Nachhaltiges Beschaffungsmanagement: Strategien – Praxisbeispiele – Digitalisierung [1. Aufl.] 978-3-658-25187-1;978-3-658-25188-8

Vor dem Hintergrund der steigenden Bedeutung ökologischer und sozialer Aspekte entwickelt sich Nachhaltigkeit zu einem i

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Nachhaltiges Beschaffungsmanagement: Strategien – Praxisbeispiele – Digitalisierung [1. Aufl.]
 978-3-658-25187-1;978-3-658-25188-8

Table of contents :
Front Matter ....Pages I-XI
Front Matter ....Pages 1-1
Betriebswirtschaftliche Implikationen eines nachhaltigen Beschaffungsmanagements (Daniela Ludin, Wanja Wellbrock)....Pages 3-16
Konzeption eines nachhaltigen Einkaufsmanagements auf Basis der 15M-Architektur der Supply-Strategie (Gerhard Heß)....Pages 17-36
Integration der „Sustainable Development Goals“ in eine nachhaltige Supply Chain – Der „Nachhaltige Beschaffungs-Case“ (Elisabeth Fröhlich, Kristina Steinbiß)....Pages 37-54
Sustainable Supply Chain Governance – Multinationale Unternehmen als Akteure nichtstaatlicher Governance in globalen Lieferketten (Klaus Fischer, Marina Jentsch)....Pages 55-74
Kriterien zur Bewertung von ökologischer Nachhaltigkeit in der Automobilindustrie – Eine Analyse aktueller Trends und angewandter Methoden (Johannes Dahl)....Pages 75-90
Nachhaltige Rohstoffversorgung – Perspektive Kreislaufwirtschaft und Ressourceneffizienz (Kathrin Hesse)....Pages 91-111
Öffentliche Beschaffung biobasierter Produkte – Erkenntnisse aus einer deutschlandweiten Studie öffentlicher Auftraggeber (Felix Blank, Michael Broens, Jennifer Fischer, Ronald Bogaschewsky)....Pages 113-130
Nachhaltige Personalbeschaffung in turbulenten Zeiten – Ein systemischer persönlichkeitsorientierter Ansatz und seine praktische Umsetzung (Heiko Hansjosten)....Pages 131-147
Nachhaltige Personalbeschaffung – Am Beispiel der Stellenbesetzung von Professoren an Hochschulen für angewandte Wissenschaften (Maren Lay, Michael Ruf)....Pages 149-164
Front Matter ....Pages 165-165
Tetra Pak® – Von Natur aus nachhaltig. Verantwortungsbewusste Beschaffung am Beispiel einer Getränkekartonverpackung (Caroline Babendererde)....Pages 167-182
Technische Lösungen für ökologische Herausforderungen – Nachhaltigkeit in der Prozess- und Verpackungstechnik (Carsten Weiß)....Pages 183-190
Integration von Nachhaltigkeitsaspekten bei der Lieferantenauswahl am Beispiel eines deutschen Industrieunternehmens (Rubén Medina Serrano, Wanja Wellbrock, María Reyes González, José Luis Gascó)....Pages 191-212
Die Rolle der Verpackung in Logistikprozessen – Auswirkungen auf eine Nachhaltige Logistik im Lebensmittelbereich (Stefan Schmidt)....Pages 213-234
Nachhaltige Beschaffung in der Schwäbisch Hall-Gruppe: „Vermeiden – Reduzieren – Kompensieren“ – aus dem Führungsalltag im Einkauf eines Finanzdienstleisters (Daniela Apel)....Pages 235-250
Nachhaltiges Beschaffungsmanagement im Lebensmitteleinzelhandel – Eine Fallstudie (Oskar Grün, Jean-Claude Brunner)....Pages 251-270
Proaktives Risikomanagement als Unterstützung einer nachhaltigen Beschaffung (Felix Walther, Christoph Hein, Wanja Wellbrock)....Pages 271-294
Nachhaltige Beschaffung von holz- und papierbasierten Produkten in der Praxis – Gut für Reputation, Marktzugang und Produktabsatz, aber auch gut zu kontrollieren? (Catrin Fetz)....Pages 295-312
Beschaffung von Holz und Papier aus nachhaltiger Waldwirtschaft – FSC bei deutschen Endkundenmarken (Ulrich Malessa)....Pages 313-330
Nachhaltige öffentliche Beschaffung am Beispiel der Stadt Schwäbisch Hall (Stefano Rossi)....Pages 331-344
Digitale Trends und ihre Auswirkungen auf die Nachhaltigkeitsperformance in der Beschaffung (Jasmin Möller, Ronald Bogaschewsky)....Pages 345-368
Front Matter ....Pages 369-369
Nachhaltige Beschaffung auf digitalen Plattformen am Beispiel logistischer Dienstleistungen – Analyse der Möglichkeiten für Einkäufer und Auswirkungen anhand der drei Dimensionen der Nachhaltigkeit (Patrick Seeßle)....Pages 371-387
Controlling von Beschaffungsprozessen – Wirtschaftliche Nachhaltigkeit, Chancen und ausgewählte Potenziale durch Digitalisierung (Gernot Mödritscher, Friederike Wall)....Pages 389-406
Procurement Analytics – Lieferketten digital betrachtet (Dirk Sackmann, Thomas Deil)....Pages 407-428

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Wanja Wellbrock Daniela Ludin Hrsg.

Nachhaltiges Beschaffungsmanagement Strategien – Praxisbeispiele – Digitalisierung

Nachhaltiges Beschaffungsmanagement

Wanja Wellbrock · Daniela Ludin (Hrsg.)

Nachhaltiges Beschaffungsmanagement Strategien – Praxisbeispiele – Digitalisierung

Hrsg. Wanja Wellbrock Hochschule Heilbronn Schwäbisch Hall, Deutschland

Daniela Ludin Hochschule Heilbronn Schwäbisch Hall, Deutschland

ISBN 978-3-658-25187-1 ISBN 978-3-658-25188-8  (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-658-25188-8 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Springer Gabler © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Springer Gabler ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH und ist ein Teil von Springer Nature Die Anschrift der Gesellschaft ist: Abraham-Lincoln-Str. 46, 65189 Wiesbaden, Germany

Geleitwort

Das Regierungs- und Verwaltungshandeln in Baden-Württemberg orientiert sich seit Jahren am Prinzip der Nachhaltigkeit als zentralem Entscheidungskriterium. 2007 wurde erstmals eine Nachhaltigkeitsstrategie Baden-Württemberg ins Leben gerufen, um zur langfristigen Sicherung der natürlichen Lebensgrundlagen für unsere und die kommenden Generationen beizutragen und im Land allen Menschen ein gutes und selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen sowie die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit zu erhalten. Die Belastbarkeit der Erde und der Natur sowie die Endlichkeit der Ressourcen geben hierbei die Grenzen vor. Einer nachhaltigen Beschaffung kommt dabei eine Schlüsselstellung mit Blick auf die Vermeidung und Verringerung von Umweltbelastungen zu. 260 bis 360 Mrd. EUR oder acht bis 14 % des Bruttoinlandsproduktes geben öffentliche Auftraggeber in Deutschland jährlich für Waren und Dienstleistungen aus. Etwa die Hälfte der Ausgaben entfällt auf den Bund und die Länder, die andere Hälfte auf die Kommunen. Diese enorme Summe lässt das Potenzial der öffentlichen Hand erkennen, nachhaltige Produkte am Markt zu etablieren und zu einer nachhaltigen Entwicklung beizutragen. Studien zeigen, dass eine nachhaltige Beschaffung sogar zu Kostenentlastungen beitragen kann. Das Vergaberecht hat 2014 einen Paradigmenwechsel vollzogen und lässt nunmehr weitgehend die Berücksichtigung von Nachhaltigkeitsaspekten zu. Konkret bedeutet dies, dass umweltbezogene Kriterien wie Energieeffizienz, Klimaschutz und Ressourcenschonung bei Vergaben berücksichtigt und auch fair gehandelte Produkte einbezogen werden können. Auch soziale Merkmale wie die Förderung der sozialen Integration und die Gleichstellung sowie die Berücksichtigung der Kernarbeitsnormen der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) zählen dazu. Die gezielte Berücksichtigung dieser Kriterien kann ausbeuterischen Bedingungen bei der Herstellung von Produkten und bei der Gewinnung von Rohstoffen entgegenwirken. Dies betrifft insbesondere menschenunwürdige Arbeitsbedingungen in der dritten Welt, in erster Linie die Verhinderung von Kinderarbeit.

