mit dem Puškin auf Zagoskins Roman über das Jahr 1812 reagierte. Puškin stilisiert seinen Text zu den »Notizen« einer Bekannten von Polina, die als »Beschützerin« ihres »Schattens« [»защитниц[а] тени«] (Puškin 1978b:132) auftritt und die Darstellung Zagoskins korrigieren will (vgl. Oksman 1931; Gruškin 1941:323-325; Filippova 1962:56; Dmitrieva 1993:47-48; Lejbov 1996:85-88; Al’tšuller 1996:92-96). Der komplexe Au bau von Puškins Textfragment dient nicht zuletzt der Herstellung einer Authentizitätsfiktion, wobei sich seine Vorgehensweise von der Zagoskins unterscheidet. Wie bereits erwähnt, beruht Zagoskins Darstellung vor allem auf dem Postulat der vermeintlich unveränderlichen nationalen Eigenschaften der Russen, das an sich schon eine historisch korrekte Schilderung garantieren soll. Auch versucht Zagoskin, die Authentizität seines Werks mit objektiven Mitteln zu begründen, indem er im Vorwort zu seinem Roman angibt, dass er auf einer wahren Geschichte basiere (vgl. Zagoskin 1902a:3). Tatsächlich gab es in der zeitgenössischen Presse Berichte über Ehen zwischen russischen Adelstöchtern und französischen Gefangenen (vgl. Gukovskij 1939; Tomaševskij 1978:525), jedoch lässt 3

Zur ›nationalen Idee‹ in »Roslavlev…« siehe ausführlich Oksman 1931:318; Gruškin 1941:323324; Levkovič 1969:178-179; Ebbinghaus 2004:386-387; Soročan 2008:38-40; Kopylov 2011:4143; Soročan 2012:262-265; Penskaja 2012:439-445.

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der mitunter abenteuerlich anmutende Charakter des Sujets von Zagoskins Roman einen begründeten Zweifel an der Authentizität der Geschichte au kommen (vgl. Filippova 1952:55). Puškin dagegen bedient sich mehrerer Strategien, die sich als intensive künstlerische Auseinandersetzung mit dem historischen Material und mit dem Prätext Zagoskins beschreiben lassen. Puškin verfasst seinen Text 1831, verö fentlicht ihn aber erst 1836 anonym im 3. Band der Zeitschri t »Sovremennik« [»Der Zeitgenosse«] unter dem Titel »Otryvok iz neizdannych zapisok damy (1811 [sic!] god)« [»Ein Auszug aus unverö fentlichten Notizen einer Dame (1811)«] mit dem Vermerk »S francuzskogo« [»Aus dem Französischen«] (vgl. Filippova 1962:56; Dmitrieva 1993:44-45; Ebbinghaus 2004:385-386). Das vorgezogene Datum im Titel (»1811 god«) lässt sich dabei als Teil einer Dokument-Fiktion betrachten (vgl. Ebbinghaus 2004:385), die dem Text Grundzüge einer Memoirenquelle verleiht, ebenso wie der Umstand, dass Puškin sein Textfragment zusammen mit anderen Materialien über das Jahr 1812 im »Sovremennik« publiziert (vgl. Dmitrieva 1993:50). Die Gattung der »Notizen« signalisiert, dass o fenbar keine Weiterentwicklung des Textes zu einem historischen Roman beabsichtigt war.4 Damit partizipiert Puškin nicht nur am traditionell hohen Authentizitätszuspruch an Egodokumente (vgl. Kap. 5.3.3.2. und 6.1.), sondern führt mit der Figur der Bekannten Polinas eine weitere Beobachtungs- und Erzählinstanz in die von Zagoskin übernommene Personenkonstellation ein, was zur Entstehung eines »mehrschichtigen historischen Bildes« [»многомерн[ая] историческ[ая] картин[а]«] beiträgt (vgl. Pticyna 2010:12). Aufschlussreich ist auch die Art und Weise, wie Puškins Ich-Erzählerin auf Zagoskins Polina Bezug nimmt: »г. Загоскин назвал ее Полиною, оставлю ей это имя.« [»Herr Zagoskin nannte sie Polina, ich lasse ihr diesen Namen.«] (Puškin 1978b:132). Es handelt sich um eine traditionsreiche narrative Verfremdungsstrategie (vgl. Ljamina/Ospovat 2014), »die beim Leser eine wichtige Illusion hinterlässt: Wäre der richtige Name der Heldin genannt worden, hätten wir es mit einer unanfechtbaren ›dokumentarischen‹ Quelle zu tun gehabt, die volles Vertrauen verdient.« [vgl. »У читателя остается важная иллюзия: если б настоящее имя героини было названо, то перед нами был бы непререкаемо ›документальный‹ источник, заслуживающий полного доверия.«] (Listov 2009:10). Dieses literarische Spiel macht deutlich, dass Puškin die Authentizität seines Textfragments im Wesentlichen dadurch begründet, dass er auch Zagoskins Darstellung nachträglich authentisiert (vgl. Ebbinghaus 2004:386; Listov 2009:10-11). Ziel dieser Strategie ist es, sein Pathos der Korrektur von Zagoskins Geschichte erst zu legitimieren und dadurch seine eigene Fiktion zur letztlich ›wahren‹ historischen 4

Zur Frage der Abgeschlossenheit von Puškins Text siehe ausführlich Oksman 1931; Filippova 1962:57-59; Dmitrieva 1993:48-51; Abramovskich 1999:62-63; Ebbinghaus 2004:385; Zaslavskij 2006:264; Pticyna 2010:12.

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Begebenheit zu stilisieren. Der Literaturwissenscha tler Roman Lejbov fasst es wie folgt zusammen: Мистификация Пушкина переключает статус романа Загоскина из фикционного в исторический (на что отчасти претендовал и сам автор »Рославлева« [d.i. Zagoskin, K.R.]), пушкинский же отрывок, будучи метафикцией, претендует на статус подлинной истории. (Lejbov 1996:85) Die Mystifikation von Puškin schaltet den fiktionalen Status von Zagoskins Roman in den historischen um (was der Autor von »Roslavlev…« [d.i. Zagoskin, K.R.] zum Teil auch selbst beanspruchte). Dagegen beansprucht Puškins Textfragment, das selbst eine Meta-Fiktion ist, den Status einer wahren Geschichte. Mit dem Literaturwissenscha tler Andreas Ebbinghaus lässt sich annehmen, dass Puškin mit seiner Mystifikation durchaus Erfolg hatte: »Die (fiktive) Authentizität des Anliegens der Erzählerin ist wohl so überzeugend, daß man Puškin ein ursprüngliches Interesse an einer ›gerechten‹ Darstellung der Figur der Polina unterstellt hat.« (Ebbinghaus 2004:386). Das Pathos der Korrektur der in »Roslavlev…« geschilderten Ereignisse erö fnet Puškin den Weg zu einer umfassenden Umgestaltung der angeblich »wahren Geschichte« von Zagoskin. Sein Textfragment lässt sich als ein gesättigtes Konzept betrachten, das zentrale emen und Topoi der russischen Prosa über den »Vaterländischen Krieg« vorwegnimmt und zusammenfügt. Die prinzipielle Neuerung kann man darin erkennen, dass Puškin den »Vaterländischen Krieg« direkt in den Kreis der zentralen russischen Identitätsdiskurse einschreibt. Die Geschichte der Epoche von 1812 und vor allem die prototypische Situation der Konfrontation Russlands mit dem kulturellen Vorbild und dem westlichen Gegner Frankreich dienen als Anlass dazu, über die Entwicklung der russischen Sprache und Literatur (vgl. Gruškin 1941:325), über die Reaktion der russischen Adelsgesellscha t auf den Krieg sowie über soziale Hierarchien und die Rolle der Frau zu re lektieren. Dabei grei t Puškin auf den Fundus seiner eigenen Notizen über den Alltag des russischen Adels des frühen 19. Jahrhunderts, auf Fragmente aus dem Versroman »Evgenij Onegin« (1823-1831) sowie auf seine Briefe zurück, was von einem neuen Niveau der künstlerischen Auseinandersetzung mit dem historischen Material zeugt (vgl. Oksman 1931; Dmitrieva 1993:48-49). Puškin übernimmt die Personenkonstellation von Zagoskins »Roslavlev…«, gestaltet aber die Geschichte neu. Im Mittelpunkt seines Textes steht Polina, die im Gegensatz zur passiven und sentimentalen Heldin Zagoskins5 als eine europäisch gebildete und politisch engagierte Patriotin eingeführt wird (vgl. Gruškin 1941:328, 5

Die Literaturwissenscha tlerin Natalija Akimova macht darauf aufmerksam, dass Zagoskin mit der Figur Polinas unter anderem Puškins Ol’ga aus »Evgenij Onegin« »rehabilitiert« habe

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332-333; Filippova 1962:57; Dmitrieva 1993:45). Polina prangert den ober lächlichen Patriotismus des russischen Adels an, der in seinem Wesen weiterhin frankophil bleibt, während des Krieges jedoch alles Französische demonstrativ ablehnt. Durch das neu hinzugefügte Moment ihrer Begegnung mit der historischen Figur Madame de Staëls in Moskau wird das traditionelle russische Frauenbild problematisiert (vgl. Dmitrieva 1993:50-53). Auf den Einwand der Erzählerin, dass sich die Frauen in den Krieg nicht einmischen sollten, verteidigt Polina ihr Recht, Patriotin zu sein, und appelliert dabei an die Figuren von Marfa-posadnica, Fürstin Daškova und Charlotte Corday: Глаза ее засверкали. »Стыдись, – сказала она, – разве женщины не имеют отечества? разве нет у них отцов, братьев, мужьев? Разве кровь русская для нас чужда? Или ты полагаешь, что мы рождены для того только, чтоб нас на бале вертели в экосезах, а дома заставляли вышивать по канве собачек? Нет, я знаю, какое влияние женщина может иметь на мнение общественное или даже на сердце хоть одного человека. Я не признаю уничижения, к которому присуждают нас.« (Puškin 1978b:137) Ihre Augen blitzten auf. »Schäme dich«, sagte sie, »haben Frauen denn kein Vaterland? keine Väter, Brüder, Ehemänner? Ist das russische Blut uns denn fremd? Oder denkst du, wir kommen auf diese Welt nur, damit man uns auf den Bällen in Ecossaisen dreht und damit wir zu Hause dazu gezwungen werden, Hündchen auf den Kanevas zu sticken? Nein, ich weiß, welchen Ein luss die Frau auf die Gesellscha t oder auch auf das Herz eines einzelnen Menschen haben kann. Ich akzeptiere die Erniedrigung nicht, zu der man uns verurteilt.« Im Gegensatz zu Zagoskin, der Polina bestra t, weil sie sich in den Feind verliebt hat, und somit den Kon likt vor allem auf der ideologischen Ebene im Rahmen eines vereinfachten Paradigmas ›gute Russen vs. schlechte Franzosen‹ verortet, macht Puškin das in der historischen Kollision angelegte psychologische Potenzial produktiv. Er macht den Leser auch auf das persönliche Drama der Helden vor dem Hintergrund des »Vaterländischen Krieges« aufmerksam, der das persönliche Glück der Protagonisten verhindert. Bezeichnenderweise ist es gerade der Franzose Sinécour,6 der Polina im Gegensatz zu den Moskauer Adligen als gleich Gebilde-

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und dass Puškins Antwort auf Zagoskins »Roslavlev…« auch im Kontext einer künstlerischen Polemik um die Frauenfiguren in »Evgenij Onegin« zu sehen sei (vgl. Akimova 2012:16-19). Bei Zagoskin trägt der Franzose den Namen Sénicour [Senikur]. Man kann das für einen Tippfehler von Puškin halten, zumal er sich explizit auf die Namen aus »Roslavlev…« beru t (vgl. Gruškin 1941:334; Filippova 1962:56, Fn. 9; Arndt 1983:512; Dmitrieva 1993:47-48; Ebbinghaus 2004:387, Fn. 10). Die Variation des Namens lässt sich aber auch als künstlerisches Spiel mit dem Original betrachten. Sinécour wird von Puškin mithilfe eines ähnlichen narrativen Kunstgri fs wie Polina eingeführt (siehe oben, vgl. Puškin 1978b:139), und die ›ungenaue‹

4 Der »Vaterländische Krieg« in der russischen historischen Prosa des 19. Jahrhunderts

ter zur Seite steht und ihr eine nüchterne Einschätzung der Kriegsereignisse bieten kann (vgl. Gruškin 1941:334-335; Filippova 1962:58; Pticyna 2010:12). Die angedeutete Sympathie zwischen den beiden kann sich bei Puškin jedoch nie entfalten, weil das persönliche Glück für Polina in der Kriegssituation unmöglich erscheint (vgl. Puškin 1978b:140-141; Filippova 1962:56). Die traditionelle Gegenüberstellung des ›aufgeklärten Frankreichs‹ gegenüber dem ›barbarischen Russland‹ wird von Puškin anhand des Brandes von Moskau thematisiert. Während Sinécour den Brand von Moskau dem »ужасное, варварское великодушие« [»entsetzliche, barbarische Großmut«] der Russen zuschreibt und die Niederlage Napoleons klar voraussieht (vgl. Puškin 1978b:141), erkennt Polina darin eine aufopfernde Heldentat, durch die sich die Russen erst als Nation definieren und woraus sie ihre geistige Überlegenheit ableiten können. Bezeichnenderweise geht die Aufwertung des weiblichen Patriotismus mit der Aufwertung des russischen Volkes einher, die Puškin in einem Schlussmonolog Polinas im Rückgri f auf die bekannte lubok-Figur Ivan Ivanovič Terebenevs (17801815) »Russkij Scevola« [»Der russische Scaevola«] (1812) (vgl. Višlenkova 2011:184; Norris 2006:22; Kap. 6.1.) und auf die Opferung Moskaus inszeniert: »Неужели […] Синекур прав и пожар Москвы наших рук дело? Если так… О, мне можно гордиться именем россиянки! Вселенная изумится великой жертве! Теперь и падение наше мне не страшно, честь наша спасена; никогда Европа не осмелится уже бороться с народом, который рубит сам себе руки и жжет свою столицу.« (Puškin 1978b:157) »Hat Sinécour etwa Recht und der Brand von Moskau ist unserer Hände Werk? Wenn das so ist… Oh, dann kann ich auf den Namen der Russin stolz sein! Das Universum wird über das große Opfer staunen! Nun habe ich auch keine Angst mehr vor unserem Fall, unsere Ehre ist gerettet; Europa wird nie mehr wagen, mit einem Volk zu kämpfen, das sich selbst die Hände abhackt und seine Hauptstadt in Brand setzt.« Auch wenn Puškins Kritik am ober lächlichen Patriotismus der höheren Gesellscha tsschichten und an der einschlägigen Propaganda der russischen Regierung, die die Bauern gegen Napoleon »au hetzte« (vgl. Puškin 1978b:136), in den 30er Jahren des 19. Jahrhunderts, als sich die staatso fizielle Interpretation des »Vaterländischen Krieges« erst etablierte, besonders provokativ gewirkt haben muss, ist die ese der sowjetischen Literaturwissenscha t von der »stärksten Subversion der o fiziösen Legende über das Jahr 1812 in der russischen Literatur« [»сильнейшее в русской литературе […] разрушение официозной легенды о двенадцаWiedergabe des Namens kann als Imitation der Tradierung einer historischen Quelle betrachtet werden (vgl. Dmitrieva 1993:53).

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Napoleon und der »Vaterländische Krieg« in Russland

том годе«] (Gruškin 1941:337) zu relativieren. Laut dem Literaturwissenscha tler Mark Al’tšuller vertrat Puškin in den 30er Jahren eine ähnlich konservativ-bewahrende Position wie Zagoskin und polemisierte mit diesem vor allem »auf der literarischen Ebene«, indem er zeigen wollte, wie sich Polinas »aufrichtiger Patriotismus« ganz in der Tradition von Walter Scott mit einem »leidenscha tlichen Gefühl für einen würdigen Mann« vereinen könnte (vgl. Al’tšuller 1996:95). Die Ambivalenz von Puškins Textfragment lässt sich im Hinblick auf die weitere Tradierung der Erinnerung an den »Vaterländischen Krieg« veranschaulichen. Einerseits legt Puškin die ideologische Funktionalisierung der Geschichtsdarstellung in Zagoskins »Roslavlev…« o fen, indem er in seinem Text eine größere Verbundenheit von ›Fakt‹ und ›Fiktion‹ anstrebt und sich insbesondere um die Inszenierung von dessen Authentizität bemüht. Dabei lässt sich sein Fragment durchaus als eine künstlerisch artikulierte Kritik am o fiziösen nationalen Modell Uvarovs lesen. Durch seine intensive Auseinandersetzung mit Zagoskins Prätext, die auf mehreren Ebenen stattfindet (z.B. intertextuelle Bezüge, Strategien der Authentisierung und Verarbeitung historischen Materials, inhaltliche Polemik), deutet Puškin den Weg einer künstlerischen Synthese von ›Fakt‹ und ›Fiktion‹ an und legt dadurch den Schematismus einer ideologisierten Darstellung o fen. Doch andererseits stiftet und festigt Puškin andere Ideologeme, die sich für die weitere Entwicklung des »napoleonischen Narrativs« als produktiv erweisen. Er begründet die Schlüsselrolle des Krieges von 1812 für das russische nationale Bewusstsein, indem er diesen in den Kreis der zentralen russischen Identitätsdiskurse um den Patriotismus, die russische Literatur und die russische Frau einbettet. Auch stützt er die Logik der staatso fiziellen Kriegsinterpretation, die gerade aus der scheinbaren Niederlage Russlands die Vorstellung von seiner geistig-moralischen Überlegenheit und nationalen Würde entwickelt. Außerdem deutet Puškin einen Weg zur Aufwertung des russischen Volkes an, die im Jubiläumsjahr 1912 zu einem zentralen Element der o fiziellen Kriegsinterpretation wurde (vgl. Kap. 2.3.). Als produktiv für die weitere literarische Rezeption des »Vaterländischen Krieges« erwies sich auch die Gestalt der Heldin Polina, die von den Kritikern gelobt wurde (vgl. Skabičevskij 1903:357; Vengerov 1919) und deren Charakterzüge später in die Figuren von P’er Bezuchov in L.N. Tolstojs »Vojna i mir« (vgl. Filippova 1962:57) und Avrova Kramalina in G.P. Danilevskijs »Sožžennaja Moskva« [»Das verbrannte Moskau«] (1886) ein lossen (vgl. Kap. 4.4.). Puškins künstlerische Auseinandersetzung mit Zagoskins »Roslavlev…« ist auch im Kontext der Herausbildung des russischen literarischen Kanons zu sehen. In den literaturkritischen Debatten des 19. Jahrhunderts und insbesondere in der sowjetischen Literaturwissenscha t avancierten die Romane Zagoskins zu jener Kontrastfolie, vor deren Hintergrund Puškin mit seinen Texten »Arap Petra Velikogo« [»Der Mohr Peters des Großen«] (1830), »Istorija Pugačevskogo bunta« [»Die Geschichte des Pugačev-Aufstandes«] (1834) und insbesondere »Kapitanskaja doč-

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ka« [»Die Hauptmannstochter«] (1836) zum Überwinder des o fiziösen Patriotismus Zagoskins und zum Meister der russischen historischen Prosa stilisiert wurde (vgl. Štejn 1902:7-8; Pokrovskij 1913:126; Gruškin 1941:336-337; Levkovič 1969:194-195; Soročan 2008:172-173, 186; Špilevaja/Bachmet’eva/Bezrukova 2017). Trotz der Kritik an Zagoskins Prosa kann man davon ausgehen, dass er in seiner Rolle als Vermittler der Ästhetik von Walter Scott breit rezipiert wurde. Dabei erwies sich seine ›patriotische‹ Interpretation des »Vaterländischen Krieges«, die die Konstanz der positiven nationalen Eigenscha ten der Russen betonte und dementsprechend die Darstellung historischer Fakten anpasste, für die weitere Tradierung des »napoleonischen Narrativs« als besonders produktiv (vgl. Soročan 2012:266). Zagoskins Roman »Roslavlev…« wurde zu Beginn des 20. Jahrhunderts zum 90. Jahrestag des »Vaterländischen Krieges« 1902 und im Jubiläumsjahr 1912 in Moskau und Sankt Petersburg nachgedruckt (Zagoskin 1902a, 1902b, 1912) und diente auch als Vorlage für eaterstücke, z.B. »Vokrug pylajuščej Moskvy. Dramatičeskie sceny 1812 goda« [»Um das brennende Moskau herum. Dramatische Szenen des Jahres 1812«] vom Staatsmann und Publizisten Aleksandr Nikolaevič Mosolov (1844-1904) (Mosolov 1900). Der künstlerischen Lau bahn des Schri tstellers wurde um die Jahrhundertwende in einer Reihe biographischer Skizzen gedacht (Kruglyj 1889; Štejn 1902; Vasin 1914).

4.2

Die Trennung von ›Fakt‹ und ›Fiktion‹: R.M. Zotov und D.S. Dmitriev

Die Entwicklung der russischen historischen Prosa nach Puškin lässt erkennen, dass seine Forderung nach einer aufwändigen Synthese von ›Fakt‹ und ›Fiktion‹ vor allem eine idealtypische Vorstellung war, die in der Praxis nur schwer umzusetzen war. Dies hatte zur Folge, dass entweder die ›Romangeschichte‹ oder der ›historische Rahmen‹ entsprechend angepasst wurden (vgl. Soročan 2008:30, 186). Die »Verabsolutierung des jeweils einen Gliedes« in der historischen Prosa von Puškins Nachfolgern führte laut dem Literaturwissenscha tler A.Ju. Soročan dazu, dass sich die ›Geschichte‹ »entweder in eine Aufzählung von Fakten oder in eine ebensolche protokollartige Aufzählung von Begebenheiten [d.h. fiktionaler Romanereignisse, K.R.] verwandelte.« [vgl. »[…] [П]озднейшая история этой репрезентационной техники свидетельствует, что абсолютизируется одно из начальных звеньев; история обращается либо в перечисление фактов, либо в такое же протокольное исчисление случаев.«] (Soročan 2008:364; vgl. Soročan 2012:288). In diesem Zusammenhang ist ein weiterer Typ des Verhältnisses von ›Fakt‹ und ›Fiktion‹ zu nennen, der auf Alexander Dumas den Älteren (1802-1870) zurückgeht. Der »unabhängige Wert des historischen Faktes« drückt sich hier laut A.Ju. Soročan darin aus, dass »historische und literarische Kapitel einander in regelmäßiger Folge abwechseln.« [vgl. »[…] [Н]езависимая ценность историческо-

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го факта представлена в особой форме: романические главы в правильном порядке чередуются с историческими […].«] (Soročan 2008:363, vgl. 160; vgl. Vinogradov 1959:547-548). Diese Tradition zeigte sich bereits in den 30er Jahren des 19. Jahrhunderts in einer Reihe von Romanen des russischen Schri tstellers und Kriegsteilnehmers Rafail Michajlovič Zotov (1795-1871).7 Sie lässt sich zum Teil auch in Tolstojs »Vojna i mir« nachverfolgen, bei dem man trotz der aufwändigen Synthese ›historische‹, ›literarische‹ und ›philosophische‹ Kapitel unterscheiden kann (vgl. Soročan 2008:191-192; Kap. 4.3.). Aufschlussreich erscheint die Wiederbelebung dieser Tradition bei den Autoren der 90er Jahre des 19. Jahrhunderts, die sich mit der Ästhetik von »Vojna i mir« auseinandersetzten (vgl. Pokrovskij 1913:129). Gerade vor dem Hintergrund von Tolstojs monumentalem Text erwies sich die charakteristische Trennung der ›literarischen‹ und der ›historischen‹ Linie als hilfreich, um das Narrativ über den Krieg von 1812 in seiner Chronologie und Faktizität zu aktualisieren und es mithilfe der literarischen Verarbeitung dem einfachen Leser in unterhaltsamer Form zu vermitteln. Ein Beispiel dafür stellt das Werk des russischen Schri tstellers und Dramatikers Dmitrij Savvatievič Dmitriev (1848-1915) dar.8 Neben zahlreichen historischen Erzählungen und Romanen schrieb Dmitriev auch eaterstücke für das Volkstheater [russ. ›narodnyj teatr‹] und gründete eine private Lesebibliothek für Arme (vgl. Rejtblat 2009:124). Der ematik der napoleonischen Kriege widmen sich vor allem zwei seiner Texte: »Russkie orly. Istoričeskaja povestʼ iz ėpochi 1812, 1813 i 1814 godov« [»Die russischen Adler. Eine historische Erzählung aus der Epoche der Jahre 1812, 1813 und 1814«] (Dmitriev 1891, Nachdruck 1901) und »Dva imperatora. Istoričeskaja povestʼ iz ėpochi sraženij imperatora Aleksandra I s Napoleonom I« [»Zwei Imperatoren. Eine historische Erzählung aus der Epoche der Kriege des Imperators Aleksandr I. mit Napoleon I.«] (Dmitriev 1896). Obwohl die historischen Werke von Dmitriev als »Boulevardromane« galten (vgl. Pokrovskij 1913:129; Doroševič 1915), kann man davon ausgehen, dass es gerade die Fülle von historischen Fakten und die Schilderung zahlreicher historischer Figuren waren, die das Interesse des einfachen Lesers an der russischen nationalen Geschichte bedienten und zugleich deren gewünschte o fizielle Interpretation vermittelten (vgl. Rejtblat/Čudakov 1992:122).

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Zu Biographie und Werk Zotovs siehe Karpov 1992; Al’tšuller 1996:193-205; Soročan 2008:160172. Der Thematik des »Vaterländischen Krieges« sind z.B. seine folgenden Werke gewidmet: »Leonid, ili Nekotorye čerty iz žizni Napoleona« [»Leonid, oder einige Züge aus dem Leben Napoleons«] (1832; 3 1837; 4 1881); »Dva brata, ili Moskva v 1812 godu« [»Zwei Brüder, oder Moskau im Jahr 1812«] (1852; 2 1857); »Dve sestry, ili Smolensk v 1812 godu« [»Zwei Schwestern, oder Smolensk im Jahr 1812«] (1860). Siehe auch Grunskij 1898:298, Fn. 7. Zu Biographie und Werk Dmitrievs siehe Doroševič 1915; Rejtblat/Čudakov 1992; Rejtblat 2009:124-125.

4 Der »Vaterländische Krieg« in der russischen historischen Prosa des 19. Jahrhunderts

Die Verarbeitung des »Vaterländischen Krieges« bei Dmitriev lässt sich anhand seines Romans »Dva imperatora« (Dmitriev 1896) illustrieren. Die Handlung erstreckt sich über die Jahre 1805-1814 und endet mit einem Ausblick mit dem Tod Aleksandrs I. im Jahr 1825. Die ›historische‹ Linie des Narrativs wird mithilfe der gekennzeichneten Zitate aus den Werken des o fiziellen Historikers Aleksandr Ivanovič Michajlovskij-Danilevskij (1789-1848), aus dem erstmals 1839 erschienenen und mehrfach aufgelegten o fiziellen Geschichtslehrbuch des Historikers Nikolaj Gavrilovič Ustrjalov (1805-1870) »Načertanie russkoj istorii, dlja učebnych zavedenij« [»Entwurf der russischen Geschichte, für Lehranstalten«] (Ustrjalov 1839) sowie aus dem populären Lesebuch des Schri tstellers und Pädagogen Sergej Michajlovič Ljubeckij (1808/1809-1881) »Rasskazy iz Otečestvennoj vojny 1812 goda« [»Erzählungen aus dem Vaterländischen Krieg des Jahres 1812«] (vgl. Ljubeckij 1880) konstruiert. Dieses historiographische Narrativ bietet eine chronologische Schilderung des Krieges, die mit Manifesten, statistischen Informationen sowie Dialogen der historischen Persönlichkeiten illustriert wird. Hierin zeigt sich die Konsolidierungsfunktion der von Dmitriev gewählten Erzählform, die es ihm erlaubte, verschiedenartige historiographische und populärwissenscha tliche Texte über den »Vaterländischen Krieg« im Medium des historischen Romans zu integrieren. Die Auswahl der Quellen zeigt, dass die Darstellung der napoleonischen Kriege ganz der staatso fiziellen Interpretation folgt. Im Rückgri f auf die Korrespondenz Aleksandrs I. wird dessen ›Szenario der Macht‹ rekonstruiert, das auf zwei idealtypischen und einander bedingenden esen basiert: »Народ меня любит […].« – »Я посвящу […] всю жизнь на счастье моего народа!« [»Mein Volk liebt mich […].« – »Ich werde […] mein ganzes Leben dem Glück meines Volkes widmen!« (Dmitriev 1994:160-1619 ). Der Kampf der beiden Imperatoren Aleksandr und Napoleon, der als ein metaphysischer Kampf zwischen Gut und Böse dargestellt wird, bildet einen globalen Rahmen, in dem sich die ›literarische‹ Linie des Romans entfaltet. Im Mittelpunkt steht die Familie eines alten Generals aus Suvorovs Armee, Fürst Vladimir Ivanovič Garin und seiner beiden Söhne Sergej und Nikolaj, die an den napoleonischen Kriegen teilnehmen. Die ›Romangeschichte‹ in »Dva imperatora« wird mit traditionellen Motiven der russischen Literatur ausgestattet, wobei das Motiv der durch den Krieg bzw. den sozialen Stand verhinderten Liebe eine zentrale Rolle spielt. Die literarische Handlung weist dabei keinen zwingenden Zusammenhang mit dem Kriegsgeschehen auf und wird lediglich über die Schlachtszenen integriert, an denen die Protagonisten teilnehmen, oder dient als Motivationsgrund für die Bewegung der Protagonisten im Raum sowie für deren Begegnung und Trennung. Das Prinzip des regelmäßigen Wechsels der ›historischen‹ und ›literarischen‹ Kapitel wird fast konsequent durchgehalten, wobei die fiktionalen Helden nur selten mit 9

Im Weiteren beziehen sich die Seitenangaben in Klammern auf diese Ausgabe, K.R.

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den historischen Figuren in Berührung kommen. Eine Ausnahme bildet die Figur von Nadežda Durova, die aufgrund ihres außergewöhnlichen Status als eine ›Frau im männlichen Anzug‹ und der Umstände ihrer Biographie, z.B. ihres Tre fens mit Aleksandr I., zwischen den historischen und den rein fiktionalen Helden steht. Dmitriev nimmt die intensive Nutzung des Motivs der sozialen Hierarchie vorweg, die in den Werken von Vasilij Petrovič Avenarius (1839-1923) und Ioasaf Arianovič Ljubič-Košurov (1872-1937) eine wichtige sujetbildende Rolle spielt und eine Identifikationsgrundlage für den einfachen Leser bietet (vgl. Kap. 5.3.3.3., 5.3.3.4. und 5.4.3.2.). Dies fällt umso mehr auf, als alle russischen Helden in Dmitrievs Text – ähnlich wie in Zagoskins »Roslavlev…« – als Patrioten dargestellt werden und ständig patriotische Parolen von sich geben. Eine zentrale Rolle spielen dabei der Mut und die Tapferkeit jedes einzelnen Kämpfers. Dies wird in den Worten des alten Garin gleich zu Beginn des Textes artikuliert, der somit eine Kontinuität zur ›ruhmreichen Epoche‹ von Suvorov herstellt: »В битве не думай о смерти, у воина могут быть одни помыслы – о победе.« [»Denke in einem Kampf nicht an den Tod, ein Krieger kann nur einen Gedanken haben – an den Sieg.«] (25). Der Tod wird also ganz im Sinne des traditionellen »napoleonischen Narrativs« durch die Heldentat im Krieg ausgeblendet. Neben der Liebe zu Zar und Vaterland manifestiert sich die gesellscha tliche und soziale Ordnung bei Dmitriev im adeligen Stand und in einer intakten und standesgemäßen Familie. Nicht zufällig wird Napoleon in »Dva imperatora« meist als »Emporkömmling« [»выскочка«] und illegitimer Herrscher beschimp t (24). Dabei wird die Welt der Adligen scharf von den niederen Ständen getrennt. Die soziale Hierarchie zeigt sich insbesondere am Beispiel der beiden Söhne von Fürst Garin. Während Sergej als sein leiblicher Sohn alle Privilegien eines Adligen genießt, wird Nikolaj Cyganov [< ›cygan‹, ›Zigeuner‹], der in der Familie des Fürsten als »elternloser P legesohn« [russ. ugs./pejorativ »безродный приемыш«] (157) aufwächst, sowohl um den Stand als auch um die elterliche Liebe gebracht. Nikolaj verliebt sich leidenscha tlich in Sergejs Schwester Sof’ja, die jedoch seine Liebe als nicht standesgemäß ablehnt, was ihn umso mehr seine Minderwertigkeit spüren lässt. Der Krieg führt zur Überschreitung bzw. Neuordnung der traditionellen Hierarchien im Leben der beiden Brüder. Sergej wird in der Schlacht von Austerlitz verwundet und von der Tochter eines österreichischen Lehrers Anna gerettet, in die er sich verliebt und die er zu heiraten beabsichtigt. Seine Eltern sind jedoch gegen die unstandesgemäße Ehe und haben für ihn bereits eine passende Partie, eine Tochter des Gouverneurs von Kostroma, gefunden. Als Anna davon durch Nikolaj erfährt, der sich dadurch an seinem Bruder rächt, macht sie sich auf den Weg von Petersburg zurück nach Österreich, erkrankt dabei und stirbt. Tief bestürzt lehnt Sergej die Heiratspartie seiner Eltern nochmals ab und fährt ins Ausland. 1812 kehrt er jedoch nach Russland und in die russische Armee zurück, nimmt an

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der Schlacht von Borodino teil, wird dabei verwundet und danach von der Tochter des Gouverneurs auf dem Gut der Eltern lange gep legt. Schließlich verliebt sich Sergej doch in sie und heiratet sie nach Ende des Krieges. Bezeichnenderweise endet die Sujetlinie von Sergej mit der Wiederherstellung der durch den Krieg gestörten monarchistischen und der traditionellen adligen Familienordnung, die den Sieg Russlands über Napoleon unterstreicht. Viel spannender erscheint die Geschichte von Sergejs Bruder Nikolaj. Der Militärdienst erö fnet ihm die Möglichkeit eines sozialen Aufstiegs. Er wird als Held von Austerlitz gefeiert und scheidet nach einer Verwundung im Rang eines Fähnrichs aus der Armee aus. Dennoch führt das ständige Bewusstsein seiner sozialen Minderwertigkeit zur moralischen Deformation seiner Persönlichkeit. Nikolaj betrachtet seine als traumatisch empfundene niedere Herkun t als das einzige Hindernis zum persönlichen Glück, das er in der Erfüllung seiner Liebe zu Sof’ja sieht. Dies verleitet ihn dazu, Sof’ja zu entführen und im Wald zu verstecken, um ihre Liebe zu erzwingen. Sie wird in einer Waldhütte von der Alten Syčicha [»starucha Syčicha« < ›syč‹, dt. ›Kauz‹] festgehalten, die als Sammeltypus des russischen Bauern betrachtet werden kann, bei dem sich Leichtgläubigkeit mit Findigkeit und Sinn für Gerechtigkeit vermischt. Zunächst hil t die Alte, die nach dem Tod ihres Ehemanns allein im Wald lebt, Nikolaj, weil er ihr Geld gibt; doch als sie erfährt, dass Sof’ja die Tochter des Fürsten ist, hil t sie ihr nicht nur, Nikolaj zu täuschen und aus dem Wald zu liehen, sondern unterstellt sich sofort reumütig der obersten Autorität, dem alten Fürsten Garin. Voller Wut über die Flucht Sof’jas steckt Nikolaj das Haus der Alten in Brand. Diese Episode lässt sich außerdem als eine Allegorie auf die Einnahme Moskaus durch Napoleon lesen, die das historische Ereignis dem Leser in einfacher Form erklärt, wobei Nikolaj hier zur Karikatur auf den »Emporkömmling« Napoleon wird. Der weitere Verlauf der Handlung zeigt, dass Nikolaj gerade für diese willkürliche Überschreitung der traditionellen Hierarchien bestra t wird. Obwohl er gegen Ende des Romans herausfindet, dass er doch ein leiblicher Sohn des Fürsten Garin und somit adlig ist, und seine Mutter, eine von Fürst Garin verführte ehemalige Hofarbeiterin, wiederfindet und dabei eine geistige Läuterung erlebt, bleiben ihm das persönliche Liebes- und Familienglück sowie die Integration in die traditionelle Adelsgesellscha t verwehrt. Die soziale Hierarchie wird dadurch wiederhergestellt, dass Nikolaj als Partisanenführer an der Seite von Denis Davydov am Krieg von 1812 teilnimmt, im besetzten Moskau ums Leben kommt und somit nur in seiner einzig anerkannten und unbestreitbaren Rolle als »Held von Austerlitz« in Erinnerung bleibt. Dass der außerordentliche Status des Kriegshelden eine Überschreitung der traditionellen Ordnung legitimieren kann, zeigt die Nebenlinie von Nadežda Durova, die als Aleksandr Durov an der Seite von Sergejs Kamerad Zarnickij kämp t. Das Geheimnis um ihr Geschlecht wird für den Leser gleich nach ihrer Einführung gelü tet und im Lauf der Handlung kaum thematisiert. Der Ausbruch aus der pa-

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triarchalischen Welt und die signifikante Überschreitung der Genderrolle werden bei Durova vollständig durch ihren Mut und ihre Tapferkeit auf dem Schlachtfeld kompensiert. Dies wird auch vom Befehlshaber Bennigsen bestätigt, der in einem fiktiven Dialog zu Durov sagt, für ihn zähle nur, dass jener ein Held sei (vgl. 146). Der Geschichte Durovas ist auch eines der ›historischen‹ Kapitel gewidmet (vgl. 170-173), in dem Dmitriev die biographische Skizze der Schri tstellerin und Literaturwissenscha tlerin Ekaterina Stepanovna Nekrasova (1842-1905) verarbeitet (vgl. Nekrasova 1890). Der unbestreitbare Status von Durova als Kriegsheld(in) erlaubt es Dmitriev, sogar die wahren Details ihrer Biographie wie die unglückliche und gescheiterte Ehe und die Geburt eines Sohnes o fen zu thematisieren, ohne zu fürchten, dass sie das von Durova in ihren »Notizen…« konstruierte Selbstbild unterminieren würden (vgl. Savkina 2002:212; zur literarischen Verarbeitung der historischen Figur N.A. Durovas vgl. auch Kap. 4.5.). Trotz der scheinbaren Anspruchslosigkeit von Dmitrievs »Boulevardromanen« kommt gerade diesen Texten eine wichtige Rolle bei der Aktualisierung und Fortführung der ematik des »Vaterländischen Krieges« in der russischen historischen Prosa nach L.N. Tolstojs »Vojna i mir« zu (vgl. Kap. 4.3.). Der Verzicht auf eine aufwändige Zusammenfügung des ›historischen Rahmens‹ mit der ›Romangeschichte‹ zugunsten zweier getrennter narrativer Ebenen erlaubte es, Tolstojs subjektive Geschichtsinterpretation zu überwinden und die staatso fizielle Interpretation der napoleonischen Kriege – insbesondere durch die Aktualisierung älterer historiographischer und pädagogischer Werke – zu übernehmen. Gleichzeitig bedingt die Trennung der beiden Linien die relative O fenheit des Narrativs, die es gerade aus didaktischer Sicht ermöglichte, eine Fülle von Fakten und historischen Personen zu erfassen und Binnengeschichten wie die von Nadežda Durova zu integrieren. Der Ein luss dieses Modells lässt sich in der Literatur des Jubiläumsjahres 1912 insbesondere im Werk von V.P. Avenarius nachverfolgen, der sich einer Tagebuchperspektive bedient (vgl. Kap. 5.3.2.). Die ›Romangeschichte‹ dient in Dmitrievs Prosa vor allem als Vorwand dafür, die Ereignisse der russischen nationalen Geschichte zu erzählen bzw. diese für den einfachen Leser attraktiv und unterhaltsam zu machen. Eine wichtige Rolle spielen dabei die Motive der herrschenden gesellscha tlichen Ordnung und der sozialen Hierarchie. Eine weitere Funktion der ›literarischen‹ Linie besteht in der originellen Parallelisierung von historischen Kollisionen, die dem Leser die komplexe Logik historischer Ereignisse in allegorischer Form erklärt. Das Sujet lässt sich nämlich als Wiederherstellung der durch den Krieg gestörten monarchistischen und der traditionellen Familienordnung der russischen Adelsgesellscha t interpretieren und unterstreicht somit den moralisch-geistigen Sieg Aleksandrs I. über Napoleon.

4 Der »Vaterländische Krieg« in der russischen historischen Prosa des 19. Jahrhunderts

4.3

Subjektiver Blick auf die nationale Epopöe: L.N. Tolstojs »Vojna i mir«

Eine Sonderstellung in der russischen Prosa des 19. Jahrhunderts nimmt Lev Nikolaevič Tolstojs (1828-1910) monumentaler Text »Vojna i mir« [»Krieg und Frieden«] (1868/69) ein. Er entstand in der Zeit, als das staatso fizielle Gedenken des »Vaterländischen Krieges« ausblieb, und trug somit maßgeblich zur Aktualisierung und Weitertradierung der Erinnerung an die Epoche von 1812 im Medium der schöngeistigen Literatur bei. Die Entstehung von »Vojna i mir« ist vor dem Hintergrund des verlorenen Krimkrieges sowie der Reformen der 60er Jahre zu sehen. Tolstoj stützte sich auf die Tradition der russischen historischen Prosa und integrierte die Erfahrung seiner Vorgänger, insbesondere M.N. Zagoskins und R.M. Zotovs (vgl. Ungurianu 2007:102-109; vgl. Kap. 4.2.). Eine wichtige Rolle spielte auch das wiedererwachende Interesse für Historiographie (vgl. Ungurianu 1995:210-212; Ungurianu 2007:125-126). Beim Verfassen von »Vojna i mir« betrieb Tolstoj umfassende Studien der historischen Quellen (vgl. Rubinštejn 1911:79; Pokrovskij 1912a:116; Ungurianu 2012:36-41), sodass sein Text unter Zeitgenossen auch als militärhistorische Abhandlung gelesen (vgl. Pokrovskij 1913:127; Ungurianu 1995:239; Lieven 2012:13) und als solche intensiv diskutiert wurde (vgl. Norov 1868; Vitmer 1869; Dragomirov 1895). Eine Gattungszuordnung erweist sich nicht zuletzt aufgrund des großen Umfangs des Textes als schwierig. »Vojna i mir« lässt sich im weitesten Sinne als eine »Synthese von Poesie, Geschichte und Philosophie« [»синтез поэзии, истории и философии«] (Kareev 1888:2, 6) begreifen (vgl. Skabičevskij 1903:164; Ungurianu 1995:214). Anhand der Geschichte von fünf Familien entwir t Tolstoj ein breites Panorama des russischen gesellscha tlichen Lebens in der Zeit von 1805 bis 1813. Die grundlegende Gegenüberstellung von Privatem und Kollektivem/Gesellscha tlichem wird nicht zuletzt durch die Anlehnung an die Gattung der Familienchronik inszeniert, die es ermöglicht, den Ein luss des Krieges auf den Menschen sowohl auf der individuell-psychologischen Ebene – im Mikrokosmos der Familie – als auch auf der Makroebene – im gesellscha tspolitischen und philosophischen Kontext – zu zeigen. Wie der Literaturwissenscha tler A.Ju. Soročan es betont, wird der »›Lauf des Lebens‹ in den Schicksalen der von Tolstoj dargestellten Protagonisten, die Re lexion darüber – in den ›philosophischen‹ Kapiteln gezeigt. Dazwischen stehen die historischen Kapitel, die Material für eine Philosophie des Zufalls liefern.« Die »Berührung mit der Geschichte« erfolgt dabei »nicht im Autorentext, sondern im Bewusstsein des Helden.« (Soročan 2008:191-192). Einerseits folgt Tolstoj der Tradition Puškins, indem er eine aufwändige Zusammenfügung der ›historischen‹, ›literarischen‹ und ›philosophischen‹ Kapitel anstrebt. Trotz der sichtbaren Grenzen zwischen den einzelnen Elementen weisen sie einen hohen Grad an Integration auf und werden eng aneinander angepasst (vgl. Pokrovskij 1912a:120; Pokrovskij

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1913:127). Eine signifikante Neuerung besteht andererseits darin, dass ›Fakt‹ und ›Fiktion‹ in »Vojna i mir« vor allem durch Tolstojs subjektive (philosophische und ethisch-moralische) Ansichten aufeinander bezogen und zusammengehalten werden.10 Bereits die zeitgenössischen Kritiker erkannten hinter der »mechanischen Einheit« [»механическое целое«] der ›historischen‹, ›literarischen‹ und ›philosophischen‹ Kapitel in »Vojna i mir« eine »innere Einheit« [»единство внутреннее«] (Kareev 1888:3), die sich in Tolstojs konsequenter Dialektik der Verwobenheit von Menschen und ›Geschichte‹ zeigt (vgl. Kareev 1888:6, 60; Rubinštejn 1911:79-80; Lazerson 1910:3-4). Somit lässt sich »Vojna i mir« als »künstlerische Illustration« [»художественн[ая] иллюстрац[ия]«] von Tolstojs Au fassung der ›Geschichte‹ lesen (Rubinštejn 1911:79, vgl. 81). Tolstoj konstruiert eine besondere ›Philosophie der Geschichte‹, indem er im weitesten Sinne über die Ursachen und Gesetze des historischen Prozesses sowie über die Rolle des Volkes/der Massen in der Geschichte re lektiert. Während er dem Individuum im Privatleben eine gewisse Willensfreiheit bzw. die Fähigkeit zu bewussten zielgerichteten Handlungen einräumt und dieses den ethisch-moralischen Idealen der »Einfachheit, Güte und Wahrheit« [»[идеалы] простоты, добра и правды«] unterordnet (vgl. Kareev 1888:26-27, 63-64; Rubinštejn 1911:90; Percev 1912:146-150), ist seine Sicht auf das gesellscha tliche Leben durch einen bemerkenswerten »sozialen Indi ferentismus« [»социальный индифферентизм«] gekennzeichnet (Kareev 1888:14, vgl. 26-27, 48, 64). Tolstoj streitet jeglichen bewussten Beitrag des Individuums zum gesellscha tlichen/kollektiven Leben und somit jegliche bewusste Ein lussnahme des Individuums auf den Lauf der Geschichte konsequent ab, und zwar umso mehr, je mehr das betro fene Individuum aktiv zu handeln glaubt (vgl. Rubinštejn 1911:92; Percev 1912:140). Das »Schwarmleben« [»роевая жизнь«] (Tolstoj 1940a:6), das sich nach Tolstoj aus der Summe der Willen aller Menschen zusammensetzt, folgt für sie unzugänglichen Gesetzen, sodass die Einzelnen zu »unwillkürlichen Werkzeugen der Geschichte« [»непроизвольные орудия истории«] werden (vgl. Kareev 1888:13, 42-43; Rubinštejn 1911:92, 94). Hierin zeigt Tolstojs Au fassung der Geschichte Ähnlichkeit mit den Ansichten Hegels und nimmt seine späteren philosophischen Überlegungen vorweg, in denen die unzugänglichen Gesetze des gesellscha tlichen Lebens eine eindeutige religiöse Fundierung erhalten (vgl. Rubinštejn 1911:93-95; Percev 1912:149-150). Der Fatalismus Tolstojs und seine Negation der Rolle des Individuums im historischen Prozess führen laut A.Ju. Soročan dazu, dass die Geschichte in »Vojna i mir« als eine Anhäufung von unzähligen Ereignissen erscheint, die erst in ihrer Gesamtheit ein einheitliches, panoramaartiges Bild des russischen Lebens abgeben (vgl. Soročan 2008:364-365). 10

Ein Beispiel dafür bietet eine umfassende Transformation der Idee des Heroischen, die der Literaturwissenscha tler Andrej Rančin ausführlich behandelt, siehe Rančin 2008.

4 Der »Vaterländische Krieg« in der russischen historischen Prosa des 19. Jahrhunderts

Tolstojs Au fassung der Geschichte wurde bereits unter seinen Zeitgenossen aus unterschiedlichen Perspektiven intensiv diskutiert (z.B. Kareev 1888; Grunskij 1898:300-313; Lazerson 1910; Rubinštejn 1911; Percev 1912; Zusammenfassung bei Lur’e 1993; Michajlov 2012). Die Versuche einer kritischen Revidierung seiner philosophischen Ansichten zeigen, dass Tolstoj Schlüsselbegri fe wie ›Geschichte‹, ›Wirklichkeit‹, ›Gesetz‹, ›Volk‹ nicht im streng geschichtswissenscha tlichen bzw. philosophischen Sinne gebrauchte, sondern sie vor allem als künstlerische bzw. poetische Kategorien verstand und sie im Laufe der Handlung kaum bzw. unterschiedlich definierte (vgl. Kareev 1888:35-38, 41-42; Rubinštejn 1911:80, 82-83). Somit resultieren zahlreiche innere Widersprüche bzw. Paradoxien in seiner eorie nicht zuletzt aus einer unpräzisen Begri fsverwendung, vor allem aber aus dem mit wissenscha tlichen Methoden nicht zu verwirklichenden Anspruch, eine einheitliche und erschöpfende Geschichte »aller« zu schreiben. Darin zeigt sich die Ho fnung, die Tolstoj zur Entstehungszeit von »Vojna i mir« noch in die Geschichtswissenscha t setzte und die er in seiner späteren Scha fensperiode völlig verwarf (vgl. Percev 1912:134-137). Die Kritiker waren sich jedoch darüber einig, dass die zahlreichen Widersprüche in Tolstojs Geschichtsphilosophie gerade im Medium des Künstlerischen, Poetischen aufgehoben werden: Über den »Umweg des künstlerischen Scha fens« [»обходным […] путем художественного творчества«] (Percev 1912:137) gelang es Tolstoj, überzeugende Bilder des russischen Lebens zu liefern (vgl. Rubinštejn 1911:79, 99-101; Pokrovskij 1912a:127-128). Daraus folgt, dass die von Tolstoj angestrebte Synthese von Geschichte, Literatur und Philosophie nur im polysemantischen künstlerischen Text möglich ist, der die Koexistenz unterschiedlicher und einander ausschließender Standpunkte ermöglicht. Während seine Nivellierung der Rolle der Feldherren Napoleon und Kutuzov im »Vaterländischen Krieg« aus militärhistorischer Sicht als eine grobe Verletzung der ›historischen Wahrheit‹ erscheint, lässt sie sich im Rahmen seiner ›Philosophie der Geschichte‹ logisch erklären. Diese Vorüberlegungen machen bereits die zentrale Problematik der Rezeption von »Vojna i mir« in Bezug auf die Popularisierung des traditionellen »napoleonischen Narrativs« deutlich: Aufgrund seiner künstlerischen Polysemie ließ sich Tolstojs Text nicht ohne weiteres auf die strikte Logik der o fiziellen Kriegsinterpretation reduzieren. Dennoch kann man den Ein luss von »Vojna i mir« auf die Tradierung der Erinnerung an den »Vaterländischen Krieg« nicht hoch genug einschätzen.Tolstoj prägte nicht nur nachhaltig die Auswahl der Topoi und Szenen des »napoleonischen Narrativs« (vgl. Pokrovskij 1913:128), sondern trug auch maßgeblich zu dessen chronologischer Eingrenzung auf das Jahr 1812 bei, auch wenn die Kampagne von 181314 nicht weniger bedeutende bzw. ›ruhmreiche‹ Schlachten der russischen Armee bot (vgl. Lieven 2012). Sein Anspruch, die historische Wirklichkeit ganzheitlich zu erfassen, entsprach durchaus dem Pathos des o fiziellen Kriegsnarrativs, den Krieg als herausragendes gesamtnationales Ereignis der russischen Geschichte zu schil-

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dern. Auch Tolstojs »synthetisches Denken«, mithilfe dessen er eine einheitliche und erschöpfende Antwort auf die Fragen der historischen Entwicklung zu geben versuchte (vgl. Percev 1912:129, 132), zeigt eine grundlegende Ähnlichkeit mit dem Ansatz populärer Geschichtsdarstellungen, die ihre Anziehungskra t nicht zuletzt aus dem Pathos einer ultimativen Erklärung historischer Prozesse beziehen. Von großer Bedeutung für die literarische Repräsentation des »Vaterländischen Krieges« sind die von Tolstoj gescha fenen Kollektivbilder des russischen Nationalcharakters (vgl. Percev 1912:145, 151-153), wie z.B. das des ›Schwarmlebens‹, der »verborgenen Wärme des Patriotismus« [»скрытая теплота патриотизма«] (Tolstoj 1940a:210, 229) der Russen und des »Knüttels des Volkskrieges« [»дубина народной войны«] (Tolstoj 1940b:120), die sich insbesondere im Jubiläumsjahr 1912 als hilfreich für die Aufwertung der Rolle des russischen Volkes und die Inszenierung der Einheit aller Schichten im Krieg von 1812 erwiesen. Der Fatalismus des ›Schwarmlebens‹, das dem menschlichen Verstand unzugänglichen, fast mystischen Gesetzen folgt, zeigt Parallelen zum russischen »napoleonischen Mythos«, in dem Napoleons auf individuellen Machtwillen gebautes Glück gerade vor den Mauern Moskaus versagt (vgl. Matjušenko 2003; Kap. 1.2.). Somit bietet »Vojna i mir« eine Grundlage für ideologische Konstrukte (vgl. Kareev 1888:51; Rubinštejn 1911:93-95), in denen die »Bewegung der Massen« (Tolstoj 1940b:240) schon eine eindeutige Tendenz erhält (vgl. das sowjetische Ideologem von Tolstoj als ›Spiegel der russischen Revolution‹). Zugleich muss man jedoch auf eine Reihe von Momenten hinweisen, die in Tolstojs Interpretation der o fiziellen Auslegung des »Vaterländischen Krieges« entgegenwirkten. Trotz der Subjektivität und Paradoxie seiner philosophischen Ansichten lässt Tolstojs Au fassung von Geschichte eine konsequente »realistische Tendenz« [»реалистическ[ая] тенденци[я]«] (Kareev 1888:14) erkennen, die gerade aufgrund seiner intensiven Vorarbeiten und wissenscha tlichen Herangehensweise der Mythisierung und Ideologisierung der Geschichte entgegenwirkte (vgl. Kareev 1888:14-17; Percev 1912:151-152; Rubinštejn 1911:79; Pokrovskij 1912a). Diese Tendenz zeigt sich z.B. darin, dass Tolstoj die »Unfreiheit« der Menschen in der Geschichte unter anderem daraus ableitet, dass sich ihre Handlungen »wechselseitig bedingen« (vgl. »несвобод[а] в смысле причинной обусловленности«, Percev 1912:145-146), oder dass er die Hervorhebung bzw. Bevorzugung einer Nation als eine Verfälschung der ›historischen Wahrheit‹ sieht (vgl. Percev 1912:150-151). Trotz ihrer Subjektivität weist Tolstojs Au fassung von Geschichte Nähe zu wissenscha tlichen Disziplinen wie Soziologie und Psychologie auf (vgl. Percev 1912: 143-144). Man kann davon ausgehen, dass Tolstojs ese, dass sich die Geschichte permanent weiterentwickelt und aus dem Wirken aller Menschen zusammensetzt, sowie seine Kritik an der traditionellen Historiographie als »Geschichte der Herrscher« bzw. herausragender Persönlichkeiten (vgl. Kareev 1888:6, 43; Rubinštejn 1911:80,

4 Der »Vaterländische Krieg« in der russischen historischen Prosa des 19. Jahrhunderts

89) eine Grundlage für einen kritischeren Blick auf die Geschichte und die Hinterfragung des o fiziellen Kriegsnarrativs schuf. Tolstojs antimilitaristische Haltung (vgl. Percev 1912:151-153) führte zur Deheroisierung des Krieges, die er mithilfe der Psychologisierung der Kriegsdarstellung sowie der Technik der Verfremdung [russ. ›ostranenie‹] umsetzte (vgl. Šklovskij 1928). Die Nivellierung der Rolle des Individuums in der Geschichte führte auch zur Herabsetzung der Rolle des russischen Militärführung, insbesondere Kutuzovs, der in »Vojna i mir« zum Träger eines geheimen Wissens stilisiert wird und gerade durch seine Passivität bzw. sein Nichtstun zum Lauf der Geschichte beiträgt (vgl. Rubinštejn 1911:79-80, 87). Tolstojs Kritik an der Moral der höheren Gesellscha tsschichten wirkte ebenfalls der traditionellen Idealisierung des Adels im Krieg von 1812 entgegen und wurde von den ehemaligen Kriegsteilnehmern als verletzend empfunden (vgl. Norov 1868). Auch die radikale und konsequente Degradierung Napoleons, die nur bis zu einem gewissen Grad mit den traditionellen russischen eschatologischen Vorstellungen konform ging (vgl. Pokrovskij 1912a:125-128; Kap. 1.2.), entsprach den Realien des Jubiläumsjahres 1912 nicht, in dem Napoleon als ›größter Feldherr aller Zeiten‹ galt und entsprechend der Logik des o fiziellen Narrativs zum starken, aber doch besiegten Gegner stilisiert wurde. Tolstojs subjektive Auslegung des »Vaterländischen Krieges« wurde bereits während des Erscheinens von »Vojna i mir« von Militärangehörigen bzw. Kriegsteilnehmern scharf kritisiert, die dem Autor eine Verfälschung historischer Fakten vorwarfen (vgl. Norov 1868; Vitmer 1869; Dragomirov 1895; S.F.G. 1911). Trotz dieser Kontroversen wurde »Vojna i mir« von den zeitgenössischen Literaturkritikern zum vorläufigen Höhepunkt der russischen historischen Prosa stilisiert. Zusammen mit den Werken A.S. Puškins stellte »Vojna i mir« eine Kontrastfolie dar, vor deren Hintergrund die literarischen Geschichtsdarstellungen des 19. und 20. Jahrhunderts bewertet wurden, wobei der hohe Grad der künstlerischen Verbundenheit von ›Fakt‹ und ›Fiktion‹ zu einem Schlüsselkriterium avancierte. Der Literaturwissenscha tler Konstantin Vasil’evič Pokrovskij (1880-19??), der sich als einer der wenigen Autoren mit den populären Medien im Jubiläumsjahr 1912 auseinandersetzte (vgl. dazu Kap. 5.2.), fasste diese Überlegungen wie folgt zusammen: Если не считать »Рославлева« Пушкина, который является лишь программой романа, »Войну и мир« можно считать первым историческим романом из эпохи 12 года. В нем впервые история тесно связана с вымыслом. Наполеон, Кутузов, Растопчин [sic!] в нем так же законны и неизбежны, как Андрей Болконский, Пьер Безухий [sic!] или Платон Каратаев. Уже не положение отдельных лиц вызывает описание исторических событий, но именно события руководят судьбою действующих лиц. В нем уже нет центральной фигуры, которая притягивала бы к себе все внимание читателя. Русское общество, от верху до

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низов, от Александра до Тишки Щербатого – вот, по замыслу автора, истинный герой его романа. Такова общая художественная концепция »Войны и мира«. (Pokrovskij 1913:127, Hervorhebung K.R.) Abgesehen von Puškins »Roslavlev«, der nur ein Programm eines Romans darstellt, kann man »Vojna i mir« als ersten historischen Roman über die Epoche von 1812 betrachten. Darin ist die Geschichte zum ersten Mal eng mit der Fiktion verbunden. Napoleon, Kutuzov und Rastopčin [sic!] sind darin genauso legitim und unausweichlich wie Andrej Bolkonskij, Pʼer Bezuchij [sic!] oder Platon Karataev. Es ist nicht mehr die Stellung einzelner Persönlichkeiten, die die Beschreibung der historischen Ereignisse hervorru t, sondern es sind eben die Ereignisse, die die Schicksale der handelnden Personen lenken. Darin gibt es keine Hauptfigur mehr, die die ganze Aufmerksamkeit des Lesers auf sich ziehen würde. Die russische Gesellscha t, von oben bis unten, von Aleksandr bis Tiška Ščerbatyj – das ist, nach der Idee des Autors, der wahre Held seines Romans. So sieht die allgemeine künstlerische Konzeption von »Vojna i mir« aus. Die weitere Rezeption von »Vojna i mir« lässt sich im weitesten Sinne als eine Dekonstruktion von Tolstojs monumentalem polysemantischem Text und als Anpassung desselben an das traditionelle »napoleonische Narrativ« beschreiben. Ein Beispiel der künstlerischen Auseinandersetzung mit der ematik des »Vaterländischen Krieges« nach L.N. Tolstoj, das die Ästhetik von »Vojna i mir« adaptiert und die literarische Darstellung des Krieges von 1812 im Jahr 1912 in vielerlei Hinsicht vorwegnimmt und vorbereitet, stellt der Roman des russischen Historikers, Publizisten und Schri tstellers G.P. Danilevskij »Sožžennaja Moskva« [»Das verbrannte Moskau«] (1886) dar.

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Zur Adaption von Tolstojs Ästhetik in den 80er Jahren: G.P. Danilevsk s »Sožžennaja Moskva« (1886)

Grigorij Petrovič Danilevskij (1829-1890)11 gehört wie auch N.V. Gogolʼ, D.L. Mordovcev und I.A. Ljubič-Košurov zu den Schri tstellern, die an der Kreuzung zweier Kulturen – der russischen und der ukrainischen – wirkten (vgl. Vilenskaja 1957:4-5; Vilenskaja 1983:601, 606-607). Er wurde in einer wohlhabenden adeligen Familie in Char’kov geboren, erhielt seine erste Ausbildung im Moskauer Adelsinstitut [Moskovskij dvorjanskij institut] und schloss 1850 ein Jurastudium in Sankt

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Zu Biographie und literaturkritischer Bewertung von Danilevskij siehe ausführlich Romanova 1990; Svijasov 1992; Penskaja 2012; Apon 2011, 2013.

4 Der »Vaterländische Krieg« in der russischen historischen Prosa des 19. Jahrhunderts

Petersburg ab. 1849 wurde er irrtümlicherweise im Zusammenhang mit dem Prozess der petraševcy verha tet und war für zwei Monate in der Peter-Pauls-Festung inha tiert. Danach schlug Danilevskij eine Beamtenkarriere ein und diente zunächst im Ministerium der Volksau klärung. Dabei unternahm er Expeditionen in entlegene Regionen des russischen Imperiums, von welchen er später umfangreiches ethnographisches Material verö fentlichte (vgl. Čerkas 1905:63-64). Nach dem Ausscheiden aus dem Dienst 1857 kehrte Danilevskij nach Char’kov zurück, wo er sich als Mitglied verschiedener staatlicher Verwaltungsinstitutionen des zemstvo unter anderem für die Verbesserung des Lebens von Bauern einsetzte. Seit 1869 arbeitete Danilevskij in der Redaktion der Zeitung der russischen Regierung »Pravitel’stvennyj vestnik« [»Regierungsbote«] mit, 1881 übernahm er den Posten des Chefredakteurs, den er bis zu seinem Tode 1890 innehatte. Danilevskijs literarische Tätigkeit begann noch während seiner Studienzeit in den 50er Jahren und weist ein breites Spektrum auf. Er verfasste Gedichte, Feuilletons, Erzählungen und Märchen aus dem ukrainischen Leben und fertigte Übersetzungen der Lyrik europäischer Autoren an (vgl. Skabičevskij 1903:223-224; Čerkas 1905:64-65). Berühmt wurde er insbesondere durch seine Sittenromane [russ. ›bytovye romany‹] aus der Zeit der Bauernbefreiung.12 In den 70er Jahren ging er zu historischen Romanen aus der russischen Geschichte über.13 Danilevskij genoss große Popularität unter den Zeitgenossen und führte als Mitglied verschiedener Vereinigungen und Kommissionen ein aktives gesellscha tliches Leben (vgl. Čerkas 1905:66). Zeitgenossen charakterisierten ihn als einen findigen Literaten, der sich im Literaturbetrieb seiner Zeit bestens auskannte und seine Interessen durchzusetzen wusste (vgl. Opočinin 1990:52-53). Seine Werke wurden in mehrere Sprachen übersetzt, und seine Werkausgabe erschien zu seinen Lebzeiten in sechs Au lagen (vgl. Čerkas 1905:66; Mikrut 2008). Die ematik des »Vaterländischen Krieges« behandelte Danilevskij 1886 in seinem Roman »Sožžennaja Moskva« [»Das verbrannte Moskau«] (Danilevskij 1886a). Die Handlung des Romans beginnt am Vorabend der Invasion Napoleons in Russland. Der junge O fizier Vasilij (Basile) Perovskij lernt auf einem Ball in Moskau die Enkelin der alten Fürstin Anna Arkad’evna Šelešpanskaja, Avrora Kramaliná, kennen, und die beiden verlieben sich ineinander. Es folgen Aussprache und Verlobung, doch die Hochzeitspläne werden durch den Einmarsch der französischen Armee durchkreuzt. Perovskij kehrt in die Armee zurück und überlebt die Schlacht von Borodino, wird aber im besetzten Moskau von den Franzosen verha tet und als angeblicher Spion angeklagt. Er entgeht im letzten Moment der Todesstrafe dank 12 13

»Beglye v Novorossii« [»Flüchtlinge in Neurussland«] (1862); »Volja (Beglye vorotilisʼ)« [»Die Freiheit (Die Flüchtlinge sind zurückgekehrt)«] (1863); »Novye mesta« [»Neue Orte«] (1867). Z.B. »Knjažna Tarakanova« [»Fürstin Tarakanova«] (1882); »Mirovič« [»Mirovič«] (1886); »Černyj god« [»Das schwarze Jahr«] (1889).

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einem Adjutanten von Marschall Davout, der ihn entlastet, wird aber trotzdem als Gefangener von der abziehenden französischen Armee bis nach Paris verschleppt. Avrora, die sich zusammen mit ihrer Großmutter aus Moskau auf deren entlegenes Gut zurückzieht und Perovskij für tot hält, verkleidet sich als Mann und tritt in die Truppe des Partisanen Figner ein, um den vermeintlich toten Geliebten und das Vaterland zu rächen. Als sie nach der Schlacht an der Berezina bei der Erkundung einer Ortscha t auf Napoleon tri t, der in einer Kutsche aus Russland lieht, versucht sie, ihn zu erschießen, und wird dabei von seinem Kortege getötet. Perovskij erfährt vom Tod seiner Verlobten nach seiner Entlassung aus der Gefangenscha t in Paris, als die russischen Truppen 1814 dort einmarschieren. Im Epilog wird Perovskij vierzig Jahre später auf dem Höhepunkt seiner Karriere als Generalgouverneur von Orenburg und Abteilungskommandeur auf dem dritten Feldzug nach Mittelasien im Jahr 1853 geschildert, wo er über seine persönliche Tragödie und die Kampagne von 1812 re lektiert. Die Rezeption von Danilevskijs Roman wurde und wird bis heute nachhaltig von Tolstojs »Vojna i mir« geprägt. Der Vorwurf des »Wetteiferns mit Tolstoj« [»соперничество с Толстым«] (Vengerov 1893:492)14 und der ständige Vergleich der beiden Texte führten einerseits dazu, dass »Sožžennaja Moskva« überwiegend im Hinblick auf die Aneignung der Ästhetik Tolstojs untersucht wurde (vgl. Vengerov 1893; Skabičevskij 1903; Čerkas 1905; Vilenskaja 1957; Boguslavskij 1968; Kimova 1984:44-45).15 Dieser Ansatz findet sich zum Teil auch in den neueren russischen 14

15

In seinen Briefen und publizistischen Texten hat sich Danilevskij gegen diesen Vorwurf vehement gewehrt und sein Recht auf die Verarbeitung der Thematik des »Vaterländischen Krieges« auch nach Tolstojs »Vojna i mir« verteidigt. Im Herbst 1885 besuchte Danilevskij Tolstoj in Jasnaja Poljana, worüber er einen Bericht verfasste (Danilevskij 1886b; vgl. Soročan 2005, 2013:55). Aus einem Brief an Tolstoj geht hervor, dass Danilevskij die Gelegenheit dazu nutzen wollte, um seinen Roman mit Tolstoj zu besprechen (vgl. Apostolov 1928:217-218). In einem seiner Briefe gibt Danilevskij an, er habe seinen Text Tolstoj gezeigt und sei von diesem buchstäblich zu einer Publikation gezwungen worden (vgl. Boguslavskij 1968:13-14; Kimova 1984:44; Romanova 1990:248; Svijasov 1992:82). Allerdings stammt diese Information ausschließlich von Danilevskij selbst und lässt sich nicht anderweitig überprüfen. Zugleich kann man erkennen, dass sich Danilevskij bewusst im Rückgri f auf Tolstoj inszenierte. Ähnlich wie Tolstoj besuchte auch Danilevskij während seiner Arbeit an »Sožžennaja Moskva« im Juli 1885 Borodino und wohnte dabei im Dorf Michajlovskoe im Haus seines Familienfreunds, Staatsmannes und Literaten Nikolaj Nikolaevič Poljanskij (1862-1938), in dem sich angeblich das Hauptquartier von Kutuzov während der Schlacht von Borodino befand (vgl. Gorbunov 1997). Poljanskij half Danilevskij bei der Materialsuche und las seinen Roman Korrektur. Als Erinnerung an Danilevskijs Aufenthalt in Poljanskijs Haus wurde dort vor dem Eingang eine Eiche gep lanzt (vgl. Enišerlov 1985:27-28; Enišerlov 2012). Bezeichnenderweise wurde diese Diskussion auch in den deutschsprachigen Raum vermittelt. Danilevskij bereiste Europa und Deutschland in den 60er und 70er Jahren, seine Eindrücke von dieser Reise schilderte er in den »Briefen aus dem Ausland« [»Pis’ma iz-za granicy«] (1860-1873) (vgl. Boll-Palievskaya/Volovnikov 2006:1168-1170). 1886 erschien in der Leipziger

4 Der »Vaterländische Krieg« in der russischen historischen Prosa des 19. Jahrhunderts

Arbeiten wieder, in denen die »Belletristik« Danilevskijs als Vergleichsfolie zur Aufwertung der künstlerischen Talente von Tolstoj und Puškin funktionalisiert wird (vgl. Kimova 1984:45; Stroganova 1993; Burlakova o.J.; Soročan 2005:86-87; Penskaja 2012:462-463; Soročan 2013:55-56). Andererseits erhielt »Sožžennaja Moskva« auch viele positive Kritiken, die den Text Danilevskijs gegenüber dem Tolstojs aufwerteten (vgl. Sokal’skij 1885; Russkaja myslʼ 1886; Russkoe bogatstvo 1886; A.M. 1887; Garšin 1888:133-134; Levin 1890:166-167, 169-170; teilweise Skabičevskij 1903).16 Die sowjetischen Kritiker bemängelten die ungenügende Darstellung des Volkscharakters des »Vaterländischen Krieges« und die »bourgeoise« Position der beiden Protagonisten Avrora und Perovskij (vgl. Lunačarskij 1930; Vilenskaja 1957; Boguslavskij 1968). Der Ein luss von »Vojna i mir« lässt sich in »Sožžennaja Moskva« in der Wahl der historischen Epoche, in der Schilderung des »Vaterländischen Krieges« als einer gesamtnationalen russischen Katastrophe oder in der Charakterisierung einzelner historischer Figuren, z.B. Napoleons, nachverfolgen (vgl. Kimova 1984). Zugleich verzichtet Danilevskij auf ein breites episches Bild der Epoche von 1812 (vgl. Kimova 1984:46-47; Stroganova 1993:46) und setzt die Tradition Puškins fort, indem er sich auf die Darstellung eines individuellen Schicksals im ›historischen Rahmen‹ konzentriert. Ähnlich wie Puškin und Tolstoj bemüht sich Danilevskij auch um eine realistische und historisch korrekte Schilderung der Epoche von 1812, indem er sein Narrativ an der Schnittstelle von fiktionalen Fragmenten, Zitaten aus Egodokumenten und historiographischen Quellen ansetzt, die aufwändig aneinandermontiert werden (vgl. Vilenskaja 1957:5, 8; Boguslavskij 1968:14-15,

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»Illustrirten Zeitung« ein Beitrag des deutschen Übersetzers Alexis Markow (1864–??), in dem Tolstoj und Danilevskij als zeitgenössische russische Schri tsteller vorgestellt und miteinander verglichen werden. Danilevskijs Talent wird darin aufgewertet und als dem Talent Tolstojs ebenbürtig dargestellt (vgl. Markow 1888). Die Vorrangstellung Tolstojs wird in der »Geschichte der russischen Literatur« durch den Literaturwissenscha tler Arthur Luther (18761955) bestätigt (»In dem Roman ›Das niedergebrannte Moskau‹ versucht Danilewskij, natürlich ohne Erfolg, mit Tolstojs ›Krieg und Frieden‹ in Wettbewerb zu treten.« [Luther 1924:359]) sowie in einer Rezension aus der Zeit der DDR unter dem sprechenden Titel »Im Schatten Gogol’s und Tolstojs« (Bahr 1988). In deutscher Übersetzung ist »Sožžennaja Moskva« erst im 20. Jahrhundert erschienen (Danilewsky [1958]; Danilewski 1964). Die verschiedenartige Funktionalisierung von Danilevskijs Werk im russischen literaturkritischen Diskurs ist noch in einer Spezialuntersuchung zu klären. Dabei muss insbesondere die Selbststilisierung Danilevskijs berücksichtigt werden. Sein Zeitgenosse, der Literat Evgenij Nikolaevič Opočinin (1858-1928), gibt an, dass die überaus löbliche Publikation über Danilevskij, die von seinem »Apologeten« (Vengerov 1893:492), dem Literaten Petr Petrovič Sokal’skij (1832-1887), verfasst wurde (Sokal’skij 1885), von Danilevskij selbst in Au trag gegeben worden sei (vgl. Opočinin 1990:52-53). Auch der panegyrische Ton eines weiteren Kommentators, S.S. Levin (Levin 1890), kontrastiert mit der distanzierenden und teilweise sarkastischen Haltung anderer Kritiker (vgl. Vengerov 1893; Skabičevskij 1903; Čerkas 1905).

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16-17; Stroganova 1993:44-45; Enišerlov 1985:27-29; Enišerlov 2012). Viele Helden in Danilevskijs Roman haben historische und literarische Prototypen (vgl. Vilenskaja 1957:8-9; Boguslavskij 1968:11-13, 14-15; Kimova 1984:44-45; Stroganova 1993). Gerade vor dem Hintergrund von Tolstojs monumentalem Text lobten die Kritiker Danilevskijs »unvoreingenommenen«, »objektiven« Ton [vgl. »Каким-то беспристрастием, объективностью веет от всего романа ›Сожженная Москва‹.«] (vgl. Grunskij 1898:318-321, hier S. 318; zu Grunskij vgl. Kap. 5.1.). Charakteristischerweise wurde gerade die gegenseitige Bedingung von historischem Kontext und literarischer Handlung positiv hervorgehoben, die sich im engen Zusammenhang zwischen ›Fakt‹ und ›Fiktion‹ manifestiert. Der hohe Grad der Literarizität zeigt sich auch darin, dass der Krieg vor allem über die Haltung und aus der Perspektive des jeweiligen Protagonisten geschildert wird, sodass die literarischen Figuren eng in das historische Geschehen eingebunden werden (vgl. Vilenskaja 1957:7-8; Boguslavskij 1968:16-17, 21; Kimova 1984:47-48). Dies betonte ein zeitgenössischer Rezensent in der Zeitschri t »Istoričeskij vestnik« [»Historischer Bote«]: В этом сочинении вполне удачно выполнено главное условие исторического романа – тесная органическая связь между действительными и вымышленными событиями. […] Все это [история Москвы, K.R.] передано автором не столько в описательной форме, сколько в связи с действиями лиц, выведенных в его рассказе. (A.M. 1887: 207-208) In diesem Werk wird in absolut gelungener Weise eine Hauptbedingung des historischen Romans erfüllt: der enge organische Zusammenhang zwischen tatsächlichen und erfundenen Ereignissen. […] All das [die Geschichte Moskaus, K.R.] wird vom Autor weniger in beschreibender Form, sondern im Zusammenhang mit den Taten der in seiner Erzählung dargestellten Personen wiedergegeben. Eine historische Grundlage für die literarische Handlung bieten die »Notizen« des General-Adjutanten Grafen Vasilij Alekseevič Perovskij (1795-1857), die 1865 in der Zeitschri t »Russkij archiv« [»Russisches Archiv«] verö fentlicht wurden (Perovskij 1865) und derer sich z.B. auch F.M. Dostoevskij (vgl. Podosokorskij 2009) und Tolstoj (vgl. Stroganova 1993; Burlakova o.J.) bedienten. Im Gegensatz zu Tolstoj, der die Memoiren indirekt, z.B. bei der Rekonstruktion der historischen Szenerie oder der Schilderung der Gefangenscha t von P’er Bezuchov, verarbeitet, übernimmt Danilevskij Perovskijs Namen und folgt fast wörtlich der Memoirenquelle bei der Beschreibung seiner Gefangenscha t in Moskau (vgl. Pokrovskij 1912a:121122; Boguslavskij 1968:11-13; Stroganova 1993:43-44). Allerdings sind die esen von K.V. Pokrovskij und E.N. Stroganova zu relativieren, dass »Sožžennaja Moskva« eine »einfache Erweiterung der Notizen von Perovskij« [»простое распространение записок Перовского«] (Pokrovskij 1913:128) darstelle und dass Danilevskij von der Faktizität von Perovskijs Memoiren gefangen gewesen sei (vgl. Stroganova 1993:44,

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46, 47). Einerseits erweist sich gerade die Lebensgeschichte Perovskijs als geeignet, die persönliche Tragödie eines Einzelnen vor dem Hintergrund des Krieges zu schildern, denn Danilevskij beabsichtigte o fenbar nicht, in seinem Roman ein historisches Porträt von General Perovskij zu rekonstruieren (vgl. Stroganova 1993:46). Andererseits lässt sich Danilevskijs künstlerische Auseinandersetzung mit der Memoirenquelle vor allem daran festmachen, dass er die in den »Notizen« angelegten Motive des ›Zufalls‹ und der tragischen Liebe (vgl. Stroganova 1993:34, 45) produktiv macht und die fiktive Liebesgeschichte von Perovskij und Avrora in den Mittelpunkt der Handlung stellt. Danilevskij blendet die in »Vojna i mir« aufgeworfene Frage des kollektiven Lebens und der ›Bewegung der Massen‹ zugunsten des privaten Lebens aus und problematisiert die Möglichkeit des individuellen Glücks inmitten historischer Umbrüche auf der Mikroebene der Familie (vgl. Levin 1890:167; Kimova 1984:46-47; Romanova 1990:248). Die menschliche Existenz wird in »Sožžennaja Moskva« im Spannungsfeld zweier polarer Standpunkte betrachtet: »[…] [Л]юбовь – единственное, истинное и прочное блаженство на земле.« [»[…] [D]ie Liebe ist die einzige, wahre und dauerha te Seligkeit auf Erden.«] (Danilevskij 1886a:21117 ) – »Счастья нет на свете […]. Вы лучше спросите меня, в чем главные муки в жизни?« [»Es gibt kein Glück auf der Welt […]. Besser Sie fragen mich, was die größten Qualen im Leben sind.«] (213). Im Gegensatz zum Fatalismus Tolstojs, der das kollektive Leben dem Individuum unzugänglichen, beinahe mystischen Gesetzen unterstellt (vgl. Kap. 4.3.), grei t Danilevskij den Aspekt des ›Zufalls‹ [russ. ›slučaj‹] heraus, der sich auf unterschiedlichen Ebenen als Schlüsselbegri f seiner Geschichtsau fassung erweist. Im Sinne von Puškins Definition der historischen Prosa steht der ›Zufall‹ für die literarisch-fiktionale »Romangeschichte«, die in einen »historischen Rahmen« eingebettet wird (vgl. Puškin 1978a:73; Kap. 4.1.). Gegenüber dem Monumentaltext von Tolstoj lässt er sich als Marker des Individuellen im Gegensatz zum Kollektiven betrachten. Schließlich bedeutet der ›Zufall‹ auf der philosophisch-existenziellen Ebene ein einschneidendes, nicht vorhersehbares schicksalha tes Ereignis, das einen zu erwartenden, gar vorgezeichneten Lauf der Geschichte verändert oder zerstört (vgl. Vilenskaja 1957:5-6; Boguslavskij 1968:16; Kimova 1984:46-47; Romanova 1990:248). Diese ›Philosophie des Zufalls‹ führt bei Danilevskij zu einer bemerkenswerten Zweischichtigkeit der Geschichtsdarstellung: Das realistisch und authentisch rekonstruierte Leben der Moskauer Adelsgesellscha t wird mit eschatologischen und literarischen Motiven überschrieben, die die Ritualisierung und eatralik des gesellscha tlichen Lebens gegenüber dem unerwarteten ›Zufall‹ des Krieges bloßlegen. Der Beginn der Handlung lässt sich als Persi lage der traditionellen adligen Familienidylle betrachten. Die Begegnung der beiden Protagonisten Avrora und Perovskij wird 17

Im Folgenden beziehen sich die Seitenangaben in Klammern auf diese Ausgabe, K.R.

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mit klischeeha ten Motiven ausgestattet (z.B. Bekanntscha t auf einem Ball, erste Liebe, Herausforderung von Perovskijs Kontrahenten zum Duell, Verlobung, gegenseitiger Treueschwur, Segen), jedoch wird dieser durch literarische Klischees vorgezeichnete Plan eines glücklichen Familienlebens durch den Krieg durchkreuzt. In den Mittelpunkt rücken die notgedrungene Trennung der Liebenden und die Tragödie des nicht geglückten privaten Familienlebens (vgl. Boguslavskij 1968:14). Danilevskijs ›Philosophie des Zufalls‹ prägt auch die Darstellung Napoleons. Sein Einmarsch in Moskau erhält in »Sožžennaja Moskva« keine konkrete historische Begründung (vgl. Boguslavskij 1968:21), sondern wird auf der symbolischen Ebene im eschatologischen Paradigma gedeutet. Das Leben des »alten Moskau« am Vorabend des Krieges erinnert an Puškins dramatische Szene »Pir vo vremja čumy« [»Das Gelage während der Pest«] (1830), und die Aufgabe der Stadt vor dem Einmarsch der französischen Armee lässt sich als eine Allusion auf die Arche Noah lesen. Das zentrale Bild des brennenden Moskau wird an der Kreuzung zweier Motive, dem der Sint lut und dem des Fegefeuers, konstruiert, die den ›Zufall‹ auf der existenziellen Ebene als Zerstörung und Wiederherstellung der Weltordnung beschreiben: – Как красив закат! – сказал, оглядываясь, Перовский. – Москва как в пожаре… кресты и колокольни над нею – точно мачты пылающих кораблей… (18, Hervorhebung K.R.) »Wie schön ist der Sonnenuntergang!«, sagte Perovskij, sich umwendend. »Moskau scheint in Flammen zu stehen, und die Kreuze und Glockentürme, die über der Stadt emporragen, gleichen den Masten brennender Schi fe…« (nach Danilewski 1987:2718 ) Neben seiner traditionellen Rolle als gemeinsames Feindbild sowohl für die russischen Adligen als auch für das ›einfache Volk‹ (Diener und Bauern) (vgl. Boguslavskij 1968:21) verkörpert Napoleon bei Danilevskij vor allem den schicksalha ten ›Zufall‹ und fungiert dabei als Zerstörer der traditionellen Weltordnung und des Liebesglücks von Perovskij und Avrora. Gerade durch das Motiv des Zufalls werden die Sujetlinien von Napoleon und Perovskij parallelisiert. Genauso wie Napoleons ›Glücksstern‹ im brennenden Moskau versagt, wird der durch die traditionellen Motive eines glücklichen Familienlebens vorgezeichnete Lebensweg von Perovskij durch den Krieg von 1812 zunichte gemacht. Auch Perovskijs Gefangenscha t und seine wundersame Rettung vor der Todesstrafe werden betont als ›Zufälle‹ bzw. als

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Hier und im Folgenden wurde die deutsche Übersetzung in Anlehnung an Danilewski 1987 vom Verfasser angefertigt und enger an das Original angepasst. Die russischen Namen werden zwecks Einheitlichkeit transliteriert, K.R.