V

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Geleitwort

Im Rahmen ihrer Nachhaltigkeitsstrategie verfolgt die Landesregierung das Ziel, Nachhaltigkeitsaspekten bei Beschaffungen ein stärkeres Gewicht zu geben. Insbesondere die Landesverwaltung soll hierbei ihrer Vorbildfunktion bei öffentlichen Vergaben stärker gerecht werden. Dem mit der Verbreitung der Digitalisierung verbundenen Energie- und Ressourcenbedarf trägt das Land durch die Landesstrategie Green IT 2020 Rechnung. Zu ihren Schwerpunkten zählt die dauerhafte Einbringung von Nachhaltigkeitskriterien in IT-Beschaffungen der Landesverwaltung. Auf dem Weg zu mehr Nachhaltigkeit im Vergabewesen sind Landkreise, Städte und Gemeinden wichtige Partner, die vom Land vielfältige Schulungsangebote in Form von Workshops und gedruckten oder digitalen Arbeitshilfen erhalten. Diese Aktivitäten werden mit einer breit angelegten Schulungsoffensive in den Jahren 2018 und 2019 weiter ausgebaut und beziehen dabei alle Landesbehörden und Landeseinrichtungen mit ein. Wir wollen die Beschäftigten für das Thema Nachhaltigkeit sensibilisieren und umfassend qualifizieren, damit diese in der Lage sind, Nachhaltigkeitskriterien bei Vergaben rechtskonform zu berücksichtigen. Ich wünsche mir, dass es uns gelingt, Nachhaltigkeit als unverzichtbaren Teil im Beschaffungsmanagement sowohl der öffentlichen Hand als auch der Wirtschaft dauerhaft zu verankern. Dieses Buch kann mit seinen vielfältigen Beiträgen dazu einen wertvollen Beitrag leisten. Den Initiatoren und Initiatorinnen und Autoren und Autorinnen danke ich herzlich für ihr Engagement und die vielen zielführenden Anregungen. Franz Untersteller MdL – Minister für Umwelt Klima und Energiewirtschaft des Landes Baden-Württemberg

Vorwort

Nachhaltigkeit ist eines der Schlüsselwörter des 21. Jahrhunderts. Wirtschaftliche Entscheidungen können nicht mehr ausschließlich anhand von Preis, Qualität und Service getroffen werden. Nachhaltigkeitsaspekte – ökologische, soziale und ökonomische – gewinnen immer mehr an Bedeutung. Gerade im Bereich der Beschaffung als Türöffner zum eigenen Unternehmen zeigt sich dies besonders deutlich. Outsourcingraten von bis zu 80 % führen dazu, dass immer mehr Verantwortung auf externe Wertschöpfungspartner übertragen wird und somit gerade an dieser Schnittstelle eine sehr hohe Relevanz für Nachhaltigkeit besteht. Diesem Megatrend folgend, nimmt dieses Buch eine ganzheitliche Betrachtung des Themas „Nachhaltiges Beschaffungsmanagement“ vor. Es findet keine Beschränkung auf ökologische Aspekte statt, sondern alle drei Säulen der sogenannten Tripple Bottom Line – Ökologie, Soziales und Ökonomie – stehen im Mittelpunkt des Werkes für Praktiker, Wissenschaftler und Studierende. Die Idee geht zurück auf das erste Symposium zur Nachhaltigen Beschaffung am Campus Schwäbisch Hall der Hochschule Heilbronn im Jahr 2017. In mehreren sehr inspirierenden Beiträgen aus der Unternehmenspraxis wurde hier unter der Schirmherrschaft des Umweltministeriums Baden-Württemberg, der Stadt Schwäbisch Hall, des FSC Deutschland und der BME Hochschulgruppe e. V. der Hochschule Heilbronn das Thema Nachhaltigkeit analysiert und vielversprechend diskutiert. Einige der dort vorgestellten Themen finden sich auch im Praxisteil dieses Buches wieder. Ausgehend von dieser Veranstaltung entstand die Idee, die primär praxisorientierten Beiträge um eine wissenschaftliche Diskussion zu ergänzen und somit auch Beiträge von Universitäten und Hochschulen zu integrieren, die eine eher theoretische bzw. empirische Betrachtungsweise des Themengebiets vornehmen. Ergänzt um einen Blick in die Zukunft, im Sinne einer nachhaltigen Beschaffung 4.0, ergeben sich daher die drei grundlegenden Abschnitte: 1) Wissenschaftliche Schwerpunktbeiträge zum Thema Nachhaltige Beschaffung, 2) Best Practices aus der Unternehmenspraxis und dem öffentlichen Sektor und 3) Nachhaltige Beschaffung 4.0 – Einfluss der Digitalisierung auf das Beschaffungsmanagement. Aus der Verbindung dieser drei Perspektiven ergeben sich neue Erkenntnisse für eine große Bandbreite der untersuchten Teilaspekte eines nachhaltigen Beschaffungsmanagements. VII

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Vorwort

Unser großer Dank gilt allen Autorinnen und Autoren für deren Einsatz bei der Erstellung des Buches. Durch ihre Expertise und ihr umfangreiches Wissen haben sie wertvolle Beiträge zu einzelnen Bereichen des nachhaltigen Beschaffungsmanagements geleistet und durch unzählige Diskussionen während des Korrekturprozesses die hohe Qualität überhaupt erst ermöglicht. Als Herausgeber wünschen wir uns, dass wir mit diesem Buch Ihr Interesse an der aktiven Umsetzung einer nachhaltigen Beschaffung in Ihren Unternehmen bzw. in einzelnen Forschungsprojekten wecken und steigern können. Alle Leserinnen und Leser sind daher herzlich eingeladen, die in den einzelnen Beiträgen dargelegten Gedanken aufzugreifen und für die eigenen beruflichen Herausforderungen zu nutzen sowie mit den Herausgebern, Autoren und Unterstützern des Werkes intensiv zu diskutieren. Auf Ihre Erfahrungen beim Studieren und Ihre Anregungen sind wir sehr gespannt! Schwäbisch Hall

Wanja Wellbrock Daniela Ludin

Inhaltsverzeichnis

Teil I Wissenschaftliche Schwerpunktbeiträge zum nachhaltigen Beschaffungsmanagement 1

Betriebswirtschaftliche Implikationen eines nachhaltigen Beschaffungsmanagements . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Daniela Ludin und Wanja Wellbrock

2

Konzeption eines nachhaltigen Einkaufsmanagements auf Basis der 15M-Architektur der Supply-Strategie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 Gerhard Heß

3

Integration der „Sustainable Development Goals“ in eine nachhaltige Supply Chain – Der „Nachhaltige Beschaffungs-Case“. . . . . . 37 Elisabeth Fröhlich und Kristina Steinbiß

4

Sustainable Supply Chain Governance – Multinationale Unternehmen als Akteure nichtstaatlicher Governance in globalen Lieferketten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 Klaus Fischer und Marina Jentsch

5

Kriterien zur Bewertung von ökologischer Nachhaltigkeit in der Automobilindustrie – Eine Analyse aktueller Trends und angewandter Methoden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 Johannes Dahl

6

Nachhaltige Rohstoffversorgung – Perspektive Kreislaufwirtschaft und Ressourceneffizienz. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 Kathrin Hesse

7

Öffentliche Beschaffung biobasierter Produkte – Erkenntnisse aus einer deutschlandweiten Studie öffentlicher Auftraggeber . . . . . . . . . . 113 Felix Blank, Michael Broens, Jennifer Fischer und Ronald Bogaschewsky

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X

Inhaltsverzeichnis

8

Nachhaltige Personalbeschaffung in turbulenten Zeiten – Ein systemischer persönlichkeitsorientierter Ansatz und seine praktische Umsetzung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 Heiko Hansjosten

9

Nachhaltige Personalbeschaffung – Am Beispiel der Stellenbesetzung von Professoren an Hochschulen für angewandte Wissenschaften . . . . . . . 149 Maren Lay und Michael Ruf

Teil II Best Practices aus der Unternehmenspraxis und dem öffentlichen Sektor 10 Tetra Pak® – Von Natur aus nachhaltig. Verantwortungsbewusste Beschaffung am Beispiel einer Getränkekartonverpackung . . . . . . . . . . . . 167 Caroline Babendererde 11 Technische Lösungen für ökologische Herausforderungen – Nachhaltigkeit in der Prozess- und Verpackungstechnik. . . . . . . . . . . . . . . 183 Carsten Weiß 12 Integration von Nachhaltigkeitsaspekten bei der Lieferantenauswahl am Beispiel eines deutschen Industrieunternehmens . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 Rubén Medina Serrano, Wanja Wellbrock, María Reyes González und José Luis Gascó 13 Die Rolle der Verpackung in Logistikprozessen – Auswirkungen auf eine Nachhaltige Logistik im Lebensmittelbereich. . . . . . . . . . . . . . . . . 213 Stefan Schmidt 14 Nachhaltige Beschaffung in der Schwäbisch Hall-Gruppe: „Vermeiden – Reduzieren – Kompensieren“ – aus dem Führungsalltag im Einkauf eines Finanzdienstleisters. . . . . . . . . . . . . . . . . 235 Daniela Apel 15 Nachhaltiges Beschaffungsmanagement im Lebensmitteleinzelhandel – Eine Fallstudie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251 Oskar Grün und Jean-Claude Brunner 16 Proaktives Risikomanagement als Unterstützung einer nachhaltigen Beschaffung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271 Felix Walther, Christoph Hein und Wanja Wellbrock 17 Nachhaltige Beschaffung von holz- und papierbasierten Produkten in der Praxis – Gut für Reputation, Marktzugang und Produktabsatz, aber auch gut zu kontrollieren? . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295 Catrin Fetz

Inhaltsverzeichnis

XI

18 Beschaffung von Holz und Papier aus nachhaltiger Waldwirtschaft – FSC bei deutschen Endkundenmarken . . . . . . . . . . . . . . 313 Ulrich Malessa 19 Nachhaltige öffentliche Beschaffung am Beispiel der Stadt Schwäbisch Hall . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 331 Stefano Rossi 20 Digitale Trends und ihre Auswirkungen auf die Nachhaltigkeitsperformance in der Beschaffung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 345 Jasmin Möller und Ronald Bogaschewsky Teil III Nachhaltige Beschaffung 4.0 – Einfluss der Digitalisierung auf das Beschaffungsmanagement 21 Nachhaltige Beschaffung auf digitalen Plattformen am Beispiel logistischer Dienstleistungen – Analyse der Möglichkeiten für Einkäufer und Auswirkungen anhand der drei Dimensionen der Nachhaltigkeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 371 Patrick Seeßle 22 Controlling von Beschaffungsprozessen – Wirtschaftliche Nachhaltigkeit, Chancen und ausgewählte Potenziale durch Digitalisierung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 389 Gernot Mödritscher und Friederike Wall 23 Procurement Analytics – Lieferketten digital betrachtet . . . . . . . . . . . . . . . 407 Dirk Sackmann und Thomas Deil

Teil I Wissenschaftliche Schwerpunktbeiträge zum nachhaltigen Beschaffungsmanagement

1

Betriebswirtschaftliche Implikationen eines nachhaltigen Beschaffungsmanagements Daniela Ludin und Wanja Wellbrock

Zusammenfassung

In diesem Beitrag werden die betriebswirtschaftlichen Implikationen eines nachhaltigen Beschaffungsmanagements herausgearbeitet. Ausgehend von der Bedeutung und den Zielen des Beschaffungsmanagements für den Wertschöpfungsprozess eines Unternehmens werden die Grundzüge eines nachhaltigen Beschaffungsmanagements entwickelt. Auf Basis der Operationalisierung operativer nachhaltiger Beschaffung im 3-Säulen-Modell erfolgt die Übertragung des nachhaltigen Beschaffungswesens auf die strategische Managementebene des Unternehmens. Es werden zuerst nachhaltige Beschaffungsstrategien skizziert und dann Instrumente zur Umsetzung nachhaltiger Beschaffung vorgestellt. Abschließend wird erläutert, warum Beschaffungsstrategien immer auch mit anderen unternehmerischen Teilstrategien verflochten sind.

1.1 Beschaffungsmanagement als erste Schnittstelle des Unternehmens zur Umwelt Beschaffung gilt als erste Schnittstelle des Unternehmens zur Umwelt. Das Beschaffungsmanagement übernimmt damit Produktverantwortung über alle Wertschöpfungsstufen hinweg. Daher wird dem Beschaffungsmanagement auch eine „Gatekeeper“-Funktion im Unternehmen zugeschrieben (Günther 2012, S. 206–211, 250). Diese „Gatekeeper“-Funktion löst als Bild die alte Kaufmannsweisheit „im Einkauf

D. Ludin () E-Mail: [email protected] W. Wellbrock E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 W. Wellbrock und D. Ludin (Hrsg.), Nachhaltiges Beschaffungsmanagement, https://doi.org/10.1007/978-3-658-25188-8_1

3

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D. Ludin und W. Wellbrock

liegt der Gewinn“ ab, da sich gezeigt hat, dass eine alleinige monetäre Betrachtung von Beschaffungsprozessen sehr risikobehaftet ist und vor allem aus Nachhaltigkeitsaspekten zu kurz greift. Jänicke et al. greifen in diesem Zusammenhang in Anlehnung an Schaltegger den Begriff der „Schadschöpfungskette“ auf, die impliziert, dass mit der Produktion von Gütern und Dienstleistungen (Wertschöpfung) (meist) unvermeidbar eine Schadschöpfung verbunden ist. Ausgehend von diesem Ansatz muss ökologieorientiertes Management an der Schadschöpfung auf den einzelnen Stufen der Wertschöpfung ansetzen (Jänicke et al. 2003, S. 295 ff.; Schaltegger et al. 2014). Ein an der Schadschöpfungskette orientiertes Umweltmanagement kann Anstöße dafür geben, dass auf vor- und nachgelagerten Produktionsstufen umweltorientiert gewirtschaftet wird (Jänicke et al. 2003, S. 300 f.). Erfolgreiches ökologieorientiertes Management bedingt demzufolge eine Umsetzung in allen betrieblichen Bereichen; entlang der gesamten Supply Chain – beginnend bei der Beschaffung (Günther 2008, S. 172 ff.; Jänicke et al. 2003, S. 328 ff.). Wie Abb. 1.1 zeigt, wird die klassische Wertschöpfungskette nach Porter heute als Wertschöpfungskreislauf nach Günther dargestellt, in dem die Beschaffung eine zentrale Rolle einnimmt, da sie an erster Stelle der Unternehmensaktivität steht und damit die Richtung des gesamten Wertschöpfungsprozesses gestaltet (Günther 1994, S. 90; Günther 2008, S. 173, 2010a, S. 67 f.; Porter 1985, S. 33 ff.). Schadschöpfung durch Beschaffung impliziert die Notwendigkeit eines nachhaltigen Beschaffungsmanagements.

Entwicklung

Entsorgung

Beschaffung

Service

Produktion

Absatz

Abb. 1.1  Wertschöpfungskreislauf. (Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an Günther 1994, S. 90, 2008, S. 173, 2010a, S. 67 f.; Porter 1985, S. 33 ff.)

1  Betriebswirtschaftliche Implikationen …

5

1.2 Begriffsbestimmung „Beschaffung“ und „Beschaffungsmanagement“ Um die Grundzüge eines nachhaltigen Beschaffungsmanagements zu entwickeln, wird zunächst bei der Begriffsbestimmung von „Beschaffung“ und „Beschaffungsmanagement“ angesetzt. Bei den gängigen Definitionen steht die Versorgungssicherheit im Vordergrund. So halten Kummer et al. fest: „Unter Beschaffung im weiteren Sinne versteht man alle Maßnahmen zur Versorgung des Unternehmens mit jenen Produktionsfaktoren, die nicht selbst erstellt werden“ (Kummer et al. 2013, S. 114). Bea und Haas formulieren ähnlich: „Beschaffung ist die Versorgung der Unternehmung mit Einsatzgütern“ (Bea und Haas 2017, S. 500). In der vorliegenden Analyse soll der wertschöpfende Charakter der Beschaffung in den Vordergrund gestellt werden. Dies gelingt, wenn man die Ansätze von Sandig, Gutenberg und Large zugrunde legt. Sandig betont in seiner Definition die aktiven Gestaltungsmöglichkeiten im Beschaffungsmanagement. Beschaffung ist „… eine Tätigkeit der Unternehmung, ein aktives schöpferisches Tätigsein, und nicht etwa … ein zwangsläufig sich abwickelnder Vorgang“ (Sandig 1935, S. 176). Large hält in diesem Zusammenhang in Bezug auf Gutenberg fest: „Im Sinne Gutenbergs gibt es also auch in der Beschaffung neben der objektorientierten Arbeit einen Tätigkeitsbereich der dispositiven Arbeit …“ (Gutenberg 1983, S. 8; Large 2013, S. 20 f.). Ergänzend gilt es festzuhalten, dass die Begriffe „Beschaffung“ und „Einkauf“ in der Literatur häufig synonym verwendet werden (vgl. z. B. Large 2013, S. 22 f.). Man spricht vor diesem Hintergrund auch von Procurement-Management, Einkaufsplanung, Beschaffungswesen, Beschaffungswirtschaft oder eben auch von Beschaffungsmanagement.

1.3 Ziele und Dimensionen des Beschaffungsmanagements Klassische traditionelle Ziele des Beschaffungsmanagements sind die Bereitstellung von Gütern und Dienstleistungen • • • •

der richtigen Art, Menge und Qualität (Sachziel), zur richtigen Zeit (Sachziel), am richtigen Ort (Sachziel) und zu möglichst geringen Kosten (Formalziel).