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»Folge eines Glücksfalls« [»следствие счастливой случайности«] codiert (Stroganova 1993:42). Gleichzeitig wird aber auch ein prinzipieller Unterschied zwischen den beiden Figuren deutlich. Während Perovskijs Lebensglück durch den Krieg für immer zerstört wird, steht Napoleon als mythologische Figur über dem Leid der einfachen Menschen. Nach seiner Erniedrigung im brennenden Moskau scheint er sein Glück wiederzuerlangen: Er überlebt das Attentat von Avrora unversehrt und ist wieder bereit, sich mit Fortuna anzulegen. Napoleons letzte Worte im Roman, die er an den Diplomaten Armand de Caulaincourt richtet, betonen seinen außerzeitlichen Status als ›Günstling des Schicksals‹, dessen Leben in idealtypischer Weise ausschließlich durch sein Wetteifern mit dem Schicksal definiert wird: »[…] [М]ы в эту минуту [auf der Flucht aus Moskau, K.R.] – жалкие, вытолкнутые за порог фортуной, проигравшиеся до нового счастья авантюристы!« (205, Hervorhebung K.R.) [»In diesem Augenblick [auf der Flucht aus Moskau, K.R.] sind wir klägliche Abenteurer, die, von Fortuna über die Schwelle gejagt, bis zum nächsten Spiel verloren haben.«] (nach Danilewski 1987:267). Bezeichnenderweise wird Napoleon bei Danilevskij zum allein Schuldigen am Krieg erklärt (vgl. Vilenskaja 1957:10; Kimova 1984:49). Obwohl die Kritiker hierin eine ober lächliche Übernahme von Tolstojs Ästhetik (vgl. Pokrovskij 1913:128-129) und/oder einen künstlerischen Fehler des Autors sahen (vgl. Boguslavskij 1968:21; Romanova 1990:248; Kimova 1984:48-49), erscheint diese Vereinfachung durchaus gerechtfertigt. Mit Blick auf Danilevskijs ›Philosophie des Zufalls‹ lässt sich argumentieren, dass sich gerade die mythische Vorstellung von der ›Hybris‹ Napoleons für Danilevskij als hilfreich erweist, um die eigenwillige Macht des ›Zufalls‹ im Leben des Einzelnen zu illustrieren. Vor diesem Hintergrund wird umso mehr die individuelle Tragödie Perovskijs konkretisiert: »Никому незримая и неведомая, глубокая сердечная рана жгла его и сушила вечною, несмолкаемою болью.« [»Eine für niemanden sichtbare und von niemandem geahnte tiefe Herzenswunde brannte und zehrte ihn aus mit ewigem, nie au hörendem Schmerz.«] (217, Hervorhebung K.R. Vgl. Kimova 1984:47).19 Napoleon ist nicht nur der Zerstörer des persönlichen Glücks von Perovskij und Avrora, sondern er verkörpert auch in idealtypischer Form das Versagen der »aufgeklärten Eroberer« [»просвещенны[е] […] завоевател[и]«] (87) in Russland. Damit aktualisiert Danilevskij einen weiteren wichtigen Topos des »napoleonischen 19

Die Schilderung der persönlichen Tragödie Perovskijs in »Sožžennaja Moskva« und die besondere Rolle des ›Zufalls‹ in der historischen Prosa von Danilevskij sind gewiss auch vor dem Hintergrund seiner Festnahme und Inha tierung in der Peter-Pauls-Festung zu sehen. Diese Parallele wäre einer eigenen Untersuchung wert. Aufschlussreich erscheinen auch die von E.N. Stroganova angeführten Zeugnisse von Zeitgenossen über General Perovskij, der als gerechter, aber zugleich strenger und grausamer Mensch dargestellt wird (vgl. Stroganova 1993:45, Fn. 43). Diese Details lassen auf eine tiefe psychische Deformation infolge des Krieges schließen, die von Danilevskij angedeutet wird und die in den literarischen Texten des Jubiläumsjahres 1912 zu einem wichtigen Topos avanciert (vgl. Kap. 5.3. und 5.4.).

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Narrativs«, indem er die Vorstellung von den Franzosen als ›aufgeklärter Nation‹ demontiert und das vermeintlich ›barbarische Russland‹ als geistig-moralisch überlegenen Gegner aufwertet. Das Umschlagen der Haltung gegenüber Napoleon wird vor allem am Beispiel des Haupthelden Perovskij veranschaulicht, der zu Beginn der Handlung vom französischen Imperator noch fasziniert ist: »Ну зачем Наполеону нужны мы, мы – дикая и, увы, полускифская орда? […] Не нам жалкою рогатиной грозить архистратигу королей и вождю народов половины Европы.« (14) [»Wozu braucht Napoleon uns, die wir eine wilde/barbarische und, o weh, halbskythische Horde sind? […] Uns steht es nicht zu, dem Archistrategen der Könige und dem Führer der Völker von halb Europa mit einem kläglichen Jagdspieß zu drohen.«] (nach Danilewski 1987:23). Die Vorstellung von den Franzosen als kulturellem Vorbild wird im Lauf der Handlung jedoch durch die traditionellen Topoi der Meuterei und der Schändung der Kirchen entlarvt. Als besonders grausam werden die »zivilisierten Henker« [»цивилизованные палачи«] (144) bei ihrem Rückzug aus Moskau geschildert, als sie die schwachen Gefangenen, die nicht mehr mitmarschieren können, erschießen. Ganz in der Tradition Tolstojs zeichnet Danilevskij ein betont negatives Bild von Napoleon und bedient sich dabei dessen physiognomischer Herabsetzung (vgl. Russkoe bogatstvo 1886:217; Boguslavskij 1968:23-24), indem er ihn insbesondere auf der Flucht aus Russland in der Tradition der lubki zeichnet (Napoleon ist fettleibig, erkältet, friert, hat Hunger usw.). Die feste Verankerung dieses Topos im russischen kulturellen Gedächtnis unter dem Ein luss von Tolstojs »Vojna i mir« zeigt sich in einer zeitgenössischen Rezension: Die herabwürdigende physiognomische Beschreibung Napoleons in »Sožžennaja Moskva« wird für wahr erklärt, weil sie der Entlarvung des »Tyrannen« dient (Russkoe bogatstvo 1886:217; vgl. Grunskij 1898:321). Die endgültige Umkehrung der Haltung gegenüber Napoleon findet mit dem Einmarsch der russischen Truppen in Paris 1814 statt. In Einklang mit dem traditionellen »napoleonischen Narrativ« wird Aleksandr I. zur idealtypischen Verkörperung des Guten stilisiert: Александр, в противоположность Наполеону, нес с собою мир. […] »Да неужели же это те самые дикари, потомки полчищ Чингисхана, о которых нам твердили такие ужасы? – удивленно спрашивали себя парижане и парижанки, разглядывая нарядные и молодцеватые русские полки, шедшие по бульварам к Елисейским полям. – Нет! Это не татары пустыни! это наши спасители! Vivent les Russes! Vive Alexandre! A bas le tyran!« (210) Im Gegensatz zu Napoleon brachte Aleksandr den Frieden. […] »Sind das die Barbaren, die Nachfahren der Horden Dschingis-Khans, von denen man uns so grauenvolle Geschichten erzählt hat?«, fragten sich die Pariser und Pariserinnen überrascht, während sie die schmucken, lotten Regimenter betrachteten, die über die Boulevards zu den Champs-Élysées marschierten. »Nein, das sind keine Tataren

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der Wüste, sondern unsere Retter! Vivent les Russes! Vive Alexandre! A bas le tyran!« (nach Danilewski 1987:273) Die allmähliche Enttäuschung über Napoleon als Träger der Ideale der Au klärung stellt eine gemeinsame Identifikationsebene für die russischen Adligen Basile und Avrora dar. Während Perovskij eher für einen bewussten, rationalen Patriotismus steht, wird in der Figur Avroras der Typus einer a fektgesteuerten Patriotin gestaltet, der sich aus einer breiten Tradition der abendländischen Kultur speist (Amazone, der »reumütige David«, Judith, das Buch Jesaja, Jeanne d’Arc, Charlotte Corday) und in Anlehnung an die Figuren von Marfa-posadnica, Nadežda Durova, der starosticha Vasilisa sowie der Figur Polinas aus Puškins Textfragment »Roslavlev« (vgl. Kap. 4.1.) konstruiert wird. Dieser Typus einer aktiven, politisch engagierten Frau wurde von den Kritikern – nicht zuletzt im Kontext einer Polemik um Tolstojs patriarchalisches Frauenbild – als eine bedeutende Errungenscha t der russischen Literatur erkannt und positiv aufgenommen (vgl. Russkoe bogatstvo 1886:214-217; A.M. 1887:207; Skabičevskij 1903:356-357; Levin 1890:169-170). Ähnlich wie Puškins Polina begründet Avrora ihren Patriotismus auf den für sie grundlegenden Ideen der Au klärung und der europäischen Bildung und übt Kritik am ober lächlichen Patriotismus der höheren Gesellscha tsschichten. Sie macht das Wohl ihres Vaterlands zur unabdingbaren Voraussetzung für ihr persönliches Liebesglück und initiiert dadurch den männlichen Protagonisten Perovskij im Sinne einer patriotischen Idee. Als Perovskij nach der Verlobung dem Krieg aus dem Weg gehen will, ermahnt ihn Avrora und erinnert ihn an seine P licht gegenüber dem Vaterland: – Как? расставанье? – вскрикнул Перовский. – Но где же Божья правда? Миг встречи – и месяцы разлуки! Я все брошу, все… останусь с тобой, не уходи… Слушай, я попрошусь в перевод, в здешние полки. – Не делай этого! Мужайся, Базиль: тебя зовет долг службы, спасение родины; честно ей послужи. Я люблю тебя и, верь, другого не полюблю. Буду счастлива при мысли, что ты исполнил свое призвание, как истинный, честный патриот. Так жалки другие, бежавшие по деревням, мужья, братья, женихи… О, ты выше их! (32) »Wie? Wir sollen uns jetzt trennen?«, rief Perovskij aus. »Aber wo bleibt da Gottes Gerechtigkeit? Einen Augenblick der Begegnung – und Monate der Trennung! Ich pfeife auf alles, auf alles… ich bleibe bei dir, geh nicht weg… Hör zu, ich werde um meine Versetzung in ein hiesiges Regiment bitten. »Tu das nicht! Sei mutig, Basile: Dich ru t die P licht des Dienstes, die Rettung deiner Heimat. Diene ihr aufrichtig. Ich liebe dich und werde, glaube mir, keinen anderen lieben. Ich werde glücklich sein bei dem Gedanken, dass du deine Bestimmung erfüllt hast wie ein echter, ehrenha ter Patriot. So erbärmlich sind die

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anderen, die aufs Land ge lüchteten Ehemänner, Brüder und Verlobten… Oh, du stehst über ihnen!« (nach Danilewski 1987:46) Somit verarbeitet Danilevskij einen wichtigen Topos des »napoleonischen Narrativs«, nämlich die Vorstellung von der Identität des persönlichen Schicksals des Helden mit dem Schicksal des Vaterlands bzw. der Heimat. Doch während das persönliche Glück bei Puškin durch die Liebe zum Feind und bei Dmitriev durch Standesunterschiede verhindert wird, ist es in »Sožžennaja Moskva« der ›Zufall‹ des Krieges, der die Liebenden voneinander trennt. Gerade durch das Motiv des persönlichen Glücks markiert Danilevskij eine bemerkenswerte Nichtübereinstimmung der patriotischen Idee mit der realen Motivation Perovskijs, für den das Streben nach persönlichem Glück zur wichtigsten Motivation avanciert. Dies wird z.B. aus der Beschreibung der Schlacht von Borodino deutlich, in der die traditionelle Heroisierung des Krieges durch die existenzielle Angst Perovskijs vor seiner physischen Vernichtung verfremdet wird: Грохот адской пальбы стоял в его ушах. Несколько раз слыша над собою полет ядер, он ожидал мгновения, когда одно из них настигнет его и убьет наповал. »Был Перовский – и нет Перовского«, – мыслил он. (66) Ein höllisches Geknatter dröhnte in seinen Ohren. Mehrere Male hörte er, wie die Geschosse direkt über seinen Kopf hinwegsausten, und wartete auf den Augenblick, da ihn eines tre fen und auf der Stelle töten würde. »Es hat einen Perovskij gegeben – und nun gibt es keinen Perovskij mehr«, dachte er. (nach Danilewski 1987:89) Auch für Avrora, die ihren Verlobten für tot hält, ist die vermeintliche Zerstörung ihres Liebesglücks eine wichtige Motivation. Sie ist von der Idee besessen, Napoleon zu töten. Ihre etwas schematisch konzipierte Figur als Patriotin und liebende Frau (vgl. Vilenskaja 1957:9; Boguslavskij 1968:18) erlaubt es Danilevskij, die bedingungslose Vernichtung des Feindes moralisch zu problematisieren, worin man eine Weiterentwicklung von Zügen erkennen kann, die bereits in Puškins Polina angelegt sind. Gerade vor dem Hintergrund des vermeintlichen persönlichen Verlustes steht Avrora vor dem Dilemma, ob sie einen Menschen im Krieg töten darf. Diese Frage bleibt jedoch o fen, da Avroras Attentat auf Napoleon als eine betont a fektive Tat geschildert wird, die wiederum durch einen Zufall scheitert und sie das Leben kostet (vgl. Kimova 1984:47). Nach der komplexen philosophischen Betrachtung, der Tolstoj die ›Bewegung der Massen‹ in »Vojna i mir« unterzieht, aktualisiert Danilevskij in »Sožžennaja Moskva« in idealtypischer Form die für das »napoleonische Narrativ« charakteristische ambivalente Sicht auf das russische Volk, das von Perovskij und Avrora jeweils unterschiedlich charakterisiert wird. Aus der Perspektive Perovskijs wird

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das einfache Volk (hier: Diener und Bauern) zum intuitiven Träger eines wahren Patriotismus stilisiert, der sich in der Verteidigung des Herrenguts, in der gnadenlosen Vernichtung der französischen Soldaten und im Abbrennen von Moskau äußert: »Вот он, русский-то народ! […] Они вернее и проще нас поняли просвещенных наших завоевателей.« (87) [»Das ist es, das russische Volk! [...] Es hat unsere aufgeklärten Eroberer richtiger und einfacher verstanden als wir.«] (nach Danilewski 1987:116). Die Idealisierung des Volkes gipfelt in der Szene, in der der verwundete Perovskij im Gefangenenzug beim Abmarsch aus Moskau vom Diener Sen’ka Kudinyč gerettet wird, der Ähnlichkeit mit der Figur Platon Karataevs in Tolstojs »Vojna i mir« hat. Die wahre Größe Sen’kas, dessen Lieder Perovskij kurz zuvor noch als »лакейское шутовство« [»Lakaien-Possen«] (30) abgetan hat, zeigt sich, als er dem barin vor seiner Flucht aus dem Gefangenenzug seine Bastschuhe gibt, damit dieser trotz seiner wunden Füße weitergehen kann und nicht von den Franzosen erschossen wird (vgl. 142). Die Darstellung Sen’kas ist durch die Ästhetik der lubok-Bilder geprägt, er erhält animalische Züge und wird in der Fluchtszene gegenüber dem adeligen Perovskij und den Franzosen als physisch überlegen dargestellt (vgl. 143). Somit inszeniert Danilevskij ähnlich wie Tolstoj einen der zentralen Topoi des »napoleonischen Narrativs«: die Einheit aller gesellscha tlichen Schichten vor dem Hintergrund des Krieges, wobei es zu einer charakteristischen Umkehrung der sozialen Hierarchie kommt. Dieses Motiv findet sich auch in den Texten des Jubiläumsjahres 1912 (vgl. Kap. 5.3. und 5.4.). Für Avrora, die sich an kulturellen Vorbildern orientiert und ihren Patriotismus als ideelle Eigenscha t eines aufgeklärten Menschen versteht, erscheint das Volk als eine träge, passive Kra t, die sich durch Propaganda lenken lässt bzw. einer Lenkung bedarf. Avrora ist darüber entsetzt, dass das gewöhnliche Leben in entlegenen Dörfern kaum vom Krieg berührt wird oder dass die Bauern z.B. auf die Propaganda der Franzosen hereinfallen, die ihnen die Freiheit versprechen. Sie ist der Meinung, dass eine aktive, bewusste Verteidigung des Vaterlands nur durch den aufgeklärten russischen Adel erfolgen könne. Sie wertet die Russen als aufgeklärte Nation gegenüber den Franzosen auf, indem sie auf die im 1812 verkündeten »Aufruf der Heiligen Synode« verwendete Allegorie von David und Goliath zurückgrei t: »Давид и пастухом был в душе поэт, – мыслила Аврора. – Только возвышенной, одаренной благами просвещения природе доступны высокие, сознательные порывы любви к родине и отмщения за ее честь. […].« (151) [»David war auch als Hirte ein Poet in der Seele«, dachte Avrora. »Nur einer edlen Natur, der die Güter der Au klärung zuteil geworden sind, sind die hohe, bewusste Liebe zur Heimat und der Wunsch, ihre Ehre zu rächen, zugänglich. […].«] (nach Danilewski 1987:198). Daraus resultiert auch Avroras Entschluss, selbst aktiv zu werden und sich einer Partisanentruppe anzuschließen. Eine wichtige Rolle in Bezug auf die Tradierung des »napoleonischen Narrativs« spielt die Problematik der objektiven Wiedergabe der persönlichen Erfah-

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rung, die Danilevskij vor allem im Epilog seines Textes aufgrei t. Die persönliche Tragödie Perovskijs wir t die Frage nach einer zuverlässigen Weitergabe der individuellen Kriegserfahrung auf.20 Dies zeigt die folgende Passage, in der der alte Perovskij in einem Gespräch mit seinem Patensohn Pavel über die Epoche von 1812 re lektiert: – Неисчерпаемая, великая эпопея, – говорил, вспоминая двенадцатый год, Перовский, – станет на много лет и на много рассказов. И как подумаешь, голубчик Павлик, все это некогда было и жило: весь этот мир двигался, радовался, любил, наслаждался, пел, танцевал и плакал. Все эти незнакомые новому времени, но когда-то близкие нам весельчаки и печальники, счастливые и несчастные, имели свое утро, свой полдень и вечер. Теперь они, в большинстве, поглощены смертью… И нам, старым караульщикам, отрадно заглянуть в эту ночь и помянуть добрым словом почивших под ее завесой… Дорогие, далекие покойники. (217, Hervorhebung K.R.) »Ein unerschöp liches, großes Epos«, sagte Perovskij, wenn er an das Jahr 1812 zurückdachte. »Es wird für viele Jahre und viele Erzählungen reichen. Und wenn man daran denkt, mein lieber Pavlik, dass das alles einmal da war und lebte, dass sich diese Welt bewegte, dass man sich freute, liebte, genoss, tanzte, sang und weinte. All diese fröhlichen und traurigen Menschen, die jetzt niemand mehr kennt, die uns aber damals nahestanden, sie waren glücklich und unglücklich und hatten ihren Morgen, ihren Mittag und ihren Abend. Die meisten von ihnen sind jetzt vom Tod verschlungen… Und uns, den alten Wächtern, macht es Freude, in diese Nacht zu blicken und derer, die nun unter ihrem Schleier ruhen, mit einem guten Wort zu gedenken… Teure Entschlafene sind es, weit von uns weg!« (nach Danilewski 1987:282) Die Unzuverlässigkeit der kollektiven Erinnerung und die voranschreitende Mythisierung der Geschichte werden hier insbesondere durch die Verlagerung des Kriegsnarrativs in den literarischen bzw. den Bereich des »Epischen« signalisiert, 20

Aufschlussreich ist in dieser Hinsicht auch der Standpunkt, von dem aus Danilevskij in seinen Skizzen »Istoriki-očevidcy. (Po povodu knigi grafa L.N. Tolstogo ›Vojna i mir‹)« [»HistorikerAugenzeugen. (Anlässlich des Buches von Graf L.N. Tolstoj ›Krieg und Frieden‹)«] (Danilevskij 1869) und »Poezdka v Jasnuju Poljanu (Pomest’e grafa L.N. Tolstogo)« [»Die Fahrt nach Jasnaja Poljana (Landsitz des Grafen L.N. Tolstoj)« (Danilevskij 1886b:532-524) Tolstojs »Vojna i mir« in einer Polemik mit dem Kriegsteilnehmer Avraam Sergeevič Norov (1795-1869) verteidigte. Danilevskij betont die Unzuverlässigkeit der persönlichen Erinnerung, die retrospektiv zur Ausblendung oder gar zur gegensätzlichen Interpretation von historischen Fakten führen kann (vgl. Boguslavskij 1968:14-15). In diesem Sinne ist wohl auch die Tatsache zu erklären, dass Danilevskij seinerseits die »Notizen« von General Perovskij intensiv verarbeitet und fast wörtlich der Memoirenquelle folgt, um eine sichere Weitergabe des persönlichen Wissens zu gewährleisten.

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die Hinwendung zur Vergangenheit wird auch mit einem »Blick in die Nacht« [vgl. »заглянуть в эту ночь«] (217) verglichen. Die Kriegsteilnehmer fungieren dabei als »Hüter« bzw. »Wächter« der Erinnerung an den Krieg. Eine zuverlässige Weitergabe der individuellen Kriegserfahrung scheint nur noch direkt im kommunikativen Gedächtnis möglich zu sein. Eine tragende Rolle spielt dabei die verzweigte und aufwändig beschriebene Konstellation der Figuren von Perovskijs Freunden und Verwandten (Ill. 3). Seine persönliche Liebestragödie wird vor dem Hintergrund der drei geglückten Familienbeziehungen betont: der leidenscha tlichen A fären der Gräfin Šelešpanskaja in ihren jungen Jahren; der intakten Familie von Avroras Schwester, Ksenija, deren Ehemann Il’ja Tropinin ebenfalls wie Perovskij in die französische Gefangenscha t gerät, sich jedoch mit seiner Familie wiedervereinigen kann; und schließlich der angedeuteten zukün tigen Liebesbeziehung von Ksenijas Enkel und Perovskijs Patensohn, Pavel Nikolaevič Tropinin. Illustration 3: Schematische Darstellung der Personenkonstellation in »Sožžennaja Moskva«. Il’ja Tropinin

Ksenija Kramaliná

Kolja Tropinin

Pavel Nikolaevi Tropinin

(Sohn von Ksenija und Il’ja)

(Enkel von Ksenija, Patensohn von Perovskij)

Anna Arkad’evna Šelešpanskaja (Großmutter von Avrora und Ksenija)

1. Generation (das alte Moskau)

Avrora Kramaliná

Basil’ Perovskij

2. Generation (1812)

3. Generation (1853)

Mit Volllinien werden die Verwandtscha tsbeziehungen angedeutet, die punktierten Linien kennzeichnen die nur bedingt bzw. nicht mehr durchlässigen Grenzen zwischen den Generationen und dem kommunikativen Gedächtnis.

Die Kontinuität der Generationen, des alten und des neuen Lebens, wird z.B. über die Figur von Avroras Großmutter, der alten Fürstin Šelešpanskaja, konstruiert, die den Krieg von 1812 überlebt hat und bezeichnenderweise genau in dem Moment »friedlich einschlä t« (219), in dem die russischen Truppen 1814 in Paris einmarschieren. Die Erinnerung an die Heldentat Avroras wird auch durch die äußerliche und charakterliche Ähnlichkeit von Ksenijas Sohn Kolja Tropinin mit Avrora im Jahr 1812 (vgl. 160) sowie durch Ksenijas Enkel Pavel Nikolaevič Tropinin

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Napoleon und der »Vaterländische Krieg« in Russland

tradiert, der als Perovskijs Patensohn erstmals im Epilog im Jahr 1853 eingeführt wird. Allerdings muss Perovskij mit Bedauern feststellen, dass Pavel kaum etwas über seine Urgroßmutter Šelešpanskaja und die Großmütter Ksenija und Avrora weiß: – Ты не помнишь, разумеется, своей бабки, Ксении Валерьяновны? – сказал он. – Она умерла, когда мой отец еще не был женат, – ответил Павлуша. – Была еще у тебя прабабка, княгиня Шелешпанская; все боялась грозы, а умерла мирно, незаметно уснув в кресле, за пасьянсом, в своей деревне, когда наши входили в Париж. – О ней что-то рассказывали. – Ну да… а слышал ты, что у нее была еще другая, незамужняя внучка… красавица Аврора? Знаешь ли, твой отец был похож на нее, и ты ее слегка напоминаешь. – Что-то, помнится, говорили и о ней, – ответил Павлуша, – кажется, она была в партизанах… и чем-то отличилась… »Кажется! – подумал со вздохом Перовский. – Вот они, наши предания и наша история…« (218-219, Hervorhebung K.R.) »Du erinnerst dich sicherlich nicht an deine Großmutter, Ksenija Valer’janovna?«, sagte er. »Sie starb, als mein Vater noch nicht verheiratet war«, erwiderte Pavluša. »Du hattest noch eine Urgroßmutter, die Fürstin Šelešpanskaja; sie fürchtete sich immer vor Gewittern, ist aber ganz friedlich auf ihrem Gut gestorben, sie schlief in ihrem Sessel beim Patiencelegen einfach ein, als unsere Truppen in Paris einmarschierten.« »Man hat von ihr erzählt.« »Nun ja… und hast du gehört, dass sie noch eine andere, unverheiratete Enkelin hatte, die schöne Avrora? Weißt du, dein Vater war ihr ähnlich, und du erinnerst mich auch ein wenig an sie.« »Man hat auch von ihr erzählt«, antwortete Pavluša. »Mir scheint, sie war bei den Partisanen… und hat sich durch irgendetwas ausgezeichnet…« »Ihm scheint!«, dachte Perovskij mit einem Seufzer. »Das sind sie, unsere Überlieferungen und unsere Geschichte…« (nach Danilewski 1987:284) Als Perovskij erfährt, dass Pavel eine Verlobte in Petersburg hat, zeigt er Verständnis für sein Liebesglück, gewährt ihm Urlaub und segnet ihn mit der Ikone, mit der er einst von Avrora gesegnet worden ist. Diese symbolische Geste unterstreicht die Kontinuität der Generationen und transportiert die Idee der Initiation der Jungen durch die Erfahrung der Alten. Allerdings o fenbart Perovskijs Versuch, Pavel über sein Leben und seine Tragödie zu erzählen, die problematische Dialektik der

4 Der »Vaterländische Krieg« in der russischen historischen Prosa des 19. Jahrhunderts

Tradierung von Geschichte: Die Narrativierung der individuellen Kriegserfahrung und deren Vermittlung im kommunikativen Gedächtnis führen zugleich zu deren Anonymisierung und erö fnen den Weg zur Heroisierung und Mythisierung historischer Ereignisse. Dies wird besonders im letzten Satz des Romans deutlich: »И Перовский […], не называя имен, рассказал крестнику повесть любви своей и Авроры.« [»Und Perovskij erzählte seinem Patensohn, ohne Namen zu nennen, die Geschichte seiner Liebe und der Avroras.«] (220, Hervorhebung K.R.).

4.5

»Die einheitliche Bühne« der Geschichte: Der »Vaterländische Krieg« in der Prosa D.L. Mordovcevs

Schließlich lässt sich eine weitere Form des Verhältnisses von ›Fakt‹ und ›Fiktion‹ unterscheiden, nämlich die Literarisierung der Geschichtsdarstellung, bei der die Geschichte zur Quelle einer außerzeitlichen universellen Erfahrung avanciert und als Projektions läche für Unterhaltung, Bildung und spielerisches Lernen des Lesers dient. Diese Richtung ist vor allem im Werk des russischen Historikers, Schri tstellers und Journalisten Daniil Lukič Mordovcev (1830-1905) vertreten, der zu den produktivsten und umstrittensten Autoren im ausgehenden 19. Jahrhundert zählt.21 Die historischen Romane Mordovcevs zeichnen sich durch eine solide historiographische Basis aus, die sowohl durch seine Arbeit in Archiven als auch in seiner Publizistik vorbereitet wurde (vgl. Ungurianu 2007:131, 144; Penskaja 2012:463-464). Allerdings wird die Konzeption einer aufwändigen Synthese zwischen ›Fakt‹ und ›Fiktion‹ im Sinne Puškins beinahe torpediert, indem es in seinen Romanen zu einer eigen- und einzigartigen Sättigung des Narrativs mit historischen Fakten, Sujets und Figuren aus unterschiedlichen Epochen und Kulturen kommt. Ein zentraler Handlungsstrang wird dabei zugunsten der Multiperspektivität zahlreicher, ständig wiederkehrender Figuren aufgegeben, wodurch die ›Geschichte‹ aus einem »passiven ›farbenreichen Rahmen‹« zum »Gegenstand künstlerischer Untersuchung« und zum »Hauptakteur« wird [vgl. »История стала активной, из фона, из пассивной ›колоритной рамки‹ превратилась в объект художественного изучения, в главного героя повествования.«] (Panov/Rančin 1990:12). Dies bedingt auch eine besondere zeitliche Organisation der Handlung. Die sukzessive chronologische Entwicklung einer Sujetlinie wird in Mordovcevs Texten o t zugunsten mehrerer Handlungslinien aufgegeben, die in ihrer Summe den Eindruck vom »Stillstand der Zeit« vermitteln können [vgl. »Порой создается

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Zu Biographie und Werk von Mordovcev siehe ausführlich Miljukov 1990; Panov/Rančin 1990; Meščerjakova 1995; Il’inskaja 1999; Soročan 2007; Ungurianu 2007; Penskaja 2012; Ustinov 2013a, 2013b, 2014.

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Napoleon und der »Vaterländische Krieg« in Russland

впечатление, что романное время остановилось; у него иная динамика: не последовательное развитие одной линии, а развитие как сумма многих линий, каждая из которых может быть подана как почти статичная.«] (Panov/Rančin 1990:12). Dabei »[folgen] die Ereignisse […] weniger aufeinander, sondern begleiten sich vielmehr gegenseitig, was den E fekt der Konzentration und Verdichtung evoziert.« [»События не столько следуют друг за другом, но сопутствуют одно другому, что дает эффект концентрации, нагнетания.«] (Panov/Rančin 1990:12). Zweifelsohne lässt sich darin der Ein luss L.N. Tolstojs erkennen, der das russische Leben in »Vojna i mir« ebenfalls in seiner Ganzheit abbilden wollte (vgl. Kap. 4.3.). Allerdings führt Mordovcev dieses Vorhaben fast ad absurdum, indem er immer mehr Fakten und Figuren eklektisch zusammenführt (vgl. Panov/Rančin 1990:19), ohne dass sie durch ein gemeinsames Prinzip, wie z.B. eine übergreifende ›Philosophie‹ bei Tolstoj, harmonisiert werden. Die »atomare Anhäufung von Fakten« [»атомарное скопление фактов«] führt zur Au hebung der Prinzipien des Historismus und lässt die nationale Geschichte als ein »Lesebuch« [»историческое пособие«] oder als eine »Chronik« [»летопись«] erscheinen, die einem gebildeten Leser die russische Geschichte »in Personen« [»в лицах«] zeigt und in belletristischer Form näherbringt (vgl. Panov/Rančin 1990:18-19). Zugleich erhebt Mordovcev einen Anspruch auf eine faktisch korrekte Schilderung seiner Helden, wobei er historische und historiographische Dokumente o t direkt zitiert und/oder nacherzählt und dabei stets eine »wahrscheinliche Wahrha tigkeit« [»вероятностная истинность«] zu bewahren versucht (vgl. Panov/Rančin 1990:19-20). Darin kann man die pädagogische Bedeutung erkennen, die Mordovcev dem historischen Roman beimaß. Diese sah er unter anderem in der Beantwortung der Frage, »[…] на стороне какого исторического процесса развития человеческих обществ лежит залог будущего, успехи знаний, добра и правды […].« [»[…] auf der Seite welches historischen Prozesses der Entwicklung der menschlichen Gesellscha ten das Pfand der Zukun t und die Erfolge des Wissens, des Guten und der Wahrheit liegen […].«] (Mordovcev 1881:650). Aus dieser Fragestellung wird die für Mordovcev programmatische und durchaus moderne Vorstellung vom unmittelbaren Zusammenhang von Geschichte und Gegenwart ersichtlich, die das Moment der prinzipiellen Darstellbarkeit historischer Ereignisse nur aus der Perspektive aktueller gesellscha tlicher Diskurse mit re lektierte (vgl. Mordovcev 1881:650; Ungurianu 2007:129). Sie verdeutlicht auch die Intention der bewussten Synthese von Historiographie und populärer Literatur (vgl. Mordovcev 1881:643; Ungurianu 2007:144), die seinen »quasihistorischen Romanen« (Soročan 2007) zugrunde liegt. Bezeichnenderweise korrespondiert die faktographische Genauigkeit seiner historischen Prosa mit der Vorstellung von der künstlerischen Intuition des Schri tstellers, mithilfe derer er – ähnlich wie L.N. Tolstoj – die »psychologische Motivation« seiner Helden aufdecken will (vgl. Panov/Rančin 1990:19-20).

4 Der »Vaterländische Krieg« in der russischen historischen Prosa des 19. Jahrhunderts

Der ambivalente Umgang Mordovcevs mit historischen Quellen in Bezug auf die ematik des »Vaterländischen Krieges« lässt sich mit seiner Verarbeitung der »Notizen des Fräulein Kavallerist« [»Zapiski kavalerist-devicy«] (Durova 1836, ergänzt 1839) von Nadežda Andreevna Durova (1783-1866) für seinen Roman »Dvenadcatyj god« [»Das Jahr 1812«] (Mordovcev 1880) illustrieren. Die »Notizen…« von Nadežda Durova lassen sich als hybrider Text im Spannungsfeld zwischen Autobiographie und belletrisierter Selbstdarstellung betrachten (Prikazčikova 1995; Goller 1996; Savkina 2002; Stroganova 2002; Kutipov 2011). Im Mittelpunkt des Textes steht die Lebensgeschichte der autobiographischen Heldin Nadežda Durova, die sich im Alter von 16 Jahren als Mann verkleidet und 1806 heimlich aus dem heimatlichen Haus lieht. Darau hin lässt sie sich als Bursche in eine Kosakentruppe aufnehmen. Im Weiteren nimmt Durova an vielen Kämpfen teil, darunter auch an der Schlacht von Borodino, und wird vom Zaren Aleksandr I. für die Rettung eines im Kampf verletzten O fiziers mit dem Georgskreuz ausgezeichnet. Die künstlerische Spannung wird in Durovas Text insbesondere durch die Konstruktion der eigenen Identität im Spannungsfeld zwischen dem weiblichen und dem männlichen Geschlecht erzeugt (vgl. Savkina 2002:201, 212, 214, 217, 222-223). Durch das bewusste Ablegen ihrer weiblichen Rolle als Ehefrau und Mutter beansprucht Durova die Freiheit, die den Männern vorbehalten ist, und problematisiert somit das traditionelle Frauenbild, indem sie zeigt, dass sie sich auch als Frau in der extremen Situation des Krieges behaupten kann. Zu zentralen Elementen der Poetik der »Notizen…« gehören die angebliche »Jungfräulichkeit« [»девичество«] der Heldin und die »liebesfreie Motivierung« [»безлюбовная мотивировка«] ihres Handelns (vgl. Stroganova 2002:43). Durova streitet die Möglichkeit sexueller Beziehungen in der Armee konsequent ab, was einerseits als Verschleierung ihrer realen Biographie und somit als ein wichtiger Motivationsgrund für die Verfassung der »Notizen…« gelten kann (vgl. Stroganova 2002:46). Andererseits würde die Erwähnung der Ehe ihre »Autokonzeption einer jungen weiblichen Seele, die selbstständig und furchtlos ihr eigenes Schicksal wählt« [»автоконцепцию юной женской души, самостоятельно и безбоязненно выбирающей собственную судьбу«], unterminieren (vgl. Savkina 2002:212). Bereits in den 60er Jahren des 19. Jahrhunderts wurden die realen Tatsachen aus Durovas Biographie bekannt, die zeigen, dass ihre in den »Notizen…« erzählte Geschichte eine künstlerische Inszenierung darstellt: Durova war bereits 23 Jahre alt, als sie in die Armee loh; zu diesem Zeitpunkt war sie verheiratet und hatte einen Sohn (vgl. Blinov 1888; Lašmanov 1890; Nekrasova 1890; Saks 1912). Die grundlegende Ambivalenz von Durovas »Notizen…« als fingierte Autobiographie zeigte sich bereits in den ersten Versuchen, ihre Biographie zu schreiben (vgl. Blinov 1888; Nekrasova 1890; Saks 1912). Die Kommentatoren wiesen zwar auf die Unstimmigkeiten zwischen ihrem Text und ihrer realen Biographie hin, bedienten sich dann

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aber dennoch extensiv der Darstellungen ihrer Kindheit und ihres Lebens in der Armee, ohne deren Authentizität in Frage zu stellen. Die »Notizen…« N.A. Durovas und die Figur des »Fräulein Kavallerist« wurden im 19. und 20. Jahrhundert intensiv rezipiert (vgl. Belov 2014). Im »patriarchalischen Diskurs« der populären Literatur, der der Verdrängung der Weiblichkeit in Durovas Text entgegenwirkte (vgl. Stroganova 2002:46), wurde dieser vor allem auf die darin angelegten Liebeskollisionen (heimliche Liebe der Heldin zu einem Kameraden bzw. Liebe einer Frau zu ihr als Mann) und das Motiv der Travestie reduziert. Als Beispiel kann die Erzählung von Lidija Alekseevna Čarskaja (1875-1937) »Smelaja žiznʼ. Podvigi zagadočnogo geroja« [»Ein tapferes Leben. Die Heldentaten eines geheimnisvollen Helden«] (1905) (Čarskaja 1908) dienen (vgl. Ungurianu 2007:174-175, 266). Außerdem gab es populäre Variationen und Nacherzählungen, wie z.B. die 1876 erstmals erschienene anonyme Broschüre ›für die Volkslektüre‹ [›dlja narodnogo čtenija‹] »Voin-devica ili Russkie ljudi v 1812 godu« [»Das FräuleinKrieger oder Die russischen Menschen im Jahr 1812«] (Voin-devica 1880). 1887 erschien eine Nacherzählung der »Notizen…« Durovas unter dem Namen V. Bajdarov (Bajdarov 1887), die auch die zeitgenössischen Kritiker verwunderte (vgl. Blinov 1888:414; Belov 2014:182). Im Kontext der Popularisierung des »Vaterländischen Krieges« fungieren die »Notizen…« Durovas vor allem als Kriegsmemoiren. Die Geschlechterproblematik tritt gegenüber ihren Heldentaten in den Hintergrund bzw. dient der Aufwertung des weiblichen Heroismus. Dabei werden insbesondere der Mut der Heldin, ihre Begegnung mit dem Zaren Aleksandr I., ihre Auszeichnung mit dem Georgskreuz sowie ihr Posten als Ordonnanz von Kutuzov thematisiert. Im eaterstück »für das Volkstheater« des Dramatikers Zachar Borisovič Osetrov (18??–19??) »Nočʼ posle Borodinskoj bitvy« [»Die Nacht nach der Schlacht von Borodino«] (1903) wird das Motiv des Rollenwechsels intensiv genutzt, um Durova zum Symbol der Einigung aller Stände und sozialen Gruppen im Kampf gegen Napoleon und zur Anführerin der Partisanen aus dem einfachen Volk zu stilisieren (Osetrov 1903). Hier zeigt sich, dass die Aufwertung der Frauen im heroischen Diskurs über den »Vaterländischen Krieg« gern parallel zur Aufwertung des ›einfachen Volkes‹ benutzt wird und beides sich o t gegenseitig bedingt, z.B. durch den Rekurs Polinas auf den »russischen Scaevola« in Puškins Textfragment »Roslavlev…« (vgl. Kap. 4.1.). Im Jubiläumsjahr 1912 erschien ein Teil der »Notizen…« über den Krieg von 1812 mit einem Vorwort des Historikers und Mitherausgebers der siebenbändigen Reihe »Otečestvennaja vojna i russkoe obščestvo« [»Der Vaterländische Krieg und die russische Gesellscha t«] (vgl. Kap. 3.1. und 5.2.), Konstantin Adamovič Voenskij (1860-1928), der die Kindheit Durovas und die vorangegangenen Ereignisse für den Leser kurz referiert (Durova 1912). Die literarische Verarbeitung der Figur Durovas in Mordovcevs Roman »Dvenadcatyj god« wurde durch eine publizistische Hinwendung zu ihrer Per-

4 Der »Vaterländische Krieg« in der russischen historischen Prosa des 19. Jahrhunderts

son in seinem Zyklus »Russkie ženščiny Novogo vremeni« [»Russische Frauen der Neuzeit«] (1874) vorbereitet. Diese Publikation lässt die für Mordovcev charakteristische Aufwertung der russischen Frau erkennen (vgl. Mordovcev 1874:IX, Verweis aus Soročan 2007:72-73). Die von Durova gescha fene Mystifikation erweist sich als geeignet, um Mordovcevs subjektive und zweifelsohne durch die feministischen Diskurse der 60er Jahre des 19. Jahrhunderts geprägte Vorstellung von Durova als »Urahnin« und positives Vorbild für »alle neuen russischen Frauen« [»прародительница всех новых русских женщин«] zu transportieren: »Дурова была первая русская женщина, которая своею собственною жизнью доказала, что с твердою волею и для женщины, как для мужчины, все достижимо […].« [»Durova war die erste russische Frau, die durch ihr eigenes Leben bewies, dass mit hartem Willen auch für die Frau, ebenso wie für den Mann, alles erreichbar ist […].«] (Mordovcev 1874:142-143; vgl. Nekrasova 1890:594; Savkina 2002:223). Dabei folgt Mordovcev noch weitgehend den Angaben aus Durovas »Notizen…« und schlägt die Möglichkeit romantischer Liebe in der Armee entschieden aus (vgl. Mordovcev 1874:145-146; vgl. Savkina 2002:212). Im Roman »Dvenadcatyj god« stellt die Biographie Durovas eine der zentralen Handlungslinien dar. Mordovcev tritt zunächst als ihr Biograph auf, indem er sich an eine historisch-kritische Herangehensweise anlehnt und den auktorialen Erzähler Passagen aus ihren »Notizen…« zitieren und dem Leser erklären lässt (vgl. Soročan 2007:74). Gleichzeitig wird Durovas Text bei Mordovcev wesentlich modifiziert: Er macht das in den »Notizen…« angelegte, aber verdrängte Motiv der romantischen Liebe22 produktiv, indem er die Biographie Durovas um die fiktive Geschichte ihrer Liebe zu einem Kameraden, dem Kosaken Grekov, ergänzt. Der tragische Tod Grekovs in der Schlacht von Borodino führt bei Durova zu einem Identitätskon likt, nicht nur weil die Liebe zu Grekov ihre verdrängte Weiblichkeit wieder zurückkehren lässt, sondern weil sie ihren Lebensweg und die Heroik des Krieges vor dem Hintergrund des persönlichen Verlustes radikal in Frage stellt: »Вся ее жизнь стала казаться ей ошибкой. Зачем она шла на смерть, зачем сама убивала?«23 [»Ihr ganzes Leben kam ihr nunmehr wie ein Fehler vor. Wozu ging sie in den Tod, wozu tötete sie selbst?«] (Mordovcev 1880:č. 3, 214). Der Roman endet damit, dass Durova aufgrund ihrer Verletzung von Kutuzov nach Hause geschickt wird und »weg vom Tod« [»[…] дальше от смерти!«] (Mordovcev 1880:č. 3, 215) zu ihrem Vater zurückkehrt.

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Einer tiefergehenden psychoanalytischen Analyse wäre die in Durovas »Notizen…« verdeckte und bei Mordovcev explizierte Beziehung der Heldin zu ihrem Vater und insbesondere zu Napoleon wert, für den sie eine Art erotische Hassliebe empfindet. Bezeichnenderweise wird das Töten des Gegners in den »Notizen…« Durovas nicht direkt thematisiert (vgl. dazu Savkina 2002:217-218).

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Bezeichnenderweise wird Durova in »Dvenadcatyj god« nicht nur als Kriegsheldin in eine Reihe mit den männlichen Figuren wie Davydov oder Seslavin gestellt, sondern auch als Autorin in den Kanon der russischen Schri tsteller eingeschrieben (vgl. Soročan 2007:72-74; Soročan 2008:309). Mordovcev lässt sie in der für ihn typischen Manier zusammen mit einer ganzen Schar männlicher russischer Literaten (Novikov, Merzljakov, Deržavin, Greč, Krylov, Žukovskij, Puškin, Del’vig u.a.) au treten, die ihre Werke vorlesen und literarische Debatten führen. Darin zeigt sich insbesondere die für Mordovcev charakteristische Literarisierung der Geschichtsdarstellung: Er fasst die russische nationale Geschichte als eine Literaturgeschichte auf (vgl. Soročan 2007:77-79). Zu einem Leitmotiv avanciert die Szene, in der der russische Dichter Vasilij Andreevič Žukovskij (1783-1852) nach der Schlacht von Borodino an einem Lagerfeuer sein Gedicht »Pevec vo stane russkich voinov« [»Ein Sänger im Lager der russischen Krieger«] (1812) vorliest (Mordovcev 1880:č. 3, 166-173) und dabei von Durova beobachtet wird. Diese Episode, die Mordovcev in mehreren seiner Texte in fast unveränderter Form verarbeitet, zeigt exemplarisch, wie sich die Geschichte nach dem Muster eines literarischen Werkes entfaltet (vgl. Soročan 2007:77-78). Žukovskij würdigt die gefallenen und die noch lebenden Helden des Krieges von 1812, die sich nach der Schlacht um ihn herum versammeln. Dabei wird einer literarischen Quelle, die einen Kanon der Schlüsselfiguren des »Vaterländischen Krieges« konstruiert, der Charakter eines historischen Faktes verliehen. Die heroische Linie des Gedenkens an den »Vaterländischen Krieg«, die sich bei Mordovcev in literarischer Form – sowohl in den »Notizen…« Durovas als auch im Gedicht Žukovskijs – manifestiert, wird gleichzeitig durch die individuelle Augenzeugenperspektive Durovas verfremdet, die um den gefallenen Grekov trauert. Somit aktualisiert Mordovcev die von Tolstojs »Vojna i mir«24 geprägte Tendenz zur Deheroisierung des Krieges, indem er das heroische Pathos des traditionellen »napoleonischen Narrativs« durch das persönliche Leid einer Augenzeugen-Figur verfremdet. Noch viel mehr jedoch wird die strenge Logik des o fiziellen Kriegsnarrativs durch den bereits angesprochenen Eklektizismus in Mordovcevs Werk unterminiert. Die »panoramaartige« Schilderung historischer Figuren und Ereignisse, die lediglich durch den künstlerischen Willen des Autors auf der »einheitlichen Bühne« [»единая сцена«] (Panov/Rančin 1990:26) des »Dvenadcatyj god« au treten, führt beinahe zum Verwischen der Grenze zwischen ›Fakt‹ und ›Fiktion‹ und

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L.N. Tolstojs »Vojna i mir« stellt einen der zentralen Prätexte für »Dvenadcatyj god« dar und wird von Mordovcev in unterschiedlicher Weise intensiv verarbeitet. Er übernimmt nicht nur wörtlich die Schilderung einzelner Episoden, sondern integriert auch Elemente von Tolstojs Philosophie, z.B. seine Überlegungen zur Notwendigkeit der historischen Ereignisse (vgl. Soročan 2007:76). Diese ersten Erkenntnisse wären einer weiteren Untersuchung anhand eines genauen Textvergleichs wert.

4 Der »Vaterländische Krieg« in der russischen historischen Prosa des 19. Jahrhunderts

zur Au hebung der grundlegenden Oppositionen (z.B. ›authentisch‹ vs. ›nichtauthentisch‹ oder ›wahr‹ vs. ›falsch‹), sodass auch entgegengesetzte Zuschreibungen parallel existieren können. Dies erschwert jeglichen Versuch einer übergreifenden, einheitlichen Interpretation der Geschichte (vgl. Panov/Rančin 1990:19). Charakteristischerweise verglich ein zeitgenössischer Rezensent Mordovcev mit einem »Raёk-Vorführer« [»raёšnik« < ›raёk‹, dt. ›Guckkasten‹], der in seinem Guckkasten zufällig zusammengestellte, aber gleichwohl »interessante« Bilder präsentiert (vgl. Dvenadcatyj god 1880:51). Das Primat der »poetischen Lüge« vor historischen Fakten lässt sich anhand der Darstellung von Nadežda Durova in einem weiteren Roman von Mordovcev, »Vel’možnaja panna« [»Das adelige Fräulein«] (1903) (Mordovcev 1903), illustrieren, in dem die Biographie der polnischen Fürstin Apolline Hélène Massalska (1763-1815) verarbeitet wird. Der »Vaterländische Krieg« wird hier nur am Rande erwähnt und weist keinen direkten Zusammenhang mit der Haupthandlung auf (vgl. Soročan 2007:201). In einem seiner Exkurse zu Beginn des Romans entlarvt der auktoriale Erzähler die »Notizen…« des »quasi-Fräuleins« [»quasi-девочка«] (Mordovcev 1903:č. 1, 49) Durova als »poetische Lüge« und beru t sich dabei auf eine Publikation des Ethnographen und Schri tstellers Nikolaj Nikolaevič Blinov (1839-1917) (Blinov 1888). Nichtsdestotrotz schließt der Erzähler seine Schmährede mit folgendem Statement ab, in dem er den engen Zusammenhang zwischen der Einbildungskra t eines Dichters und dem Erzählen von ›Geschichte‹ betont: Впрочем, не будь этой поэтической лжи, не будь поэтического творчества и с ним – иллюзий, у нас, может быть, не было бы ни Гекубы и Андромахи, ни милой истерической Кассандры, ни прелестной Ифигении, ни злополучных Джюльетты и Дездемоны, ни кроткой Корделии… (Mordovcev 1903:č. 1, 50-51) Doch gäbe es diese poetische Lüge nicht, gäbe es keine poetische Schöpfung und damit keine Illusionen – dann würden wir vielleicht weder Hekuba und Andromache noch die liebe hysterische Cassandra, weder die schöne Iphigenie noch die unglückselige Julia und Desdemona noch die san te Cordelia haben… Darau hin werden die Geschichte Durovas und die Episode mit Žukovskij aus dem Roman »Dvenadcatyj god« übernommen und in Form von Exkursen in die neue Handlung um die Fürstin Massalska integriert (vgl. Mordovcev 1903:č. 2, ab Kap. XXVI). Dies verdeutlicht die Funktion einer historischen Quelle in Mordovcevs Werken als Vorlage für die »poetische Schöpfung« des Autors und sein Spiel mit dem Leser. Somit erscheint auch die Frage, ob und wann Mordovcev die wahre Biographie Durovas erfahren hatte (vgl. Soročan 2007:75), hinfällig. Dass der emenkomplex um Žukovskij, Durova und das Jahr 1812 für Mordovcev eine werkübergreifende Bedeutung hatte, zeigt die Variation dieser ematik in seiner späteren Erzählung »Kto-to vernetsja (Borodino). Istoričeskij rasskaz. Iz vre-

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Napoleon und der »Vaterländische Krieg« in Russland

men našestvija Francuzov na Rossiju« [»Jemand wird zurückkehren/Wird jemand zurückkehren? (Borodino). Eine historische Erzählung. Aus den Zeiten des Überfalls der Franzosen auf Russland«] (1899) (Mordovcev 1904). Bereits die aufwändige Gestaltung der Titel dient der Authentisierung der fiktiven Episode, indem diese als eine »historische Erzählung« aus der weit zurückliegenden Vergangenheit stilisiert wird. Mordovcev verarbeitet hier wiederum die oben beschriebene Szene aus dem Roman »Dvenadcatyj god«: Žukovskij liest an einem Lagerfeuer sein Gedicht »Pevec vo stane russkich voinov« vor und wird dabei von Durova beobachtet, die um ihren gefallenen Geliebten Grekov trauert. Allerdings wird die Episode einer weiteren narrativen Brechung unterzogen, indem sie dem jungen Kosaken Boris Krasnoščekov in den Mund gelegt wird, der in der Schlacht von Borodino einen Arm verloren hat und im Herbst 1812 als Verwundeter nach Novočerkassk zurückkehrt. Durch seine Schilderung der Lesung, der Boris als Augenzeuge beiwohnte, und seine Rezitation von Žukovskijs Gedicht in Anwesenheit von Verwandten und Gästen werden die Helden von Borodino, insbesondere Ataman Platov, nochmals geehrt und als Kanonfiguren gefestigt. Auch der junge Boris wird von der Kosakengemeinscha t gewürdigt, indem sein Vater das schönste Mädchen des Dorfes an ihn verheiratet. Am Ende der Erzählung stellt sich heraus, dass fast jede Familie in Novočerkassk Angehörige im Krieg von 1812 verloren hat und niemand weiß, wer und ob überhaupt »jemand zurückkehren wird«. Mit dieser späteren Verarbeitung der ematik des »Vaterländischen Krieges« weist Mordovcev einerseits auf die historische Rolle der Kosaken in der russischen Armee hin, wobei das künstlerische Potenzial eines literarischen Blicks auf historische ›Fakten‹ deutlich wird (vgl. Soročan 2007:78). Andererseits wird mit der Aktualisierung der Sujetlinie um Nadežda Durova die allgemeinmenschliche und persönliche Tragik des Krieges betont. Mit seiner einzigartigen Ästhetik trug Mordovcev zur Formung eines einheitlichen literarisierten Bildes der Epoche von 1812 in nahezu enzyklopädischer Form bei. Er aktualisierte die von Tolstoj geprägte Tendenz zur Deheroisierung des Krieges und deutete – ähnlich wie G.P. Danilevskij (vgl. Kap. 4.4.) – einen Weg zur Verfremdung des o fiziellen Kriegsnarrativs durch die persönliche Tragödie eines Augenzeugen bzw. Kriegsteilnehmers an. Diese Tradition wurde im Jubiläumsjahr 1912 vor allem in der Prosa von I.A. Ljubič-Košurov fortgeführt (vgl. Kap. 5.4.). Mordovcevs Vorstellung von der großen didaktischen Rolle der historischen Prosa wurde im Jubiläumsjahr 1912 vor allem in den Werken von V.P. Avenarius aufgegriffen, der jedoch konventioneller vorging (vgl. Kap. 5.3.). Trotz dieser Kontinuitäten muss man feststellen, dass Mordovcevs extensive panoramaartige Darstellung historischer Ereignisse, bei der die russische nationale Geschichte zu einem außerzeitlichen Fundus von Figuren und Sujets avanciert und der Zugang zum speziellen historischen Wissen auf einem intellektuellen Spiel mit dem Leser basiert, sich in Bezug auf den »Vaterländischen Krieg« als nicht produktiv erwiesen hat. Ähnlich

4 Der »Vaterländische Krieg« in der russischen historischen Prosa des 19. Jahrhunderts

wie Tolstojs monumentales Werk »Vojna i mir« eignete sich die eigenartige semantische Polyvalenz von Mordovcevs Texten wohl kaum dazu, die strenge Logik des »napoleonischen Narrativs« zu transportieren. Bereits die zeitgenössischen Kritiker begegneten der historischen Prosa Mordovcevs mit Skepsis. In den Rezensionen auf den Roman »Dvenadcatyj god« wurde dem Autor vor allem der willkürliche Umgang mit historischen Fakten und die mangelnde Authentizität vorgeworfen (vgl. Dvenadcatyj god 1880; Šelgunov 1880). Der Historiker und Literaturkritiker Nikolaj Ivanovič Subbotin (1823-1905) benutzte die pejorative Bezeichnung »Historiker-Belletrist« [»историк-беллетрист«], die seine negative Haltung zu literarischen Verarbeitungen von Geschichte widerspiegelte (Subbotin 1881:149; vgl. Soročan 2007:5, 53). Die Spuren dieses Unbehagens gegenüber Mordovcev lassen sich auch in der heutigen russischen Forschung erkennen, wenn z.B. von »Mordovcevs Gesetzlosigkeit/Willkür« [»беззаконие Мордовцева«] die Rede ist (Penskaja 2012:464).

4.6

Zwischenbilanz

Die Untersuchung ausgewählter Werke aus dem 19. Jahrhundert lässt die Entwicklung von literarischen Repräsentationsformen des »Vaterländischen Krieges« und die Herausbildung von Sujets und Motiven erkennbar werden, die später im Jubiläumsjahr 1912 aufgegri fen und aktualisiert werden. Der allgemeine Rahmen dafür wurde durch die realistische Tradition der russischen historischen Prosa gegeben, die sich zu Beginn des 19. Jahrhunderts unter dem Ein luss der Romantik und der Ästhetik von Walter Scott formt und auf eine Synthese zwischen dem ›historischen Rahmen‹ und der ›Romangeschichte‹ abzielt. Die Analyse des Verhältnisses von ›Fakt‹ und ›Fiktion‹ erweist sich dabei als hilfreich, um die Formung der staatso fiziellen Kriegsinterpretation zu verfolgen sowie die E fekte deren Popularisierung in literarischen Texten zu untersuchen. Die Logik der Anpassung von ›Fakt‹ und ›Fiktion‹ wird in großem Maße in den ersten literarischen Verarbeitungen der Epoche von 1812 durch M.N. Zagoskin und A.S. Puškin in den 30er Jahren des 19. Jahrhunderts festgelegt. Während Zagoskin das Prinzip des Historismus zugunsten einer ideologisch konformen Vorstellung von der Unveränderlichkeit der positiven Eigenscha ten der Russen beinahe aufgibt, bemüht sich Puškin um eine aufwändige Anpassung von ›historischem Rahmen‹ und ›Romangeschichte‹, indem er den der historischen Episode innewohnenden Kon likt – die Unmöglichkeit der persönlichen Liebe der Heldin zum Feind des Vaterlands – in den Vordergrund stellt. Auch schreibt Puškin den »Vaterländischen Krieg« in die zentralen Diskurse um die russische nationale Identität – etwa um den Ein luss des kulturellen Vorbilds Frankreich auf die russische Kultur, um die schöngeistige Literatur oder die Rolle der Frau – ein. Dadurch erhält die

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Handlung auf mehreren Ebenen eine tiefergehende Motivierung. Auch wenn Zagoskins Modell einer ideologisch konformen Geschichtsdarstellung, in der ›Fakt‹ und ›Fiktion‹ durch eine nationale Idee aufeinander bezogen werden, für weitere Verarbeitungen des »Vaterländischen Krieges« zweifelsohne produktiv bleibt, ist es das Textfragment Puškins, das im literaturkritischen bzw. poetologischen Diskurs für die Kritiker unterschiedlichster Ausrichtungen bis ins 20. Jahrhundert hinein zum Ideal der russischen historischen Prosa über den »Vaterländischen Krieg« erklärt wird. Mit seiner künstlerischen Synthese von ›Fakt‹ und ›Fiktion‹, die auf einer intensiven Auseinandersetzung mit historischem Material und literarischen Prätexten basiert und ein polysemantisches Bild der historischen Epoche liefert, deutet Puškin den Weg zu einer kritischen Auseinandersetzung mit der staatso fiziellen Kriegsinterpretation an, indem sich die ungenügende Integration von ›historischem Rahmen‹ und ›Romangeschichte‹ auf eine ideologische Überfrachtung literarischer Texte zurückführen lässt. Dieser Strategie bedienen sich im Jubiläumsjahr 1912 auch die ›liberalen‹ Wissenscha tler aus dem Kreis des ORTZ (vgl. Kap. 5.2.). Als weiterer Höhepunkt der literarischen Verarbeitung der Epoche von 1812 kann L.N. Tolstojs monumentales Werk »Vojna i mir« gelten. Tolstoj entwir t ein breites Panorama des russischen Lebens und perfektioniert den Ansatz Puškins, indem er realhistorische und fiktionale Figuren auf der Basis umfangreicher historiographischer Recherchen in einer nicht au lösbaren Einheit au treten lässt. Zugleich werden ›Fakt‹ und ›Fiktion‹ in großem Maße durch seinen subjektiven Blick auf die Epoche von 1812 aufeinander bezogen. Tolstoj nivelliert die Rolle des Individuums im Prozess historischer Entwicklung zugunsten einer ›Bewegung der Massen‹ und schildert den Krieg als humanitäre Katastrophe. Auch prägt er nachhaltig die Darstellung des »Vaterländischen Krieges«, indem er zur Eingrenzung des Narrativs auf das Jahr 1812 beiträgt und eine epische Perspektive scha t, die den allumfassenden Charakter des Krieges illustriert. Von großer Bedeutung für die literarische Darstellung des »Vaterländischen Krieges« sind die von Tolstoj gescha fenen Volkscharaktere und Kollektivbilder eines nichtrationalen russischen Patriotismus sowie die Tendenz zur Didaktisierung der Geschichtsdarstellung. Allerdings zeigt sich, dass Tolstojs künstlerisch rekonstruiertes facettenreiches Bild der Epoche von 1812 nur zum Teil mit dem »napoleonischen Narrativ« konform geht und sich nicht ohne weiteres auf dessen strenge Logik reduzieren lässt. Der traditionellen Heroisierung des Krieges wirkt nicht nur seine subjektive ›Philosophie der Geschichte‹ entgegen, aus der ein abwertendes Bild der russischen Militärführung, insbesondere Kutuzovs, resultiert, sondern auch sein antimilitaristisches Pathos und die Verfremdung des Krieges als allgemeinmenschliche Katastrophe. Die Entwicklung der Prosa über den »Vaterländischen Krieg« nach »Vojna i mir« lässt sich als eine Demontage des komplexen künstlerischen Gebildes zu kleineren epischen Formen und als dessen Anpassung an die traditionelle Kriegsin-

4 Der »Vaterländische Krieg« in der russischen historischen Prosa des 19. Jahrhunderts

terpretation beschreiben. Bemerkenswert dabei ist zum einen die Hinwendung zu einem früheren Repräsentationsmodell, das auf der Trennung der ›historischen‹ und der ›literarischen‹ Linie basiert, die sich regelmäßig abwechseln, jedoch nicht zwingend miteinander verwoben werden. Dieses Modell liegt den Romanen D.S. Dmitrievs zugrunde. Zum anderen rücken die Frage nach der Tragödie des einzelnen Schicksals im Krieg und die Problematik einer authentischen Tradierung der Kriegserfahrung in den Vordergrund, wie es im Roman G.P. Danilevskijs zum Ausdruck kommt. Eine Sonderstellung in der russischen Prosa des ausgehenden 19. Jahrhunderts hat das Werk D.L. Mordovcevs. Die aufwändige Synthese von ›Fakt‹ und ›Fiktion‹ und das Prinzip des Historismus werden hier zugunsten der Vorstellung von ›Geschichte‹ als einer außerzeitlichen Quelle der Erfahrung aufgegeben. Sie erscheint als Sammelsurium von Fakten und Figuren der Weltgeschichte, die sich nach literarischen Mustern ordnen und der Bildung oder der intellektuellen Unterhaltung des Lesers dienen. Zugleich können die enzyklopädische Sättigung der historischen Narrative und die zunehmende Literarisierung der Geschichtsdarstellung auch als Re lexe der prinzipiellen Ungewissheit des historischen Wissens und als daraus resultierendes Bedürfnis nach ›Fakten‹ interpretiert werden. Die literarischen Texte des 19. Jahrhunderts über den »Vaterländischen Krieg« lassen die Herausbildung der zentralen Topoi des traditionellen »napoleonischen Narrativs« nachverfolgen. Dazu gehört die Idee der Vereinigung aller Schichten der russischen Gesellscha t angesichts der gemeinsamen Gefahr sowie das Erwachen eines nationalen Bewusstseins, das das persönliche Glück dem Wohl der Heimat bzw. des Vaterlands unterstellt. Vor diesem Hintergrund wird die charakteristische Umkehrung der Verhältnisse inszeniert: Das scheinbar ›barbarische‹ und dem Westen unterlegene Russland erweist/stilisiert sich nach dem Sieg über Napoleon als das geistig überlegene. Diese Logik wird mit einer Reihe von wiederkehrenden Sujets und Motiven inszeniert. Als zentral ist das Motiv der sozialen Hierarchie zu betrachten. Das sujetbildende Potenzial dieses Motivs ergibt sich daraus, dass gesellscha tliche Hierarchien durch den Krieg vorübergehend ins Wanken geraten, umgekehrt und schließlich wiederhergestellt werden können. Als produktiv erweist sich die Gegenüberstellung von Adeligen und ›einfachem Volk‹, womit vor allem Bauern und Bedienstete gemeint sind. Die Polarisierung der Stände dient als Hintergrund, um die Idee der Einheit aller Schichten ›um den ron‹ angesichts der gemeinsamen Gefahr zu veranschaulichen. Dabei wird auch die Vorstellung vom ›russischen Volk‹ ausgehandelt, die von einer charakteristischen Ambivalenz gekennzeichnet ist. Einerseits wird das ›einfache Volk‹ idealisiert und zum Vorbild eines intuitiven ›wahren‹ Patriotismus stilisiert, aus dem die aufgeklärten Heldinnen und Helden von Puškin, Tolstoj und Danilevskij ihre Identität als Patriotinnen und Patrioten beziehen. Andererseits werden aber auch die Rückständigkeit und Passivität des russischen Volkes betont, das ganz im Sinne des ›Szenarios der Macht‹ von

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Napoleon und der »Vaterländische Krieg« in Russland

Aleksandr I. bzw. Nikolaj II. einer Lenkung ›von oben‹ bedarf (vgl. Kap. 2.3.). Dabei erweist sich die Vorstellung einer Standeshierarchie als hilfreich, um die Möglichkeit des sozialen Aufstiegs durch einen heldenha ten Dienst am Vaterland zu inszenieren. Au fallend ist die von Puškin angedeutete und von Danilevskij aufgegri fene Parallelisierung von weiblichem und ›Volkspatriotismus‹: Beide Gruppen können durch ihre Heldentaten über ihre Genderrolle bzw. soziale Stellung hinaus aufgewertet werden. Als weiteres wichtiges Motiv ist das auf Walter Scott zurückgehende Motiv einer Liebesgeschichte zu nennen. Die Teilnahme an Kriegshandlungen und das Überleben des Krieges gehören meist zu den notwendigen Voraussetzungen für das persönliche Glück der Protagonisten. O t hängt das persönliche Glück auch von der sozialen Stellung der Helden ab: Ein glückliches Familienleben kann sich bei Dmitriev und Danilevskij nur in einer standesgemäßen Beziehung entfalten. Ein häufig verarbeitetes Motiv stellt die Liebe zum Gegner des Vaterlands dar. Während die Liebe zum Feind in Zagoskins »Roslavlev…« aus ideologischen Gründen von vorne herein abgelehnt wird, wird sie bei Puškin problematisiert und gerade in den Mittelpunkt des Kon likts gerückt. Indem er das Motiv der Liebe zu einer Frau mit dem der Liebe zum Vaterland zusammenführt, formuliert Puškin die Idee eines ›wahren‹ Patriotismus durch den Verzicht auf das persönliche Liebesglück. Damit wird ein wirkungsmächtiges Ideologem gesti tet: Die postulierte Identität des persönlichen Glücks mit dem Russlands legt eine unmittelbare Identifikation des Subjekts mit dem »napoleonischen Narrativ« nahe. Auch in G.P. Danilevskijs Roman macht Avrora ihr persönliches Glück abhängig von dem des Vaterlands und macht somit die ideelle Einheit mit ihrem Verlobten zur Voraussetzung für ihr persönliches Glück. Dabei wird der männliche Protagonist Perovskij durch eine weibliche Instanz im Sinne einer patriotischen Idee initiiert. Allerdings zeigt sich gerade vor dem Hintergrund der persönlichen Verluste im Krieg auch die Kehrseite, das Motiv der verhinderten Liebe. Anhand der Figuren Perovskijs in Danilevskijs »Sožžennaja Moskva« und Durovas in Mordovcevs »Dvenadcatyj god«, deren Liebesglück durch den Krieg für immer zerstört wird, wird das traditionelle heroische Pathos des »napoleonischen Narrativs« kritisch re lektiert.

5 Der »Vaterländische Krieg« in literaturkritischen und literarischen Diskursen des Jubiläumsjahres 1912

Das 100-jährige Jubiläum des »Vaterländischen Krieges« gab einen starken Impuls für die Aktualisierung der russischen literarischen Tradition des 19. Jahrhunderts. Es wurden nicht nur die Werke der russischen Klassiker nachgedruckt bzw. neu aufgelegt, z.B. Michail Nikolaevič Zagoskins (1789-1852) »Roslavlev…« (1831) (Zagoskin 1912) oder Lev Nikolaevič Tolstojs (1828-1910) »Vojna i mir« [»Krieg und Frieden«] (1868/69) (Tolstoj 1912), sondern auch Lyrik- und Prosaanthologien publiziert. Diese wurden z.B. von den Pädagogen Konstantin Vasil’evič Elpat’evskij (1854-1933), Nikolaj Polievktovič Dučinskij (1873-1932) und Avgusta Vladimirovna Mez’er (Mezier) (1869-1935) herausgegeben und vermittelten die Schlüsseltexte über den »Vaterländischen Krieg« vor allem im schulischen Bereich (z.B. Elpat’evskij 1912; Dučinskij 1912; Mez’er 1912). Zugleich entstanden viele hybride Werke, die ihre Wirkungskra t aus einer Synthese von militärhistorischen, literarischen und visuellen Quellen beziehen. Als Beispiel kann das Hilfswerk für die Organisation eines Schulfestes »Škol’nyj prazdnik v pamjatʼ slavnych podvigov rodnych geroev 1812 goda« [»Ein Schulfest zum Gedenken der ruhmreichen Heldentaten unserer lieben Helden von 1812«] von der Pädagogin und Schri tstellerin für Kinder Klavdija Vladimirovna Lukaševič (1859-1937) (Lukaševič 1912) dienen.1 Trotz des breiten Spektrums der populären Medien, die in der kommerziellen Jubiläumskultur entstehen (vgl. Katalog 1912; Šibanov 1912; Lapin 2012a), fällt auf, dass es im Jahr 1912 verhältnismäßig wenige eigenständige Werke der historischen Prosa über den »Vaterländischen Krieg« gab. Ein zeitgenössischer Kritiker spricht von ca. »20 kleinen Erzählungen«, die sich vor allem an »Kinder und Jugendliche« richten (vgl. Pokrovskij 1913:129-130), dies wird auch von der heutigen Forschung bestätigt (vgl. Ungurianu 2007:235-236, 248-249, 260). Einerseits lässt 1

Diese umfangreiche Gruppe von Werken kann an dieser Stelle nicht behandelt werden, da sie den Rahmen der spezifisch literarischen Tradierung des »napoleonischen Narrativs« sprengt. Sie wäre gerade aufgrund der Heterogenität der in diesen Medien verarbeiteten Quellen einer eigenen Untersuchung wert.

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Napoleon und der »Vaterländische Krieg« in Russland

sich dieser Befund auf den Ein luss von Tolstojs »Vojna i mir« zurückführen, dessen Rezeption bereits im 19. Jahrhundert unter anderem mit der Hinwendung zu kleineren epischen Formen einherging (vgl. Kap. 4.3.). Andererseits macht sich auch die fortschreitende Sedimentierung der Erinnerung an die ›ruhmreiche Epoche von 1812‹ im kollektiven Gedächtnis bemerkbar. Diese Prozesse werden im vorliegenden Kapitel exemplarisch anhand zweier Autoren aus dem Jubiläumsjahr 1912 näher untersucht. Die Aktualisierung der Diskussionen um den »Vaterländischen Krieg« wird zunächst am Beispiel von historiographischen und literaturwissenscha tlichen Werken des ausgehenden 19. Jahrhunderts verfolgt (Kap. 5.1.). Diese lassen bereits eine grundlegende Ambivalenz der literarischen Texte über das Jahr 1812 erkennen: Sie werden zum einen als ›authentische‹ Zeugnisse der historischen Epoche und als Quellen des historischen Wissens im pädagogisch-didaktischen Diskurs betrachtet und weisen zugleich Züge einer fortschreitenden Mythisierung des »Vaterländischen Krieges« auf, die sich insbesondere an der Figur Napoleons festmachen lässt. Ein anschließender Überblick über die literaturkritischen und pädagogischen Diskurse des Jubiläumsjahres 1912 soll klären, inwiefern literarische Texte in den Debatten um die Poetik der russischen historischen Prosa sowie um Kinderliteratur erörtert und in einer politischen Polemik um die Interpretation des »Vaterländischen Krieges« funktionalisiert wurden (Kap. 5.2.). Vor diesem Hintergrund werden anschließend Werke von Vasilij Petrovič Avenarius (1839-1923) und Ioasaf Arianovič Ljubič-Košurov (1872-1937) im Hinblick auf die Verbreitung des »napoleonischen Narrativs« untersucht (Kap. 5.3. und 5.4.).

5.1

Der »Vaterländische Krieg« im historischen und literaturwissenschaftlichen Diskurs der 1890er Jahre

Ein Beispiel der diskursiven Aushandlung des Bildes der Epoche von 1812 im Rückgri f auf die russische Literatur vor dem 100-jährigen Jubiläum bietet der Artikel des russischen Militärhistorikers Nikolaj Fedorovič Dubrovin (1837-1904) »Napoleon I v sovremennom emu russkom obščestve i v russkoj literature« [»Napoleon I. in der russischen Gesellscha t seiner Zeit und in der russischen Literatur«] (Dubrovin 1895). Bereits im Titel wird ein zentrales Problemfeld ›Geschichte und Literatur zwischen Vergangenheit und Gegenwart‹ angesprochen, allerdings weist die ematisierung der literarischen Verarbeitungen des »Vaterländischen Krieges« keinen spezifisch literaturwissenscha tlichen Charakter auf. Genauso wie Zitate aus Gesetzbüchern, historiographischen Werken und Egodokumenten werden literarische Texte als Quellen herangezogen, um die Argumentation des Autors zu illustrieren. Dubrovins Artikel spiegelt nicht nur die bekannte Tatsache wider, dass die russische schöngeistige Literatur den politischen Diskurs des frühen 19. Jahrhunderts bediente und diesen in großem Maße mittrug, sondern er lässt sich zugleich

5 Der »Vaterländische Krieg« in literaturkritischen und literarischen Diskursen 1912

als Zeugnis der Tradierung des »napoleonischen Narrativs« im ausgehenden 19. Jahrhundert betrachten. Die detaillierte Darstellung der Jahre 1804-1807 basiert auf der traditionellen Gegenüberstellung von Aleksandr und Napoleon, die als Kampf zwischen Gut und Böse inszeniert wird. Das »Genie« Napoleons als »herausragender Feldherr, der keine Niederlage auf dem Schlachtfeld kennt« [»выдающ[ий ся] полковод[ец], не знающ[ий ] неудачи на поле битвы«] (Dubrovin 1895:č. I, 195), und als großer Mann der Gegensätze wird durch seinen Verrat an den Idealen der Republik und durch seine aggressive Politik konsequent entlarvt. Dubrovin führt Beispiele aus der russischen klassizistischen dramatischen und panegyrischen Lyrik an, um die Einheit des russischen Volkes, dessen Liebe zu Aleksandr oder die Begeisterung über die Siege der russischen Armee zu illustrieren. Mit denselben Mitteln wird Napoleon dementsprechend dämonisiert oder karnevalisiert. Einen weiteren zentralen Schwerpunkt von Dubrovins Artikel stellen die ausführlich behandelten inneren Probleme der russischen Gesellscha t des frühen 19. Jahrhunderts dar, die im Schatten der russischen Außenpolitik standen (vgl. Dubrovin 1895:č. III, 22). Die Laster der russischen Beamten werden unter anderem mit Zitaten aus den Komödien von Vasilij Vasil’evič Kapnist (1758-1823) angeprangert (vgl. Dubrovin 1895:č. III, 7, 12). Eine größere Rolle spielt der literaturwissenscha tliche Aspekt im Artikel des ukrainischen Philologen Nikolaj Kuz’mič Grunskij (1872-1951) »Napoleon I v russkoj chudožestvennoj literature« [»Napoleon I. in der russischen schöngeistigen Literatur«], der 1898 in der Zeitschri t »Russkij filologičeskij vestnik« [»Russischer philologischer Bote«] an der Peripherie des russischen Imperiums in Warschau erschien (Grunskij 1898). Die Publikation ging auf einen Preis zurück, den Grunskij in einem Wettbewerb gewonnen hatte, den die Staatliche Universität Charʼkov 1895 erstmals zu Ehren des Philologen Aleksandr Afanas’evič Potebnja (1835-1891) ausgeschrieben hatte. Die emen für den Wettbewerb stammten aus dem Kreis von Potebnjas Forschungsinteressen und sollten seine Ansätze unter den Studierenden popularisieren. Potebnjas Konzept für die Untersuchung des Napoleon-Bildes in der russischen Literatur (vgl. Sumcov 1896:20-21), dem Grunskij in seiner Arbeit folgt, sah eine Analyse der intertextuellen Parallelen zu europäischen Literaturen (vgl. Grunskij 1898:260-261, jeweils Fn. 1) sowie des Prozesses der Herausbildung eines literarischen Typus aus einer historischen Persönlichkeit vor. Außerdem enthielt es Ansätze von Intermedialität, indem es auch visuelle Verarbeitungen der Napoleon-Figur, z.B. in Karikaturen, berücksichtigte (vgl. Grunskij 1898:237). Grunskij konstatiert ein erneutes Au lammen des Interesses an Napoleon und seiner Epoche im ausgehenden 19. Jahrhundert, das über eine rein wissenscha tliche Rekonstruktion seiner »historischen Persönlichkeit« hinausgeht und die Figur Napoleons als eine »herausragende Persönlichkeit in der Geschichte, deren Genialität die jüngste Zeit anerkennt« [»как выдающаяся личность в истории, гениальность которой признает новейшее время«], in den Mittelpunkt stellt (vgl.

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Napoleon und der »Vaterländische Krieg« in Russland

Grunskij 1898:193-194). Gleichzeitig lässt sich erkennen, wie dieses verallgemeinerte und durch die historische Distanz objektivierte Napoleon-Bild bei Grunskij fast 90 Jahre nach dem Krieg gegen Frankreich von der Logik des traditionellen »napoleonischen Narrativs« beein lusst wird. Der Autor spricht vom »gigantischen moralischen Nutzen« [»громадная моральная польза«] des »Vaterländischen Krieges«: »Наполеон, помимо своей воли, оказался причиной мира и общения патриотических интересов нашей родины.« [»Napoleon erwies sich gegen seinen Willen als Ursache des Friedens und der Einigung der patriotischen Interessen unseres Vaterlands.«] (vgl. Grunskij 1898:195-196). Gleichzeitig weist Grunskij auf die propagandistische Funktionalisierung der Napoleon-Figur in der russischen Literatur hin und formuliert somit die ese, dass Napoleon in der russischen Kultur als Projektions läche für verschiedene Diskurse dient. An dieser Stelle zeigt die Argumentation des Autors Ähnlichkeit mit dem konstruktivistischen Ansatz der modernen Forschung (vgl. Wesling 2001:xiii; Kap. 1.2.): Русская художественная литература смотрела на Наполеона более как на отвлеченное представление великого мирового деятеля вообще, как на принадлежащего к числу исторических людей, формирующих собою души и характеры человеческие. Но, стремясь быть объективной, она в то же время часто не могла отрешиться от известной степени экзальтации при представлении этой из ряда выдающейся личности, проявляя более или менее свой энтузиазм преклонением перед гением Наполеона или слабыми отголосками прежних чувств 1812 года […]. (Grunskij 1898:199) Die russische schöngeistige Literatur betrachtete Napoleon eher als abstrakte Vorstellung einer herausragenden Persönlichkeit von Weltmaßstab überhaupt; als einen, der zu den bedeutsamen historischen Akteuren gehört, die die menschlichen Seelen und Charaktere formen. Doch bei all ihrem Bestreben, objektiv zu sein, konnte sie sich gleichzeitig o t nicht von einem gewissen Grad der Exaltation bei der Schilderung dieser herausragenden Persönlichkeit befreien und zeigte ihren Enthusiasmus mal durch eine Verbeugung vor Napoleons Genie mal durch einen schwachen Nachhall der alten Gefühle des Jahres 1812 […]. Grunskijs Untersuchung besteht aus einer Reihe von Skizzen über literarische Verarbeitungen der Napoleon-Figur und des »Vaterländischen Krieges« in Russland, die vom Beginn des 19. Jahrhunderts bis zum Jahr 1885 geführt und somit in die allgemeine Entwicklung der russischen Literatur von der Romantik zum Realismus eingebettet wird. Kurze Inhaltsangaben und Zitate werden in ein historisches Narrativ eingebettet, das Grunskij im Rückgri f auf den bereits erwähnten Artikel N.F. Dubrovins konstruiert (vgl. Grunskij 1898:213, Fn. 1). Die Quellen werden dabei nach Autoren, Gattungen (lyrischer und epischer Teil), Textsorten (z.B. Briefe, Notizen, publizistische Schri ten, Fabeln und Karikaturen) sowie nach stilistischen

5 Der »Vaterländische Krieg« in literaturkritischen und literarischen Diskursen 1912

Merkmalen strukturiert und kategorisiert (z.B. ›hohe‹ feierlich-tragische Texte und ›niedere‹ satirische Verse, Epigramme, Fabeln und Karikaturen), was den traditionellen Dualismus der Zuschreibungen an die Napoleon-Figur in Russland unterstreicht (vgl. Matjušenko 2003; Kap. 1.2.). Grunskij aktualisiert und bündelt die Vorstellungen von einem literarischen Kanon des Krieges von 1812, an dessen Spitze in der russischen Lyrik die Werke Aleksandr Sergeevič Puškins (1799-1837) und Michail Jur’evič Lermontovs (1814-1841) stehen. Aus seiner Bewertung der Werke M.N. Zagoskins, Rafail Michajlovič Zotovs (1795-1871) und L.N. Tolstojs geht hervor, dass Grunskij den künstlerischen Text als Quelle des historischen Wissens betrachtet und von der historischen Prosa vor allem eine authentische und »interessante« Schilderung der historischen Epoche, am besten durch einen kundigen Teilnehmer, fordert (vgl. »интересн[ые] сведени[я] и картины, переданн[ые] очевидцем«, Grunskij 1898:292). Daraus resultiert seine Bewertung der russischen historischen Prosa des 19. Jahrhunderts. Bei Zagoskin werde der ›historische‹ Teil laut Grunskij auf ein »knappes Verzeichnis der Ereignisse« [»краткий перечень событий«] reduziert, das hauptsächlich zur Entfaltung einer zusammenhängenden Romanhandlung diene (Grunskij 1898:292293; vgl. Kap. 4.1.). Die Abgetrenntheit der literarischen Handlung von der ›historischen‹ Linie bei Zotov führt nach Grunskij dazu, dass diese sich als ein »kurzes Geschichtslehrbuch« [»краткий учебник по истории«] lesen lasse (Grunskij 1898:296; vgl. Kap. 4.2.). In den »Familienchroniken« Tolstojs hebt Grunskij schließlich die Synthese des Individuellen und Historischen hervor, die durch eine philosophische Betrachtung der nationalen Geschichte ergänzt werde und gerade aufgrund von Tolstojs künstlerischem Talent für historisch korrekt befunden wird (vgl. Grunskij 1898:300-301; Kap. 4.3.). Die Texte von Dubrovin und Grunskij lassen grundlegende Prinzipien der Hinwendung zu literarischen Quellen im historiographischen und literaturkritischen Diskurs des ausgehenden 19. Jahrhunderts erkennen. Beide Autoren heben literarische Texte als zentrales Medium für die Tradierung der Erinnerung an Napoleon und den »Vaterländischen Krieg« hervor und schreiben die Facetten eines literarischen Kanons der Epoche von 1812 bereits vor dem Jubiläumsjahr 1912 fest. Bei der Katalogisierung der literarischen Quellen werden diese in ein System (etwa nach Gattungen, Autoren, Textsorten) eingeordnet und dadurch bewertet und hierarchisiert. Zugleich zeichnet sich in solchen Überblicksdarstellungen die Tendenz zur Hybridisierung ab, indem literarische Texte unterschiedlicher Gattungen zu einem einheitlichen ›Text‹ zusammenmontiert werden. Einerseits werden traditionelle Vorstellungen von Napoleon als herausragender historischer Persönlichkeit und ›dem größten Feldherrn aller Zeiten‹ dadurch aktualisiert und gefestigt, dass Dubrovin und Grunskij die literarischen Geschichtsdarstellungen durch ihre wissenscha tliche Betrachtung authentisieren und diesen Texten den Status einer historischen Quelle zuschreiben. Andererseits erö fnet die konstruktivistische

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Napoleon und der »Vaterländische Krieg« in Russland

Vorstellung von der Napoleon-Figur als Projektions läche für unterschiedliche Zuschreibungen, wie sie in dem von N.K. Grunskij popularisierten methodologischen Ansatz A.A. Potebnjas angedeutet wird, einen Weg zur kritischen Erörterung der Epoche von 1812. Das abstrakte Napoleon-Bild und der poetologische Diskurs über die russische historische Prosa erlauben es Grunskij, von konkreten Mängeln der patriotischen Funktionalisierung der schöngeistigen Literatur während des Krieges zu sprechen (z.B. Übertreibung, vereinfachte Analogien, vgl. Grunskij 1898:214216; 230-231), ohne dabei deren Notwendigkeit oder Rolle bei der Mobilmachung des ›russischen Volkes‹ grundsätzlich in Frage zu stellen oder gar zu negieren. Das Interesse am abstrakten, vom historischen Kontext gelösten Napoleon-Bild, das zum Bindeglied zwischen Vergangenheit und Gegenwart und zum Fokus der Erinnerung an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert avanciert, kann somit als Zeugnis der fortschreitenden Mythisierung der Epoche von 1812 und zugleich als Bedürfnis nach einer ›authentischen‹ Geschichte interpretiert werden.