Bei den einzelnen Zielen kann dabei zwischen Sachzielen (= Versorgungssicherheit/ Sicherung der Verfügbarkeit) und Formalzielen (= Versorgungswirtschaftlichkeit) unterschieden werden. Im Fokus der Betrachtung stehen auch Zielkonflikte innerhalb des

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D. Ludin und W. Wellbrock

Beschaffungsmanagements, z. B. Servicegrad und Kosten als Beispiel für gegenläufige Ziele. Unter den beschaffungsrelevanten Kosten versteht man Bestellkosten, Transportkosten, Zins- und Lagerkosten, Personalkosten, Kosten der Abfallwirtschaft und Kosten der Qualitätssicherung (Wöhe und Döhring 2016, S. 68 ff.; Balderjahn und Specht 2016, S. 112 ff.; Bea und Haas 2017, S. 501; Kummer et al. 2013, S. 120). Der „Einkäufer“ früherer Prägung strebt vor allem nach Preisoptimierung. Der „Beschaffungsmanager“ von heute strebt neben Gewinnbeschaffung vor allem auch nach Know-how-Transfer, der Erfüllung von Kundenwünschen und einer damit verbundenen Risikominimierung (Bichler et al. 2010, S. 31 ff.; Large 2013, S. 19 ff.). Bei den Zielen eines modernen nachhaltigen Beschaffungsmanagements kommen daher vor dem Hintergrund der Risikominimierung in Ergänzung zu den vier oben genannten Zielen noch zwei entscheidende Aspekte hinzu; nämlich die Bereitstellung von Gütern und Dienstleistungen • unter Berücksichtigung sozialer Belange (Sozialziel) und • unter Berücksichtigung ökologischer Belange (Umweltziel) (Balderjahn und Specht 2016, S. 114 ff.; Bea und Haas 2017, S. 501; Kummer et al. 2013, S. 120). Daraus lassen sich die drei Säulen nachhaltiger Beschaffung ableiten: Die ökologische Säule, die soziale Säule und die ökonomische Säule. Man spricht hier auch von der „Triple-Bottom-Line“ (TBL) bzw. ist der Ausdruck „Planet, People und Profit“ (PPP) geläufig. Die ökologische Säule wird im Englischen mit dem Begriff „Planet“ verbildlicht; hier geht es um das Agieren nach dem natürlichen Kreislaufprinzip. Das Ziel der Beschaffung ist die Schaffung bzw. Aufrechterhaltung geschlossener Stoffströme. Die soziale Säule kennzeichnet man im Englischen schlicht mit „People“. Hier geht es um das Handeln nach dem Verantwortungsprinzip. Das Ziel der Beschaffung ist hier die Einhaltung normativer bzw. ethisch-moralischer Standards zur Sicherung der sozialen Lebensgrundlagen der Menschen. Es wird davon ausgegangen, dass ein Unternehmen für die Folgen seines Handelns verantwortlich ist; es trägt beispielsweise die Verantwortung für die eigenen Mitarbeiter und die Mitarbeiter der Lieferanten. Man spricht hier auch von der Übernahme sozialer Verantwortung (Corporate Social ­Responsibility). Die ökonomische Säule wird englischsprachig mit „Profit“ bezeichnet. Im Deutschen bringt man damit das Kooperationsprinzip (und das Partnerschaftsprinzip) in Verbindung. Es steht die Zusammenarbeit aller an Wertschöpfungskreisläufen beteiligten, betroffenen und interessierten Akteure (Stakeholder) im Vordergrund. Dieses Prinzip der ökonomischen Säule meint damit mehr als das schlichte unternehmensinterne Profitstreben (Balderjahn 2013, S. 16 ff.; Balderjahn und Specht 2016, S. 62 ff.; Harting 2011, S. 20; Koplin 2006; Large 2013, S. 57 ff.). Abb. 1.2 verdeutlicht die Zusammenhänge, bevor anschließend die Ausgestaltung der drei Dimensionen nachhaltiger Beschaffung ausführlich vorgestellt wird.

1  Betriebswirtschaftliche Implikationen …

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Nachhaltig beschaffen heißt … ökologieverträglich

sozialverträglich

ökonomieverträglich

beschaffen

beschaffen

beschaffen

Kreislaufprinzip

Verantwortungsprinzip

Kooperationsprinzip

Planet

People

Profit

Abb. 1.2  Die drei Säulen nachhaltiger Beschaffung. (Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an Balderjahn 2013, S. 16 ff.; Balderjahn und Specht 2016, S. 62 ff.; Harting 2011, S. 20; Koplin 2006; Large 2013, S. 58 ff.)

1.3.1 Ökologieverträgliche Beschaffung Ausgangspunkt der Betrachtung ist die Erkenntnis, dass Unternehmen die Umwelt entscheidend beeinträchtigen; dies geschieht auf drei unterschiedlichen Ebenen (Jänicke et al. 2003, S. 298; Wöhe und Döring 2016, S. 277 ff.): • Zum einen durch die Verwendung bzw. die Verschwendung ökologisch knapper ­Ressourcen (Rohstoffe, Energien und Vorprodukte), • zum anderen durch die Abgabe von produktionsbedingten stofflichen bzw. energetischen Schädigungsemissionen an die Umweltmedien Luft, Wasser, Boden und • schließlich durch das Verursachen von Belastungen beim Ge- und Verbrauch sowie bei der Entsorgung der durch die Unternehmen hergestellten Produkte. Aufbauend auf einer umfassenden Literaturanalyse (Balderjahn 2013, S. 85 f., 92 f.; Balderjahn und Specht 2016, S. 95; Günther 2010b, S. 668 f.; Fuchs-Kittowski und ­ Freiheit 2014, S. 778; Gnam und Schwalbe 2013, S. 145; Jänicke et al. 2003, S. 330 ff.; Large 2013, S. 58 ff.; Werner 2017, S. 194 ff.) kann zusammengefasst werden, dass Unternehmen, die ökologieverträglich agieren, folglich bei Unternehmen beschaffen, die • die natürlichen Ressourcen bzw. Lebensgrundlagen erhalten und schonen, • nachhaltiges Material aus regenerativen Ressourcen, energieeffizient unter Einsatz erneuerbarer Energie produziert, anbieten,

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D. Ludin und W. Wellbrock

• Material bei der Produktion einsparen, • Material nach der Produktion recyceln, • Abfall vermeiden, verwerten oder nachhaltig entsorgen, • (Um)Verpackungen nachhaltig gestalten, • umweltschädlichen Emissionen (Abluft, Abwasser, Lärm, Abwärme und Strahlen) vermeiden oder vermindern, • nachhaltige Transportwege, -mittel und -häufigkeiten nutzen (Green Transport bzw. Green Travel), • Material aus nachhaltiger Produktion einsetzen (Kennzeichnung durch Labels, Siegels), • einen sichereren Umgang mit Gefahrgütern pflegen und • umweltbelastenden Störfälle vermeiden oder begrenzen.

1.3.2 Sozialverträgliche Beschaffung Bei der sozialverträglichen Beschaffung tragen Unternehmen moralische Mitverantwortung für das soziale Handeln bzw. Nichthandeln ihrer Lieferanten; dies geschieht über Lieferantenmonitoring, über aktive Steuerung derer Aktivitäten über Sozialaudits, über soziale Kriterien in der Lieferantenbewertung und aktive Lieferantenförderung. Eine ausführliche Literaturanalyse (Balderjahn 2013, S. 28–31; Large 2013, S. 58 ff.; Pufé 2017, S. 117 ff.) zeigt, dass Unternehmen, die sozialverträglich agieren, folglich bei Unternehmen beschaffen, die • • • • • • • • • • • • • • •

Transparenz und Partizipation schaffen, Menschenrechte einhalten, keine physischen Disziplinierungsmaßnahmen anwenden, Arbeitsplatzgesundheit und -sicherheit (sowie damit verbundene Produktsicherheit) schaffen, Vereinigungsfreiheit und Recht auf Kollektivverhandlungen garantieren, faire Löhne bezahlen, ihre Mitarbeiter aus- und weiterbilden, keine Kinder beschäftigen, keine Zwangsarbeiter beschäftigen, Menschen mit Behinderung beschäftigen, Menschen mit Migrationshintergrund beschäftigen, Diskriminierung ächten und bekämpfen, die Gleichstellung von Mann und Frau fördern, für Work-Life-Balance ihrer Mitarbeiter sorgen und lokale Wohltätigkeitsorganisationen unterstützen.

1  Betriebswirtschaftliche Implikationen …

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1.3.3 Ökonomieverträgliche Beschaffung Ökonomieverträgliche Beschaffung bedeutet, dass Unternehmen in Übereinstimmung mit rechtlichen Vorgaben und anerkannten Standards handeln (Compliance). Dies geschieht zuallererst, um den eigenen Unternehmenserfolg zu sichern. Die Auswertung der Literatur (Balderjahn 2013, S. 23 f., 30 f.; Günther 2012, S. 206– 211, 250; Pufé 2017, S. 117 ff.) zeigt, dass Unternehmen, die ökonomieverträglich agieren, folglich bei Unternehmen beschaffen, die • • • • •

durch langfristige Lieferverträge ans Unternehmen gebunden sind, faire Handelsbedingungen bieten, faire Preise verlangen, Korruption bekämpfen und ein Risikomanagement haben.