5.2

Der »Vaterländische Krieg« in literaturkritischen und pädagogischen Diskursen des Jubiläumsjahres 1912

Trotz der zahlreichen Reaktionen der russischen Presse auf die Jubiläumspublikationen (vgl. insbesondere die Rezensionen auf die in Kap. 5 und 6 behandelten Werke) wurden diese Medien kaum einer systematischen literaturkritischen Behandlung unterzogen. Dies entsprach durchaus der Logik der o fiziellen Feierlichkeiten, denn der Schwerpunkt lag vor allem auf der Herstellung des Bildes einer ›ruhmreichen Epoche von 1812‹ und nicht auf der kritischen Aufarbeitung der Geschichte (vgl. Kap. 2.2.). Die Kritik der o fiziellen (Militär)Historiker an populären Geschichtsdarstellungen beschränkte sich meistens auf die Aufdeckung von faktischen Fehlern. Ein Beispiel hierfür liefert die Jubiläumszeitschri t »1812 god« [»Das Jahr 1812«], die 1912 im Zweiwochentakt von der Russischen Kaiserlichen Militärhistorischen Gesellscha t [Imperatorskoe russkoe voenno-istoričeskoe obščestvo, IRVIO] herausgegeben wurde (1812 god 2012; vgl. Fedorov 2010). In einer ständigen Rubrik »Bibliographie« wurden die Neuerscheinungen vor allem im Hinblick auf die faktische Genauigkeit und pädagogisch-didaktische Tauglichkeit geprü t und meistens als unzureichend bewertet. Umso bedeutender erscheinen die Initiativen aus dem nichtstaatlichen Bereich, die den (populär)wissenscha tlichen und pädagogischen Diskurs über die literarischen Verarbeitungen des »Vaterländischen Krieges« im Jubiläumsjahr 1912 in ihrem Sinne funktionalisierten. Als Erstes sind die Beiträge der Spezialisten der Historischen Kommission der Moskauer Gesellscha t für die Verbreitung des technischen Wissens [Istoričeskaja Komissija Moskovskogo Obščestva rasprostranenija techničeskich znanij, ORTZ] in der siebenbändigen Reihe »Der Vaterländische

5 Der »Vaterländische Krieg« in literaturkritischen und literarischen Diskursen 1912

Krieg und die russische Gesellscha t« [»Otečestvennaja vojna i russkoe obščestvo«, OVIRO] (Dživelegov/Mel’gunov/Pičeta 1911-1912) zu nennen (vgl. Kap. 3.1.). Obwohl sich an der Ausgabe Wissenscha tler mit durchaus unterschiedlichen ideologischen Ansichten beteiligten, zeichnete sich das OVIRO insgesamt durch eine ›liberale‹ Geschichtsinterpretation aus, die sich im Interesse der Autoren für die Lage des russischen Volkes und einer Polemik mit der Autokratie zeigte. Im V. Band des OVIRO, der sich dem Ein luss des »Vaterländischen Krieges« auf die unterschiedlichen Gruppen der russischen Gesellscha t widmet, unternehmen die Autoren den Versuch einer systematischen Betrachtung der literarischen Verarbeitung des »Vaterländischen Krieges«, beschränken sich allerdings dabei weitgehend auf die Rolle der Medien und der schöngeistigen Literatur im Jahr 1812. Dahinter lässt sich eine Strategie erkennen, die sich auch in der Gesamtkonzeption des OVIRO widerspiegelt: Die Herausgeber beschränken sich scheinbar nur darauf, Materialien über die Epoche von 1812 zu sammeln und zu systematisieren, um ihre kritische Auswertung der kün tigen Forschung zu überlassen (vgl. Ot redakcii 1911:IV–VI). Dadurch werden die literarischen Texte aus dem Jahr 1812 einer weit zurückliegenden Vergangenheit, der ›ruhmreichen Epoche von 1812‹, zugeordnet und somit als politisch inaktuell dargestellt. Die Negation jeglichen Gegenwartsbezugs erö fnet also erst den Weg zu einer kritischen Erörterung der historischen Epoche. Der Bezug zur Gegenwart wird dabei vor allem durch einen konstruktivistischen Ansatz hergestellt, indem die Autoren die Logik der Interpretation historischer Ereignisse durch den russischen Staat herausarbeiten und auf die propagandistische Vereinnahmung von literarischen Geschichtsdarstellungen hinweisen. Die Autoren des OVIRO schreiben der russischen schöngeistigen Literatur des Jahres 1812 eine zentrale Rolle bei der Konstruktion der Vorstellung vom »Vaterländischen Krieg« zu. Ihr konstruktivistischer Ansatz besteht darin, dass sie die Literatur als ›Spiegel‹ der historischen Ereignisse, d.h. als diskursiv hervorgebrachtes Bild einer Epoche betrachten, was auch durch den programmatischen Titel der Rubrik »Otraženija vojny v literature i iskusstve« [»Widerspiegelungen des Krieges in Literatur und Kunst«] betont wird. Dabei weisen die Autoren auf eine grundlegende Ambivalenz der literarischen Texte hin: Sie sind nicht nur ein Mittel der Kriegsdarstellung, sondern bringen selbst Bedeutungen hervor. Diese Dialektik wird von dem Literaturwissenscha tler, Kunsthistoriker und Pädagogen Nikolaj Pavlovič Sidorov (1876-1948) in seinem Beitrag »Otečestvennaja vojna v russkoj lirike« [»Der Vaterländische Krieg in der russischen Lyrik«] (Sidorov 1912c) insbesondere anhand der lyrischen Werke veranschaulicht, denen im Jahr 1812 aufgrund ihrer unmittelbaren Reaktion auf die Kriegsereignisse eine hohe Authentizität zugesprochen wurde:

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Невыношенная в свободнотворческом процессе, сделанная на скорую руку для данного момента, вся в злобе дня, поэзия 12-го года не зрительница, а участница событий, торопливо поспевающая за их стремительно развертывающимся ходом. (Sidorov 1912c:161, Hervorhebung K.R.) Nicht in einem freien schöpferischen Prozess ausgetragen/entstanden, auf die Schnelle für den gegebenen Moment gemacht, ganz am Nerv der Zeit, ist die Lyrik des Jahres 1812 nicht die Zuschauerin, sondern die Teilnehmerin der Ereignisse, mit deren schnellem Lauf sie eilig Schritt hält. Gedruckte Medien bezogen ihre Glaubwürdigkeit nicht zuletzt aus den strengen Zensurbedingungen. Diese führten laut dem Historiker und Pädagogen Konstantin Vasil’evič Sivkov (1882-1959) dazu, dass aktuelle Informationen über den tatsächlichen Ablauf des Krieges der Bevölkerung vorenthalten oder verfälscht wurden, was schließlich zur größeren Opferzahlen führte (vgl. seinen Beitrag »Vojna i cenzura« [»Krieg und Zensur«], Sivkov 1912). Unter solchen Bedingungen avancierten die literarischen Texte zu einem gewichtigen Machtfaktor, denn die Beleuchtung der napoleonischen Kriege hing stets vom jeweiligen politischen Kurs ab. Auch nutzte der Staat die Presse, um patriotische Stimmungen zu schüren. Eine wichtige propagandistische Rolle erfüllten die Zeitschri ten »Russkij vestnik« [»Russischer Bote«] von Sergej Nikolaevič Glinka (1776-1847) (vgl. Zamotin 1912) und »Syn Otečestva« [»Sohn des Vaterlands«] von Nikolaj Ivanovič Greč (1787-1867) (vgl. Sidorov 1912a). Der konstruktivistische Ansatz ermöglicht es, die Vorstellung vom ›natürlichen‹ Patriotismus der Russen zugunsten der von einem von oben gelenkten Prozess zu relativieren. Anhand der Verhältnisse des Jahres 1812 legen die Autoren die ideologische Vereinnahmung der literarischen Texte und die Strategien o fen, mithilfe derer die Zeitschri ten den Leser zum Patriotismus erzogen. Laut dem Literaturwissenscha tler Ivan Ivanovič Zamotin (1873-1942) gehörten hierzu z.B. die positive Betonung alles Russischen und die Verurteilung alles Französischen sowie die Dämonisierung Napoleons (vgl. Zamotin 1912:133). Als zentrales Konsolidierungsmoment führt Zamotin die von der Zeitschri t »Russkij vestnik« vehement betonte »wirkliche Gefahr der äußeren sowie der inneren Eroberung seitens der Franzosen« [»действительн[ая] опасност[ь] как внешнего, так и внутреннего завоевания со стороны французов«] an, die zum »möglichen Verlust der politischen und nationalen Eigenart« [»возможн[ая] утрат[а] политической и национальной самобытности«] führen könnte (vgl. Zamotin 1912:135-136). Charakteristisch dabei ist auch die Hinwendung der Literatur zur russischen nationalen Geschichte, die als Fundus heldenha ter Vorbilder und historischer Analogien diente (vgl. Sidorov 1912c:163-164): От гнетущих впечатлений настоящего мысль охотно уходит в прошлое, чтобы там, в славных воспоминаниях, черпать живые силы бодрости и надежды, под-

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нимать национальное самочувствие; лихолетье смутного времени, Полтава – вот наиболее частые и близкие исторические аналогии […]. (Sidorov 1912c:163) Vor den schweren Eindrücken der Gegenwart lieht der Gedanke gern in die Vergangenheit, um dort, in ruhmreichen Erinnerungen, lebendige Krä te der Munterkeit und Ho fnung zu schöpfen und das nationale Selbstgefühl zu heben; die Unruhen der Zeit der Wirren und [die Schlacht bei] Poltava – das sind die häufigsten und naheliegendsten historischen Analogien […]. Somit arbeiten die Autoren des OVIRO anhand der Texte aus dem Jahr 1812 die zentralen Topoi der literarischen Kriegsdarstellung heraus, z.B. die Besetzung und den Brand von Moskau, und heben das zentrale Motiv der »Rachgier« [»жажда мести«] für das Vaterland hervor, die sich »in einen Knoten mit nationalistischen und religiösen Motiven verschlingt« [vgl. »завязывается в один узел с мотивами националистическими и религиозными«] (vgl. Sidorov 1912c:163). Eine wichtige Rolle bei der Argumentation der Autoren des OVIRO kommt auch poetologischen Fragestellungen zu. Ähnlich wie N.K. Grunskij (vgl. Kap. 5.1.) beleuchten sie die Etablierung eines literarischen Kanons des Krieges von 1812, indem sie insbesondere auf die Funktion der jeweiligen Gattungen in Bezug auf die Formung und Tradierung des Kriegsnarrativs eingehen. Dabei schreiben sie gerade den lyrischen Werken ein großes Integrationspotenzial zu, die sowohl die klassizistischen Formen aus dem 18. Jahrhundert und die Texte der o fiziellen Befehle und Manifeste als auch die visuellen Bilder der lubki verarbeiten (vgl. Sidorov 1912c). Die Beiträge des Literaturhistorikers und Folkloristen Vladimir Vladimirovič Kallaš (1866-1918) und des Literaturwissenscha tlers Nikolaj Leont’evič Brodskij (1881-1951/2) über das russische Volkslied (Kallaš 1912) und Drama (Brodskij 1912) machen zugleich deutlich, dass der Rückgri f auf die folkloristische Tradition und die archaischen klassizistischen Formen nicht zuletzt durch das Fehlen moderner bzw. adäquater literarischer Formen für die Darstellung des Krieges bedingt war (vgl. Lejbov 1996). Die Frage nach der Genese der poetischen Beschreibungssprache erlaubte es zudem, den Stil der o fiziell-patriotischen Rhetorik dahingehend zu kritisieren, dass er durch seine Klischees das Leid des Krieges verschleiert und auch in literarischer Hinsicht die Expressivität der Texte senkt: […] [Г]отовая риторическая схема более, чем когда-либо мешает почувствовать биение потрясенного скорбью сердца; нет тех иногда мелких, но пережитых и свежих деталей, которые делали бы поэтическую живопись вполне убедительной и заражающей. (Sidorov 1912c:164) […] [E]in fertiges rhetorisches Schema hindert einen mehr denn je daran, den Schlag des durch den Kummer erschütterten Herzens zu fühlen; es fehlen jene

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mitunter kleinen, jedoch durchlebten und neuen Details, die die poetische Malerei vollkommen überzeugend und ansteckend machen könnten. Während lyrische Texte auf die Stimmung der Gesellscha t unmittelbar reagieren und eine Beschreibungssprache dafür liefern, wird die chronologische Anordnung und die narrative Verknüpfung der Kriegsereignisse vor allem in epischen Gattungen – der Erzählung und dem Roman – geleistet. Wie N.P. Sidorov in seinem Beitrag »Otgoloski 12-go goda v russkoj povesti i romane« [»Die Nachklänge des Jahres 1812 in der russischen Erzählung und im russischen Roman«] (Sidorov 1912b) zeigt, speist sich die russische Prosa der 30er – 40er Jahre aus patriotisch gefärbten »Anekdoten«, die Heldentypen (z.B. russische Feldherren und Vertreter höherer Militärränge, Kosaken, gottesfürchtige Bauern, Volkshelden wie der »russische Scaevola« oder die starosticha Vasilisa) und zentrale Topoi liefern (z.B. die Lobpreisung der russischen Wa fen, der russischen Gastfreundlichkeit, der Treue der Bauern gegenüber den Gutsherren u.a.) (vgl. Sidorov 1912b:146-149). Der konstruktivistische Ansatz der Autoren des OVIRO zeigt sich insbesondere darin, dass sie die russische historische Prosa über den »Vaterländischen Krieg« nach dem Grad der Verbundenheit zwischen ›Fakt‹ und ›Fiktion‹ bewerten (vgl. Kap. 4). Dabei wird die Funktionalisierung des literaturwissenscha tlichen Diskurses bei den ›liberalen‹ Kritikern deutlich: Sie rekurrieren auf die idealtypische Vorstellung A.S. Puškins von einer künstlerisch anspruchsvollen Zusammenfügung von »historischem Rahmen« und »Romangeschichte« (Puškin 1978a:73; vgl. Kap. 4.1.) und führen die mangelnde Kohärenz von ›Fakt‹ und ›Fiktion‹ explizit auf die ideologische Vereinnahmung der schöngeistigen Literatur zurück, womit sie die staatliche Lenkung für die ästhetische Qualität der Texte verantwortlich machen. Dabei partizipieren die Autoren an einer wirkungsmächtigen Tradition, die in Russland bis ins 20. Jahrhundert hineinwirkt und auf der Logik beruht, dass jegliche ›Tendenz‹ die ästhetische Qualität eines literarischen Textes mindert (vgl. Parthé 2004:16-19). Als produktiv hierfür erweist sich die Opposition vom ›reinen‹ und politisch engagierten Künstler, wie es z.B. anhand von M.N. Zagoskins Roman »Roslavlev…« (1831) (vgl. Kap. 4.1.) demonstriert wird. Jeglicher »Hintergedanke« [»задни[е] цел[и]«] führt laut N.P. Sidorov zur Schmälerung der sonst positiv zu bewertenden Leistung Zagoskins als »Historiker/Historiograph« [»бытописатель«] (vgl. Sidorov 1912b: 155-156). Auch im offiziösen Roman Faddej Venediktovič Bulgarins (1789-1859) »Petr Ivanovič Vyžigin« (1831) erkennt der Kritiker […] два самостоятельных и лишь искусственно слитых течения: роман и история идут рядом, легко отделяясь друг от друга, как масло от воды […]. Автору не удалось сплесть в один цельный узор частную жизнь героя романа, его любовные похождения, с историческими действиями и лицами. (Sidorov 1912b:151)

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[…] zwei selbstständige und nur künstlich zusammengeführte Linien: Der Roman und die Historie laufen nebeneinander her und trennen sich wie Öl und Wasser leicht voneinander […]. Dem Autor ist es nicht gelungen, das private Leben des Helden, seine Liebesabenteuer mit der historischen Handlung und den historischen Figuren zu einem ganzheitlichen Muster zusammenzu lechten. Somit stellt Sidorov fest, dass »das Jahr 1812« in den Romanen der 30er – 40er Jahre »bloß eine Szenerie und eine bequeme Sto fgrundlage für romanha te Muster« darstellt [vgl. »[…] двенадцатый год – […] лишь обстановка, удобная канва для романических узоров […].«] (Sidorov 1912b:156). Im Gegensatz dazu werden A.S. Puškins Textfragment »Roslavlev« (1831, 1836) (vgl. Kap. 4.1.) und L.N. Tolstojs »Vojna i mir« (1868/69) (vgl. Kap. 4.3.) zu den Meisterwerken der russischen historischen Prosa über das Jahr 1812 erklärt (vgl. Sidorov 1912b:157-158; Ignatov 1912:13). Die Ansichten der ›liberalen‹ Kritiker des ORTZ wurden von dem Historiker und Literaturwissenscha tler Konstantin Vasil’evič Pokrovskij (1880-19??) aufgegriffen, der als einer der wenigen Autoren die Geschichte der literarischen Verarbeitung des »Vaterländischen Krieges« bis zum Jubiläumsjahr 1912 verfolgt. Pokrovskij stand dem ORTZ nahe und beteiligte sich an dem von den Mitgliedern der Historischen Kommission herausgegebenen Sammelband zum Gedenken an L.N. Tolstoj unter dem Titel »Vojna i mir« (Polner/Obninskij 1912), für den er Beiträge zu den Quellen und zur Entstehung von Tolstojs Text verfasste (Pokrovskij 1912a, 1912b). Zugleich war er institutionell mit der Moskauer Universität verbunden (vgl. Bogoslovskij 2011:107, 140) und Mitglied der konservativ ausgerichteten Moskauer Kaiserlichen Gesellscha t für Geschichte und russische Altertümer [Moskovskoe Imperatorskoe Obščestvo Istorii i Drevnostej Rossijskich] (vgl. Mel’gunov 1912a:10; Tumanova 2008:122, 124). Seine Publikation unter dem Titel »1812-j god v russkoj povesti i romane« [»Das Jahr 1812 in der russischen Erzählung und im russischen Roman«] (Pokrovskij 1913) ging auf einen Vortrag zurück, den Pokrovskij zum Gedenken an das Jahr 1812 an der Moskauer Universität gehalten hatte, sodass davon auszugehen ist, dass er seine Ansichten über die russische historische Prosa in breiteren akademischen Kreisen popularisieren konnte. Ähnlich wie die Autoren des OVIRO benennt Pokrovskij mit den »patriotischen Artikeln« und »Pamphleten« des Jahres 1812, den »Briefen« von Kriegsteilnehmern und den »Anekdoten« die wichtigsten Quellen, aus denen sich die russische historische Prosa über den »Vaterländischen Krieg« speiste, und weist auf die ideologische Vereinnahmung der Texte der 30er – 40er Jahre des 19. Jahrhunderts hin (vgl. Pokrovskij 1913:123). Dabei stellt er ein betont literaturwissenscha tliches Interesse in den Vordergrund und spricht dezidiert davon, dass die Texte weniger die historische Wirklichkeit des Jahres 1812 wiedergäben als vielmehr den literarischen Stil ihrer Zeit: »В общем, роман и повесть дают понятие не столько о 12 годе, сколько о литературной школе своего времени.« [»Insgesamt liefern

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Roman und Erzählung weniger eine Vorstellung vom Jahr 1812, sondern vielmehr von der literarischen Schule ihrer Zeit.«] (Pokrovskij 1913:126). Dementsprechend betont Pokrovskij das »Joch der konventionellen literarischen Schablonen« [»гнет условного литературного шаблона«] und die Dominanz der »traditionellen Erzählweisen« [»традиционные приемы рассказа«] als größte Hürden für die Romanschri tsteller der 30er Jahre: »Исторические факты или исторические лица подгонялись под готовый шаблон и, конечно, теряли свой интерес.« [»Historische Fakten oder historische Figuren wurden mitunter in eine fertige Schablone gepresst und verloren dadurch ihren Reiz.«] (vgl. Pokrovskij 1913:125-126). Als zentrales Kriterium für die Bewertung der ästhetischen Qualität der historischen Prosa dient für Pokrovskij – ähnlich wie für A.S. Puškin – der hohe Grad der Verbundenheit von ›Fakt‹ und ›Fiktion‹, die es in einem historischen Roman erlaubt, »ein Bild des Lebens der russischen Gesellscha t mit den wichtigsten Fakten der Kriegsgeschichte und bekannten Teilnehmern dieses historischen Dramas zu zeichnen« [»дать картину жизни русского общества с наиболее крупными фактами военной истории и видными участниками этой исторической драмы«] (Pokrovskij 1913:124). Den Anfang des historischen Romans über die Epoche von 1812 setzt der Kritiker konsequent mit dem Textfragment A.S. Puškins »Roslavlev« an (vgl. Kap. 4.1.), das er gegenüber dem gleichnamigen Roman M.N. Zagoskins nach seinem »ruhigen realistisch-künstlerischen Ton des Erzählens« [»спокойный реально-художественный тон повествования«] und seiner »historisch korrekten« Darstellung des »Hintergrunds für ein kün tiges Bild« [»исторически верный фон для будущей картины«] positiv hervorhebt (vgl. Pokrovskij 1913:126). Von Puškin zieht Pokrovskij eine direkte Verbindungslinie zu Tolstojs »Vojna i mir«, das er als einen »ersten historischen Roman aus der Epoche von 1812« [»первы[й] исторически[й] роман[] из эпохи 12 года«] bezeichnet und nicht zuletzt aufgrund der großen historiographischen Leistung des Autors und trotz seiner subjektiven Geschichtsinterpretation zum unübertro fenen Höhepunkt der russischen historischen Prosa über das Jahr 1812 erklärt (vgl. Pokrovskij 1913:127-128). Die Entwicklung der historischen Prosa nach »Vojna i mir« betrachtet Pokrovskij vor allem als eine Demontage von Tolstojs Monumentaltext und weist auf eine ober lächliche Übernahme einzelner Elemente seiner Poetik hin, z.B. auf die übertriebene Dämonisierung Napoleons (vgl. Pokrovskij 1913:128-129). Dabei formuliert er seine Kritik wiederum in ästhetischen bzw. poetologischen Kategorien wie dem engen Zusammenspiel von ›Fakt‹ und ›Fiktion‹: »В новых же романах воскресает довольно часто старая традиция: история и вымысел идут разными несоприкасающимися путями.« [»In den neuen Romanen dagegen wird ziemlich o t eine alte Tradition wiederbelebt: Geschichte und Fiktion gehen unterschiedliche, sich nicht berührende Wege.«] (Pokrovskij 1913:128). Im Jubiläumsjahr identifiziert Pokrovskij ca. 20 Texte, die sich vor allem an Kinder und Jugendliche richten und zwei zentrale Topoi verarbeiten: die Beset-

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zung von Moskau durch die französische Armee und den »Partisanenkrieg« (vgl. Pokrovskij 1913:129-130). Diese thematische Fokussierung der literarischen Texte bildet durchaus die Logik der o fiziellen Jubiläumsmaßnahmen ab, die auf die retrospektive Anerkennung der Rolle des russischen ›Volkes‹ im Sieg über Napoleon abzielten (vgl. Kap. 2.3.). Zugleich rückt sie auch die allgemeinmenschliche Tragödie des Krieges in den Mittelpunkt, die sich nicht zuletzt unter dem Ein luss des 100-jährigen Jubiläums als wichtiger Topos der Kriegsdarstellung in Lehrbüchern (vgl. Kap. 3.2.) und in der Kinderliteratur des 20. Jahrhunderts etablierte (vgl. Mjaėots 2016:145-146). Schließlich lässt sich die Hinwendung zum kindlichen Publikum auch als Zeichen der fortschreitenden Sedimentierung der Erinnerung an den »Vaterländischen Krieg« im kulturellen Gedächtnis betrachten, die sich in der Demontage der inhaltlich komplexen ematik der Epoche von 1812 und in deren pädagogischer Adaption äußerte. Dabei konstatiert Pokrovskij einen »deutlichen Rückstand« [»значительная отсталость«] der russischen Erzählung und des russischen Romans gegenüber anderen Formen der literarisch-künstlerischen Verarbeitung des »Vaterländischen Krieges« (vgl. Pokrovskij 1913:123) und spricht am Schluss seines Beitrags der russischen historischen Prosa über die Epoche von 1812 jegliche Weiterentwicklung nach Tolstojs »Vojna i mir« ab: Если по отношению к ней [художественной литературе о 12 годе, K.R.] довольствоваться собранием исторических материалов и внешней занимательностью чтения, то конечно, она очень обширна. Но если к повести и роману предъявить требования художественной законченности, глубины исторического понимания, новизны взгляда, то из множества имен выделится только два: Пушкина и Толстого. Первый своим »Рославлевым« наметил путь для романа; второй »Войной и миром« этот роман создал. И как бы ни были подчас ошибочны теоретические положения Толстого, все же »Война и мир« является пока последним словом русской художественной литературы о 12 годе. (Pokrovskij 1913:130) Wenn man sich in Bezug auf sie [die schöngeistige Literatur über das Jahr 1812, K.R.] mit einer Sammlung historischer Fakten und der äußerlichen Unterhaltsamkeit der Lektüre begnügt, ist sie gewiss sehr umfangreich. Doch wenn man die Erzählung und den Roman den Forderungen nach künstlerischer Geschlossenheit, nach der Tiefe des historischen Verständnisses und nach der Neuheit des Blicks unterstellt, so heben sich aus einer Fülle von Namen nur zwei hervor: Puškin und Tolstoj. Der erste deutete mit seinem »Roslavlev« den Weg für einen Roman an; der zweite erschuf diesen Roman. Und so irrtümlich Tolstojs theoretische Ausführungen mitunter auch sind, bleibt »Vojna i mir« vorerst doch das letzte Wort in der russischen schöngeistigen Literatur über das Jahr 1812.

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Pokrovskij fasst die Anforderungen an die historische Prosa als eine historisch korrekte und zugleich künstlerisch anspruchsvolle Geschichtsdarstellung zusammen, die über ein großes bildungsdidaktisches Potenzial verfügt –, eine idealtypische Vorstellung, die sowohl von konservativen als auch von ›liberalen‹ Kritikern weitgehend geteilt wurde. Zugleich führt er die Argumentationslinie der Autoren des OVIRO fort, indem er eine poetologische Fragestellung in den Vordergrund rückt und die mangelnde Kohärenz von ›Fakt‹ und ›Fiktion‹ in den literarischen Werken des Jubiläumsjahres 1912 unter anderem auf eine ideologische Überfrachtung der schöngeistigen Literatur zurückführt.2 Pokrovskij legt auch eine weitere Strategie der Auseinandersetzung mit der staatso fiziellen Interpretation des »Vaterländischen Krieges« nahe: Das idealisierte Bild des Jahres 1812 erweist sich als Grundlage, die Jubiläumsmedien dahingehend zu kritisieren, dass sie »nicht auf der Höhe ihrer Berufung« [»не на высоте своего призвания«] seien (Pokrovskij 1913:128) und der ›ehrwürdigen Epoche‹ nicht gerecht würden. Diese Argumentation findet sich insbesondere im nichtstaatlichen pädagogisch-didaktischen Diskurs.3 Anhand der folgenden Beiträge aus zwei pädagogischen Zeitschri ten lässt sich exemplarisch zeigen, dass Diskussionen um den Geschichtsunterricht in der Schule, die Konzeption von Kinderbüchern und die patriotische Erziehung der Jugend eine Rückzugsnische für liberal gesinnte Kritiker boten, die von diesen für eine o fenere und o fensivere Erörterung aktueller politischer Fragen genutzt wurde. 2

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Noch deutlicher zeigt sich diese Argumentation in Pokrovskijs Beitrag über den Umgang Tolstojs mit historischen Quellen bei der Verfassung von »Vojna i mir«. Der Kritiker bedient sich der romantischen Vorstellung von der prophetischen Fähigkeit eines Schri tstellers, dank seinem künstlerischen Talent die ›wahre‹ Bedeutung historischer Kollisionen erkennen zu können, und schreibt »Tolstoj dem Künstler« die größte Authentizität zu, die er durch jegliche äußerliche Zielsetzung (z.B. Tolstoj als »Denker«) geschmälert sieht: »Там, где Толстой является только художником, он объективен в пользовании историческим материалом. […] Но там, где Толстой является мыслителем, он далеко не так бережно и внимательно обращается со своими источниками, и постоянная борьба в романе художника и философа иногда кончается победою последнего.« [»Dort, wo Tolstoj nur als Künstler au tritt, ist er objektiv bei der Verwendung des historischen Materials. […] Doch dort, wo er als Denker auftritt, geht er bei weitem nicht so behutsam und aufmerksam mit seinen Quellen um, und der ständige Kampf zwischen dem Künstler und dem Philosophen endet manchmal mit dem Sieg des Letzteren.«] (Pokrovskij 1912a:127; vgl. eine ähnliche Überlegung bei Skabičevskij 1903:164). Die Fragen der Geschichtsdidaktik und -vermittlung im schulischen Bereich, insbesondere auf der staatlichen Ebene im Rahmen des russischen Ministeriums der Volksau klärung, sind einer eigenen Untersuchung wert. Aus der bereits vorhandenen Forschungsliteratur (z.B. Fuks 2011; Orlovskij 2002; Ponikarova 2005) geht hervor, dass viele Diskussionen im pädagogischen Bereich an der Jahrhundertwende vom 19. zum 20. Jahrhundert von nichtstaatlichen, liberal orientierten Vereinigungen, z.B. den Kommissionen der Lehrabteilung des ORTZ (vgl. Kap. 3.1.), initiiert und aktiv mitgetragen wurden.

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Die 1890 von dem Kinderarzt und Pädagogen Egor Arsen’evič Pokrovskij (1834-1895) gegründete Zeitschri t »Vestnik vospitanija« [»Bote der Erziehung«] verstand sich als Organ, das sich den Fragen der Familienerziehung aus der naturwissenscha tlichen und medizinisch-anthropologischen Perspektive näherte und die Klu t zwischen Pädagogen und Ärzten schließen sollte (vgl. Koznova 2016:24; Gordienko 2012:82-83). Von 1897 bis zu ihrer Schließung 1917 wurde die Zeitschri t von Julij Alekseevič Bunin (1857-1921), dem älteren Bruder des Schri tstellers Ivan Alekseevič Bunin (1870-1953), herausgegeben. In dieser Zeit rückten geistige Erziehung und persönliche Entfaltung des Kindes in den Vordergrund, sodass mehr Raum für die Besprechung von pädagogischen Konzeptionen und Kinderbüchern geboten wurde (vgl. Koznova 2016:25; Gordienko 2012:87-88). Im 20. Jahrhundert entwickelte sich der »Vestnik vospitanija« zu einer breit aufgestellten und demokratisch orientierten (populär-)wissenscha tlichen Zeitschri t, in der viele herausragende russische und ausländische Spezialisten mitarbeiteten (vgl. Koznova 2016:26; Gordienko 2012:83, 88), darunter auch Sergej Petrovič Mel’gunov (1879-1956), Historiker, Publizist und aktives Mitglied des ORTZ (vgl. Kap. 3.1., 3.2.). 1912 verfasste er einen Überblick über die Jubiläumspublikationen zum »Vaterländischen Krieg« (Mel’gunov 1912a). Auch die von 1911 bis 1916 erschienene Zeitschri t »Novosti detskoj literatury« [»Neuheiten aus der Kinderliteratur«] weist eine Nähe zur Lehrabteilung des ORTZ auf. Sie wurde unter der Beteiligung der Kommission für die Organisation der Heimlektüre [Komissija po organizacii domašnego čtenija] herausgegeben.4 Die Zeitschri t befasste sich mit Fragen der Didaktik von Kinderliteratur und trug zu einer Neubewertung und Professionalisierung der Kinderliteratur bei, die weniger als Instrument der Erziehung, sondern vielmehr als künstlerisches Werk betrachtet wurde (vgl. Mjaėots 2016:137-138). Die Autoren wandten sich gegen die restriktive Politik des Ministeriums der Volksau klärung sowie gegen die »Lehrha tigkeit« [»назидательность«] und »Tendenz« in der Kinderliteratur, indem sie diese – unter anderem im Rückgri f auf den deutschen Pädagogen Heinrich Wolgast (18601920) – den Primaten der »Schöngeistigkeit« [»художественность«] und der realistischen Darstellung unterstellten (vgl. Mjaėots 2016:138-139; Gordienko 2012:88). Auch wenn diese Ansichten nicht von allen Pädagogen geteilt wurden (vgl. Mjaėots 2016:140), lässt sich erkennen, dass gerade im pädagogischen Diskurs progressivere und o fenere Umgangsformen mit Kinderliteratur anstrebt wurden. Grundlegend für beide Zeitschri ten war die Einbeziehung fremdsprachiger Literatur und die Kooperation mit ausländischen Spezialisten (vgl. Gordienko 2012:88-90) sowie das Prinzip des Dialogs zwischen den Herausgebern und dem Publikum, z.B. in Form von Fragebögen oder Leserbriefen (vgl. Koznova 2016:25), 4

Zur Tätigkeit der Kommission siehe ausführlich Gruzinskij 1902:29, 33, 44. Vgl. auch Otčet ORTZ 1902, 1908, 1910, 1913 sowie Fn. 1 in Kap. 3.1.

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wobei die Zeitschri t »Novosti detskoj literatury« auch die Meinung des kindlichen Lesers zu berücksichtigen versuchte (vgl. Pankraškin 2009:[321]–[322]). Einen großen Beitrag zur Systematisierung der Kinderliteratur und deren Etablierung als eigenständiger Bereich leistete der Bibliograph Ignatij Vladislavovič Vladislavlev (eig. Gul’binskij) (1880-1962), der weit in die Sowjetzeit hineinwirkte und eine Basis für eine systematische Kritik an der Kinderliteratur schuf (vgl. Rjabova 2010; Micheeva 2004:88-90). Vladislavlev gab zahlreiche bibliographische Arbeiten heraus, in denen er die erscheinende Literatur für Kinder rezensierte und Leseempfehlungen für Kinder unterschiedlichen Alters gab. Sein Ansatz berücksichtigte die Psychologie des kindlichen Lesers und sah unter anderem die eigenständige Erschließung der gelesenen Werke anhand der empfohlenen Sekundärliteratur und mithilfe von Lesetagebüchern vor (vgl. Micheeva 2004:86-90). 1912 verfasste Vladislavlev in »Novosti detskoj literatury« einen Überblick über die Jubiläumspublikationen zum ema des »Vaterländischen Krieges« (Vladislavlev 1912). Eine Analyse der Beiträge von Vladislavlev und Mel’gunov lässt Strategien der kritischen Auseinadersetzung mit der staatso fiziellen Geschichtsinterpretation im pädagogisch-didaktischen Diskurs erkennen. Die beiden Kritiker betonen die große Relevanz und Aktualität der historischen Ereignisse für die Gegenwart, indem sie auf ihr bildungsdidaktisches Potenzial verweisen. Damit gehen sie durchaus mit der staatso fiziellen Logik der Geschichtsrepräsentation konform, die eine diskursive Gleichsetzung des Jubiläumsjahres mit der ›denkwürdigen Epoche von 1812‹ anstrebte (vgl. Kap. 2.2.). Doch anstatt die symbolische Identität der beiden Epochen zu postulieren und dadurch Krisen der Gegenwart auszublenden, nutzen die Kritiker die idealisierte Vorstellung vom »Vaterländischen Krieg« als Kontrastfolie, um den stark ideologisierten und streng reglementierten Charakter des Jubiläums von 1912 zu kritisieren. Vladislavlev merkt an, dass das »gänzliche Verbot der Äußerung jeglicher lebendigen gesellscha tlichen Initiative« [»[…] полный запрет на всякое проявление […] живой общественной инициативы […]« zum völligen Desinteresse an der Geschichte bei den Schülern führen könne (Vladislavlev 1912:3). Auch Mel’gunov spricht in seiner pathetischen Einführungspassage dieses Problem an, das sich auch noch 200 Jahre später, im Jubiläumsjahr 2012, wieder deutlich zeigen wird (vgl. Nohejl/Rapp 2013; Šore/Nochejlʼ/Rapp 2015): Мы живем в юбилейное время, когда одна юбилейная дата следует за другой. В наших воспоминаниях проходят крупные исторические события, не только отметившие резко свою эпоху, но и оказавшие влияние на всю последующую судьбу России. В такие дни невольно пробуждается интерес к этому прошлому; невольно зарождается стремление оценить значение воспоминаемого события, подвергнуть его критическому анализу, определить его влияние на последующую историческую эволюцию. И с этой точки зрения юбилеи

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имеют и общественное значение, и большую воспитательную ценность. Но эта ценность исчезает, когда юбилейные воспоминания превращаются в принудительные торжества в пределах, строго определяемых официальными предписаниями. В школе подобные торжества могут иметь скорее деморализующее влияние, понижая интерес к историческим событиям. Торжество приобретает формальный характер, становится подчас лишь неприятной повинностью, которую волей-неволей приходится отбыть и учителю, и ученику. […] Исчезает та непосредственность, та живая работа, которые пробуждают инициативу и самодеятельность; исчезает вместе с тем и самый интерес. (Mel’gunov 1912a:1, Hervorhebung K.R.) Wir leben in der Zeit der Jubiläen, wo ein Jubiläumsdatum nach dem anderen folgt. In unseren Erinnerungen ziehen große historische Ereignisse vorbei, die nicht nur ihre jeweilige Epoche scharf umrissen, sondern auch das ganze weitere Schicksal Russlands beein lussten. An solchen Tagen erwacht unwillkürlich ein Interesse an dieser Vergangenheit; unwillkürlich keimt das Bestreben auf, die Bedeutung des zu erinnernden Ereignisses zu beurteilen, es einer kritischen Analyse zu unterziehen und dessen Ein luss auf die nachfolgende historische Entwicklung zu bestimmen. Und von diesem Standpunkt aus haben Jubiläen sowohl eine gesellscha tliche Bedeutung als auch einen großen erzieherischen Wert. Doch dieser Wert verschwindet, wenn sich das Jubiläumsgedenken in Zwangsfeierlichkeiten verwandelt, die durch o fizielle Vorschri ten streng reglementiert werden. In der Schule können solche Feierlichkeiten eher eine demoralisierende Wirkung haben und das Interesse an historischen Ereignissen senken. Eine Feier erhält dann einen formalen Charakter und wird mitunter zu einer unangenehmen Verp lichtung, die Lehrer und Schüler wohl oder übel ableisten müssen. […] Es verschwindet jene Unmittelbarkeit, jene lebendige Arbeit, die zur Eigeninitiative und Kreativität anregt; und damit verschwindet auch das eigentliche Interesse. Die Autoren kritisieren vor allem den o fiziösen Patriotismus, der den Schulen durch das Ministerium der Volksau klärung aufgezwungen wurde (vgl. Vladislavlev 1912:4, 8-9; Mel’gunov 1912a:28-29, 34), und legen die ideologische Vereinnahmung der Jubiläums des Krieges von 1812 o fen, indem sie auf eine Parallelreihe von Denkern und Wissenscha tlern wie Vissarion Grigor’evič Belinskij (1811-1848), Nikolaj Aleksandrovič Dobroljubov (1836-1861), Aleksandr Ivanovič Gercen (1812-1870), Michail Vasil’evič Lomonosov (1711-1765) oder auf den 50-jährigen Jahrestag der Reform der Bauernbefreiung (1861) verweisen, die nicht dem o fiziellen Narrativ entsprachen und derer daher in der Ö fentlichkeit kaum gedacht wurde (vgl. Vladislavlev 1912:3-4; Mel’gunov 1912a:2-3). Auch wenn die Kritiker die meisten Jubiläumsausgaben aufgrund ihrer ideologischen Überfrachtung und ihres kommerzialisierten Konjunkturcharakters für schlecht befinden (vgl. Vladislavlev 1912:4;

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Napoleon und der »Vaterländische Krieg« in Russland

Mel’gunov 1912a:27, 33), erö fnet die Frage nach dem pädagogischen Nutzen dieser Medien auch den Weg für deren kritische Betrachtung und Aufwertung. Somit leisten Mel’gunov und Vladislavlev einen wichtigen Beitrag zu einer ersten Systematisierung von Jubiläumspublikationen, indem sie diese in wissenscha tliche/historiographische Werke, allgemeinzugängliche populärwissenscha tliche Kriegsdarstellungen, Memoiren und »belletristische« Werke unterteilen. Diese Klassifikation spiegelt die zentrale Idee der wissenscha tlichen Fundierung des historischen Wissens wider, die Mel’gunov als elementare Voraussetzung der Popularisierung mehrfach betont: »От успеха научного обследования, несомненно, зависит и качество научно-популярных работ.« [»Vom Erfolg der wissenscha tlichen Erforschung hängt zweifelsohne auch die Qualität der populärwissenscha tlichen Arbeiten ab.«] (Mel’gunov 1912a:9); »[…] [П]ри отсутствии хороших научных работ популяризация неизбежно должна страдать большими дефектами даже в области фактического материала.« [»[…] [B]eim Fehlen guter wissenscha tlicher Arbeiten muss die Popularisierung große Mängel sogar im Bereich des faktischen Materials aufweisen.«] (Mel’gunov 1912a:12). Dieses Argument erlaubt es, die mangelnde Qualität der populären Geschichtsdarstellungen auf die fehlende wissenscha tliche Basis zurückzuführen und somit die Zensureinschränkungen und die grundlegende Unfreiheit der russischen Gesellscha t durch den pädagogisch-didaktischen Diskurs indirekt zu kritisieren. Zugleich zeigt sich, dass die Forderung nach einer objektiven und historisch korrekten Kriegsdarstellung sowohl von den ›liberalen‹ Pädagogen als auch von o fiziellen Kritikern geteilt wurde. Dies zeigt sich insbesondere bei der Bewertung der literarischen Werke über den »Vaterländischen Krieg«, die sowohl von den Kommentatoren der Zeitschri t »1812 god« als auch von S.P. Mel’gunov und I.V. Vladislavlev als »Belletristik« abgewertet werden (vgl. Mel’gunov 1912a:37-38; Vladislavlev 1912:10, 20-21). Ausgewählte Rezensionen in den Zeitschri ten »Vestnik vospitanija« und »Novosti detskoj literatury« (vgl. Beispiele in Kap. 5.3. und 5.4.) zeigen, dass es sich meist um eine Perspektive der ›Hochkultur‹ handelt, die den populärliterarischen Geschichtsdarstellungen (noch) keinen eigenständigen Wert einräumt bzw. diesen lediglich aus ihrer pädagogischdidaktischen Tauglichkeit ableitet. Diese Haltung der Kommentatoren zu den populären Medien muss also als gemeinsame Identifikationsebene für beide Lager mitre lektiert werden.5 5

Diese Problematik lässt sich auch anhand der weiteren wissenscha tlichen Lau bahn I.V. Vladislavlevs veranschaulichen. Während S.P. Mel’gunov als erklärter Regimegegner 1922 aus der Sowjetunion ausgewiesen wurde (vgl. Emel’janov 1998:63), gehörte Vladislavlev zu jenen Wissenscha tlern, die aktiv mit der sowjetischen Regierung kooperierten (vgl. Micheeva 1904:88). Auch wenn Vladislavlev bereits vor der Revolution das System der Empfehlungsbibliographie für Kinder scharf kritisierte und aktiv für deren Reformierung eintrat (vgl. Micheeva 2004:87), verstand er die Bibliographie als einen wichtigen Bereich der ideologischen Arbeit. Mit seiner Bibliographierarbeit lieferte Vladislavlev ein Modell für die Erziehung des

5 Der »Vaterländische Krieg« in literaturkritischen und literarischen Diskursen 1912

Die Strategie der ›liberalen‹ Kritiker lässt sich als aufwändige diskursive Umdeutung der staatso fiziellen Kriegsinterpretation beschreiben, die durch bloße Negation oder o fene Polemik nicht zu entkrä ten war. Dabei wird ein allgemeines Prinzip deutlich: Nicht die Idee an sich, sondern die übertriebene bzw. ungenügende Art ihrer Ausführung wird kritisiert. So stellt S.P. Mel’gunov dem o fiziellen Patriotismus einen »gesunden Patriotismus« [»здоровый патриотизм«] entgegen, der »die negativen Erscheinungen der Gegenwart nicht vertuschen, sondern aus diesen eine Lektion für die Zukun t ziehen und imstande sein wird, die Helden und die Aufopferungsbereitscha t gebührend zu würdigen.« [»[…] не будет затушевывать отрицательных явлений современности, он вынесет из них урок для будущего, он сумеет […] воздать должное героям и самоотверженности.«] (vgl. Mel’gunov 1912a:2-4). Weiter heißt es: »Правда не может быть оскорблением, она – лучшее воспитательное средство, лучшая пособница настоящего патриотизма.« [»Die Wahrheit kann keine Beleidigung sein, sie ist das beste Mittel der Erziehung, die beste Unterstützerin eines wahren Patriotismus.«] (Mel’gunov 1912a:31). Somit stellt der Kritiker die Idee der patriotischen Erziehung nicht grundsätzlich in Frage, sondern fordert deren bessere Ausführung. Indem Mel’gunov in einem weiteren Schritt von den populären Jubiläumspublikationen eine umfassende Darstellung aller Schichten der russischen Gesellscha t im »Vaterländischen Krieg« auf wissenscha tlicher Basis fordert, begründet er die für seine Argumentation zentralen esen vom allumfassenden Charakter des »Vaterländischen Krieges« und dem großen Beitrag des ›russischen Volkes‹, die vom russischen Staat im Jubiläumsjahr 1912 ideologisch vereinnahmt wurden, um die Nation ›um den ron‹ zu einen (vgl. Kap. 2.3.). Schließlich bedient sich Mel’gunov – ähnlich wie die Kritiker des bereits erwähnten Sammelbandes »Otečestvennaja vojna i russkoe obščestvo« und K.V. Pokrovskij – des ästhetischen Diskurses, um die mangelnde Qualität der Jubiläumsliteratur auf ihr politisches Engagement zurückzuführen. Mel’gunov begrüßt die Neuau lage von lyrischen Werken aus dem Jahr 1812, die er als negative Vergleichsfolie zum Jubiläumsjahr 1912 au führt: Но для читающей публики может представить интерес ознакомление с выдержками из »Сына Отечества« в 1812 г. и др. современных органов печати. […] Из такого знакомства с наглядностью выяснятся [sic!], какой в сущности бездарностью отличалась »патриотическая« литература в 1812 году. И любопытно, что через сто лет, когда события, волновавшие непосредственно русское общество в эпоху отечественной войны, давно уже стали достоянием истории, »патриотическая« литература мало чем отличается от своей предшественницы – литературы 1812 г. и последующих годов. (Mel’gunov 1912a:37)

kindlichen Lesers, das mit der sowjetischen Ideologie durchaus konform ging (vgl. Micheeva 2004:90).

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Doch es kann für das Lesepublikum von Interesse sein, sich Auszüge aus dem »Sohn des Vaterlands« aus dem Jahr 1812 und anderen zeitgenössischen Presseorganen anzuschauen. […] Aus einer solchen Lektüre wird anschaulich klar, wie talentlos/erbärmlich/geistlos die »patriotische« Literatur im Jahr 1812 war. Und es ist interessant, dass sich diese auch hundert Jahre später, als die Ereignisse, die die russische Gesellscha t in der Epoche des Vaterländischen Krieges unmittelbar berührt hatten, schon längst zum Erbe der Geschichte geworden sind, kaum von ihrer Vorgängerin, der Literatur des Jahres 1812 und der nachfolgenden Jahre, unterscheidet. Somit folgt Mel’gunov einerseits der Logik der o fiziellen Jubiläumsmaßnahmen, indem er die symbolische Identität der beiden Epochen postuliert, kehrt andererseits diese Logik jedoch spiegelartig um, indem er nicht den ›Ruhm‹, sondern die »patriotische« Funktionalisierung der schöngeistigen Literatur und Publizistik zum negativen gemeinsamen Moment der beiden Epochen macht. Resümee Die Analyse ausgewählter Beiträge aus dem Jubiläumsjahr 1912 lässt unterschiedliche Strategien der Aktualisierung der Erinnerung an den »Vaterländischen Krieg« in literaturkritischen und pädagogisch-didaktischen Diskursen erkennen. Diese Diskurse boten liberal orientierten Autoren eine Nische, die ihnen eine Polemik mit der staatso fiziellen Kriegsinterpretation ermöglichte. Dabei handelt es sich um eine diskursive Umfunktionalisierung der idealisierten Vorstellung von der ›ruhmreichen Epoche von 1812‹, die als Rezeptionskonstante fungiert und als solche nicht direkt angezweifelt wird. Während der russische Staat das idealisierte Bild der Epoche von 1812 als positive Kontrastfolie zur Gegenwart im Rahmen des 100-jährigen Jubiläums nutzte, um die symbolische Identität der beiden Epochen zu suggerieren und dadurch Krisen der Gegenwart auszublenden (vgl. Kap. 2.2.), betonen die Autoren des Sammelbandes »Otečestvennaja vojna i russkoe obščestvo« die historische Distanz und vermeiden einen direkten Gegenwartsbezug, um anhand der Verhältnisse des Jahres 1812 eine vorsichtige wissenscha tliche Revidierung der staatso fiziellen Kriegsinterpretation einzuleiten, z.B. durch O fenlegung der Mechanismen der staatlichen Lenkung oder der propagandistischen Rolle von Medien. Der kritische Bezug zum Jubiläumsjahr 1912 wird dabei indirekt, über die vermittelte Einsicht in den konstruktivistischen Charakter von Geschichtsdarstellungen hergestellt. Charakteristisch dabei ist die Metapher von Literatur als ›Widerspiegelung‹ [›otraženie‹] von Geschichte, die nicht nur die Semantik einer wahrheitsgetreuen Abbildung, sondern auch die Dialektik von Abbilden und Hervorbringen, etwa im Sinne von Marshall McLuhans ese »Medium is the message«, transportiert (vgl. McLuhan 1964).

5 Der »Vaterländische Krieg« in literaturkritischen und literarischen Diskursen 1912

Eine weitere Strategie der ›liberalen‹ Autoren besteht im Ausweichen auf andere Diskurse, z.B. auf die Poetik der russischen historischen Prosa. Einen wichtigen Ausgangspunkt bildet dabei die Vorstellung von der historischen Prosa als einer faktisch korrekten und zugleich literarisch anspruchsvollen Geschichtsdarstellung im Sinne des idealtypischen Modells A.S. Puškins (vgl. Kap. 4.1.). Auch wenn es sich dabei um die Perspektive einer ›Hochkultur‹ handelt, die den populären Medien zunächst keine eigenständige künstlerische Bedeutung beimisst, werden dabei erstmals die Fragen nach einem literarischen Kanon des Krieges von 1812 oder nach der Poetik populärer Geschichtsdarstellungen gestellt. Somit kommt vor allem liberal eingestellten Kritikern und Pädagogen das Verdienst zu, dass sie Jubiläumswerke katalogisieren und somit Voraussetzungen für deren Systematisierung und wissenscha tliche Betrachtung scha fen. Der Diskurs um die russische historische Prosa avanciert zu einer Projektionsläche, um eine alternative, der staatso fiziellen Kriegsinterpretation entgegengesetzte Geschichtsau fassung zu artikulieren. Ähnlich wie die Autoren des OVIRO bedient sich K.V. Pokrovskij der konstruktivistischen Vorstellung von der historischen Prosa als einer künstlerisch anspruchsvollen Synthese von ›Fakt‹ und ›Fiktion‹, um deren mangelnde Verwobenheit auf die ideologische Überfrachtung der schöngeistigen Literatur im 19. und 20. Jahrhundert zurückzuführen. Diese Interpretationslinie zeigt sich noch stärker im pädagogisch-didaktischen Diskurs. Anstatt die historische Distanz zu betonen, streben S.P. Mel’gunov und I.V. Vladislavlev – ganz im Sinne der o fiziellen Feierlichkeiten – eine symbolische Gleichsetzung der beiden Epochen im medialen Raum des 100-jährigen Jubiläums an, dem sie eine große pädagogische Bedeutung beimessen. Die idealisierte Vorstellung vom Jahr 1812 dient hier jedoch dazu, die Nichtübereinstimmung zwischen der heroischen Vergangenheit und der krisenha ten Gegenwart aufzuzeigen und die o fiziellen Jubiläumsmaßnahmen dahingehend zu kritisieren, dass diese der ›ruhmreichen Epoche von 1812‹ nicht gerecht werden. Daraus folgt, dass die Diskurse über die Didaktik von Kinderliteratur und die (patriotische) Erziehung des kindlichen Lesers mehr Raum für die Erörterung brisanter politischer Fragen und für eine Polemik mit der staatso fiziellen Kriegsinterpretation boten.

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5.3

Die Chronik eines großen Abenteuers: Zur Funktion der biographischen Perspektive bei der Popularisierung des »Vaterländischen Krieges« im Werk von V.P. Avenarius (1839-1923)

Die Didaktisierung der literarischen Werke über die Epoche von 1812, die sich im Jubiläumsjahr 1912 unter anderem in der Hinwendung zur Prosa für Kinder zeigte (vgl. Pokrovskij 1913:129), kann man als eine weitere Stufe der Sedimentierung der Erinnerung an den »Vaterländischen Krieg« im russischen kulturellen Gedächtnis betrachten. Die historische Distanz lässt die Epoche von 1812 immer mehr als Quelle einer außerzeitlichen universalen Erfahrung erscheinen (vgl. Soročan 2008:2627; Ungurianu 2007:141, 159), was auch mit der pädagogischen Idee der Vermittlung von historischem Wissen konform geht.Mit seiner umfassenden Chronik des »Vaterländischen Krieges« in Form von fingierten Tagebuchnotizen eines adoleszenten Augenzeugen bot der russische Pädagoge und Schri tsteller Vasilij [Vil’gel’m] Petrovič Avenarius (1839-1923) ein weiteres Modell des Verhältnisses von ›Fakt‹ und ›Fiktion‹, das durch seine Bildungsintention geprägt wurde. Die Konzentration des Autors auf die sittlich-moralische Erziehung des kindlichen Lesers und die Popularisierung von speziellem (historischem, landeskundlichem) Wissen erforderte zum einen eine realistische und faktisch korrekte Darstellung historischer Ereignisse und ließ zugleich deren Verarbeitung in unterhaltsamer literarisierter Form zu. Diese Erzählform soll im Folgenden im Hinblick auf die Darstellung des »Vaterländischen Krieges« untersucht werden. Es gilt, die Genese der Tagebuchform sowohl im Kontext der russischen literarischen Tradition als auch im Rahmen von Avenariusʼ bildungsdidaktischer Poetik zu beleuchten. Außerdem ist zu klären, inwiefern die literarische Darstellung der Epoche von 1812 von der bildungsdidaktischen Intention des Autors geprägt wurde.

5.3.1

Biographie und literarische Tätigkeit von V.P. Avenarius. Forschungsstand

Avenarius stammte aus adeligen Verhältnissen und wurde in der Familie eines evangelisch-lutherischen Pastors in Sankt Petersburg geboren. Nach dem Studium an der physikalisch-mathematischen Fakultät der Petersburger Staatlichen Universität, die er 1861 mit dem Grad eines Kandidaten der Wissenscha ten abgeschlossen hatte, folgte ein Aufenthalt in Deutschland (Magdeburg). Als Avenarius 1862 nach Russland zurückkehrte, schlug er eine Beamtenkarriere ein und diente von 1862 bis 1880 im Wirtscha tsdepartement des Innenministeriums [Chozjajstvennyj departament Ministerstva vnutrennich del]6 und von 1880 bis 1882 im Departement 6

Übersetzungen von Bezeichnungen der russischen Institutionen nach Amburger 1966.

5 Der »Vaterländische Krieg« in literaturkritischen und literarischen Diskursen 1912

der Volksau klärung des Ministeriums der Volksau klärung [Departament narodnogo prosveščenija Ministerstva narodnogo prosveščenija]. Von 1882 bis zu seiner Pensionierung 1908 diente er im Ressort der Institutionen der Kaiserin Marija [Vedomstvo učreždenij imperatricy Marii] (vgl. Vengerov 1889:62; Mjakiševa 2006:2-3), das als ein wichtiges reglementierendes Organ des Ministeriums der Volksau klärung betrachtet werden kann (vgl. Lučkina 2012:129-131). Als Mitglied der Lehrabteilung [Učebnyj otdel] des Ressorts war Avenarius 1898 insbesondere dafür zuständig, Bücher für die Kinderlektüre zu begutachten und Empfehlungen dafür auszustellen (vgl. Lučkina 2012:130; Lučkina 2013:30-31). Avenariusʼ literarische Tätigkeit begann noch während seiner Studienzeit in den 1860er Jahren. Er debütierte mit Versen, wurde aber zuerst durch seine ›antinihilistischen‹ Erzählungen »Sovremennaja idillija« [»Eine zeitgenössische Idylle«] (1865) und »Povetrie« [»Eine Modekrankheit«] (1867) bekannt, die 1867 unter dem gemeinsamen Titel »Brodjaščie sily« [»Die gärenden Krä te«] erschienen. Darin polemisierte Avenarius mit dem Typus des jungen Nihilisten, wie ihn Nikolaj Gavrilovič Černyševskij (1828-1889) in seinem Roman »Čto delatʼ?« [»Was tun?«] (1862-1863) gezeichnet hatte, und versuchte, die destruktive Wirkung der »freien Liebe« auf die junge Generation unter anderem durch eine explizite Darstellung von sexuellen Ausschweifungen zu zeigen und die traditionellen moralischen Werte zu verteidigen. Diese Werke wurden von den links orientierten Kritikern verrissen (vgl. Vengerov 1889:61-62; Skabičevskij 1903:348-349; Čudakova 1990; Prokopov 1998:8-10). Vermutlich bewog diese negative Resonanz Avenarius dazu, von den aktuellen gesellscha tspolitischen emen Abstand zu nehmen und sich ab den 70er Jahren des 19. Jahrhunderts auf das neutrale Gebiet der Kinderliteratur zu konzentrieren (vgl. Vengerov 1889:62; Skabičevskij 1903:349; Russkaja myslʼ 1888:91; Prokopov 1998:1011). Hier erwarb er allmählich den Ruf eines professionellen Kinderschri tstellers (vgl. Vengerov 1889:62-63). Die erziehungsdidaktische Intention von Avenarius erforderte eine aufwändige Synthese von ›Fakt‹ und ›Fiktion‹, die sich bereits im Frühwerk zeigte. Seine Adaptionen der russischen byliny7 , die den kindlichen Leser mit der russischen Folklore bekanntmachen und an der Grenze zwischen historischer Quelle und phantastischer Fiktion schweben, trugen zur Entwicklung der künstlerischen Prinzipien der »Darstellung vergangener Ereignisse aus der Perspektive einer anderen Zeit« [»изложение событий прошлого с позиций другого времени«] bei (Kazanceva 2007:70-71). Auch gab Avenarius Märchensammlungen8 heraus, in denen

7 8

»Kniga o kievskich bogatyrjach« [»Buch von den Kiever Recken«] (1876); »Kniga bylin« [»Buch der byliny«] (1880). »Tridcatʼ lučšich novych skazok« [»Dreißig der besten neuen Märchen«] (1877); »Detskie skazki. Rasskazal V.P. Avenarius. Novoe izdanie« [»Kindermärchen. Erzählt von V.P. Avenarius. Eine neue Ausgabe«] (1885).

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er russische und fremdsprachige Märchen nacherzählte sowie eigene Überarbeitungen publizierte (vgl. Avenarius 1885:VII–VIII). Gerade das Märchennarrativ erwies sich als geeignet, um Elemente von Fiktion und Improvisation in einem Text zusammenzuführen. In Avenariusʼ eigenen Märchen für den kleinsten Leser werden am Beispiel der Tierwelt in allegorischer Form und mithilfe der Anthropomorphisierung gesellscha tliche Hierarchien und moralische Normen vermittelt (vgl. Friče 1930; Vengrov 1899:62; Pokrovskaja 1927:26-27; Kazanceva 2007:70-72). Die Märchen »Skazka o pčele Mochnatke« [»Märchen von der wolligen Biene«] (1879) und »Čto komnata govorit?« [»Was sagt das Zimmer?«] (1880) wurden 1880 von der Sankt Petersburger Fröbel-Gesellscha t [Sankt-Peterburgskoe Frebelevskoe obščestvo] mit dem ersten Preis prämiert (vgl. Čudakova 1990:17; Vengerov 1889:62; Prokopov 1998:11; zur Geschichte der Fröbel-Gesellscha t siehe Zajceva 2010). Die historische Prosa von Avenarius widmet sich den Schlüsselereignissen der russischen Geschichte, z.B. dem Leben in der Alten Rusʼ, der Zeit der Wirren und der frühen Regierungszeit der Romanovs, der Epoche Peters des Großen, der Biron-Zeit, der Epoche der napoleonischen Kriege und der Eroberung des Kaukasus, der Bauernbefreiung und den Ereignissen des russisch-japanischen Krieges.9 In diesen Werken lässt sich das Bestreben des Autors erkennen, historische Ereignisse realistisch und authentisch darzustellen. Der Schwerpunkt liegt dabei weniger auf der Psychologie der Helden, sondern vielmehr darauf, dem jungen Leser neue Kenntnisse über vergangene Epochen in abenteuerlicher und unterhaltsamer Form zu vermitteln (vgl. Friče 1930:28; Kazanceva 2007:72).

9

»Dočʼ posadnič’ja. Povestʼ dlja junošestva iz vremen Velikogo Novgoroda i Ganzy« [»Die Tochter des Stadthauptmanns. Eine Erzählung für die Jugend aus den Zeiten von Velikij Novgorod und der Hanse«] (1912); »Za careviča. Istoričeskaja trilogija« [»Für den Zarensohn. Eine historische Trilogie«] (1901-1903); »Opal’nye. Istoričeskaja povestʼ dlja junošestva iz vremen carja Alekseja Michajloviča« [»Die Geächteten. Eine historische Erzählung für die Jugend aus den Zeiten des Zaren Aleksej Michajlovič«] (1905); »Men’šoj potešnyj. Istoričeskaja povestʼ iz molodosti Petra Velikogo« [»Der junge Spielregimentler. Eine historische Erzählung aus der Jugendzeit Peters des Großen«] (1891, Einzelpubl. 1895); »Vo l’vinoj pasti. Istoričeskaja povestʼ iz ėpochi osnovanija Peterburga« [»Im Rachen des Löwen. Eine historische Erzählung aus der Zeit der Gründung Petersburgs«] (1894); »Pod nemeckim jarmom. Dve istoričeskie povesti« [»Unter dem deutschen Joch. Zwei historische Erzählungen«] (1907-1908); »Sredi vragov. Dnevnik junoši, očevidca vojny 1812 goda« [»Unter den Feinden. Tagebuch eines jugendlichen Augenzeugen des Krieges von 1812«] (1912); »…Na Pariž! Dnevnik junoši, učastnika kampanii 1813-1814 gg.« [»…Nach Paris! Tagebuch eines jugendlichen Teilnehmers der Kampagne der Jahre 1813-1814«] (1913, Einzelpubl. 1914); »Orel Čečni i Dagestana« [»Der Adler Tschetscheniens und Dagestans«] (1916-17); »Pered rassvetom. Povestʼ dlja junošestva iz poslednich let krepostnogo prava« [»Vor der Morgendämmerung. Eine Erzählung für die Jugend aus den letzten Jahren der Leibeigenscha t«] (1899); »Dobrovolec Kašnev. Byl’« [»Freiwilliger Kašnev. Eine wahre Geschichte«] (1915).

5 Der »Vaterländische Krieg« in literaturkritischen und literarischen Diskursen 1912

Als bekannteste Werke von Avenarius gelten seine »belletrisierten Biographien« von herausragenden Persönlichkeiten (engl. »fictionalized biography« nach Moeller-Sally 1995:69; franz. »biographie romancée« nach Ungurianu 2007:158; russ. »belletrizovannye biografii/žizneopisanija« nach Kazanceva 2007, 2011), die als hybride Gattungsformen an der Schnittstelle zwischen einer literaturwissenscha tlichen Untersuchung und einer literarischen Darstellung zu verorten sind. Den Biographien herausragender Persönlichkeiten wird bekanntlich seit der Antike eine große pädagogische Wirkung auf die Jugend zugeschrieben (vgl. Čechov 1927:61 nach Moeller-Sally 1995:69; Kazanceva 2011:88). Sie beziehen ihre modellierende Rolle auch aus der russischen Tradition der Heiligenviten, die einen nachzuahmenden idealen Lebensentwurf enthielten (vgl. Moeller-Sally 1995:64). Mit seinen belletrisierten Biographien konstruiert Avenarius eine Typologie der russischen und europäischen »Schri tsteller, Komponisten, Erfinder und Wissenscha tler« (Kazanceva 2011:34), z.B. Puškin, Gogolʼ, Lermontov, Fonvizin, Mozart, Glinka, Kulibin, Pirogov, Edison, Kolumbus u.a., die dem jungen Leser als Bildungsideal und moralische Orientierungshilfe dienen sollen.10 Historisch belegte Fakten aus dem Leben herausragender Persönlichkeiten, die im Text als literarische Helden agieren, werden dabei mithilfe der »künstlerischen Intuition« [»художественн[ая] интуици[я]«] des Autors (Kazanceva 2007:42) und fiktionaler Elemente zu einem einheitlichen biographischen Narrativ in literarisierter Form verarbeitet (vgl. Ungurianu 2007:145; ausführlich bei Kazanceva 2007, 2011). Dadurch »formte« Avenarius »in vielerlei Hinsicht jenen Kanon der unterhaltenden 10

[Dilogie] »Otročeskie gody Puškina« [»Puškins Knabenjahre«] (1885) und »Junošeskie gody Puškina« [»Puškins Jugendjahre«] (1887); »Učeničeskie gody Gogolja. Biografičeskaja trilogija« [»Gogol’s Lehrjahre. Eine biographische Trilogie«] (1897-1899); »N.V. Gogolʼ. Biografičeskij očerk« [»N.V. Gogolʼ. Eine biographische Skizze«] (1909); »M.Ju. Lermontov. Biografičeskij očerk« [»M.Ju. Lermontov. Eine biografische Skizze«] (1891); »D.I. Fonvizin, ego žiznʼ i tvorčestvo« [»D.I. Fonvizin, sein Leben und Scha fen«] (1914); »Detskie gody Mocarta. Biografičeskij rasskaz. Po Geribertu Rau« [»Kinderjahre Mozarts. Eine biographische Erzählung. Nach Heribert Rau«] (1892, Einzelausgabe 1901); »Sozdatelʼ russkoj opery, Michail Ivanovič Glinka. Biografičeskaja povestʼ dlja junošestva« [»Der Schöpfer der russischen Oper, Michail Ivanovič Glinka. Eine biographische Erzählung für die Jugend«] (1903); »Pervyj russkij izobretatelʼ Ivan Petrovič Kulibin. Biografičeskij rasskaz dlja junošestva« [»Der erste russische Erfinder Ivan Petrovič Kulibin. Eine biographische Erzählung für die Jugend«] (1906, Einzelpubl. 1909); »Škol’nye gody Pirogova« [»Pirovogs Schuljahre«] (1908) und »Akademičeskie gody Pirogova« [»Pirogovs akademische Jahre«] (1909) – beide Texte zusammenfügt in: »Molodostʼ slavnogo russkogo chirurga i pedagoga N.I. Pirogova. Biografičeskij rasskaz dlja junošestva« [»Die Jugend des berühmten russischen Chirurgen und Pädagogen N.I. Pirogov. Eine biographische Erzählung für die Jugend«] (1909); »Molodostʼ i tvorčestvo velikogo izobretatelja Ėdisona« [»Jugend und Scha fen des berühmten Erfinders Edison«] (1923); »Za nevedomyj okean. Istoričeskaja povestʼ dlja junošestva ob otkrytii Novogo Sveta« [»Hinter den unbekannten Ozean. Eine historische Erzählung für die Jugend über die Entdeckung der Neuen Welt«] (1912, Einzelausg. 1913).

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Lebensbeschreibung eines klassischen Schri tstellers, der zur Festigung der vorwissenscha tlichen Vorstellungen von der Verbindung zwischen Biographie und Scha fen in der historisch-literarischen Tradition beitrug.« [vgl. »[…] А. во многом сформировал тот канон занимат. жизнеописания писателя-классика, к-рый содействовал закреплению в ист.-лит. традиции донаучных представлений о связях биографии с творчеством.«] (Čudakova 1990:17). Zugleich erwies sich gerade die [populäre] Gattung der belletrisierten Biographie als hilfreich, um das problematische Verhältnis von realer und künstlerischer Biographie vereinfacht darzustellen und Widersprüche aufzulösen (vgl. Avenarius 1899b:[8]). Darin bestand auch ein wesentliches Moment der Manipulation. Seine pädagogischdidaktische Intention, dem jungen Leser ›wohlanständige‹ Ideale zu vermitteln, zwang Avenarius dazu, einer herausragenden Persönlichkeit eine entsprechende vorbildha te Biographie zuzuschreiben. O fenbar gelang es Avenarius, in seinen Texten für Kinder eine Balance zwischen emotional gefärbter, faktisch-korrekter und moralisch-didaktischer Darstellung zu finden. Aufgrund ihrer Faktizität und ihres ernstha ten, »erwachsenen« Tons (Vengerov 1889:63) gegenüber dem kindlichen Leser maßen die Kritiker seinen Werken eine große pädagogische und wissenscha tliche Bedeutung bei und hielten sie auch für Erwachsene geeignet (vgl. Russkaja myslʼ 1888:91; M–o 1912:653; Prokopov 1998:12, 14; Filin 1999:13; Ungurianu 2007:159). Viele seiner Texte wurden vom Ministerium der Volksau klärung und vom Lehrkomitee des Ressorts der Kaiserin Maria für den (u.a. gymnasialen) Schulunterricht empfohlen, was zu ihrer großen Verbreitung und ihrem kommerziellen Erfolg beitrug (vgl. Friče 1930; Čudakova 1990:17; Prokopov 1998:5; Ungurianu 2007:159). Dass Avenarius und/oder sein Verleger Petr Vasil’evič Lukovnikov (1847-19??) an seinem Image konsequent gearbeitet haben, zeigt sich darin, dass einige seiner Bücher Rubriken enthalten, in denen positive Rezensionen sowie Empfehlungen und Auszeichnungen referiert werden (z.B. Avenarius 1899b, 1908). Die Ausgaben von Avenarius zeichneten sich durch eine aufwändige polygraphische Gestaltung aus, waren allerdings aufgrund ihres hohen Preises vor allem für Kinder aus gehobenen Schichten zugänglich (vgl. Moeller-Sally 1995:69). Auch die Integration fremdsprachiger Textstellen erschwerte den Einsatz dieser Texte in einfachen Volkslesestuben und Bibliotheken (vgl. Russkaja myslʼ 1901:118). Nach 1917 publizierte Avenarius kaum noch, zwei Sammelbände mit eaterstücken für Kinder unter seiner Redaktion erschienen posthum 1924 und 1925 (vgl. Čudakova 1990:17; Filin 1999:12; Mjakiševa 2006). In der Sowjetzeit wurden seine Werke nicht mehr aufgelegt und gerieten in Vergessenheit. In der sowjetischen Literaturforschung wurde Avenarius vor allem als Vertreter der reaktionären »antinihilistischen« Prosa der 1860er Jahre betrachtet und als solcher diskreditiert (vgl. Friče 1930; Bjalyj 1956:301; Batjuto 1982:279-281).

5 Der »Vaterländische Krieg« in literaturkritischen und literarischen Diskursen 1912

Die erneute Hinwendung zu Avenarius in den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts in Russland ist vom Pathos der Wiederentdeckung der vorrevolutionären literarischen Tradition geprägt und im Kontext der Identitätskrise nach dem Zerfall der Sowjetunion zu sehen. 1996 erschien eine fün bändige Ausgabe seiner ausgewählten Werke (Avenarius 1996). Die Neuau lage seiner belletrisierten Biographien wurde dabei als Rückbesinnung auf die traditionellen russischen Werte betrachtet. Ein Herausgeber bezeichnete seine Puškin-Biographie als eine »Brücke« für die junge Generation zum ›wahren‹ Dichter und stellte sie den späteren Versuchen aus den russischen Emigrantenkreisen, z.B. den »Progulki s Puškinym« [»Promenaden mit Puškin«] von Abram Terc (1925-1997), scharf gegenüber (vgl. Filin 1999:6-7). Nur wenige Kritiker erkannten, dass die aus pädagogischer Sicht sinnvolle Konzentration auf eine harmonische geistige und ästhetische Entwicklung einer herausragenden Persönlichkeit (z.B. Puškins) zugleich alles Krisenha te und Rebellische aus ihrer Biographie ausblendete und somit einen wichtigen »sozialen Au trag« [»соцзаказ«] im postsowjetischen Russland erfüllte (vgl. Raspopin 1998). Die Texte von Avenarius scheinen auch im heutigen Russland gefragt zu sein. Es werden immer mehr seiner Werke nachgedruckt, inzwischen auch die Märchen für Kleinkinder. Ein durchaus anspruchsvolles Quizspiel zu Leben und Werk des Schri tstellers wurde in der Zeitschri t »Čitaem vmeste. Navigator v mire knig« [»Gemeinsam lesen. Ein Navigator in der Welt der Bücher«] publiziert (Čitaem vmeste 2014). Auch in der Forschung wird das Werk von Avenarius zunehmend im Kontext der populären Literatur der Jahrhundertwende (Moeller-Sally 1995; Ungurianu 2007; Soročan 2008; Ben 2013) sowie im Zusammenhang mit der Institutionalisierung des kindlichen Lesens in Russland untersucht (Lučkina 2012, 2013; Šumko 2011). Außerdem wurde eine umfassende Untersuchung seiner belletrisierten Biographien vorgelegt (Kazanceva 2007, 2011). Durch eine umfassende Digitalisierung literarischer Werke aus dem 19. und frühen 20. Jahrhundert durch russische Bibliotheken liegen die meisten Werke von Avenarius nun auch frei zugänglich in elektronischer Form vor.

5.3.2

Genese, Funktion und didaktisches Potenzial der Tagebuchform

Die ematik des »Vaterländischen Krieges« verarbeitete Avenarius vor allem in zwei zusammenhängenden Werken »Sredi vragov. Dnevnik junoši, očevidca vojny 1812 goda« [»Unter den Feinden. Tagebuch eines jugendlichen Augenzeugen des Krieges von 1812«] (Avenarius 1912) und »…Na Pariž! Dnevnik junoši, učastnika kampanii 1813-1814 gg.« [»…Nach Paris! Tagebuch eines jugendlichen Teilnehmers der Kampagne der Jahre 1813-1814«] (Avenarius 1914a), die zu einem zweiteiligen Tagebuch eines jugendlichen Kriegsteilnehmers des Krieges von 1812 und der Kampagne von 1813-1814 stilisiert werden. Bevor der erste Teil der Dilogie im Folgenden ausführlich vorgestellt und analysiert wird, ist zunächst ein Blick auf die

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Tagebuchform zu werfen, um diese im Kontext von Avenariusʼ bildungsdidaktischer Poetik besser verorten zu können. Die beiden Werke lassen sich zunächst formal als eine umfassende ›Autobiographie‹ eines jugendlichen Augenzeugen zwar ebenfalls in die Tradition der belletrisierten Biographien von Avenarius einordnen. Zugleich weisen sie signifikante Unterschiede auf. Als Erstes wird die Perspektive eines auktorialen Erzählers zugunsten der Ich-Perspektive eines Tagebuchsautors aufgegeben. Auch steht im Mittelpunkt von »Sredi vragov« und »…Na Pariž!« keine herausragende Persönlichkeit, sondern ein Held einfacher Abstammung, ohne ein bekanntes historisches Vorbild. Bei näherer Betrachtung wird auch deutlich, dass es sich dabei nicht um eine historisch belegte Person, sondern um eine fiktive, vom Autor aufwändig konstruierte Erzählinstanz handelt. Die Tagebuchperspektive, so die Ausgangsthese, lässt sich dabei als eine Weiterentwicklung bzw. Modifikation der Gattung der belletrisierten Biographie betrachten, in der die Idee der literarischen Popularisierung von speziellem historischem Wissen mit der erziehungsdidaktischen Intention des Autors noch enger zusammengeführt wird. Dies wir t die Frage nach der Genese und Funktion der Tagebuchperspektive in den Texten von Avenarius auf. Mit der Wahl der Tagebuchform schreibt sich Avenarius in den pädagogischerzieherischen Diskurs des 19. Jahrhunderts ein, in dem das Führen eines Tagebuches gerade bei Jugendlichen als ein wichtiges Instrument der Charakterbildung und Selbstdisziplinierung galt. Der Literaturwissenscha tler Oleg Egorov fasst es wie folgt zusammen: Старшие, родители не только поощряли ведение дневников своими детьми и воспитанниками, но и постоянно рекомендовали эту процедуру. Дневник, по их понятиям, должен служить средством умственного и нравственного воспитания юноши или девушки. В дневник заносятся поступки, мысли о прочитанном, суждения о моральных понятиях, дается самооценка. Молодой человек пишет хронику своей внутренней жизни и социального поведения и на ее основе корректирует свои мысли и поступки. (Egorov 2003:22, Hervorhebung K.R.) Erwachsene und Eltern förderten nicht nur das Führen eines Tagebuchs durch ihre Kinder und Zöglinge, sondern empfahlen dieses Verfahren stets. Das Tagebuch sollte ihrer Au fassung nach als Mittel der geistigen und moralischen Erziehung eines jungen Mannes oder einer jungen Frau dienen. Ins Tagebuch werden Taten und Gedanken über Gelesenes und Urteile über moralische Begri fe eingetragen und eine Selbsteinschätzung vorgenommen. Der junge Mensch schreibt eine Chronik seines inneren Lebens und sozialen Verhaltens und korrigiert auf deren Basis seine Gedanken und Taten. Tagebuchnotizen wurde in Russland traditionell eine hohe Authentizität zugeschrieben, nicht nur weil sie Ereignisse, im Gegensatz zu Memoiren, zeitnah

5 Der »Vaterländische Krieg« in literaturkritischen und literarischen Diskursen 1912

festhalten, sondern weil sie als persönliches Instrument der Autokommunikation und Re lexion des Lesers als jeglicher Selbststilisierung fremd eingeschätzt wurden und daher als besonders wahrha tig galten (vgl. Egorov 2003:3-15).11 Die Hinwendung zur Tagebuchform im Jubiläumsjahr 1912 ist gewiss auch als Anlehnung an die Tradition der Memoirenliteratur zu sehen, die im Laufe des 19. Jahrhunderts eine wichtige Rolle bei der Tradierung der Erinnerung an den »Vaterländischen Krieg« spielte (vgl. Tartakovskij 1980, 1997a). Indem Avenarius seine Werke über die Epoche von 1812 zum Tagebuch eines Kriegsteilnehmers stilisierte, profitierte er nicht nur von dem hohen Authentizitätszuspruch der Egodokumente, sondern bediente auch das Interesse des Massenlesers am Alltag der Epoche von 1812, das insbesondere durch das 100-jährige Jubiläum angeregt wurde. Darüber hinaus begründete Avenarius damit auch die für ihn wichtige Idee vom elementaren Zusammenhang zwischen Biographie und [literarischem] Schreiben/Scha fen (vgl. Čudakova 1990:17). Dies zeigen seine autobiographischen Notizen, die er anhand von vorformulierten Leitfragen in dem vom russischen Übersetzer und Publizisten Fedor Fedorovič Fidler (1859-1917) herausgegebenen Sammelband »Pervye literaturnye šagi. Avtobiografii sovremennych russkich pisatelej« [»Erste literarische Schritte. Autobiographien der zeitgenössischen russischen Schri tsteller«] 1911 verö fentlichte. Darin betont Avenarius nicht nur die existenzielle Bedeutung des literarischen Scha fens, das Motiv des spontanen Einfalls bzw. der [ungezwungenen] künstlerischen »Phantasie« korreliert bei ihm auch mit der Vorstellung von einer regelmäßigen »literarischen Arbeit«: Писал я по неодолимой потребности »сочинять« и писал всегда только на интересовавшие меня темы. […] Но ежедневный литературный труд и до сих пор для меня такая же жизненная потребность, как пища и воздух. (Fidler 1911:16, 18, Hervorhebungen K.R.) 11

Wie wirkungsmächtig diese Tradition in der russischen Forschung bis heute bleibt, zeigt die folgende Passage aus einer Dissertation aus dem Jahr 2014, die sich mit der Funktion von Tagebuchfragmenten in der russischen Prosa der 30er – 70er Jahre des 19. Jahrhunderts beschä tigt: »Автор дневника зачастую дает творческую и непредвзятую оценку того, что происходит в его душе и мире в целом. Поскольку ведение дневника изначально не предполагает наличия читателя, то ложь и лицемерие в нем выступают сродни самообману, а потому являются маловероятными, в результате дневник, как правило, ведется честно, открыто, непринужденно, отбор материала осуществляется преимущественно по искреннему желанию и усмотрению его автора.« [»Der Autor eines Tagebuchs liefert o t eine kreative und unvoreingenommene Bewertung dessen, was in seiner Seele und in der Welt im Ganzen passiert. Da das Führen des Tagebuches von Anfang an kein Vorhandensein eines Lesers voraussetzt, kämen Lüge und Heuchelei darin einem Selbstbetrug gleich und sind deswegen unwahrscheinlich. Daher wird ein Tagebuch in der Regel ehrlich, o fen und ungezwungen geführt; die Auswahl des Materials geschieht vorrangig nach dem aufrichtigen Wunsch und Ermessen des Autors.«] (Nikolaičeva 2014:3).

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Ich schrieb aus dem unüberwindlichen Bedürfnis zu fabulieren/zu dichten, und ich schrieb immer nur über Themen, die mich interessierten. […] Doch die tägliche literarische Arbeit bleibt für mich nach wie vor ein ebensolches Lebensbedürfnis wie Nahrung und Lu t. Gleichzeitig bezieht Avenarius sein Bedürfnis, zu »fabulieren«/zu »dichten«, auf das »wirkliche Leben«, sodass die Sphären des Lebens und des Scha fens von der Phantasie im märchenha t-phantastischen Sinne abgegrenzt werden: Добрейший мой дядя […] первый, можно сказать, открыл мне с раннего детства мир фантазии – не сказками, а рассказами из действительной жизни. (Fidler 1911:13, Hervorhebung K.R.) Mein grundgütiger Onkel […] war, kann man sagen, der Erste, der mir von früher Kindheit an die Welt der Phantasie erö fnete – nicht mit Märchen, sondern mit Erzählungen aus dem wirklichen Leben. Somit wird das »Phantastische« durch eine regelmäßige »literarische Arbeit« in der »wirklichen Welt« entdeckt und an diese geknüp t. Diese A finität zum Realen scheint ein besonderes Merkmal der Prosa von Avenarius zu sein, denn gerade für diese »Bodenständigkeit« und seinen ernstha ten, »erwachsenen« Ton gegenüber dem kindlichen Leser wurde er von den Kritikern gelobt (vgl. Vengerov 1889:63; Russkaja myslʼ 1888). Selbst in seinen Märchen oder seiner Erzählung über einen auferstandenen Bewohner von Pompeji12 haben phantastische Elemente (z.B. sprechende Tiere, Gegenstände, eine zum Leben erwachte Mumie usw.) keinen Eigenwert, sondern sind als Allegorie auf die reale Welt stets seiner didaktischen Intention unterworfen. Zentral für Avenariusʼ moralisch-didaktisches Bildungsprogramm ist die Idee des ›Wachstums‹, d.h. der persönlichen Entwicklung des jungen Lesers durch die Partizipation an den Biographien herausragender Persönlichkeiten. In seiner anlässlich des 50. Todesjahres Michail Jur’evič Lermontovs, des 100. Todesjahres Wolfgang Amadeus Mozarts und des 400. Jahrestages der Entdeckung Amerikas durch Christoph Kolumbus erschienenen und für den Schulunterricht empfohlenen Textsammlung für Jugendliche »Vasil’ki i kolos’ja« [»Kornblumen und Ähren«] (1892) rekurriert die Vorstellung von »Kornblumen« und »Ähren« nicht nur auf die Ideen der persönlichen Entfaltung und des Nutzens von Wissen, sondern vermittelt bereits eine Hierarchie der herausragenden Persönlichkeiten und ihrer Taten, wie

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»Neobyknovennaja istorija o voskresšem pompejce. Fantastičeskaja povest’« [»Eine ungewöhnliche Geschichte von einem auferstandenen Bewohner von Pompeji. Eine phantastische Erzählung«] (1903).

5 Der »Vaterländische Krieg« in literaturkritischen und literarischen Diskursen 1912

im Vorwort des Herausgebers betont wird: »Душевно был бы рад, если бы среди собранных здесь для молодого поколения безыскусственных полевых ›васильков‹ пошли впрок и рассеянные между ними ›колосья‹.« [»Ich würde mich in der Seele freuen, wenn sich unter den hier für die junge Generation versammelten ungekünstelten ›Kornblumen‹ auch die dazwischen verstreuten ›Ähren‹ als nützlich erweisen würden.«] (Avenarius 1892:5). Der unmittelbare Zusammenhang von [künstlerischem] Schreiben und persönlichem Wachstum lässt sich in dem von Avenarius herausgegebenen Lesebuch »Lepestki i list’ja. Rasskazy, očerki, aforizmy i zagadki dlja junošestva« [»Blütenblätter und Blätter/Seiten. Erzählungen, Skizzen, Aphorismen und Rätsel für die Jugend«] erkennen (Avenarius 1905a). Bereits im Titel wird die Polysemie des russischen Lexems ›listok‹ ([P lanzen]Blatt/Seite eines Buches) produktiv gemacht und die Naturmetapher des Baumes aufgegri fen. Bezeichnenderweise wird dabei auch dem Tagebuch eine wichtige Rolle eingeräumt. Im Kapitel mit dem sprechenden Titel »Iz knigi žitejskoj mudrosti« [»Aus dem Buch der Alltagsweisheit«] findet sich ein Aphorismus, in dem das Tagebuch eines jungen Autors zum unmittelbaren Abbild seines Lebensweges stilisiert wird: Жизнь – дневник. Земная жизнь – дневник, где каждая страница С начала до конца сперва, как снег, бела. О, если бы у всех туда могли вноситься С начала до конца лишь светлые дела! (Avenarius 1905a:282) Das Leben ist ein Tagebuch. Das irdische Leben ist ein Tagebuch, in dem jede Seite Von Anfang bis Ende zunächst weiß wie Schnee ist. Oh, wenn sich bei allen darin Von Anfang bis Ende nur helle Taten eintragen ließen! Die Metapher vom Tagebuch als »Spiegelbild« des Lebens des Autors und als dessen moralische Kontrollinstanz, die das Gelebte und das Geschriebene zu austauschbaren Größen macht, stützt sich auf die Vorstellung von der Authentizität der Tagebuchnotizen und korreliert mit der Idee der geistig-moralischen Entwicklung des Tagebuchautors. Die Vorstellung von einer Verbindung zwischen Biographie und künstlerischem Scha fen liegt auch der Sammlung »Listki iz detskich vospominanij. Desjatʼ avtobiografičeskich rasskazov V.P. Avenariusa« [»Seiten aus Kindheitserinnerungen. Zehn autobiographische Erzählungen von V.P. Avenarius«] (1893) zugrunde, die ebenfalls auf der Metapher des inneren Wachstums (»listki«) basiert (Avenarius 1893). Zu einem wesentlichen Merkmal des Tagebuchtextes gehört die personale Erzählperspektive des autobiographischen Helden. Sie lässt sich bei Avenarius bis

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in seine frühen, heute kaum noch bekannten Werke zurückverfolgen.13 Die IchPerspektive steht hier für den betont subjektiven und sentimentalistisch gefärbten Ansatz seiner Prosa, der unter anderem durch ein Spiel mit Pseudonymen und Erzählinstanzen betont wird. Es handelt sich um Liebesgeschichten, die bereits Memoirencharakter haben und eine chronologische Gliederung aufweisen. In »Pervyj roman« zeigt sich die Tendenz zur Integration lyrischer Texte, die den emotionalen Zustand des Helden illustrieren. Die Hinwendung zur Ich-Erzählung im Frühwerk von Avenarius korreliert auch mit seinem Bestreben, nicht nur einen Einblick in die emotionale Welt seiner Helden zu geben, sondern auch sein eigenes Wissen in literarischer Form zu verarbeiten und zu vermitteln. Man kann davon ausgehen, dass Avenarius in seinen »sittenbeschreibenden« Erzählungen »Ty znaešʼ kraj? Nravoopisatel’naja povest’« [»Kennst du ein Land? Eine sittenbeschreibende Erzählung«] (Avenarius 1867) und »Pervyj vylet. Putevoj dnevnik institutki« [»Der erste Aus lug. Das Reisetagebuch einer Institutsschülerin«] (Avenarius 1902; vgl. Ben 2013:211-212) seine Eindrücke von den Reisen nach Deutschland, Italien und in die Schweiz verarbeitete. Somit lassen bereits diese Werke eine Verbindung von didaktischer Intention und autobiographischem Moment erkennen. In der historischen Prosa von Avenarius findet sich die Ich-Perspektive in der Erzählung »Pered rassvetom. Povestʼ dlja junošestva iz poslednich let krepostnogo prava« [»Vor Sonnenaufgang. Eine Erzählung aus den letzten Jahren der Leibeigenscha t«] (Avenarius 1899a). Der Text ist in Form der Autobiographie eines Kindes verfasst, weist jedoch noch nicht die Struktur eines Tagebuches auf. Avenarius lässt auch hier historische Persönlichkeiten au treten, deren Gestaltung ein zeitgenössischer Kritiker für genauso gelungen wie seine Puškin- und Gogolʼ-Biographien hielt (vgl. P–v 1900:810). Somit zeichnet sich bereits hier die Tendenz ab, dass die personale Perspektive eines kindlichen Helden in den Dienst der Wissensvermittlung gestellt wird, indem sie die Reformen von innen beleuchtet und dem Geschehen Dramatik verleiht (vgl. P–v 1900; Russkaja myslʼ 1901). Als eine erste Hinwendung des Autors zur Geschichte des »Vaterländischen Krieges« kann man die biographische Skizze »Poėt-partizan, Denis Vasil’evič Davydov« [»Poet und Partisan, Denis Vasil’evič Davydov«] betrachten, die erstmals 1904 in der Zeitschri t für Kinder »Rodnik« [»Die Springquelle«] erschien (vgl. Čudakova 1990:17) und 1905 im Sammelband »Lepestki i list’ja« nachgedruckt wurde (Avenarius 1905b). Der Text erscheint gerade für die Verarbeitung historischer 13

Unter dem Pseudonym »V. Petropavlovskij«: »Pervyj roman. Sentimental’naja istorija. (Iz studenčeskich vospominanij Leonida V’junkova)« [»Der erste Roman. Eine sentimentale Geschichte (Aus den studentischen Erinnerungen von Leonid V’junkov)«] (Avenarius 1870). Unter den Pseudonymen »V. P–vič« und »V. Pe–vič«: »Poslednie dni obvinitelja. Roman trech dnej« [»Die letzten Tage eines Anklägers. Ein Roman über drei Tage«] (Avenarius 1878).

5 Der »Vaterländische Krieg« in literaturkritischen und literarischen Diskursen 1912

Sto fe bei Avenarius aufschlussreich, denn bereits hier werden die zentralen Motive der (Auto)biographie einer herausragenden Persönlichkeit, eines epochalen historischen Ereignisses und des Tagebuches zusammenführt. Im Mittelpunkt der Erzählung steht die Biographie des russischen O fiziers und Dichters Denis Vasil’evič Davydov (1784-1839), anhand derer dem jungen Leser die Geschichte der Epoche von 1812 und der Begri f des Partisanenkrieges erläutert werden. Zwar bedient sich Avenarius der traditionellen Metaphorik, um die Vorstellung vom Krieg als Elementargewalt und »Sturm« [»ураган«] zu begründen (Avenarius 1905b:206), doch wird das Phänomen des Partisanenkrieges au fallend sachlich behandelt und mithilfe einer Analogie zum zeitgenössischen Zweiten Burenkrieg in Afrika (18991902) eingeführt (vgl. Avenarius 1905b:207-208). Am Beispiel von Davydovs Militäraktionen zieht Avenarius eine Parallele zum »Vaterländischen Krieg« und gibt einen Einblick in die Strategie des professionellen Partisanenkrieges (vgl. Avenarius 1905b:218-220), ohne dabei auf die traditionellen Ideologeme des »napoleonischen Narrativs« wie die göttliche Fügung oder Rache oder den »Volkskrieg« einzugehen. Episoden aus dem Leben des »Partisanendichters« werden in einer für Avenarius typischen Weise durch einen auktorialen Erzähler nacherzählt und mit Zitaten aus Davydovs Lyrik unterlegt, die ihn sozusagen selbst zu Wort kommen lassen. Bezeichnenderweise wird dabei auch sein Tagebuch erwähnt: »Своим партизанским действиям в Отечественную войну Давыдов вел обстоятельный дневник.« [»Über seine Partisanenaktionen im Vaterländischen Krieg führte Davydov ein ausführliches Tagebuch.«] (Avenarius 1905b:217, Hervorhebung K.R.). Avenarius macht das Motiv des Tagebuchs in der Erzählung auf verschiedenen Ebenen produktiv. Zunächst dient es der chronologischen Strukturierung des biographischen Narrativs und stellt zugleich eine dokumentarische Quelle für die Erzählung dar und steigert somit deren Authentizität. Als Teil einer belletrisierten Biographie stellt der Tagebuchtext eine bemerkenswerte Erweiterung des populärbiographischen Narrativs dar, die es ermöglicht, das indirekte Wort des auktorialen Erzählers mit direkten Äußerungen des Protagonisten zu kombinieren.14 Schließlich erö fnet das Tagebuch den Weg zur Relativierung und moralisch-didaktischen Bewertung der Handlungen des Helden. Dabei lassen sich über das Motiv des Tagebuches als Spiegelbild des Lebens des Autors auch moralisch verwer liche Taten thematisieren, wie es Avenarius am Beispiel der Erschießung von Gefangenen durch Davydov zeigt: Таких возмутительных расправ в том же дневнике приведено несколько. Хотя с тех пор протекло без малого сто лет, но и теперь еще эти беззастенчивые признания возбуждают в читателе непреодолимый ужас перед озверевшим автором дневника. (Avenarius 1905b:220-221)

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Zur Funktion von Tagebuchfragmenten in literarischen Werken vgl. Nikolaičeva 2014.

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In diesem Tagebuch sind einige solcher anstößigen Gewaltakte aufgeführt. Zwar sind seitdem nun schon fast 100 Jahre vergangen, doch erwecken solche schamlosen Geständnisse beim Leser auch heute noch ein unüberwindliches Grauen vor dem zum wilden Tier gewordenen Autor des Tagebuches. Obwohl Avenarius den Beitrag der Partisanentruppe Davydovs im »Vaterländischen Krieg« würdigt, übt er zugleich Kritik an dessen »ungestümer und ungezügelter Natur« [»пылкая и необузданная натура«] (Avenarius 1905b:216), was nicht zuletzt auf Davydovs Selbststilisierung als Zeitgenosse Napoleons und Angehöriger von dessen »stürmischem und rebellischem Zeitalter« beruht: »Век Наполеона, коему принадлежу я, – век бурный и мятежный […].« [»Das Zeitalter Napoleons, dem ich angehöre, ist ein stürmisches und rebellisches Zeitalter […].«] (Avenarius 1905b:206). Die Figur Davydovs und insbesondere seine Tagebuchnotizen erweisen sich als geeignet, um die moralische Dimension des Partisanenkrieges zu problematisieren: Одна из боевых песен поэта-партизана начинается и кончается припевом: »Я люблю кровавый бой!« Но »кровавый бой«, разжигая зверские инстинкты, заглушает в человеческом сердце естественную жалость. (Avenarius 1905b:220) Eines der Kamp lieder des Partisanendichters beginnt und endet mit dem Refrain: »Ich liebe die blutige Schlacht!« Doch die »blutige Schlacht« tötet im menschlichen Herzen das natürliche Mitleid ab, indem sie tierische Instinkte entfacht. Somit avanciert die moralische Rechtfertigung des Partisanenkrieges zum zentralen Dilemma der Erzählung. Ohne die große Bedeutung des Sieges über Napoleon anzuzweifeln, nimmt Avenarius jedoch Abstand von direkten didaktisierenden Wertungen. Der Text weist hier eine signifikante Leerstelle auf: Die grundsätzliche moralische Frage, inwiefern die Grausamkeiten des Partisanenkrieges für den Sieg in einem Krieg aus allgemeinmenschlicher Perspektive vertretbar sind, wird an den jungen Leser weitergegeben. Die moralisch-didaktische Konzeption von Avenarius wird durch den Nachdruck des Textes im Sammelband »Lepestki i list’ja« vervollkommnet, in dem die Biographie von Davydov in ein breiteres Textumfeld integriert wird und als eine heroische und lehrreiche Episode der nationalen Geschichte fungiert. Das Leben von Denis Davydov wird dadurch zu einem ›Blatt‹ am ›Baum‹ des Lebens bzw. einer ›Seite‹ im ›Buch‹ der russischen Geschichte stilisiert. Bereits am Beispiel dieses früheren Textes lässt sich die Verknüpfung der Ideen der Bildung und der sittlichen Erziehung des jungen Lesers mit der Hinwendung zur Geschichte erkennen.15 In den Fokus rückt die (auto)biographische Chronik des 15

Dass Avenarius mit den Schlüsseltexten der klassischen und zeitgenössischen russischen Literatur und mit den wichtigsten Werken über den »Vaterländischen Krieg« vertraut war, lassen nicht nur seine eigenen literarischen Vorlieben (vgl. Fidler 1911) erkennen, sondern

5 Der »Vaterländische Krieg« in literaturkritischen und literarischen Diskursen 1912

Lebens einer herausragenden Persönlichkeit, die vor dem Hintergrund der Schlüsselereignisse der nationalen russischen Geschichte agiert. Diese dient als Sammelsurium lehrreicher Episoden und wird zur Projektions läche für abenteuerliche Kollisionen und moralische Kon likte. Dabei ermöglicht die Darstellung des Krieges im erziehungsdidaktischen Diskurs, Kriegsereignisse im konstruktivistischen Sinne objektiv zu beleuchten, ohne dabei direkt auf die traditionellen Ideologeme zurückzugreifen. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die Erweiterung des biographischen Narrativs durch eine Tagebuchperspektive, die Avenarius in den beiden Texten über den »Vaterländischen Krieg« in den Jahren 1912-13 vornimmt, als Perfektionierung seiner Konzeption der »belletrisierten Biographie« betrachtet werden kann. Dabei bedient sich der Autor des großen Authentizitätszuspruchs an Kriegsmemoiren/Egodokumenten und macht zugleich das Potenzial des Tagebuchs als Instrument der Autokommunikation, der persönlichen Entfaltung und der Selbstdisziplinierung für didaktische Zwecke produktiv. Die Vorstellung vom Tagebuch als ›Spiegelbild‹ des Lebens des Autors, die das Beschriebene und das Erlebte zu austauschbaren Größen macht, verspricht einen authentischen Einblick in die Gefühlswelt des Tagebuchautors und erlaubt es, auch moralisch verwer liche Taten anzusprechen und diese aus moralischer Perspektive anzuprangern. Eine weitere Entwicklung gegenüber den belletrisierten Biographien besteht darin, dass es sich beim Tagebuchautor von Avenariusʼ Dilogie um keine historische belegte oder herausragende Persönlichkeit, sondern um einen fiktiven Erzähler handelt. Diese vom Autor aufwändig konstruierte Erzählinstanz eines jugendlichen Augenzeugen und ihr didaktisches Potenzial werden im nächsten Kapitel anhand des ersten Teils der Dilogie näher untersucht.

5.3.3

»Sredi vragov. Dnevnik junoši, očevidca vojny 1812 goda« (1912)

Avenariusʼ Erzählung »Sredi vragov« [»Unter den Feinden«] (Avenarius 191216 ) stellt den ersten Teil seiner Dilogie über die Epoche der napoleonischen Kriege dar und behandelt die Ereignisse des Jahres 1812 chronologisch von der Invasion Napoleons im Juni bis zu seiner Flucht aus Russland im Winter 1812. Die Erzählung ist in Form von Tagebuchnotizen des 18-jährigen raznočinec Andrej [André] Serapionovič Prudenskij [auch: Smolenskij] verfasst, der als Sohn eines Geistlichen im Haus der Gutsherren Tolbuchin in Smolensk lebt. Als die französische Armee vor der Stadt

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z.B. auch seine 1914 verö fentlichte »Historische Chrestomathie« [»Istoričeskaja chrestomatija«], die Auszüge aus den Romanen Zagoskins, Danilevskijs und Tolstojs enthält (Avenarius 1914b). Im Weiteren beziehen sich die Seitenangaben in Klammern auf diese Ausgabe, K.R.

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steht, beschließen die Gutsherren, ins Dorf zu ziehen, und der Held bleibt in Smolensk, teils um auf das Herrenhaus aufzupassen, teils aus seiner eigenen »Neugierde«, »einmal Napoleon zu sehen« (vgl. 19-20). Da der Held das Französische beherrscht, wird er vom Sergeant Mušeron gegen seinen Willen als Dolmetscher und Gehilfe nach Moskau mitgenommen. Zwei Fluchtversuche scheitern. Daraufhin wird der Held irrtümlicherweise zusammen mit einer Gruppe von Moskauer Räubern festgenommen und entkommt dank der Hilfe von Sergeant Mušeron nur knapp der Erschießung. Zusammen mit der abziehenden französischen Armee verlässt der Held Moskau als Gefangener und wird bei Malojaroslavec von der Truppe des Generals Platov befreit. Der Held macht Denis Davydov ausfindig, um ihm einen wichtigen Militärbericht zu übergeben, und schließt sich seiner Partisanentruppe an. Bei einer Kampfaktion an der Berezina wird der Protagonist verwundet. Die Erzählung endet damit, dass er vor einer Operation sein Tagebuch an die Tochter des Gutsherrn Tolbuchin, Varvara Aristarchovna, überbringen lässt. Dem Text wird ein Vorwort des mit den Initialen V.A. betitelten Herausgebers vorangestellt, der das Tagebuch angeblich bei einem Antiquar zufällig entdeckt hat. Es handelt sich dabei um eine Herausgeberfiktion, die vor allem dazu dient, die Authentizität des Tagebuches zu bekrä tigen. Der Herausgeber verleiht seiner Faszination für die Geschichte Ausdruck und wertet dadurch das literarisch tradierte Wissen über die Epoche von 1812 auf: »Старинные книги и рукописи – страсть моя.« [»Alte Bücher und Manuskripte sind meine Leidenscha t.«] (V). Gerade dieser Ansatz befähigt ihn dazu, in dem »nach Gewicht« verkau ten »Kram/Gerümpel« [»хлам […] для продажи на вес«] (V) etwas Wertvolles zu entdecken. Durch die Beschreibung der aufwändigen redaktionellen Arbeit am Tagebuchtext wird eine historisch-kritische Vorgehensweise imitiert, die zugleich die Nicht-Identität von Herausgeber und Ich-Erzähler signalisieren soll. Der Herausgeber gibt an, dass er die einzelnen Tagebuchnotizen mit Überschri ten versehen und sie in Kapitel zusammengeführt habe (vgl. V–VI). Dadurch betont er nicht nur die Kohärenz des Narrativs, sondern bewertet auch die Geschehnisse bereits durch ihre Benennung. Dieser Kunstgri f wurde von Avenarius bereits in früheren belletrisierten Biographien erprobt (vgl. Kazanceva 2007:90-91). Jedes Kapitel umfasst bis zu sechs Tagesnotizen, die im Haupttext lediglich mit einem Datum versehen und nicht betitelt sind. Dank der Tagebuchperspektive wird das historische Narrativ stärker mit dem Leben des fiktiven Protagonisten verwoben. Dabei wechseln sich literarischfiktionale und ›historische‹ Kapitel regelmäßig ab. Somit wird die literarische Tradition von Rafail Michajlovič Zotov (1795-1871) (z.B. »Leonid, ili Nekotorye čerty iz žizni Napoleona« [»Leonid, oder Einige Züge aus dem Leben Napoleons«] (1831)) und Dmitrij Savvatievič Dmitriev (1848-1915) (»Dva imperatora« [»Zwei Imperatoren«] (1896)) aufgegri fen, in der sich »[…] der unabhängige Wert des historischen Faktes in einer regelmäßigen Abwechslung ›romanha ter‹ und ›historischer‹ Kapitel […]« zeigt (Soročan 2008:363; vgl. Kap. 4.2.). Die Markierung der beiden Linien

5 Der »Vaterländische Krieg« in literaturkritischen und literarischen Diskursen 1912

ermöglicht es insbesondere, die persönliche Lebensgeschichte des Protagonisten in die äußere Chronik der Kriegsereignisse einzubetten und das Abenteuerliche auf der persönlichen Ebene des Protagonisten zu begründen, was Raum für weitere Kollisionen und Sujetlinien erö fnet.

5.3.3.1

Zeitgenössische Rezeption

»Sredi vragov« wurde insgesamt positiv von den Kritikern aufgenommen, wobei auch Avenariusʼ etablierter Ruf als Pädagoge und professioneller Kinderschri tsteller eine beachtliche Rolle spielte (vgl. Vengerov 1889:62; Skabičevskij 1903:349; Filin 1999:8-9; Kazanceva 2007:67). Zur positiven Bewertung trugen auch die gute polygraphische und visuelle Gestaltung des Buches bei (vgl. Gr–skij 1912:655; Novosti detskoj literatury 1912а) sowie der allgemeingültige Charakter seiner zentralen Aussage, die bereits die historische Distanz zur Epoche von 1812 widerspiegelt: Честолюбие и гордыня Наполеона являются причиной ужасных бедствий, которые пришлось претерпеть обеим сторонам: и русским, и французам. Если принять во внимание, что книга предназначается массовому читателю, то спорить с такой исходной точкой зрения не придется. (Gr–skij 1912:654) Napoleons Ehrgeiz und Hochmut sind der Grund des schrecklichen Elends, das beide Seiten – Russen und Franzosen – erleiden mussten. Wenn man berücksichtigt, dass das Buch an den Massenleser gerichtet ist, braucht man einen solchen Ausgangsstandpunkt auch nicht zu bestreiten. Die Kritiker erkannten, dass es sich bei der Tagebuchform um einen Kunstgri f der Darstellung handelte. Einerseits wurde die Tagebuchform mit zahlreichen historischen Details und Datenangaben nicht nur als Beweis des schri tstellerischen Könnens und als Zeugnis der faktischen Kompetenz des Autors betrachtet, sondern auch als geeignetes Mittel für die Popularisierung des historischen Wissens empfunden: Почтенный автор предпосылает своей книге предисловие, в котором он указывает, что издаваемый им дневник представляет собою подлинную поденную запись очевидца войны 1821 [sic!] года. Конечно, такое предисловие вместе с формой дневника только прием для того, чтобы сообщенным фактам и описаниям в глазах читателя сообщить большую реальность. Собственно говоря, дневник в отношении живости изложения является неудобной формой, и нужно было много уменья и уверенности в себе со стороны В.П. Авенариуса, чтобы для большей иллюзии добровольно из различных художественных приемов выбрать один из труднейших. Однако, к чести маститого автора нужно признать, что из трудного испытания он вышел с честью. Задача удалась. Автора приходится приветствовать тем более, что он немало времени затратил на изучение

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быта эпохи и ознакомление с историческими данными. Самые даты дневника свидетельствуют об этом. (Gr–skij 1912:654, Hervorhebung K.R.) Der geschätzte Autor schickt seinem Buch ein Vorwort voraus, in dem er angibt, dass das von ihm herausgegebene Tagebuch echte Tagesnotizen eines Augenzeugen des Krieges von 1821 [sic!] enthalte. Gewiss ist ein solches Vorwort zusammen mit der Form des Tagebuchs nur ein Kunstgri f, um den berichteten Fakten und Beschreibungen in den Augen des Lesers eine größere Realität zu verleihen. Eigentlich ist ein Tagebuch eine unbequeme Form hinsichtlich der Lebendigkeit der Darstellung, und es brauchte viel Können und viel Selbstvertrauen seitens V.P. Avenarius, um aus den verschiedenen Kunstgri fen freiwillig einen der schwierigsten für die Erzielung einer größeren Illusion auszuwählen. Doch man muss zu Ehren des namha ten Autors anerkennen, dass er aus der schweren Prüfung ehrenha t hervorgegangen ist. Sein Vorhaben ist ihm gelungen. Man sollte den Autor umso mehr beglückwünschen, als er nicht wenig Zeit für das Studium des Alltags der Epoche und für die Einsicht in die historischen Quellen aufgewandt hat. Selbst die Daten des Tagebuchs zeugen davon. Andererseits polarisierten sich die Meinungen gerade um die Frage der Authentizität des »Kunstgri fs«. Während der Rezensent des »Istoričeskij vestnik« [»Der historische Bote«] vom »san ten und herzlichen Ton des Buches« [»мягк[ий] и сердечн[ый] тон [книги]«] spricht und dessen großes didaktisches Potenzial lobte (Gr–skij 1912:654-655), gingen die liberal orientierten Rezensenten der Zeitschriften »Novosti detskoj literatury« [»Neuheiten aus der Kinderliteratur«] und »Vestnik vospitanija« [»Bote der Erziehung«] (vgl. Kap 5.2.) viel kritischer mit dem Text um. Zwar lobt ein anonymer Kritiker der »Novosti detskoj literatury« die »ziemlich genaue Beschreibung der Ereignisse« und die »mitunter lebendig und klar gezeichneten Bilder des Krieges von 1812« [»довольно точное описание событий и встречающиеся порой живо и ярко написанные картинки войны 1812 г.«], weist jedoch auch auf die Grenzen der Tagebuchperspektive als Kunstgri f hin und bemängelt Brüche auf der stilistischen Ebene: Книга написана в форме дневника юноши-очевидца, и этот прием портит ее. Автор стремится познакомить читателей в беллетристической форме с войной 1812 года, словами современника, но делает это далеко не под тем углом зрения, который мог быть у последнего, а по историческим данным. Отсюда получается немало странностей: юноша, автор дневника, не осиливший нехитрой бурсацкой науки, прекрасно ориентируется в ходе войны, знает всех полководцев, критикует или одобряет их действия, описывает их до мельчайших подробностей и т.д. Невольно возникает вопрос: да откуда он мог знать все это? […] Искусственность формы отразилась и на языке книги, который очень невыдержан: бурсацкий дневник, с устарелыми и витиеватыми оборотами

5 Der »Vaterländische Krieg« in literaturkritischen und literarischen Diskursen 1912

речи, вообще довольно неудобочитаемый, местами написан хорошим литературным языком. (Novosti detskoj literatury 1912a, Hervorhebung K.R.) Das Buch ist in Form des Tagebuchs eines jugendlichen Augenzeugen geschrieben, und dieser Kunstgri f verdirbt es. Der Autor ist bestrebt, den Leser mit dem Krieg von 1812 in belletristischer Form, mit den Worten eines Zeitgenossen, bekanntzumachen, doch er tut dies bei weitem nicht unter einem Blinkwinkel, den der Letztere haben könnte, sondern nach historischen Daten. Daraus ergeben sich nicht wenige Merkwürdigkeiten: Der Jugendliche, der Autor des Tagebuchs, der die einfache Lehre der bursa [Geistlichenschule, K.R.] nicht bewältigen konnte, kennt sich ausgezeichnet im Ablauf des Krieges aus, kennt alle Feldherren, kritisiert oder billigt ihre Handlungen, beschreibt sie bis ins kleinste Detail usw. Da stellt sich unwillkürlich die Frage: Woher weiß der Protagonist denn das alles? […] Die Künstlichkeit der Form schlug sich auch in der Sprache des Buches nieder, die sehr uneinheitlich ist: Das Tagebuch des bursak [Schüler einer Geistlichenschule, K.R.], mit altertümlichen und schwülstigen Ausdrücken, das insgesamt ziemlich schwer zu lesen ist, ist an manchen Stellen in guter Literatursprache geschrieben. Der Historiker S.P. Mel’gunov spricht in seinem Beitrag in der Zeitschri t »Vestnik vospitanija« von einer »Täuschung« des kindlichen Lesers: Нельзя отнести к числу удачных и произведение В.П. Авенариуса »Среди врагов. Дневник юноши, очевидца войны 1812 года«. Автор зарекомендовал себя недурными работами, нашедшими применение в школе. В новой работе совершенно нельзя одобрить самого приема. Автор начинает с рассказа, что он случайно нашел у букиниста дневник участника войны. Этот подлинный дневник он и опубликовывает. Конечно, это только прием изложения, как слишком ясно видно из текста. Зачем, однако, вводить юного читателя в заблуждение и вымысел, компоновку выдавать за рассказ очевидца? (Mel’gunov 1912a: 37-38) Auch das Werk von V.P. Avenarius »Unter den Feinden. Das Tagebuch eines Jugendlichen, Augenzeugen des Krieges von 1812« kann man nicht zu den geglückten/gelungenen zählen. Der Autor hat sich einen guten Ruf mit ordentlichen Werken erworben, die in der Schule Anwendung fanden. In seinem neuen Werk kann man jedoch den eigentlichen Kunstgri f überhaupt nicht billigen. Der Autor beginnt die Erzählung damit, dass er das Tagebuch eines Kriegsteilnehmers bei einem Antiquar gefunden habe. Dieses authentische/echte Tagebuch publiziere er nun. Natürlich ist es nur ein Kunstgri f der Darstellung, wie allzu deutlich aus dem Text erkennbar wird. Wozu aber den jungen Leser in die Irre führen und eine Erfindung, eine Kompilation für die Erzählung eines Augenzeugen ausgeben? Die Reaktion der Kritiker macht die Ambivalenz der Tagebuchform deutlich, die einerseits aufgrund ihres Authentizitätszuspruchs und großen integrativen Poten-

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zials als geeignet für die Vermittlung von historischem Wissen befunden wird und andererseits als »Kunstgri f der Darstellung« (Mel’gunov 1912a:38) und künstlerische Imitation einer historischen Quelle entlarvt und kritisiert wird. Dennoch wurde die realistische Schilderung des »Vaterländischen Krieges« in »Sredi vragov« gerade aufgrund ihres didaktischen Potenzials von den meisten Rezensenten als adäquat für den kindlichen Leser befunden.

5.3.3.2

Das Tagebuchnarrativ als Mittel der historischen Stilisierung

»Sredi vragov« lässt eine geradezu idealtypische Verarbeitung der Topoi des »napoleonischen Narrativs« erkennen und geht somit mit der staatso fiziellen Kriegsinterpretation konform. Gerade die traditionelle Darstellung des Krieges von 1812 wir t die Frage nach spezifischen Funktionen des ›literarischen‹ Rahmens, insbesondere der Tagebuchperspektive, auf. Wie bereits erwähnt, wird die Authentizität des Augenzeugenberichts eines adoleszenten Helden von Avenarius mithilfe der aufwändig rekonstruierten allumfassenden Chronik des Krieges von 1812 inszeniert, die sich aus o fiziellen Befehlen und Werken russischer Historiographen, Memoiristen und Literaten, aus nicht gekennzeichneten Übersetzungen aus französischen Memoiren sowie aus russischen lyrischen Texten zusammensetzt. Die Tagebuchform ist insbesondere im Spannungsfeld zu den zahlreichen Memoiren der Kriegsteilnehmer zu sehen, die eine wichtige Rolle bei der Tradierung der Erinnerung an den »Vaterländischen Krieg« spielen (vgl. Tartakovskij 1980). Es handelt sich also um die künstlerische Imitation einer historischen Quelle, die ihre Authentizität aus der Anlehnung an die Tradition der Egodokumente bezieht. Dabei kommt der fiktiven Perspektive eines zeitgenössischen Beobachters großes integratives Potenzial zu: Das scheinbar unmittelbar Beobachtete wird auf der synchronen Ebene mit den neuesten wissenscha tlichen Erkenntnissen zusammengeführt und gleichzeitig mit einer moralischen Wertung versehen. Dies erlaubt es Avenarius, Einzelaspekte der Geschichte des »Vaterländischen Krieges« au fallend re lektiert zu erörtern. Als Beispiel kann die folgende Erörterung des Brandes von Moskau dienen: Загорелось в разных концах еще с вечера. Полагают: поджоги. Кто говорит: от колодников, коих будто бы Ростопчин нарочито затем из острога выпустил. Кто говорит: от самих домохозяев, не себе, дескать, так и врагам бы не досталось. А кто, – что французские же солдаты, на радостях подгулявши, красного петуха подпускают. (66) Es hat noch am Abend an verschiedenen Enden begonnen zu brennen. Man vermutet Brandsti tungen. Die einen sagen, durch Gefangene, die angeblich Rostopčin speziell dafür aus dem Gefängnis entlassen hat. Die anderen sagen, durch die Hausbesitzer selbst – wenn mir nichts bleibt, dann sollen auch die

5 Der »Vaterländische Krieg« in literaturkritischen und literarischen Diskursen 1912

Feinde nichts kriegen. Und manche sagen, es sind die französischen Soldaten selbst, die sich aus Freude betrinken und einem den roten Hahn aufs Dach setzen. Trotz der volkssprachlichen Stilisierung werden mehrere Ursachen als gleichwertig nebeneinander aufgeführt. Der Protagonist avanciert somit zum Vermittler von objektiven Kenntnissen, die dem wissenscha tlichen Stand des Jubiläumsjahres 1912 durchaus entsprachen (vgl. Mel’gunov 1912b). An einer anderen Stelle gibt Avenarius einen Einblick in die Strategie des professionellen Partisanenkrieges (vgl. Knjaz’kov 1912:213, 224) und stützt sich dabei auf seine bereits erwähnte frühere Verarbeitung der Biographie Denis Davydovs (Avenarius 1905b): Задача Давыдова, как партизана, не в том, чтобы с неприятелем в открытый бой вступать, а в том, чтобы всячески тревожить его и днем, и ночью, да отбивать неприятельские транспорты. Посему он беспрерывно передвигается с места на место. (153) Die Aufgabe Davydovs als Partisan besteht nicht darin, in einen o fenen Kampf mit dem Gegner zu treten, sondern darin, ihn Tag und Nacht in Unruhe zu halten, sowie darin, die feindlichen Nachschubtransporte zu erobern. Deswegen bewegt er sich ständig von einem Ort zum anderen. Dem militärischen Partisanenkrieg stellt Avenarius den spontanen »Volkskrieg« gegenüber, den er allerdings eher kritisch und ähnlich wie I.A. Ljubič-Košurov (vgl. Kap. 5.4.) als moralische Deformation des Menschen in der extremen Situation des Krieges betrachtet: »Страшное дело – самосуд! В озлоблении своем люди звереют, всякие лютости чинят. И раньше или позже кара их постигает.« [»Eine schreckliche Sache ist die Selbstjustiz! In ihrer Verbitterung werden Menschen zu Tieren und begehen alle Arten von Grausamkeiten. Und früher oder später wird sie dafür Gottes Strafe ereilen.«] (97-98). Dasselbe betri t die Grausamkeit des Partisanen Figner, vgl. »Храбр-то он как черт, но и в лютости самому черту не уступит. […] Подлинно, что дьявол! Еще потешается над беззащитными, безоружными…« [»Tapfer wie der Teufel ist er zwar, aber auch in seiner Grausamkeit steht er dem Teufel in nichts nach. […] Der leibha tige Teufel! Und er macht sich noch über die Wehrlosen, Unbewa fneten lustig…«] (117). In diesem Punkt zeigt die Argumentation von Avenarius Ähnlichkeit mit der der Autoren des ORTZ, die in Geschichtslesebüchern (vgl. Kap. 3.2.3.) oder auch in wissenscha tlichen Artikeln (vgl. Alekseev 1912:232-235; Knjaz’kov 1912:215-217; Kap. 5.2.) den »Volkskrieg« als einen kollektiven A fektzustand beschreiben. Die im Tagebuch des Protagonisten rekonstruierte Chronik des »Vaterländischen Krieges« wird insbesondere durch die Umrahmung der Handlung mit Zitaten aus der russischen Lyrik des 18. und frühen 19. Jahrhunderts gestaltet. Diese

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Textfragmente dienen in vielen Kapiteln als Epigraphe oder werden vom Protagonisten und anderen Helden deklamiert. Die eschatologische Szene der Einnahme von Smolensk wird z.B. mit »prophetischen« Worten aus der Ode Michail Vasil’evič Lomonosovs (1711-1765) »Oda blažennyja pamjati gosudaryne imperatrice Anne Ioannovne na pobedu nad turkami i tatarami i na vzjatie Chotina 1739 goda« [»Ode des seligen Angedenkens an Ihre Majestät die Kaiserin Anna Ioannova auf den Sieg über die Türken und die Tataren und auf die Einnahme von Chotyn im Jahr 1739«] (1739) illustriert (vgl. 21). Die allgemeinmenschliche Tragik des Krieges wird in Rückgri f auf die Ode Gavriil Romanovič Deržavins (1743-1816) »Na smertʼ knjazja Meščerskogo« [»Auf den Tod des Fürsten Meščerskij«] (1779) ausgedrückt (vgl. 39). Derselbe archaische Kanon, z.B. die Oden Deržavins »Auf Bagration« [»Na Bagrationa«] (1805-1806) (56) und »Na parenie orla« [»Auf das Gleiten des Adlers«] (1812) (57) werden dazu genutzt, die russischen Feldherren zu preisen und die Idee der göttlichen Strafe für die Franzosen zu artikulieren, z.B. durch ein Zitat aus Lomonosovs Übersetzung des Psalms 34 [»Preloženie psalma 34«] (1751) (136). Die volkstümliche Tradition der russischen Lyrik wird z.B. durch das Soldatenlied »Chotʼ Moskva v rukach francuzov…« [»Zwar ist Moskau in den Händen der Franzosen…«] (1812) nach einem Gedicht von Ivan Afanas’evič Kovan’ko (1773/17741830) repräsentiert (vgl. Sidorov 1912c:166), das die Ho fnungen des russischen Volkes auf Kutuzov in heiterer Form zum Ausdruck bringt (vgl. 113). Schließlich wird das Pathos des Sieges über Napoleon in der Schlacht bei Krasnoe am 6. November 1812 durch die okkasionelle Umformung einer ino fiziellen nationalen russischen Hymne Deržavins »Grom pobedy, razdavajsja…« [»Ertöne, Donner des Sieges…«] ausgedrückt, die er 1791 anlässlich der Einnahme der osmanischen Festung Izmail durch den russischen Feldherrn Aleksandr Vasil’evič Suvorov (1730-1800) im Jahr 1790 verfasste (vgl. de Keghel 2008:59): »Гром победы, раздавайся!//Веселися, храбрый росс!//Звучной славой украшайся://Бонапарта [bei Deržavin ursprünglich: »Магомеда« [»Magomed«], K.R.] ты потрёс.« [»Ertöne, Donner des Sieges!//Juble, tapferer Russe!//Bedecke dich mit tönendem Ruhm://Du hast Bonaparte erschüttert.«] (163). Mithilfe der lyrischen Fragmente stellt Avenarius nicht nur eine Kontinuität zu den früheren militärischen Siegen Russlands her, sondern schreibt die Erinnerung an den »Vaterländischen Krieg« in das breitere Spektrum der russischen Literatur ein. Eine wichtige Rolle spielen dabei auch die zahlreichen Bezüge zu Tolstojs »Vojna i mir«. Diese zeigen sich zumeist indirekt in der Nachstellung einiger Szenen, was von einer weiteren Sedimentierung von Tolstojs Text in den populären Medien des Jubiläumsjahres 1912 zeugt. Die Ähnlichkeit besteht z.B. in der Szene der Ankun t von Aleksandr I. in Smolensk, der vom Protagonisten mit ähnlicher Begeisterung wie von Petja Rostov wahrgenommen wird (vgl. 14-15), oder in der Schilderung der Schlacht von Borodino, wobei der Protagonist von Avenarius ähnlich wie P’er Bezuchov als »не[]ратный человек« [»Nichtmilitär«], allerdings aus

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dem französischen Lager, das Geschehen beobachtet (vgl. 42). Von Tolstoj ist zweifelsohne auch die Szene der Flucht der russischen Adeligen aus Moskau inspiriert, in der die mit Gütern beladenen Wagen geräumt werden, um Verletzte transportieren zu können (vgl. 76). Ähnlichkeiten mit »Vojna i mir« zeigen sich ferner in der Gefangenscha t des Helden und seiner Begnadigung kurz vor der Hinrichtung (vgl. 126). Schließlich lässt Avenarius in seinem Text Volkstypen au treten (z.B. der Soldat Toporkov und der Kosake Sviridenko), die an die Figur Platon Karataevs erinnern und dem Protagonisten helfen, indem sie ihm ihre Kleidung schenken (vgl. 57, 112, 126). Man kann erkennen, dass die Funktion der fiktiven Tagebuchform vor allem in der Sättigung des historischen Narrativs besteht. Damit wird nicht nur die historische Kulisse konstruiert, sondern auch eine Basis für die didaktische Vermittlung des historischen Wissens gelegt. Die fingierte/fiktive Perspektive eines zeitgenössischen Beobachters und Tagebuchautors erlaubt es nämlich, die Darstellung historischer Ereignisse mit den neuesten wissenscha tlichen Erkenntnissen auf der synchronen Ebene zu einem Narrativ zusammenzuführen und dieses aus moralisch-didaktischer Sicht zu bewerten. Es zeigt sich, dass die Tagebuchform gerade bei der Erörterung komplexer und umstrittener Fragen einen Freiraum bot. Die zahlreichen literarischen Bezüge, die ebenfalls als zentrales Element der historischen Stilisierung fungieren, schreiben den »Vaterländischen Krieg« in die russische Kulturgeschichte ein und verleihen ihm eine historische Dimension. Sie erfüllen darüber hinaus eine wichtige allgemeinbildende Funktion, indem sie den kindlichen Leser mit den wichtigsten Autoren und Werken der russischen Literatur vertraut machen. Somit lässt sich Avenariusʼ Text auch als russische Literaturgeschichte lesen und trug zur Formung eines literarischen Kanons der Epoche von 1812 bei, indem er Texte aus verschiedenen Epochen bündelte und aktualisierte.

5.3.3.3

Das Tagebuch als sujetbildendes Motiv

Das Tagebuch spielt eine zentrale Rolle nicht nur als Gattungsform, sondern es ist auch auf der inhaltlichen Ebene als Leitmotiv verankert und führt seinerseits weitere Motive ein, z.B. das der sozialen Hierarchie und der Bildung, die im Folgenden näher untersucht werden sollen. In Einklang mit der Metapher des Tagebuchs als Spiegelbild des Lebens des Autors setzt die Handlung mit dem Beginn des Tagebuchs ein. Dabei fungiert das Tagebuch bereits als Marker für die soziale Stellung des Helden und seinen Bildungsstand. Als »Sohn eines Diakons« (8) gehört der Protagonist der heterogenen Gruppe der raznočincy an, die in der sozialen Hierarchie dem russischen Adel untergeordnet war. Die soziale Klu t wird durch die mangelnde Bildung des Helden betont. Zu Beginn der Geschichte nennt er sich selbst den »шалоброд« [»Taugenichts«] (11), ihn plagen Kummer und Langeweile, nachdem er wegen seiner »Faulheit« und

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»aufgrund mangelnden Erfolgs« aus einer Geistlichenschule [russ. ›bursa‹] entlassen wurde (vgl. 8). Das hier angedeutete Motiv des pikaresken Helden kreuzt sich im Charakter des Protagonisten mit dem sentimentalistischen Motiv der ›armen Leute‹ [›bednye ljudi‹], wobei der Held – ähnlich wie der Protagonist im Roman D.S. Dmitrievs (vgl. Kap. 4.2.) – die soziale Ungleichheit leidvoll empfindet. Dies zeigt sich in einer Szene zu Beginn der Handlung, als er sich mit Leutnant Šmelev, dem Verlobten der Tochter des Gutsherrn, Varvara Aristarchovna Tolbuchina, vergleicht, für die er o fenbar eine heimliche Liebe empfindet: »А я что? Недоучка, балбес, мизинца его не стою.« [»Und was bin ich? Ein Halbgebildeter, ein Tölpel, ich bin nicht einmal seinen kleinen Finger wert.«] (19). An dieser Stelle wird auch deutlich, dass der Held seine mangelnde Bildung auf seine niedrige soziale Stellung zurückführt. Der Text hält genau fest, warum der Held sein Tagebuch zu führen beginnt. Zum einen wird er dazu vom französischen Hauslehrer der Gutsherrn, Ms. Muline,17 angeregt, der ihm empfiehlt, ein Tagebuch zu führen, um sich zu disziplinieren und von Langeweile und Kummer zu befreien: »[…] [У] меня есть для вас верное средство: пишите дневник. Как выльется на бумагу, что на душе накипело, – сразу полегчает. […] [Э]такий дневник – что горчичник: всякую боль оттянет.« [»[…] [I]ch habe ein bewährtes Mittel für Sie: Führen Sie ein Tagebuch. Sobald all das, was sich in Ihrer Seele aufgestaut hat, auf dem Papier seinen Ausdruck findet, wird es Ihnen gleich besser gehen. […] [S]o ein Tagebuch ist wie ein Senfp laster: Es wird allen Schmerz herausziehen.«] (8). Somit fungiert das Tagebuch hier in der traditionellen Rolle als Instrument der Selbstdisziplinierung und Bezwingung von A fekten. Zugleich wird aber damit auch ein Weg zur Selbstbildung angedeutet. Diese Idee wird der Tochter des Gutsherrn, Varvara Aristarchovna, in den Mund gelegt, die den Helden dazu animiert, sich weiterzubilden, und ihm vor ihrer Abreise aus Smolensk das Versprechen abnimmt, ein Tagebuch über alles, was ihm widerfährt, zu führen: »Так все, смотри, описывай, что бы ни было; дашь потом прочитать.« [»Dann schau mal zu, dass du alles beschreibst, was auch immer passiert; später gibst du es mir zum Lesen.«] (20). Daraus ergibt sich auch der außerordentliche Wert des Tagebuches, der im Laufe der Handlung an mehreren Stellen hervorgehoben wird (vgl. 82-83, 87, 108 u.a.; vgl. auch eine kritische Anmerkung dazu in Novosti detskoj literatury 1912a). Der erste Fluchtversuch des Helden scheitert, weil er sein Tagebuch bei den Franzosen vergisst und ohne es nicht liehen kann (vgl. 82-83). Beim zweiten Versuch wird er von den Moskauer Obdachlosen [»полуночник[и]-бродяг[и]«] (88) ausgeraubt, die ihm seine Sachen, seine Kleidung und sein Tagebuch wegnehmen. Diese Episode erweist sich 17

Frz. wahrscheinlich Mouliné, ›gezwirntes Garn/Handstickgarn‹. Der sprechende Name steht o fenbar für Arbeitsamkeit und deutet das ›Weben‹ des eigenen Lebens im Sinne der Persönlichkeitsentfaltung an.

5 Der »Vaterländische Krieg« in literaturkritischen und literarischen Diskursen 1912

als hilfreich, um den immateriellen Wert des Wissens im Gegensatz zum materiellen Besitz zu betonen. Bezeichnenderweise werden die negativen Figuren durch ihr Desinteresse am Tagebuch als dem einzig wertvollen geistigen Gut des Protagonisten charakterisiert. Die Obdachlosen geben dem Helden das Tagebuch zurück, weil sie es für wertlosen »Kram« halten: – Дневник-то хоть, – говорю, – назад отдайте. – Какой дневник? – А вон тетрадь. – Изволь. Куда нам такую дрянь! Картуз – иное дело. (87) »Gebt mir doch wenigstens das Tagebuch zurück«, sage ich. »Was für ein Tagebuch?« »Das He t da.« »Aber bitte schön. Wozu brauchen wir so einen Kram? Die Schirmmütze ist eine andere Sache.« Somit avanciert das Tagebuch nicht nur zu einer genauen Chronik des Lebens des Protagonisten als Augenzeuge des Krieges von 1812, sondern auch zum Zeugnis seines Bildungsweges und des von ihm angeeigneten Wissens.

5.3.3.4

Das Motiv der sozialen Hierarchie

Wie bereits angedeutet, führt das Motiv des Tagebuchs die Vorstellung von der sozialen Hierarchie ein, in der der Protagonist als unzureichend gebildeter Jugendlicher, raznočinec und nevoennyj/neratnyj čelovek [Nichtmilitär] den erwachsenen adeligen ›Herren‹ und Militärangehörigen gegenübergestellt wird. Das sujetbildende Potenzial dieses Motivs ergibt sich daraus, dass soziale Hierarchien als Elemente einer gegebenen Weltordnung in der extremen Situation des Krieges aufgehoben, wiederhergestellt und zugleich modifiziert werden können. So stellen die Verhältnisse unterschiedlicher sozialer Stände gerade in der Prosa über den Krieg von 1812 einen wichtigen Topos dar (vgl. Kap. 4.2., 4.4., 4.5., 5.3., 5.4.). Durch das Motiv der sozialen Hierarchie lässt sich sowohl die traditionelle Idee der Einheit aller Schichten vor dem Hintergrund der gemeinsamen Gefahr transportieren als auch eine Identifikations- und Konsolidierungsgrundlage für den einfachen bzw. kindlichen Leser scha fen. Die Überschreitung von Hierarchien und Grenzen durch den Protagonisten ist bereits durch seine Rolle als Dolmetscher »unter den Feinden« angelegt. Dabei kommt es zu einem bemerkenswerten Oszillieren des Helden zwischen ›Herren‹ und ›Dienern‹, was sich mit der folgenden Episode veranschaulichen lässt. In Moskau angekommen, besetzen die Franzosen ein verlassenes Herrenhaus, das den Eltern des Verlobten von Varvara Aristarchovna Tolbuchina, Leutnant Šmelev, gehört und von ihren Dienern Terentij und Akulina bewacht wird. Die Betrachtung

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des prächtigen Herrenhauses lässt den Protagonisten die Perspektive eines sozial niedriger Gestellten einnehmen, der das Haus mit Neid und einer gewissen Herablassung beschreibt (vgl. 69). Gleichzeitig übernimmt er als gebildeter bursak und Dolmetscher gewissermaßen die Position der französischen Besatzer – der neuen ›Herren‹ –, was sich in seiner mitunter herablassenden Haltung gegenüber den alten Dienern der Šmelevs zeigt: »Тут, хошь не хошь, выползли из своей конуры старик-дворник с своей старухой.« [»Da krochen, ob du willst oder nicht, aus ihrem Loch der alte Hauswart und seine Alte hervor.«] (68). Die Distanz zu den Dienern wird hier insbesondere durch die grobe umgangssprachliche Lexik markiert (»хошь не хошь« als Fragment der erlebten Rede und als Calque von lat. »nolens volens«; »конура«; »выползли«). Der Protagonist bittet den Diener Terentij, die Franzosen im Haus der Šmelevs unterzubringen, wobei er die Erwartungshaltung weckt, dass sie keine Plünderung zulassen würden: »Господ твоих ведь нет в Москве. Дом свободен; так вот прими-ка на постой господ офицеров. Французы – народ не лихой, даром никого не обидят.« [»Deine Herren sind doch nicht in Moskau. Das Haus steht leer; also quartiere doch einfach die Herren O fiziere ein. Die Franzosen sind kein draufgängerisches Volk, sie werden niemandem umsonst ein Leid antun.«] (68). Die Distanz zu den Dienern wird hier durch die o fensichtliche Ironie über das Stereotyp der ›gutmütigen französischen O fiziere‹, aber auch durch die Bildung des Helden unterstrichen. Vergeblich versucht er an einer weiteren Stelle, Terentij und Akulina über den Kometen aufzuklären, der bekanntlich von 1811 bis Anfang 1812 in Moskau zu sehen war und als eschatologisches Zeichen und Gottes Strafe gedeutet wurde: Стал я было объяснять старикам, что таковые кометы не в одной Москве видимы, а по всей России, да и по всему земному шару; что, стало быть, ей, комете, до грехов московских бар никакого касательства нет. Не дослушали, оба на меня как напустятся: – Да ты – еретик, что ли? А еще попович! (75) Ich versuchte, den Alten zu erklären, dass solche Kometen nicht nur in Moskau, sondern in ganz Russland und überall auf dem Erdball zu sehen sind und dass ihm, dem Kometen, die Sünden der Moskauer Herren vollkommen gleichgültig sind. Sie hörten mich nicht bis zu Ende an und fielen beide über mich her: »Bist du ein Ketzer, oder was? Und noch dazu der Sohn eines Priesters!« Die in Moskau zurückgebliebenen Bediensteten sind bereit, das Gut ihrer Herren mit allen Mitteln zu verteidigen oder es auch zu zerstören, damit es nicht in die Hände des Feindes fällt, ohne dabei den eigentlichen Wert der Sachen zu begreifen. So bezeichnet Terentij die französischen Originalgemälde, die Šmelev besitzt, als »bloße Laune der Herren« [»одна блажь господская«] (69). Au fallenderweise

5 Der »Vaterländische Krieg« in literaturkritischen und literarischen Diskursen 1912

zeigt der Protagonist die Züge eines pikaresken Helden, wenn er mit einer gewissen Genugtuung über das von Terentij und seiner Frau Akulina im Garten vergeblich vergrabene Gut der Herren Šmelev spricht, das von den Franzosen trotzdem gefunden wird: »А Терентий с Акулиной только охают, глаза утирают: втуне были все их старания укрыть господское добро от злодеев!« [»Und Terentij und Akulina ächzen nur und wischen sich die Augen: vergeblich waren all ihre Mühen, das Gut der Herren vor den Übeltätern zu verstecken!«] (78). Mit dieser Episode illustriert Avenarius einen der zentralen Topoi des »napoleonischen Narrativs«: die Einheit von Herren und Dienern angesichts des Krieges. Gleichzeitig nutzt er sie, um das Verhalten der ungebildeten Bediensteten als ›naiven‹ Patriotismus zu entlarven und diesem den aufgeklärten Patriotismus jener russischen Adeligen gegenüberzustellen, die den Verlust ihres Eigentums und die Aufgabe Moskaus als ein selbstverständliches Opfer für das Wohl von ganz Russland begreifen. Dieser traditionelle Topos, der auch bei G.P. Danilevskij in »Sožžennaja Moskva« eine wichtige Rolle spielt (vgl. Kap. 4.4.), wird von Avenarius durch eine Reminiszenz an Tolstojs »Vojna i mir« betont, als Leutnant Šmelev bei der Flucht seiner Eltern aus Moskau die mit Gütern beladenen Wagen für Verletzte räumen lässt (vgl. 76-78). Diese Beispiele machen deutlich, dass die extreme Situation des Krieges einen Wechsel der sozialen Rollen erlaubt, sodass die Umkehrung von Hierarchien zum organisierenden Moment der Darstellung avanciert. Mit der Herablassung des jungen Helden gegenüber den alten Dienern wird zum einen seine Verfangenheit in einer Standeshierarchie kritisch angedeutet, die den Helden zwischen ›Herren‹ und ›Dienern‹ oszillieren lässt (vgl. dazu eine ähnliche Konstellation im Roman D.S. Dmitrievs »Dva imperatora«, Kap. 4.2.). Seine pikaresken Züge sind aber auch durch Avenariusʼ pädagogische Intention und sein au klärerisches Pathos des Aufräumens mit Vorurteilen der alten Diener zu erklären. An dieser Stelle wird deutlich, dass Avenarius entsprechend seiner bildungsdidaktischen Intention die traditionelle standesbezogene Hierarchie durch eine standesübergreifende Bildungshierarchie zu ersetzen versucht. Die Polarisierung der sozialen Stände erreicht ihren Höhepunkt gegen Ende der Erzählung, als der Protagonist im Gefangenenzug auf dem Rückzug aus Moskau den jungen »adeligen Landwehrmann« [»барчук-ополченец«] (135) Sergej Aleksandrovič kennen lernt, der sich von den anderen Gefangenen fernhält und vom Helden zunächst als einer »nicht von unserer Sorte« [»не нашего поля ягода«] (138) wahrgenommen wird. Im Laufe der Handlung freunden sich die beiden jedoch an. Der Protagonist hil t dem verletzten Sergej, aus dem Gefangenenzug zu liehen (vgl. 144-145), und tritt dabei symbolisch an die Stelle jener Vertreter des ›einfachen Volks‹, die z.B. in den Werken L.N. Tolstojs und G.P. Danilevskijs den Adligen helfen und von diesen als wahre Helden gepriesen werden (vgl. Kap. 4.3., 4.4.). Somit grei t Avenarius einen zentralen Topos des »napoleonischen Narrativs«

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auf, der die Umkehrung von Hierarchien par excellence verkörpert. Unmittelbar vor der Flucht ernennt der barčuk den Protagonisten zu seinem Seelenverwandten: – А вы мне теперь все равно что брат родной! […] – Но я, – говорю, – не из благородных… – Вы лучше многих так называемых »благородных«: вы благородны душой. […] (144, Hervorhebung K.R.) »Und Sie sind für mich nun wie ein leiblicher Bruder! […]« »Aber ich bin«, sage ich, »kein Adliger/Hochwohlgeborener…« »Sie sind besser als viele sogenannte Adelige/Hochwohlgeborene: Sie sind adlig in der Seele […].« Die soziale Klu t zwischen dem raznočinec und dem barčuk wird also in der existenziellen Situation der Gefangenscha t aufgehoben, indem das Adligsein explizit auf die standesübergreifenden, geistig-moralischen Eigenscha ten des Protagonisten, auf das »Adlige seiner Seele«, bezogen wird. Die allgemeinmenschliche Herzensgüte stellt neben dem bereits erwähnten Ideal der Bildung eine weitere standesübergreifende Eigenscha t dar, die eine Konsolidierung aller Schichten im Kampf gegen Napoleon ermöglicht. Die geistig-moralische Probe, die der junge Protagonist in Avenariusʼ Text »unter den Feinden« und später als Mitglied der Truppe Denis Davydovs besteht, bedingt seinen sozialen Aufstieg. Somit wird eine dritte, z.B. auch im Roman D.S. Dmitrievs (vgl. Kap. 4.2.) verarbeitete Strategie der Überwindung sozialer Hierarchien angedeutet, nämlich die Teilnahme an militärischen Handlungen. Nach seiner Befreiung aus der französischen Gefangenscha t wechselt der Protagonist seinen Status als neratnyj čelovek [Nichtmilitär] zum nestroevoj [nicht an der Front Dienender] und kämp t unter dem Kommando von Denis Davydov. Vor seiner Verwundung in der Schlacht an der Berezina tri t er auf den Verlobten von Varvara Aristarchovna, Leutnant Šmelev, der dem Helden seine Patronage zusichert und den Posten eines Kontoristen auf dem Landgut der Herren Tolbuchin anbietet. Zusammenfassend lässt sich anmerken, dass Avenarius mit dem Motiv des Tagebuchs die Bildung und den sozialen Stand des Helden nicht nur miteinander korreliert, sondern diesen Zusammenhang anhand der sozialen Hierarche zwischen ›Herren‹ und ›Dienern‹ auch problematisiert. Dabei formuliert er die wichtige pädagogische Idee vom immateriellen und standesübergreifenden Wert der Bildung, die auf der fiktionalen Ebene mit dem sozialen Aufstieg des Tagebuchautors verdeutlicht wird. Neben der Bildung sind es aber auch der »edle Geist« und die Bereitscha t, dem Vaterland zu dienen, die den Protagonisten dazu befähigen, soziale Hierarchien zu überschreiten.

5 Der »Vaterländische Krieg« in literaturkritischen und literarischen Diskursen 1912

5.3.3.5

Kulturelle Hierarchie und Darstellung des Gegners

Als integraler Teil des Diskurses um Bildung lässt sich eine weitere, für die Darstellung des »Vaterländischen Krieges« grundsätzliche kulturelle Opposition von Russland und Frankreich betrachten. Die Darstellung der Franzosen in »Sredi vragov« basiert auf der Umkehrung der traditionellen Vorstellung von Frankreich als ›aufgeklärter Nation‹. Diese wird entsprechend der Logik des »napoleonischen Narrativs« konsequent demontiert, wohingegen die Russen zu einem gebildeten und geistig überlegenen Volk stilisiert werden. Die Perspektive eines ›unter die Feinde‹ geratenen Beobachters dient dabei nicht nur dazu, die historische Kulisse authentisch zu rekonstruieren, sondern auch dazu, den Leser in einer für Kinder zugänglichen Form auf den Widerspruch zwischen den Handlungen der Franzosen und den von ihnen propagierten Idealen aufmerksam zu machen. Zu den wichtigsten Charakterzügen der Franzosen gehören deren Treue gegenüber ihrem Imperator und die strenge Befolgung der Befehle. Dies zeigt bereits zu Beginn der Erzählung die Sujetlinie des französischen Hauslehrers der Tolbuchins, Ms. Muline, dessen eigenes Wohl und eigene Sympathien nach dem Einmarsch Napoleons in Russland mit seiner bürgerlichen P licht als Franzose in Widerspruch treten. Muline läu t nach dem Einmarsch der französischen Truppen in Russland auf den Ruf seines Imperators auf die französische Seite über, wird jedoch dann verletzt und lässt sich zurück ins Haus seiner liebgewonnenen Herren bringen, um dort »wie im heimatlichen Haus« zu sterben (vgl. 13, 34). Mit den gleichen Eigenscha ten wird auch das anfänglich positive Bild der französischen Armee aufgebaut. Der symbolische Wert dieser Ideale wird auch durch das bereits angesprochene Motiv der sozialen Hierarchie betont. Bezeichnenderweise wechselt der Protagonist seinen sozialen Stand, wenn er vom Gegner gegen seinen Willen mitgenommen wird: Die Franzosen nennen ihn aus Scherz »p’tit bourgeois«. Als sich der Held weigert, bei einem Umtrunk im französischen Lager Napoleon die Treue zu schwören, wird er von Sergeant Mušeron in Schutz genommen, der seine Staatsangehörigkeit respektiert: »У него, братцы, пока что, еще свой император; неволить не годится.« [»Brüder, er hat noch seinen eigenen Imperator. Es ist nicht recht, ihn dazu zu zwingen.«] (29). Eine wichtige Rolle spielt, wie bereits bei G.P. Danilevskij (vgl. Kap. 4.4.), auch der Diskurs um eine legitime Kriegsführung, in dem die Russen aus französischer Sicht als »Barbaren« wahrgenommen werden. Diese Stereotype werden z.B. von den französischen Soldaten beim Einzug in Smolensk artikuliert: »Да, уж эти русские – подлинные варвары […] [И] дома-то свои жгут, и запасы. Ни фуража, ни продовольствия.« [»Na ja, diese Russen sind wahrha tige Barbaren […] sie verbrennen sowohl ihre Häuser als auch ihre Vorräte. [Es gibt hier] weder Fourage noch Proviant.«] (29-30; vgl. 105). Das Bild der Franzosen als aufgeklärte Nation wird jedoch im Laufe der Handlung durch den Rekurs auf traditionelle Topoi wie

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die Plünderung der Zivilbevölkerung in Moskau oder die Schändung der Kirchen (vgl. 82) sukzessive demontiert. Als die Franzosen die Originalgemälde aus dem Haus von Šmelev mitnehmen wollen, berufen sie sich auf die Regeln der Kriegsführung: – Простите, господа, – говорю я тут. – Но вы берете себе чужие вещи, не спросясь хозяев… Рассмеялся мне в лицо капитан, потрепал меня по плечу. – Военная добыча, мой друг. На войне как на войне! А ля герр ком а ля герр! […]. (70) »Verzeihen Sie, meine Herren«, sage ich da. »Sie nehmen sich gerade fremde Sachen, ohne die Besitzer zu fragen…« Der Kapitän lachte mir ins Gesicht und klop te mir sacht auf die Schulter. »Das ist Kriegsbeute, mein Freund. Krieg ist Krieg. À la guerre comme à la guerre. […].« Wenn die Franzosen vom Protagonisten mit Meuterei in den eigenen Reihen konfrontiert werden, halten sie jedoch an der Autorität ihres Imperators fest: – Ну, идем, Андрé, – говорит Пипó [денщик французского капитана, K.R.]: стыдно, знать, за своих земляков стало. – Хорош, – говорю, – и Наполеон ваш, нечего сказать: особым еще приказом грабить разрешает! Как окрысится тут на меня мой французик: – Одно слово еще против нашего императора – донесу по начальству, и нет тебе пардону! – Ну, ну, ладно, – говорю, – не буду. Человек я не военный, порядков ваших не знаю. (73-74) »Also gehen wir, André«, sagt Pipó [der Bursche eines französischen Kapitäns, K.R.]: Das heißt, er schämt sich für seine Landsleute. »Euer Napoleon«, sage ich, »ist auch gut: Er erlaubt euch noch, durch einen Sonderbefehl zu rauben!« Wie böse wurde da mein junger Franzose auf mich: »Noch ein Wort gegen unseren Imperator, und ich werde es den Vorgesetzten zutragen, dann wird es kein Pardon für dich geben! »Ist ja gut, ist ja gut«, sage ich, »ich bin kein Militärangehöriger und kenne eure Regeln nicht.« Die angeführten Beispiele zeigen einen ähnlichen Au bau und machen deutlich, dass die im »napoleonischen Narrativ« angelegte Umkehrung der Verhältnisse bei Avenarius im Wesentlichen durch das Motiv der sozialen Hierarchie inszeniert

5 Der »Vaterländische Krieg« in literaturkritischen und literarischen Diskursen 1912

wird. Der Protagonist agiert im französischen Lager stets aus einer niederen sozialen und militärischen Position heraus, doch gerade diese Position erlaubt es ihm, als Jugendlicher (»p’tit bourgeois«), unzureichend Gebildeter (»À la guerre comme à la guerre«) oder »Nichtmilitär« [»человек […] не военный«] (74) seine Meinung zu artikulieren und sich in den Augen des Lesers gegenüber den Franzosen als Überlegener zu behaupten. Die Demontage des positiven Bildes der französischen Armee gipfelt konsequent in der Entlarvung Napoleons als französischer Imperator, dem ein Verrat an den Idealen der Au klärung und der Menschlichkeit und die moralische Schuld am Krieg zugeschrieben werden.18 Avenarius bedient sich dabei der tragischen Linie des »napoleonischen Mythos« (vgl. Kap. 1.2.) und grei t die Motive des den Helden verlassenden Glücks und der Hybris auf (vgl. 65, 67, 93). In Einklang mit den traditionellen eschatologischen Vorstellungen wird Napoleon zur Verkörperung des absoluten Bösen erklärt, seine Darstellung oszilliert charakteristischerweise zwischen Heroisierung und Dämonisierung. Diese Ambivalenz zeigt sich in einer Eingangsszene, als Napoleon zusammen mit seiner Garde in Smolensk einzieht. Diese Schilderung stützt sich auf die bekannten Details seines Äußeren (Dreispitz, grauer Reiserock), setzt aber auch die von Tolstoj in »Vojna i mir« geprägte Tradition der Betonung seiner physiognomischen Mängel fort (Fettleibigkeit und Bauch, vgl. 27, 61-62). Trotz seiner negativen Haltung gegenüber dem französischen Imperator kann sich der Protagonist der Bewunderung nicht entziehen: За кирасирами – гренадеры-великаны, молодец к молодцу, в мохнатых медвежьих шапках, а за ними на белоснежном коне сам Наполеон Бонапарт с генералитетом. Генералы в блестящих мундирах и шляпах, а он в простой лишь треуголке, в сером сюртуке дорожном; ростом не вышел, но с брюшком. Зато собой красавец писаный, взор грозный, язвительный, осанка величавая, поистине цесарская. »Не поклонюсь тебе, – думаю, – не жди!« (27) Nach den Kürassieren – Riesen-Grenadiere, ein wackerer Kerl wie der andere, in Bärenfellmützen, und nach ihnen – Napoleon Bonaparte selbst auf einem schneeweißen Pferd mit seiner Generalität. Die Generäle in glänzenden Uniformen und Hüten, aber er trägt nur einen einfachen Dreispitz und einen grauen Reiserock; er ist nicht groß von Wuchs, aber mit einem Bäuchlein. Doch ein bildschöner Mann, ein strenger, gi tiger Blick, eine majestätische Haltung – wahrha tig die eines Kaisers. »Ich werde mich nicht vor dir verbeugen«, denke ich, »warte bloß nicht darauf!«

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Diese Strategie wird z.B. in Lesebüchern des ORTZ (vgl. Kap. 3.2.) oder auch im Film Aleksandr Chanžonkovs »1812 god« [»Das Jahr 1812«] (1912) genutzt (vgl. Kap. 6.3.).

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Ambivalent erscheint auch die au fallende anaphorische Apostrophierung Napoleons mit dem Determinativpronomen »sam« [selbst], das im Text durch Sperrung gekennzeichnet ist (vgl. 48, 156). Diese Ansprache ist in der Tradition des Ikonoklasmus zu sehen (die göttliche/teu lische Natur darf nicht direkt benannt oder abgebildet werden) und betont seine Sakralisierung. Daraus kann man schließen, dass der junge Protagonist trotz seiner Abneigung gegen Napoleon ihn als Herrscher respektiert. Ähnlich wie bereits in den Texten G.P. Danilevskijs (vgl. Kap. 4.4.) und D.S. Dmitrievs (vgl. Kap. 4.2.) fungieren die sakrale Macht eines Monarchen oder die patriarchalische Ordnung der Familie trotz der vorübergehenden Au hebung bzw. Neuordnung von Hierarchien in der Situation des Krieges als feste Ideale der gesellscha tlichen Ordnung und werden als solche nicht in Frage gestellt. Insofern dient das Feindbild Frankreich auch bei Avenarius unter anderem dazu, die übernationalen Ideale der monarchistischen Staatsform oder der Loyalität gegenüber dem Monarchen zu festigen. Die Darstellung des historischen Gegners Frankreich, die der Logik des »napoleonischen Narrativs« folgt, steht in »Sredi vragov« in einem bemerkenswerten Widerspruch zu Frankreichs ungebrochener Rolle als kulturelles Vorbild, die für Avenarius als Pädagogen von zentraler Bedeutung ist und die er in einer Reihe von Episoden historisch korrekt schildert. In der bereits erwähnten Szene im Herrenhaus der Eltern von Leutnant Šmelev wird die Perspektive des sozial niedrig gestellten jungen Protagonisten dazu funktionalisiert, nicht nur die soziale Klu t zwischen ›Herren‹ und ›Dienern‹ zu zeigen, sondern auch die vorrangige Stellung der französischen Kultur und des Style Empire zu Beginn des 19. Jahrhunderts in der russischen Adelskultur zu illustrieren: Обошли мы весь дом: раздолье, поистине барское жилье. Пол – паркет, обои – с пукетами, потолки – лепные с амурами, мебель – где шелковая, где разная дубовая, – роскошь, да и только! (69) Wir sind durch das ganze Haus gegangen: so viel Raum, wahrha tig ein Herrenhaus. Auf dem Boden – Parkett, Tapeten – mit Blumen, Stuckdecken mit Amorfiguren, Möbel mal aus Samt, mal aus Eiche geschnitzt – einfach nur Luxus! Auch die Franzosen müssen die Pracht des Hauses anerkennen, als sie dort französische Originalgemälde »wie im Louvre« finden (vgl. 69-70). Somit wird eine weitere Strategie der Auseinandersetzung mit dem Feindbild Frankreich deutlich: Der russische Adel wird als eine europäisch gebildete Schicht aufgewertet. An einer weiteren Stelle wird sogar die Perspektive des Gegners dazu genutzt, auch das »einfache russische Volk« – die angeblichen Brandsti ter von Moskau, die von den Franzosen zu Tode verurteilt wurden –, in die antik-römische heroische Tradition einzuschreiben:

5 Der »Vaterländische Krieg« in literaturkritischen und literarischen Diskursen 1912

– Изумительно! […] Точно спартанцы или римляне… – Да, г-н майор, – говорю я ему. – И простой русский народ, как видите, умеет умирать за свою веру и родину. Не понравилось, прикрикнул: – Тебя кто спрашивает? Пошел в свою берлогу! (98) »Erstaunlich! […] Genau wie die Spartaner oder Römer… »Ja, Herr Major«, sage ich ihm. »Auch das einfache russische Volk kann, wie Sie sehen, für seinen Glauben und sein Vaterland sterben.« Das gefiel ihm nicht, und er schrie mich an: »Wer hat dich denn gefragt? Verzieh dich in dein Loch!« Die (unwillkürliche) Begeisterung des Protagonisten für das französische Kulturgut kommt auch in der Szene zum Ausdruck, als er dazu aufgefordert wird, in der umfangreichen Bibliothek des besetzten Hauses französische Romane für seine Vorgesetzten auszusuchen. Dabei werden die aus didaktischer Sicht wichtigen Motive des spielerischen Lernens und der Leidenscha t zum Lesen aktiviert: »Перелистываешь: роман аль нет, да и зачитаешься: плоды фантазии, но фантазии французской, – куда уж занятно пишут эти господа французы!« [»Du blätterst das Buch durch – ist das ein Roman? – und vertiefst dich unwillkürlich ins Lesen: Das sind Früchte der Phantasie, aber der französischen Phantasie, wie unterhaltsam schreiben doch diese Herren Franzosen!«] (86). Auch hier wird die Vorstellung von der Dominanz bzw. dem Vorbildcharakter des französischen Kulturguts trotz des Krieges vermittelt, wenngleich das Moment der »Unterhaltung« eine vorsichtige Haltung zu »belletristischen« Werken vermittelt. Dass die bildungsdidaktische Intention von Avenarius seine Darstellung des »Vaterländischen Krieges« wesentlich prägt, zeigt sich insbesondere darin, dass er in »Sredi vragov« eine Bildungselite konstruiert, die zum Träger der allgemeinmenschlichen wissenscha tlichen Erkenntnisse und der christlichen Werte avanciert und über dem Krieg steht. Bezeichnenderweise sind es die französischen Ärzte Dominique-Jean Larrey (1766-1842)19 und Dominique Pierre de la Flise (17871861) (vgl. La-Fliz 1912), die an der Spitze seiner Bildungshierarchie stehen. Mit der Figur Larreys wird der zivilisatorische Diskurs aufgegri fen und eine universelle naturwissenscha tliche Ebene der Tätigkeit der Franzosen und Napoleons angesprochen, die in Russland traditionell zu wenig beachtet wird. Larrey repräsentiert in idealtypischer Weise den materiell-technischen (medizinischen) Fortschritt des Westens und die Idee der Au klärung, die die Franzosen für sich behaupten und angeblich in das »barbarische« Russland tragen:

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Zur Verarbeitung von Larreys Notizen in den Ausgaben der Historischen Kommission des ORTZ vgl. Vasjutinskij/Dživelegov/Mel’gunov 1912; Kap. 3.2.3.

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Но император Наполеон – военный гений: воюет он не ради одной только своей военной славы, но и ради блага человечества, – для насаждения в чужих странах истинного просвещения, а Россия ваша – страна варварская… (132) Doch der Imperator Napoleon ist ein Kriegsgenie: Er führt Kriege nicht allein wegen seines militärischen Ruhmes, sondern auch zum Wohl der Menschheit, um die wahre Au klärung in fremden Ländern zu verbreiten; und euer Russland ist ein barbarisches Land… Zugleich avanciert gerade Larrey zum Anreger von Kritik an Napoleon. Als Arzt kritisiert er Napoleons eigenwillige Eroberungspläne ohne Rücksicht auf Menschenleben (vgl. 37), insbesondere als dieser beim Abzug aus Moskau die Verletzten dort zurücklässt (vgl. 129). Der französische Arzt formuliert die Idee des christlichen Mitleids, die er zu einer gemeinsamen Basis der aufgeklärten Völker erhebt und die er auch in seinem Beruf verwirklicht: Всякий пациент, – француз он или русский, – для меня не друг и не враг, а мой ближний, нуждающийся в моей врачебной помощи. (129) Jeder Patient – ob Franzose oder Russe – ist für mich nicht Freund und nicht Feind, sondern mein Nächster, der meine ärztliche Hilfe benötigt. Die Vorstellung von der nationsübergreifenden Bildungselite wird von Avenarius allmählich auch durch russische Persönlichkeiten ergänzt. Neben die Galerie der französischen Vorbildfiguren treten militärische Helden wie Denis Davydov, wodurch die Identität der europäischen und der russischen christlich-moralischen und au klärerischen Ideale postuliert wird. Davydov wird als europäisch gebildeter Mensch eingeführt, der Mitleid mit dem besiegten Gegner zeigt (vgl. 154-155) und die Zugehörigkeit der Russen zu Europa betont, vgl. »Храбрость и несчастье уважаются у нас, русских, не менее, чем в других странах.« [»Tapferkeit und Leid werden bei uns Russen nicht weniger respektiert als in anderen Ländern.«] (155); »Не изверги мы, а православные христиане. Лежачего не бьют.« [»Wir sind keine Unmenschen, sondern orthodoxe Christen. Auf dem Bogen Liegende tritt man nicht.«] (157). Es zeigt sich, dass Avenarius durch seine bildungsdidaktische Intention die traditionelle negative Darstellung von Frankreich relativiert und somit zu einem di ferenzierteren Bild vom Gegner beiträgt. Eine weitere Strategie der Aufwertung des russischen Volkes gegenüber den Franzosen speist sich aus dem traditionellen russischen messianischen Diskurs, in dem nicht die Einheit, sondern die Di ferenz der russischen Werte gegenüber den europäischen betont und aus der geistigen Überlegenheit Russlands heraus ein Gegenpol zu Europa konstruiert wird. Dies wird mithilfe der Figur des Kosaken Sviridenko veranschaulicht, der im besetzten Moskau zusammen mit dem

5 Der »Vaterländische Krieg« in literaturkritischen und literarischen Diskursen 1912

Protagonisten in französische Gefangenscha t gerät. Die Handlung erreicht ihren vorläufigen Höhepunkt, als der Protagonist zusammen mit Sviridenko und anderen Gefangenen hingerichtet werden soll. Vor der Exekution bittet der Kosak den Protagonisten, eine Nachricht an Denis Davydov zu übermitteln, schenkt ihm seine Kleidung und hält eine Ansprache an die Franzosen, in der er den idealen Lebensweg eines Kosaken skizziert. Seine Rede, die in Form des skaz gestaltet wird und sich somit auch gattungsmäßig von den oben erwähnten »unterhaltsamen« französischen Romanen absetzt, lässt die Verbindung der »Mutter-Erde«, des orthodoxen Glaubens und der Idee des Dienstes am Zaren und am Vaterland erkennen, die exemplarisch am Beispiel des Kosakentums demonstriert wird: Вы за что деретесь? За злато-серебро, за звездочку да за своего Бову Королевича20 . Мы, казаки, за дом свой, за жену да детей деремся, за царя и веру православную. Гляньте-ка, как живут казаки на святом Дону: подымется парень на ноги – уж сидит он на коне борзом, скачет по полю, забавляется, копьем острым потешается, силы-крепости набирается, чтобы с неприятелем поразведаться, умереть за землю русскую. Придет время добру-молодцу, по приказу царя белого, собираться в путь на нехристей, – наш казак того только и ждал. Молода жена коня его ведет, дети саблю и копье несут, а старик-то со старухою – избави Боже, чтоб заплакали. Заведут сына во зеленый сад, перекрестят до Троицы и дадут ему Ангела-Хранителя. »Ты служи, сын, верой-правдою; добывай себе славы-почести, нас утешь-ли, стариков седых« – У старухи все уж уготовано: сшита сумочка из бархата, из того, что сорвал муж с плеч паши турецкого, а повешена та сумочка на шелковом, тонком поясе красной девушки-черкешенки. Как берет старик тут горсть сырой земли, кладет в сумочку ту бархатную: »Вот тебе, сын, благословение, вот земля тебе от Дона тихого: с ней живи весь век свой и умри на ней«… (124-125) Wofür kämp t ihr denn? Für Gold und Silber, für einen Orden und euren Bova Korolevič. Wir, Kosaken, [kämpfen] für unser Haus, unsere Frau und unsere Kinder, für den Zaren und den orthodoxen Glauben. Schaut mal, wie die Kosaken am heiligen Don leben. Kaum steht ein Junge auf den Beinen, sitzt er schon auf einem linken Pferd und reitet übers Feld, vergnügt sich und amüsiert sich mit einem scharfen Speer, kommt zu Kra t und Stärke, um mit einem Gegner fertig zu werden, um für die russische Erde zu sterben. Wird es Zeit für den tapferen Haudegen, sich auf Befehl des weißen Zaren auf den Weg in den Kampf gegen die Nichtchristen zu machen –, darauf hat unser Kosak nur gewartet. Die junge Frau führt sein Pferd, die Kinder tragen seinen Säbel und seinen Speer, 20

Beuves de Haumtone, hier allegorisch für einen abenteuerlichen und falschen Herrscher, K.R.

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Napoleon und der »Vaterländische Krieg« in Russland

und der Alte mit seiner Alten – Gott behüte, dass sie zu weinen beginnen. Sie führen ihren Sohn in einen grünen Garten, bekreuzigen ihn dreifach und geben ihm einen Schutzengel. »Diene du, Sohn, voller Ergebenheit und erwerbe dir Ruhm und Ehre, tröste uns grauhaarige Greise.« – Die Alte hat schon alles vorbereitet: eine Tasche aus Samt genäht, den ihr Ehemann von den Schultern eines türkischen Pascha abgerissen hat, und diese Tasche hängt an dem dünnen seidenen Gürtel einer schönen jungen tscherkessischen Frau. Der Alte nimmt nun eine Handvoll feuchter Erde und legt sie in jene Samttasche: »Hier ist mein Segen, Sohn, hier ist die Erde vom stillen Don: lebe mit ihr dein Leben lang und sterbe auf ihr«… Bezeichnenderweise weist dieser ideale Lebensweg im Dienst des Zaren Ähnlichkeiten mit Napoleons »alter Garde« [»старая гвардия«] auf, die aufgrund ihrer bedingungslosen Loyalität gegenüber dem Imperator ähnlich wie die französischen Ärzte zu einem positiven Vorbild avanciert. Die »alte Garde« wird aus der Perspektive Denis Davydovs mit Metaphern charakterisiert, die in der russischen heroischen Tradition auch für die russische Armee stehen und durch die Lyrik M.Ju. Lermontovs, V.A. Žukovskijs und F.I. Tjutčevs vorgeprägt wurden, vgl. z.B. »каменная стена« [»steinerne Mauer«] (116); »неколебимый утес« [»unerschütterlicher Fels«] (162). Somit wird das Bild des Gegners auch hier dazu funktionalisiert, durch das Motiv der Treue gegenüber dem Herrscher die Notwendigkeit einer festen, unhintergehbaren Hierarchie zu begründen und den Leser im monarchistischen Sinne zu erziehen. Die Wiederherstellung von Hierarchien gegen Ende der Erzählung wird wiederum mithilfe von Motiven der Bildung und des Lesens inszeniert. Bei der Flucht aus Moskau lassen die Franzosen ihre Trophäen, darunter auch Bücher, im Schnee liegen: Кругом же, под снежной пеленой, всевозможное награбленное в Москве добро: люстры, масляные картины, книги в богатых переплетах. Развернул я одну с золотым обрезом: не романчик ли? Ан нет, философское сочинение некоего Вольтера, – не про нас писано! (158) [Und] ringsumher [liegt] unter dem Schleier des Schnees allerlei in Moskau erbeutetes Raubgut: Lüster, Ölgemälde, Bücher mit teuren Einbänden. Ich schlug eines mit Goldschnitt auf: Ist das etwa ein Romänchen? Aber nein, ein philosophisches Werk eines gewissen Voltaire –, nicht für uns/über uns verfasst! Der im Schnee zurückgelassene Voltaire-Band lässt sich einerseits als endgültiger Verrat der Franzosen an ihren eigenen Idealen der Au klärung interpretieren. Andererseits verschiebt sich der Akzent auf die Wiederherstellung der durch den Krieg aufgehobenen Ordnungen. Die Relevanz von Voltaires Ideen wird nicht nur in Bezug auf die soziale Schicht, zu der der Protagonist gehört (etwa ›nicht für uns

5 Der »Vaterländische Krieg« in literaturkritischen und literarischen Diskursen 1912

Ungebildete/raznočincy‹), sondern auch in Bezug auf ganz Russland (im Sinne von ›nicht über uns/über Russland geschrieben‹) bestritten. Am Ende der Geschichte wird nochmals der französische Beschützer des Helden, Sergeant Mušeron, erwähnt, der bei der Überquerung der Berezina verwundet und vom Protagonisten gerettet wird. Als Mušeron erfährt, dass Napoleon die Armee verlassen hat, sagt er sich von ihm los (vgl. 170) und erhält die Stelle des Hauslehrers bei den Tolbuchins, die zuvor Ms. Muline innehatte (vgl. 173). Diese Episode lässt sich ganz im Sinne des »napoleonischen Narrativs« als glückliche ›Rettung‹ des westlichen Gegners interpretieren, der die russischen Werte – hier auf der elementaren Ebene der allgemeinmenschlichen Sympathie und Freundscha t – annimmt und dabei seinen Status vom ›Herrn‹ (Eroberer) zum ›Diener‹ wechselt. Ähnlichen künstlerischen Prinzipien folgt auch der zweite Teil von Avenariusʼ Dilogie unter dem Titel »…Na Pariž!« (Avenarius 1914a), der chronologisch nahtlos an »Sredi vragov« anschließt und die russische Kampagne 1813 bis zur Einnahme von Paris im Juni 1814 verfolgt. Der zweite Teil der Dilogie stellt einen originellen Versuch der eigenständigen Fortschreibung des »napoleonischen Narrativs« durch Avenarius dar, die für das Jubiläumsjahr nicht typisch war und vor allem im Kontext der bildungsdidaktischen Intention des Autors zu sehen ist, was von den zeitgenössischen Rezensenten auch positiv bewertet wurde (z.B. D.M. 1914; Istoričeskaja letopisʼ 1914). Die weiteren Erfolge der russischen Armee korrespondieren dabei auf der Sujetebene mit dem weiteren sozialen und militärischen Aufstieg des Helden und werden auf der individuellen Ebene des Protagonisten auch als großes Abenteuer eines glücklichen Lebens codiert.

5.3.4

Resümee zu Kapitel 5.3.