1.4 Nachhaltige Beschaffung auf der strategischen Managementebene Ein weiterer wichtiger Aspekt nachhaltiger Beschaffung ist ihre zeitliche Dimension. Large hält dazu fest, dass nachhaltige Beschaffung den Ausgleich zwischen heutigem Erfolg und Erfolg in der Zukunft voraussetzt. Dazu bedarf es der Verfolgung strategischer Beschaffungsziel“ (Large 2013, S. 33 ff.). Nach der operativen Betrachtung nachhaltiger Beschaffung steht daher nun die nachhaltige Beschaffung auf der Managementebene im Fokus. Ausgehend vom konventionellen „Strategischen Management“ über das „Ökologieorientierte Management“ hat sich das Nachhaltigkeitsmanagement entwickelt (Baumast 2009; Günther 2008, S. 40 ff.; Herzig und Pianowski 2009, S. 217–232). Dabei ist das strategische Beschaffungsmanagement „… als Schnittmenge der Handlungen des Beschaffungsmanagements und des allgemeinen strategischen Managements“ zu sehen (Large 2013, S. 31 f.). Merkmale strategischer Beschaffungspolitik sind dabei (Arnold 1982, S. 326): • eine langfristige Orientierung, • die Sicherung von Wettbewerbsvorteilen und • die Stärkung des Unternehmenserfolgs. In der erarbeiteten Konzeption wird, aufbauend auf der Unternehmensstrategie und der Nachhaltigkeitsstrategie, die Beschaffungsstrategie abgeleitet (Balderjahn 2013, S. 82 ff.). Abb. 1.3 schematisiert die Zusammenhänge in einer Managementpyramide.

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D. Ludin und W. Wellbrock

Unternehmensvision Nachhaltigkeitsziele

Normatives Management= Leitbild als Vision

Beschaffungsziele

Unternehmensstrategie

Strategisches Management => strategische Analyse, strategische Planung, Strategieentwicklung

Nachhaltigkeitsstrategie Beschaffungsstrategie

Operatives Management => Implementierung, Maßnahmeneinsatz

Abb. 1.3  Nachhaltige Strategische Beschaffung in der Managementpyramide. (Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an Balderjahn 2013, S. 82 ff.)

Auf Basis der Erkenntnisse von Porter und Balderjahn lässt sich schlussfolgern, dass ein Unternehmen bei der Ausgestaltung seiner nachhaltigen Beschaffungsstrategie grundsätzlich eine von zwei möglichen Strategien wählen kann: Die Defensivstrategie oder die Offensivstrategie (Porter 1980, S. 35 ff.; Balderjahn 2013, S. 35, 92 ff., 131 ff.; dazu auch Ludin 2011; Wöhe und Döring 2016, S. 81 ff.).

1.4.1 Defensivstrategie der nachhaltigen Beschaffung – Compliance Bei der Defensivstrategie der nachhaltigen Beschaffung steht Compliance im Vordergrund; es geht um die Regelkonformität des Unternehmens, also um die Einhaltung von rechtlichen Regelungen. Ziel ist es dabei, über die Kostenführerschaft (overall cost leadership) im Sinne Porters eine Verbesserung der Kostenstruktur im Vergleich zum Wettbewerber zu erzielen. Das Unternehmen wird von den Stakeholdern „getrieben“ (Push-Prozesse). Nach Jänicke et al. besteht hier das Motiv des Unternehmens für eine nachhaltige Beschaffung in der Vermeidung eines wirtschaftlichen Schadens. Denn bei Forderungen der Stakeholder nach Nachhaltigkeit (rechtliche Regelungen durch staatliche Institutionen) besteht bei Missachtung die Gefahr von Sanktionen gegen das Unternehmen (Strafzahlungen, Verbote etc.) (Jänicke et al. 2003, S. 311 ff.). Eine Defensivstrategie weist folgende Merkmale auf (Carroll 1979, S. 497–505, 1991, S. 39–48; Balderjahn 2013, S. 35, 49 ff., 131 ff.; Hahn 2013, S. 44–57; Large 2013, S. 57 ff.; Wöhe und Döring 2016, S. 281 ff.):

1  Betriebswirtschaftliche Implikationen …

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• Es handelt sich um eine erzwungene Nachhaltigkeit, • die Nachhaltigkeit wird von Stakeholdern (hier vor allem von staatlichen Einrichtungen) vorausgesetzt, • das Unternehmen hat ein Rechtsbewusstsein; es übernimmt rechtliche Verantwortung („obey laws and regulations“), • Nachhaltigkeit wird lediglich als Kostenfaktor betrachtet und • es liegt ein kurzfristiger Ansatz mit dem Fokus auf „Nachsorge“ vor.

1.4.2 Offensivstrategie der nachhaltigen Beschaffung – Corporate Responsibility Eine Offensivstrategie kann im Sinne Porters als Differenzierung (differentiation) bezeichnet werden. Die Differenzierung des Leistungsangebots wird durch die Schaffung eines Zusatzwertes (nachhaltige Produkte und/oder Dienstleistungen) im Vergleich zum Konkurrenzprodukt der Wettbewerber erzielt. Das Unternehmen „treibt“ die Stakeholder an (Pull-Prozesse). Nach Jänicke et al. besteht hier das Motiv des Unternehmens für eine nachhaltige Beschaffung in der Realisierung wirtschaftlicher Vorteile. Es geht um Kostensenkung durch Einsparung von Ressourcen, um Erzielung zusätzlicher Erträge durch Erschließung neuer Marktsegmente, um Entwicklung neuer und nachhaltiger Produktionsverfahren und Produkte. Dies führt zu Gewinnsteigerungen und zu einer verbesserten Wettbewerbsfähigkeit. Zudem hat bei einer Offensivstrategie die Natur für das Unternehmen (meist) einen Eigenwert und muss geschützt werden. Umweltethische Motive mit deklamatorischem Charakter kommen zum Tragen (Jänicke et al. 2003, S. 311 ff.). Eine Offensivstrategie weist folgende Merkmale auf (Carroll 1979, S. 497–505, 1991, S. 39–48; Balderjahn 2013, S. 35, 49 ff., 93 f., 131 ff.; Hahn 2013, S. 44–57; Hentze und Thies 2012, S. 1091; Large 2013, S. 57 ff.; Peters und Zelewski 2009, S. 289–293; Wöhe und Döring 2016, S. 281 ff.): • Es handelt sich um eine freiwillige Nachhaltigkeit, • die Nachhaltigkeit wird von Share- und Stakeholdern erwartet und erwünscht, • das Unternehmen übernimmt moralische bzw. philanthropische Verantwortung („do what is right, fair and just“/„be a good corporate citizen“), • Nachhaltigkeit wird als Erlösfaktor betrachtet und • es liegt ein langfristiger Ansatz mit dem Fokus auf „Vorsorge“ vor. Die Vorteile einer Offensivstrategie nachhaltiger Beschaffung können dabei wie folgt zusammengefasst werden (Balderjahn 2013, S. 31, 48; Deloitte und Touche GmbH Wirtschaftsprüfungsgesellschaft 2009, S. 18; Wöhe und Döring 2016, S. 281 ff.): • Nichtnachhaltige Beschaffung wird vom Kunden sanktioniert, • nachhaltige Beschaffung wird vom Kunden honoriert,

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D. Ludin und W. Wellbrock

• • • •

nachhaltige Unternehmen erzielen höhere Preise für ihre Produkte, Unternehmen mit einem nachhaltigen Image gewinnen zusätzliche Nachfrager, Unternehmen mit innovativen nachhaltigen Produkten erschließen neue Märkte und nachhaltige Unternehmen bieten insbesondere qualifizierten Mitarbeitern eine Identifikationsmöglichkeit.

Grundsätzlich empfiehlt sich aufgrund der genannten Punkte in Anlehnung an Porter für ein nachhaltiges Unternehmen die Offensivstrategie im Bereich der Beschaffung (Porter 1980; dazu auch Peters und Zelewski 2009, S. 289–293).