Die Werke von V.P. Avenarius lassen sich als Beispiel der pädagogischen Funktionalisierung der Prosa über die Epoche von 1812 betrachten. Der Anspruch auf eine authentische, korrekte Darstellung historischer Ereignisse korreliert dabei mit den didaktischen Prinzipien unterhaltsamer Geschichtsdarstellung und sittlich-moralischer Erziehung des kindlichen Lesers. Bei der Verarbeitung der Geschichte des »Vaterländischen Krieges« stützte sich der Autor auf seine frühere historische und Kinderprosa sowie insbesondere auf seine belletrisierten Biographien herausragender Persönlichkeiten, anhand derer der junge Leser erzogen werden sollte. Die von Avenarius für seine Dilogie über das Jahr 1812 gewählte Tagebuchform lässt sich als eine Weiterentwicklung seiner didaktischen Prosa betrachten. An Stelle einer historischen Figur tritt ein fiktiver adoleszenter Held, dessen Perspektive vom Autor aus historischen Dokumenten und literarischen Quellen sorgfältig rekonstruiert wird. Somit bezieht der fingierte Augenzeugenbericht seine Authentizität nicht nur aus der Anlehnung an die Tradition der Kriegsmemoiren, sondern

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Napoleon und der »Vaterländische Krieg« in Russland

auch an die Gattung des Tagebuchs, das in Russland als Zeugnis der unmittelbaren Autokommunikation des Autors traditionell als hochauthentisch galt und bis heute gilt (vgl. Egorov 2003; Nikolaičeva 2014). Trotz kritischer Stimmen sahen die meisten zeitgenössischen Kritiker es durch die bildungsdidaktische Intention des Autors gerechtfertigt, dass die Perspektive eines jugendlichen Helden durch eine wahrheitsgetreu konstruierte, aber fiktive »erschöpfende Chronik der denkwürdigen Epoche« [»всеисчерпывающая хроника памятной эпохи«] (Istoričeskaja letopisʼ 1914:239) künstlerisch imitiert wird. Es zeigt sich, dass der literarischen Fiktion eine Schlüsselrolle bei der Herstellung einer Authentizitätsfiktion zukommt. Ähnlich wie das Narrativ der Lesebücher des ORTZ (vgl. Kap. 3.2.) verfügt auch die literarische Darstellung der Epoche von 1812 bei Avenarius über ein großes Integrationspotenzial. Durch die aufwändige Montage verschiedenartiger historischer Quellen wurden die Topoi des traditionellen »napoleonischen Narrativs« in »Sredi vragov« in geradezu idealtypischer Weise aktualisiert und durch die fingierte Tagebuchperspektive authentisiert. Durch intensive Verarbeitung literarischer Quellen und zahlreiche Rekurse auf die russische Dichtung des 18. Jahrhunderts wird die Epoche von 1812 in einen breiteren Kontext der russischen Militär- und Kulturgeschichte eingeschrieben. Somit bildet Avenariusʼ Text nicht nur einen literarischen Kanon des »Vaterländischen Krieges« ab, der sich im Laufe des 19. und 20. Jahrhunderts herausbildet, sondern verleiht dem Patriotismus und den positiven nationalen Eigenscha ten der Russen – ähnlich wie M.N. Zagoskin (vgl. Kap. 4.1.) – auch eine umfassendere historische Dimension. Anhand von »Sredi vragov« lässt sich zeigen, dass die Darstellung der Epoche von 1812 im pädagogischen Diskurs einen gewissen Freiraum dafür bot, die Einzelaspekte des »Vaterländischen Krieges«, z.B. den Brand von Moskau oder die Technik des Partisanenkrieges, wissenscha tlich korrekt und objektiv zu beleuchten. Es ist anzunehmen, dass durch die Aktualisierung dieses exakten historiographischen Wissens die Texte von Avenarius der allgemeinen Mythisierung der Geschichte entgegenwirkten. Auch wenn der Autor in »Sredi vragov« den zentralen Topoi des »napoleonischen Narrativs« folgt, führt seine bildungsdidaktische Intention zu einer bemerkenswerten Modifikation der traditionellen Kriegsdarstellung. Avenarius formuliert die Idee vom immateriellen und standesübergreifenden Wert der Bildung, die auf der fiktionalen Ebene durch den sozialen und militärischen Aufstieg des Helden verdeutlicht wird. Das Motiv der Bildung prägt auch die Darstellung des Gegners. Zwar werden die Franzosen ähnlich wie bei G.P. Danilevskij (vgl. Kap. 4.4.) über den Rekurs auf die traditionellen Topoi der Plünderung der russischen Zivilbevölkerung und der Schändung der Kirchen als nur vermeintlich aufgeklärte, in Wahrheit aber »barbarische« Nation entlarvt. Doch zugleich konstruiert Avenarius die Vorstellung einer Bildungselite, zu der die französischen Ärzte Larrey und de la Flise als Träger der Ideen der Au klärung und der humani-

5 Der »Vaterländische Krieg« in literaturkritischen und literarischen Diskursen 1912

tären christlichen Werte gehören. Auch Napoleons »alte Garde« wird dazu funktionalisiert, die hohe moralische Gesinnung, die Treue gegenüber dem Herrscher und den Dienst am Vaterland als übernationale standesübergreifende Ideale zu stilisieren. Somit wird deutlich, dass Frankreich an sich für Avenarius als Pädagogen und Kinderschri tsteller ein durch den Krieg unberührtes kulturelles Vorbild darstellte. Daraus lässt sich schließen, dass Avenariusʼ didaktisierte Darstellung des »Vaterländischen Krieges« das traditionelle »napoleonische Narrativ« zwar bedient, aber auch den Weg zur Relativierung des historischen Feindbildes und somit zu einem di ferenzierteren Blick auf die Epoche von 1812 erö fnet.

5.4 5.4.1

Zwischen Abenteuer und psychischer Deformation: Der »Vaterländische Krieg« in der Prosa von I.A. Ljubič-Košurov Biographie, Werk und Grundzüge der Poetik

Der Publizist und Schri tsteller Ioasaf Arianovič Ljubič-Košurov (1872-1937) gehört zu den schillernden und bisher noch kaum erforschten Figuren der russischen Literaturszene an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert.21 1872 in eine arme jüdische Familie in Fatež (Gouvernement Kursk) geboren, begann Košurov seine literarische Lau bahn als Satiriker und Feuilletonist in den Zeitschri ten »Razvlečenie« [»Unterhaltung«] und »Budil’nik« [»Der Wecker«]. In den 90er Jahren schrieb er Kunstmärchen und zahlreiche Erzählungen für Kinder sowie publizistische Skizzen, in denen er unter anderem auf die soziale Ungerechtigkeit gegenüber den ›armen Leuten‹ [›bednye ljudi‹] aufmerksam machte, z.B. in dem Sammelband »Kartinki sovremennoj žizni« [»Bilder aus dem zeitgenössischen Leben«] (1902). 1904-1905 verö fentlichte Košurov eine Reihe von Erzählungen über den russisch-japanischen Krieg, in denen er die Tragödie des Einzelnen im Krieg und die Psychologie des Menschen in einer lebensbedrohlichen Situation schilderte (vgl. Nikitina 1994). Die Erzählungen erhielten eine positive Kritik (vgl. Russkaja myslʼ 1906). Skandale und Mystifikationen gehörten zu Košurovs Lebensstil. Er wurde von der Polizei verfolgt und führte in den Moskauer Vorstädten, wo er sich o t von der Jagd ernährte, ein Bettler- und Bohemedasein (vgl. Nikitina 1994:437). Seine Selbstinszenierung drückte sich in seinem extravaganten Aussehen und seinem exotisch anmutenden Namen aus, der o fenbar in verschiedenen Varianten tradiert wurde

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Eine wissenscha tliche Biographie des Schri tstellers steht noch aus. Den bisher umfassendsten Überblick über Werk und Rezeption bietet der kurze Beitrag in der Enzyklopädie »Russkie pisateli. 1800-1917« [»Russische Schri tsteller. 1800-1917«] (Nikitina 1994). Einen Einblick in Košurovs Alltag bieten z.B. die folgenden Egodokumente: Belousov 1926:124-126, nachgedruckt in Belousov 2002:209-211; Pil’skij 1926:56-57; Brjusov 2002:97, 101, 124.

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Napoleon und der »Vaterländische Krieg« in Russland

(vgl. die Variante »Ioasaf Arismovič« bei Pil’skij 1926:56). Dass Košurov sein Verhalten auch an literarischen Mustern ausrichtete, lässt sich z.B. aus der folgenden überlieferten Episode ablesen: Zusammen mit seiner Lebensgefährtin, der ungebildeten Blumenhändlerin Faina, schoss Košurov mit einem alten Gewehr Krähen, um eine Suppe daraus zu kochen (vgl. Pil’skij 1926:56-57). Diese Episode erinnert an Ivan Andreevič Krylovs (1769-1844) Fabel »Vorona i Kurica« [»Die Krähe und das Huhn«] (1812), in der die schwere Hungersnot der französischen Armee im verlassenen Moskau satirisch zum ema gemacht wird. Trotz seiner Position als Außenseiter war Košurov gut in den Literaturbetrieb integriert. Darauf deutet nicht nur das breite Spektrum seiner Publikationen hin, das publizistische Skizzen, Erzählungen über und für Kinder, Kunstmärchen, Unterrichtshilfen für Schüler, Jubiläumsalben, biographische Skizzen und historische Prosa umfasste,22 sondern auch die Tatsache, dass er unter zahlreichen Pseudonymen schrieb (vgl. Masanov 1960:291). Aus den Erinnerungen der Zeitgenossen geht hervor, dass Košurov als talentierter Schri tsteller galt (vgl. Pil’skij 1926:56, Belousov 1926:126) und z.B. vom symbolistischen Dichter Valerij Jakovlevič Brjusov (18731924) geschätzt wurde (vgl. Lavrov/Morderer/Parnis 1991:481). Die meisten seiner Bücher wurden aufwändig gestaltet und von verschiedenen Künstlern illustriert. Sie wurden auch von den Bibliotheken in der Provinz angescha t (vgl. Stepanov 2006:18), waren allerdings für Volksbibliotheken mitunter zu teuer (vgl. Russkaja myslʼ 1906). Nach 1917 publizierte Košurov noch kaum; außerdem war er in einen Plagiatsskandal verwickelt (vgl. Nikitina 1994; Brjusov 2002:124). Einige seiner historischen Werke wurden in den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts nachgedruckt (Ljubič-Košurov 1996). Ähnlich wie für V.P. Avenarius (vgl. Kap. 5.3.) spielt auch für Košurov die Idee der Bildung des kindlichen Lesers eine wichtige Rolle. Die meisten seiner Erzählungen zeichnen sich durch Elemente spielerischen Lernens aus, die den Kindern z.B. elementare Kenntnisse über die Evolutionstheorie vermitteln23 oder ihre Fähigkeiten durch Spiele und Zaubertricks entwickeln.24 Das didaktische Moment zeigt sich außerdem in der ausführlichen Erklärung von physikalischen Phänomenen, in der genauen Beschreibung von Geräten, Vorrichtungen und Werkstät-

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Einen Zugang zu Košurovs Texten bieten die jüngsten Digitalisierungsprojekte der russischen Bibliotheken. Im Katalog der Russischen Staatsbibliothek () sind Košurovs Werke aktuell in 95 digitalisierten, frei zugänglichen Ausgaben vertreten. »Načalo žizni na zemle. Bio-zoologičeskie očerki« [»Der Anfang des Lebens auf der Erde. Biologisch-zoologische Skizzen«] (1913); »Vek drakonov. Moe znakomstvo s dopotopnymi životnymi« [Das Zeitalter der Drachen. Meine Bekanntscha t mit urweltlichen Tieren«] (1914). »Dva volšebnika. Fokusy dlja detej mladšego i srednego vozrasta« [»Zwei Zauberer. Zaubertricks für Kinder jüngeren und mittleren Alters«] (1913).

5 Der »Vaterländische Krieg« in literaturkritischen und literarischen Diskursen 1912

ten. Viele Skizzen und Kindererzählungen25 Košurovs thematisieren die Tragödie der sozialen Ungleichheit, der eine Antithese zweier Welten zugrunde liegt ([arme] Kinder vs. [wohlhabende] Erwachsene; Junge vs. Alte; Dorf vs. Stadt). Die Vorstellung von sozialen Rollen und Hierarchien wird bereits für den jüngeren Leser in Märchenform26 mithilfe der Tier- und Insektenmetaphorik veranschaulicht.27 Im Mittelpunkt der Erzählungen stehen Vertreter der niederen sozialen Schichten, ältere Menschen und insbesondere Kinder, die sich ihrer elenden Lage bewusst sind und die soziale Ungleichheit sehr emotional erleben. Die Gefühllosigkeit der Mitmenschen ru t bei den Helden A fekte hervor; sie empfinden für ihr Leben Scham (»Duši živye«), aber auch Zorn und Hass (»Brat čelovečestva«). Diese A fekte werden jedoch durch eine innere Entwicklung der Helden zugunsten der Ideale der Güte und des Mitleids überwunden (»Brat čelovečestva«). Die Fabel basiert o t auf einer didaktisierten sentimentalen Geschichte, der die »Idee der allgemeinmenschlichen Brüderlichkeit und tätigen Liebe zum Nächsten« [»идея всеобщего братства и действ[енной] любви к ближнему«] (Nikitina 1994:438) zugrunde liegt. Die Welten der Armen und Reichen prallen aufeinander, die Wohlhabenden sehen die Ungerechtigkeit ein und helfen den Armen.28 Charakteristisch ist der Ausgang mit einem Wunder und einem Happy End (»Kanarejka«). Košurovs Erzählungen über den russisch-japanischen Krieg29 beleuchten vor allem die tragische Dimension des Krieges. Der Krieg wird meist aus der individuell-psychologischen Perspektive eines einfachen Soldaten als irrationales und 25

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»Duši živye. Očerki i rasskazy« [»Lebendige Seelen. Skizzen und Erzählungen«] (1901, 2 1911); »Kartinki sovremennoj žizni« [»Bilder aus dem zeitgenössischen Leben«] (1902); »Očerki Bronnoj« [»Skizzen aus der Bronnaja-Straße«] (1902); »Bez pristanišča« [»Ohne Obdach/Zulucht/Asyl«] (1914); »Brat čelovečestva. Rasskazy« [»Bruder der Menschheit. Erzählungen«] (1902); »Rasskazy« [»Erzählungen«] 1910; »Pobiruška« [»Der Bettler«] (1914) u.a. »V podpol’e. Skazka dlja detej« [»Im Untergrund. Ein Märchen für Kinder«] (1904, 2 1913); »Zolotaja pogremuška. Skazka« [»Der goldene Klapper. Ein Märchen«] (1912). »Drakon. Iz žizni životnych. Zapisano so slov odnoj jaščericy« [»Ein Drache. Aus dem Leben der Tiere. Notiert nach den Worten einer Eidechse«] (1903); »Priključenija strekozy« [»Abenteuer einer Libelle«] (1903); »Nesčast’ja Ivana Ivanoviča. (Rasskaz iz žizni barsukov)« [»Missgeschicke des Ivan Ivanovič. (Eine Erzählung aus dem Leben der Dachse)«] (1903). Vgl. die Erzählung aus dem Zyklus »Duši živye« »V svjatoj večer« [»Am Heiligen Abend«] (1901), die Erzählungen »Kanarejka. Rasskaz dlja detej« [»Der Kanarienvogel. Eine Erzählung für Kinder«] (1901, 2 1905, 3 1916), »Pobiruška« u.a. Siehe z.B. »Georgievskij krest« [»Georgskreuz«] (1904); »Za čužuju žizn’« [»Für das fremde Leben«] (1904); »V boevom ogne« [»Im Feuer des Kampfes«] (1904); »Ranenyj« [»Der Verwundete«] (1904); »Boevaja žiznʼ. Pjatʼ rasskazov iz russko-japonskoj vojny« [»Kriegsleben. Fünf Erzählungen aus dem russisch-japanischen Krieg«] (1904); »Špion« [»Der Spion«] (1904); »V blindaže. Rasskaz iz boevoj žizni« [»Im Unterstand. Eine Erzählung aus dem Kriegsleben«] (1905); »V Port-Arture. 9 rasskazov iz boevoj žizni« [»In Port Arthur. 9 Erzählungen aus dem Kriegsleben«] (1905); »Seryj geroj (Rjadovoj Rjabov). Ėpizod iz Russko-japonskoj vojny« [»Ein grauer Held (Der Soldat Rjabov). Eine Episode aus dem russisch-japanischen Krieg«] (1905).

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sinnloses Töten und Sterben dargestellt, dem beide Gegner gleichermaßen ausgeliefert sind (»V boevom ogne«). Košurov zeigt, wie die Soldaten unter psychischen Traumata leiden und ihrer menschlichen Züge beraubt werden. Dies führt dazu, dass sie ihre eigenen Kameraden töten (»V blindaže«) oder von Wahnvorstellungen verfolgt werden (»Špion«). Bezeichnenderweise geht die Entheroisierung des Krieges mit der Aufwertung des Typus des ›russischen Menschen‹ einher (vgl. Nikitina 1994:438). Das Heldenha te bei Košurov besteht darin, dass einfache Soldaten in der extremen Kriegssituation ihre Menschlichkeit bewahren und trotz Rangunterschieden einander helfen. Darin lässt sich eine Parallele zur sozialen ematik erkennen: Die Protagonisten fügen sich ihrem ›Missgeschick‹ [russ. ›neudača‹], d.h. ihrem Schicksal, in die Armee einberufen zu werden, und sterben ›für Russland‹, um die ›Sünde‹ des Krieges zu sühnen (»Seryj geroj«, »V boevom ogne«). Durch eine solche Darstellung werden insbesondere die Rhetorik der o fiziellen Kriegspropaganda und das darin konstruierte Feindbild Japan kritisch hinterfragt (»Seryj geroj«). Da Košurov die existenzielle Situation des Krieges vor allem auf der individuell-psychologischen Ebene verarbeitet, werden die Fragen nach den Gründen bzw. äußeren Umständen des Krieges, insbesondere nach der Verantwortung des Staates, als irrelevant ausgeklammert. Die intensive Verarbeitung der Kriegsthematik in Košurovs Prosa lässt eine werkübergreifende Poetik des Krieges erkennen. Kriege werden bei Košurov grundsätzlich mit humanitärem Pathos als allgemeinmenschliche Katastrophen geschildert. Die Darstellung der Helden lässt sich dabei im Spannungsfeld zwischen der a fektiven und der versuchten rationalen Wahrnehmung des Krieges verorten. Einerseits handelt es sich um einen zutiefst a fektiven Zustand, in dem der Protagonist von starken Emotionen beherrscht wird (z.B. Hass, Angst). Dies wird meistens mit dem Leitmotiv des Feuers verdeutlicht. Charakteristisch ist auch das Unvermögen des Einzelnen, das Kriegsgeschehen als Ganzes rational zeitgleich zu erfassen sowie auch später zu rekonstruieren. Andererseits zeigt Košurov aktiv handelnde Menschen, die in der Situation der existenziellen Gefahr einen ›Plan‹ haben. Das Handeln der Helden wird dabei in einem kognitiven Horizont zwischen ›Vermuten‹, ›Erraten‹ und ›Planen‹ angesiedelt. Sie reagieren nicht nur auf äußere Umstände, sondern handeln auch auf der Basis der eigenen Überlegungen und artikulieren ihre Gedanken verbal (vgl. die Soldaten im Zyklus über den russisch-japanischen Krieg). Der innere Zustand des Helden wird dabei o t redundant durch eine genaue Schilderung des Gedankenganges und der daraus resultierenden Handlung dargestellt. Košurovs Hinwendung zur Geschichte des »Vaterländischen Krieges« ist im Kontext seiner historischen Prosa zu sehen. In verschiedenen Jahren verfasste er

5 Der »Vaterländische Krieg« in literaturkritischen und literarischen Diskursen 1912

Erzählungen, in denen er Sujets aus der europäischen,30 ukrainischen31 und russischen32 Geschichte, insbesondere über die russischen Bauern und die Leibeigenscha t,33 verarbeitete. Auch schrieb er zu aktuellen Anlässen, wie z.B. zu Jubiläen.34 Im Gegensatz zum russisch-japanischen Krieg wird bei der Darstellung früherer historischer Epochen o t die Konzentration auf das Abenteuerliche erkennbar. Außerdem zeichnet sich Košurovs historische Prosa durch seine individuelle, von der traditionellen Auslegung o t abweichende Interpretation der historischen Figuren und Ereignisse aus (z.B. der Figur Mazepas, vgl. Rudenko 2009:60-61. Vgl. Nikitina 1994:438). Im Folgenden wird Košurovs Verarbeitung der Epoche von 1812 anhand der Erzählung »Partizany 1812 goda« [»Die Partisanen des Jahres 1812«] (1911) und des Romans »Požar Moskvy v 1812 godu« [»Der Brand von Moskau im Jahr 1812«] (1912) näher untersucht.

5.4.2

»Partizany 1812 goda« (1911)

In der Erzählung »Partizany 1812 goda« (Ljubič-Košurov 191135 ) wird eine tragische Linie der Erinnerung an den Krieg von 1812 aufgegri fen, in der das Trauma des Krieges und der Kampf des ›einfachen Volkes‹ gegen Napoleon thematisiert werden. Die Leitidee der Erzählung – die Einheit von Volk und Armee im Krieg und die wesentliche Rolle des Partisanenkrieges beim Sieg über Napoleon – wird bereits in der Vignette des Titelbildes durch die Verschränkung zweier Symbole (Schwert und Sichel) betont (Ill. 4).

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»Rycari zemli. Povestʼ iz ėpochi krest’janskich vojn v Germanii« [»Ritter der Erde. Eine Erzählung aus der Epoche der Bauernkriege in Deutschland«] (1906); »Rycarʼ bol’šogo meča. Legenda i byl’« [»Ritter des großen Schwertes. Legende und wahre Geschichte«] (1903, 2 1913). »Za getmana! Istoričeskaja povestʼ vremen Mazepy« [»Für den Hetman! Eine historische Erzählung aus der Zeit Mazepas«] (1909). »Tušinskie volki. Istoričeskij roman« [»Die Wölfe von Tušino. Ein historischer Roman«] (1913); »Černoknižnik Molčanov v Moskve v 1613 godu. Istoričeskaja povestʼ dlja detej« [»Der Schwarzkünstler Molčanov in Moskau im Jahr 1613. Eine historische Erzählung für Kinder«] (1913); »Minin i Požarskij. Istoričeskaja povest’« [»Minin und Požarskij. Eine historische Erzählung«] (1915). »Vol’nyj čelovek i cholop. Povestʼ iz istorii krepostnogo prava v Rossii XVI veka« [»Ein freier Mensch und ein Knecht. Eine Erzählung aus der Geschichte der Leibeigenscha t im Russland des 16. Jahrhunderts«] (1906); »Kabala. Rasskaz iz istorii krepostnogo prava v Rossii XV veka« [»Das Joch. Eine Erzählung aus der Geschichte der Leibeigenscha t im Russland des 15. Jahrhunderts«] (1906). »300 let Doma Romanovych (Smutnoe vremja na Rusi, izbranie na carstvo Michaila Fedoroviča Romanova)« [»300 Jahre des Hauses Romanov (Zeit der Wirren in der Rusʼ, die Inthronisierung Michail Fedorovič Romanovs)«] (1911); »V zastenke. Patriarch Germogen. Isoričeskaja povest’« [»In der Folterkammer. Patriarch Germogen. Eine historische Erzählung«] (1913). Im Weiteren beziehen sich die Seitenangaben in Klammern auf diese Ausgabe, K.R.

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Napoleon und der »Vaterländische Krieg« in Russland

Illustration 4: Titelbild von »Partizany 1812 goda« (Ljubič-Košurov 1911).

Die Handlung ist linear aufgebaut und zeigt Episoden aus dem Alltag der vom Krieg bedrohten Bauern parallel zu den Aktionen der russischen Armee vom Verlassen von Vjaz’ma im August bis zur Flucht der napoleonischen Armee aus Moskau im Oktober 1812. Im Mittelpunkt der Erzählung stehen der Jäger Akim Bubnov, der Schmied Semёn Soloma und Semens junger Gehilfe Miška (Ill. 5). Als sie von der anrückenden französischen Armee überrascht werden und Semen sein Hab und Gut infolge eines Zusammenstoßes im Brand verliert, schließen sie sich unter Anleitung von Kosaken den Bauern aus dem Nachbardorf an und bilden eine

5 Der »Vaterländische Krieg« in literaturkritischen und literarischen Diskursen 1912

Partisanentruppe. Als die Bauern unter Anführung von Semen und Akim nach einem weiteren Zusammenstoß mit den Franzosen in den Besitz von Militärpapieren gelangen, wird Miška damit zum Hauptquartier geschickt. Auf dem Weg dorthin lernt er einen weiteren Kämpfer aus dem Volk, Fedor Natruskin, und den Oberstleutnant Denis Davydov kennen, in dessen Truppe er dann aufgenommen wird.

Illustration 5: Akim Bubnov, Semen Soloma und Semens Gehilfe Miška (Ljubič-Košurov 1911 : 7).

5.4.2.1

Grundzüge der Poetik und zeitgenössische Rezeption

Der Au bau der Handlung lässt erkennen, dass Košurov in »Partizany…« eine wahrheitsgetreue Schilderung des Krieges von 1812 beansprucht. Die Authentizitätsfiktion basiert vor allem auf der Konstruktion personaler Perspektiven der am Krieg unmittelbar beteiligten Volks- und Partisanenkämpfer, sodass die Erzählung stellenweise zu einem Augenzeugenbericht stilisiert wird. Der fiktional-literarische Rahmen erlaubt es, viele historische Details aus dem Alltag der Bauern zu integrieren, die zugleich als Elemente des spielerischen Lernens fungieren. Eine wichtige Rolle bei der historischen Stilisierung spielt auch die volkssprachliche Färbung der Figurenrede. Die Typisierung der Helden lässt sich an deren sprechenden Namen erkennen (Soloma = ›Stroh‹, fig. für ›ungekünstelt‹, ›schwer von Begri f‹; Bubnov < ›bubny‹, Allusion an die Farbe Karo im Glücksspiel – symbolisch für den Eifer des »Volkskrieges«, aber auch ›Schellentrommel‹ [russ. ›buben‹] für die Expressivität des Charakters). Der adoleszente Held Miška, der zwischen zwei statischen Erwachsenentypen – dem übermäßig gründlichen, aber etwas begri fsstutzigen Semen (vgl. 11, 62) und dem feurigen, impulsiven und erfinderischen Bubnov platziert wird –, vereinigt deren beste Eigenscha ten und avanciert zur zentralen Beobach-

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tungsinstanz im Text. Gerade seine Perspektive ermöglicht es, die Psychologie des Einzelnen im Krieg zu zeigen. Wie Košurovs Anspruch auf eine authentische Geschichtsdarstellung und seine didaktische Intention ineinandergreifen und einander bedienen, lässt sich anhand der indirekten Vermittlung des historischen Kontextes in den Dialogen der Protagonisten zeigen. Besonders zu Beginn der Erzählung bedient sich der Text einer Reihe von Aposiopesen und elliptischen Satzkonstruktionen, die gerade für die Umgangs- bzw. Volkssprache typisch sind. So werden z.B. die Vorwürfe gegenüber Barclay de Tolly wegen des andauernden Rückzugs der russischen Armee von einem Soldaten indirekt und äußerst lapidar artikuliert: »[…] [M]ы не виноваты, у нас главный начальник немец… А мы бы со всей охотой.« [»[…] [E]s ist nicht unsere Schuld, unser Oberbefehlshaber ist ein Ausländer/Deutscher36 … Wir selbst würden ja gern.«] (12). Eine solche Vermittlung der Realien des »Vaterländischen Krieges« setzt einerseits einen gewissen Kenntnisstand beim Leser voraus und regt diesen andererseits zu einer gründlicheren Auseinandersetzung mit den historischen Realien an. Wie realistisch die von Košurov literarisch rekonstruierte Geschichtsdarstellung auf den zeitgenössischen Leser wirkte, lässt sich aus einer Rezension in der Zeitschri t »Istoričeskij vestnik« [»Historischer Bote«] schließen, auch wenn der Kritiker Košurovs Darstellung als Täuschung negativ bewertet: Вымышленные факты и фигуры перемешиваются с действительными, и для читателя не ясно, где кончается правда и где начинается вымысел. […] [Ч]итая »Партизанов« г. Любича-Кошурова, получаешь впечатление, что это пишет современник, который сам видел и слышал описываемое им. (Kf. 1911: 773-774, Hervorhebung K.R.) Erfundene Fakten und Figuren werden mit den wirklichen vermischt, und dem Leser ist nicht klar, wo die Wahrheit endet und die Erfindung beginnt. […] [B]eim Lesen der »Partisanen« von Herrn Ljubič-Košurov erhält man den Eindruck, dass es ein Zeitgenosse schreibt, der selbst gehört und gesehen hat, was er beschreibt. Indem der Rezensent auf den fehlenden Bezug zu historisch belegten Tatsachen hinweist, macht er auf ein Spezifikum der literarischen Rezeption des »Vaterländischen Krieges« aufmerksam. Aus seiner Bewertung geht nämlich hervor, dass 36

Zu Beginn des 19. Jahrhunderts hatte das Lexem ›nemec‹ zwei Bedeutungen: 1.) ›Ausländer‹, d.h. buchstäblich ›der Stumme‹, jemand, der die Landessprache nicht beherrscht, und 2.) ›Deutscher‹ (vgl. Petrova 2004:219, 225; Vinogradov 2000:845-846; Dalʼ 1905:1459). Da der russische Feldherr Michail Bogdanovič Barclay de Tolly [Barklaj-de-Tolli] (1761-1818) schottisch-deutscher Herkun t war und von den Zeitgenossen unter anderem auch zu den »Deutschen« gezählt wurde (vgl. Tartakovskij 1996, 1997b), schwingen beide Bedeutungen in dem Lexem mit.

5 Der »Vaterländische Krieg« in literaturkritischen und literarischen Diskursen 1912

Košurov die Idee einer aufwändigen Synthese von ›Fakt‹ und ›Fiktion‹ im Sinne A.S. Puškins (vgl. Kap. 4.1.) o fenbar beispielha t erfüllt und auch der Forderung K.V. Pokrovskijs nach neuen, noch nicht bearbeiteten Episoden durchaus nachkommt (vgl. Pokrovskij 1913:129-130; Kap. 5.2.). Dennoch wird eine rein fiktionale Bearbeitung der ematik des »Vaterländischen Krieges« ohne ein historisch belegtes Vorbild auch von den liberal orientierten Kritikern nicht akzeptiert und scharf negativ bewertet (vgl. Mel’gunov 1912a:37; Vladislavlev 1912:10). Charakteristisch in diesem Sinne ist der Ratschlag des Rezensenten des »Istoričeskij vestnik« an Košurov: При отсутствии художественного таланта лучше всего ограничиться изложением в более или менее литературной форме тех эпизодов из партизанской войны, которыми изобилует хроника 1812 года, не прибегая к вымыслам. (Kf. 1911:774) Beim Fehlen des künstlerischen Talents soll man sich am besten in mehr oder weniger literarischer Form auf die Darstellung jener Episoden aus dem Partisanenkrieg beschränken, an denen die Chronik des Jahres 1812 reich ist, ohne auf Erfindungen zurückzugreifen.

5.4.2.2

Darstellung des Krieges und Konstruktion kollektiver Identität

Die Darstellung des Krieges von 1812 in »Partizany…« stützt sich auf Košurovs bereits beschriebene Poetik des Krieges und zeigt Ähnlichkeiten mit der Schilderung des russisch-japanischen Krieges. Als a fektiver Zustand ist der Krieg durch die Au hebung jeglicher moralischer und menschlicher Normen gekennzeichnet, was die Menschen dazu befähigt, alles Brauchbare zu zerstören und andere zu töten. Die für den spontanen »Volkskrieg« charakteristische Überschreitung moralischer Grenzen wird mit dem Motiv der »Sünde« bzw. der göttlichen Strafe markiert, vgl. die Worte des Jägers Akim: – Жечь надо! – кричал Бубнов. – Все жечь! Чтоб ничего не оставалось. Пусть подохнут. Туда и дорога. Не суйся, куда не звали. А я, вот, убей меня Бог… […] Так и буду вроде волка… […] Разве надо мной есть какой начальник! […] (11-12, Hervorhebung K.R.) »Verbrennen muss man es!«, rief Bubnov. »Alles verbrennen! Damit nichts übrigbleibt! Sollen sie doch verrecken. Es geschieht ihnen recht. Mische dich nicht ein, wo man dich nicht gerufen hat. […] Und ich, Gott töte mich… […] So werde ich wie ein Wolf sein… […] Gibt es über mir etwa irgendeinen Vorgesetzten/Herren? […].« Die Tragik des Krieges für die einfache Bevölkerung wird vor allem über das persönliche Leid und den Verlust von Eigentum transportiert. Das Letztere wird ins-

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Napoleon und der »Vaterländische Krieg« in Russland

besondere dadurch betont, dass sich Semen und Akim beide von ihren Gutsherren freigekau t haben und ihre eigene Wirtscha t führen (vgl. 4, 34). Die Motivation der einfachen Bauern im »Volkskrieg« wird anhand der Figur Semens demonstriert, der durch den Zusammenstoß mit den Franzosen zu Beginn der Erzählung seine Schmiede verliert und seinen Speicher in Brand setzen muss. Das Entfachen des »Volkskrieges« wird mit dem für Košurov typischen Leitmotiv des Feuers verdeutlicht. Dafür steht Semens sprechender Nachname ›Soloma‹: an sich ein friedlicher Mensch, kann auch er wie Stroh Feuer fangen: – Жги не жги – какая разница?. Все равно растащут… Но все-таки ему было жалко и амбара, и скирда, и даже запылавшего вокруг сразу омета соломы. Он отвернулся, чтобы ничего не видеть. На глазах навернулись слезы. Но ненависть вспыхнула в душe и сразу осушила слезы, огнем разлилась по лицу, горячим углем сверкнула в глазах. Он поднял руки, сжимая кулаки, и закричал: – Будь же вы прокляты! Будь вы прокляты! Он сам быль теперь как огонь, как взметнувшийся к небу язык пламени. Весь он горел этой ненавистью к французам. (26-27, Hervorhebung K.R.) »Verbrennen oder nicht verbrennen – was spielt das schon für eine Rolle? Man wird sowieso alles plündern…« Doch tat es ihm trotzdem Leid um den Speicher und um den Schober und sogar um den Getreidehaufen, der von allen Seiten sofort Feuer fing. Er wandte sich ab, um nichts mehr zu sehen. Die Tränen stiegen ihm in die Augen. Doch der Hass lammte in seiner Seele auf und trocknete sofort seine Tränen und ergoss sich über sein Gesicht, funkelte wie heiße Kohle in seinen Augen. Er erhob die Hände, ballte die Fäuste und rief aus: »Zur Hölle mit euch! Zur Hölle mit euch!« Nun war er selbst wie Feuer, wie eine Flammenzunge, die zum Himmel hochstieg. Er brannte gänzlich vor Hass gegen die Franzosen. Košurov bedient den traditionellen Topos der Konsolidierung der Bauern angesichts der gemeinsamen Gefahr, indem er die Konstruktion einer kollektiven Identität beleuchtet und die Vorstellungen vom Eigenen und Fremden in elementarer Form vermittelt. Die Einheit der Bauernkämpfer wird z.B. durch die ematisierung des Misstrauens gegenüber dem »nemec« Michail Bogdanovič Barclay de Tolly (1761-1818) (zu dieser Bezeichnung vgl. Fn. 36 in Kap. 5.4.2.1.) bzw. die Ho fnungen des russischen Volkes auf den »Russen« Michail Illarionovič Kutuzov (1745-1813) konstruiert, wobei eine Opposition ›Eigenes (Russisches)‹ vs. ›Fremdes‹ aufgebaut wird:

5 Der »Vaterländische Krieg« in literaturkritischen und literarischen Diskursen 1912

Даже бабы, которые никогда ничего не знают, знали хорошо про Барклая, что он немец и что от него хорошего нечего дожидаться. (55) Selbst die Weiber, die nie etwas wissen, wussten von Barclay genau, dass er Ausländer/Deutscher war und dass von ihm nichts Gutes zu erwarten war. Никто в глухих лесных деревушках не знал, кто такой Кутузов, хороший он генерал или плохой. Знали одно: Кутузов – русский… (56) In abgelegenen Walddörfern wusste niemand, wer Kutuzov war und ob er ein guter oder ein schlechter General war. Man wusste nur eines: Kutuzov ist ein Russe… Приехал Кутузов бить французов. (92) Kutuzov ist gekommen, um die Franzosen zu schlagen. Eine weitere Identifikationsebene stellt das russisch-bäuerliche Milieu [russ. ›mužickoe‹] dar, das durch gegenseitige Hilfe, Zusammenhalt, Verbundenheit mit der Natur (die Bauern kennen sich gut in Wäldern aus), alltägliche Tätigkeiten, wie die Zubereitung des Essens am Lagerfeuer (vgl. 50-52), vor allem aber durch den gemeinsamen Kampf gegen die Franzosen definiert wird. Mit dem Zusammenschluss von Bauern und Kosaken grei t Košurov einen weiteren Topos des »napoleonischen Narrativs« auf, nämlich die Vorstellung vom allumfassenden »Volkskrieg« und von der führenden Rolle der russischen Armee. Doch gerade seine Konzentration auf die psychologische Motivation und die Affekte des Krieges lassen hier einen alternativen Blick zu. Der Text hält fest, dass die Bauern zunächst vor allem aufgrund unmittelbarer Gefahr den Kampf gegen die Franzosen aufnehmen, dann allerdings durch die russische Armee bzw. die Kosaken angeleitet und unterstützt werden. Somit zeigt Košurovs Schilderung Ähnlichkeit mit der Argumentation liberal orientierter Historiker aus den Kreisen des ORTZ (vgl. Kap. 3.2.3. und 5.2.), die auf den lokalen Charakter des Bauernwiderstandes im Jahr 1812 und auf die gezielte Schürung des »Volkskrieges« durch die russische Regierung hingewiesen haben (vgl. Knjaz’kov 1912:214, 226; Alekseev 1912:227-229; Dživelegov 1912). Durch eine Kontrastierung mit den Kosakentruppen werden die russischen Bauerntypen Akim, Semen und Miška zusätzlich profiliert. Die Kosaken erscheinen als eine eigenartige exotisch-fremde Gemeinscha t mit strenger Hierarchie und ständigem Misstrauen gegenüber den Fremden (vgl. 137-138). Als Soldaten der regulären russischen Armee stehen sie zunächst deutlich über den Bauern (vgl. 32-34, 38). So weist z.B. der Kosakenführer Semen und Akim an, die gefangenen Franzosen immer zu durchsuchen und eventuelle Militärpapiere an die Armee wei-

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terzugeben (vgl. 44). Auch unterstützen die Kosaken die Landbevölkerung, indem sie den Bauern die eroberten französischen Gewehre überlassen und ihnen raten, ihre Dörfer in Brand zu setzen und sich im Wald zu verstecken (vgl. 48-49). Doch im Laufe der Handlung zeigen die beiden Gruppen immer mehr Gemeinsamkeiten. Eine besondere integrierende Funktion kommt dabei der Figur des Haupthelden Miška zu: Mit seiner kindlichen Perspektive durchbricht er die Fassade des Fremden bzw. die Vorurteile und lässt auch die Kosaken als mužiki erscheinen: Кто его знает, – может, казаку и седина ударила в бороду и ранили его, а всетаки ему захотелось проехаться по-мужицки на телеге: ведь и сам он был мужик и не все же гарцевал на коне, а и снопы и сено возил и зерно на мельницу. (46) Wer weiß – vielleicht hatte der Kosak einen grauen Bart bekommen oder er war verletzt worden – und dennoch bekam er Lust, wie ein Bauer/mužik den Wagen zu fahren. Denn er war ja auch selbst ein Bauer/mužik und hatte doch auch nicht immer Reiterkunststücke vorgeführt, sondern auch mal Stroh und Korn zu einer Mühle gefahren. Die gemeinsame Identifikationsebene des Bäuerlichen wird auch in den wenigen komischen Szenen konstruiert, in denen sprachliche Missverständnisse beider Seiten ironisch festgehalten werden. Die russischen Bauern müssen den Umgang mit den französischen Pferden erst lernen, und auch den französischen Fouragieren fällt es schwer, russische Pferde zu lenken: Казачий начальник […] растолковывал им [Семену и Акиму, K.R.], что пофранцузски, если хочешь, чтобы лошадь шла рысью, нужно сказать »авант«, и так как это слово давалась им трудно, то добавил: – А то кричи просто: »Иван«. Ведь ты знаешь, что такое Иван? (37) Der Kosakenführer […] erklärte ihnen [Semen und Akim, K.R.], dass man, wenn man ein Pferd traben lassen will, auf Französisch »avant« sagen muss. Da dieses Wort ihnen schwerfiel, fügte er hinzu: »Oder schreie einfach: ›Ivan‹. Du weißt doch, was Ivan ist?« Фуражиры хоть и старались как можно лучше подражать русским возчикам, однако, »но« у них все равно выходило как французское »non«. (71) Die Fouragiere versuchten zwar, die russischen Fuhrmänner möglichst gut nachzuahmen, doch das »no« [aber] klang bei ihnen trotzdem wie das französische »non«.

5 Der »Vaterländische Krieg« in literaturkritischen und literarischen Diskursen 1912

Bezeichnenderweise wird vor diesem Hintergrund auch die Ähnlichkeit der französischen und der russischen Soldaten im Kriegsalltag betont: Они [французы, K.R.] сложили ружья на подводы между мешками и совсем как русские возчики, шагая у передков повозок, сбоку, держали вожжи в обеих руках и передергивали вожжами, стараясь при этом тоже причмокивать и посвистывать как возчики. (72, Hervorhebung K.R.) Sie [die Franzosen, K.R.] legten ihre Gewehre zwischen den Säcken auf den Fuhren zusammen und hielten die Zügel fast wie die russischen Fuhrmänner in beiden Händen, zogen an ihnen und bemühten sich, dabei auch wie Fuhrmänner zu schmatzen und zu pfeifen, wenn sie seitlich vor den Fuhren voranschritten. Die Konstruktion der gemeinsamen Identifikationsebene des Bäuerlichen ermöglicht es also nicht nur, eine breite Vorstellung vom russischen ›Volk‹ zu konstruieren, die verschiedene soziale Gruppen trotz Rangunterschieden zu einer Gemeinscha t vereint und die Idee vom allumfassenden »Volkskrieg« transportiert. Zugleich wird diese Vorstellung durch die Analogie zwischen den russischen Bauern und den französischen Soldaten und die Einbeziehung des Gegners erweitert und somit durch Košurovs humanitären Blick auf den Krieg als allgemeinmenschliche Katastrophe relativiert.

5.4.2.3

Darstellung von Kampfszenen und psychische Deformation

Die Darstellung von Kampfszenen zeichnet sich durch eine individuell-psychologische Perspektive aus, worin sich ein Ein luss L.N. Tolstojs erkennen lässt. Sie werden meist aus der Perspektive des jungen Helden Miška geschildert, an dessen Entwicklung sich eine konsequente Deheroisierung des Krieges festmachen lässt. Als Miška zu Beginn der Erzählung von den Bauern zur Au klärung geschickt wird, ist er noch wie Akim vom Eifer [russ. ›azart‹] des Kampfes ergri fen (vgl. 60), ohne dass ihm die tödliche Gefahr und das Leid des Krieges bewusst sind: […] Мишка представил себе, как бухнет пистолет, как сверкнет из ствола огонь и перед стволом повиснет клуб белого дыма… Даже дух у него захватило. (65) […] Miška stellte sich vor, wie die Pistole knallen und das Feuer aus der Mündung au blitzen und wie eine weiße Rauchwolke vor dem Lauf hängenbleiben wird… Ihm stockte sogar der Atem. Auch die ausführliche Beschreibung des Beladens einer Pistole und des Equipments für seinen Erkundungsgang (vgl. 64-65) unterstreicht den Kontrast zur nachfolgenden Erfahrung. Als Miška sich in ein von den Franzosen besetztes Dorf begibt, begrei t er allmählich den Ernst des Krieges:

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В первый раз он видел их [французов, K.R.] так близко и в первый раз сознал ясно, что дело, ради которого находится он сейчас в Самсонове, мало похоже на то, как он все это до сих пор представлял себе. (66-67) Zum ersten Mal sah er sie [die Franzosen, K.R.] so nah und zum ersten Mal erkannte er klar, dass die Sache, wegen der er sich jetzt in Samsonovo au hielt, wenig Ähnlichkeit damit aufwies, wie er sich das Ganze bisher vorgestellt hatte. Als Initiation des jungen Helden lässt sich eine der ersten Aktionen der Bauerntruppe betrachten, bei der sie französische Fouragiere auf einer Waldstraße überfallen (vgl. 76-78). Bereits hier zeigt sich die Fragmentarität der Wahrnehmung, die auf der formalen Ebene über den häufigen Tempuswechsel und Ellipsen vermittelt wird. Die Eingeschränktheit der persönlichen Perspektive und die Verworrenheit des Kampfgeschehens werden insbesondere über das Leitmotiv des Rauchs transportiert. Die realistisch-naturalistische Beschreibung des Zusammenstoßes macht deutlich, dass man während des Kampfes fast nichts sieht und auch nicht normal kommunizieren kann. Der a fektive Zustand der Kämpfer wird insbesondere über die Aufnahme von Rhetorik und Ästhetik der lubok-Bilder vermittelt (Ill. 6). Einer der Erwachsenen, an dessen Seite Miška kämp t, wiederholt die: Worte: »– А этого не хочешь? На-ко! Подавись!« [»Willst du das nicht kosten?/Du kannst mal dran riechen! Bitte schön! Ersticke dran!«] (75).

Illustration 6: Kampfszene im Wald (Ljubič-Košurov 1911 : 75).

Zu einer wichtigen Identifikationsfigur für Miška avanciert der Leibeigene aus der Truppe Denis Davydovs, »Solovej-razbojnik« [»Räuber Nachtigall«] Fed’ka Na-

5 Der »Vaterländische Krieg« in literaturkritischen und literarischen Diskursen 1912

truskin, den er auf dem Weg zum Stab der russischen Armee tri t (vgl. 97). In dieser Figur wird der Typus des Volkshelden bzw. des Partisanen aus dem Volk geradezu überhöht. Natruskin, der sich in Baumhöhlen versteckt und die Franzosen auf Waldstraßen überfällt (vgl. 122, Ill. 7), stilisiert sich zu einem russischen Bylinenhelden, der seine Feinde bekanntlich durch Pfi fe lähmte (vgl. Propp 1958:250; Kasack 1997:64-65).

Illustration 7: »Räuber Nachtigall« Fed’ka Natruskin (Ljubič-Košurov 1911 : 97).

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Seine Gestalt lässt Bezüge sowohl zur russischen Folklore als auch zur Tradition der französischen Abenteuerromane Ponson du Terrails (1829-1871) und Eugène Sues (1804-1857) erkennen (vgl. Kf. 1911). Gerade aus der Perspektive des jungen Miška erscheinen die Stärke Natruskins und das Element des Abenteuers als attraktiv. Somit wird auch eine Hierarchie der Partisanenkämpfer konstruiert, an deren Spitze Denis Davydov als Vertreter der regulären russischen Armee steht (zu Davydov vgl. Knjaz’kov 1912; Gračeva/Vostrikov 1999). Der Rangunterschied Davydovs zu Solovej-razbojnik wird u.a. über ein komisches Moment betont. Natruskin verballhornt Fremdwörter, z.B. leitet er das Wort *«rybalet« [eigentl. ›arbalet‹, ›Armbrust‹] von ›ryba‹ [›Fisch‹] ab, weil man damit angeblich Fische fängt (110; vgl. auch 122). Dennoch besitzt Natruskin viel Kampferfahrung und kennt sich gut in verschiedenen Wa fentypen aus (vgl. 107, 116). Einen der Kulminationspunkte stellt die Kampfszene in einem Glockenturm dar, in dem sich Miška und Solovej-razbojnik auf der Flucht vor einer französischen Truppe verschanzen. Der Turm wird gestürmt, doch im letzten Moment werden die beiden von der ihnen zur Hilfe geeilten Truppe Davydovs gerettet. Gerade in dieser Szene zeigt sich ein charakteristischer Aspekt von Košurovs Poetik des Krieges, nämlich die Vorstellung von einem bewusst konzipierten Plan bzw. von der aktiven Handlung eines Einzelnen in der extremen Situation des Krieges, vgl. die Worte Natruskins an Miška: »Все как следует по правилам…« [»Alles den Regeln nach…«] (109); »Все, брат, надо по порядку.« [»Alles, Bruder, muss man der Reihe nach machen.«] (112). Natruskin kommentiert seine Aktionen mit aphoristischen und volkstümlich anmutenden Sprüchen, die den Mut der Kämpfer sprichwörtlich werden lassen: – Наполеон – на поле он, Багратион – Бог рати он… А ты, соловей, рожь вей, на обухе молоти…37 […] Кому хлеб, – нам пули, кому соль, – нам порох… (112) »Napoleon – er ist auf dem Feld, Bagration – er ist der Gott des Heeres… Und du, Nachtigall, fege das Korn, dresche es auf dem Beilrücken… […] Den anderen das Brot – uns die Kugeln, den anderen das Salz – uns das Schießpulver…« Solovej-razbojnik avanciert für den jungen Protagonisten zum Anreger, die a fektive Kriegsbegeisterung in Frage zu stellen. Während Miška zu Beginn der Geschichte noch als Semens Gehilfe und als Kind behandelt wird (vgl. 60-61), betrachtet er die Erwachsenen und das Geschehen um sich herum mit zunehmender Kritik und schätzt die Gefahr nüchterner ein: […] [У] Мишки мелькнула мысль, не есть ли этот Соловей-разбойник удалец вроде Бубнова, каким Бубнов сначала хотел сделаться: разъезжать на колы-

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Vgl. den Phraseologismus ›На обухе рожь молотить‹, russ. buchst. ›Den Roggen auf dem Beilrücken dreschen‹, d.h. hier: schlau, spitzfindig sein.

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мажке и охотиться на французов как на каких-нибудь дроф или стрепетов. (100) […] Miška schoss der Gedanke durch den Kopf, ob dieser »Räuber Nachtigall« nicht ein Wagehals wie Bubnov sei, so einer, wie Bubnov zunächst werden wollte: in seiner Rumpelkarre herumfahren und die Franzosen jagen, als wären sie irgendwelche Trappgänse oder Zwergtrappen. Auch wenn Davydov und Natruskin zweifelsohne als Vorbilder für Miška dienen (vgl. 122), wird allmählich auch die grausame Seite des Partisanenalltags thematisiert. Der Text hält fest, dass französische Furagiere von den Bauern meist nicht gefangen genommen, sondern sofort getötet wurden: »[…] [В]сюду разливалась огненным морем беспощадная народная война.« [»[…] [Ü]berall ergoss sich wie ein Feuermeer ein gnadenloser Volkskrieg.«] (95). Eine zentrale Rolle bei der Entheroisierung des Krieges spielt die Schilderung der zerstörerischen Wirkung des Krieges auf die menschliche Persönlichkeit. Diese wird z.B. anhand der Wahrnehmung der Tätigkeit des Partisanen Figner38 durch den jungen Miška veranschaulicht, der Zeuge einer grausamen Hinrichtung französischer Gefangener wird und später Semen und Akim darüber berichtet: Он [Мишка, K.R.] совсем неожиданно перевел разговор на этого Фигнера. И когда он заговорил о нем, глаза у него заблестели как у волчонка… […] Семен вопросительно взглянул на него. До сих пор он не помнил, чтобы когда-нибудь видел в глазах у Мишки такое выражение… Какая-то незнакомая Семену злая, торжествующая радость горела в них. (157) Er [Miška, K.R.] lenkte das Gespräch ganz unerwartet auf diesen Figner. Und als er begann, von ihm zu sprechen, glänzten seine Augen wie bei einem Wölfchen auf… […] Semen sah ihn fragend an. Er konnte sich nicht erinnern, dass er einen solchen Ausdruck in Miškas Augen jemals zuvor gesehen hatte. Irgendeine Semen unbekannte, böse, triumphierende Freude brannte in ihnen. Die grundsätzliche Verwahrlosung des Menschen im Krieg verdeutlicht Košurov mit dem Leitmotiv des ›Wolfslebens‹ [russ. ›volč’ja žizn’‹]. Die ständige Lebensgefahr und die A fekte des Krieges führen zur Selbstentfremdung der Menschen und stumpfen sie ab: Как волк… И чудится Мишке, – и жутко ему от этого, – просыпается в нем чтото волчье, шевелится под сердцем какая-то злоба… Звериная злоба… И оттого жутко душе. Но нет больше в нем никакого страха, тоже как нет никакого страха у волка, 38

Zum historischen Prototyp der Figur Figners vgl. Kap. 5.4.3.1.

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Napoleon und der »Vaterländische Krieg« in Russland

когда он зимою подходит к самой деревне… Только одна жуть перед тем, что сейчас с тобой делается: перед этим кровавым звериным огнем, которым загорается сердце. Попадись ему в руки француз, он и сам не знает, что сделал бы с ним… И все так… Пусто в деревнях. Где жители? Тоже скитаются по лесам. Были мирные люди, а теперь волки… (125) […] Вся сторона озверела, крови ищет… (126)

Wie ein Wolf… Und es scheint Miška – und es schaudert ihm davor –, dass etwas Wölfisches in ihm erwacht und sich irgendeine Bosheit in seinem Herzen regt. Eine tierische Bosheit… Und deswegen wird ihm bange in der Seele. Doch er hat überhaupt keine Angst mehr, genauso wie ein Wolf, der sich im Winter nahe an ein Dorf heranwagt. Es ist nur ein Schaudern davor, was mit dir jetzt passiert: vor diesem blutigen tierischen Feuer, in dem das Herz ent lammt. Würde ihm jetzt ein Franzose in die Hände geraten, wüsste er nicht, was er mit ihm tun würde… Und alle sind so… Leer sind die Dörfer. Wo sind die Bewohner? Sie streichen auch in den Wäldern umher. Es waren friedliche Menschen, nun sind es Wölfe… […] Das ganze Land ist vertiert/zur Bestie geworden und lechzt nach Blut… Der Krieg hinterlässt bleibende Schäden in der Psyche des jungen Helden, und es wird o fen gelassen, ob sich Miška jemals davon erholen wird: Когда-нибудь все кончится… […] [К]ончится война, кончатся схватки с французами, кончатся скитания по лесным трущобам, но ведь желание так жить останется… Прежний лесной, бесприютный волк в нем останется… (164) Irgendwann wird alles zu Ende sein… […] [D]er Krieg wird enden, die Kämpfe mit den Franzosen, das Umherirren im Dickicht, doch der Wunsch, so zu leben, wird bleiben… Der frühere obdachlose Waldwolf wird in ihm bleiben… Um die äußerste Stufe der Selbstentfremdung durch den Krieg zu inszenieren, bedient sich Košurov der traditionellen eschatologischen Vorstellungen. Der Krieg gegen Napoleon versetzt das russische Volk in einen A fektzustand, der dem Erscheinen des Antichrist gleicht und in dem alles Menschliche verlorengeht: И странно было глядеть в эти глаза [крестьян, K.R.], в которых, как отблеск пламени на льду, горела не ихняя, а будто чужая душа. (126) Und es war seltsam, in diese Augen [der Bauern, K.R.] zu schauen, als würde in ih-

5 Der »Vaterländische Krieg« in literaturkritischen und literarischen Diskursen 1912

nen, wie der Abglanz einer Flamme auf dem Eis, nicht ihre, sondern eine fremde Seele leuchten. Die Franzosen werden dabei als »böse Kra t« imaginiert, die es im messianischen Sinne des »napoleonischen Narrativs« zu besiegen gilt. Der Krieg wird somit als ultimativer Kampf zwischen Gut und Böse überhöht: Французы уже перестали быть для него [Мишки, K.R.] просто врагом… Он видел в них какую-то злую силу, которая должна рано или поздно погибнуть именно потому, что она злая сила. (164, Hervorhebung K.R.) Die Franzosen hörten auf, bloß ein Feind für ihn [Miška, K.R.] zu sein… Er sah in ihnen irgendeine böse Macht, die früher oder später zugrunde gehen würde, gerade weil sie eine böse Macht war. Gleichzeitig jedoch wird die Aufmerksamkeit – in Einklang mit Košurovs antimilitaristischer Haltung – auch auf das Leid der französischen Soldaten gelenkt, worin sich die Tendenz des Jubiläumsjahres zur retrospektiven Rehabilitation des Gegners zeigt: Это было уже не войско, а толпы не знающих, где найти себе пристанище, изголодавшихся и исхолодавшихся людей. […] Совсем иначе обстояло дело, когда отступали мы, а наполеоновские, не знавшие поражений, армии шли по пятам за нами. (160) Es war keine Armee mehr, sondern Scharen von halb verhungerten, halb verfrorenen Menschen, die nicht wissen, wo sie eine Zu lucht finden können. […] Ganz anders war es, als wir uns zurückzogen und die napoleonischen Armeen, die keine Niederlagen kannten, uns auf Schritt und Tritt folgten. […] So wird gegen Ende des Krieges eine kathartische Entwicklung bei Miška angedeutet, der allmählich Mitleid mit den besiegten Franzosen zu empfinden beginnt. Ähnlich wie bei V.P. Avenarius (vgl. Kap. 5.3.3.) wird das Böse am Ende der Erzählung von den französischen Soldaten auf Napoleon übertragen: Злая сила, еще недавно терзавшая русскую землю, задыхалась сама в себе… […] Она еще жива. Она там, впереди. Она в том человеке, за которым пошли эти, теперь уже ему ненужные несчастные люди… (165-166) Die böse Kra t, die vor kurzem noch die russische Erde quälte, erstickte an sich selbst… […] Sie lebt noch. Sie ist dort vorne. Sie ist in jenem Mann, dem diese für ihn nicht mehr nützlichen unglücklichen Menschen gefolgt waren…

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Besonders gegen Ende der Erzählung wird die personale Erzählweise immer mehr durch den auktorialen Erzähler aufgebrochen, der das Geschehen kommentiert, bewertet und als Authentizitätsgarant au tritt, indem er Zitate aus historischen und historiographischen Quellen anführt. Der Erzähler fasst die Geschichte der Partisanenkämpfer in stark didaktisierter Form zusammen und betont die zentrale ese vom großen Beitrag des russischen Volkes zum Sieg über Napoleon, was mit der staatso fiziellen Interpretation des »Vaterländischen Krieges« im Jubiläumsjahr 1912 konform geht (vgl. Kap. 2.3.). Die Aktionen der Bauerntruppen werden als aktiver und unmittelbarer Widerstand gedeutet, der die Rückzugstaktik der russischen Armee und deren geringe Stärke ausgleicht: »На помощь нашей, слишком малочисленной по сравнению с французской, армии поднялась деревня.« [»Unserer im Vergleich zur französischen doch viel zu kleinen Armee kam das Dorf zu Hilfe.«] (161). Gerade mit Blick auf die allgemeinmenschliche Tragödie des Krieges wird das traditionelle Siegespathos aber auch relativiert, indem der Erzähler den unbestimmten Ausgang der Schlacht von Borodino betont: »В этом сражении никто не мог считаться победителем – ни Наполеон, ни Кутузов.« [»In dieser Schlacht konnte keiner als Sieger gelten – weder Napoleon noch Kutuzov.«] (148). Der o fensichtliche Bruch mit der Fiktion durch das verfremdende Au treten des auktorialen Erzählers kann dabei auf die mangelnde Integration von ›Fakt‹ und ›Fiktion‹ zurückgeführt, aber auch als zusätzliches didaktisches Mittel im Sinne von Košurovs antimilitaristischer Haltung betrachtet werden.

5.4.2.4

Resümee

Košurovs Erzählung »Partizany…« lässt sich als typisches Beispiel aus dem Jahr 1912 betrachten (vgl. Pokrovskij 1913:129-130), das sich einem zentralen Topos des 100jährigen Jubiläums, dem »Volkskrieg« gegen Napoleon, widmet. Der Autor beansprucht eine realistische Schilderung des »Vaterländischen Krieges«, die er mithilfe der fiktionalen Augenzeugenperspektiven der Kämpfer aus dem Volk konstruiert. Charakteristischerweise avanciert auch wie bei V.P. Avenarius ein kindlicher Held zum Hauptprotagonisten der Erzählung. Sein junges Alter sowie seine Zwischenstellung zwischen den Bauern und den Kosaken erweisen sich hilfreich, um die Stereotype zu durchbrechen sowie die Entwicklung eines alternativen Blicks auf den Krieg in Einklang mit Košurovs antimilitaristischer Haltung zu veranschaulichen. Die Authentizitätsfiktion wird durch eine aufwändige historische Stilisierung mittels Figurenrede sowie durch detaillierte Beschreibungen des Bauernalltags hergestellt. Durch das allmähliche Au brechen der personalen Perspektiven der am Partisanenkampf beteiligten Bauern durch den auktorialen Erzähler, der die Handlung kommentiert, Zitate aus historischen Quellen anführt und somit zum Authentizitätsgarant avanciert, bedient sich Košurov eines ähnlichen didaktischen Ansatzes, den auch L.N. Tolstoj in »Vojna i mir« verwendete (vgl. Kap. 4.3.).

5 Der »Vaterländische Krieg« in literaturkritischen und literarischen Diskursen 1912

Die zeitgenössische Rezeption von »Partizany…« lässt auf den besonderen Status des Faktischen in der russischen historischen Prosa schließen. Sie zeigt, dass eine fiktionale Verarbeitung der »Vaterländischen Krieges« ohne ein historisches Vorbild von den Kritikern nicht akzeptiert wurde, auch wenn Košurov mithilfe seiner literarischen Fiktion eine authentisch wirkende historische Kulisse erscha t. Dies unterstreicht einmal mehr, dass historisch belegte Faktizität, wie bereits anhand der o fiziellen Jubiläumsfeierlichkeiten (vgl. Kap. 2.4.) oder der literaturkritischen und pädagogischen Diskurse im Jubiläumsjahr gezeigt (vgl. Kap. 5.2.), eines der zentralen Kriterien für die Bewertung der literarischen Werke über den »Vaterländischen Krieg« war und von den Kritikern unterschiedlicher Lager weitgehend geteilt wurde. Košurovs Erzählung geht mit dem traditionellen »napoleonischen Narrativ« konform und aktualisiert dessen zentrale Topoi. Dabei gewährt der populäre Text einen Einblick in die Prozesse der Konstruktion einer kollektiven Identität. Die für das Jubiläumsjahr 1912 typische Aufwertung der Rolle des russischen Volkes bzw. der Bauern im Kampf gegen Napoleon auf der gemeinsamen Identifikationsebene des Bäuerlichen/mužickoe, die einerseits in Opposition zum Exotisch-Fremden der Kosakentruppen und zum Gegner und andererseits auf der Basis der gemeinsamen nationalen Eigenscha ten profiliert wird. Gewiss liefern Košurovs »Partizany…« einen Ansatz für eine kritische Revidierung des Krieges, indem sie auf die psychische Deformation der Helden aufmerksam machen und das traditionelle Siegespathos dadurch verfremden. Gerade die o fengelegte Motivierung der Bauernkämpfer – der Verlust ihres Eigentums und ihr persönliches Leid – erö fnen den Weg zur Hinterfragung der Klischees der traditionellen Rhetorik und insbesondere des Ideologems vom hohen Opfer des russischen Volkes. Allerdings zeigt sich, dass Košurovs didaktische Absicht und die daraus resultierende Romantisierung des Kosakenlebens und Kriegsalltags sowie eine detaillierte Beschreibung des Umgangs mit Wa fen in einen Widerspruch mit seiner antimilitaristischen Haltung treten und als militärische Propaganda interpretiert werden können. Somit changiert der Text auf der Grenze zwischen Košurovs subjektiver Ablehnung des Krieges, dessen didaktischer Funktionalisierung zum Zweck der Unterhaltung des kindlichen Lesers sowie der notwendigen ideologischen Anpassung an das o fizielle Kriegsnarrativ des Jubiläumsjahres 1912.

5.4.3

»Požar Moskvy v 1812 godu« (1912)

Während in »Partizany 1812 goda« vor allem die tragische Dimension des »Vaterländischen Krieges« beleuchtet und eine realistische Rekonstruktion des Bauernalltags angestrebt wird, stellt Košurovs Roman »Požar Moskvy v 1812 godu« [»Der

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Brand von Moskau im Jahr 1812«] (Ljubič-Košurov 191239 ) den originellen Versuch einer abenteuerlich-phantastischen Verarbeitung der Geschichte des Krieges von 1812 dar. Die Handlung spielt im besetzten Moskau und führt russische, französische und polnische Helden zusammen, wobei fiktionale und historische Figuren kombiniert werden. Der Registerwechsel bzw. die Konzentration des Autors aufs Komische und Abenteuerliche zeigt sich darin, dass nicht alle eingeführten Personen, Handlungsstränge und Motive konsequent ausgeführt werden. Dies deutet auf die historische Distanz hin und rückt die Problematik der Rekonstruierbarkeit und einer verlässlichen Tradierung von Geschichte in den Mittelpunkt. Die Exposition für die Handlung bildet die Geschichte des französischen Brigadiers Ljudvig [Ludwig] Formoza, der nach der Schlacht von Borodino zusammen mit der französischen Armee in das verlassene Moskau einzieht. Formoza bewundert die exotische Schönheit der Stadt, muss allerdings erkennen, dass Moskau bis auf wenige Schaulustige leer ist und der erho te triumphale Empfang ausbleibt. Nach den Entbehrungen des Kriegsalltags sehnt sich Formoza nach Komfort und familiärer Atmosphäre und quartiert sich im Haus der in Moskau zurückgebliebenen französischen Schauspielerin Berta Djutfua ein. Dort tri t er auf Bertas Zögling Bronislava, die 16-jährige schöne Tochter einer reichen polnischen Gräfin, und den 16-jährigen russischen Adeligen Petr Nikiforovič Mironov, der im besetzten Moskau bleibt, um seine Geliebte zu beschützen. Als Formoza die beiden durch ein Kartenspiel um viel Geld bringt und sich dazu noch negativ über die russische Armee äußert, fordert Petr Nikiforovič ihn zum Duell heraus. Die Erzählung beginnt damit, dass sich Formoza und Petr Nikiforovič in einem dunklen Keller bei Kerzenlicht auf das Duell vorbereiten. Der Kampf wird jedoch im letzten Moment durch das plötzliche Erscheinen eines geheimnisvollen Winzlings im breitrandigen schwarzen Hut, grünen Mantel und roten Stiefeln mit hohen Absätzen verhindert. Dieser bläst die Kerze aus und zerrt Petr Nikiforovič durch einen geheimen Gang in der Wand weg von dem luchenden Formoza in sein Versteck. Der Unbekannte erweist sich als der spanische Alchemist und Erfinder Potressa, der von einem Moskauer Gutsherrn zur Belustigung beherbergt wird. Potressa ist davon besessen, sich an Napoleon zu rächen, und schließt sich mit dem russischen O fizier Figner zusammen, der sich in französischer Uniform im besetzten Moskau au hält und Napoleon ebenfalls töten will. Potressa und Figner verbergen Petr Nikiforovič in ihrem Versteck und versuchen, ihn für ihren zunächst nicht näher erläuterten Racheplan zu gewinnen. Petr Nikiforovič schließt sich den beiden an und schreibt einen Brief an Bronislava, der vom Diener des Gutsherrn Akim in Bertas Haus gebracht wird. Im Weiteren entfaltet sich die Handlung zwischen zwei Orten: dem geheimen Versteck Potressas, in dem sich Petr Nikiforovič,

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Im Weiteren beziehen sich die Seitenangaben in Klammern auf diese Ausgabe, K.R.

5 Der »Vaterländische Krieg« in literaturkritischen und literarischen Diskursen 1912

Akim und Figner au halten, und dem Haus Bertas, in dem Bronislava und Formoza wohnen. Figners Plan besteht darin, die in Moskau zurückgebliebenen Russen zu sammeln und Moskau anzuzünden. Am Ende der Erzählung finden sich alle Protagonisten in einer alten Siederei beim Seifensieder Michail Vasil’evič ein, der Raketen und Schießpulver herstellt. Die Verschwörer werden von Formoza überrascht, der inzwischen aus Bertas Haus hinausgeworfen wurde und auf der Suche nach einer neuen Unterkun t durch Moskau schlendert. Figner gibt sich für seinen Landsmann aus und nimmt Formoza gefangen. Der Roman endet damit, dass Figners Mitstreiter in die Stadt ziehen und Moskau mit den von Potressa hergestellten selbstzündenden Bomben an verschiedenen Enden in Brand setzen. Figner, Petr Nikiforovič und Bronislava gelingt die Flucht aus der brennenden Stadt. Formoza wird von Figner auf Bitten Petr Nikiforovičs freigelassen.

5.4.3.1

Zeitgenössische Rezeption und Bezug auf die historische Epoche von 1812: Topoi und Figuren

Wie provozierend die Verarbeitung abenteuerlicher Elemente in der Prosa über den »Vaterländischen Krieg« im Jubiläumsjahr 1912 wirkte, zeigt die zeitgenössische Rezeption von »Požar Moskvy…«. Der Roman erhielt stark negative Kritiken (vgl. Mel’gunov 1912a:37; Vladislavlev 1912:10) und wurde als »лубочно[е] произведени[е]« [»lubok-Werk«] (N.U. 1912) und als »ярк[ий] образчик[] юбилейной макулатуры« [»ein leuchtendes Beispiel der Jubiläumsmakulatur«] (Novosti detskoj literatury 1912b) bezeichnet. Besonders negativ wurden die Elemente des Abenteuerlichen beurteilt: Все остальные лица романа придуманы лишь затем, чтобы дать возможность Фигнеру и Потрессе совершать диковинные вещи: стрелять из пистолета, накачивающегося воздухом (изобретение Потрессы), ходить через потайные двери, рядиться в удивительные костюмы и т.п. (Novosti detskoj literatury 1912b). Alle übrigen Personen des Romans sind nur dazu erfunden, um es Figner und Potressa zu ermöglichen, wundersame Dinge zu tun: aus einer Lu tdruckpistole zu schießen (Potressas Erfindung), durch geheime Türen zu gehen, sich mit wunderlichen Kostümen zu verkleiden usw. Auch wenn der Kritiker dem Text Košurovs an sich positive Eigenscha ten einer guten Unterhaltungsprosa zusprach, macht diese Reaktion deutlich, dass eine Behandlung der ›hohen‹ ematik des »Vaterländischen Krieges« im Rahmen eines Abenteuersujets als tabuisiert galt und abgelehnt wurde. Die Fabel von Košurovs Roman basiert vor allem auf der Kombination zweier Topoi des »napoleonischen Narrativs«: des Brandes von Moskau und der Geschichte des russischen O fiziers und Partisanen Figner. Die Frage um den Brand von

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Moskau spielt eine entscheidende Rolle bei der Tradierung der Erinnerung an den »Vaterländischen Krieg«. Noch während des Krieges von 1812 schrieb die russische Regierung die Schuld am Brand der napoleonischen Armee zu, um die Franzosen als ›aufgeklärte Nation‹ zu diskreditieren und in allen Schichten der russischen Gesellscha t Hass gegen die Eroberer zu schüren. Allmählich wurde der Brand zum »freiwilligen Opfer des Patriotismus« [»вольная жертва […] патриотизма«] der Russen stilisiert, das sie für Russland und ganz Europa gebracht hatten (Mel’gunov 1912b:164-165). Die ideologische Vereinnahmung des Brandes von Moskau wurde im Jubiläumsjahr 1912 von den liberal orientierten Spezialisten der Historischen Kommission des ORTZ (vgl. Kap. 3.1.) herausgearbeitet, die in ihrem Sammelband »Otečestvennaja vojna i russkoe obščestvo« [»Der Vaterländische Krieg und die russische Gesellscha t«] (1911-1912) einen Überblick über die Chronologie der Ereignisse und deren Rezeption geben (vgl. Kataev 1912b; Žarinov 1912; Mel’gunov 1912b, 1912c). Der Historiker S.P. Mel’gunov fasst zusammen, dass der Brand unterschiedliche Ursachen gehabt habe und sowohl auf die Fahrlässigkeit der französischen Armee als auch auf gezielte Brandsti tungen durch Marodeure oder auch patriotisch gesinnte Stadtbewohner zurückzuführen sei. Auch weist Mel’gunov auf die indirekte Beteiligung des Moskauer Gouverneurs Fedor Vasil’evič Rostopčin (1763-1826) hin, der durch seine patriotische Propaganda und die Zerstörung von Löschwerkzeugen bei der Aufgabe der Stadt zur Entstehung des Brandes beigetragen habe (vgl. Mel’gunov 1912b:163-166, 1912c:76). Schließlich erwähnt Mel’gunov das Projekt des deutschen Erfinders Franz Xaver Leppich (1778-1819), der im Au trag Aleksandrs I. einen Lu tballon mit Sprengsätzen für Kutuzovs Armee in Moskau bauen sollte (sog. ›šar Leppicha‹, ›Leppichs Kugel‹). Diese Episode wurde im Jubiläumsjahr 1912 im Kontext der Lu tfahrtgeschichte in populärer Form aktualisiert (vgl. Rodnych 1912) und sogar beim 200-jährigen Jubiläum als wissenswerte Tatsache aus dem Jahr 1812 erwähnt (vgl. Kutuzovu [2012]). Nachdem der Bau des Ballons misslungen und Leppich aus Moskau ge lüchtet war, fand eine französische Untersuchungskommission in seiner Werkstatt Reste explosiver Materialien, die bei der Brandlegung eine Rolle gespielt haben können (vgl. Rodnych 1912:34-35; Mel’gunov 1912b:166-167; 1912c:64-67). Indem Košurov in seinem Roman eine Gruppe von Brandsti tern schildert, die aus unterschiedlichen Gründen handeln und Moskau in Brand setzen, und indem er die Aufrufe Rostopčins thematisiert, die Hauptstadt zu zerstören, damit sie dem Gegner nicht in die Hände falle (vgl. 68-69; 143), liefert er im Grunde eine multikausale Erklärung für den Brand, wie sie im Jubiläumsjahr auch von ›liberalen‹ Historikern vertreten wurde. Auch für die Figur Figners bedient sich Košurov einer historischen Vorlage. Als Partisan der regulären russischen Armee zählt Aleksandr Samojlovič Figner (17871813) zu den herausragenden Figuren des »napoleonischen Narrativs«. Figner ist vor allem für seine waghalsigen militärischen Aktionen ohne jegliche Rücksicht auf Gefahr sowie seine außerordentliche Grausamkeit gegenüber den Franzosen be-

5 Der »Vaterländische Krieg« in literaturkritischen und literarischen Diskursen 1912

kannt, die bereits seine Zeitgenossen auf eine psychische Krankheit zurückführten (vgl. Knjaz’kov 1912:215-217, 219-220). Während die o fizielle Militärführung Figners Tätigkeit eher kritisch gegenüberstand und diese als unprofessionelle Kriegsführung kritisierte, wurden seine nicht regelkonformen Aktionen, d.h. die Au klärung im Rücken des Gegners und dessen bedingungslose systematische Vernichtung, als notwendiges Abwehrmittel gegen den westlichen Aggressor propagandistisch vereinnahmt (vgl. Gračeva/Vostrikov 1999:118-120). Gerade in populären Werken des Jubiläumsjahres 1912 wurden Figners Aktionen mit der »Schändung« Moskaus durch die französische Armee legitimiert. Historisch belegt ist, dass sich Figner mehrmals ins besetzte Moskau begab mit dem Vorhaben, Napoleon zu töten, und dafür General Ermolov und Feldmarschall Kutuzov um Erlaubnis bat (vgl. Gračeva/Vostrikov 1999:121-122). Košurov grei t eine Nebenlinie der Legende um Figner auf, nach der er in Moskau eine Diversantengruppe gebildet und sich auch an der Brandsti tung beteiligt haben soll (vgl. Gračeva/Vostrikov 1999:110-111). Ferner werden im Text weitere historisch belegte Details aufgegri fen, z.B. Figners Vorliebe fürs Verkleiden, sein Lu tdruckgewehr sowie sein Erfindungsgeist (vgl. Milovidov 2007). Auch für weitere Figuren bzw. Kollisionen des Romans lassen sich historische Prototypen vermuten. Belegt ist z.B., dass es eine in Moskau zurückgebliebene französische eatertruppe gab. Die in Moskau zurückgebliebene Schauspielerin Louise Fusil (ca. 1771-1848), deren Aufzeichnungen im Jubiläumsjahr in russischer Sprache erschienen,40 könnte als Prototyp für Berta Djutfua gedient haben, ebenso wie der bereits erwähnte deutsche Erfinder Leppich für den spanischen Alchimisten Potressa. Die Analyse der historischen Stilisierung macht deutlich, dass Košurovs Figuren o t historische Vorlagen haben oder sie werden aus den ›apokryphen‹ Details zusammengesetzt, die von Historikern im Jahr 1912 zwar bestätigt wurden, jedoch nicht zum kanonischen Kriegsnarrativ gehören. Dies spricht für die Konsistenz des traditionellen »napoleonischen Narrativs«, dessen zentrale Topoi wie der Brand von Moskau als feste Rezeptionskonstanten fungierten und sich – zumindest im literarischen Diskurs – kaum hinterfragen ließen.

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Zu den russischen Ausgaben der Notizen vgl. Fn. 2 in Kap. 6.2. Die Erinnerungen Fusils an den Brand von Moskau wurden auch vom ›liberalen‹ Kritiker S.P. Mel’gunov herangezogen, der damit seine Thesen vom Vorhandensein von Brenn- und Sprengsto fen in Moskauer Häusern und von der Beteiligung der Moskauer Polizei an der Brandlegung bekrä tigt (vgl. Mel’gunov 1912b:167-168).

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5.4.3.2

Verfahren literarischer Geschichtsdarstellung. Idealtypische Aktualisierung der Ideologeme

Die Literarisierung der Geschichtsdarstellung in Košurovs Roman lässt sich insbesondere daran festmachen, dass historische Realien des »Vaterländischen Krieges« nicht nur auf der inhaltlichen Ebene thematisiert, sondern auch auf der Strukturebene als sujetbildende Leitmotive verarbeitet werden. Dies lässt sich anhand der Diskurse um die Sprache/Kommunikation und um die soziale Hierarchie veranschaulichen. Die ematik von Sprache und Kommunikation geht auf die historische Situation des Aufenthalts der multinationalen Grande Armée in Moskau zurück. Die Handlung entfaltet sich im multikulturellen und multisprachigen Milieu (Französisch – Russisch – Polnisch). Formoza spricht Französisch, kann sich o fenbar aber auch in Deutsch (vgl. 23) und Polnisch (vgl. 55) verständigen. Figner spricht ließend Russisch, Französisch und Polnisch (vgl. 132), Petr Nikiforovič ist des Russischen und des Französischen mächtig. Die Schauspielerin Berta spricht Französisch, Russisch und Polnisch. Die Diener hingegen sind nur der russischen bzw. der polnischen Sprache (Bertas Stubenmädchen) mächtig. Die erschwerte Kommunikation im besetzten Moskau und die daraus resultierenden Missverständnisse avancieren zu einem sujetbildenden Motiv, das eine Grundlage für viele komische Kollisionen und Szenen scha t. Die Verteilung der Sprachen zwischen den Helden spiegelt eine strenge soziale Hierarchie wider, die an mehreren Stellen im Text in unterschiedlichen Formen thematisiert wird. Einerseits stützt sich die Darstellung sozialer Verhältnisse auf die traditionelle Polarisierung der Stände in der russischen Gesellscha t des 19. Jahrhunderts (›Herren‹ vs. ›Diener‹, russ. ›bare/gospoda‹ vs. ›slugi‹), z.B.: »Фигнер по общественному положению стоял выше, чем Потресса, а Потресса, конечно, имел все права смотреть на Акима как на стоящего ниже его.« [»Figner stand seiner gesellscha tlichen Stellung nach höher als Potressa, und Potressa hatte natürlich alles Recht, auf Akim als auf einen sozial niedriger Stehenden zu schauen.«] (72). Andererseits erweist sich diese Opposition als hilfreich, um einen zentralen Topos des »napoleonischen Narrativs«, nämlich die Vorstellung von der Konsolidierung aller Schichten im Krieg von 1812, zu illustrieren. Viele komische Szenen basieren darauf, dass die Diener die Herren nicht verstehen, untereinander jedoch stets zusammenhalten. Die ematisierung der sozialen Verhältnisse stellt somit – genauso wie in der Prosa von D.S. Dmitriev (vgl. Kap. 4.2.) und V.P. Avenarius (vgl. Kap. 5.3.3.4.) – ein wichtiges Identifikationsmotiv für den (kindlichen) Leser dar. Diese Leitmotive erweisen sich als hilfreich, um die Ereignisse des »Vaterländischen Krieges« im Spannungsfeld zwischen der idealtypischen Aktualisierung der Ideologeme des »napoleonischen Narrativs« und deren gleichzeitiger Verfremdung

5 Der »Vaterländische Krieg« in literaturkritischen und literarischen Diskursen 1912

bzw. ironischer Brechung literarisch zu inszenieren. Den beiden Polen lassen sich grob bestimmte Figuren zuordnen, die bei Košurov – ähnlich den Prinzipien der Commedia dell’Arte – meistens Träger konstanter Eigenscha ten sind und somit zum Sprachrohr der jeweiligen Ideen avancieren (Ill. 8):

Illustration 8: Formen der literarischen Rekonstruktion von Geschichte im Roman »Požar Moskvy v 1812 godu«.

Potressa / Figner

Idealtypische Aktualisierung der Ideologeme

Seifensieder / Kaufmann

Sprache / Kommunikation / soziale Hierarchie

Petr Nikiforovi

Verfremdung/ ironische Brechung

Formoza

Die idealtypische Aktualisierung der Ideologeme des »napoleonischen Narrativs« ist vor allem mit den Figuren Figners und Potressas sowie mit ihren Sympathisanten verbunden. Mit Figner wird in hypertrophierter Form die Idee der bedingungslosen Vernichtung des Gegners vermittelt. Sein pathologisch grausamer Charakter lässt sich als eine Art ›Realisierung‹ der Klischees der o fiziellen Propaganda im Jahr 1812 lesen, mithilfe derer der Moskauer Gouverneur Rostopčin auf seinen Plakaten Hass gegen die Franzosen unter der Moskauer Bevölkerung schürte (vgl. Mendel’son 1912:89-90; Mel’gunov 1912b:163; 1912c:82). Figners Handlungen werden ausschließlich durch die Idee des Tyrannenmordes bestimmt, die bereits bei L.N. Tolstoj in »Vojna i mir« [»Krieg und Frieden«] (1868/69) durch die Figur P’er Bezuchovs angedeutet und in G.P. Danilevskijs »Sožžennaja Moskva« [»Das verbrannte Moskau«] (1886) anhand der Person Figners literarisch verarbeitet wurde (vgl. Kap. 4.4.). Zwar wurde die Ermordung des Monarchen von der russischen Militärführung gleichwohl als »Barbarei« und unprofessionelle Kriegsführung verurteilt, doch lässt sich diese Idee auch für die napoleonische Epoche der »historischen Taten« als typisch betrachten (vgl. Gračeva/Vostrikov 1999:110). Aus dieser Perspektive findet eine bemerkenswerte Parallelisierung von Napoleon und Figner

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statt. Dabei grei t Košurov eine historisch belegte Facette der Legende um Figner auf: In seinem Ehrgeiz wollte Figner nach Äußerungen von Zeitgenossen durch die Ermordung Napoleons nicht zuletzt an dessen Ruhm teilhaben (vgl. Gračeva/Vostrikov 1999:110). Trotz seiner Grausamkeit avanciert Figner in Košurovs Roman zur abenteuerlichen Figur, wodurch Košurovs antimilitaristische Haltung mit seiner Intention der Unterhaltung des kindlichen Lesers in Widerspruch tritt. Das Austricksen französischer und polnischer Soldaten, der Umgang mit einer Lu tdruckpistole und das Spiel mit Identitäten lassen sich als zentrale Identifikationselemente für Kinder bzw. als Elemente des spielerischen Lernens begreifen. Somit wird das Ideologem vom patriotischen Hass gegen Napoleon in »Požar Moskvy…« durch die historisch belegte Psychopathologie Figners sowie durch den Aspekt der Unterhaltung verfremdet. Die patriotische Idee der Selbstaufopferung für das Vaterland bzw. die eigene Nation wird durch die Figur des Spaniers Potressa ausgedrückt. Bezeichnenderweise erhält sein Hass gegen Napoleon auch eine historische Motivierung, indem auf Potressas Herkun t und somit auf die napoleonischen Kriege in Spanien und den darauf folgenden Partisanenkrieg rekurriert wird: Он [Потресса, K.R.] говорил, что он, как испанец, не может питать к Наполеону ничего кроме ненависти и презрения. И, как человек, тоже не может иметь к нему другого чувства, кроме этого… Что он считал бы себя счастливым, если бы мог всадить Наполеону в бок свой стилет или задушить его своими руками. (38) Er [Potressa, K.R.] sagte, dass er als Spanier gegenüber Napoleon nichts anderes als Hass und Verachtung empfinden könne. Und auch als Mensch könne er für ihn nichts anderes empfinden. Er würde sich für glücklich halten, wenn er Napoleon sein Stilett in die Seite stoßen oder ihn mit eigenen Händen erwürgen könnte. Potressas Äußerungen werden meist in direkter Rede an Petr Nikiforovič wiedergegeben, was ihnen den Charakter von Parolen verleiht, z.B.: »Я вас спас для блага вашего отечества и для блага всего мира. Ведь вы русский?« [»Ich habe Sie gerettet zum Wohl Ihres Vaterlands und der ganzen Welt. Sie sind doch ein Russe?«] (38); »Того требует счастье вашего отечества…« [»Das verlangt das Glück Ihres Vaterlands…«] (123). Der Appell an das ›Russentum‹ lässt sich dabei als eine Anspielung auf M.N. Zagoskins tendenziösen Roman »Roslavlev…« (1831) lesen, in dem die Darstellung der Epoche von 1812 zur Demonstration der Konstanz der positiven nationalen Eigenscha ten der Russen funktionalisiert wurde (vgl. Soročan 2008:33; 2012:262-265; Kap. 4.1.). Bezeichnenderweise wird das traditionelle Ideologem von den Russen als »Söhnen des Vaterlands« ebenfalls vom Ausländer Potressa artikuliert, wobei wiederum Spanien als Vergleichsfolie dient: »О, Россия, как и Испания, – страна сынов!« [»Oh, Russland ist wie Spanien ‒ ein Land der Söhne!«] (69). Gleichzeitig führt die idealtypische Artikulation der Ideen der Nati-

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on und des aufgeklärten Patriotismus durch die expressive, hyperbolisierte Form von Potressas Aussagen und sein exotisches Äußeres und possenha tes Verhalten zu deren Verfremdung oder gar Persi lage: »Зачем рисковать жизнью из-за кого бы то ни было, когда можно отдать ее за родину?« [»Wozu sein Leben für wen auch immer aufs Spiel setzen, wenn man es für das Vaterland hingeben kann?«] (44). Mit der Figur des namenlosen Moskauer Kaufmanns, einem fanatischen Greis mit langem weißem Bart, der sich Figner im Haus des Seifensieders anschließt und dem die Züge eines Narren in Christo und eines Propheten verliehen werden, wird die eschatologische Linie des »napoleonischen Mythos« aktualisiert (vgl. Kap. 1.2.). Laut dieser wurde Moskau durch die französische Armee »geschändet« und sollte mit [Fege]feuer gereinigt werden: – Антихрист посреди нас… Во святом месте! Во святом граде! […] Когда священные дары юродивый священник проливает на пол, то это место выжигают! Выжигают! […] Жечь!. Все жечь! Церкви, дома!. Огонь все чистый… Он святой… (134-135) »Der Antichrist ist unter uns… Am heiligen Ort! In der heiligen Stadt! […] Wenn ein närrischer Priester die heiligen Gaben auf den Fußboden verschüttet, brennt man diese Stelle aus! Man brennt sie aus! […] Verbrennen! Alles verbrennen! Die Kirchen, die Häuser! Das Feuer ist vollkommen rein… Es ist heilig…« Die Vorstellung von Napoleon als dem »Antichrist« stellte ein wichtiges Identifikationsmotiv für das ›einfache Volk‹ im Kampf gegen die französische Armee dar und wurde zum Zweck der Propaganda von der russischen Regierung genutzt (vgl. Mel’gunov 1912b:162-163). Die kenotische Idee der völligen Selbstaufopferung bzw. Selbstzerstörung, aus der sich die wirkliche Macht Russlands erst entwickeln soll (vgl. Kap. 2.3.), wird allerdings auch an dieser Stelle durch die A fektiertheit und den Fanatismus des Helden verfremdet, der in der für Košurov typischen Manier als vom Krieg berührtes Subjekt gezeichnet wird. Mit den Figuren des Dieners Akim und des leibeigenen Seifensieders Michail Vasil’evič, der Potressa bei der Herstellung der Bomben hil t, werden die unmittelbaren Subjekte des »Volkskrieges« gezeigt, wobei das Motiv der sozialen Hierarchie eine tragende Rolle spielt. Während die gebildeten ›Herren‹ Figner und Potressa als Träger der Ideen fungieren, werden die ›Diener‹ meistens als Mitläufer dargestellt, die vor allem aus alltäglich-praktischen Gründen den ›Herren‹ folgen. Auch das bereits angesprochene Motiv der erschwerten Kommunikation erweist sich dabei als hilfreich, den Transfer dieser Ideen ins Massenbewusstsein zu illustrieren und eine Ebene der alltäglichen Rezeption des »Vaterländischen Krieges« zu konstruieren. Die hohen eschatologischen Vorstellungen werden dabei auf eine ironische Art profaniert:

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С испанцем сблизила Акима общая их ненависть к Наполеону и еще одно обстоятельство: Аким страдал ревматизмом и был излечен от этой болезни Потрессой. (66) Mit dem Spanier einte Akim ihr gemeinsamer Hass gegen Napoleon und darüber hinaus noch ein anderer Umstand: Akim litt an Rheumatismus und wurde von Potressa von dieser Krankheit geheilt. Auch die Vorstellung von Napoleon als »Antichrist« wird demontiert: За стаканом вина Аким спросил у Потрессы, не вычислял ли он числа Наполеонова. Потресса ответил, что вычислял еще в Испании и по серьезном рассуждении пришел к следующему выводу: Наполеон в некотором роде самозванец. Он вовсе не предсказанный в писании антихрист, а жалкая на него пародия. […] Он [Аким, K.R.] и сам, нужно сказать, был невысокого мнения о Наполеоне, но когда он узнал от приятеля, что предводитель французов не настоящий антихрист, то почувствовал к нему истинное презрение, сплюнул на пол и сказал: – Тьфу, гадость! (67) Bei einem Glas Wein fragte Akim Potressa, ob er Napoleons Zahl ausgerechnet hätte. Potressa antwortete, dass er sie bereits in Spanien ausgerechnet hätte und nach rei licher Überlegung zu folgendem Schluss gekommen sei: Napoleon sei in gewisser Weise ein Betrüger. Er sei gar nicht der in der Heiligen Schri t prophezeite Antichrist, sondern eine jämmerliche Parodie auf ihn. […] Er [Akim, K.R.] selbst hatte, so muss man sagen, keine hohe Meinung über Napoleon, doch als er von seinem Freund erfuhr, dass der Anführer der Franzosen kein echter Antichrist sei, empfand er gegenüber ihm aufrichtige Abscheu, spuckte auf den Boden und sagte: »Pfui, Teufel!« Der ironische E fekt wird hier vor allem dadurch erzeugt, dass die Ausrechnung der apokalyptischen »Zahl Napoleons« – ein gängiger Topos in der Lyrik der Epoche von 1812 (vgl. Sidorov 1912c:167) sowie auch bei L.N. Tolstoj (vgl. Ignatov 1912:37) – keine Bestätigung für Napoleons teu lische Natur liefert. Darin zeigt sich nicht nur der fortschreitende Prozess der Karnevalisierung bzw. der Degradierung Napoleons zum »kleinen Teufel/Dämon« [»бесовск[ая] нечист[ь]«], der mit dem fortschreitenden Erfolg der russischen Armee bereits im Laufe des »Vaterländischen Krieges« einsetzte (vgl. Nesterova 2006:260-261). Die Enttäuschung, als sich der »Antichrist« Napoleon letztendlich doch als schwach und lächerlich erweist (vgl.

5 Der »Vaterländische Krieg« in literaturkritischen und literarischen Diskursen 1912

das Gedicht M.Ju. Lermontovs »Dva velikana« [»Zwei Riesen«] (1832), Kap. 1.2.), spiegelt die Logik des traditionellen »napoleonischen Narrativs« wider: Die Stärke Russlands resultiert nicht zuletzt aus der Stärke des besiegten Gegners. Dieser soll als stark gelten, sonst wird er verachtet. Das gewaltige Potenzial des »Volkskrieges« und dessen spontaner Charakter werden am Beispiel des Seifensieders verdeutlicht. Ähnlich wie in Košurovs Erzählung »Partizany 1812 goda« (vgl. Kap. 5.4.2.) wird sein Charakter mit der Metapher des »Zünders« und der Metaphorik des Feuers beschrieben: Будто сам Михаил Васильевич был чем-то вроде порохового запала, и достаточно одной искры, чтобы он вспыхнул. И оттого он весел, что сознает в себе этот скрытый огонь, и не может не быть веселым, потому что этот его огонь переливается вместе с кровью в его жилах. (110) Als wäre Michail Vasil’evič selbst eine Art Pulverzünder und als würde ein einziger Funken genügen, um ihn zu ent lammen. Und deswegen ist er so heiter, weil er dieses verborgene Feuer in sich spürt, und er kann nicht anders, als heiter zu sein, weil dieses Feuer zusammen mit dem Blut in seinen Adern ließt. Der vermeintliche allumfassende, christlich-orthodox fundierte »Volkskrieg« gegen Napoleon wird somit als unkontrollierbare zerstörerische Kra t entlarvt und mithilfe des heidnischen Codes zusätzlich verfremdet. Die o fiziell propagierte Einheit aller Schichten im Krieg, die Košurov durch die Au hebung der bereits erwähnten Strukturoppositionen der Sprache und der sozialen Hierarchie inszeniert, wird als kollektiver A fektzustand geschildert, der keine Rücksicht auf Menschenleben nimmt: Как первые адепты новой религии, они [Фигнер, Потресса и Аким, K.R.] зажгли священный огонь и, забыв разницу их социальных состояний, стояли перед жертвенником, готовые окропить его своей кровью или кровью тех, чью смерть они считали угодной их богу. (72) Wie die ersten Adepten einer neuen Religion zündeten sie [Figner, Potressa und Akim, K.R.] ein heiliges Feuer an, und, den Unterschied zwischen ihrer sozialen Stellung vergessend, standen sie vor dem Opferaltar, bereit, ihn mit ihrem Blut und dem Blut derer zu benetzen, deren Tod ihrem Gott gefallen würde. Es zeigt sich, dass die Ideologeme des »napoleonischen Narrativs« wie der Hass gegenüber Napoleon, die Selbstaufopferung für das Vaterland oder die Einheit aller Schichten in einem heiligen »Volkskrieg« bei Košurov als wichtige Elemente der historischen Stilisierung fungieren und somit Anspruch auf eine historisch korrekte Darstellung erheben. Sie werden jeweils von Figner (einer fiktionalen Figur mit historischem Vorbild), Potressa (einer fiktionalen Figur, die sich über ihre nationa-

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Napoleon und der »Vaterländische Krieg« in Russland

le Zugehörigkeit definiert) und dem Seifensieder (Sammeltypus der Subjekte des »Volkskrieges«) artikuliert. Bezeichnenderweise führt die idealtypische Aktualisierung der Ideologeme zu deren Persi lage und gar Demontage. Dies kann einerseits als bewusster Kunstgri f durch Košurovs Intention der Unterhaltung des (kindlichen) Lesers erklärt werden. Andererseits lässt es sich auch als Ausdruck der historischen Distanz und der Ungewissheit weit zurückliegender Ereignisse gelesen werden, wodurch – ähnlich wie bereits bei G.P. Danilevskij – die Problematik der authentischen Tradierung historischen Wissens thematisiert wird (vgl. Kap. 4.4.).

5.4.3.3

Verfremdung bzw. ironische Brechung des »napoleonischen Narrativs«

Die Verfremdung bzw. ironische Brechung des »napoleonischen Narrativs« ist im Wesentlichen mit den Figuren Petr Nikiforovičs und Formozas verbunden, die die am aufwändigsten gestalteten Charaktere in Košurovs Roman sind. Ihre Perspektiven stehen vor allem für eine abenteuerliche Behandlung der Epoche von 1812, wobei Košurovs subjektive Sicht auf den »Vaterländischen Krieg« zum Ausdruck kommt. In der Gestalt des jungen russischen Adeligen Petr Nikiforovič Mironov wird der Verhaltenscode eines »jungen russischen Adeligen« [»русский молодой дворянин«] (7) persi liert. Das Verhalten von Petr Nikiforovič wird ausschließlich und idealtypisch durch zwei Motive bestimmt: seine idyllische romantisch-sentimentale Liebe zu Bronislava und den Kon likt zwischen dem individuellen Glück und der patriotischen P licht. Bei seiner Charakterisierung werden romantisch-sentimentalistische Klischees aktiviert: Petr Nikiforovič lebt ausschließlich durch seine Liebe, die ihn von der Kriegsrealität ablenkt: И он действительно на минуту прикрыл глаза, чтобы ничего не видеть вокруг, чтобы хотя на мгновение остаться наедине с самим собою, уйти в тот мир божественно-прекрасный, который блеснул ему в нем самом как весеннее радостное утро. (42) […] И рядом с этим сном, ярким и светлым, которому не хотелось верить, рука об руку с ним шла действительность, холодная и жуткая. (142) Und er kni f tatsächlich die Augen kurz zusammen, um nichts um sich herum zu sehen, um wenigstens für einen Augenblick ganz für sich allein zu sein und in jene göttlich-schöne Welt zu entschwinden, die ihm in seinem Inneren wie ein fröhlicher Frühlingsmorgen erstrahlte. […] Und neben diesem Traum, klar und hell, dem man nicht glauben wollte, ging Hand in Hand die Wirklichkeit, kalt und schrecklich.

5 Der »Vaterländische Krieg« in literaturkritischen und literarischen Diskursen 1912

Durch sein junges Alter und sein verweichlichtes Au treten wird eine Absage an die traditionelle männliche Heroik erteilt. Petr Nikiforovič wird als unerfahren, sentimental und schwächlich dargestellt, vgl. sein »seichtes junges Tenor-Stimmchen« [»жиденьк[ий] молод[ой] тенор[ок]«] (5). Von den erwachsenen Helden Formoza, Figner und Potressa wird er als »Kind« wahrgenommen (vgl. 4, 41, 123). Ähnlich wie in der Erzählung »Partizany 1812 goda« (vgl. Kap. 5.4.2.) kommt der Perspektive des jugendlichen Helden eine besondere Rolle bei der Konstruktion des literarischen Bildes einer historischen Epoche zu. Aufgrund seiner Ausgeschlossenheit aus der Kriegsrealität hat Petr Nikiforovič einen unverstellten, kindlich-naiven Blick auf das Geschehen, mit dem der a fektierte Patriotismus Figners und seiner Mitstreiter verfremdet und die allgemeinmenschliche Tragik des Krieges zum Ausdruck gebracht wird. Bei all seiner Verträumtheit und seinem Infantilismus ist es gerade Petr Nikiforovič, der in der existenziellen Situation des Krieges Mitleid und menschliche Züge zeigt (vgl. 78-79, 137), als er z.B. am Ende des Romans Figner darum bittet, Formoza freizulassen (vgl. 150). Mit der idyllisch-sentimentalen Liebe des Helden zu Bronislava wird auch das traditionelle Motiv der patriotischen Liebe zum Vaterland verfremdet. Während in den Werken D.S. Dmitrievs oder G.P. Danilevskijs die persönliche Liebesgeschichte bzw. das Motiv der verhinderten Liebe als wichtiges Moment der Identifikation mit der patriotischen Idee der Liebe zum Vaterland fungiert (vgl. Kap. 4.2. und 4.4.), lässt sich Petr Nikiforovič trotz aller Appelle an seine P licht gegenüber dem Vaterland zunächst kaum für die patriotische Idee begeistern. Wenn er sich im Krieg engagiert, so geschieht dies lediglich, um seine Geliebte im romantischen Sinne zu beschützen. Aufschlussreich erscheint eine Parallele zu G.P. Danilevskijs Roman »Sožžennaja Moskva«. Ähnlich wie bei Danilevskij folgt schließlich auch Petr Nikiforovič seiner patriotischen P licht und schließt sich den Brandsti tern an. Doch während Perovskijs persönliches Glück durch den Krieg für immer zerstört wird, ›korrigiert‹ Košurov das historische Bild durch eine stärkere Fiktionalisierung zugunsten eines Happy End. Dies zeugt von einer fortschreitenden Mythisierung der Epoche von 1812, die zu einer Projektions läche für eine glückliche Liebesgeschichte avanciert und mit Košurovs theatralischer Vorstellung vom ›Drama der Geschichte‹ korrespondiert (siehe unten). Die Gestalt des französischen Brigadiers Ludwig Formoza ist die am konsequentesten und einheitlichsten skizzierte Figur des Romans. Seinem Charakter liegt der literarische Typus des Abenteuers bzw. des Schelmen [russ. ›avantjurnyj geroj/plut‹] zugrunde. Dementsprechend wird Formoza nicht primär als französischer Soldat, sondern als Abenteurer eingeführt, der sich mal nach Komfort und familiärer Atmosphäre, mal nach Wein und Frauen sehnt. Der ›Krieg‹ wird dabei betont seinem ›Beruf‹ zugeordnet: »[…] это было его ремесло – убивать и умирать.« [»[…] еs war sein Handwerk, zu töten und zu sterben.«] (4). Dies ermöglicht es, ihn im Gegensatz zu Figner und Potressa nicht als a fektiv vom Krieg berührtes

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Subjekt, sondern in erster Linie als Zuschauer des ›Dramas der Geschichte‹ und als Re lektor-Figur einzuführen. Formoza wird als ein ungekünstelter und naiver Mensch vorgestellt, der seine Kenntnisse über »Geographie« und »Ethnologie« aus dem Buch »Tausend und eine Nacht« schöp t, das er für ein »lehrreiches und interessantes Werk« hält (14). Er hat den fremden Blick eines Ausländers, der Russland als exotischen und zugleich unzivilisierten Orient wahrnimmt. Diese Eigenscha t erweist sich als hilfreich, um die Stereotype der Franzosen über die russische Hauptstadt zu transportieren und ironisch zu brechen. In Moskau angekommen, ist Formoza darüber enttäuscht, dass er dort »keine einzige Frau mit Schleier und in seidener Pumphose und keinen ›Bojaren‹ mit Vollbart und in Brokatkleidung getro fen hat.« [»не встретил ни одной женщины под покрывалом и в шелковых шароварах, ни одного ›боярина‹ с окладистой бородой и в парчовой одежде.«] (13-14). Während Figner als Träger der ›napoleonischen Idee‹ zu einer Parallelfigur für den französischen Imperator avanciert, kann man die Figur Formozas als ironische Karikatur auf Napoleon betrachten. Der komische E fekt wird bereits über seinen sprechenden Namen evoziert (Ludwig = ›berühmter Krieger‹, auch typischer Name der französischen Kaiser, dabei in deutscher Form übernommen; Formoza = frühere Bezeichnung für Taiwan, o fenbar eine Anspielung auf Napoleons Eroberungspläne). Parallelen zu Napoleon zeigen sich in der Szene, als die französische Armee in Moskau einmarschiert: Формоза мало-помалу потерял свой победоносный вид и стал сердиться. К чему тогда было платить Бог знает какие деньги за кусок мыла, чтобы сделать эмульсию для бритья щек и подбородка? К чему, наконец, в продолжение целого получаса, а может быть и более сидел он в седле, выпятив грудь, и заставлял лошадь гарцевать? Это тоже чего-нибудь стоило после недавних переходов по русским лесам и бессонной кровавой бородинской ночи. (15) Allmählich verlor Formoza seine siegesgewisse Haltung und begann wütend zu werden. Wozu hatte er denn weiß Gott wieviel Geld für ein Stück Seife gezahlt, um daraus eine Emulsion für die Rasur der Wangen und des Kinns herzustellen? Wozu saß er schließlich eine halbe Stunde oder vielleicht auch länger mit gewölbter Brust im Sattel und ließ das Pferd tänzeln? Das war doch auch etwas nach den jüngsten Märschen durch die russischen Wälder und nach der schla losen blutigen Nacht von Borodino. Die Einnahme Moskaus durch Napoleon wird ironisch nachgezeichnet, indem Formoza z.B. die Schauspielerin Berta zu erobern versucht und mit dem Bewusstsein eines Siegers in ihr Haus einzieht (22), oder wenn er den Diener Akim mit seinem »превосходнейш[ее] лакейск[ое] лицо[] на английский манер« [»perfekte[n]

5 Der »Vaterländische Krieg« in literaturkritischen und literarischen Diskursen 1912

Lakaiengesicht auf englische Manier«] als Diener mieten will (81-82). Auch stilisiert er sich als »Auserwählter« und »Spielzeug des Schicksals«, womit ein traditionelles Mythologem von Napoleon als ›Mann des Fatums‹ (vgl. Matjušenko 2003:178-179, 189; Kap. 1.2.) persi liert wird: В его жизни было немало всевозможных приключений, самых неожиданных и трудно вообразимых. Поэтому на себя он привык смотреть как на человека избранного, а на свою жизнь как на некоторого рода игрушку в руках таинственных сил, то злых, то добрых. (23) In seinem Leben gab es nicht wenig aller nur denkbaren – meist unerwarteten und schwer vorstellbaren – Abenteuer. Daher war er gewohnt, sich selbst als einen Auserwählten und sein Leben als eine Art Spielzeug in den Händen geheimnisvoller – mal guter, mal böser – Krä te zu sehen. Als Abenteuerheld ist Formoza vom Glück verwöhnt und überlebt die Kampagne von 1812 unversehrt. Ähnlich wie durch den Blick von Petr Nikiforovič wird durch seine exotische Perspektive der a fektierte Patriotismus Figners und dessen Mitstreiter verfremdet. Als Formoza gegen Ende des Romans im Haus des Seifensieders durch Figner festgenommen und Zeuge des Tre fens der Verschwörer wird, hält er dieses für die heidnische Hochzeit Petr Nikiforovičs (vgl. 136). Der Verfremdung der orthodoxen Symbolik dienen wiederum heidnische Motive: О том, что русские – христиане, он [Формоза, K.R.] ради этого случая совершенно забыл. Приключение казалось ему не из заурядных. Он не знал еще, выберется ли он отсюда живым или сейчас потащат его в какую-нибудь пещеру, где стоит каменный идол и каменный жертвенник, положат его на жертвенник и сначала зарежут с какими-нибудь церемониями, а затем сожгут. (133) Dass die Russen Christen sind, hatte er [Formoza, K.R.] bei diesem Zwischenfall völlig vergessen. Das Abenteuer schien ihm kein gewöhnliches zu sein. Er wusste noch nicht, ob er hier lebend herauskommen würde, oder ob man ihn nicht gleich in eine Höhle mit einem steinernen Idol und einem steinernen Opferaltar schleppen, ihn auf den Opferaltar legen und ihn zunächst nach irgendwelchen Ritualen erstechen und dann verbrennen würde. Es wird deutlich, dass sich das Verfremdungspotenzial der beiden Figuren Formozas und Petr Nikiforovičs nicht zuletzt aus ihrer exzentrischen Stellung als Ausländer bzw. Jugendlicher ergibt. Sie fungieren als Re lektoren, die Geschichtsereignisse auf unterschiedliche Weise widerspiegeln. Durch Formoza werden die Stereotype der Franzosen über Russland aktualisiert und zugleich ironisch heruntergebrochen. In der Sujetlinie von Petr Nikiforovič wird in sentimental-abenteuerlicher Form die patriotische Idee vom Brand Moskaus als Opfer für ganz Russland vermit-

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telt. Es zeigt sich, dass die explizite Konzentration des Autors auf die Verfremdung bzw. die ironische Brechung der Geschichte des »Vaterländischen Krieges« umgekehrt auch zur indirekten Verankerung der traditionellen Vorstellungen führt.

5.4.3.4

Der »Vaterländische Krieg« als ›Drama der Geschichte‹

Die Darstellung des »Vaterländischen Krieges« im Spannungsfeld zwischen der idealtypischen Aktualisierung der Realien und deren Verfremdung bzw. ironischer Brechung lässt die charakteristische Logik der Repräsentation der historischen Ereignisse in Košurovs Text erkennen. Diese manifestiert sich in der zentralen Metapher des ›Dramas der Geschichte‹ [›drama istorii‹]. Damit wird der Krieg von 1812 nicht nur in Einklang mit der traditionellen Vorstellung als herausragendes Ereignis der russischen Geschichte von ›Schrecken und Ruhm‹ [›god užasa i slavy‹] und als »Knotenpunkt der Ereignisse, die die Welt erschüttern« [»уз[ел] потрясающих мир событий«] (71), stilisiert. Die Metaphorik des eaters impliziert die Vorstellung von den ›Helden‹ – hier: den Subjekten des historischen Prozesses – und den ›Zuschauern‹, vor denen sich die Schlüsselereignisse der nationalen Geschichte entfalten. Diese Dichotomie lässt sich anhand der Figur Petr Nikiforovičs veranschaulichen, der im Laufe der Handlung eine bemerkenswerte Entwicklung durchmacht. Zu Beginn des Romans zählt er sich noch lediglich zu den ›Zuschauern‹ epochaler Ereignisse und hält Figner für einen außergewöhnlichen ›Helden‹, dem er eine herausragende Rolle in der Geschichte einräumt: У Петра Никифоровича, пока он слушал Фигнера, мелькнула мысль, что он, может быть, стоит сейчас у самого узла потрясающих мир событий. В Фигнере он видел во всяком случае необыкновенного человека, достойного играть очень видную роль в драме, разыгрывающейся перед его глазами, и находящегося пока еще за кулисами, но в любой момент могущего появиться на обагренной кровью тысяч людей арене. Море крови, тысячи трупов. (71) Petr Nikiforovič schoss, während er Figner zuhörte, der Gedanke durch den Kopf, dass er wahrscheinlich gerade am unmittelbaren Knotenpunkt der Ereignisse stand, die die Welt erschütterten. In Figner sah er jedenfalls einen ungewöhnlichen Menschen, der würdig war, eine höchst ansehnliche Rolle in dem Drama zu spielen, das sich vor seinen Augen abspielte. Noch befand sich Figner hinter den Kulissen, doch er konnte jederzeit in der mit dem Blut von Tausenden von Menschen be leckten Arena erscheinen. Ein Meer aus Blut, Tausende von Leichen. Gegen Ende des Romans erscheint ihm Figner gerade aufgrund seiner A fekte als »zu klein«. Somit wird Petr Nikiforovič mit der Frage nach der Rolle des Individuums in der Geschichte konfrontiert. Im Gegensatz zu Tolstoj, der dem Einzelnen

5 Der »Vaterländische Krieg« in literaturkritischen und literarischen Diskursen 1912

jegliche Rolle in der Geschichte abspricht, sucht er im romantischen Sinne nach den ›Helden‹, die Geschichte ›machen‹: И все-таки Петр Никифорович не мог помириться с мыслью, что Москва сгорит нынешнею ночью. Фигнер до этого казался ему слишком маленьким, тоже и Потресса, и этот мыловар, и Аким. Такие люди не делают истории. Но ведь собирается же Фигнер застрелить Наполеона. Разве это событие, если бы это совершилось не остановило бы других событий, течение которых может быть лишь прервано смертью Наполеона. И разве тогда имя Фигнера не вошло бы в историю и не стало бы неразлучным с именем Бонапарта? (143) Und doch konnte sich Petr Nikiforovič nicht mit dem Gedanken anfreunden, dass Moskau in dieser Nacht abbrennen würde. Dafür erschien ihm Figner zu klein, genauso wie Potressa, und dieser Seifensieder, und Akim. Solche Leute machen keine Geschichte. Aber Figner will doch Napoleon erschießen. Würde denn dieses Ereignis, wenn es denn geschehen würde, nicht die anderen Ereignisse stoppen, deren Lauf nur durch Napoleons Tod unterbrochen werden kann. Und würde dann Figners Name nicht in die Geschichte eingehen und untrennbar mit dem Bonapartes verbunden sein? Dieser Widerspruch wird durch eine Initiation des Helden im Sinne der nationalpatriotischen Idee aufgelöst. Im entscheidenden Moment der russischen Geschichte erkennt Petr Nikiforovič hinter dem scheinbar willkürlichen Abbrennen Moskaus durch Figner und seine Mitstreiter eine besondere mystisch-messianische Bedeutung. Dabei distanziert er sich von der alten, durch die Französische Revolution hervorgebrachten und in der Person Napoleons idealtypisch verkörperten Vorstellung, dass ›Helden‹ die Geschichte ›machen‹, und identifiziert sich mit der Idee des »napoleonischen Narrativs«, in dem der Brand von Moskau als hohes Opfer des russischen Volkes für das Wohl Russlands gilt. Dieser Prozess wird auch auf der symbolischen Ebene unterstrichen, als sich Petr Nikiforovič in diesem Moment von den A fekten des Krieges befreit und »Kälte« und »Weite« im Herzen fühlt: Только в эту минуту он понял, что Москва, кто бы сейчас но [sic!] действовал в ней, приносила себя в жертву, отдавалась на смерть не потому, что так хотели действовавшие в ней люди, а потому, что так должно быть, что и Фигнер явился на свет для нее, для Москвы, и Потрессу судьба загнала сюда тоже для того, чтобы он приготовил эти свои самовозгорающиеся бомбы… И не может Москва сгореть… Сгорят только здания, дома, церкви, башни, но то невещественное, что есть для него и для многих других в этом понятии »Москва«, останется…

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Святыня останется. Сгорят [sic!] лишь оболочка. И от этой мысли, пронзившей его мозг, сразу стало как-то и холодно, и просторнее на душе. (146) Erst in diesem Augenblick begri f er, dass Moskau, wer immer dort jetzt auch zu Werke ging, sich nicht deswegen opferte und dem Tode hingab, weil die dort agierenden Menschen es so wollten, sondern weil es so sein sollte; dass auch Figner dafür, für Moskau, auf die Welt gekommen und auch Potressa vom Schicksal hierher getrieben worden war, damit er seine selbstzündenden Bomben bauen konnte… Und Moskau kann auch nicht abbrennen… Es werden nur Gebäude, Häuser, Kirchen, Türme verbrennen, doch jenes Immaterielle, was für ihn und viele andere »Moskau« bedeutet, wird bleiben… Das Heiligtum wird bleiben. Nur die Hülle wird verbrennen. Und von diesem Gedanken, der ihm durch den Kopf schoss, wurde ihm irgendwie kalt und zugleich freier in der Seele. Als Ergebnis dieser Initiation kann man auch den Umstand betrachten, dass Petr Nikiforovič nach dem Brand von Moskau – wenn auch »mit dem geheimen, nie ausgesprochenen Vorhaben, irgendwo im Kampf auf Formoza zu tre fen« [»с скрытым, никому не высказанным намерением встретиться где-нибудь в бою с Формозой«] (150) –, in die Armee eintritt. Die Vorstellung von der einheitlichen, zeitlich eingegrenzten ›glorreichen Epoche von 1812‹ wird auch dadurch geformt, dass Košurov die Ungewissheit der historischen Ereignisse bzw. die Unmöglichkeit deren objektiver retrospektiver Rekonstruktion auf der persönlichen Ebene des Protagonisten betont. Gerade die literarische Überbrückung der historischen Distanz macht die Problematik der verlässlichen Tradierung des historischen und individuellen Wissens deutlich, wie sie auch im Roman G.P. Danilevskijs thematisiert wurde (vgl. Kap. 4.4.). Die Schwierigkeit einer objektiven Geschichtsdarstellung ergibt sich bereits aus Košurovs Poetik des Krieges – dem betont a fektiven, nicht rationalen Verhalten der Protagonisten, das von Hass oder religiöser Ekstase beherrscht ist –, sowie aus den zentralen Motiven der erschwerten Kommunikation und der Missverständnisse im besetzten Moskau. Die Perspektive auf die historischen Ereignisse von 1812 wird insbesondere durch das Motiv der Schauspielerei konstruiert, das Formoza als Abenteurer und pikaresker Held par excellence verkörpert. Als Formoza festgenommen wird, hält Petr Nikiforovič mit seinem neutralen Blick die eatralik seines Verhaltens fest: Он взглянул на Формозу, чтобы проверить себя. И понял сейчас же, что Формоза вопит таким ужасным образом не потому, что Фигнер или кто-нибудь другой из »изуверов« могут прикончить его в любую минуту, и он верит в это […], а потому, что вошел во вкус этой новой для него роли… […] Истинного ужаса в нем не было. Был это тот балаганный, смешной и нелепый ужас. (139)

5 Der »Vaterländische Krieg« in literaturkritischen und literarischen Diskursen 1912

Er schaute auf Formoza, um sich zu vergewissern. Er verstand sofort, dass Formoza nicht deswegen so schrecklich schrie, weil Figner oder jemand anderer von den »Fanatikern« ihn jeden Augenblick kaltmachen konnte und weil er das glaubte […], sondern weil er Gefallen an dieser für ihn neuen Rolle gefunden hatte… […] Er war nicht wirklich entsetzt. Es war jenes theatralische, komische und unsinnige Entsetzen. Bezeichnenderweise wird die Epoche von 1812 von den Protagonisten in betont literarischen Codes wahrgenommen. Petr Nikiforovič, der sich in seiner romantischen Verträumtheit »wie im Schlaf« (vgl. 138, 139) an Figners Plänen beteiligt, betrachtet den Brand von Moskau als einen mystisch-fatalistischen »Traum« und als ein »Märchen«: И это [гроза перед пожаром, K.R.] тоже было похоже на сон или на сказку. Судьба играла ими, их жизнью, их счастьем, их надеждами. (142)

Und es [der Sturm vor dem Brand, K.R.] glich auch einem Traum oder einem Märchen. Das Schicksal spielte mit ihnen, mit ihrem Glück, mit ihren Ho fnungen. Formoza dagegen sieht sich als »Helden« seines eigenen »Romans«: Смерть его не страшила ни капельки, так как о смерти он менее всего думал, все время переживая такое состояние, будто он спит и видит во сне какой-то необычайно интересный роман, который и сам читает и вместе с тем изображает в этом романе одно из главных действующих лиц. (134, Hervorhebung K.R.) Vor dem Tod fürchtete er sich nicht im geringsten, weil er an ihn am wenigsten dachte und die ganze Zeit in einem Zustand lebte, als würde er schlafen und von einem ungemein interessanten Roman träumen, den er selbst las und in dem er gleichzeitig eine der Hauptpersonen darstellte. Außerdem wird auch der Memoirencode aufgegri fen, wodurch insbesondere die Tradierung der Erinnerung an historische Ereignisse problematisiert wird. Die Vagheit der retrospektiven Rekonstruktion historischer Ereignisse wird dabei mit dem Motiv von »Tausend und einer Nacht« ausgedrückt, vgl. die Worte Formozas: Знаете, когда-нибудь, ведь, нужно же мне будет уйти на отдых, устраниться от дел, и тогда я напишу свои воспоминания… Я назову их »Тысяча одно приключение«… (119) Wissen Sie, irgendwann werde ich mich doch zur Ruhe setzen und mich von den

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Geschä ten zurückziehen, und dann werde ich meine Erinnerungen niederschreiben. Ich werde sie »Tausend und ein Abenteuer« nennen… Die Verfremdung bzw. ironische Brechung der Realien des Krieges von 1812 in Košurovs Text legt den Gedanken nahe, dass Geschichte nur aus der subjektiven Sicht in literarischer Form als ein weit zurückliegendes Abenteuer rekonstruierbar ist. Hierin zeigt sich die grundlegende Ambivalenz der persönlichen Perspektive: Einerseits festigt sie die Vorstellung von der ›ruhmreichen Epoche‹ der nationalen Geschichte, indem sie am Authentizitätszuspruch eines Augenzeugenberichts partizipiert. Andererseits beinhaltet sie stets ein subjektives Moment. Die Unzuverlässigkeit der persönlichen Erinnerung erö fnet Raum für Phantasie und einen freien/künstlerischen Umgang mit Geschichte, was explizit mit dem Verfassen von Memoiren angedeutet wird. Dies wird insbesondere im Ausblick auf das Schicksal Formozas betont, in dem die Vermischung und prinzipielle Austauschbarkeit der historischen Ereignisse und Details zum Ausdruck kommt. Damit lässt sich insbesondere das sinnsti tende und authentisierende Potenzial literarischer Texte illustrieren: Die ›Geschichte‹ wird buchstäblich erst im Moment ihrer narrativen Vermittlung grei bar: Что же касается до Формозы, то он скоро совершенно позабыл и Петра Никифоровича, и Брониславу. То есть он не то, чтобы их забыл, но с течением времени его воспоминания о днях, проведенных в Москве, как-то спутались и перемешались. Он любил рассказывать об изуверской секте, едва было не принесшей его в жертву безобразному деревянному идолу.41 Откуда и зачем он выдумал этого идола, – неизвестно. Но деревянный идол, когда он начинал о нем рассказывать, рисовался ему всегда очень отчетливо. А Петра Никифоровича он почему-то представлял себе очень благообразным старцем с седой бородой, похожим на патриарха. Единственно кого он хорошо помнил, так Берту, да и то потому, что она угощала его настоящим виноградным вином. (150-151, Hervorhebung K.R.) Was Formoza betri t, so hatte er bald sowohl Petr Nikiforovič als auch Bronislava vollkommen vergessen. Das heißt nicht, dass er sie bewusst vergaß, doch irgendwie verwirrten und vermischten sich im Lauf der Zeit seine Erinnerungen an die Tage, die er in Moskau verbracht hatte. Er erzählte gern über eine fanatische Sekte, die ihn fast einem hässlichen hölzernen Idol geopfert hätte. Woher und wozu er sich dieses Idol ausgedacht hatte, ist unbekannt. Doch sobald er begann, darüber zu erzählen, konnte er sich das hölzerne Idol ganz deutlich vorstellen. Und Petr Nikiforovič stellte er sich aus

41

An einer früheren Stelle im Text spricht Formoza noch vom »steinernen Idol« (131).

5 Der »Vaterländische Krieg« in literaturkritischen und literarischen Diskursen 1912

irgendeinem Grund als einen überaus würdigen Greis mit grauem Bart vor, der einem Patriarchen ähnlich sah. Das Einzige, woran er sich gut erinnerte, war Berta, und auch das nur, weil sie ihn mit echtem Traubenwein bewirtet hatte. Die glückliche Au lösung aller Kon likte am Ende des Romans verdeutlicht das zentrale Prinzip der Identifikation des Lesers mit der nationalen Geschichte: Košurovs Text bietet es ihm an, zusammen mit den Helden des Romans ›Zeuge‹ und ›Zuschauer‹ der Schlüsselereignisse der russischen Geschichte zu werden, wobei realhistorische Widersprüche in einem (ideo)logischen künstlerischen Bild aufgehoben werden. Darin spiegelt sich nicht nur die für das Jubiläumsjahr 1912 charakteristische Tendenz zur Rehabilitation des historischen Gegners Frankreich, sondern auch das allgemeine antimilitaristische Pathos wider, wie es für die Geschichtsdarstellungen der Jahrhundertwende vom 19. zum 20. Jahrhundert typisch war. Der Triumph des persönlichen Glücks, der im Namen Petr Nikiforovičs programmatisch verankert ist (Mironov < ›mir‹ [russ. ›Frieden‹], Nikiforovič < griech. ›Sieger‹, buchst. ›Sieg des Friedens‹), und das Happy End des Romans dienen ebenfalls der Formung einer abgeschlossenen Vorstellung von der Epoche von 1812, die von einer weiteren Sedimentierung der Erinnerung an die Epoche von 1812 im russischen kulturellen Gedächtnis zeugt. In Einklang mit der von A.S. Puškin und M.Ju. Lermontov popularisierten Formel des ›Sturmes‹ bzw. des ›Donners des Jahres 1812‹ [›groza 1812 goda‹]42 wird der Krieg gegen Napoleon zwar als ›schreckliches‹, aber schnell vorübergehendes und im Grunde harmloses ›Gewitter‹ und als faszinierendes heroisches Abenteuer imaginiert.

5.4.4

Resümee zu Kapitel 5.4.

Das Werk I.A. Ljubič-Košurovs lässt sich als originelles Beispiel der historischen Prosa aus dem Jubiläumsjahr 1912 anführen, die den Anspruch auf eine subjektive Verarbeitung des »Vaterländischen Krieges« erhebt und zugleich die Möglichkeit einer verlässlichen Tradierung des historischen Wissens vor dem Hintergrund des 100-jährigen Jubiläums problematisiert. Während Košurov in der Erzählung »Partizany 1812 goda« den Schwerpunkt auf eine realistische Rekonstruktion des Bauernalltags legt und die A fekte des »Volkskrieges« in den Mittelpunkt rückt, lässt sich der Roman »Požar Moskvy v 1812 godu« als Versuch einer betont fiktionalisierten Darstellung des »Vaterländischen Krieges« betrachten. Die Epoche von 1812 wird als spannendes Abenteuer imaginiert, was einerseits auf die Unterhaltung und Bildung des (kindlichen) Lesers abzielt und andererseits von der zeitlichen Distanz und der fortschreitenden Mythisierung der Epoche von 1812 zeugt.

42

Vgl. Puškins Versroman »Evgenij Onegin« (1823-1831) (Puškin 1978c:180) und Lermontovs Gedicht »Dva velikana« [»Zwei Riesen«] (1832) (Lermontov 1989a) sowie Kap. 1.2.

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Napoleon und der »Vaterländische Krieg« in Russland

Die zeitgenössische Rezeption von Košurovs Werken erlaubt es, einen Schluss über den Status von ›Fakten‹ in der historischen Prosa über den »Vaterländischen Krieg« zu ziehen. Eine Analyse der historischen Stilisierung zeigt, dass es sich bei fiktionalen Details meist nicht um reine Erfindung, sondern um ›apokryphe‹ Fakten ›zweiter Reihe‹ handelt, die bezeichnenderweise mit den Erkenntnissen der ›liberalen‹ Historiker aus dem Jubiläumsjahr 1912 übereinstimmen. Die stark negative Reaktion der Kritiker auf Košurovs alternative Auslegung der zentralen Topoi des »napoleonischen Narrativs« (die absichtliche Brandsti tung durch eine organisierte Gruppe patriotisch gesinnter Einwohner und die Beteiligung des Partisanen Figner am Brand von Moskau in »Požar Moskvy…«) macht die Selektionsprozesse bei der Tradierung der Erinnerung an den »Vaterländischen Krieg« und den diskursiven Charakter von Geschichtsvorstellungen deutlich. Trotz der täuschend realistischen Rekonstruktion der Perspektiven der Volkskämpfer in »Partizany…« und der originellen literarischen Gestaltung einer Legende um den Partisanen Figner in »Požar Moskvy…«, die durchaus den Prinzipien der Unterhaltsamkeit und der künstlerischen Synthese von ›Fakt‹ und ›Fiktion‹ entsprechen, zeigt sich, dass eine rein fiktionale bzw. abenteuerliche Verarbeitung des »Vaterländischen Krieges« sowohl von konservativ als auch von liberal orientierten Kritikern abgelehnt wurde. Beide Texte lassen Košurovs antimilitaristische Haltung erkennen, die als Folge des russisch-japanischen Krieges 1904-1905 zu sehen ist. Zugleich wird auch die Schwierigkeit einer adäquaten Kriegsdarstellung für Kinder deutlich, wie sie auch unter Pädagogen in den 10er Jahren des 20. Jahrhunderts diskutiert wurde (vgl. Mjaėots 2016). Einerseits liefert Košurov eindrucksvolle Bilder für den »Volkskrieg« oder für die patriotische Opferung von Moskau, womit er die o fizielle Kriegsinterpretation im Jubiläumsjahr 1912 stützt. Andererseits schildert er den Krieg als kollektiven A fektzustand, der zur psychischen Deformation der Persönlichkeit führen kann. Genauso ambivalent erscheinen die Romantisierung des Kosakenlebens oder der a firmative Umgang mit Wa fen, die als Elemente des spielerischen Lernens und der Unterhaltung des (kindlichen) Lesers dienen. Somit ist Košurovs historische Prosa im komplexen Spannungsfeld zwischen der humanitären Verurteilung des Krieges, der Konzentration auf Bildung und Unterhaltung und der notwendigen Anpassung an das traditionelle »napoleonischen Narrativ« zu verorten. Die literarische Darstellung des »Vaterländischen Krieges« lässt sich in »Požar Moskvy…« im Spannungsfeld zwischen der idealtypischen Aktualisierung der Topoi des »napoleonischen Narrativs« und deren Verfremdung bzw. ironischer Brechung beschreiben. Hierzu konstruiert Košurov Figuren, deren Erkenntnishorizont einerseits ausschließlich durch die von ihnen artikulierten Ideologeme bestimmt wird (Figner, Potressa, Seifensieder). Andererseits verfügen der adoleszente Held Petr Nikiforovič und der Ausländer Formoza über den verfremdenden Blick von Außenstehenden. Dies erö fnet den Weg zur Fiktionalisierung der Geschichtsdarstellung:

5 Der »Vaterländische Krieg« in literaturkritischen und literarischen Diskursen 1912

Mithilfe dieser Figuren werden historische Ereignisse in literarische Traditionen und Muster eingeschrieben und durch Parallelismen und die sujetbildenden Motive der sozialen Hierarchie und der erschwerten Kommunikation zusätzlich codiert. Aufschlussreich für die Repräsentation der historischen Ereignisse im Jubiläumsjahr 1912 erscheint vor diesem Hintergrund die zentrale Metapher des ›Dramas der Geschichte‹, die den Krieg von 1812 als herausragendes Ereignis und ›Knotenpunkt‹ der russischen nationalen Geschichte stilisiert. Somit geht Košurov in seinen Texten mit der o fiziellen Kriegsinterpretation im Jubiläumsjahr 1912 konform, indem er die zentralen Topoi des »napoleonischen Narrativs« wie die Einheit aller Schichten im Kampf gegen Napoleon und die messianische Bedeutung des Brandes von Moskau dem (kindlichen) Leser in unterhaltsamer Form vermittelt. Zugleich sind die eatermetaphorik und der Fokus auf eine betont fiktionalisierte und abenteuerliche Verarbeitung der Epoche von 1812 auch als Re lexe der historischen Distanz zu sehen und stehen für die prinzipielle Unzuverlässigkeit des historischen Wissens, die bereits im Roman G.P. Danilevskijs thematisiert wurde (vgl. Kap. 4.4.). Während die Kriegserfahrung bei Danilevskij über das individuelle und kommunikative Gedächtnis noch bedingt kommunizierbar ist, tritt bei Košurov an diese Stelle die Imagination des Autors. Dabei kommt es zur Festigung der besonders von A.S. Puškin und M.Ju. Lermontov geprägten Metapher vom ›Sturm/Donner des Jahres 1812‹ [›groza 1812 goda‹]: Der »Vaterländische Krieg« wird aus historischer Distanz zu einem stürmischen, aber im Grunde harmlosen und glücklich endenden Abenteuer stilisiert.

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6 Napoleon und der »Vaterländische Krieg« zwischen Unterhaltung und o zieller Propaganda

Während sich die bereits besprochenen literarischen Werke von Vasilij Petrovič Avenarius (1839-1923) und Ioasaf Arianovič Ljubič-Košurov (1872-1937) vor allem an den kindlichen Leser richten und von einer bildungsdidaktischen Intention gekennzeichnet sind, lässt sich im Jubiläumsjahr ein breites Segment populärer Medien ausmachen, die im weitesten Sinne der Unterhaltung des erwachsenen Lesers dienten. Das Spektrum reicht hier von Komödien und Kurzgeschichten bis zu hybriden Gebilden, die an der Kreuzung unterschiedlicher Gattungen entstehen und die Idee der Synthese von Text, Bild, Musik und Schauspiel mithilfe modernster technischer Errungenscha ten umsetzen. Charakteristischerweise rückt in diesen Werken wiederum die Figur Napoleons in den Mittelpunkt, deren traditionelle Popularität auch durch die kommerzielle Jubiläumskultur gesteigert wurde (vgl. Schneider 2001:58; Lapin 2012a:207-211). Die Hinwendung zur Napoleon-Figur wurde gewiss auch vom Verbot der russischen Zensur begünstigt, Zarenfiguren auf der eaterbühne zu zeigen, das erst 1913 anlässlich des 300-jährigen Jubiläums der Romanovs weitgehend aufgehoben wurde (vgl. Wortman 2000:484; Jangirov 2007). So lässt sich die große Popularität der Komödien des russischen Dramatikers und Schauspielers Vladimir Aleksandrovič Mazurkevič (1871-1942), der Napoleon in familiärer Atmosphäre mit Josephine zeigt und seine Liebea fären auf eine humorvolle Art schildert (z.B. »Napoleon i ženščiny« [»Napoleon und die Frauen«], Mazurkevič 1912), auch als Zeichen des Bedürfnisses des einfachen Publikums nach einer gerechten Herrscherfigur bzw. einer obersten Autorität erklären, die alle Kon likte schließlich in einem Happy End au löst. Die damit verbundene Überschreitung der sozialen Hierarchie, die sich in ihrer extremen Form z.B. bei der expliziten ematisierung von Napoleons Intimleben und seiner körperlichen Mängel in den Feuilletons zeigt (z.B. Šebuev 1912), spiegelt zugleich die Logik des traditionellen »napoleonischen Narrativs« wider, indem sie die symbolische Überlegenheit des einfachen Rezipienten über den degradierten ›besten Feldherrn aller Zeiten‹ suggeriert. Im Folgenden soll die Funktionalisierung der Napoleon-Figur in den populären Medien des Jubiläumsjahres 1912 anhand dreier Fallbeispiele exemplarisch beleuch-

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Napoleon und der »Vaterländische Krieg« in Russland

tet werden. Mit der Erzählung des russischen Publizisten Fürsten Boris Aleksandrovič Ščetinin (18??–nach 1912) lässt sich der Übergang von der erziehungsdidaktischen Prosa von V.P. Avenarius und I.A. Ljubič-Košurov, die sich um eine realistische Darstellung im Sinne von Aleksandr Sergeevič Puškins (1799-1837) Konzept der historischen Prosa bemühen (vgl. Kap. 4.1.), zu einer Unterhaltungsliteratur veranschaulichen, die sich zwar auch der traditionellen Klischees und Topoi bedient, jedoch gerade aus einer eklektischen Zusammenführung von Sujetlinien und Motivketten ihren Reiz für den erwachsenen Leser bezieht (Kap. 6.1.). Mit verschiedenartigen musikalischen Werken sollen vor allem die Prozesse der intermedialen Synthese und des intermedialen Transfers als Merkmale der populären Medien des Jubiläumsjahres beleuchtet werden (Kap. 6.2.). Am Beispiel der filmischen Verarbeitung der Geschichte des »Vaterländischen Krieges« wird schließlich gezeigt, wie die modernsten Medien in der o fiziellen Jubiläumskultur vereinnahmt wurden (Kap. 6.3.).

6.1

B.A. Ščetinin: »Otrublennyj palec (Ėpizod iz ėpochi Otečestvennoj vojny)« (1912)

Der heutzutage kaum bekannte Literat und Publizist Fürst Boris Aleksandrovič Ščetinin (18??–nach 1912) verö fentlichte Ende des 19. Jahrhunderts literarische Erzählungen (Ščetinin 1892, 1900) sowie Skizzen über die Moskauer Universität (Ščetinin 1906) und das russische literarische Leben (Ščetinin 1911). In der heutigen Forschung wird Ščetinin vor allem als ein Zeitzeuge erwähnt (z.B. Vostryšev 2007), der mit Literaten und Kulturscha fenden seiner Zeit in Kontakt stand, darunter dem Direktor der Kaiserlichen eater Ivan Aleksandrovič Vsevolžskij (1835-1909) (vgl. Gurova 2014:13), dem Herausgeber und Redakteur der Moskauer Boulevardzeitung »Moskovskij listok« [»Moskauer Blatt«] Nikolaj Ivanovič Pastuchov (1831-1911) (vgl. Egorova 2007:84) oder dem Schri tsteller Anton Pavlovič Čechov (1860-1904) (vgl. Ščetinin 1911:882). Die Erzählung Ščetinins »Otrublennyj palec (Ėpizod iz ėpochi Otečestvennoj vojny)« [»Der abgehackte Finger (Eine Episode aus der Epoche des Vaterländischen Krieges)«] (Ščetinin 1912) widmet sich dem für das Jubiläumsjahr 1912 typischen Topos der Besetzung Moskaus durch die französische Armee (vgl. Pokrovskij 1913:129130). Dem aus sechs Kapiteln bestehenden Text wird ein kurzer Vorspann vorangestellt, in dem sich der Erzähler als Herausgeber eines alten Manuskripts ausgibt, das er bei einem Antiquar entdeckt und für den Leser au bereitet habe. Strukturell zerfällt der insgesamt 13 Seiten umfassende Text in zwei ungleiche Teile. Den größten Teil nimmt die Exposition ein, die in Form einer Binnengeschichte gestaltet wird. Die eigentliche Handlung, die sich am 2. September 1812 abspielt, als

6 Napoleon und der »Vaterländische Krieg« zwischen Unterhaltung und o zieller Propaganda

die französischen Truppen in Moskau einmarschieren, nimmt dagegen nur wenige Absätze am Ende der Erzählung ein. In der Exposition wird das Leben der schönen 40-jährigen Witwe Marfa Danilovna Golubkina geschildert. Seit vier Jahren lebt sie mit dem 19-jährigen »Kopisten des Ordnungsamtes« [»пис[ец] управы благочиния«] (Ščetinin 1912:570) Nikolaj Petrovič Eleonskij zusammen, den sie ein Jahr nach dem Tod ihres Gatten kennen lernte, als sie ihm ein Zimmer in ihrem Haus vermietete. Der Leser erfährt, dass Marfa Danilovna den Tod ihres Ehemannes mit ihren Liebesa fären mit verursacht hatte: Nachdem dieser von ihren A fären erfuhr, begann er zu trinken und schnitt sich letztendlich im Alkoholdelirium die Kehle durch. Zwischen Marfa Danilovna und Eleonskij, der als sehr frommer, keuscher und gottesfürchtiger junger Mann eingeführt wird, entwickelt sich zunächst eine Mutter-Sohn-Beziehung. Dann verführt Marfa Danilovna ihren jungen Mieter, und zwischen den beiden entwickelt sich eine Liebesbeziehung. Eleonskij betet Marfa Danilovna an, doch sie will aus Erfahrung und Rücksicht auf die gesellscha tliche Konvention vorerst keine neue Ehe mit dem deutlich jüngeren Mann eingehen. Als die beiden mit den Nachrichten über den Anmarsch der französischen Armee auf Moskau konfrontiert werden, versucht Eleonskij, der unbeirrt an Gottes Schutz und den Erfolg der russischen Armee glaubt, Marfa Danilovna zu beruhigen, die am Vorabend der Besetzung Moskaus geträumt hatte, dass sie in ihrem Haus von Unbekannten geschlagen und gewürgt wird. Am 2. September 1812, als die Franzosen Moskau besetzen, läu t Eleonskij – voller Überzeugung, durch Gebete das Unheil von Moskau noch abwenden zu können –, in eine Kirche. Währenddessen wird Marfa Danilovna in ihrem Haus von einem polnischen und zwei französischen Soldaten der Grande Armée überwältigt, die nach Trophäen und Essen suchen. Die Soldaten versuchen, ihr zwei goldene Trauringe vom Zeigefinger zu reißen, und als ihnen das nicht gelingt, hacken sie ihr den Finger ab. Eleonskij, der gerade nach Hause zurückkehrt und Zeuge dieser Szene wird, beschließt, die Feinde mit List zu besiegen. Er bittet die Soldaten, ihm den abgehackten Finger zu geben, und verspricht ihnen dafür mehr Schmuck, der angeblich in einer Scheune hinter dem Haus versteckt ist. Die Erzählung endet damit, dass Eleonskij die Soldaten in die Scheune lockt, sie dort einsperrt und die Scheune in Brand setzt. Der Modus der Betrachtung der historischen Ereignisse wird in Ščetinins Erzählung in großem Maße durch die Herausgeber- bzw. Manuskriptfiktion festgelegt. Ähnlich wie bei der Tagebuchfiktion in den Werken von V.P. Avenarius (vgl. Kap. 5.3.2., 5.3.3.) ermöglicht sie es einerseits, eine neue historische Episode einzuführen und deren Authentizität zu begründen ‒, nicht zuletzt, um der Gattung der historischen Prosa gerecht zu werden. Andererseits dient sie als typisches Merkmal des fiktionalen Erzählens dazu, den Leser zu unterhalten. Das signifikante Au brechen der Fiktion durch den Erzähler, der sich auf eine Ebene mit dem Leser stellt und die Herkun t des Textes sowie die äußeren Publikationsumstände kurz erläu-

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Napoleon und der »Vaterländische Krieg« in Russland

tert, lässt auch die charakteristische Logik der Hinwendung zum »Vaterländischen Krieg« erkennen: Die Epoche von 1812 wird dadurch zum kollektiven Fundus der nationalen Geschichte stilisiert, an die der populäre Leser herangeführt wird und an der er nun partizipieren kann: […] [К]акой-то анонимный автор неуклюжим, безграмотным языком описывает любопытный эпизод, имевший место в 1812 году во время нашествия французов. Рукопись эту с толстыми, синими, местами уже совершенно пожелтевшими страницами, пахнущими затхлым воздухом сырого подвала, я внимательно прочитал от первого до последнего слова, подверг тщательной литературной обработке и в нижеследующих строках решил представить на суд читателей »Исторического вестника«. (Ščetinin 1912:569, Hervorhebung K.R.) […] [I]rgendein anonymer Autor beschreibt in unbeholfener und fehlerha ter Sprache eine interessante Episode, die sich 1812 während der Invasion der Franzosen zugetragen hat. Dieses Manuskript mit dicken, blauen, teilweise schon ganz vergilbten Seiten, die nach der mu figen Lu t eines feuchten Kellers riechen, habe ich vom ersten zum letzten Wort aufmerksam gelesen, einer aufwändigen literarischen Überarbeitung unterzogen und beschlossen, es in den folgenden Zeilen den Lesern des »Historischen Boten« zur Beurteilung vorzulegen. Während die Authentizitätsfiktion in den Texten von V.P. Avenarius durch eine aufwändige Rekonstruktion der Perspektive eines Kriegsteilnehmers mithilfe von historischen Dokumenten hergestellt wird, setzt Ščetinin vielmehr auf die subjektive Authentizität, d.h. auf die emotionale Identifikation des Lesers mit der Geschichte (vgl. Pirker/Rüdiger 2010:16), wobei seiner künstlerischen Gestaltung der angeblichen historischen Quelle eine entscheidende Rolle zukommt. Die Authentizität des vermeintlich auf einem Büchermarkt gefundenen Manuskripts (»vergilbte Seiten«, »mu figer Geruch«) wird im Vorwort explizit an seine »sorgfältige literarische Bearbeitung« »vom ersten zum letzten Wort« durch den fiktiven Herausgeber geknüp t und dadurch erst hervorgebracht. Die künstlerische Gestaltung einer historischen Quelle avanciert somit zum alleinigen Maß und Garanten deren Authentizität, ebenso wie die Gunst des Lesers, dem das »Urteil« über die Geschichte überlassen wird. Ščetinins Manuskriptfiktion legt also nahe, dass die Geschichte nur noch durch das künstlerische Können des Schri tstellers und sein literarisches Spiel mit dem Leser erreichbar ist. Das Pathos der Vervollständigung der gemeinsamen Geschichte durch eine [noch unbekannte] »interessante Episode« verdeutlicht dabei den Mechanismus der Identifikation des Lesers mit der populären Geschichtsdarstellung: Diesem wird in Form eines literarischen Spiels die Deutungshoheit und Kontrolle über die Geschichte vermittelt. Die Frage, ob sich Ščetinin tatsächlich einer historischen Quelle bediente, erscheint somit als hinfällig.

6 Napoleon und der »Vaterländische Krieg« zwischen Unterhaltung und o zieller Propaganda

Eine wichtige Rolle bei der Herstellung der Authentizitätsfiktion spielte auch die Publikation der Erzählung in der Zeitschri t »Istoričeskij vestnik« [»Historischer Bote«], in der gewöhnlich neben historischer Prosa auch Memoiren und Archivdokumente publiziert wurden. Dass Ščetinin mit seiner Mystifikation Erfolg hatte und sein Text als historische Quelle wahrgenommen wurde, zeigt z.B. die Tatsache, dass der Militärhistoriker Nikolaj Mitrofanovič Zatvornickij (1867–nach 1916) die Erzählung in sein bibliographisches Verzeichnis zur napoleonischen Epoche neben Memoirenquellen und Archivmaterialien mit dem folgenden Kommentar aufnahm: »По словам автора, этот эпизод заимствован из старинной рукописи, найденной на одном из московских рынков.« [»Nach den Worten des Autors ist diese Episode aus einem alten Manuskript entlehnt, das auf einem der Moskauer Büchermärkte gefunden wurde.«] (vgl. Zatvornickij 1914:326, Nr. 1729). Die Wirkungsmacht dieser Tradition lässt sich bis ins 21. Jahrhundert verfolgen. Auch wenn ein moderner russischer Forscher die Geschichte mit dem gefundenen Manuskript sofort als Kunstgri f durchschaut, zwingt ihn die Manuskriptfiktion dazu, Ščetinins Erzählung in der Tradition der russischen historischen Prosa zu betrachten und dabei aus der Perspektive der ›Hochkultur‹ als Beispiel für tendenziöse und kommerzielle Massenliteratur des Jubiläumsjahres zu diskreditieren. Ohne das künstlerische Potenzial der Manuskriptfiktion zu berücksichtigen und die Möglichkeit eines bewussten Spiels in Betracht zu ziehen, leitet der Kritiker die niedrige Qualität von Ščetinins Text aus dessen mangelnder Authentizität ab: »Автор выдает свое сочинение за найденную у букиниста рукопись, но даже не пытается воссоздать взгляд и речь человека того времени и той среды, которые представлены в рассказе.« [»Der Autor gibt sein Werk für ein bei einem Antiquar gefundenes Manuskript aus, versucht jedoch erst gar nicht, den Blick und die Sprache eines Menschen aus dem Milieu und der Epoche zu rekonstruieren, in der sich die Erzählung abspielt.«] (vgl. Kotel’nikov 2012:325-326, hier S. 326, Hervorhebung K.R.). Diese Beispiele machen deutlich, dass die Forderung nach einer authentischen Geschichtsdarstellung ein zentrales Kriterium für die Bewertung der literarischen Jubiläumswerke war und zum Teil auch heute ist. Somit ist Ščetinins literarisches Spiel mit dem Leser stets im Spannungsfeld zwischen der notwendigen Anpassung an die Gattungsvorgaben der historischen Prosa und der literarisch-fiktionalen Brechung des Kriegsnarrativs zu sehen. Die historische Kulisse der Epoche von 1812 wird in Ščetinins Erzählung über Zeitangaben, historische Realien (z.B. »Kopist«, »Ordnungsamt«, »Schlacht von Borodino«, Straßennamen u.a.) und Klischees der o fiziellen Rhetorik konstruiert. Trotz des kleinen Umfangs benennt der Text die wichtigsten Topoi des »napoleonischen Narrativs«, z.B. die Überquerung der Memel durch die Grande Armée, die Einnahme von Smolensk und den Rückzug der russischen Armee, die Absetzung Barclay de Tollys und die Ernennung Kutuzovs zum Oberbefehlshaber, die Schlacht von Borodino, die Besetzung Moskaus und die Feindbilder Frankreich und Polen.

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Bezeichnenderweise geht die Aktualisierung des Kriegsnarrativs im populären Text mit dessen retrospektiver Berichtigung einher. So werden z.B. die Ho fnungen der Moskauer Gesellscha t auf die Rettung Moskaus durch die göttliche Vorsehung als zu optimistische Illusionen entlarvt (vgl. Ščetinin 1912:578). In für das Kriegsnarrativ des Jahres 1912 charakteristischer Weise wird auch Barclay de Tolly rehabilitiert (vgl. Žerve 1912; Mel’gunov 1912e; zur Figur Barclays siehe Tartakovskij 1996, 1997b), indem die Gerüchte über seinen Verrat entschieden als eine »böse, jeglicher Grundlage entbehrende Erfindung« [»злая, ни на чем не основанная выдумка«] zurückgewiesen werden (Ščetinin 1912:577). In dieser retrospektiven ›Richtigstellung‹ der historischen Wahrheit manifestiert sich der bereits erwähnte Anspruch des populären Textes auf die Deutungshoheit über die Geschichte. Mit ihren eindeutigen und klaren Stellungnahmen liefert Ščetinins Erzählung ein vereinfachendes Erklärungsmodell für historische Ereignisse und vermittelt dem Leser die Illusion des Zugri fs auf die Geschichte, die für ihn als wichtiges Identifikationsmoment fungiert. Der historische Sto f in »Otrublennyj palec« wird durch die Kombination zweier traditioneller Topoi des »napoleonischen Narrativs« repräsentiert, nämlich der Besetzung Moskaus durch die Franzosen und der im russischen lubok intensiv verarbeiteten Geschichte der starosticha [Dorfältesten] Vasilisa – einer Bäuerin, die nach der Ermordung ihres Ehemannes durch die Franzosen zusammen mit anderen Dor bewohnern auf eigene Faust einen Vernichtungskampf gegen den Feind aufnimmt (vgl. Višlenkova 2011:162-163; 195-197). Die beiden Topoi werden im Rückgri f auf eine breite Palette von Sujets und Motiven der russischen Literatur des 19. Jahrhunderts gestaltet. Die Handlung strukturiert sich durch die in der historischen Prosa über den Krieg von 1812 bereits etablierten Motive der romantischen und der durch den Krieg verhinderten Liebe (vgl. die Werke von M.N. Zagoskin, A.S. Puškin, R.M. Zotov, G.P. Danilevskij, D.S. Dmitriev, I.A. Ljubič-Košurov). Außerdem werden auch weitere Motive aktiviert, z.B. das Motiv des Liebesdreiecks bzw. der verbotenen Liebe, das über die Figur von Marfa Danilovnas hübschem Dienstmädchen Aksjuša angedeutet wird, oder das der ungleichen Liebe, das über den Unterschied im Alter und in der sozialen Stellung der Helden ausgedrückt wird (vgl. D.S. Dmitrievs »Dva imperatora« [»Zwei Imperatoren«] (1896), Kap. 4.2.). In der Personengestaltung lassen sich zahlreiche Bezüge zur russischen Literatur des 19. Jahrhunderts erkennen. Der Hauptheld Eleonskij zeigt sowohl romantisch-sentimentale Züge (vgl. N.M. Karamzins »Bednaja Liza« [»Die arme Liza«] (1792)) als auch Züge des ›kleinen Menschen‹ [›malen’kij čelovek‹], die von der russischen Literatur des 19. Jahrhunderts in N.V. Gogol’s »Šinel’« [»Der Mantel«] (1842) und in F.M. Dostoevskijs »Bednye ljudi« [»Arme Leute«] (1845) vorgeprägt wurden. Der Typus der Hauptheldin Marfa Danilovna (›gut aussehende Witwe zwischen einsamer Trauer und sinnlichem Verlangen‹) ru t z.B. das einaktige eaterstück A.P. Čechovs »Medved’« [»Der Bär«] (1888) in Erinnerung. Über das zentrale Motiv

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des abgehackten Fingers rekurriert der Text auch auf eine breite Märchentradition, in der z.B. auch der »Räuberbräutigam« der Brüder Grimm steht (zur Semantik des Fingermotivs vgl. Klíma 1984). Für Ščetinins Text scheinen insbesondere die Motive der Bestrafung eines falschen Helden und der Verlobung bzw. des Verlobungsrings relevant zu sein (vgl. Propp 2000:70-72). Die fragmentarische Aktualisierung des »napoleonischen Narrativs« und der russischen literarischen Tradition, die den erwachsenen Leser zur Aufdeckung von intertextuellen Parallelen anregen und ihn somit dazu bringen sollte, sich mit dem Text zu identifizieren, geht mit einer satirischen Brechung des traditionellen Kriegsnarrativs einher, die eine weitere Identifikationsgrundlage darstellt. Die Protagonisten tragen sprechende Namen, und ihre Charaktere werden nach dem Prinzip des Oxymorons konstruiert. Der Nachname von Marfa Danilovna (Golubkina, abgeleitet von ›golubka‹, dt. ›Taube‹, ›Täubchen‹), ihr schönes Aussehen und mütterliches Au treten gegenüber Eleonskij stehen im Widerspruch zu ihren früheren Liebesa fären und ihrer einsamen Witwentrauer (Mutter vs. Sünderin). Die Figur von Eleonskij polarisiert sich gleich in zwei Oppositionen. Die erste resultiert aus dem Widerspruch zwischen seiner romantischen Liebe zu Marfa Danilovna, für die er o fenbar eine inzestuöse Liebe empfindet und die für ihn gleichzeitig zur Mutter und Geliebten wird, und seiner übertriebenen Frömmigkeit und Gottesfurcht, die durch seinen »seminaristischen Nachnamen«1 (abgeleitet von der Eleonskaja gora, dem Ölberg in Jerusalem) unterstrichen werden. Die zweite Opposition beruht auf einem Spiel mit Genderrollen. Vom Typus des romantischen Helden erbt Eleonskij durchaus positive Eigenscha ten und wird zu Beginn der Geschichte als unschuldiger, gutmütiger und aufrichtig liebender junger Mann eingeführt. Doch gleichzeitig, nicht zuletzt unter dem Ein luss des Motivs des ›malen’kij čelovek‹, das seine Armut und Schwäche betont, schlägt seine Männlichkeit ins passive Zierlich-Weibliche um, was auch Marfa Danilovna bemerkt: »›Славный он такой, тихий да скромный – как красная девушка. […] Усики чуть пробиваются… А все-таки мужчина!‹« [»›Er ist so gut, still und bescheiden – wie ein hübsches Mädchen. […] Der Schnurbart beginnt gerade erst zu sprießen… Und dennoch ist er ein Mann!‹«] (Ščetinin 1912:573, Hervorhebung K.R.). Die Transponierung des o fiziellen Kriegsnarrativs ins Medium des Populären lässt sich auch an der Herabsetzung des Motivs der Selbstverstümmelung verfolgen, das im Kontext des »napoleonischen Narrativs« für ein Opfer und einen Treueschwur für das Vaterland steht. Der »abgehackte Finger« erinnert nämlich an die lubok-Darstellungen des »Russkij Scevola« [»Der russische Scaevola«] bei Ivan Ivanovič Terebenev (1780-1815) und Ivan Alekseevič Ivanov (1779-1848) – eines Bauern, 1

Solche Namen [russ. ›seminarskie familii‹] waren bei Geistlichen verbreitet. Sie wurden künstlich konstruiert und den Angehörigen von Priesterseminaren verliehen, vgl. Birjukova 2003.

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der sich einen Arm mit der Axt abhackte, um der Zwangsrekrutierung in die französische Armee zu entgehen (vgl. Višlenkova 2011:184). Bei Ščetinin wird dieses heroische Motiv jedoch nicht explizit aufgegri fen. Der »abgehackte Finger« lässt sich vielmehr als Symbol für das sündha te Verlangen und die göttliche Strafe für Marfa Danilovnas und Eleonskijs unsittliches Leben betrachten, womit die traditionellen eschatologischen Vorstellungen aktiviert werden. Diese Interpretationslinie wird mit dem Leitmotiv der (Selbst-)Verstümmelung dreifach angedeutet: durch den Selbstmord von Marfa Danilovnas Ehemann, ihren prophetischen Traum und die Besetzung Moskaus. Der abgehackte Finger mit zwei Goldringen symbolisiert nicht nur die materielle Enteignung Marfa Danilovnas, sondern auch den Verlust ihrer Sinnlichkeit, mit der sie den unschuldigen Eleonskij verführte (vgl. das Motiv der phallischen Mutter). Bezeichnenderweise werden die Franzosen von Marfa Danilovnas hübschem Dienstmädchen Aksjuša ins Haus hereingelassen, das von der Witwe als Rivalin angesehen wird und o fenbar als ihr verdrängtes sinnliches alter ego fungiert. Die Persi lage des traditionellen Kriegsnarrativs verschmilzt somit auf eine paradoxe Weise mit moralischem Pathos, was einen komischen E fekt hervorru t. Aufschlussreich im Hinblick auf die literarische Verarbeitung des historischen Sto fes erscheint die Schlussszene der Erzählung – eine der wenigen Textstellen, an denen die Handlung des Protagonisten im Rahmen der Liebesgeschichte historisch stilisiert wird und auf einen bekannten Topos aus dem »napoleonischen Narrativ« – die Legende über die starosticha Vasilisa – zurückgrei t. Zu Hause angekommen, muss Eleonskij seine Machtlosigkeit gegenüber den französischen Soldaten erkennen: »Он готов был броситься на злодеев и растерзать их собственными руками. Но что он мог сделать, слабосильный и тщедушный? […] Нет, можно отплатить им только хитростью.« [»Er war bereit, sich auf die Übeltäter zu stürzen und sie mit eigenen Händen zu zerreißen. Doch was konnte er, schwächlich und schmächtig, gegen sie tun? […] Nein, man kann es ihnen nur mit List heimzahlen.«](Ščetinin 1912:580-581, Hervorhebung K.R.). Die Episode spiegelt auf eine eigenartige Weise die Logik des »napoleonischen Narrativs« wider: Gerade aus seiner Schwäche gewinnt der Held Stärke und findet in der scheinbar ausweglosen Situation doch noch eine Lösung. Die Apotheose der Ohnmacht geht hier nahtlos in die Heroik des »Volkskrieges« über. In diesem Kontext lässt sich der abgehackte Finger als ein Symbol der [männlichen] Überlegenheit au fassen, die Eleonskij nach der grausamen Tat der Soldaten wiedererlangt, was ihn o fenbar erst dazu befähigt, seinen Plan zu verwirklichen. Dass der Held hier allerdings eine Heldentat vollbringt, die im traditionellen Kriegsnarrativ mit der weiblichen Figur der starosticha Vasilisa und mit dem Mittel der List assoziiert wird, betont wiederum seine femininen Züge, was die romantische Heroik dieser Szene auf der Ebene der Liebesgeschichte herabsetzt. Somit wird durch das Spiel mit Genderrollen eine weitere Verfremdungsstufe des »napoleonischen Narrativs« erreicht.

6 Napoleon und der »Vaterländische Krieg« zwischen Unterhaltung und o zieller Propaganda

Resümee Mit Ščetinins Erzählung lässt sich der Übergang von der didaktisierten Literatur für Kinder zur Unterhaltungsliteratur für Erwachsene illustrieren. Das Ausbleiben einer aufwändigen historischen Stilisierung und der sorgfältigen Anpassung von ›Fakt‹ und ›Fiktion‹ im Sinne von A.S. Puškins idealtypischem Modell der historischen Prosa (vgl. Kap. 4.1.) bildet dabei die historische Distanz und die fortschreitende Mythisierung von Geschichte ab, die für spätere literarische Repräsentationen des »Vaterländischen Krieges« typisch ist. Geschichte wird nunmehr zum Fundus von historischen Sujets und Motiven, die in einer fiktionalen Handlung aufgegri fen und beliebig miteinander kombiniert werden können. Somit lässt sich die für populäre Geschichtsdarstellungen o t konstatierte ›Inkonsistenz‹ bzw. Widersprüchlichkeit der Charaktere (vgl. Soročan 2008:371-372) zugleich als Folge und (intendiertes) Ziel der Adaption bzw. der Demontage der ›hohen‹ literarischen Tradition im Medium des Populären beschreiben. Die Identifikation mit der nationalen Geschichte erfolgt weniger durch ›Fakten‹, sondern vor allem durch eine emotionale Involvierung des Lesers, die im Wesentlichen auf der Persi lage des traditionellen »napoleonischen Narrativs« basiert. Der satirische E fekt wird durch eine eklektische Zusammenführung der einzelnen Topoi und Figuren, durch die Personengestaltung nach dem Prinzip des Oxymorons sowie durch eine Umkehrung von Genderrollen erzielt. In Form eines literarischen Spiels wird der Leser dazu angeregt, die im Text zusammengeführten Topoi und Motive zu identifizieren oder Bezüge zur russischen Literatur herzustellen. Anhand der Darstellung der Figur Barclay de Tollys wird deutlich, dass der populäre Text auch über kritisches Potenzial verfügen und zur Revidierung der traditionellen Ansichten führen kann. Auch wird durch den au fallenden sexuellen Subtext, das Spiel mit Genderrollen und das Motiv des abgehackten Fingers die Vorstellung von den Schrecken und Grausamkeiten des Krieges aktualisiert, die in den heroischen Klischees und Topoi der o fiziellen Rhetorik bereits verblasst ist. Der populäre Text vermittelt dem Leser die Illusion der Deutungshoheit und Kontrolle über die Geschichte, wobei es indirekt zur Aktualisierung und zur Festigung von traditionellen Ideologemen kommt. Die eklektische Zusammenführung bzw. Montage unterschiedlicher Topoi kann auch als Indiz für die Unzugänglichkeit von Geschichte infolge fortschreitender Mythisierung und ideologischer Überfrachtung interpretiert werden. Ščetinins »aufwändige literarische Bearbeitung« einer angeblichen historischen Quelle avanciert dabei zum einzigen Garanten deren Authentizität, sodass ›Fakt‹ und ›Fiktion‹ zu umkehrbaren Größen werden und das »Urteil« über die Geschichte dem Leser überantwortet wird (vgl. Ščetinin 1912:569). Die prinzipielle Ungewissheit, ob es eine historische Vorlage für Ščetinins Erzählung gegeben

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hat, steht somit für die Unzugänglichkeit des historischen Wissens, das nur in künstlerischer Form rekonstruiert werden kann.

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Der »Vaterländische Krieg« in musikalischen Medien des Jahres 1912

Eine beachtliche Gruppe von Jubiläumsmedien stellen die verschiedenartigen musikalischen Verarbeitungen der Epoche von 1812 dar. Diese Werke speisen sich aus einer langen Tradition der Militär- und Symphoniemusik und setzen auf eine Synthese der klassischen Gattungen. Durch ihre direkte emotionale Wirkung auf den Rezipienten erweisen sich die musikalischen Werke als geeignet, sowohl die heroische als auch die tragische Linie der Erinnerung an den »Vaterländischen Krieg« zu bedienen. Eine wichtige Rolle spielt dabei der Rückgri f auf die russische literarische Tradition und auf die russische Folklore, z.B. auf die Gattung des Volksliedes [russ. ›narodnaja pesnja‹], das seinerseits einen engen Bezug zur Freiheitslyrik [russ. ›vol’naja lirika‹] aufweist (vgl. Druskin 1954, 1956; Glumov 1950a, 1950b; Aljavdina 2002). Das propagandistische Potenzial musikalischer Werke ergibt sich insbesondere daraus, dass der (Lied)Text über das Medium der Musik leicht in einen neuen Kontext eingepasst, umgepolt und reaktiviert sowie mit anderen Texten verknüp t werden kann. Musikalische Werke aus dem Jahr 1812 sind nur fragmentarisch erhalten geblieben und bis heute zum großen Teil noch nicht erschlossen (vgl. Aljavdina 2002; Ryžkova 2012; Fomenko 2014; Tropina 2011). Das 100-jährige Jubiläum des »Vaterländischen Krieges« gab einen starken Impuls für die Neuau lage vorhandener und für die Entstehung zahlreicher neuer Werke, die zum festen Bestandteil der o fiziellen Feierlichkeiten wurden und einen gewichtigen Teil der kommerziellen Jubiläumskultur darstellten (vgl. Pavlova/Tropina 2011; Lapin 2012a). Bereits im 19. Jahrhundert gehörten die musikalischen Werke mit Bezug zum Jahr 1812 zum Repertoire der Kaiserlichen eater. Michail Ivanovič Glinkas (1804-1857) Oper »Žiznʼ za carja« [»Ein Leben für den Zaren«] (1836) (vgl. Aljavdina 2002:160-164), die traditionell auch im Jahr 1912 zu Saisonbeginn in Moskau und Petersburg aufgeführt wurde (vgl. Priloženie 1915:2-3), stellte nicht nur eine direkte Kontinuität zu den Schlüsselereignissen der russischen nationalen Geschichte von 1612 her, sondern gab mit ihrer zentralen Idee der Selbstaufopferung des einfachen Bauern Ivan Susanin für den Zaren auch einen patriotischen Grundton für das 100-jährige Jubiläum des »Vaterländischen Krieges« vor. Die Ouvertüre von Petr Il’ič Čajkovskij (1840-1893) »1812 god« [»Das Jahr 1812«] (vgl. Aljavdina 2002:165), deren Urau führung 1882 in der Christ-Erlöser-Kathedrale stattfand, wurde am 26. August 1912 als Au takt zur gleichnamigen, von der Direktion der Kaiserlichen eater prämierten historischen Chronik von Aleksej Ivanovič Bachmet’ev (ca.

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1875-192?) (Bachmet’ev 1912), die im »Aleksandrinskij teatr« in Sankt Petersburg und im »Bol’šoj teatr« in Moskau gespielt wurde (vgl. Priloženie 1915:2-3; Schneider 2001:59; Kap. 2.4.). Aus den Publikationen der eaterpresse geht hervor, dass die Direktion der Kaiserlichen eater die Au führung einiger Opern über den »Vaterländischen Krieg« im Rahmen der o fiziellen Jubiläumsfeierlichkeiten plante. Diese Pläne wurden allerdings aus verschiedenen Gründen nicht realisiert. Zum einen ist die Oper »V 1812 godu« [»Im Jahr 1812«] nach dem Libretto des Kunstmäzens Savva Ivanovič Mamontov (1841-1918) zu nennen, deren Sujet auf den Erinnerungen der französischen Schauspielerin Louise Fusil (1771-1848)2 basierte (vgl. Obozrenie teatrov 1912b). Die Musik wurde ursprünglich von Vasilij Sergeevič Kalinnikov (1866-1900) komponiert, der allerdings früh an Tuberkulose starb und nur den Prolog fertigstellen konnte, welcher 1901 in der privaten Oper von Savva Mamontov aufgeführt wurde (Kalinnikov 1901). Die Arbeit an der Oper wurde 1912 durch den Komponisten Boris Karlovič Janovskij (1875-1933) fortgesetzt (Janovskij 1912). Sie wurde im April 1912 vor der Direktion der Kaiserlichen eater im »Bol’šoj teatr« zwar geprobt (vgl. Obozrenie teatrov 1912a), gelangte aber erst am 15. November 1912 an der Peripherie des russischen Imperiums in Ti lis zur Urau führung (vgl. Bernandt 1962:64). Die Komposition einer weiteren Oper unter dem Titel »1812 god« [»Das Jahr 1812«] wurde 1911 von dem Komponisten und Dirigenten Michail Michajlovič Bagrinovskij (1885-1966) unter Mitarbeit der Dichters Boris Aleksandrovič Sadovskoj (1881-1952) begonnen (vgl. Bagrinovskij [1959]:4). Als Grundlage für das Libretto dienten Bagrinovskij das Textfragment A.S. Puškins »Roslavlev« (1836) (vgl. Kap. 4.1.), Lev Nikolaevič Tolstojs (1828-1910) »Vojna i mir« [»Krieg und Frieden«] (186869) (vgl. Kap. 4.3.) und Grigorij Petrovič Danilevskijs (1829-1890) »Sožžennaja Moskva« [»Das verbrannte Moskau«] (1886) (vgl. Kap. 4.4.) (vgl. Bagrinovskij [1944]:1). Die Oper sollte im Rahmen der o fiziellen Jubiläumsfeierlichkeiten im »Mariinskij teatr« in Sankt Petersburg und im »Bol’šoj teatr« in Moskau aufgeführt werden, sie wurde jedoch nicht rechtzeitig fertiggestellt (vgl. Obozrenie teatrov 1912a; Bagrinovskij [1959]:7). Diese gescheiterten Versuche zeugen von der Brisanz der ematik des »Vaterländischen Krieges« und den Schwierigkeiten ihrer medialen Umsetzung im Bereich der staatso fiziellen Jubiläumskultur, wo unterschiedliche Interessen aufeinandertrafen (Zensur, Ausrichtung des jeweiligen eaters, individuelle Vorstellungen der Autoren, kommerzielle Interessen u.a.). Auch zeigen sie einen 2

Die Notizen von Louise Fusil, die sich 1812 im besetzten Moskau aufgehalten hatte, wurden im Jubiläumsjahr 1912 z.B. in einem Sammelband des ORTZ (Vasjutinskij/Dživelegov/Mel’gunov 1912), in der Zeitschri t »1812 god« [»Das Jahr 1812«] (Rastopčina 1912:48; A.E. 1912) sowie durch den Verlag »Obrazovanie« [»Bildung«] (Friderich 1912) popularisiert. Zu Fusil als möglichem Prototyp für literarische Werke vgl. Kap. 5.4.3.1.