1.5 Übergeordneter Rahmen für unternehmerische nachhaltige Beschaffungsstrategien Den übergeordneten Rahmen für unternehmerische nachhaltige Beschaffung auf strategischer und operativer Ebene bilden immer die vorherrschenden rechtlichen Regelungen, die sich im internationalen Recht, im EU-Recht und im Nationalen Recht widerspiegeln; es geht an dieser Stelle um „Legal Compliance Management“; also um Regelkonformität von Unternehmen, die sich in der Einhaltung von rechtlichen Regelungen zeigt. Nichteinhaltung führt zu Unternehmensstrafen (Bußgelder etc.) und/oder dem Verfall des durch den Gesetzesverstoß erzielten Gewinns (Erbguth und Schlacke 2014, S. 307 ff.; Fuchs-Kittowski und Freiheit 2014, S. 778; Günther 2008, S. 54 ff., 108 f.; Vahrenkamp 2008, S. 57 ff.; Wöhe und Döring 2016, S. 81 ff.). Dazu kommen freiwillige Instrumente zur Umsetzung nachhaltiger Beschaffung. Hier können Selbstverpflichtungen über Code of Conducts, Nutzung von Richtlinien, Leitlinien und Leitfäden, Zertifizierung von Prozessen und Zertifizierung von Produkten genannt werden (Balderjahn 2013, S. 53, 68 f.; Fuchs-Kittowski und Freiheit 2014, S. 778; Hentze und Thies 2012, S. 1091; Koplin 2006; Müller et al. 2013, S. 79–101; Pape 2013, S. 302–320; Pufé 2017).

1.6 Operative Umsetzung einer nachhaltigen Beschaffungsstrategie auf der Managementebene Auf der operativen Managementebene werden nun die Maßnahmen zur Erreichung einer nachhaltigen Beschaffung im Nachhaltigkeitsprogramm des Unternehmens festgelegt (Balderjahn 2013, S. 82 ff.). Es können beispielsweise Beschaffungsrichtlinien, Nachhaltigkeitskennzahlen, Nachhaltigkeitsbilanzen, Nachhaltigkeitsaudits und ein Nachhaltigkeitscontrolling implementiert werden, die verschiedene Maßnahmen zur Erreichung des Ziels nachhaltige Beschaffung nach sich ziehen. Abb. 1.4 schematisiert die Zusammenhänge nochmals in der bereits gezeigten Managementpyramide.

1  Betriebswirtschaftliche Implikationen …

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Normatives Management= Leitbild als Vision

Strategisches Management => strategische Analyse, strategische Planung, Strategieentwicklung

Nachhaltigkeitsprogramm

Operatives Management => Implementierung, Maßnahmeneinsatz

Beschaffungsrichtlinien Nachhaltigkeitskennzahlen Nachhaltigkeitsbilanzen Nachhaltigkeitsaudits Nachhaltigkeitscontrolling

Abb. 1.4  Nachhaltige Operative Beschaffung in der Managementpyramide. (Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an Balderjahn 2013, S. 82 ff.)

1.7 Fazit Beschaffung ist die erste Schnittstelle des Unternehmens zur Umwelt. Aus diesem Grund wird dem Beschaffungsmanagement auch eine „Gatekeeper“-Funktion im Unternehmen zugeschrieben. In der vorliegenden Analyse wurde daher der wertschöpfende Charakter der Beschaffung in den Vordergrund gestellt. Ziele eines nachhaltigen Beschaffungsmanagements sind demnach die Bereitstellung von Gütern und Dienstleistungen der richtigen Art, Menge und Qualität, zur richtigen Zeit, am richtigen Ort, zu möglichst geringen Kosten, unter Berücksichtigung sozialer Belange und unter Berücksichtigung ökologischer Belange. Daraus lassen sich die drei Säulen nachhaltiger Beschaffung ableiten: Die ökologische Säule, die soziale Säule und die ökonomische Säule. Nach der operativen Betrachtung nachhaltiger Beschaffung stand die nachhaltige Beschaffung auf der Managementebene im Fokus. Ausgehend vom konventionellen „Strategischen Management“ hat sich das Nachhaltigkeitsmanagement entwickelt. Dabei ist das strategische Beschaffungsmanagement als die Schnittmenge des Beschaffungsmanagements und des allgemeinen strategischen Managements zu betrachten. Im entwickelten Modell lässt sich schlussfolgern, dass ein Unternehmen bei der Gestaltung seiner nachhaltigen Beschaffungsstrategie grundsätzlich zwischen zwei möglichen Strategien auswählen kann: Die Defensivstrategie oder die Offensivstrategie. Bei der Defensivstrategie steht Compliance im Vordergrund; es geht um die Regelkonformität des Unternehmens, also um die Einhaltung von rechtlichen Regelungen. Eine Offensivstrategie kann als Differenzierung bezeichnet werden. Die Differenzierung des Leistungsangebots wird durch die Schaffung eines Zusatzwertes (nachhaltige Produkte

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D. Ludin und W. Wellbrock

und/oder Dienstleistungen) im Vergleich zum Konkurrenzprodukt der Wettbewerber erzielt. Grundsätzlich empfiehlt sich für ein nachhaltiges Unternehmen die Offensivstrategie im Bereich der Beschaffung, denn nachhaltige Beschaffung wird vom Kunden honoriert. Unternehmen mit einem nachhaltigen Image gewinnen zusätzliche Nachfrager und erschließen mit innovativen nachhaltigen Produkten neue Märkte. Den übergeordneten Rahmen für nachhaltige Beschaffung auf strategischer und operativer Ebene bilden immer die vorherrschenden rechtlichen Regelungen. Dazu kommen freiwillige Instrumente zur Umsetzung nachhaltiger Beschaffung. Abschließend muss aber festgehalten werden, dass nachhaltige Beschaffungsstrategien auch immer mit anderen unternehmerischen Teilstrategien verbunden sind. So ist eine erfolgreiche nachhaltige Beschaffungsstrategie immer eingebettet in eine F&E-Strategie, in eine F&I-Strategie, in eine Personalstrategie, in eine Organisationsstrategie, in eine Produktionsstrategie, in eine Distributionsstrategie, in eine Marketingstrategie und in eine Controllingstrategie (Balderjahn 2013, S. 82 ff.; Wöhe 2016, S. 281 ff.).

Literatur Arnold, U.: Strategische Beschaffungspolitik. Steuerung und Kontrolle strategischer Beschaffungssubsysteme von Unternehmen. Lang, Frankfurt a. M. (1982) Balderjahn, I.: Nachhaltiges Management und Konsumentenverhalten. utb GmbH, Konstanz (2013) Balderjahn, I., Specht, G.: Einführung in die Betriebswirtschaftslehre. Schäffer-Poeschel, Stuttgart (2016) Baumast, A.: Perspektive Nachhaltigkeit – Unternehmen auf dem Weg zu einer nachhaltigen Entwicklung. In: Baumast, A., Pape, J. (Hrsg.) Betriebliches Umweltmanagement. Nachhaltiges Wirtschaften im Unternehmen, S. 255–264. Verlag Eugen Ulmer, Stuttgart (2009) Bea, F.X., Haas, J.: Strategisches Management. UVK Verlag, Konstanz (2017) Bichler, K., Krohn, R., Riedel, G., Schöppach, F.: Beschaffungs- und Lagerwirtschaft. Praxisorientierte Darstellung der Grundlagen, Technologien und Verfahren. Spring Gabler, Wiesbaden (2010) Carroll, A.B.: A three-dimensional conceptual model of corporate performance. Acad. Manag. Rev. 4(4), 497–505 (1979) Carroll, A.B.: The pyramid of corporate social responsibility: towards the moral management of organizational stakeholders. Bus. Horiz. 34(4), 39–48 (1991) Deloitte & Touche GmbH: Wirtschaftsprüfungsgesellschaft, Corporate Social Responsibility. Verankert in der Wertschöpfungskette, Düsseldorf (2009) Erbguth, W., Schlacke, S.: Umweltrecht. Nomos Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, Baden-Baden (2014) Fuchs-Kittowski, F., Freiheit, J.: Betriebliche Umweltinformationssysteme zur Unterstützung des Umwelt- und Nachhaltigkeitsmanagement. WISU o. Jg.(6), 778–783 (2014) Gnam, H.-J., Schwalbe, L.: Betriebliches Umweltmanagement. In: Ernst, D., Sailer, U. (Hrsg.) Nachhaltige Betriebswirtschaftslehre, S. 143–170. UVK Verlag, Konstanz (2013) Günther, E.: Ökologieorientiertes Controlling. Vahlen, München (1994) Günther, E.: Ökologieorientiertes Management. utb GmbH, Stuttgart (2008)

1  Betriebswirtschaftliche Implikationen …

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Günther, E.: Beschaffung. WISU o. Jg.(1), 67–68 (2010a) Günther, E.: Betriebliche Umweltinformationssysteme. WISU o. Jg.(5), 668–669 (2010b) Günther, E.: Ökologieorientierte Beschaffung. WISU o. Jg.(2), 206–211 (2012) Gutenberg, E.: Grundlagen der Betriebswirtschaftslehre. Erster Band: Die Produktion. Springer, Berlin (1983) Hahn, R: Ethische Grundlagen des betrieblichen Nachhaltigkeitsmanagements. In: Baumast, A., Pape, J. (Hrsg.) Betriebliches Nachhaltigkeitsmanagement, S. 44–57. utb Gmbh, Stuttgart (2013) Harting, D.: Nachhaltigkeit im Strategischen Einkauf. Ökostandards übertreffen. BA – Beschaff. aktuell o. Jg.(8), 20 (2011) Hentze, J., Thies, B.: Unternehmensethik und Nachhaltigkeitsmanagement. utb Gmbh, Bern (2012) Herzig, C., Pianowski, M.: Nachhaltigkeitsberichterstattung. In: Baumast, A., Pape, J. (Hrsg.) Betriebliches Umweltmanagement. Nachhaltiges Wirtschaften im Unternehmen, S. 217–232. Verlag Eugen Ulmer, Stuttgart (2009) Jänicke, M., Kunig, P., Stitzel, M.: Umweltpolitik. J.H.W Dietz Nachf Gmbh, Bonn (2003) Koplin, J.: Nachhaltigkeit im Beschaffungsmanagement: Ein Konzept zur Integration von Umweltund Sozialstandards. Deutscher Universitätsverlag, Wiesbaden (2006) Kummer, S., Grün, O., Jammernegg, W.: Grundzüge der Beschaffung, Produktion und Logistik. Pearson, München (2013) Large, R.: Strategisches Beschaffungsmanagement. Eine praxisorientierte Einführung. Mit Fallstudien. Springer Fachmedien, Wiesbaden (2013) Ludin, D.: Globalisierung als regionale Chance. Erfolgreiche und nachhaltige Strategieentwicklung für mittelständische Brauereien, 2. Aufl. European University of Lefke, Lohmar (2011) Müller. M., Moutchnik, A., Freier, I.: Standards und Zertifikate im Umweltmanagement, im Sozialbereich und im Bereich der gesellschaftlichen Verantwortung. In: Baumast, A., Pape, J. (Hrsg.) Betriebliches Nachhaltigkeitsmanagement, S. 79–101. utb Gmbh, Stuttgart (2013) Pape, J.: Footprinting – vom Product Carbon Footprint zur nachhaltigkeitsorientierten Balanced Scorecard von Produkten. In: Baumast, A., Pape, J. (Hrsg.) Betriebliches Nachhaltigkeitsmanagement, S. 302–320. utb Gmbh, Stuttgart (2013) Peters, M., Zelewski, S.: Wettbewerbsstrategische Konsequenzen von Maßnahmen nachhaltigen Wirtschaftens in der Sachgüterproduktion. WiSt 38(6), 289–293 (2009) Porter, M.E.: Competitive strategy. Techniques for analyzing industries and competitors. Free Press, New York (1980) Porter, M.E.: Competitive advantage. Creating and sustaining superior performance. Free Press, New York (1985) Pufé, I.: Nachhaltigkeit. UVK, Konstanz (2017) Sandig, C.: Grundriß der Beschaffung, Teil 1. Die Betriebswirtschaft o. Jg.(8), 175–182 (1935) Schaltegger, S., Kubat, R., Hilber, C., Vaterlaus, S.: Innovatives Management staatlicher Umweltpolitik. Springer, Basel (2014) Vahrenkamp, R.: Produktionsmanagement. De Gruyter, München (2008) Werner, H.: Supply Chain Management. Grundlagen, Strategien, Instrumente, und Controlling. Springer, Wiesbaden (2017) Wöhe, G., Döring, U.: Einführung in die allgemeine Betriebswirtschaftslehre. Vahlen, München (2016)

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D. Ludin und W. Wellbrock Prof. Dr. Daniela Ludin hat seit 2015 an der Hochschule Heilbronn an der Fakultät für Management und Vertrieb, Campus Schwäbisch Hall, die Professur Allgemeine Betriebswirtschaftslehre inne. Für sie gehört es dabei zum Selbstverständnis, das Prinzip der Nachhaltigkeit als zentrales Moment in ihren Lehrveranstaltungen zu verankern. Seit 2017 leitet Prof. Dr. Daniela Ludin den Studiengang B. A. Management & Beschaffungswirtschaft (MBW); ab 2019 kommt die Leitung des Studiengangs B. A. Nachhaltige Beschaffungswirtschaft (NBW) hinzu. Seit 2015 ist Prof. Dr. Daniela Ludin zudem Mitglied des Rates für Nachhaltige Entwicklung der Hochschule Heilbronn. Vor ihrer Zeit an der Hochschule Heilbronn war sie von 2009 bis 2015 an der Hochschule Rottenburg mit einer Professur für Recht, Umwelt- und Forstpolitik. Die Forschungsschwerpunkte von Prof. Dr. Daniela Ludin sind Nachhaltiges Beschaffungsmanagement, Nachhaltige Mobilität, Nachhaltiger Konsum, Nachhaltige Finanzprodukte und Nachhaltiges Datenmanagement. Prof. Dr. Wanja Wellbrock  hat eine Professur für Beschaffungsmanagement an der Hochschule Heilbronn inne. Seine Hauptforschungsbereiche sind Supply Chain Management, strategisches Beschaffungsmanagement und Big-Data-Anwendungen in unternehmensübergreifenden Wertschöpfungsketten. Er ist Autor verschiedener englisch- und deutschsprachiger Publikationen und Projektleiter mehrerer praxisorientierter Forschungsprojekte in diesen Bereichen. Prof. Dr. Wanja Wellbrock sammelte praktische Erfahrungen in Führungspositionen in der Automobil- und Luftfahrtindustrie sowie in der Unternehmensberatung.

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Konzeption eines nachhaltigen Einkaufsmanagements auf Basis der 15M-Architektur der Supply-Strategie Gerhard Heß

Zusammenfassung

Der Einkauf wird nur nachhaltig, wenn in allen Planungs- und Entscheidungsprozessen neben den ökonomischen Zielsetzungen auch gleichermaßen die Nachhaltigkeitszielsetzungen des Unternehmens beachtet werden. In diesem konzeptionell angelegten Beitrag wird gezeigt, wie Nachhaltigkeitszielsetzungen des Unternehmens systematisch im Einkauf berücksichtigt werden können. Dabei wird von der 15M-Architektur der Supply-Strategie, einem praxiserprobten und systematischen Ansatz zur Entwicklung und Steuerung des Einkaufs, ausgegangen. Entlang der fünf Strategiebausteine der 15M-Architektur wird gezeigt, wie die Nachhaltigkeitsziele des Unternehmens in sämtliche Planungs- und Entscheidungsprozesse des Einkaufs eingehen können. Damit ergibt sich auch ein Überblick, wie die Instrumente und Methoden des Einkaufs im Rahmen einer nachhaltigen Ausrichtung angepasst werden müssen. Ferner werden die bekannten Instrumente im Nachhaltigkeitsmanagement konzeptionell im Einkaufsmanagement verankert.

2.1 Nachhaltigkeit im Einkauf Wachgerüttelt durch vielfältige Skandale gewinnen Nachhaltigkeitszielsetzungen in vielen Unternehmen an Bedeutung. Dabei besteht ein weitgehender Konsens, dass Unternehmen auch für ein nachhaltiges Wirtschaften in ihren Lieferketten in der Verantwortung stehen. Dem (modernen) Einkauf (zum Begriff vgl. Heß 2017, S. 5 ff.)

G. Heß ()  E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 W. Wellbrock und D. Ludin (Hrsg.), Nachhaltiges Beschaffungsmanagement, https://doi.org/10.1007/978-3-658-25188-8_2