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engen Bezug zwischen Musik und Literatur, wobei sich die ›hohen‹ musikalischen und theatralischen Gattungen (Oper, historische Chronik) meist auf hochkanonisierte und als authentisch geltende Werke der russischen Literatur (A.S. Puškin, L.N. Tolstoj) stützen. Bei den populären musikalischen Werken aus dem Jubiläumsjahr 1912 handelt es sich um hybride mediale Gebilde, zu deren zentralen Eigenscha ten die Synthese von Text, Bild und Musik gehört. Sie weisen ein breites Spektrum von Gattungen auf und lassen sich generell im Spannungsfeld zwischen dem heroischen und dem tragischen Register verorten. Neben den traditionellen Genres (z.B. (Trauer)Marsch, (Regiments-)Lied, Kantate, Walzer, Gedenklied, Hymne u.a., vgl. Ryžkova 2012) entstehen gegen Ende des 19. und im frühen 20. Jahrhundert neue populäre Mischformen, die sich von den klassischen Gattungen abspalten und sich stärker auf die folkloristische Tradition und die ›niederen‹ Gattungen, z.B. die des Volksliedes, stützen. Volkslieder wurden z.B. auf ethnographischen Expeditionen in den Dörfern notiert oder aus den Archiven in Russland und Frankreich entnommen (z.B. Čertkova 1912; Gartevel’d 1912a, 1912b; Pjatnickij 1912). Die Authentizität dieser Werke wurde allerdings schon von den zeitgenössischen Rezensenten im Jubiläumsjahr 1912 problematisiert (vgl. Mel’gunov 1912a:27), da es sich o t um moderne Stilisierungen handelte (z.B. Krasovskij/Nazarov 1911). Man kann davon ausgehen, dass Volkslieder ähnlich wie die lubki [Holzschnittdrucke] (vgl. Sokolov 1999:9-10) zum Inbegri f des Volkstümlichen bzw. Russischen geworden und daher auch kommerziell erfolgreich waren (vgl. Aljavdina 2002; Višlenkova 2011; Lapin 2012a). Die musikalischen Jubiläumswerke waren stark von der russischen literarischen Tradition geprägt. Es wurden Texte aus dem literarischen Kanon des »Vaterländischen Krieges« vertont, z.B. Ivan Andreevič Krylovs (1769-1844) Fabel »Volk na psarne« [»Der Wolf im Hundezwinger«] (1812) (Kazanli [1912a]), A.S. Puškins Gedicht über M.I. Kutuzov »K teni polkovodca« [»An den Schatten eines Feldherrn«] (1831) (Cabelʼ [1912]) oder ein späteres Gedicht Nikolaj Fedorovič Ščerbinas (18211869) »Velikaja panichida« [»Die große Trauerfeier«] (1864) (Kazanli [1912b]). Besonders o t wurden die volkstümlich stilisierten Gedichte Michail Jur’evič Lermontovs (1814-1841) »Borodino« (1837) (z.B. Archangel’skij [1912]; Snel’man [1912]; Astaf’ev o.J.) und »Dva velikana« [»Zwei Riesen«] (1832) (Brjanskij o.J.; Gachovič o.J.; Stolypin 1870) verarbeitet. Ein weiteres Spezifikum der musikalischen Medien ist ihre aufwändige visuelle Gestaltung. Einerseits dienen die Abbildungen dazu, die zentrale Idee des Werkes zu verdeutlichen und es, z.B. in Form von Lichtbildern, ergänzend zu begleiten (vgl. Lebedev/Armsgejmer [1912]; zur Technologie der Lichtbilder siehe Kotomina 2012). Andererseits ist die farbige Gestaltung der Notenausgaben auch als wesentlicher Teil der historischen Stilisierung zu sehen. Herausgeber gri fen dabei auf weit verbreitete Abbildungen des »Vaterländischen Krieges« zurück und verarbeiteten z.B. Bilder aus Vasilij Vasil’evič Vereščagins (1842-1904) Zyklus »1812 god« [»Das

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Jahr 1812«] (1887-1900), wodurch ein einheitlicher multimedialer Code des »napoleonischen Narrativs« in der kommerziellen Jubiläumskultur geformt wurde. Die Partituren wurden o t in mehreren Varianten für verschiedene Au führungstypen (z.B. Klavier für zwei oder vier Hände, für Chor, Salonorchester, kleines und großes Orchester, Militärorchester usw.) und zu unterschiedlichen Preisen angeboten. Somit waren sie sowohl für den privaten als auch für den ö fentlichen Bereich sowie für Rezipienten mit unterschiedlicher Kau kra t geeignet. Aufschlussreich im Hinblick auf die multimediale Tradierung des »napoleonischen Narrativs« im Jubiläumsjahr 1912 erscheint die Gattung des »musikalischen Bildes« [»muzykal’naja kartina«; vgl. dt. ›illustrative Musik‹], die sich explizit an der Synthese von Musik, Text und Bild orientierte und im weitesten Sinne darauf abzielte, beim Rezipienten ein emotionales Bild eines (historischen) Ereignisses zu evozieren (zur symphonischen Tradition des »musikalischen Bildes« siehe Sokolov 1994:90-96; Endutkina 2005). »Musikalische Bilder« wurden meist mit Paratexten versehen, die Anweisungen zum Tempo und zur Spieltechnik gaben und/oder das Geschehen im jeweiligen »Bild« [»kartina«] inhaltlich kommentierten. Diese Anweisungen wurden direkt in die Partitur integriert und o t im angefügten »Programm [des Bildes]« [»Programma [kartiny]«] wiederholt (vgl. Ryžkova 2012:183184). Viele Notenausgaben aus dem Jahr 1912 wurden im Zuge des 200-jährigen Jubiläums des »Vaterländischen Krieges« im Jahr 2012 digitalisiert3 und im Rahmen der o fiziellen Veranstaltungen ö fentlich gezeigt,4 woran man einmal mehr die bis heute andauernde Kontinuität der russischen Jubiläumsfeiern erkennen kann (vgl. Kap. 2.5.). Dieser Bestand, der im Folgenden anhand der Gattung des »musikalischen Bildes« exemplarisch untersucht wird, erlaubt es, Rückschlüsse auf die poetischen Verfahren der populären Medien und auf die Verbreitung des »napoleonischen Narrativs« im Jubiläumsjahr 1912 zu ziehen. ematisch kreisen die musikalischen Werke um die zentralen Topoi des »napoleonischen Narrativs«. Neben den Schlachtszenen, die in den Jubiläumsmärschen (z.B. Kamenskij 1912; T’ebo 1912) im Sinne von M.Ju. Lermontovs Gedicht »Borodino« (1837) heroisiert wurden, widmeten sich viele Kompositionen dem Brand von Moskau und der Bildung des russischen Volksaufgebots (vgl. Aljavdina 2002:152), also den Topoi, die auch in den literarischen Werken des Jubiläumsjahres intensiv verarbeitet wurden (vgl. Kap. 5). Die Verarbeitung dieser Episoden illustriert die für das »napoleonische Narrativ« charakteristische Umkehrung der Verhältnisse: Der vermeintliche Triumph des erfolgreichen Feldherrn Napoleon

3 4

Siehe z.B. . Vgl. die Ausstellung »›Вспомним, братцы, россов славу!..‹: война 1812 года в музыке« [»›Erinnern wir uns, Brüder, an der Russen Ruhm!..‹: Der Krieg von 1812 in der Musik«], die vom 18. Juli bis 31. Oktober 2012 in der Russischen Staatsbibliothek gezeigt wurde, siehe .

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bei der Einnahme der russischen Hauptstadt erweist sich als Au takt zu seinem Niedergang, der mit dem Ent lammen des russischen »Volkskrieges« endgültig besiegelt wird. Die Verarbeitung des »napoleonischen Narrativs« in der Gattung des »Jubiläumsmarsches« [»jubilejnyj marš«] lässt sich mit dem Werk von N.I. Šmelev (Lebensdaten unbekannt) »Napoleon v Moskve« [»Napoleon in Moskau«] illustrieren (Šmelev [1912]). Die Notenausgabe fällt bereits durch ihre farbige Gestaltung auf (Ill. 9). Aus dem Werbeslogan des Herausgebers lässt sich die intendierte Zielgruppe erkennen, wodurch auch ein Bezug zur militärischen Propaganda bzw. zur patriotischen Erziehung angedeutet wird: »Исполняется с громадным успехом Военными Оркестрами.« [»Wird mit gigantischem Erfolg von Militärorchestern gespielt.«]. Illustriert wird das Cover mit einem Fragment des Bildes aus V.V. Vereščagins Zyklus »1812 god« »V Kremle – požar!« [»Im Kreml brennt es!«] (1887-1898), wodurch die Tragödie Napoleons in den Mittelpunkt gerückt wird (vgl. Ill. 20a in Kap.6.3.). In seinem Marsch verarbeitet Šmelev ein bekanntes russisches Volkslied, dessen Originaltext dem russischen Dichter und Dramatiker der 1840er Jahre Nikolaj Semenovič Sokolov (ca. 1810–nach 1850) zugeschrieben wird (vgl. Petrenko/Stroganov 2014:[106]). In seinem Gedicht »On« [»Er«] (1850) zeigt Sokolov den in Gedanken versunkenen Napoleon vor dem Hintergrund des Brandes von Moskau. Die persönliche Tragödie Napoleons korreliert dabei mit dem Motiv des Fatums, das mit der sprichwörtlich gewordenen Formel »Судьба играет человеком« [»Das Schicksal spielt mit dem Menschen«] artikuliert wird. Ähnlich wie in M.Ju. Lermontovs frühem Gedicht »Napoleon« (1829) (Lermontov 1989c) werden Napoleons Russlandfeldzug und die Einnahme Moskaus zum Ausdruck der ›Hybris‹ des großen Genies stilisiert. Der Text zielt darauf ab, Empathie mit dem besiegten Gegner zu evozieren, der seine Fehler einsieht und bereut: Он. Кипел, горел пожар московский, Дым расстилался по реке, На высоте стены кремлевской Стоял Он в сером сюртуке. Он видел огненное море; Впервые полный мрачных дум, Он в первый раз постигнул горе, И содрогнулся гордый ум!

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Ему мечтался остров дикий, Он видел гибель впереди, И призадумался великий, Скрестивши руки на груди, – И погрузился Он в мечтанья, Свой взор на пламя устремил, И тихим голосом страданья Он сам себе проговорил: »Судьба играет человеком; Она, лукавая, всегда То вознесет тебя над веком, То бросит в пропасти стыда. И я, водивший за собою Европу целую в цепях, Теперь поникнул головою На этих горестных стенах! И вы, мной созванные гости, И вы погибли средь снегов – В полях истлеют ваши кости Без погребенья и гробов! Зачем я шел к тебе, Россия, В твои глубокие снега? Здесь о ступени роковые Споткнулась дерзкая нога! Твоя обширная столица – Последний шаг мечты моей, Она – надежд моих гробница, Погибшей славы – мавзолей.« (Zit. nach Petrenko/Stroganov 2014:[103]–[104]) Er. Es kochte, es lammte der Moskauer Brand, Der Rauch breitete sich über dem Fluss aus, Auf der Höhe der Kreml-Mauer Stand Er im grauen Gehrock.

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Er sah ein feuriges Meer; Zum ersten Mal von düsteren Gedanken erfüllt, Begri f er zum ersten Mal das Unglück/ Verhängnis, Und sein stolzer Geist erschauerte! Er träumte von einer wilden Insel, Er sah den Untergang vor sich Und er wurde nachdenklich, der Große, Die Arme auf der Brust gekreuzt, Und Er versank in Träume, Richtete seinen Blick auf die Flamme Und mit der leisen Stimme des Leids Sagte Er zu sich selbst: »Das Schicksal spielt mit dem Menschen; Es ist ein Schelm und wird dich immer Mal über die Zeit erheben, Mal in die Abgründe der Schande stürzen. Und ich, der ich hinter mir Das gesamte Europa in Ketten geführt habe, Senkte nun mein Haupt Auf diesen leidvollen Mauern! Und ihr, die von mir gerufenen Gäste, Auch ihr seid im Schnee umgekommen – Auf den Feldern werden eure Knochen vermodern Ohne Bestattung und Gräber! Wozu kam ich zu dir, Russland, In deinen tiefen Schnee? Hier stolperte über die verhängnisvollen Stufen Der freche Fuß! Deine weiträumige Hauptstadt [ist] Der letzte Schritt meines Traumes, Sie ist das Grab meiner Ho fnungen und Das Mausoleum meines vergangenen Ruhmes.«

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Der Text von Sokolov entwickelte sich bald zum Volkslied und wurde bereits in den 1880er Jahren, unter anderem in der Tradition des »žestokij romans« [»grausame Romanze«], tradiert und in mehreren Varianten vertont, o t unter dem Titel »Šumel, gorel požar moskovskij…« [»Es rauschte und loderte der Brand von Moskau…«] (vgl. Peternko/Stroganov 2014:103-109). Von der Popularität des Liedes zeugen auch die anlässlich des Jubiläums hergestellten Plaketten [›jubilejnye žetony‹], die sich mit der Aufschri t »Судьба играет человеком« [»Das Schicksal spielt mit dem Menschen«] wörtlich auf den Text beziehen (vgl. Cholodkovskij/Godlevskij 1912:121122, Nr. CLIII, CLVI. Hinweis aus Petrenko/Stroganov 2014:[105]–[106], Fn. 119) (Ill. 10a,b). Am Beispiel von Šmelevs Marsch kann man sehen, wie die tragische Linie des »napoleonischen Mythos« (vgl. Kap. 1.2.) über ein bekanntes Volksliedmotiv aufgegri fen und im Kontext des 100-jährigen Jubiläums auf unterschiedliche Weise multimedial aktualisiert wurde. Diesem Zweck dient insbesondere das Fragment des Gemäldes V.V. Vereščagins »V Kremle – požar!« (vgl. Ill. 20a in Kap. 6.3.), das sich seinerseits auch als eine bildliche Interpretation der bekannten Romanze betrachten lässt. Zugleich wird die in der Romanze thematisierte Tragödie Napoleons mithilfe der Textkommentare in der Partitur in einen breiteren Kontext des »napoleonischen Narrativs« eingeschrieben, wobei die Bildung des Moskauer Volksaufgebots eine zentrale Rolle spielt: »Вступление французских войск в Москву. – Восстание московского ополчения. – Пожар Москвы5 – Изгнание французов и бегство Наполеона.« [»Einmarsch der französischen Truppen in Moskau. – Aufstand des Moskauer Volksaufgebotes. – Brand von Moskau. – Vertreibung der Franzosen und Flucht Napoleons.«] (Šmelev [1912]:2-3). Gerade die Gattung des Marsches erweist sich als hilfreich, um die beiden Register des »Vaterländischen Krieges« – die Tragik des Brandes von Moskau und den ›wahren‹ geistigen Sieg des russischen Volkes – zu veranschaulichen. Dabei treten die für die Romanze Sokolovs und deren weitere Varianten zentralen Motive von Napoleons Reue und tragischer Re lexion in den Hintergrund, und sein Niedergang wird programmatisch mit dem Aufstand des russischen Volksaufgebots verknüp t. Die Interaktion von Bild und Text im Medium des Musikalischen lässt sich mit zwei weiteren Beispielen veranschaulichen. Der »Jubiläumsmarsch« von N.I. Kamenskij (Lebensdaten unbekannt) »Na Borodinskich vysotach« [»Auf den Anhöhen von Borodino«] (Kamenskij 1912) rekurriert bereits durch seinen Titel auf das erste Gemälde aus Vereščagins Zyklus »1812 god« »Napoleon I na Borodinskich vysotach« [»Napoleon I. auf den Anhöhen von Borodino«] (1897), das die französische Militärleitung zu Beginn der Schlacht zeigt. Ein Fragment dieses Bildes wird auch auf dem Cover der Notenausgabe reproduziert (Ill. 11a,b). Durch diese Bezugnahme wird nicht nur die visuelle Schiene der Erinnerung an den »Vaterländischen 5

An dieser Stelle wird die Melodie der Romanze verarbeitet, K.R.

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Krieg« aktiviert, sondern auch die Textkommentare Vereščagins zu seinen Bildern mit aktualisiert, die in verschiedenen Ausgaben Ende des 19. Jahrhunderts erschienen waren (vgl. Vereščagin 1899, 1904). Ein Vergleich des Originalbildes mit dem Cover der Notenausgabe von Kamenskij o fenbart eine Modifikation der Napoleon-Figur. Hinter der mit den Initialen »S.P.« unterzeichneten Illustration kann man den Versuch vermuten, die Darstellung Napoleons stärker am heroischen (und kommerziell erfolgreichen) Bild zu orientieren, das sich in Russland zum 100-jährigen Jubiläum des »Vaterländischen Krieges« herausgebildet hat und von dem sich Vereščagin ausdrücklich distanzierte. In seinem Textkommentar zum Bild spricht der Maler von Apathie und Desinteresse Napoleons zu Beginn der Schlacht von Borodino, die er auf eine Krankheit zurückführt (vgl. Vereščagin 1899:9-13). Mit seiner verfremdenden und an L.N. Tolstojs »Vojna i mir« erinnernden Darstellungsweise deutet Vereščagin den Niedergang Napoleons bereits im ersten Bild seines Zyklus an. Auf seinem Gemälde ist Napoleon von seinen Generälen klar abgegrenzt, die in den heraufsteigenden Rauchwolken das Kriegsgeschehen zu überblicken versuchen. Auf dem Cover des Jubiläumsmarsches wird Napoleon dagegen ganz als Anführer seines Militärstabs gezeigt, der an der Erkundung der Gegend interessiert ist und als ›größter Feldherr aller Zeiten‹ von seinem Sieg noch fest überzeugt ist. Die Modifikation von Vereščagins Bild auf dem Cover N.I. Kamenskijs lässt sich also dahingehend interpretieren, dass der subjektive Blick Vereščagins auf die Figur Napoleons mithilfe des Mediums des »musikalischen Bildes« zugunsten des traditionellen Topos von Napoleon als erfolgreichem Feldherrn korrigiert wird, um die bereits erwähnte Umkehrung der Verhältnisse des »napoleonischen Narrativs« zu inszenieren. Das »musikalische Bild« des Komponisten Vladimir Christianovič Davingof (18??–1925) (vgl. Krasnova/Drozdovskij 2015) »Ėpopeja o 1812 gode« [»Epopöe über das Jahr 1812«] (Davingof [1912]) lässt sich als ein weiteres Beispiel der Fortschreibung des »napoleonischen Narrativs« mithilfe von Vereščagins Bildern betrachten (Ill. 12). Bereits der Titel legt den Modus der Betrachtung der Epoche von 1812 als »Epopöe« fest, womit auch auf Tolstojs monumentalen Text »Vojna i mir« Bezug genommen wird. Die Geschichte des »Vaterländischen Krieges« wird wiederum anhand der Figur Napoleons und der drei Bilder Vereščagins thematisiert, die auf dem Cover in einer Collage zusammengestellt werden: »Pered Moskvoj v ožidanii deputacii bojar« [»Vor Moskau in Erwartung einer Deputation der Bojaren«] (18911892) (vgl. Makšeev 1912: Abb. Nr. 16); »Zarevo Zamoskvorečʼja« [»Der Feuerschein von Zamoskvoreč’e«] (1896) (vgl. Makšeev 1912: Abb. Nr. 19); »Na bol’šoj doroge. Otstuplenie, begstvo…« [»Auf der großen Straße. Rückzug, Flucht…«] (1887-1895) (vgl. Makšeev 1912: Abb. Nr. 40). Durch diese einschlägige Illustration wird der komplexe Zusammenhang von Vereščagins Zyklus vereinfacht und somit an die Dramatik der zentralen Topoi der o fiziellen Kriegsinterpretation angepasst.

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Der Anschluss von Davingofs Werk an das traditionelle »napoleonische Narrativ« lässt sich auch auf der Ebene der Paratexte nachverfolgen. Das »Bild« beginnt »im langsamen Marschtempo« [»Темп медленного марша«] (Davingof [1912]:2) mit der Schilderung der Einzugs der Franzosen in Moskau: »Французская армия приближается к Москве. – Въезд Наполеона в Москву. – Тревожные колокола Ивана Великого.« [»Die französische Armee nähert sich Moskau. – Einzug Napoleons in Moskau. – Banges Geläut des Glockenturmes ›Ivan der Große‹«.] (Davingof [1912]:2-3). Nach dem nur einen Takt umfassenden kurzen ›Triumph‹ (»Наполеон радостно проскакал в Кремль.« [»Napoleon ist fröhlich in den Kreml eingeritten.«] (Davingof [1912]:3)) wird »[s]ehr langsam und leidvoll« [»[о]чень медленно и жалостно«] (Davingof [1912]:3) geschildert, wie die Bewohner Moskaus ihre eigene Stadt in Brand setzen: »Москвичи, плача и рыдая, поджигают всю столицу.« [»Die Moskowiter setzen, heulend und weinend, die ganze Hauptstadt in Brand.«] (Davingof [1912]:3). Bei dieser Szene fällt die charakteristische ideologische Vereinnahmung des Brandes von Moskau auf, der ganz als Werk der Stadtbewohner und als deren ultimatives Opfer für die Rettung des Vaterlands dargestellt wird (vgl. Kap. 2.3. und 5.4.3.4.). Die besetzte Hauptstadt avanciert zum zentralen Schauplatz des Krieges von 1812 und zur unmittelbaren Ursache für Napoleons »verzweifelten« Rückzug: »Наполеон в отчаянии отступает.« [»Napoleon zieht sich verzweifelt zurück.«] (Davingof [1912]:4). Bemerkenswert ist das Lexem ›otstupaet‹, das dem Aufenthalt Napoleons in Moskau den Charakter einer Schlachtszene und einer Elementargewalt verleiht. Das »Bild« endet mit einem Dankgottesdienst, der den Kampf gegen Napoleon in den Kontext der traditionellen russischen eschatologischen und religiös-messianischen Vorstellungen stellt: »Звон Кремлевских колоколов извещает народ о начале благодарственного молебна. – [МОЛЕБЕН]. – Аллилуйя, Аллилуйя. Слава Тебе, Боже. Аллилуйя, Аллилуйя. Слава Тебе, слава Тебе, Господи. Аминь. Аминь. Ура! Ура!« [»Das Läuten der Moskauer Glocken kündigt dem Volk den Beginn eines Dankgottesdienstes an. – [GOTTESDIENST.] – Halleluja, Halleluja. Ruhm Dir, Gott. Halleluja, Halleluja. Ruhm Dir, Ruhm Dir, Herr. Amen. Amen. Hurra! Hurra!«] (Davingof [1912]:4-5). Ein weiteres beliebtes Motiv der »musikalischen Bilder« stellt der bereits erwähnte Topos des »Volkskrieges« dar, der in Rückgri f auf die russische folkloristische Tradition und die Texte der russischen Literatur inszeniert wird. Die zentrale Rolle des russischen Volksaufgebots im Krieg von 1812 wird im »musikalischen Bild« von N. Aleksandrov (Lebensdaten unbekannt) »K stoletiju Otečestvennoj vojny« [»Zum 100. Jahrestag des Vaterländischen Krieges«] (Aleksandrov [1912]) bereits durch die visuelle Gestaltung der Notenausgabe vermittelt (Ill. 13). Auf dem Cover, das als altes zerrissenes Manuskript stilisiert wird, stürmen zwei Truppen aufeinander zu. An der Spitze der russischen Truppe rechts ist ein Volkskämpfer zu sehen, der an der Seite der regulären Armee in die Schlacht zieht, wodurch die Einheit von Armee und Volk betont wird. Oben links ist die Figur Napoleons in

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Dreispitz und mit gekreuzten Armen abgebildet, der auf die Kampfszene besorgt herunterschaut. Im »historischen musikalischen Bild« [»istoričeskaja muzykal’naja kartina«] von Michail Vladimirovič Vladimirov (1870-1932) »1812 god« [»Das Jahr 1812«] (Vladimirov [1912]) wird die ematik des »Volkskrieges« über die Opferung von Moskau thematisiert. Auf dem Cover sind die französischen Truppen abgebildet, die aus dem brennenden Moskau abziehen. Die Gesichter der Soldaten sind besorgt und traurig. Im Vordergrund sieht man die Figur Napoleons zu Pferd. Der zweiköpfige russische Adler, der das Wappen von Moskau, den Heiligen Georg, auf seiner Brust trägt und mit Lorbeerzweigen verziert ist, überlappt die seitlich dargestellten zerrissenen französischen Fahnen, darunter eine mit dem Wappen Napoleons, und betont den russischen Sieg (Ill. 14). Aus den »Programmen« der beiden »Bilder« lässt sich die staatso fizielle Vorstellung vom »Volkskrieg« rekonstruieren. Bezeichnenderweise handelt es sich dabei um keinen spontanen Volkswiderstand, sondern dieser wird erst durch ein Manifest des Zaren initiiert. Der Hintergrund für die Bildung des Volksaufgebots wird bei Vladimirov in einem kurzen Vorwort über die Ereignisse des »Vaterländischen Krieges« beleuchtet, in dem das friedliche und glückliche Leben in Russland vor der Invasion Napoleons betont wird: »Мирно, безмятежно протекала жизнь России до наступления 1812 г.« [»Friedlich und sorglos verlief das Leben in Russland vor dem Anbruch des Jahres 1812.«] (Vladimirov [1912]:[2]). Das idealtypische Verhältnis von Herrscher und Volk, das dem Aufruf seines Beschützers bedingungslos folgt, wird im »Programm des Bildes« in Form eines erwiderten Appells gefasst: »Призыв Императора Александра I к народу для борьбы с врагом. – Народ русский откликнулся на царский призыв.« [»Aufruf des Imperators Aleksandr I. an das Volk zum Kampf gegen den Feind. – Das russische Volk antwortete auf den Appell des Zaren.«] (Vladimirov 1912:[2]). Beide »Bilder« enden mit einem Dankgottesdienst, der bei Aleksandrov in eine »Elegie zum Andenken an die Helden« übergeht, »die für Zar und Vaterland gefallen sind« [vgl. »Элеги[я] […] в память героев, погибших за царя и отечество«] (vgl. Aleksandrov 1912:[1]). Somit werden die zentralen Komponenten der o fiziellen Kriegsinterpretation – der von Gott legitimierte Zar und das gehorsame Volk – aktualisiert und zusammengeführt (vgl. Kap. 2.3.). Der Volkscharakter des »Vaterländischen Krieges« wird außerdem über den Rekurs auf die russische Folklore konstruiert. Im Werk von Aleksandrov werden z.B. zwei russische Volkslieder verarbeitet, in denen Fragmente aus dem o fiziellen Manifest zur Bildung eines Volksaufgebots zitiert (»Ne truba trubit…« [»Es ist keine Trompete, die bläst…«]) und die Bereitscha t des russischen Volkes artikuliert werden, dem Aufruf des Zaren zu folgen (»Za carja, za Rusʼ svjatuju krovʼ prolitʼ nas ne strašit…« [»Für den Zaren, für die heilige Rusʼ unser Blut zu vergießen, fürchten wir nicht…«]). Im »Bild« von Vladimirov, das eine detaillierte Gliederung aufweist und ein umfassendes Panorama vom Einmarsch Napoleons in Russland bis zur Ein-

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nahme von Paris 1814 bietet, werden die einzelnen Punkte des »Programms« mit zahlreichen musikalischen Zitaten ausgestattet, die von den russischen Soldatenund Regimentsliedern (darunter die bereits erwähnte Romanze auf den Text von N. Sokolov) bis zur russischen Hymne reichen. Man kann erkennen, dass der multimedial und intertextuell inszenierte russische »Volkskrieg« durch das Befolgen des Manifests des Zaren legitimiert und zugleich durch den Niedergang des großen Gegners Napoleon aufgewertet wird. Die dem »napoleonischen Narrativ« zugrunde liegende Umkehrung der Verhältnisse wird auch durch die Betonung von Napoleons früheren Siegen vorbereitet. Im Vorwort zum »Bild« von Vladimirov wird das Motiv des Fatums betont, auf dem Napoleons Glück gründet. Seine Russland-Kampagne wird dabei ausschließlich durch seine persönlichen Herrscha tsambitionen erklärt: »Но грозный призрак войны был уже близок: он появился в лице французского Императора Наполеона I, успевшего к 1812 г. завоевать, за исключением России, почти всю Европу. Оставалась Россия, которую властолюбивый полководец желал во что бы то ни стало подчинить себе.« [»Doch das bedrohliche Gespenst des Krieges war schon nah: Es kam in der Gestalt des französischen Imperators Napoleon I., dem es bis zum Jahr 1812 gelungen war, fast ganz Europa mit Ausnahme von Russland zu erobern. Es blieb Russland, das sich der herrschsüchtige Feldherr um jeden Preis unterwerfen wollte.«] (Vladimirov [1912]:[2]; vgl. Kap. 2.3.). Als produktiv erweist sich auch das Motiv der bösen Vorahnung bzw. das von Napoleons ›Träumen‹ [›son/mečty Napoleona‹], das z.B. im Walzer von Il’ja Kalustovič Šapošnikov (18961953) »Mečty Napoleona« [»Napoleons Träume«] (Šapošnikov o.J.) oder im Poem von F.F. Pastuchov (Lebensdaten unbekannt) »Napoleon I. Son velikogo zavoevatelja« [»Napoleon I. Traum eines großen Eroberers«] (Pastuchov 1912) vorkommt. Diese Motive dienen dazu, Napoleons ›Fallhöhe‹ in Moskau zu betonen. Somit bilden die musikalischen Werke das im russischen »napoleonischen Mythos« angelegte Motiv des Fatums ab (vgl. Kap. 1.2.) und unterstreichen die Logik des »napoleonischen Narrativs«, indem Napoleons ›Hybris‹ vom Schicksal selbst bestra t wird. Schließlich lässt sich mit einer weiteren Gruppe von musikalischen Werken die populäre Adaption des literarischen Kanons des »Vaterländischen Krieges« veranschaulichen. Das »musikalische Bild« von Nikolaj Nikolaevič Snel’man (Lebensdaten unbekannt) »Borodino« (Snel’man [1912]) verarbeitet das gleichnamige Gedicht (1837) M.Ju. Lermontovs (Lermontov 1989b), das zu den meist verbreiteten Texten des Jubiläumsjahres 1912 zählt (Ill. 15). Die zwei angebotenen Partiturarten für Militärorchester und zweihändiges Klavier machen die für »musikalische Bilder« typische Orientierung sowohl auf private als auch auf ö fentliche Au führungen deutlich. Aus den jüngsten Lokaluntersuchungen geht hervor, dass Snel’mans »Bild« z.B. im Rahmen der o fiziellen Feierlichkeiten zum 100-jährigen Jubiläum in Petrozavodsk aufgeführt wurde (vgl. Vdovinec 2007).

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Der Bezug zu Lermontovs Text wird durch die in die Partitur integrierten Zitate hergestellt. Das »Bild« konzentriert sich auf die Schlacht von Borodino und beginnt mit der Schilderung des Abends davor aus der 6. Strophe, die nahtlos mit einem Fragment aus der Strophe 8 kombiniert wird: VI. ................................................. И вот на поле грозной сечи Ночная пала тень. ................................................. VIII. И только небо засветилось, Всё шумно вдруг зашевелилось, Сверкнул за строем строй. (Snel’man [1912]:2–3) VI...................................................................... Und nun fiel auf das fürchterliche Schlachtfeld Der nächtliche Schatten. ...................................................................... VIII. Und kaum leuchtete der Himmel auf, Begann sich plötzlich alles lärmend zu regen, Eine Kolonne nach der anderen blitzte auf. Der Höhepunkt der Schlacht wird mit der sprichwörtlich gewordenen Formel aus der Strophe 9 markiert, die sich als Russlands symbolische Antwort auf den Aufruf des Zaren lesen lässt: »И клятву верности сдержали//Мы в Бородинский бой.« [»Und wir haben den Treueschwur gehalten//In der Schlacht von Borodino.«] (Snel’man [1912]:3).6 Danach folgt die Schilderung des Kampfes anhand der Strophen 10-12. Die außerordentliche Bedeutung, die im traditionellen »napoleonischen Narrativ« der Schlacht von Borodino zugeschrieben wird, drückt sich im Pathos ihrer Einzigartigkeit aus (Strophe 11): »Вам не видать таких сражений!« [»Ihr werdet solche Schlachten nicht mehr erblicken!«]) (Snel’man [1912]:3). Nach der Bekundung der Bereitscha t, bis zum Ende zu kämpfen, endet das »Bild« mit dem Abzug der Franzosen vom Schlachtfeld und dem tragischen Topos der Suche nach Verletzten und Gefallenen (Strophe 13): XIII. Вот смерклось. Были все готовы Заутра бой затеять новый И до конца стоять... 6

Die außerordentliche Bedeutung dieser Logik für das russische ›Szenario der Macht‹ wurde auch im 200. Jubiläumsjahr deutlich, als Präsident Putin Lermontov in einer Wahlkampfrede sowie in seiner Rede im Rahmen der Jubiläumsfeierlichkeiten von 2012 auf dem Feld von Borodino zitierte (vgl. Šore/Nochejlʼ/Rapp 2015:179-181).

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Вот затрещали барабаны – И отступили бусурманы. Тогда считать мы стали раны, Товарищей считать. (Snel’man [1912]:8–10) Es wurde dunkel. Alle waren bereit, Am Morgen einen neuen Kampf zu beginnen Und bis zum Ende zu stehen… Nun rasselten die Trommeln – Und die Ungläubigen zogen sich zurück. Dann begannen wir, die Wunden, Unsere toten Kameraden zu zählen. Die Reduktion des Textes von Lermontov auf den unmittelbaren Verlauf der Schlacht und die Idee der totalen Selbstaufopferung für das Vaterland o fenbart eine bemerkenswerte Modifikation der literarischen Quelle. Snel’man blendet die Beschreibung des langen Rückzugs der russischen Armee vor der Schlacht von Borodino und die für Lermontov zentrale kritische Gegenüberstellung der »Recken« [»богатыри«] des Jahres 1812 und der »jüngeren Generation« [»нынешнее племя«] (Lermontov 1989b:9) aus, die in den ersten beiden und der letzten Strophe des Gedichts einen Rahmen für das Geschehen bildet. Insbesondere durch die Ausblendung der Generationenproblematik wird die Idee der bedingungslosen Treue gegenüber dem Vaterland für alle Soldaten auf dem Schlachtfeld universalisiert. Aufschlussreich erscheint die auch Vertonung von Lermontovs »Borodino« durch den russischen Komponisten und Dirigenten Aleksej Alekseevič Archangel’skij (1881-1941), der zu den Begründern der russischen Operette zählt und als Komponist von »illustrativer Musik« [»illjustracionnaja muzyka«] bekannt ist (vgl. Jangirov 2001:Fn.4; Mnuchin/Avrilʼ/Losskaja 2008:83-84). Die Partitur bietet die Vertonung der ersten Strophe des Gedichts, wobei die letzten zwei Verse als Refrain einmal wiederholt werden. Das Motiv wird für alle weiteren Strophen wiederholt. Im Gegensatz zum »Bild« von Snel’man wird in der Partitur nicht festgelegt, welche Strophen bzw. Textstellen zu singen sind. – Скажи-ка, дядя, ведь не даром Москва, спаленная пожаром, Французу отдана? Ведь были схватки боевые, Да, говорят, еще какие! Недаром помнит вся Россия Про день Бородина! (Archangel’skij [1912]:2–3

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»Sag’ mal, Onkel/Alter, es wurde doch nicht Umsonst das verbrannte Moskau Dem Franzosen überlassen? Es gab doch kämpferische Zusammenstöße, Und, wie man sagt, was für welche! Nicht ohne Grund denkt ganz Russland An den Tag von Borodino!« Während bei N. Snel’man die Quelle des »Bildes« (»nach M.Ju. Lermontov«) noch angegeben wird, kommt es durch die Gattungszuweisung im Untertitel »soldatskaja pesnja« [»Soldatenlied«] sowie durch die Nichterwähnung des Autors des Textes bei A.A. Archangel’skij zu einer bemerkenswerten Anonymisierung des Liedes. Aus den Informationen auf dem Cover (Ill. 16) und aus der Partitur ist nicht ersichtlich, dass es sich um die Vertonung eines Gedichts von Lermontov handelt. Somit lässt sich die ese aufstellen, dass die Assimilation des literarischen Kanons des »Vaterländischen Krieges« und der darin angelegten Ideologeme in den populären Medien des Jubiläumsjahres 1912 mit einer charakteristischen ›Realisierung‹ und Authentisierung der darin ursprünglich angelegten volkstümlichen Stilisierung einhergeht. Während der kanonische Text von Lermontovs »Borodino« im »musikalischen Bild« von Snel’man entsprechend dem zentralen Topos der Selbstaufopferung für das Vaterland angepasst bzw. gekürzt wird, liefert er bei Archangel’skij ein präzedenzloses Beispiel der russischen Heldenha tigkeit. Durch die Überführung von Lermontovs künstlerischer Stilisierung in ein anonymes »Soldatenlied« wird diese Eigenscha t nicht nur für alle Russen beansprucht, sondern auch als authentischer Ausdruck des russischen Volkspatriotismus stilisiert. Resümee Die Analyse der verarbeiteten Topoi in den ausgewählten musikalischen Werken aus dem Jubiläumsjahr 1912 lässt keine alternative oder gar subversive Lesart gegenüber dem »napoleonischen Narrativ« erkennen. Somit stellen die »musikalischen Bilder« ein beeindruckendes Beispiel für eine Symbiose staatlicher und privater Interessen im Raum der kommerzialisierten Jubiläumskultur dar. Ein großes integratives Potenzial dieser Werke ergibt sich daraus, dass sie nicht nur Traditionen und Gattungen der ›Hochkultur‹, z.B. musikalische Gattungen (Marsch, Gedenklied) sowie die kanonischen Werke der russischen Literatur (M.Ju. Lermontov, L.N. Tolstoj) und der akademischen Kriegsmalerei (V.V. Vereščagin) adaptieren, sondern auch an die ›niedere‹ Tradition anschließen, z.B. an Romanzen, Soldaten- und Volkslieder und deren moderne Stilisierungen. Somit führen sie die verschiedenen Tradierungsformen des »napoleonischen Narrativs« zusammen, woraus dieses seine charakteristische Universalität bezieht.

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Die Adaption von Werken der ›Hochkultur‹ im Medium des Populären lässt sich dabei als Reduktion deren ursprünglichen Bedeutungsspektrums beschreiben, das an das o fizielle Kriegsnarrativ des Jubiläumsjahres angepasst wird. Dies wird z.B. an der Verwendung der Reproduktionen der Gemälde aus V.V. Vereščagins Zyklus »1812 god« in den Werken V.Ch. Davingofs und N.I. Kamenskijs deutlich. Anhand der Verarbeitungen von M.Ju. Lermontovs Gedicht »Borodino« kann man schließlich erkennen, dass es in den musikalischen Werken des Jahres 1912 zu einer multimedialen ›Realisierung‹ der vom Autor intendierten volkstümlichen Stilisierung kommt, wobei der Text des russischen ›Klassikers‹ zum authentischen Zeugnis der russischen Folklore (»Soldatenlied«) und zum Ausdruck des Ideals des Volkspatriotismus stilisiert wird. Durch die Ausblendung von Lermontovs Generationenmetaphorik und Gesellscha tskritik wird die Idee der bedingungslosen Selbstaufopferung für das Wohl des Vaterlands in den Mittelpunkt gerückt und gleichzeitig für alle Rezipienten universalisiert. Diese Befunde lassen darauf schließen, dass die Verbreitung des traditionellen »napoleonischen Narrativs« im Jubiläumsjahr 1912 im Wesentlichen durch die neuen hybriden Gattungen getragen wurde, die verschiedenartige Quellen in multimedialer Form zu einem schlüssigen Bild, das in Einklang mit der staatso fiziellen Kriegsinterpretation stand, verarbeiteten.

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Der »Vaterländische Krieg« im russischen Kino lm des Jahres 1912

Zu den modernsten Medien des Jubiläumsjahres 1912 gehörte der Kinofilm, der schnell an Popularität gewann und als neuartiges Mittel der Massenunterhaltung eine beliebte Alternative zu den traditionellen Formen der Jubiläumsbegehung wie Militärparaden oder eaterau führungen bot (vgl. Schneider 2001:59-63). Die Entwicklung des russischen Kinofilms war von Anfang an eng mit dem Zarenhof verbunden. Nikolaj II., der selbst ein leidenscha tlicher Fotograph war (vgl. Kazakova/Kazakov 1995:62; Wortman 2000:494), zeigte trotz aller Vorbehalte Interesse für das neue Medium und erkannte früh dessen propagandistisches Potenzial für die Inszenierung der Staatsmacht (vgl. Graščenkova 2005:15-17; Beljakova 2013; zur Lage in Deutschland vgl. Petzold 2012). Trotz des Zensurverbotes, Zarenfiguren auf der eaterbühne zu zeigen, war es gerade das neue Medium des Kinofilms, in dem diese Einschränkung – spätestens mit dem Ausrichten des 300-jährigen Jubiläums der Romanovs 1913 – aufgehoben wurde (vgl. Wortman 2000:485-487; Jangirov 2007). Die ersten russischen Filmaufnahmen wurden 1896 bei der Inthronisierung Nikolajs II. angefertigt. Seit 1901 wurden o fizielle Zeremonien des russischen Hofes unter der Anleitung des Ho fotographen und Kameramanns Aleksandr Karlovič Jagel’skij (????–1916) regelmäßig gefilmt. Jagel’skij fertigte auch Filme an, die die Romanovs in privater Atmosphäre zeigten, und einige davon wurden spä-

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ter für die ö fentliche Au führung freigegeben (vgl. Kazakova/Kazakov 1995:62-66; Wortman 2000:485; Zimin 2013:272-281). Auch große Jubiläen des russischen Imperiums wurden im Film festgehalten. Allein bei den Feierlichkeiten anlässlich des 300-jährigen Jubiläums der Schlacht von Poltava 1909 wurden insgesamt sieben Filme angefertigt, von denen nur ca. ein Drittel des Materials erhalten geblieben ist. Vom 25. bis zum 31. August 1912 wurden die o fiziellen, unter Teilnahme der Zarenfamilie veranstalteten Jubiläumsfeierlichkeiten in Borodino, Moskau und Smolensk von den Moskauer Filialen der Firma »Gaumont« und der Firma der »Brüder Pathé« gefilmt. Diese Filme sind nur fragmentarisch erhalten geblieben (vgl. Beljakova 2013; Koloskova o.J.; Lebedeva 2005).7 Neben den Dokumentaraufnahmen der o fiziellen Zeremonien und der Zarenfamilie entwickelte sich in Russland zu Beginn des 20. Jahrhunderts zunehmend auch eine kommerzielle Industrie des Spielfilms (vgl. Višnevskij 1945; Ivanova 2002; Graščenkova 2005; Kijčenko/Syčeva 2014). Allerdings sind viele Aufnahmen nach der Revolution von 1917 im Zuge der Nationalisierung des russischen Archivs von Kino- und Fotodokumenten durcheinandergeraten oder verloren gegangen und mussten in aufwändiger Katalogisierungsarbeit rekonstruiert werden. Daraus sind Nachschlagewerke entstanden (Višnevskij 1945, 1996; Ivanova 2002; Batalin 2007), die einen Überblick über den Bestand der russischen Dokumentar- und Spielfilme bieten (vgl. Beljakova 2013; Koloskova o.J.). Eine wertvolle, aber zugleich unvollständige Quelle für die Untersuchung der zeitgenössischen Rezeption des russischen Spielfilms von 1908 bis 1918 stellt der umfassende Katalog »Velikij kinemo« [»Der große Kinemo«] dar, der Auszüge aus der zeitgenössischen Presse und den o fiziellen Zensurdokumenten bietet (Ivanova 2002). Über die Entstehung der ersten russischen Filme geben schließlich auch Egodokumente und Erinnerungen der Protagonisten Auskun t (z.B. Sabinskij 1936), die allerdings nur mit großen Zensureingri fen publiziert wurden (z.B. Chanžonkov 1937). Als eine der ersten kinematographischen Verarbeitungen der Epoche von 1812 ist der Film des Regisseurs Vasilij Michajlovič Gončarov (1861-1915) (zu seiner Biographie vgl. Ivanova 2002:503-505) »Napoleon v Rossii« [»Napoleon in Russland«] 7

2012 wurden diese Filmfragmente in einer Doku-Serie des russischen TV-Senders »Kul’tura« [»Kultur«] verö fentlicht. Mit Rekurs auf den russischen Philosophen Petr Jakovlevič Čaadaev (1794-1856) warnte der Journalist und Historiker Sergej Medvedev vor dem »Verwischen des historischen Gedächtnisses« [»стирание исторической памяти«] und bot den Zuschauern – ganz im Sinne der traditionellen russischen Interpretation des »Vaterländischen Krieges« (vgl. Šore/Nochejlʼ/Rapp 2015) – die Filmchronik als Beweis für die Existenz der russischen Geschichte, mittels derer die Russen sich wieder ihrer selbst als Nation vergewissern könnten (vgl. ). Ein Prachtalbum des Russischen Archivs der Foto- und Kinodokumente zu den Aufnahmen, das den Versuch einer historisch-kritischen Beschreibung der Filmsequenzen enthält (Koloskova/Litvin 2012), ist in kleiner Au lage erschienen und mittlerweile zur bibliographischen Rarität geworden.

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zu nennen, der 1910 in der Moskauer Abteilung der französischen Firma »Gaumont« gedreht wurde. Das »historische Drama« lief in der Begleitung eines »melodramatischen Akkompagnements« und hatte auch in der Provinz großen Erfolg (vgl. Višnevskij 1945:12; Ivanov 2012). Im Jubiläumsjahr 1912 gab es sogar mehrere Filme über den »Vaterländischen Krieg«, die allerdings heute als verloren gelten (vgl. Višnevskij 1945:146-147; 147-148). Zu einem besonders prominenten Werk des Jubiläumsjahres 1912 wurde der Film des russischen Filmproduzenten Aleksandr Alekseevič Chanžonkov (18771945) (zur Biographie siehe Ivanova 2002:524-526) »1812 god« [»Das Jahr 1812«] (Paralleltitel: »Otečestvennaja vojna«; »Našestvie Napoleona«; »Borodinskij boj«; »Jubilejnaja istoričeskaja kartina Otečestvennoj vojny« [»Der Vaterländische Krieg«; »Der Einfall Napoleons«; »Die Schlacht von Borodino«; »Historisches Jubiläumsbild des Vaterländischen Krieges«]) (vgl. Višnevskij 1945:24), der in einer gemeinsamen Produktion mit dem französischen Atelier der Brüder Pathé in Moskau gedreht wurde. Bereits 1911 präsentierte Chanžonkov Nikolaj II. seinen in Kooperation mit V.M. Gončarov mit höchster Erlaubnis gedrehten Film »Oborona Sevastopolja« [»Die Verteidigung von Sevastopol’«] (Paralleltitel: »Voskresšij Sevastopolʼ [»Das auferstandene Sevastopol’«]) (vgl. Višnevskij 1945:16; Ivanova 2002:87-97; Fedotova 2010:139, 143), der zum ersten russischen abendfüllenden [russ. ›polnometražnyj‹] Film avancierte und vom Zaren positiv aufgenommen wurde (vgl. Kazakova/Kazakov 1995:67; Zimin 2013:278). Wie in der jüngsten russischen Forschung erkannt wurde, zeigt bereits dieser Versuch der Verarbeitung einer traumatischen Episode der russischen Geschichte, dass die Erinnerung an den Krimkrieg im Sinne der Logik des »napoleonischen Narrativs« zu einem geistigen Sieg umgeformt wird. Wie es die Historikerin der Europäischen Universität in Sankt Petersburg Marina Fedotova festlält, Соединение трагедии и праздника, утраты и торжества в образе Крымской эпопеи придавало коллективному образу этого события дополнительный драматизм, порождавший ощущение жизненности и достоверности. […] Однако эта драма заканчивается, по сути, триумфом, моральным превосходством, идеей победы добра над злом, поскольку сама гибель в сражении становится нравственной победой и оставление Севастополя превращается в реализацию христианской идеи искупительной жертвы. (Fedotova 2010:143, Hervorhebung K.R.) Eine Verbindung von Tragödie und Festtag, von Verlust und Feier bei der Darstellung der Krim-Epopöe verlieh dem kollektiven Bild dieses Ereignisses eine zusätzliche Dramatik, die das Gefühl von Lebensnähe und Authentizität erzeugte. […] Jedoch endet dieses Drama im Grunde mit einem Triumph, mit der [Feststellung der] geistigen Überlegenheit, mit der Idee des Sieges des Guten über das Böse, weil der Tod

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in der Schlacht selbst zum moralischen Sieg und die Aufgabe von Sevastopolʼ zur Verkörperung der christlichen Idee eines erlösenden Opfers werden. Im Juni 1911 wandte sich Chanžonkov an den Zaren mit der Bitte, einen Film über den »Vaterländischen Krieg« zum bevorstehenden Jubiläum drehen zu dürfen, und berief sich dabei auf seine erfolgreiche Verfilmung der Verteidigung von Sevastopolʼ. Sein Gesuch lässt auf die Erwartungen des Zarenhofes und der o fiziellen Kreise gegenüber dem neuen Medium Film schließen. Chanžonkovs Argumentation suggeriert die Identität einer künstlerisch anspruchsvollen, wahrheitsgetreuen und zugleich heroischen Darstellung der russischen nationalen Geschichte, die zugleich mit dem pragmatischen Zweck der Erziehung zum Patriotismus verknüp t wird. Der Produzent nutzt auch die Gelegenheit, auf die potenzielle Konkurrenz durch westliche Filmproduzenten hinzuweisen, diese wird allerdings durch den Verweis auf kommerzielle Interessen und die angeblich nicht authentische Kriegsdarstellung zugleich entkrä tet: Моя мечта направить все свои силы и средства на правдивую и художественную постановку эпизодов Отечественной войны 1812 г. Накануне предстоящего юбилея картины такого же названия, несомненно, будут сняты иностранными фирмами, которые, преследуя исключительно коммерческие цели, не могут, да и не захотят позаботиться об исторически правильном освещении подвигов наших героев, что так важно для всех граждан России и особенно нашего подрастающего поколения. (Ivanova 2002:103) Mein Traum ist es, all meine Krä te und Mittel auf eine wahrheitsgetreue und künstlerische Inszenierung der Episoden des Vaterländischen Krieges von 1812 zu richten. Am Vorabend des bevorstehenden Jubiläums werden Filme mit demselben Titel ohne Zweifel auch von ausländischen Firmen gedreht werden, die ausschließlich kommerzielle Zwecke verfolgen und die nicht imstande sind und auch nicht die Absicht haben, sich um eine historisch korrekte Beleuchtung der großen Taten unserer Helden zu kümmern, was für alle Bürger von Russland und vor allem für unsere heranwachsende Generation so wichtig ist. Die staatliche Vereinnahmung des Mediums Kino im Jubiläumsjahr 1912 lässt sich anhand der Kooperation Chanžonkovs mit der Gesellscha t für die Bekanntmachung mit den historischen Ereignissen Russlands [Obščestvo oznakomlenija s istoričeskimi sobytijami Rossii] festmachen, die bereits 1911 mit »Oborona Sevastopolja« begann. Die »Gesellscha t« wurde 1911 auf Initiative einiger Mitglieder der Russischen Kaiserlichen Militärhistorischen Gesellscha t [Imperatorskoe russkoe voenno-istoričeskoe obščestvo, IRVIO] (vgl. Kap. 2.2.) mit dem Ziel gegründet, mithilfe von eater und Filmkunst »die russische Bevölkerung möglichst breit

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und vollständig mit der ruhmreichen Geschichte unseres Vaterlands«, insbesondere mit dem »Vaterländischen Krieg«, »bekanntzumachen« [vgl. »возможно широкое и полное ознакомление населения со славным прошлым нашего отечества«] (Kratkij obzor 1913:3; vgl. Komarova 2000; Tumanova 2008:133-134). Zum Ehrenvorsitzenden wurde der Großfürst Michail Aleksandrovič gewählt, zu den Ehrenmitgliedern zählte auch der Moskauer Gouverneur Vladimir Fedorovič Džunkovskij (1865-1938) (vgl. Kratkij obzor 1913:3-6). Die »Gesellscha t« lässt sich als eine der zahlreichen »historisch-au klärerischen« [»istoriko-prosvetitel’skie«] Vereinigungen betrachten, die aus privater Initiative entstehen und sich in Rückgri f auf die Armee und die o fizielle Historiographie für die Bewahrung eines normativen Geschichtsverständnisses einsetzten (vgl. Kaplan 2012:356-359). Im Juli 1911 wurde Chanžonkov als einziger Spezialist für die Herstellung von Kinofilmen zum Mitglied der »Gesellscha t« gewählt. Dabei verp lichtete er sich dazu, die von der »Gesellscha t« ausgewählten und genehmigten Episoden aus der russischen Geschichte auf eigene Kosten zu verfilmen und zu vermarkten. Von jeder Au führung bzw. jedem Verkauf eines Films musste er der »Gesellscha t« jeweils zehn Prozent der Einnahmen zukommen lassen. Dafür versprach ihm die »Gesellscha t« alle mögliche sachliche und organisatorische Unterstützung, z.B. die Bereitstellung von Soldaten für die Kriegsszenen (vgl. Kratkij obzor 1913:18-22). Das Drehbuch von »1812 god« wurde unter der Beteiligung von Oberst Vladimir Aleksandrovič Afanas’ev (1873-1954) verfasst (vgl. Kratkij obzor 1913:21), der auch als Initiator des Museums des Jahres 1812 (vgl. Afanas’ev 1907) und des Panoramas der Schlacht von Borodino (vgl. Tsimbaev 2014) bekannt war (vgl. Kap. 2.4.). Laut dem Bericht der »Gesellscha t« wurden im Sommer 1912 für Chanžonkovs Film insgesamt 46 »Einzelbilder« und eine »Apotheose« angefertigt, darunter der Empfang Aleksandrs I. in Moskau, die Schlacht von Borodino, der Kriegsrat in Fili, der Einzug der Franzosen in Moskau, der Brand von Moskau, das Verlassen von Moskau durch die Franzosen und die Überquerung der Berezina. Die Zusammenarbeit mit Chanžonkov wurde im Bericht der »Gesellscha t« schließlich für erfolgreich befunden. Der Film wurde sowohl in der russischen Provinz als auch im Ausland zum großen Erfolg und brachte der »Gesellscha t« hohe Einnahmen (vgl. Kratkij obzor 1913:21-22; 35). Parallel zu Chanžonkov reichte auch das Filmatelier der Brüder Pathé ein Gesuch bei der Kanzlei des Kaiserlichen Hofes ein, einen Film über den Krieg von 1812 drehen zu dürfen. Die Dreharbeiten wurden unter der Bedingung genehmigt, jegliche Darstellung des Zaren Aleksandr I. sowie diejenigen Episoden auszuschließen, die die russische Armee in negativem oder lächerlichem Licht zeigen oder das religiöse Gefühl des russischen Volkes verletzen können (vgl. Jangirov 2007): […] при условии совершенного исключения из картин изображения Императора Александра I и некоторых эпизодов, которые могут представить в неже-

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лательном освещении деятельность нашей армии, а также задеть религиозное чувство русского народа, как, например: »казаки поворачивают назад«, »казаки рассыпаются и отступают за реку«, »французские солдаты отступают к Березине в маскарадных костюмах, т.е. в ризах, рогожах, попонах«, у некоторых из отступающих французов »на головах кивера, у других камилавки«. (Ivanova 2002:104) […] unter der Bedingung, aus den Bildern die Darstellung des Imperators Aleksandr I. und einige Episoden ganz auszuschließen, die die Aktionen unserer Armee im negativen Licht darstellen oder das religiöse Gefühl des russischen Volkes verletzten können, wie z.B. »die Kosaken kehren um«, »die Kosaken zerstreuen sich und ziehen sich hinter den Fluss zurück«, »die französischen Soldaten ziehen sich an die Berezina in maskeradeha ten Kostümen zurück, d.h. in Messgewändern, Bastmatten und Pferdedecken«, einige der sich zurückziehenden Franzosen »tragen Tschakos, die anderen – Kamilavkien [Kop bedeckung orthodoxer Mönche und Priester, K.R.] auf dem Kopf«. Diese Entscheidung spiegelt nicht nur ein gewisses Misstrauen der o fiziellen russischen Organe gegenüber dem neuen Medium des Spielfilms wider, der zudem von einer ausländischen Firma gedreht werden sollte. Sie zeigt auch, dass sich der Hof der propagandistischen Wirkung des neuen Mediums bewusst war und jegliche Herabsetzung der heroischen ematik verhindern wollte. Die institutionellen Bedingungen beein lussten die Herangehensweise und die Produktion der beiden konkurrierenden Filmstudios. Während Chanžonkov dank seiner Kooperation mit der Gesellscha t für die Bekanntmachung mit den historischen Ereignissen Russlands zahlreiche Massenszenen mithilfe der russischen Armee und gute Winterszenen drehen konnte, überwogen in der Produktion der Brüder Pathé »dekorative« Episoden, die sich nach den bekannten Gemälden von Aleksej Danilovič Kivšenko (1851-1895), V.V. Vereščagin und Illarion Michajlovič Prjanišnikov (1840-1894) richteten. Schließlich entschieden sich die Brüder Pathé und Chanžonkov für eine gemeinsame Produktion (vgl. Chanžonkov 1937:61-62). Die Dreharbeiten liefen parallel, was dazu führte, dass Napoleon im Film von zwei verschieden Schauspielern gespielt wird. Zum Film wurde eine reich illustrierte Begleitbroschüre herausgegeben (vgl. Ivanova 2002:110), die eine historische Skizze des »Vaterländischen Krieges« enthält und die Erwartungen an das neue Medium Film formulierte. Aus dem Vorwort kann man erkennen, dass die Authentizität der Kinobilder für die Produzenten die oberste Priorität hatte. Die Metaphorik einer (spiegelartigen) Abbildung einer historischen Epoche legt den Glauben o fen, dass Vergangenheit nunmehr mithilfe von Kunst – im Rückgri f auf das modernste Medium des Films sowie auf historische Artefakte – adäquat wiedergegeben werden kann:

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Особенное внимание было нами обращено на портретную передачу главных героев. Фигуры Александра I, Наполеона, Кутузова и др. являются перед зрителем сделанными по портретам лучших мастеров. Костюмы, вооружение сделано специально для этой ленты по образцам, хранящимся в музеях. Большинство отдельных картин сделано согласно полотен кисти таких художников, как Верещагин и др. Bсе действия отдельных картин происходят на исторических местах. Словом, с нашей стороны приложены вcе усилия, чтобы дать ленту, которая во всем своем объеме была бы достойна той великой эпохи, изображением коей она является. (Jubilejnaja kartina [1912]:[2]) Unsere besondere Aufmerksamkeit lenkten wir auf die porträtartige Wiedergabe der Haupthelden. Die Figuren von Aleksandr I., Napoleon, Kutuzov usw. erscheinen vor den Zuschauern in der Nachbildung von Gemälden der besten Meister. Kostüme und Wa fen wurden extra für den Film nach den in Museen lagernden Mustern angefertigt. Die Mehrheit der einzelnen Bilder erscheint vor dem Zuschauer in der Nachbildung von Gemälden solcher Künstler wie Vereščagin u.a. Die Handlung aller einzelnen Bilder spielt sich an historischen Orten ab. Mit einem Wort gaben wir uns unsererseits alle erdenkliche Mühe, um einen Film vorzulegen, der in seinem ganzen Umfang jener großen Epoche würdig ist, die er abbildet. Das Primat der wahrheitsgetreuen Darstellung bedingte den Au bau des Jubiläumsfilms. Bezeichnenderweise wurde er nicht als Spielfilm, etwa mit einer fiktional-abenteuerlichen Handlung o.Ä., sondern als chronologisch aufgebaute Reihe von »historischen Cinema-Bildern« [»исторические кинемо-картины«] (Kratkij obzor 1913:19; vgl. Wortman 2000:486) konzipiert, deren einzelne Episoden mithilfe von Standbildern durch Paratexte markiert wurden und auch durch den Text in der Begleitbroschüre eine zusätzliche historische Kontextualisierung erhielten.8 In dieser Hinsicht lässt sich der Jubiläumsfilm als eine Weiterentwicklung der multimedial inszenierten Ausstellungen V.V. Vereščagins betrachten, der den Zuschauer

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Aus dem Bericht der Gesellscha t für die Bekanntmachung mit den historischen Ereignissen Russlands und Chanžonkovs Erinnerungen geht hervor, dass o fenbar mehr Szenen gedreht worden waren (vgl. Kratkij obzor 1913:21-22; Chanžonkov 1937:59), die allerdings nicht alle in die Endversion des Films eingingen. Auch nach 1917 wurde der Film o fenbar zensiert, sodass in der 2009 in Russland herausgegebenen Version (Chanžonkov 2009) mit der Gesamtlänge von ca. 32 Minuten einige aus den zeitgenössischen Rezensionen belegte Szenen fehlen (vgl. Ivanov 2012). Somit kann die 2009 herausgegebene Chronik nur zum Teil bzw. in Ergänzung zum Text der Begleitbroschüre (Jubilejnaja kartina [1912]) als Grundlage für eine Analyse dienen.

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in die Atmosphäre einer historischen Epoche eintauchen lassen wollte (vgl. Frolov 1992). Auch führt der Film die Idee des Panoramas der Schlacht von Borodino fort, das von dem russischen Maler Franc Rubo [Franz Roubaud] (1856-1928) angefertigt und am 29. August 1912 im Rahmen der o fiziellen Feierlichkeiten in Moskau erö fnet wurde (vgl. Tsimbaev 2014). Schließlich zeigen Chanžonkovs ‚bewegte Bilder‘ Ähnlichkeit mit der »historischen Chronik« Aleksej Ivanovič Bachmet’evs (ca. 1875-192?) »Dvenadcatyj god« [»Das Jahr 1812«] (Bachmet’ev 1912), worauf die zeitgenössischen Rezensenten hingewiesen haben (vgl. Auslender 1912:185; Kap.2.4.). Ähnlich wie in seinem vorherigen Film »Oborona Sevastopolja« (vgl. Fedotova 2010; Kijčenko/Syčeva 2014) präsentierte Chanžonkov dem Publikum am Schluss des Films Dokumentaraufnahmen von angeblichen Augenzeugen bzw. Veteranen des »Vaterländischen Krieges«, die auch auf höchster Ebene in die o fiziellen Jubiläumsfeierlichkeiten eingebunden waren (vgl. Kijčenko/Syčeva 2014:[7]–[10]). Auch wenn das tatsächliche Alter dieser Personen fraglich ist, wurde dadurch eine direkte Kontinuität zwischen 1812 und 1912 hergestellt bzw. die Identität der beiden Epochen suggeriert, was den Kernpunkt der staatso fiziellen Interpretation der Epoche von 1812 im Rahmen des 100-jährigen Jubiläums darstellte (vgl. Kap. 2.3.). Der Film wurde am 25. und 26. August 1912 während der o fiziellen Feierlichkeiten erstmals ö fentlich gezeigt und vom Publikum mit großer Begeisterung aufgenommen. Zwar bemängelten die Rezensenten einige anachronistische Details, das a fektierte Schauspiel der Darsteller (vgl. Ivanova 2002:110) oder auch das »unpatriotische« Bündnis mit dem französischen Konkurrenten (vgl. Chanžonkov 1937:60-62), doch die meisten Äußerungen in der zeitgenössischen Presse brachten die Faszination über das neue Medium zum Ausdruck (vgl. Ivanova 2002). Der Film lief in Russland und im Ausland und hatte die Kosten nach zwei Wochen eingespielt (vgl. Kratkij obzor 1913:22, 35; Graščenkova 2005:172). Auch von Seiten der Rezipienten wurde dem Kinofilm, der eine Alternative zu den herkömmlichen Jubiläumsmaßnahmen bot, ein hoher Authentizitätswert zugesprochen (vgl. Schneider 2001:59-61). Aus der folgenden zeitgenössischen Rezension geht z.B. hervor, dass sich die Zuschauer trotz der Einsicht in die Technologie des Films nur schwer der Illusion entziehen konnten: Ни минуты не забывая, что передо мной проходят картины, нарочно поставленные и разыгранные, я все-таки испытал полную иллюзию. Казалось, что действительно наблюдаешь эту страшную битву, это величайшее сражение, решившее судьбу того, кто сдавил Европу своей пятой. (Ivanova 2002:111, Hervorhebung K.R.) Ohne für einen Augenblick zu vergessen, dass vor mir Bilder vorbeizogen, die bewusst inszeniert und gespielt waren, erlebte ich dennoch eine vollkommene Illusion. Es schien, als würde man in der Realität diese schreckliche Schlacht, diesen unge-

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heuren Kampf beobachten, der über das Schicksal dessen entschied, der Europa unter seine Knute gebracht hatte. Wie wurde nun diese Authentizitätsfiktion aufgebaut? Bei der kinematographischen Verarbeitung der Geschichte des »Vaterländischen Krieges« rücken die Prozesse der Aktualisierung und des intermedialen Transfers von literarischen und visuellen Quellen in den Vordergrund. Dabei lässt sich eine charakteristische Anpassung dieser polysemantischen Quellen an die Logik des »napoleonischen Narrativs« beobachten. So wird z.B. die Szene des Kriegsrates in Fili nach dem Gemälde von A.D. Kivšenko »Voennyj sovet v Filjach v 1812 godu« [»Der Kriegsrat in Fili im Jahr 1812«] (1880) rekonstruiert, das sich stark an der entsprechenden Stelle in L.N. Tolstojs »Vojna i mir« orientiert (vgl. Makšeev 1912:IV, Begleittext zur Abbildung Nr. 15) (Ill. 17a,b). Den hohen Authentizitätszuspruch an Kivšenkos Gemälde kann man auch daran ablesen, dass es als Grundlage für die entsprechende Szene im oben erwähnten Jubiläumsstück A.I. Bachmet’evs diente, das 1912 im Rahmen der o fiziellen Jubiläumsfeierlichkeiten in Petersburg und Moskau gespielt wurde (vgl. Kap.2.4.). Auch die Szene des Empfangs Kutuzovs durch die russischen Bauern in Gžatsk weist Parallelen zu Tolstojs Schilderung der Ankun t Kutuzovs in Carevo-Zajmišče auf (Ill. 18). Eine solche Darstellung Kutuzovs und seines Umgangs mit den Bauern gehörte zu den zentralen Topoi, auf die der monumentale Text von Tolstoj im Jubiläumsjahr 1912 reduziert wurde, und sollte die enge Bindung zwischen Armee und Volk illustrieren (vgl. Jubilejnaja kartina [1912]:[3]). In für die populären Medien des Jubiläumsjahres typischer Weise avancierte die Person Napoleons auch in Chanžonkovs Film zu einer der zentralen Figuren. Seine bildliche Darstellung orientiert sich am Zyklus V.V. Vereščagins »1812 god« [»Das Jahr 1812«] (1887-1900). Auch Vereščagins Gemälde werden – ähnlich wie in »musikalischen Bildern« (vgl. Kap. 6.2.) – im Sinne der o fiziellen Kriegsinterpretation vereinnahmt. Zwar wird die Episode mit Napoleon auf den Anhöhen von Borodino eindeutig in Anlehnung an Vereščagins Bild nachgestellt (Ill. 19a,b), das bereits zu Beginn der Schlacht von Borodino das Desinteresse und die Apathie des ›größten Feldherrn aller Zeiten‹ suggeriert und seinen fatalistischen Niedergang in Russland andeutet. Dieses subjektive Moment von Vereščagins Interpretation wird im Film jedoch durch eine vorangegangene Szene nivelliert, in der Napoleon den Soldaten das Porträt seines Sohnes zeigt und von seiner Armee bejubelt wird (vgl. Chanžonkov 2009:[01:29]; Jubilejnaja kartina [1912]:[5]). Somit werden nicht nur Napoleons menschliche Züge, sondern auch seine Einheit mit der Armee betont, die – ähnlich wie in den Lesebüchern des ORTZ (vgl. Kap. 3.2.1.) und in der Erzählung von V.P. Avenarius (vgl. Kap 5.3.3.) – als übernationale positive Kontrastfolie dienen kann und die für das »napoleonische Narrativ« zentrale Vorstellung von Napoleon als erfolgreichem Feldherrn und angeblich übermächtigem Gegner festigt. Wäh-

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rend Vereščagin in seinem Zyklus aufgrund seiner antimilitaristischen Haltung bewusst auf die Darstellung der russischen Armee und Militärführung verzichtet, werden die von ihm inspirierten Szenen in Chanžonkovs Film an eine traditionelle Interpretation des »Vaterländischen Krieges« durch eine Umrahmung mit Szenen angepasst, die die Aktionen der russischen Armee auf dem Schlachtfeld von Borodino, den aktiv handelnden russischen Oberbefehlshaber Kutuzov (Chanžonkov 2009:[03:57]) oder General Bagration (Chanžonkov 2009:[05:16]) zeigen. Die weitere Darstellung Napoleons in Moskau geht allerdings durchaus mit Vereščagins Bildern konform und schließt an die tragische Linie des »napoleonischen Mythos« an (vgl. Kap. 1.2.). Diese rückt die persönliche Tragödie Napoleons in den Vordergrund, dessen scheinbarer Triumph bei der Einnahme von Moskau sich in eine Katastrophe verwandelt (Ill. 20a,b und 21a,b). Einen weiteren zentralen Topos stellt der russische »Volkskrieg« dar. Ähnlich wie in der Jubiläumsbroschüre Pavel Markovič Andrianovs (1877-1918), in der die staatso fizielle Kriegsinterpretation von 1912 zum Ausdruck kommt (vgl. Kap. 2.3.), oder den »musikalischen Bildern« (vgl. Kap. 6.2.) wird im Film gezeigt, dass es sich um keinen spontanen bzw. selbstständigen Widerstand, sondern um einen von oben legitimierten Protest handelt. Dies verdeutlicht die Filmszene, in der der Moskauer Gouverneur Rostopčin die Bewohner von Moskau zur Verteidigung der Hauptstadt aufru t (Chanžonkov 2009:[08:38]; vgl. Jubilejnaja kartina [1912]:[3]). Vor dem Hintergrund des Befehls Rostopčins und der Szenen der Meuterei (Chanžonkov 2009:[12:56 – 16:04]) wird der Brand von Moskau anders als bei Andrianov vielmehr als Rachewerk der in der Stadt verbliebenen Bewohner dargestellt (Chanžonkov 2009:[16:06]; vgl. Jubilejnaja kartina [1912]:[6]). Weitere Filmszenen, die das Leid der Brandopfer (Chanžonkov 2009:[21:53; 24:06]) und die nach dem Gemälde V.V. Vereščagins »Podžigateli« [»Die Brandsti ter«] (1897-1898) realistisch nachgestellte Erschießung der angeblichen Brandsti ter zeigen (»Rasstrel podžigatelej« [»Die Erschießung der Brandsti ter«], Chanžonkov 2009:[16:36]; vgl. Ivanova 2002:111), legitimieren umso mehr den allumfassenden »Volkskrieg«. Die Aktionen der bäuerlichen Kämpfer werden in Rückgri f auf Vereščagins Gemälde »Ne zamaj! Daj podojti!« [»Verschrecke sie nicht! Lassʼ sie näher herankommen!«] (1887-1895) gezeigt (Ill. 22a,b). Dem Bild liegt die Geschichte des Dorfältesten Semen Archipovič aus einem Dorf in der Nähe von Možajsk zugrunde, die sich Vereščagin auf einer seiner Expeditionen nach mündlichen Überlieferungen aufzeichnete und die er in seinem Kommentar zum Gemälde anführte (vgl. Vereščagin 1899:43-46). Bereits die zeitgenössischen Kritiker spekulierten darüber, dass Vereščagin in Wirklichkeit den Haupthelden aus M.I. Glinkas Oper »Žiznʼ za carja« Ivan Susanin gemalt und das Bild später an die ematik des Jahres 1812 angepasst haben soll (vgl. Sadovenʼ 1955:241-244). Im Jubiläumsjahr findet sich dieser Standpunkt in einer Skizze über das Museum des Jahres 1812 (vgl. Božovskij 1912:61-63, Hinweis aus Sadovenʼ 1955:244). Aufschlussreich ist die Reaktion Vere-

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ščagins, der die ese der Kritiker a firmativ aufgri f und die Parallele zwischen Susanin und Semen Archipovič ausdrücklich begrüßte: Кто-то в печати заметил, что облик Семена Архиповича напоминает Ивана Сусанина, который мы привыкли видеть в глинкинской опере. Что же плохого, если в облике моего партизана отразился Сусанин, этот величайший по героизму и беззаветной любви к родине русский патриот-партизан? Я не только не вижу в этом ничего зазорного, но даже скажу больше: я был несказанно рад, когда нашел крестьянина с обличьем Сусанина. (Zit. nach Sadovenʼ 1955:244) Jemand in der Presse merkte an, dass die Gestalt von Semen Archipovič an die von Ivan Susanin erinnert, wie wir ihn aus Glinkas Opera zu sehen gewohnt sind. Was ist denn daran so schlimm, wenn sich im Äußeren meines Partisanen Susanin widerspiegelt – dieser durch seinen Heldenmut und seine bedingungslose Liebe zum Vaterland größte russische Partisan und Patriot? Ich sehe darin nicht nur nichts Anstößiges, sondern ich sage sogar: Ich war unaussprechlich froh, als ich einen Bauern mit dem Äußeren von Susanin fand. Man kann erkennen, wie das neue Medium Film Vereščagins künstlerische Annäherung von Ivan Susanin und den Volkshelden aus dem »Vaterländischen Krieg« aufgrei t und aufgrund seines hohen Authentizitätsanspruches der Figur des bäuerlichen Kämpfers den Status einer historischen Figur verleiht. Dadurch wird nicht nur eine historische Kontinuität von den Ereignissen des russisch-polnischen Krieges von 1613 zur Epoche von 1812 konstruiert, sondern auch eine konstante epochenübergreifende Vorstellung vom Patriotismus des russischen Volkes geschaffen. Die allgemeine Bezeichnung »Partizany« [»Die Partisanen«], die bereits Vereščagin verwendet und die auch im Titel der Filmszene steht, verwischt zudem den Unterschied zwischen den professionellen Partisanentruppen in der regulären russischen Armee und den spontan organisierten Bauerntruppen, worauf Militärhistoriker im Kontext des 100-jährigen Jubiläums noch kritisch hingewiesen haben (vgl. Božerjanov 1911:[Text zur Abb. 36]; Makšeev 1912:[Text zur Abb. Nr. 35]). Auch das Gemälde von I.M. Prjanišnikov »Ėpizod iz vojny 1812 goda« [»Eine Episode aus dem Krieg von 1812«] (1874), das die Flucht der napoleonischen Armee aus Russland schildert, wird bei der filmischen Verarbeitung modifiziert (Ill. 23a,b). Prjanišnikov zeigt eine Gruppe frierender französischer Soldaten, die von den mit Stöcken und Heugabeln bewa fneten Bauern begleitet werden. Im Film wird diese Szene durch die Figur einer alten Frau erweitert, die den Gefangenenzug, nur mit einem Ast bewa fnet, antreibt. Somit wird ein Bezug zum russischen lubok und den darin häufig verarbeiteten Figuren der starosticha Vasilisa (vgl. Višlenkova 2011:162-163; 196-197) sowie der alten Spiridonovna und Terent’evna hergestellt. Diese Heldinnen bringen in satirisch-karikierter Form die Übermacht der

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einfachen russischen Bauern über die französischen Soldaten zum Ausdruck (vgl. Stroganov 2012:684-685).9 Das letzte »Bild« von Chanžonkovs Filmchronik zeigt den resignierten Napoleon auf der Flucht aus Russland, als er die Nachricht von der Verschwörung des republikanischen Generals Claude-François Malet (1754-1812) in Paris erhält (Ill. 24a,b). Der im Titel akzentuierte Entschluss Napoleons, seine Armee zu verlassen, signalisiert seine Entfremdung von der Armee, die einmal mehr als Kontrastfolie für die Vorstellung von der patriotischen Einheit Russlands dient (vgl. die Verarbeitung dieses Motivs in Lesebüchern des ORTZ in Kap. 3.2. und bei V.P. Avenarius in Kap. 5.3.3.). Dass Chanžonkovs Jubiläumsstreifen die Tradierung der Erinnerung an den »Vaterländischen Krieg« in Russland bis heute prägt, zeigt die jüngste Auseinandersetzung mit dem Film, die insbesondere durch das 200-jährige Jubiläum angeregt wurde. Es entstanden Arbeiten, die den Film in die Geschichte des russischen Kinofilms einordnen, allerdings ohne dabei die Tradition der medialen Inszenierung der Staatsmacht aus der konstruktivistischen Perspektive näher zu beleuchten (vgl. Balandina 2012; Graščenkova 2005; Žbankova 2012; Ivanov 2012). Einige Publikationen russischer Nachwuchswissenscha tler lassen die unkritische Reproduktion des »napoleonischen Narrativs« bis in die heutige Zeit erkennen. Der ›Westen‹ fungiert in diesen Arbeiten als Qualitätsmaßstab schlechthin, vor dessen Hintergrund der russische Kinofilm als »schwach« charakterisiert wird, ohne dass der organisatorische Aufwand oder die Produktionsbedingungen von Chanžonkovs Film genauer beleuchtet werden. Gleichzeitig wird das »vaterländische« kinematographische Erbe – ähnlich wie im oben zitierten Kommentar Chanžonkovs – scharf vom Westen abgegrenzt, der als Kontrastfolie für die Konstruktion der Vorstellung vom »Patriotismus des russischen Zuschauers« dient: »[…] [П]атриотизм российского зрителя заключался в искреннем интересе к картинам отечественного производства, какими бы слабыми они ни были.« [»[…] [D]er Patriotismus des russischen Zuschauers bestand im aufrichtigen Interesse an Filmen vaterländischer Produktion, so schwach sie auch waren.«] (Kijčenko/Syčeva 2014:[3]). Resümee Am Beispiel der filmischen Verarbeitung der Geschichte des Krieges von 1812 von A. Chanžonkov und den Brüdern Pathé lässt sich ein neuartiges Medium betrachten, das gerade aufgrund seines enormen integrativen Potenzials vom zeitgenössischen Zuschauer als sehr authentisch wahrgenommen wurde. Der Film verkörperte in geradezu idealtypischer Form das Streben der populären Medien nach intermedialer 9

Die Szenen des Leids der französischen Armee wurden in der ursprünglichen Version des Films o fenbar auch durch »Bilder« ergänzt, in denen die russische Bevölkerung Gnade mit dem besiegten Gegner zeigt. Sie sind allerdings verloren gegangen (vgl. Ivanov 2012).

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Synthese von Quellen unterschiedlicher Gattungen, die auf einem neuen qualitativen und technischen Niveau zusammengeführt wurden und dabei an die neuesten modernistischen Strömungen anknüp ten (vgl. Zorkaja 1994:32; Graščenkova 2005:170). Die Analyse von Filmszenen gibt einen Einblick in die Mechanismen der Herstellung einer Authentizitätsfiktion. Die »kinematographischen Bilder« speisen sich nicht nur aus dem Kanon der russischen Literatur und der akademischen Tradition der Kriegsmalerei, sondern auch aus der russischen Folklore, z.B. dem lubok, der seine künstlerische Kra t nicht zuletzt aus einer Kombination von Bild und Text bezieht. Somit stellte der Film die Mittel bereit, mithilfe derer sich sowohl eine objektive als auch eine subjektive Authentizitätsfiktion (vgl. Pirker/Rüdiger 2010:16) herstellen ließ. Die Entwicklung des russischen Kinofilms stand von Beginn an unter der Kontrolle des russischen Staates, der sich mithilfe des neuen Mediums erfolgreich in Szene setzen und seinen Anspruch auf die Auslegung der nationalen Geschichte artikulieren konnte. Die Kooperation A. Chanžonkovs mit der Gesellscha t für die Bekanntmachung mit den historischen Ereignissen Russlands, deren institutionelle Unterstützung die Dreharbeiten erst ermöglichte und den Film für beide Seiten zu einem kommerziell erfolgreichen Projekt werden ließ, macht deutlich, dass die private Initiative der Hinwendung zur nationalen Vergangenheit ideologisch vereinnahmt wurde bzw. die staatso fizielle Kriegsinterpretation aus kommerziellen Gründen pragmatisch bediente. Die ideologische Vereinnahmung des Films lässt die zentrale Funktion der populären Medien im staatso fiziellen Diskurs über den »Vaterländischen Krieg« erkennen, nämlich die Anpassung der verschiedenartigen Quellen an die Logik des traditionellen »napoleonischen Narrativs«. So kann man die filmische Darstellung des Kriegsrates in Fili anhand des Gemäldes von A.D. Kivšenko als tertiäre Adaption der entsprechenden Stelle in L.N. Tolstojs »Vojna i mir« betrachten. Auch die als realitätsgetreue Nachbildungen der Epoche 1812 geltenden Gemälde V.V. Vereščagins aus dem Zyklus »1812 god« werden ideologisch angepasst. Durch die Umrahmung seiner Bilder mit Kriegsszenen wird ihr ursprüngliches antimilitaristisches Pathos zugunsten der traditionellen Vorstellung von der führenden Rolle der regulären russischen Armee und dem von oben initiierten und legitimierten »Volkskrieg« korrigiert. Insofern kommt dem Film von Chanžonkov eine wichtige Rolle bei der Konsolidierung und Popularisierung/Verbreitung der zentralen Topoi des »napoleonischen Narrativs« im Jubiläumsjahr 1912 zu. Ganz im Sinne der o fiziellen Feierlichkeiten (vgl. Kap. 2.2.) wurde mithilfe der als hochauthentisch geltenden »lebendigen Bilder« eine direkte Verbindung zwischen der ›ruhmreichen Vergangenheit‹ und der Gegenwart hergestellt.

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Zwischenbilanz

Die in Kapitel 6 untersuchten Beispiele aus dem Bereich der Unterhaltungskultur zeigen verschiedenartige Formen der Aktualisierung der Erinnerung an den »Vaterländischen Krieg« in den populären Medien des Jubiläumsjahres 1912. Charakteristisch für diese Medien ist der Übergang von einem didaktischen Ansatz der Literatur für Kinder, die sich trotz abenteuerlicher bzw. phantastischer Elemente an der realistischen Tradition der russischen historischen Prosa orientierte (vgl. Kap. 4 und 5), zu einem freieren Umgang mit dem traditionellen Kriegsnarrativ. In der Erzählung B.A. Ščetinins werden traditionelle Topoi und Motive nur fragmentarisch und ober lächlich aufgegri fen und frei miteinander kombiniert. Die Persi lage bzw. satirische Brechung des »napoleonischen Narrativs« lässt sich dabei als Folge und zugleich als beabsichtigter E fekt der populären Adaption dieses Narrativs interpretieren: Mithilfe eines literarischen Spiels soll der Rezipient dazu gebracht werden, sich mit der vorliegenden Geschichtsdarstellung zu identifizieren. Dieser charakteristische Eklektizismus lässt sich auch als Anzeichen der prinzipiellen Unzuverlässigkeit und Unzugänglichkeit des historischen Wissens aufgrund der historischen Distanz und der fortschreitenden Mythisierung bzw. ideologischen Vereinnahmung von Geschichte interpretieren. Zum wichtigsten Garanten der Authentizität einer angeblichen historischen Episode avanciert ihre anspruchsvolle literarische Bearbeitung durch den Schri tsteller, der sich dabei explizit nach dem »Geschmack« des Lesers richtet. Das Pathos der Korrektur der Geschichte im populären Text, der dem Leser die Illusion der Deutungshoheit über die Geschichte vermittelt, kann als wesentliche Identifikationsgrundlage für den Leser beschrieben werden. Ähnlich wie in publizistischen und literarischen Werken des Jubiläumsjahres (vgl. Kap. 5) zeigt sich, dass die satirische Brechung des traditionellen Kriegsnarrativs durch populäre Adaptionen stets mit indirekter Bestätigung der Stereotype einhergeht. Eine wichtige Funktion der populären Medien im normierten Raum der staatso fiziellen Jubiläumskultur kann man darin erkennen, dass sie die verschiedenartigen polysemantischen Quellen an die strikte Logik des »napoleonischen Narrativs« anpassen. Dies lässt sich anhand der Gattung der »musikalischen Bilder« beobachten. Durch eine Adaption der Gemälde V.V. Vereščagins und des Gedichts M.Ju. Lermontovs »Borodino« sowie der Romanze N.S. Sokolovs wurden die verschiedenartigen Quellen aus dem Kanon der russischen Literatur und der akademischen Malerei mit der ›niederen‹ Tradition des Volksliedes und der Romanze zusammengeführt. Die Konsolidierung des »napoleonischen Narrativs« im Jubiläumsjahr 1912 lässt sich somit als komplexer Prozess eines intermedialen Transfers zwischen Text und Bild beschreiben. Umso mehr gilt das für die Filmchronik A. Chanžonkovs »1812 god«, deren Szenen sekundäre oder tertiäre Adaptionen von L.N. Tolstojs »Vojna i mir« sowie der Gemälde A.D. Kivšenkos, I.M. Prjanišnikovs

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und V.V. Vereščagins darstellen. Dabei kommt es zu einer bemerkenswerten Authentisierung der durch ›hohe‹ und ›niedere‹ Kultur hervorgebrachten Zeugnisse, die durch den hohen Authentizitätszuspruch an das Medium Film den Status historischer ›Fakten‹ erhalten. Illustration 9: Cover des »Jubiläumsmarsches« von N.I. Šmelev »Napoleon v Moskve« (Šmelev [1912]).

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Illustration 10a: Zweiseitige Jubiläumsplakette eines unbekannten Autors Nr. CLIII (Cholodkovskij/Godlevskij 1912 : 121).

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Illustration 10b: Einseitige Jubiläumsplakette Nr. CLVI (Cholodkovskij/Godlevskij 1912: 122).

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Illustration 11a: Cover des »Jubiläumsmarsches« von N.I. Kamenskij »Na Borodinskich vysotach« (Kamenskij 1912).

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Illustration 11b: Gemälde von V.V. Vereščagin »Napoleon I na Borodinskich vysotach« (1897).

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Illustration 12: Cover des »musikalischen Bildes« von V.Ch. Davingof »Ėpopeja o 1812 gode« (Davingof [1912]).

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Illustration 13: Cover des »musikalischen Bildes« von N. Aleksandrov »K stoletiju Otečestvennoj vojny« (Aleksandrov [1912]).

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Illustration 14: Cover des »historischen musikalischen Bildes« von M.V. Vladimirov »1812 god« (Vladimirov [1912]).

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Illustration 15: Cover des »musikalischen Bildes« von N. Snel’man »Borodino« (Snel’man [1912]).

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Illustration 16: Cover des »Soldatenliedes« von A. Archangel’skij »Borodino« (Archangel’skij [1912]).

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Illustration 17a: Gemälde von A.D. Kivšenko »Voennyj sovet v Filjach v 1812 godu« (1880).

Illustration 17b: Szene aus dem »Bild« des Jubiläumsfilmes »Voennyj sovet v Filjach. 1 sentjabrja 1812 g.« [»Der Kriegsrat in Fili. 1. September 1812 «] (Jubilejnaja kartina [1912]:[5]).

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Illustration 18: Szene aus dem Jubiläumsfilm »1812 god«. Die Bauern begrüßen Kutuzov in Gžatsk (Jubilejnaja kartina [1912]:[3]).

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Illustration 19a: Gemälde von V.V. Vereščagin »Napoleon I na Borodinskich vysotach« (1897).

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Illustration 19b: Szene aus dem »Bild« des Jubiläumsfilmes »Borodino. 26 avgusta 1812 g.« [»Borodino. 26. August 1812«] (Jubilejnaja kartina [1912]:[4]).

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Illustration 20a: Gemälde von V.V. Vereščagin »V Kremle – požar!« [»Im Kreml brennt es!«] (1887-1898).

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Illustration 20b: Szene aus dem »Bild« des Jubiläumsfilmes »Napoleon s kremlevskoj steny nabljudaet požar Moskvy. 4 sentjabrja 1812 g.« [»Napoleon beobachtet den Brand von Moskau von einer Kreml-Mauer. 4. September 1812«] (Jubilejnaja kartina [1912]:[8]).

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Illustration 21a: Gemälde von V.V. Vereščagin »Skvozʼ požar« [»Durch das Feuer«] (1899-1900).

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Illustration 21b: Szene aus dem »Bild« des Jubiläumsfilmes »Napoleon s trudom probiraetsja čerez gorjaščie ulicy Moskvy« [»Napoleon kämp t sich mit Mühe durch die brennenden Straßen von Moskau«] (Jubilejnaja kartina [1912]:[8]).

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Illustration 22a: Gemälde von V.V. Vereščagin »Ne zamaj! Daj podojti!« (1887-1895).

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Illustration 22b: Still aus dem »Bild« des Jubiläumsfilmes »Partizany« [»Die Partisanen«] (Chanžonkov 2009 [26:55]).

Illustration 23a: Gemälde von I.M. Prjanišnikov »Ėpizod iz vojny 1812 goda« (1874).

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Illustration 23b: Still aus dem »Bild« des Jubiläumsfilmes »Starosticha Vasilisa konvoiruet plenennych eju francuzov« [»Die Dorfälteste Vasilisa eskortiert die von ihr gefangen genommenen Franzosen«] (Chanžonkov 2009 [29:39]).

Während die Bauern auf Prjanišnikovs Bild Gabeln haben, ist Vasilisa, die den Gefangenenzug anführt (Pfeil, K.R.), nur mit einem Ast bewa fnet.

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Illustration 24a: Gemälde von V.V. Vereščagin »Napoleon. Durnye vesti iz Francii« [»Napoleon. Schlechte Nachrichten aus Frankreich«] (1887-1895).

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Illustration 24b: Still aus dem »Bild« des Jubiläumsfilmes »S[elo] Molodčeno. Napoleon polučaet durnye vesti iz Francii i rešaet ostavitʼ armiju. 22. nojabrja 1812 g.« [»Das Dorf Molodčeno. Napoleon erhält schlechte Nachrichten aus Frankreich und beschließt, die Armee zu verlassen. 22. November 1812«] (Chanžonkov 2009 [31:49]).

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7 Schlussbemerkungen: Napoleon und der »Vaterländische Krieg« in Russland

In der vorliegenden Arbeit wurde der Versuch unternommen, die mediale Repräsentation des »Vaterländischen Krieges« von 1812 in Russland im Kontext seines 100-jährigen Jubiläums mit Blick auf die Diskurse um die russische nationale Identität zu beschreiben. Dabei erwies sich die Metaebene des »napoleonischen Narrativs«, der immer wiederkehrenden narrativen Muster, die sich in den unterschiedlichen Zuschreibungen an den »Vaterländischen Krieg« und die Figur Napoleons erkennen lassen, als geeignet, um die staatso fizielle Logik der Hinwendung zur Geschichte des »Vaterländischen Krieges« und deren Repräsentation in literarischen, literaturkritischen, pädagogischen und populärwissenscha tlichen Texten des Jubiläumsjahres 1912 aufzuzeigen. Das »napoleonische Narrativ«, d.h. die verallgemeinernde Interpretation des Krieges gegen Napoleon im Jahr 1812, in der die Vorstellung einer ständigen Bedrohung aus dem Westen sowie die Logik ihrer Überwindung festgehalten werden, formt sich in Russland im 19. Jahrhundert im Zuge der Institutionalisierung des Gedenkens an den Krieg von 1812. Durch die Scha fung von Erinnerungsorten und die Etablierung einer staatso fiziellen Historiographie wurde der Verteidigungskrieg auf eigenem Territorium zu einem alle Schichten der russischen Gesellscha t umfassenden und vereinenden »Vaterländischen Krieg« umgedeutet: Trotz der anfänglichen materiell-technischen Überlegenheit des Westens werde Russland einen moralischgeistigen Sieg über den westlichen Gegner erringen und diesen im messianischen Sinne retten (vgl. Nohejl 2013:61-62; Šore/Nochejlʼ/Rapp 2015:178). Dieses Narrativ wurde in Russland bei späteren militärischen Aktionen immer wieder aktiviert, z.B. beim »Großen Vaterländischen Krieg« 1941-45, und wird vom russischen Staat bis heute zur patriotischen Mobilmachung funktionalisiert. Eine wichtige Rolle bei der Etablierung der staatso fiziellen Kriegsinterpretation kam dem ö fentlichen Gedenken in Form von Kriegsjubiläen zu, die durch Staat und Militär unter weitgehendem Ausschluss der Ö fentlichkeit geplant und organisiert wurden. Diese Tradition wurde unter Nikolaj I. durch die großen Jubiläumsfeierlichkeiten von 1839 gesti tet und zum 100. Jahrestag des »Vaterländischen Krieges« wieder aufgenommen. Die o fiziellen Jubiläumsfeierlichkeiten von 1912,

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die landesweit nach einem einheitlichen Plan ausgerichtet wurden, zielten darauf ab, eine symbolische Identität von 1812 und 1912 im Rahmen der o fiziellen Festkultur zu suggerieren, um die krisenha te Gegenwart auszublenden und die Nation ›um den ron‹ zu einen. Die o fizielle Anerkennung und Würdigung der Rolle des ›russischen Volkes‹ beim Sieg über Napoleon, die sich in kurzfristigen sozialen Maßnahmen und Vergünstigungen äußerte, aktivierte das bereits im ›Szenario der Macht‹ Aleksandrs I. begründete Ideologem von der engen, unau hebbaren, religiös fundierten Bindung zwischen Zar und Volk, die im Rahmen der Jubiläumskultur durch verschiedenartige Medien inszeniert und vor allem auch für die Gegenwart behauptet wurde. Auch wenn eine solche »fundierende« Erinnerung (vgl. Assmann 2003) der realpolitischen Lage des russischen Imperiums nicht entsprach und sie kaum hätte ändern können, ist davon auszugehen, dass die Jubiläumsmaßnahmen ihre Wirksamkeit in erster Linie aus dem Anschluss an die Tradition des »napoleonischen Narrativs« bezogen und einen wichtigen Impuls für die Verbreitung der o fiziellen Kriegsinterpretation im 20. Jahrhundert lieferten. Dass die Logik des »napoleonischen Narrativs« über eine große Variabilität verfügt und in der russischen Kultur weiterhin wirksam ist, zeigte das 200-jährige Jubiläum 2012, bei dem die vorrevolutionäre Feiertradition über die Sowjetzeit hinweg a firmativ aufgegri fen wurde (vgl. Cheauré 2013; Nohejl 2013; Šore/Nochejlʼ/Rapp 2015).

›Fakt‹ und ›Fiktion‹: Authentisierungsstrategien populärer Geschichtsdarstellungen Die Analyse ausgewählter literarischer Texte aus dem 19. und 20. Jahrhundert und verschiedenartiger Jubiläumsmedien zeigt, dass ihnen eine zentrale Rolle bei der Konstruktion eines einheitlichen Bildes der ›ruhmreichen Epoche von 1812‹ zukommt. Durch Auswahl und Neumontage bestimmter Sujets, Topoi und Motive entsteht allmählich ein einheitliches Narrativ über den »Vaterländischen Krieg«, das im Gegensatz zu realhistorischen Ereignissen einer literarisch-ästhetischen Logik und Motivierung folgt. Damit kommt eine weitere Dimension des Begri fs »napoleonisches Narrativ« zum Tragen, nämlich die Vorstellung von einem populären ›Text‹ des »Vaterländischen Krieges«, der sich aus den Quellen unterschiedlicher Gattungen der ›hohen‹ und ›niederen‹ Kultur zusammensetzt und in dem die Erinnerung an ausgewählte Personen und historische Ereignisse künstlerisch gestaltet wird. Popularisierung ist dabei im doppelten Sinne zu verstehen: zum einen als Verbreitung durch die kommerzialisierte Jubiläumskultur, zum anderen als Vereinfachung komplexer Zusammenhänge und als Zusammenführung und Adaption verschiedenartiger Quellen für den einfachen Rezipienten. Zum Hauptkriterium der Bewertung populärer Geschichtsdarstellungen avanciert eine Darstellung des »Vaterländischen Krieges«, die im Sinne der staatso fi-

7 Schlussbemerkungen: Napoleon und der »Vaterländische Krieg« in Russland

ziellen Kriegsinterpretation als faktisch korrekt gilt. Die besondere Authentizitätserwartung an das künstlerische Wort ergibt sich dabei zum einen aus dem hohen Prestige der schöngeistigen Literatur, das diese im Zuge der Säkularisierung vom religiösen kirchenslavischen Schri ttum erbte (vgl. Parthé 2004). Vor allem aber ist die hohe Sensibilität für den Wahrheitsgehalt des Wortes auf die strenge ideologische Normierung und die staatliche Kontrolle zurückzuführen. Über die Forderung einer faktengetreuen Darstellung artikulierte der Staat seinen Anspruch auf die Deutungshoheit über die Auslegung der nationalen Geschichte. Die Popularisierung der Erinnerung an den »Vaterländischen Krieg« ist stets im Spannungsfeld zwischen A firmation und Subversion des »napoleonischen Narrativs« und damit des staatlichen Interpretationsmonopols zu sehen. In diesem Rahmen findet die diskursive Aushandlung von Vergangenheitsbildern statt. Dabei stellt sich insbesondere die Frage nach der Herstellung von Authentizitätsfiktionen, die den Leser dazu bringen, sich mit der o fiziellen Kriegsinterpretation zu identifizieren. Die Forderung nach einer authentischen Darstellung historischer Ereignisse spielte bereits eine zentrale Rolle in der russischen historischen Prosa, die sich in den 30er Jahren des 19. Jahrhunderts unter dem Ein luss der europäischen Romantik und der Ästhetik von Walter Scott etablierte. Auch wenn A.S. Puškins Modell der historischen Prosa als sorgfältige Anpassung der »Romangeschichte« an den »Rahmen eines historischen Ereignisses« (vgl. Puškin 1978a:73) in den russischen poetologischen Debatten des 19. und des frühen 20. Jahrhunderts als Rezeptionskonstante und gemeinsames Ideal für die Kritiker unterschiedlicher, gar gegensätzlicher Lager fungierte, kam es de facto zu einer ideologischen Vereinnahmung literarischer Geschichtsdarstellungen. Die historischen Ereignisse und/oder die fiktionale Handlung dienen dazu, die Konstanz der positiven moralisch-menschlichen Eigenscha ten der Russen im Sinne des »napoleonischen Narrativs« zu veranschaulichen. Dabei stellt der Anspruch auf eine faktisch korrekte Schilderung einer historischen Epoche einen zentralen Aspekt der Poetik der literarischen Geschichtsdarstellungen dar. Es zeigt sich, dass Authentizitätsfiktionen nicht nur mit objektiven Mitteln, etwa durch Anlehnung an historiographische oder Egodokumente, sondern auch mithilfe künstlerischer Mittel der schöngeistigen Literatur, z.B. durch ein literarisches Spiel mit dem Leser, erzeugt werden. So bezieht A.S. Puškins Textfragment »Roslavlev« (1831, publ. 1836) seine Authentizität aus einer intensiven künstlerischen Auseinandersetzung mit dem Prätext, dem gleichnamigen Roman M.N. Zagoskins. L.N. Tolstoj betreibt für sein Monumentalwerk »Vojna i mir« [»Krieg und Frieden«] (1868/69) umfassende historiographische Recherchen und perfektioniert den Ansatz Puškins, indem er ›Fakt‹ und ›Fiktion‹ durch eine aufwändige historische Stilisierung noch zwingender aufeinander bezieht. Allerdings liefert Tolstoj dafür eine subjektiv-philosophische Begründung, die sich nicht auf die strikte Logik des traditionellen »napoleonischen Narrativs« reduzieren ließ und die bereits von seinen Zeitgenossen, den ehemaligen Kriegsteil-

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nehmern, scharf kritisiert wurde. Anhand der Rezeption von »Vojna i mir« lassen sich Selektionsprozesse bei der Tradierung des »napoleonischen Narrativs« beobachten, das im Spannungsfeld zwischen der kollektiven und der individuellen Erinnerung ausgehandelt wurde. Während Tolstojs Herabsetzung Napoleons, seine Volkscharaktere und Bilder des russischen Patriotismus sowie die Vorstellung vom allumfassend-nationalen Charakter des Krieges gegen Napoleon mit der traditionellen Kriegsinterpretation konform gehen und intensiv rezipiert werden, gelten seine philosophischen Ansichten als Verletzung der ›historischen Wahrheit‹ und werden ausgeblendet. Auch für die Nachfolger Tolstojs spielte die Frage der Authentizität eine zentrale Rolle. Der Anspruch auf eine historisch korrekte Schilderung der Epoche von 1812 wird in den Romanen D.S. Dmitrievs durch einen Rückgri f auf ein archaisches Modell der Geschichtsrepräsentation bei A. Dumas – nämlich die Einführung eines separaten historiographischen Narrativs parallel zur literarisch-fiktionalen Handlung – umgesetzt. G.P. Danilevskij rückt in seinem Roman »Sožžennaja Moskva« [»Das verbrannte Moskau«] (1886) die Problematik einer zuverlässigen Tradierung der persönlichen Kriegserfahrung in den Mittelpunkt der Darstellung, indem er auf das große epische Bild der Epoche von 1812 zugunsten des Schicksals eines Einzelnen verzichtet und die »Notizen« von General Perovskij verarbeitet, auf die zuvor auch L.N. Tolstoj zurückgegri fen hatte. Ein originelles Beispiel der historischen Prosa legt D.L. Mordovcev vor, der in seinen Romanen historische Ereignisse und Figuren aus unterschiedlichen Epochen eklektisch zusammenführt und das historische Narrativ in der Art einer Enzyklopädie mit historisch belegten ›Fakten‹ sättigt. Allerdings zeigte sich bereits in den Texten des 19. Jahrhunderts bei der populären Tradierung der Kriegserfahrung von 1812 eine Paradoxie: Die Artikulation von exaktem historiographischem bzw. autobiographischem Wissen führt zugleich zu dessen künstlerischer Überformung und Verfremdung, etwa durch die subjektive Auslegung der Kriegsereignisse bei L.N. Tolstoj, die eigenwillige Neumontage von ›Fakten‹ bei D.L. Mordovcev oder durch die Anonymisierung der individuellen Kriegserfahrung im Prozess ihrer Narrativierung bei G.P. Danilevskij. Damit stellt sich die Frage nach einer zuverlässigen Tradierung des historischen Wissens angesichts der wachsenden historischen Distanz und der fortschreitenden Mythisierung. Eine wichtige Funktion literarischer Geschichtsdarstellungen kann vor diesem Hintergrund darin erkannt werden, dass sie der Authentisierung der als faktual geltenden Topoi des »napoleonischen Narrativs« mithilfe künstlerischer Mittel der schöngeistigen Literatur dienen und den Leser dazu bringen, sich mit der staatso fiziellen Kriegsinterpretation zu identifizieren. Diese zusätzliche ästhetische Motivierung lässt sich an einer Reihe sujetbildender Motive festmachen, die das populäre Narrativ über den »Vaterländischen Krieg strukturieren. Die ematisierung von Hierarchien (z.B. zwischen ›Herren‹ und ›Dienern‹, Erwachsenen und Jugendlichen, Männern und Frauen, Gebildeten und Nichtge-

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bildeten, Militärangehörigen und Nichtmilitärs, Russen und Ausländern) erweist sich als hilfreich, um die zentralen Topoi des »napoleonischen Narrativs« – die Konsolidierung aller Schichten der russischen Gesellscha t angesichts der gemeinsamen Gefahr und den nationalen »Volkskrieg« gegen Napoleon – zu inszenieren. Das sujetbildende Potenzial von Hierarchien ergibt sich daraus, dass sie während des Krieges vorübergehend aufgehoben, umgekehrt und neu geordnet werden. Als produktiv erweisen sich die von L.N. Tolstoj und G.P. Danilevskij inspirierten Szenen, in denen die Diener ihre Herren retten. Gerade in der extremen Situation des Krieges können niedriger Gestellte durch ihren Dienst am Vaterland sozial aufsteigen und den Status der Helden erlangen. Die Umkehrung von Hierarchien liegt auch der Demontage der traditionellen Vorstellung von Frankreich als aufgeklärter Nation zugrunde. Sie wird mithilfe der Topoi der Plünderungen und Schändungen der Kirchen im besetzten Moskau sowie durch den Wandel Napoleons zum Despoten inszeniert und korrespondiert mit der Aufwertung der Russen als europäisch gebildeter Nation. Die persönliche Identifikation des Einzelnen mit dem Schicksal des Vaterlands wird schließlich über das Motiv der durch den Krieg verhinderten Liebe inszeniert. Während das Wohl der Heimat in den patriotischen Romanen M.N. Zagoskins, D.S. Dmitrievs und teilweise bei G.P. Danilevskij über das persönliche Glück gestellt wird bzw. als Voraussetzung für dieses dient, rückt bei G.P. Danilevskij, D.L. Mordovcev und im 20. Jahrhundert bei I.A. Ljubič-Košurov die Problematik des durch den Krieg zerstörten glücklichen Lebens zunehmend in den Mittelpunkt der Darstellung. Damit werden Voraussetzungen für einen kritischen Blick auf das traditionelle »napoleonische Narrativ« und die Heroisierung des Krieges gescha fen. Die Forderung nach der Authentizität wird im Jubiläumsjahr 1912 in geradezu idealtypischer Form mithilfe der fingerten Tagebuchperspektive in den Werken des Schri tstellers und Pädagogen V.P. Avenarius umgesetzt. Die aus historischen Dokumenten und literarischen Zitaten sorgfältig zusammengesetzte Perspektive eines fiktiven jugendlichen Augenzeugen partizipiert an dem hohen Authentizitätswert, der Egodokumenten in Russland traditionell zukommt, und suggeriert die unmittelbare Abbildung und Identität des Erlebten/Gesehenen und Geschriebenen. Mit diesem Kunstgri f lässt sich insbesondere die große Integrationsleistung literarischer Geschichtsdarstellungen in Bezug auf die Konstruktion eines einheitlichen Kriegsnarrativs illustrieren. Dass die Authentizität von populären Geschichtsdarstellungen im Bereich der o fiziellen Jubiläumskultur auch mit modernsten Medien inszeniert wurde, zeigt schließlich der Jubiläumsfilm »1812 god« [»Das Jahr 1812«] des Filmproduzenten A. Chanžonkov, der die heldenha te Darstellung der russischen Geschichte als einzig ›wahre‹ bzw. authentische sieht. Die Kooperation Chanžonkovs mit der patriotisch orientierten Gesellscha t für die Bekanntmachung mit den historischen Ereignissen Russlands [Obščestvo oznakomlenija s istoričeskimi sobytijami Rossii], die ihm

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die staatliche Unterstützung zusicherte und somit die Dreharbeiten erst ermöglichte, zeigt, dass der russische Staat im Jubiläumsjahr auch die neuartigen Medien, die in den Augen der Rezipienten einen großen Authentizitätswert hatten, zur Selbstinszenierung nutzte. Trotz des Anspruchs auf eine authentische Darstellung der Epoche von 1812 zeichnet sich in den populären Verarbeitungen des »Vaterländischen Krieges« auch eine entgegengesetzte Tendenz ab: Aufgrund von historischer Distanz und ideologischer Überfrachtung erscheint der Krieg von 1812 immer mehr als weit entfernte Vergangenheit, als ›Drama der Geschichte‹, was den Weg für einen spielerischen Umgang mit Geschichte erö fnet. Die wenigen Versuche einer phantastisch-abenteuerlichen Verarbeitung des »Vaterländischen Krieges« in der Prosa I.A. LjubičKošurovs zeigen jedoch, dass eine herabsetzende bzw. fiktionalisierende Darstellung, zumindest in der Prosa für Kinder, als tabuiert galt und von den Kritikern streng negativ beurteilt wurde. Obwohl Košurov in seiner Erzählung »Partizany 1812 goda« [»Die Partisanen des Jahres 1812«] (1911) die Kriterien einer guten Unterhaltungsprosa erfüllt und mithilfe einer aufwändigen historischen Stilisierung eine realistische Darstellung der Bauernfiguren vorlegt, wird eine solche Darstellung ohne ein nachweisbares historisches Vorbild von den Kritikern als Täuschung des kindlichen Lesers negativ bewertet. Ein genauerer Blick auf die verarbeiteten Sto fe in einem weiteren Text Košurovs, dem Roman »Požar Moskvy v 1812 godu« [»Der Brand von Moskau im Jahr 1812«] (1912), in dem der Autor eine Legende über die patriotisch motivierte Inbrandsetzung Moskaus durch den Partisanen Figner und seine Mitstreiter verarbeitet, macht deutlich, dass es sich selbst bei abenteuerlich-phantastischen Elementen um keine ›reine‹ Erfindung, sondern um ›apokryphe‹ Fakten ›zweiter Reihe‹ handelt, die im o fiziellen Kriegsnarrativ als tabuisiert galten. Dies illustriert einmal mehr die Konsistenz des traditionellen »napoleonischen Narrativs« und lenkt die Aufmerksamkeit auf die ihm zugrunde liegenden Selektionsprozesse, die gerade durch eine Analyse von populären Medien analytisch grei bar werden. Der von Košurov angedeutete spielerische Umgang mit Geschichte lässt sich noch stärker im Bereich der Unterhaltungskultur für Erwachsene beobachten. Gerade in diesem Bereich wird deutlich, dass die Geschichte der Epoche von 1812 aufgrund von fortschreitender Mythisierung und ideologischer Überfrachtung immer mehr zu einem Sammelsurium von Topoi, Sujets und Figuren avanciert, die sich als Vorlage für eine fiktionale Handlung anbieten. Das Problem der Unmöglichkeit eines objektiven Wissens, das bereits im 19. Jahrhundert bei G.P. Danilevskij und D.L. Mordovcev thematisiert wurde, lässt sich nur auf künstlerischem Wege, durch das Können des Schri tstellers und eine emotionale Involvierung der Rezipienten, lösen. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die Darstellung des »Vaterländischen Krieges« in den literarischen Texten des Jubiläumsjahres im Spannungsfeld

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zwischen einer idealtypischen Aktualisierung der traditionellen Topoi und deren ironischer Brechung verortet werden kann. Dabei macht sich die grundlegende Dialektik der literarischen Geschichtsdarstellung bemerkbar: Die idealtypische Aktualisierung der Ideologeme führt zu ihrer Persi lage und Demontage; zugleich führt die explizite Konzentration auf die Verfremdung bzw. ironische Brechung der traditionellen Vorstellungen zu deren indirekter Verankerung. Diese Verhältnisse lassen sich in ein chiastisches Modell fassen, das idealtypisch für die paradoxale Wirkung der Popularisierung stehen kann (Ill. 25):

Illustration 25: E fekte der Popularisierung des historischen Wissens anhand der Texte I.A. Ljubič-Košurovs und B.A. Ščetinins.

Idealtypische Artikulation der Ideologeme Ironische Brechung

Persiflage

Indirekte Verankerung

Auch der »napoleonische Mythos« (vgl. Kap. 1.2.) beruht auf einer solchen bemerkenswerten Dialektik. Eine historische Handlung kann sich im Prozess der Tradierung des Kriegsnarrativs zu einem Topos herauskristallisieren (z.B. ›die Schlacht von Borodino‹ oder ›der Brand von Moskau‹) und bestimmte Figuren hervorbringen (z.B. ›der Imperator Napoleon‹, ›der Oberbefehlshaber Kutuzov‹, ›der treue Soldat‹, ›die starosticha Vasilisa‹). Sie kann sich aber auch ihrerseits nach einem kulturellen Muster richten oder mithilfe der literarischen oder filmischen Fiktion retrospektiv in dieses Muster eingeschrieben werden. Im streng normierten Bereich der staatso fiziellen Kriegsinterpretation erhalten die darin kanonisierten künstlerisch hervorgebrachten Muster dadurch den Status historischer ›Fakten‹. Dies wird z.B. an der Anonymisierung von M.Ju. Lermontovs Gedicht »Borodino« deutlich, das durch die hybride Gattung des »musikalischen Bildes« zu einem »Soldatenlied« stilisiert und somit allen Russen zugeschrieben wird, oder am Beispiel der Bauernfiguren in Gemälden V.V. Vereščagins und I.M. Prjanišnikovs, die durch das neuartige Medium Film authentisiert werden und im »napoleonischen Narrativ« als ›wahre‹ Beispiele des russischen Patriotismus fungieren. Die Medien bestätigen sich hier also gewissermaßen gegenseitig. Damit wird die zentrale Funktion der populären Medien bei der Tradierung der Erinnerung an den »Vaterländischen Krieg« deutlich: Sie bringen den Rezipienten

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nicht nur dazu, sich mit der jeweiligen Geschichtsdarstellung zu identifizieren, indem sie eine Authentizitätsfiktion herstellen, sondern führen auch zur retrospektiven ›Realisierung‹ und Festigung der im »napoleonischen Narrativ« angelegten künstlerischen Bilder und Mythologeme.

Strategien kritischer Auseinandersetzung mit dem »napoleonischen Narrativ« (ORTZ) Die verschiedenartigen Repräsentationsformen der Erinnerung an den »Vaterländischen Krieg« lassen bestimmte Konstanten erkennen, die im Lauf der Tradierung unterschiedlich funktionalisiert werden, an sich jedoch nicht hinterfragt und somit im Prozess der diskursiven Aushandlung von Vergangenheitsbildern indirekt gefestigt werden. Hierzu gehören z.B. die Zuschreibungen des »napoleonischen Mythos« oder die Topoi des traditionellen »napoleonischen Narrativs«. Wie bereits gezeigt, werden diese Konstanten durch die historische Distanz und die künstlerische Gestaltung in literarischen Werken und populären Medien zwar verfremdet, sie sind jedoch auf direktem Wege nicht zu entkrä ten. Der kritische Umgang mit der staatso fiziellen Kriegsinterpretation lässt sich als komplexer Prozess deren diskursiver Umdeutung beschreiben. Eine kritische Auseinandersetzung mit dem »Vaterländischen Krieg« lässt sich am Bespiel einer nichtstaatlichen freiwilligen Vereinigung, der Moskauer Gesellscha t zur Verbreitung des technischen Wissens [Obščestvo rasprostranenija techničeskich znanij, ORTZ], illustrieren, die im Zuge der liberalen Reformen der 1860er Jahre entstand und sich der Popularisierung von technischem und historischem Wissen widmete. Die Historische Kommission des ORTZ vereinigte liberal gesinnte russische Intellektuelle, für die die Herausgabe von Lehrbüchern und die Beschä tigung mit literaturkritischen und bildungsdidaktischen Fragen eine wichtige Rückzugsnische boten. Die Darstellung des »Vaterländischen Krieges« wurde in den Ausgaben des ORTZ vor allem in der Polemik der Autoren mit der russischen Autokratie funktionalisiert. Die eine Strategie zielte auf eine wissenscha tliche Revidierung der staatso fiziellen Kriegsinterpretation mithilfe von rational-wissenscha tlichen Argumenten ab. Der multiperspektivische Blick auf den »Vaterländischen Krieg« wurde mithilfe der unterschiedlichen wissenscha tlichen Disziplinen sowie aus der Perspektive unterschiedlicher Akteure konstruiert. Die Autoren lenken die Aufmerksamkeit auf die katastrophale Lage des russischen Volkes während und nach dem Krieg von 1812 und entlarven das Ideologem des »Volkskrieges« als Resultat der Kriegsa fekte und einer gezielten religiös konnotierten Propaganda der Regierung. Als produktiv erweist sich die Darstellung des Krieges aus der Per-

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spektive des Gegners, was es unter anderem erlaubte, die allgemeinmenschliche Tragik des Krieges zu vermitteln. Die ›liberalen‹ Historiker bedienten sich auch der Zuschreibungen des »napoleonischen Mythos« und nutzten das romantisierte Napoleon-Bild, um die republikanischen Ideale der Französischen Revolution und die Einheit des französischen Imperators mit seiner Armee zu inszenieren und somit das Abrücken Aleksandrs I. von den liberalen Reformen anzuprangern. Andererseits werden z.B. Napoleons herrschsüchtige Eroberungspläne und despotische Züge dazu genutzt, um die allmähliche Entfremdung des Imperators von seiner Armee und seinem Volk darzustellen. Somit greifen die Autoren des ORTZ auf die idealtypische Vorstellung von der engen Bindung zwischen Herrscher und Volk zurück, die auch der staatso fiziellen Interpretation im Jubiläumsjahr 1912 zugrunde lag, deuten sie aber in ihrem Sinne um, indem sie sowohl für 1812 als auch für 1912 eine Klu t zwischen den Interessen der russischen Autokratie und denen des ›Volkes‹ konstatieren. Die Herangehensweise der Autoren des ORTZ lässt sich mit Jan Assmann als kontrapräsentische Erinnerung bezeichnen (vgl. Assmann 2003). Während der russische Staat im Rahmen der Jubiläumskultur die symbolische Identität der ›ruhmreichen Epoche von 1812‹ mit der Gegenwart inszenierte und das idealisierte Vergangenheitsbild als positive Kontrastfolie zur Gegenwart nutzte, wurde in der ›liberalen‹ Geschichtsinterpretation die kritische Nichtübereinstimmung der beiden Epochen betont. Entscheidend ist, dass das Bild der ›ruhmreichen Epoche von 1812‹ im Zuge dieser Polemik an sich nicht in Frage gestellt und indirekt gefestigt wurde. Die idealisierte Vorstellung von der heldenha ten, aber politisch nicht mehr aktuellen russischen Vergangenheit erweist sich für die Kritiker als hilfreich, um die brisanten Fragen nach der propagandistischen Rolle literarischer und visueller Medien und der staatlichen Maßnahmen anhand der Verhältnisse des Jahres 1812 zu erörtern, ohne die herausragende Bedeutung des »Vaterländischen Krieges« oder den Patriotismus der Russen grundsätzlich in Frage zu stellen. Wie sensibel die ›liberalen‹ Krä te dabei auf die Zugeständnisse der staatsoffiziellen Kriegsinterpretation reagierten, zeigt die Auseinandersetzung mit dem Ideologem des »Volkskrieges«. Die o fizielle Anerkennung der Rolle des Volkes unter der Führung der regulären Armee im Jubiläumsjahr 1912 erlaubte es den Kritikern, nicht nur die Aktionen der russischen opolčency [Volksaufgebotskämpfer] als wesentlichen Beitrag zum Sieg über Napoleon aufzuwerten, sondern auch die o fiziellen Maßnahmen der Regierung während des Krieges und bei der Aufgabe Moskaus kritisch zu hinterfragen und aus humaner Perspektive zu problematisieren. In der ›liberalen‹ Kriegsinterpretation wird das ›russische Volk‹ nicht dank, sondern trotz der staatlichen militärischen Maßnahmen und der Unterdrückung durch die russische Autokratie zum ›wahren‹ Sieger im »Vaterländischen Krieg« erklärt. Das idealisierte Bild des Jahres 1812 erweist sich hier als Grundlage dafür, die Jubiläumsmedien dahingehend zu kritisieren, dass sie der ›ehrwürdigen Epo-

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che‹ nicht gerecht würden. Damit wird nicht die Idee an sich, sondern der Grad ihrer Ausführung kritisiert. In ähnlicher Weise wurde auch der poetologische Diskurs über die russische historische Prosa funktionalisiert. Während die Texte A.S. Puškins und L.N. Tolstojs weiterhin als Ideale der russischen historischen Prosa fungierten, führten Autoren des Sammelbandes des ORTZ »Otečestvennaja vojna i russkoe obščestvo« [»Der Vaterländische Krieg und die russische Gesellscha t«] die ungenügende Verbundenheit von ›Fakt‹ und ›Fiktion‹ in den literarischen Texten des 19. Jahrhunderts explizit auf deren ideologische Vereinnahmung zurück. Der Literaturwissenscha tler K.V. Pokrovskij erklärte, dass die literarischen Werke des Jubiläumsjahres 1912 der ›ehrwürdigen Epoche‹ nicht gerecht würden. Noch deutlicher wurde diese ese in Bezug auf das Jubiläumsjahr 1912 im pädagogisch-didaktischen Diskurs in den Beiträgen von I.V. Vladislavlev und S.P. Mel’gunov formuliert. Die Frage nach dem pädagogischen Nutzen der Jubiläumsmedien bot einen Freiraum, um deren tendenziösen Charakter direkt anzuprangern. Eine weitere Strategie der kritischen Auseinandersetzung mit der staatso fiziellen Kriegsinterpretation lässt sich schließlich anhand der Texte S.P. Mel’gunovs zeigen. Er benennt zwar formal die traditionellen Ideologeme wie die göttliche Fundierung der Zarenmacht oder die Auserwähltheit des russischen Volkes, liefert dafür jedoch eine gegenteilige Interpretation und führt das »napoleonische Narrativ« ad absurdum, indem er seine Logik o fenlegt und hyperbolisiert. Diese Strategie zeigt einmal mehr, dass eine idealtypische Artikulation eines Ideologems im ideologisch normierten Raum der Jubiläumskultur sowohl zu deren Aktualisierung als auch zu deren Demontage führen kann, und ist ein Zeugnis dafür, dass es auch bei der kritischen Auseinandersetzung mit traditionellen Vorstellungen zu deren indirekter Verankerung kommt.

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Verzeichnis der Illustrationen

Nr. Quelle/Rechteinhaber 1. Eigene graphische Darstellung. 2. Eigene graphische Darstellung. 3. Eigene graphische Darstellung. 4. Ljubič-Košurov 1911, Rossijskaja Gosudarstvennaja Biblioteka, Moskau (RGB). 5. Ljubič-Košurov 1911: 7, RGB. 6. Ljubič-Košurov 1911:75, RGB. 7. Ljubič-Košurov 1911:97, RGB. 8. Eigene graphische Darstellung. 9. Šmelev [1912], RGB. 10a. Cholodkovskij/Godlevskij 1912:121, RGB. 10b. Cholodkovskij/Godlevskij 1912:122, RGB. 11a. Kamenskij 1912, RGB. 11b. © State Historical Museum, Moscow. 12. Davingof [1912], RGB. 13. Aleksandrov [1912], RGB. 14. Vladimirov [1912], RGB. 15. Snel’man [1912], RGB. 16. Archangel’skij [1912], RGB. 17a. © e State Tretyakov Gallery, Moscow. 17b. Jubilejnaja kartina [1912]:[5], Gosudarstvennaja Publičnaja Istoričeskaja Biblioteka, Moskau (GPIB). 18. Jubilejnaja kartina [1912]:[3], GPIB. 19a. © State Historical Museum, Moscow. 19b. Jubilejnaja kartina [1912]:[4], GPIB. 20a. © State Historical Museum, Moscow. 20b. Jubilejnaja kartina [1912]:[8], GPIB. 21a. © State Historical Museum, Moscow. 21b. Jubilejnaja kartina [1912]:[8], GPIB.

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Napoleon und der »Vaterländische Krieg« in Russland

22a. © State Historical Museum, Moscow. 22b. Chanžonkov 2009:[26:55], © »Vostok-Video«. 23a. © e State Tretyakov Gallery, Moscow. 23b. Chanžonkov 2009:[29:39], © »Vostok-Video«. 24a. © State Historical Museum, Moscow. 24b. Chanžonkov 2009:[31:49], © »Vostok-Video«. 25. Eigene graphische Darstellung.

Autoren-, Werk- und Institutionenregister

Vorbemerkung: Das Register soll die Herausbildung des »napoleonischen Narrativs« als einheitlicher populärer ›Text‹ des »Vaterländischen Krieges« von 1812 veranschaulichen. Es beinhaltet ausgewählte historische Personen, die z.T. als literarische Figuren verarbeitet werden, die Namen der Autoren von wissenscha tlichen, publizistischen und literarischen Texten, ausgewählte visuelle Quellen und Institutionen. Aufgrund der besonderen Rolle der Spezialisten aus den Kreisen der »Gesellscha t für die Verbreitung des technischen Wissens« [Obščestvo rasprostranenija techničeskich znanij, ORTZ] werden die Publikationen und Herausgaben dieser Autoren zur ematik des »Vaterländischen Krieges«, die im Kontext des 100-jährigen Jubiläums entstehen, systematisch aufgeführt. Dies soll eine Grundlage für eine weitere Erforschung der Gemeinscha t liberal gesinnter Intellektueller in Russland liefern. Die moderne Sekundärliteratur wird nicht ins Register aufgenommen.

Afanas’ev, Vladimir Aleksandrovič (1873-1954) 279 »Gde bytʼ Muzeju 1812 goda?« (1907) 279 Aleksandr I. Pavlovič (1777-1825) 27, 30-31, 35-36, 39-41, 43, 59-62, 64-65, 68-69, 73, 76-80, 84-86, 97-98, 112-114, 116, 122, 130, 139-140, 148, 151, 190, 230, 270-272, 279-281, 314, 321 Aleksandr II. Nikolaevič (1818-1881) 32, 49 Aleksandrov, N. (Lebensdaten unbekannt) 269-270, 295 »K stoletiju Otečestvennoj vojny« [»Musikalisches Bild«] [1912] 269-270, 295 Alekseev, Vasilij Petrovič (1872-1940) 91, 189, 217 »Narodnaja vojna« (1912) 91, 189, 217 Aleksej Aleksandrovič [Großfürst] (1850-1908) 50

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Napoleon und der »Vaterländische Krieg« in Russland

Andrianov, Pavel Markovič (1877-1918) 35, 37-42, 46, 284 »Bitva gigantov. Borodinskoe sraženie 26-go avgusta 1812 goda« (1912) 38 »Borodinskij boj« (1912) 38 »Velikaja Otečestvennaja vojna. 1812-1912«. [Izd. Voenno-istoričeskogo al’manacha »Rodina«] (1912) 38 »Velikaja Otečestvennaja vojna. Bor’ba Rossii s Napoleonom v 1812 godu« (1912) 38 »Velikaja Otečestvennaja vojna. Bor’ba Rossii s Napoleonom v 1812 godu. [Priloženie k žurnalu »Russkij voin« za 1912 god]« (1912) 38 »Velikaja Otečestvennaja vojna. (Po povodu 100-letnego jubileja)« (1912) 37-42, 46, 284 d’Arc, Jeanne (um 1412-1431) 131 Archangel’skij, Aleksej Alekseevič (1881-1941) 262, 273-274, 298 »Borodino. Soldatskaja pesnja« [Lied] [1912] 262, 273-274, 298 Auslender, Sergej Abramovič (1886/1888-1943) 45, 282 »Jubilejnye spektakli« (1912) 45, 282 Avenarius, Vasilij [Vil’gel’m] Petrovič (1839-1923) 27, 85, 87, 91, 93, 114, 116, 144, 150, 170-191, 195-196, 198-202, 205-208, 225-226, 232, 251-254, 283, 286, 317 »Brodjaščie sily« (1867) 171 »Čto komnata govorit?« (1880) 172 »Istoričeskaja chrestomatija. Sbornik istoričeskich rasskazov russkich pisatelej« (1914) 183 »Lepestki i list’ja. Rasskazy, očerki, aforizmy i zagadki dlja junošestva« (1905) 179-180, 182 »Listki iz detskich vospominanij. Desjatʼ avtobiografičeskich rasskazov V.P. Avenariusa« (1893) 179 »…Na Pariž! Dnevnik junoši, učastnika kampanii 1813-1814 gg.« (1913) 172, 175176, 205 »Pered rassvetom. Povestʼ dlja junošestva iz poslednich let krepostnogo prava« (1899) 180 »Pervyj roman. Sentimental’naja istorija. (Iz studenčeskich vospominanij Leonida V’junkova)« (1870) 180 »Pervyj vylet. Putevoj dnevnik institutki« (1902) 180 »Poėt-partizan, Denis Vasil’evič Davydov« (1904) 180-182, 189 »Poslednie dni obvinitelja. Roman trech dnej« (1878) 180 »Povetrie« (1867) 171

Autoren-, Werk- und Institutionenregister

»Skazka o pčele Mochnatke« (1879) 172 »Sovremennaja idillija« (1865) 171 »Sredi vragov. Dnevnik junoši, očevidca vojny 1812 goda« (1912) 87, 93, 172, 175176, 183-207, 225, 232, 253, 283 »Ty znaešʼ kraj? Nravoopisatel’naja povest’« (1867) 180 »Vasil’ki i kolos’ja« (1892) 178-179 Bachmet’ev, Aleksej Ivanovič (ca. 1875-192?) 42-46, 260-261, 282-283 »Dvenadcatyj god« (1912) 42-46, 260-261, 282-283 Bagration, Petr Ivanovič (1765-1812) 21, 190, 222, 284 Bagrinovskij, Michail Michajlovič (1885-1966) 261 »1812 god« [Oper] [1912] 261 Barclay de Tolly [Barklaj-de-Tolli], Michail Bogdanovič (1761-1818) 20-21, 30, 68, 214, 216-217, 255-256, 259 Barskov, Jakov Lazarevič (1863-1938) 59, 67 »Rossija v 1801 godu« (1903) 59, 67 Belinskij, Vissarion Grigor’evič (1811-1848) 165 Berdonosov, Michail Vladimirovič (1880–?) 74 »Kniga dlja čtenija po istorii Novogo vremeni. T. 1-5« (1910-1917) [Hg.] 40, 62, 68, 74-83, 90, 92, 96, Blinov, Nikolaj Nikolaevič (1839-1917) 139-140, 143 »Kavalerist-devica« i Durovy. (Iz Sarapul’skoj chroniki)« (1888) 139-140, 143 Brjusov, Valerij Jakovlevič (1873-1924) 207-208 Brodskij, Nikolaj Leont’evič (1881-1952) 53, 68-71, 73, 157 »Rossija i Napoleon. Otečestvennaja vojna v memuarach, dokumentach i chudožestvennych proizvedenijach. Illjustrirovannyj sbornik« (1912) [Hg.] 53, 67-71, 73 »Teatr i drama v Otečestvennuju vojnu« (1912) 157 Bulgarin, Faddej Venediktovič (1789-1859) 158 »Petr Ivanovič Vyžigin« (1831) 158 Bunin, Julij Alekseevič (1857-1921) 163

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Napoleon und der »Vaterländische Krieg« in Russland

Čaadaev, Petr Jakovlevič (1794-1856) 276 Čajkovskij, Petr Il’ič (1840-1893) 43, 260 »1812 god« [Ouvertüre] (1882) 43, 260 Čarskaja, Lidija Alekseevna (1875-1937) 140 »Smelaja žiznʼ. Podvigi zagadočnogo geroja« (1905) 140 Čechov, Anton Pavlovič (1860-1904) 252, 256 »Medved’« (1888) 252, 256 Černyševskij, Nikolaj Gavrilovič (1828-1889) 171 »Čto delatʼ?« (1862-1863) 171 Chanžonkov, Aleksandr Alekseevič (1877-1945) 199, 276-284, 286-288, 308-309, 311, 317 »1812 god« [Film] (1912) 199, 277-288, 308-309, 311, 317 »Oborona Sevastopolja« [Film] (1911) 277-278, 282 »Pervye gody russkoj kinematografii« (1937) 276, 280-282 Čičagov, Pavel Vasil’evič (1767-1849) 78 Corday, Charlotte (1768-1793) 108, 131 Danilevskij, Grigorij Petrovič (1829-1890) 22, 26, 100, 103, 110, 122-130, 132-134, 144, 147-148, 183, 195, 197, 200, 206, 233, 238-239, 244, 249, 256, 261, 316-318 »Istoriki-očevidcy. (Po povodu knigi grafa L.N. Tolstogo ›Vojna i mir‹)« (1869) 134 »Pis’ma iz-za granicy« (1860-1873) 124 »Poezdka v Jasnuju Poljanu (Pomest’e grafa L.N. Tolstogo)« (1886) 124, 134 »Sožžennaja Moskva« (1886) 103, 110, 122-137, 144, 147-148, 195,197, 200, 206,233, 238-239, 244, 249, 256, 261, 316-318 Daškova, Ekaterina Romanovna (1743-1810) 108 Davingof, Vladimir Christianovič (18??–1925) 268-269, 275, 294 »Ėpopeja o 1812 gode« [»Musikalisches Bild«] [1912] 268-269, 275, 294 Davydov, Denis Vasil’evič (1784-1839) 21, 91, 115, 142, 180-182, 184, 189, 196, 202-204, 213, 220, 222-223 »Dnevnik partizanskich dejstvij 1812 goda« [1814] 91

Autoren-, Werk- und Institutionenregister

Deržavin, Gavriil Romanovič (1743-1816) 142, 190 »Grom pobedy, razdavajsja…« (1791) 190 »Na Bagrationa« (1805-1806) 190 »Na parenie orla« (1812) 190 »Na smertʼ knjazja Meščerskogo« (1779) 190 Dmitriev, Dmitrij Savvatievič (1848-1915) 22, 26, 100, 103, 111-114, 116, 132, 147-148, 184, 192, 195-196, 200, 232, 239, 256, 316-317 »Dva imperatora. Istoričeskaja povestʼ iz ėpochi sraženij imperatora Aleksandra I s Napoleonom I« (1896) 103, 111-117, 184, 192, 195-196, 200, 239, 256 »Russkie orly. Istoričeskaja povestʼ iz ėpochi 1812, 1813 i 1814 godov« (1891) 112 Dobroljubov, Nikolaj Aleksandrovič (1836-1861) 165 Dostoevskij, Fedor Michajlovič (1821-1881) 126, 256 »Bednye ljudi« (1845) 256 Dragomirov, Michail Ivanovič (1830-1905) 117, 121 »Razbor romana ›Vojna i mir‹« (1895) 117, 121 Dubrovin, Nikolaj Fedorovič (1837-1904) 150-153 »Napoleon I v sovremennom emu russkom obščestve i v russkoj literature« (1895) 150-153 Dučinskij, Nikolaj Polievktovič (1873-1932) 149 »Dvenadcatyj god v proizvedenijach russkich pisatelej i poėtov i jubilejnyj prazdnik v pamjatʼ 1812 goda« (1912) 149 Dumas, Alexander der Ältere (1802-1870) 111, 316 Durova, Nadežda Andreevna (1783-1866) 114-116, 131, 139-144, 148, »Kavalerist-devica. Proisšestvie v Rossii« (1836, ergänzt 1839) 116, 139-143 »Zapiski kavalerist-devicy Durovoj. So vstupitel’noj stat’ej K.A. Voenskogo« (1912) 140 Dživelegov, Aleksej Karpovič (1875-1952) 26, 53-54, 56, 70, 73-74, 87, 91, 155, 201, 217, 261 »Aleksandr I i Napoleon. Istoričeskie očerki« (1915) 56

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»Francuzy v Rossii. 1812 g. Po vospominanijam sovremennikov-inostrancev. T. 1-3« (1912) [Hg.] 53-54, 70, 73, 87, 201, 261 »Kniga dlja čtenija po istorii Novogo vremeni. T. 1-5« (1910-1917) [Hg.] 40, 62, 68, 74-83, 90, 92-93, 96 »›Narodnaja vojna‹« v 1812 g.« (1912) 91, 217 »Otečestvennaja vojna i russkoe obščestvo. T. 1-7« (1911-1912) [Hg.] 26, 54-56, 72, 90, 95, 100, 140, 155-159, 162, 167-169, 230, 322 »Velikaja reforma. Russkoe obščestvo i krest’janskij vopros v prošlom i nastojaščem. Jubilejnoe izdanie. T. 1-6« (1911) [Hg.] 53-54 Džunkovskij, Vladimir Fedorovič (1865-1938) 279 Ekaterina II Alekseevna [Velikaja] (1729-1796) 85-86 Elpat’evskij, Konstantin Vasil’evič (1854-1933) 149 »1812 god v russkoj poėzii. Sbornik stichotvorenij i pesen (istoričeskich i voennych), posvjaščennych Otečestvennoj vojne, Aleksandru I. I Napoleonu« (1912) 149 Fidler, Fedor Fedorovič (1859-1917) 177-178, 182 »Pervye literaturnye šagi. Avtobiografii sovremennych russkich pisatelej« (1911) 177-178, 182 Figner, Aleksandr Samojlovič (1787-1813) 124, 189,223, 228-235, 237,239-245, 248, 318 Fjuzil’ – siehe Fusil, Louise. Flise, Dominique Pierre de la (1787-1861) 201, 206 »Pochod Napoleona v Rossiju v 1812 godu« (1912) 201 Fusil, Louise (ca. 1771-1848) 231, 261 »Zapiski artistki Fjuzil’« [1812] (1912) 231, 261 Gaumont [Filmatelier] 276-277 Gercen, Aleksandr Ivanovič (1812-1870) 165 Glinka, Michail Ivanovič (1804-1857) 173, 260, 284-285 »Žiznʼ za carja« [Oper] (1836) 260, 284-285 Glinka, Sergej Nikolaevič (1776-1847) 79, 156

Autoren-, Werk- und Institutionenregister

Gogolʼ, Nikolaj Vasil’evič (1809-1852) 122, 125, 173, 180, 256 »Šinel’« (1842) 256 Gončarov, Vasilij Michajlovič (1861-1915) 276-277 »Napoleon v Rossii«[Film] (1910) 276 »Oborona Sevastopolja«[Film] (1911) 277 Greč, Nikolaj Ivanovič (1787-1867) 142, 156 Grunskij, Nikolaj Kuz’mič (1872-1951) 112, 119, 126, 130, 151-154, 157 »Napoleon I v russkoj chudožestvennoj literature« (1898) 112, 119, 126, 130, 151154, 157 Gul’binskij, I.V. – siehe Vladislavlev, Ignatij Vladislavovič. Ignatov, Il’ja Nikolaevič (1858-1921) 159, 236 »12-j god i velikosvetskoe obščestvo (›Vojna i mir‹ Tolstogo)« (1912) 159, 236 Imperatorskoe Russkoe techničeskoe obščestvo 54 Imperatorskoe russkoe voenno-istoričeskoe obščestvo (IRVIO) 33-34, 37-38, 43, 47, 154, 278 IRVIO – siehe Imperatorskoe russkoe voenno-istoričeskoe obščestvo (IRVIO). Istoričeskoe obščestvo pri Peterburgskom universitete 51 Ivanov, Ivan Alekseevič (1779-1848) 257 »Russkij Scevola«[lubok] [1812] 257 Ivanov, Ivan Ivanovič (1862-1929) 62, 69 »Iz istorii Moskvy. Istoričeskij očerk« (1899) 62, 69 Jagel’skij, Aleksandr Karlovič (?–1916) 275 Jakuškin, Ivan Dmitrievič (1793-1857) 65, 92 »Zapiski I.D. Jakuškina« (publ. 1862, 1870) 92 Jakuškin, Vjačeslav Evgen’evič (1856-1912) 65 »Dekabristy, kto oni byli i čego oni choteli« (1906) 65

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Napoleon und der »Vaterländische Krieg« in Russland

Janovskij, Boris Karlovič (1875-1933) 261 »V 1812 godu« [Oper] (1912) 261 Kabanov, Andrej Kiprianovič (1876–[1921]) 90 »V opolčenie vybirajut« (1915) 90 »Opolčenija 1812 goda« (1912) 90 Kalinnikov, Vasilij Sergeevič (1866-1900) 261 »V 1812 godu« [Oper] (1912) 261 Kallaš, Vladimir Vladimirovič (1866-1918) 157 »Otečestvennaja vojna v russkoj narodnoj poėzii« (1912) 157 Kamenskij N.I. (Lebensdaten unbekannt) 263, 267-268, 275, 292 »Na Borodinskich vysotach« [Jubiläumsmarsch] (1912) 263, 267-268, 275, 292 Kapnist, Vasilij Vasil’evič (1758-1823) 151 Karamzin, Nikolaj Michajlovič (1766-1826) 66, 79, 256 »Bednaja Liza« (1792) 256 »Istorija Gosudarstva Rossijskogo« (1818) 66 »Zapiska o drevnej i novoj Rossii« (1811) 79 Kareev, Nikolaj Ivanovč (1850-1931) 75, 77, 82, 117-120 »Istoričeskaja filosofija gr. L.N. Tolstogo v ›Vojne i mire‹« [1887] 117-120 »Vlijanie franсuzskoj revoljucii na drugie strany« (1912) 75, 77, 82 Kataev, Ivan Matveevič (1875-1946) 67, 76-79, 81-82, 90, 230 »Požar Moskvy« (1912) 90, 230 »Russkoe obščestvo v ėpochu Otečestvennoj vojny« (1912) 76-79, 81-82 Kivšenko, Aleksej Danilovič (1851-1895) 43, 280, 283, 287-288, 299 »Voennyj sovet v Filjach v 1812 godu« (1880) 43, 280, 283, 287-288, 299 Ključevskij, Vasilij Osipovič (1841-1911) 51 Knjaz’kov, Sergej Aleksandrovič (1873-1920?) 91, 189, 217, 222, 231 »Partizany i partizanskaja vojna v 1812 godu« (1912) 91, 189, 217, 222, 231 Kolčak, Aleksandr Vasil’evič (1874-1920) 76

Autoren-, Werk- und Institutionenregister

Košurov – siehe Ljubič-Košurov, I.A. Kovan’ko, Ivan Afanas’evič (1773/1774-1830) 190 »Chotʼ Moskva v rukach francuzov…« (1812) 190 Krylov, Ivan Andreevič (1769-1844) 142, 208, 262 »Volk na psarne« [Fabel] (1812) 262 »Vorona i Kurica« [Fabel] (1812) 208 Kugušev, Nikolaj Michajlovič (1777–nach 1825) 99 »Sobranie stichotvorenij, otnosjaščichsja k nezabvennomu 1812 godu« (1814) 99 Kutuzov, Michail Illarionovič (1745-1813) 20-21, 24, 30, 45, 68-69, 90, 119, 121-122, 124, 140-141, 146, 190, 216-217, 226, 230-231, 255, 262, 281, 283-284, 300, 319 Kuz’minskij, Konstantin Stanislavovič (1875-1940) 99 »Otečestvennaja vojna v živopisi« (1912) 99 La-Fliz, D. – siehe Flise, Dominique Pierre de la. Laharpe, Frédéric-César (1754-1838) 85 Larrey, Dominique-Jean (1766-1842) 87-88, 201-202, 206 Laugier de Bellecour, Césare de (1789-1871) 67, 69-70 »Dnevnik oficera velikoj armii v 1812 godu (›Velikaja armija‹)« (1912) 69-70 Lazerson, Moisej Jakovlevič (1887-1951) 118-119 »Filosofija istorii ›Vojny i mira‹« (1910) 118-119 Lermontov, Michail Jur’evič (1814-1841) 18-19, 22, 62, 153, 173, 178, 204, 237, 247, 249, 262-264, 271-275, 288, 319 »Borodino« (1837) 262-263, 271-275, 288, 319 »Dva velikana« (1832, publ. 1842) 18-19, 62, 237, 247, 262 »Napoleon« (1829) 264 Ljubavskij, Matvej Kuz’mič (1860-1936) 76 »Carstvo Pol’skoe i ego konstitucija 1815 goda« (1912) 76 Ljubeckij, Sergej Michajlovič (1808/1809-1881) 113

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Napoleon und der »Vaterländische Krieg« in Russland

»Rasskazy iz Otečestvennoj vojny 1812 goda. Kniga dlja čtenija vsech vozrastov« (1880) 113 Ljubič-Košurov, Ioasaf Arianovič (1872-1937) 27, 91, 114, 122, 144, 150, 189, 207-217, 219-235, 237-239, 242, 244, 246-249, 251-252, 256, 317-319 »Brat čelovečestva. Rasskazy« (1902) 209 »Duši živye. Očerki i rasskazy« (1901) 209 »Kanarejka. Rasskaz dlja detej« (1901) 209 »Kartinki sovremennoj žizni« (1902) 207, 209 »Partizany 1812 goda« (1911) 40, 91, 211-228, 237, 239, 247-248, 318 »Pobiruška« (1914) 209 »Požar Moskvy v 1812 godu« (1912) 40-42, 114, 211, 227-249, 269, 318 »Seryj geroj (Rjadovoj Rjabov). Ėpizod iz Russko-japonskoj vojny« (1905) 209-210 »Špion« (1904) 209-210 »V blindaže. Rasskaz iz boevoj žizni« (1905) 209-210 »V boevom ogne« (1904) 209-210 »V svjatoj večer« (1901) 209 Lomonosov, Michail Vasil’evič (1711-1765) 165, 190 »Oda blažennyja pamjati gosudaryne imperatrice Anne Ioannovne na pobedu nad turkami i tatarami i na vzjatie Chotina 1739 goda« (1739) 190 »Preloženie psalma 34« (1751) 190 Lož’e, Cezar’– siehe Laugier de Bellecour, Césare de. Lukaševič, Klavdija Vladimirovna (1859-1937) 149 »Škol’nyj prazdnik v pamjatʼ slavnych podvigov rodnych geroev 1812 goda« (1912) 149 Lukovnikov, Petr Vasil’evič (1847-19??) 174, Luther, Arthur (1876-1955) 125 Malet, Claude-François (1754-1812) 286 Mamontov, Savva Ivanovič (1841-1918) 261 »V 1812 godu« [Oper] [1912] 261 Marfa-posadnica [eig. Marfa Boreckaja] (Lebensdaten unbekannt) 108, 131 Markow, Alexis (1864–??) 125

Autoren-, Werk- und Institutionenregister

Massalska, Apolline Hélène (1763-1815) 143 Mazurkevič, Vladimir Aleksandrovič (1871-1942) 251 »Napoleon i ženščiny« (1912) 251 Mel’gunov, Petr Pavlovič (1847-1894) 58-59 »Čto takoe istorija?« [Sonderdruck] (1905, 1917) 58-59 »Pervye uroki istorii. Drevnij Vostok« (1879) 58 Mel’gunov, Sergej Petrovič (1879-1956) 26, 53-54, 56-59, 63, 67, 70, 72-74, 76-77, 79-82, 87, 90, 95, 97, 100, 155, 159, 163-169, 187-189, 201, 215, 229-231, 233, 235, 256, 261-262, 322 »Barklaj-de-Tolli i Bagration« (1912) 256 »Dela i ljudi Aleksandrovskogo vremeni« (1923) 56 »Francuzy v Rossii. 1812 g. Po vospominanijam sovremennikov-inostrancev. T. 1-3« (1912) [Hg.] 53-54, 70, 73, 87, 201, 261 »Jubilejnaja literatura 1812 goda« (1912) 56, 159, 163-169, 187-188, 215, 229, 262 »Kniga dlja čtenija po istorii Novogo vremeni. T. 1-5« (1910-1917) [Hg.] 40, 62, 68, 74-83, 90, 92-93, 96 »Kto sžeg Moskvu?« (1912) 90, 100, 189, 230-231, 233, 235 »Misticizm i reakcija v carstvovanie Aleksandra I. (Posle Otečestvennoj vojny)« (1912) 76, 79-82 »Naše prošloe. Rasskazy iz russkoj istorii. Č. 1-2« (1913-1915) [Hg.] 40-41, 62, 82-94, 96, 189, 201, 217 »Otečestvennaja vojna i russkoe obščestvo. T. 1-7« (1911-1912) [Hg.] 26, 54-56, 72, 90, 95, 100, 140, 155-159, 162, 167-169, 230, 322 »Rasskazy po russkoj istorii. Obščedostupnaja chrestomatija« (1909-1918) [Hg.] 57-77, 79-81, 84-85, 90, 92-93, 96, 283 »Rostopčin – moskovskij glavnokomandujuščij« (1912) 100, 230, 233 »Velikaja reforma. Russkoe obščestvo i krest’janskij vopros v prošlom i nastojaščem. Jubilejnoe izdanie. T. 1-6« (1911) [Hg.] 53-54 »Vospominanija i dnevniki« [1964] 53 Mel’gunova, Praskov’ja Evgen’evna (1881-1974) 53, 68-71, 73 »Rossija i Napoleon. Otečestvennaja vojna v memuarach, dokumentach i chudožestvennych proizvedenijach. Illjustrirovannyj sbornik« (1912) [Hg.] 53, 67-71, 73 Mendel’son, Nikolaj Michajlovič (1872-1934) 100, 233 »Rostopčinskie afiši« (1912) 100, 233

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Mez’er (Mezier), Avgusta Vladimirovna (1869-1935) 101, 149 »Otečestvennaja vojna v chudožestvennych proizvedenijach, zapiskach, pis’mach i vospominanijach sovremennikov« (1912) 149 Michail Aleksandrovič [Großfürst] (1878-1918) 279 Michajlovskij-Danilevskij, Aleksandr Ivanovič (1789-1848) 31, 49, 100, 113 »Imperator Aleksandr I i ego spodvižniki v 1812, 1813, 1814, 1815 godach. Voennaja galereja Zimnego dvorca, izdavaemaja s vysočajšego soizvolenija i posvjaščennaja ego Imperatorskomu vysočestvu gosudarju imperatoru. Žizneopisanija. T. 1-6« (1845-1849) 31 »Opisanie Otečestvennoj vojny. Č. 1-4« (1839) 31 Mordovcev, Daniil Lukič (1830-1905) 22, 26, 100, 103, 122, 137-145, 147-148, 316318 »Dvenadcatyj god. Istoričeskij roman v 3 častjach« (1880) 103, 139-145, 148 »K slovu ob istoričeskom romane i ego kritike (Pis’mo v redakciju)« (1881) 138 »Kto-to vernetsja (Borodino). Istoričeskij rasskaz. Iz vremen našestvija Francuzov na Rossiju« (1899, publ. 1904) 143-144 »Russkie ženščiny Novogo vremeni« (1874) 141 »Vel’možnaja panna« (1903) 143 Moskovskoe Imperatorskoe Obščestvo Istorii i Drevnostej Rossijskich 159 Moskovskoe Obščestvo rasprostranenija techničeskich znanij – siehe Obščestvo rasprostranenija techničeskich znanij (ORTZ). Mosolov Aleksandr Nikolaevič (1844-1904) 111 »Vokrug pylajuščej Moskvy. Dramatičeskie sceny 1812 goda« (1900) 111 Murav’ev (Karsskij), Nikolaj Nikolaevič (1794-1866) 67, 70 »Zapiski N.N. Murav’eva-Karskogo [sic!]« (1885) 70 Napoleon I. Bonaparte (1769-1821) 11-18, 20, 24, 27, 30-31, 35, 38, 40-42, 45-46, 56, 60-65, 67-72, 76, 78-80, 86-89, 91, 93-94, 96-97, 99,109, 112-116, 119-125, 128-132, 140141, 147, 150-154, 156, 160-161, 182-185, 190, 196-202, 204-205, 207, 211, 222, 224-228, 231, 233-237, 240-241, 243, 247, 249, 251, 263-264, 267-271, 276-277, 280-281, 283-284, 286, 289, 293, 301, 304, 306, 310-311, 313-314, 316-317, 319, 321 Nejman, Lina Samojlovna (1887–[1971]) 89 »Francuzy v Moskve« (1915) 89

Autoren-, Werk- und Institutionenregister

Nekrasova, Ekaterina Stepanovna (1842-1905) 116, 139, 141 »Nadežda Andreevna Durova (Devica-kavalerist, Aleksandrov). 1783-1866« (1890) 116, 139, 141 Nikolaj I. Pavlovič (1796-1855) 30-32, 86, 313 Nikolaj II. Aleksandrovič (1868-1918) 33, 36-37, 42, 148, 275, 277-278 Nikol’skij, Vladimir Pavlovič (1873-1960) 35 »Borodinskaja bitva i ee 100-letnij jubilej. 24-26 avgusta 1812-1912« (1913) 35 Norov, Avraam Sergeevič (1795-1869) 117, 121, 134 »Vojna i mir (1805-1812) s istoričeskoj točki zrenija i po vospominanijam sovremennika. Po povodu sočinenija gr. L.N. Tolstogo ›Vojna i mir‹« (1868) 117, 121 Obninskij, Viktor Petrovič (1867-1916) 86-92, 159 »Begstvo iz Moskvy« (1915) 89-90 »Borodino« (1915) 88-89 »Na puti k Moskve« (1915) 87-88 »Narodnaja vojna« (1915) 91-92 »Opolčenie« (1915) 90-91 »Til’zit« (1915) 86-87 »Vojna i mir. Pamjati L. Tolstogo. Sbornik« (1912) [Hg.] 159 Obreskov, Vasilij Aleksandrovič (1782-1834) 69 Obščestvo oznakomlenija s istoričeskimi sobytijami Rossii 278-281, 287, 317 Obščestvo rasprostranenija techničeskich znanij (ORTZ) 26, 49-56, 58, 62, 67, 72, 74-75, 77, 82-84, 87, 91-92, 94-98, 100, 146, 154-155, 159, 162-163, 189, 199, 201, 20 217, 230, 261, 283, 286, 320-322, 377 6, »Otečestvennaja vojna i russkoe obščestvo. T. 1-7. [OVIRO]« [Sammelband ORTZ] (1911-1912) 26, 54-56, 72, 90, 95, 100, 140, 155-159, 162, 167-169, 230, 322 O’Meara, Barry Edward (1786-1836) 67, 70 »Napoleon in Exile, Or A Voice from St. Helena« (1822) 70 Opočinin, Evgenij Nikolaevič (1858-1928) 123, 125 »Grigorij Petrovič Danilevskij« (1928) 123, 125

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ORTZ – siehe Obščestvo rasprostranenija techničeskich znanij. Osetrov, Zachar Borisovič (18??–19??) 140 »Nočʼ posle Borodinskoj bitvy. Dramatičeskaja bylʼ v odnom dejstvii« (1903) 140 OVIRO – siehe unter Obščestvo rasprostranenija techničeskich znanij. Pastuchov, F.F. (Lebensdaten ubekannt) 271 »Napoleon I. Son velikogo zavoevatelja« (1912) 271 Pastuchov, Nikolaj Ivanovič (1831-1911) 252 Pathé, Brüder [Filmatelier] 276-277, 279-280, 286 Pavel I. Petrovič (1754-1801) 66, 84 Percev, Vladimir Nikolaevič (1877-1960) 74, 118-121 »Filosofija istorii L.N. Tolstogo« (1912) 118-121 »Kniga dlja čtenija po istorii Novogo vremeni. T. 1-5« (1910-1917) [Hg.] 40, 62, 68, 74-83, 90, 92-93, 96 Perovskij, Vasilij Alekseevič (1795-1857) 126-127, 129, 134, 316 »Iz zapisok pokojnogo grafa Vasilija Alekseeviča Perovskogo. Soobščil B.A. Perovskij« (1865) 126-127, 134, 316 ‫ݑ‬ Petr III. Fedorovič (1728-1762) 66 Petruševskij, Vladimir Aleksandrovič (1891-1961) 57, 59, 67 »Rasskazy po russkoj istorii. Obščedostupnaja chrestomatija« (1909-1918) [Hg.] 57-77, 79-81, 84-85, 90, 92-93, 96, 283 ‫ݑ‬ Pičeta, Vladimir Ivanovič (1878-1947) 26, 53-54, 74, 76, 155 »Fritredery i protekcionisty v Rossii v pervoj četverti XIX v.« (1912) 76 »Kniga dlja čtenija po istorii Novogo vremeni. T. 1-5« (1910-1917) [Hg.] 40, 62, 68, 74-83, 90, 92-93, 96 »Otečestvennaja vojna i ee pričiny i sledstvija. Illjustrirovannyj sbornik« (1912) [Hg.] 53 »Otečestvennaja vojna i russkoe obščestvo. T. 1-7« (1911-1912) [Hg.] 26, 54-56, 72, 90, 95, 100, 140, 155-159, 162, 167-169, 230, 322

Autoren-, Werk- und Institutionenregister

»Velikaja reforma. Russkoe obščestvo i krest’janskij vopros v prošlom i nastojaščem. Jubilejnoe izdanie. T. 1-6« (1911) [Hg.] 53-54 Platov, Matvej Ivanovič (1753-1818) 144, 184 Pokrovskij, Egor Arsen’evič (1834-1895) 163 Pokrovskij, Konstantin Vasil’evič (1880-19??) 62, 111-112, 117, 119-122, 126, 129, 149, 159-162, 167, 169-170, 215, 226, 252, 322 »1812-j god v russkoj povesti i romane« (1912) 111-112, 117, 119, 122, 126, 129, 149, 159-162, 167, 169-170, 215, 226, 252, 322 »Istočniki romana ›Vojna i mir‹« (1912) 62, 117, 119-121, 126, 159, 162 »Istorija raboty L.N. Tolstogo nad romanom ›Vojna i mir‹« (1912) 159 Poljanskij, Nikolaj Nikolaevič (1862-1938) 124 Polner, Tichon Ivanovič (1864-1935) 159 »Vojna i mir. Pamjati L. Tolstogo. Sbornik« (1912) [Hg.] 159 Potebnja, Aleksandr Afanas’evič (1835-1891) 151, 154 Prjanišnikov, Illarion Michajlovič (1840-1894) 280, 285, 288, 308-309, 319 »Ėpizod iz vojny 1812 goda« [Gemälde] (1874) 285, 308-309 Puškin, Aleksandr Sergeevič (1799-1837) 17-18, 22, 26, 103-111, 117, 121-122, 125, 127128, 131-132, 137, 140, 142, 145-148, 153, 158-161, 169, 173, 175, 180, 215, 247, 249, 252, 256, 259, 261-262, 315, 322 »Arap Petra Velikogo« (1830) 110 »Evgenij Onegin« (1823-1831) 107-108, 247 »Istorija Pugačevskogo bunta« (1834) 110 »Jurij Miloslavskij, ili Russkie v 1612 godu. Soč. M.N. Zagoskina« [Rezension] (1830) 105, 127, 158, 315 »Kapitanskaja dočka« (1836) 110-111 »K teni polkovodca« (1831) 262 »Napoleon« (1821, publ. 1826) 17-18 »Pir vo vremja čumy« (1830) 128 »Roslavlev« [Textfragment] (1831, publ. 1836) 103, 105-111, 122, 131-132, 140, 145148, 159-161, 261, 315 Rossijskoe Voenno-Istoričeskoe Obščestvo 13, 33-34

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Napoleon und der »Vaterländische Krieg« in Russland

Rostopčin, Fedor Vasil’evič (1763-1826) 69, 79, 90, 99, 122, 188, 230, 233, 284 Roubaud, Franz – siehe Rubo, Franc Alekseevič. Rubinštejn, Moisej Matveevič (1878-1953) 117-121 »Filosofija istorii v romane L.N. Tolstogo ›Vojna i mir‹« (1911) 117-121 Rubo, Franc Alekseevič [Roubaud, Franz] (1856-1928) 42, 282 »Borodinskaja panorama« [Panorama] (1912) 42, 282 Russkoe Pedagogičeskoe Obščestvo pri Imperatorskom Moskovskom Universitete 52 Sadovskoj, Boris Aleksandrovič (1881-1952) 261 »1812 god« [Oper] [1912] 261 Saint-Cyr, Gouvion (1764-1830) 78 Sankt-Peterburgskoe Frebelevskoe obščestvo 172 Šapošnikov, Il’ja Kalustovič (1896-1953) 271 »Mečty Napoleona« [Walzer] (o.J.) 271 Ščerbina, Nikolaj Fedorovič (1821-1869) 262 »Velikaja panichida« (1864) 262 Ščetinin, Boris Aleksandrovič (18??–nach 1912) 27, 252-259, 288, 319 »Okolo žizni. Rasskazy, očerki, nabroski« (1900) 252 »Otrublennyj palec (Ėpizod iz ėpochi Otečestvennoj vojny)« (1912) 252-259, 288, 319 »Povesti i rasskazy« (1892) 252 »V literaturnom muravejnike. (Vstreči i znakomstva.)« (1911) 252 »V Moskovskom universitete. (Iz nedavnego prošlogo)« (1906) 252 Scott, Walter (1771-1832) 103-105, 110-111, 145, 148, 315 Segjur – siehe Ségur, Philippe Paul de. Ségur, Philippe Paul de (1780-1873) 62, 67, 69 »Histoire de Napoléon et de la Grande-Armée pendant l’année 1812« (1824) 62

Autoren-, Werk- und Institutionenregister

»Pochod v Moskvu v 1812 godu. Memuary učastnika, francuzskogo generala grafa de-Segjura« (1911) 62, 69 Semevskij, Vasilij Ivanovič (1849-1916) 76 »Političeskie i obščestvennye idei dekabristov« (1912) 76 S.F.G. (Lebensdaten unbekannt) 121 »V žaščitu dedov« (1911) 121 Sidorov, Nikolaj Pavlovič (1876-1948) 53, 68-71, 73, 99, 155-159, 190, 236 »Otečestvennaja vojna v russkoj lirike« (1912) 99, 155-157, 190, 236 »Otgoloski 12-go goda v russkoj povesti i romane« (1912) 158-159 »Rossija i Napoleon. Otečestvennaja vojna v memuarach, dokumentach i chudožestvennych proizvedenijach. Illjustrirovannyj sbornik« (1912) 53, 67-71, 73 »Vojna i russkaja žurnalistika: 2. ›Syn Otečestva‹« (1912) 99, 156 Šil’der, Nikolaj Karlovič (1842-1902) 79, 84-85 »Imperator Aleksandr I [Biografičeskij očerk]« (1896) 84-85 »Imperator Aleksandr I. Ego žiznʼ i carstvovanie. Tom 2« (1897) 84-85 »Imperator Aleksandr I. Ego žiznʼ i carstvovanie. Tom 3« (1897) 79 »Imperator Pavel Pervyj. Istoriko-biografičeskij očerk« (1901) 84-85 Šiškov, Aleksandr Semenovič (1754-1841) 80, 85 »Zapiski« (entst. 1780-1814, publ. 1870) 80, 85 Sivkov, Konstantin Vasil’evič (1882-1959) 53, 68-71, 73, 99, 156 »Rossija i Napoleon. Otečestvennaja vojna v memuarach, dokumentach i chudožestvennych proizvedenijach. Illjustrirovannyj sbornik« (1912) 53, 67-71, 73 »Vojna i cenzura« (1912) 99, 156 Šmelev, N.I. (Lebensdaten unbekannt) 264, 267, 289 »Napoleon v Moskve« [Jubiläumsmarsch] (1912) 264, 267, 289 Snel’man, Nikolaj Nikolaevič (Lebensdaten unbekannt) 262, 271-274, 297 »Borodino« [»Musikalisches Bild«] [1912] 262, 271-274, 297 Sokolov, Nikolaj Semenovič (ca. 1810–nach 1850) 264-267, 271, 288 »On« (1850) 264-267, 271, 288 »Šumel, gorel požar moskovskij…« (o.J.) [Romanze] – siehe Sokolov, »On«. Speranskij, Michail Michajlovič (1772-1839) 60, 78, 84, 86, 95

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Napoleon und der »Vaterländische Krieg« in Russland

Staёl, Anne-Louise Germaine de (1766-1817) 108 Stark, Ėduard Aleksandrovič [Ps. Zigfrid] (1874-1942) 44-45 »Obzor sezona 1912-1913 gg.« (1913) 44-45 Subbotin, Nikolaj Ivanovič (1823-1905) 145 »Istorik-belletrist [Rez. auf:] Velikij raskol. Istoričeskoe povestvovanie D. Mordovceva (Russkaja myslʼ, kn. I–VIII)« (1881) 145 Sue, Eugène (1804-1857) 222 Suvorov, Aleksandr Vasil’evič (1730-1800) 45, 113-114, 190 Sverbeev, Dmitrij Nikolaevič (1799-1874) 67, 69 »Zapiski D.N. Sverbeeva. T. 1-2« (1899) 69 Syroečkovskij, Boris Evgen’evič (1881-1961) 82, 92 »Naše prošloe. Rasskazy iz russkoj istorii. Č. 1-2« (1913-1915) [Hg.] 40-41, 62, 82-94, 96, 189, 201, 217 »Posle Otečestvennoj vojny« (1915) 92 Syroečkovskij, Vladimir Evgen’evič (Lebensdaten unbekannt) 82 »Naše prošloe. Rasskazy iz russkoj istorii. Č. 1-2« (1913-1915) [Hg.] 40-41, 62, 82-94, 96, 189, 201, 217 Sytin, Ivan Dmitrievič (1851-1934) 54, 57 Tel’berg, Georgij Gustavovič (1881-1954) 76-78 »Liberal’nye tečenija v Rossii v pervoj četverti XIX veka« (1912) 76-78 Teplych, N.[P]. (Lebensdaten unbekannt) 53, 67, 69 »Otečestvennaja vojna. Istoričeskij očerk s risunkami« (1912) 53, 67, 69 Terc, Abram [eig. Sinjavskij, Andrej Donatovič] (1925-1997) 175 »Progulki s Puškinym« (1975) 175 Terebenev, Ivan Ivanovič (1780-1815) 16, 109, 257 »Russkij Gerkules« [lubok] [1812] 16 »Russkij Scevola« [lubok] [1812] 109, 257

Autoren-, Werk- und Institutionenregister

Terrail, Ponson du (1829-1871) 222 Tjutčev, Fedor Ivanovič (1803-1873) 204 Tolstoj, Lev Nikolaevič (1828-1910) 22, 26, 43-44, 62, 88, 100, 102-103, 110, 112, 116122, 124-127, 129-134, 138, 142, 144-147, 149-150, 153, 159-162, 183, 190-191, 195, 199, 219, 226, 233, 236, 242, 261-262, 268, 274, 283, 287-288, 315-317, 322 »Vojna i mir« (1868/69) 43-44, 62, 100, 103, 110, 112, 116-122, 124-127, 130, 132-134, 138, 142, 145-146, 149-150, 153, 159-162, 190-191, 195, 199, 226, 233, 236, 261, 268, 283, 287-288, 315-317, 322 Ton, Konstantin Andreevič (1794-1881) 31 Tučkov, Aleksandr Alekseevič IV. (1777-1812) 30 Tučkova, Margarita Michajlovna (1781-1852) 30 Turgenev, Nikolaj Ivanovič (1789-1871) 67, 71 »Rossija i russkie« (1907) 71 Tverskaja, A. (Lebensdaten unbekannt) 59-60, 67 »Carstvovanie Aleksandra 1-go i vosstanie dekabristov« (1907) 59-60, 67 Ustrjalov, Nikolaj Gavrilovič (1805-1870) 113 »Načertanie russkoj istorii, dlja učebnych zavedenij« (1839) 113 Uvarov, Sergej Semenovič (1786-1855) 31, 33, 61, 80, 100, 104, 110 Vasjutinskij, Aleksej Makarovič (1877-1947) 54, 70, 73-74, 87, 201, 261 »Francuzy v Rossii. 1812 g. Po vospominanijam sovremennikov-inostrancev. T. 1-3« (1912) [Hg.] 53-54, 70, 73, 87, 201, 261 »Kniga dlja čtenija po istorii Novogo vremeni. T. 1-5« (1910-1917) [Hg.] 40, 62, 68, 74-83, 90, 92-93, 96 Vereščagin, Vasilij Vasil’evič (1842-1904) 262, 264, 267-268, 274-275, 280-281, 283285, 287-289, 293, 301, 303, 305, 307, 310, 319 »1812 god« [Bilderzyklus] (1887-1900) 262, 264, 267-268, 275, 283-284, 287 »Na bol’šoj doroge. Otstuplenie, begstvo…« [Gemälde] (1887-1895) 268 »Napoleon I na Borodinskich vysotach« [Gemälde] (1897) 267, 283, 293, 301 »Napoleon. Durnye vesti iz Francii« [Gemälde] (1887-1895) 286, 310

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Napoleon und der »Vaterländische Krieg« in Russland

»Ne zamaj! Daj podojti!« [Gemälde] (1887-1895) 284-285, 307 »Pered Moskvoj v ožidanii deputacii bojar« [Gemälde] (1891-1892) 268 »Podžigateli« [Gemälde] (1897-1898) 284 »Skvozʼ požar« [Gemälde] (1899-1900) 284, 305 »V Kremle – požar!« [Gemälde] (1887-1898) 264, 267, 284, 303 »Zarevo Zamoskvorečʼja« [Gemälde] (1896) 268 Vigelʼ, Filipp Filippovič (1786-1856) 85 »[Zapiski]« (entst. 1830er, publ. 1864-1865, ergänzt 1891-1893) 85 Vinogradov, Pavel Gavrilovič (1854-1925) 74 »Kniga dlja čtenija po istorii srednich vekov. Vyp. 1-4« (1896-1899) [Hg.] 74 Višnjakov, Evgenij Ivanovič (1878-1947) 82 »Naše prošloe. Rasskazy iz russkoj istorii. Č. 1-2« (1913-1915) [Hg.] 40-41, 62, 82-94, 96, 189, 201, 217 Vitberg, Aleksandr Lavrent’evič (1787-1855) 31 Vitmer, Aleksandr Nikolaevič (1839-1916) 117, 121 »1812 god v ›Vojne i mire‹. Po povodu istoričeskich ukazanij IV toma ›Vojny i mira‹ grafa L.N. Tolstogo« (1869) 117, 121 Vladimirov, Michail Vladimirovič (1870-1932) 270-271, 296 »1812 god« [»Musikalisches Bild«] [1912] 270-271, 296 Vladislavlev, Ignatij Vladislavovič (eig. Gul’binskij) (1880-1962) 56, 164-166, 169, 215, 229, 322 »Obzor populjarnoj jubilejnoj literatury, posvjaščennoj 1812 godu« (1912) 56, 164166, 215, 229, 322 Voenskij (de Breze), Konstantin Adamovič (1860-1928) 43, 140 »Zapiski kavalerist-devicy Durovoj. So vstupitel’noj stat’ej K.A. Voenskogo« (1912) 140 Voltaire (1694-1778) 204 Vsevolžskij, Ivan Aleksandrovič (1835-1909) 252 Vyšinskaja, T.S. (Lebensdaten unbekannt) 84-86

Autoren-, Werk- und Institutionenregister

»Vstuplenie na prestol Aleksandra I. 1. Neglasnyj komitet. 2. Speranskij« (1915) 84-86 Wolgast, Heinrich (1860-1920) 163 Zagoskin, Michail Nikolaevič (1789-1852) 26, 100, 103-108, 110-111, 114, 117, 145-146, 148-149, 153, 158, 160, 183, 206, 234, 256, 315, 317 »Jurij Miloslavskij, ili Russkie v 1612 godu« (1830) 104-105, 111 »Roslavlev, ili Russkie v 1812 godu« (1831) 103-111, 114, 148-149, 158, 160, 234, 315 Zamotin, Ivan Ivanovič (1873-1942) 156 »Vojna i russkaja žurnalistika: 1. ›Russkij vestnik‹ Glinki« (1912) 156 Žarinov, Dmitrij Alekseevič (1875–?) 90, 230 »Požar Moskvy. Vpečatlenija ot požara i mnenija sovremennikov« (1912) 90, 230 Zatvornickij, Nikolaj Mitrofanovič (1867–nach 1916) 255 »Napoleonovskaja ėpoha. Bibliografičeskij ukazatelʼ. Vyp. 1« (1914) 255 Zigfrid – siehe Stark, Ėduard Aleksandrovič. Zotov, Rafail Michajlovič (1795-1871) 100, 103, 111-112, 117, 153, 184, 256 »Dva brata, ili Moskva v 1812 godu« (1852) 112 »Dve sestry, ili Smolensk v 1812 godu« (1860) 112 »Leonid, ili Nekotorye čerty iz žizni Napoleona« (1832) 112, 184 Žukovskij, Vasilij Andreevič (1783-1852) 142-144, 204 »Pevec vo stane russkich voinov« (1812) 142, 144

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Geschichtswissenschaft Reinhard Bernbeck

Materielle Spuren des nationalsozialistischen Terrors Zu einer Archäologie der Zeitgeschichte 2017, 520 S., kart., 33 SW-Abbildungen, 33 Farbabbildungen 39,99 € (DE), 978-3-8376-3967-4 E-Book: 39,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3967-8

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1919 – Zeit der Utopien Zur Topographie eines deutschen Jahrhundertjahres 2018, 382 S., Hardcover, 39 SW-Abbildungen, 35 Farbabbildungen 39,99 € (DE), 978-3-8376-4654-2 E-Book: 39,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4654-6

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