17

18

G. Heß

kommt dabei die Rolle zu, diese Verantwortung wahrzunehmen. Es müssen die Nachhaltigkeitsaspekte mit Bezug auf die Supply Chain im Unternehmen koordiniert und gegenüber den Lieferanten durchgesetzt werden (zum Begriff nachhaltiger Einkauf vgl. Heß 2017, S. 34 ff.; Koster 2014, S. 4 ff.). Dabei lassen sich – systematisch betrachtet – verschiedene Herangehensweisen unterscheiden. Im Einkauf werden zusätzlich zum „normalen“ Einkaufsmanagement nachhaltigkeitsorientierte Instrumente implementiert. Beispielsweise wird ein Supplier Code of Conduct formuliert, den die Lieferanten unterzeichnen müssen. Von Lieferanten werden ausgewählte Zertifikate abverlangt. Es werden Nachhaltigkeitsaudits durchgeführt oder die Umsetzung von Nachhaltigkeitsstandards in der Lieferkette untersucht (Grimm 2015). Teilweise werden sogar nachhaltigkeitsorientierte Projekte umgesetzt, z. B. zur Entwicklung einer ökologischen Produktvariante. Umfassende Ansätze zur Integration der Nachhaltigkeit in das Einkaufsmanagement verknüpfen wesentliche Nachhaltigkeitselemente über einen lockeren Bezugsrahmen, der teils an wissenschaftlichen Zielsetzungen ausgerichtet ist (z. B. Koplin 2006; Burian et al. 2013; Keck 2015). Etwas weiter gedacht werden Nachhaltigkeitsaspekte (systematisch) in den Prozessen und den Methoden des Einkaufs verankert. Beispielsweise werden Nachhaltigkeitsaspekte im Beschaffungsprozess integriert (Berry 2011; Menuet 2017), in der Lieferantenbewertung durch die Berücksichtigung von Nachhaltigkeitskriterien ergänzt (Kara und Firat 2016) oder im Rahmen der Lieferantenauswahl aufgenommen (Schmidt 2013). Auch komplexe Instrumente wie die Kraljic-Matrix können um die Nachhaltigkeitsdimension erweitert werden (Fröhlich et al. 2015). Fröhlich stellt ein vier Stufen-Modell zur Integration der Nachhaltigkeit in den Einkauf vor, das sich aber noch grundsätzlich an der Steuerung der Nachhaltigkeit orientiert: Stufe 1 – Basis für eine nachhaltige Beschaffung legen, Stufe 2 – Integration nachhaltiger Aspekte in den Beschaffungsprozess, Stufe 3 – Kontinuierliche Leistungsüberwachung und -verbesserung bei Lieferanten, Stufe 4 – Steuern und Lernen (Fröhlich 2015, S. 14 ff.). Um Nachhaltigkeit im Einkauf wirkungsvoll umzusetzen, braucht es kein (eigenständiges) Nachhaltigkeitsmanagement. Vielmehr muss der Einkauf nachhaltig werden. Konkret bedeutet dies, dass im Einkaufsmanagement neben Zielen wie Kosten, Qualität, Versorgung oder Finanzbeitrag auch ökologische und soziale Nachhaltigkeitsziele eingehen und über das Einkaufsmanagement bis in die letzte Beschaffungsentscheidung einer regionalen Einkäufergruppe durchgesteuert werden. Ziel des Artikels ist es, die Konzeption eines solchen nachhaltigen Einkaufsmanagementsystems zu skizzieren. Dazu wird von der 15M-Architektur der Supply-Strategie, einem praxiserprobten Steuerungskonzept des Einkaufs, ausgegangen (Kap. 2). Anschließend wird über die fünf Strategiebausteine der 15M-Architektur analysiert, wie die Nachhaltigkeitsaspekte in dezentrale Entscheidungsprozesse kaskadiert werden: Strategische Ausrichtung des Einkaufs (Kap. 3); Markt- bzw. Warengruppenstrategien (Kap. 4); Lieferantenstrategien (Kap. 5); (Beschaffungs-)Prozesse (Kap. 6); Performance Management (Kap. 7).

2  Konzeption eines nachhaltigen Einkaufsmanagements …

19

2.2 Einkaufsmanagement mit der 15M-Architektur Die 15M-Architektur der Supply-Strategie (Heß 2010, 2017) wurde in den Jahren 2006 bis 2008 in Zusammenarbeit mit mehreren Unternehmen entwickelt und hat den Anspruch, einen umfassend und tief gehend ausformulierten Bezugsrahmen für die Entwicklung und Steuerung des Einkaufs bereit zu stellen. Seit der Veröffentlichung hat sich die 15M-Architektur in vielen sehr unterschiedlichen Branchen und Anwendungssituationen bewährt. Nach zehn Jahren wurde im Jahr 2016 die Version 2.0 der 15M-Architektur publiziert. Im Folgenden soll zunächst der Aufbau der 15M-Architektur vorgestellt werden. Hierzu wird von einer ganz einfachen generischen Überlegung ausgegangen (siehe Abb. 2.1 linke Seite). Ein Unternehmen verfolgt auf seinen Absatzmärkten eine Strategie. Dazu werden Leistungen aus den Beschaffungsmärkten benötigt. Beschaffungsmärkte – in der Regel mehr als nur drei relevante Märkte wie im Bild dargestellt – entsprechen den Warengruppenstrukturen (z. B. Gussmarkt, Markt für Stanz- und Biegeteile, Markt für Softwareberatung). In den Märkten wird die Leistung von den Lieferanten – in der Regel auch mehr als drei – bezogen. Zur effektiven und effizienten Abwicklung sind Beschaffungsprozesse erforderlich. Die Ausrichtung der Aktivitäten dieser drei Ebenen auf die Unternehmensstrategie sowie die Abstimmung der Aktivitäten untereinander erfolgt im zentralen Einkauf. Aus dieser Überlegung heraus lassen sich fünf Strategiebausteine für die Entwicklung und Steuerung des Einkaufs ableiten (Abb. 2.1 Mitte): • Strategiebaustein 1: Rahmenstrategie zur ganzheitlichen Ausrichtung des Einkaufs. • Strategiebaustein 2: Marktstrategien für die strategischen Entscheidungen auf den Beschaffungsmärkten bzw. in den Warengruppen; Für jeden bedeutsamen Markt wird eine Strategie definiert. • Strategiebaustein 3: Lieferantenstrategien für die strategische Ausrichtung gegenüber einzelnen Lieferanten (entspricht dem Lieferantenmanagement). • Strategiebaustein 4: Prozessstrategien zur systematischen Entwicklung der wichtigsten Beschaffungsprozesse. • Strategiebaustein 5: Performance Management zur Steuerung des Einkaufs. Die fünf Strategiebausteine werden in insgesamt 15 Module gegliedert (Abb. 2.1 rechte Seite). Die Folgekapitel orientieren sich an den fünf Strategiebausteinen. In diesen Abschnitten werden auch die zugeordneten Module vorgestellt. Die 15M-Architektur zeichnet sich zudem durch folgende Charakteristika aus: Ganzheitlichkeit: Die 15M-Architektur hat den Anspruch den Einkauf ganzheitlich zu steuern. Alle Gestaltungselemente des strategischen Einkaufs lassen sich systematisch integrieren. Auch neue Themen wie die Digitalisierung oder die Nachhaltigkeit des Einkaufs lassen sich in die Architektur einbeziehen. Ganzheitlichkeit bedeutet dies

Performance Management

Prozessstrategien

Lieferantenstrategien

Marktstrategien N12

N13

SB 4: Prozessstrategien

N01 Wertbeitragsziele festlegen

N02 Supply-Guideline formulieren

N08 SupplyMarktstrategie formulieren

N04 Strategische Ausrichtung formulieren

N07 Gestaltungsfelder analysieren

N03 Strategische Analyse durchführen

N06 SupplyMarktziele festlegen

N11 Lieferanten klassifiz. Lieferantenziele & -strategie formulieren

SB 5: Performance Management

N10 Neue Lieferanten identifizieren, präqualifizieren & freigeben

SB 1: Rahmenstrategie

N05 Supply-Markt analysieren & segmentieren

SB 2: Marktstrategien

N09 Lieferanten bewerten

SB 3: Lieferantenstrategien

N15 15M-Reifegrad entwickeln

Abb. 2.1  Logik und Aufbau der 15M-Architektur der Supply-Strategie. (Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an Heß 2017, S. 25 f.)

Contract2Pay

Source2Contract

Idea2Product

BeBeBeschaffungs- schaffungs- schaffungsmarkt 2 markt n markt 1

(zentraler) Einkauf

Unternehmen

Prozesse dokumentieren und analysieren

Rahmenstrategie

Prozessziele und Prozessstrategien formulieren

Strategie

N14

Supply-Strategie steuern

Absatzmärkte

20 G. Heß

2  Konzeption eines nachhaltigen Einkaufsmanagements …

21

auch, dass der Einkauf bis auf die Ebene einzelner Beschaffungen an der Unternehmensstrategie ausgerichtet ist und, dass über das Anforderungsmanagement die Anforderungen der Stakeholder in der Einkaufssteuerung berücksichtigt werden können. So ist in der 15M-Architektur die abteilungsübergreifende Zusammenarbeit in den Versorgungsprozessen vorgesehen. Insgesamt gelingt es der 15M-Architektur, die Einkaufsaufgaben arbeitsteilig und dezentral zu verantworten und dabei die Ausrichtung der Einzelaktivitäten an der Unternehmens- bzw. an der Einkaufsstrategie sicher zu stellen. Evolutionärer Ansatz: Darüber hinaus ist die 15M-Architektur evolutionär angelegt, d. h. das Einkaufsmanagementsystem eines Unternehmens kann schrittweise aufgebaut und fortentwickelt werden. Beispielsweise können in diesem Jahr Nachhaltigkeitsaspekte im Source2Contract-Prozess und im nächsten Jahr im Lieferantenmanagement integriert werden. Diese evolutionäre Vorgehensweise hat viele Vorteile. Hervorzuheben ist, dass sich die Entwicklung des Einkaufsmanagementsystems im Unternehmen damit stark an der Mitarbeiterentwicklung orientieren kann. Letztlich werden die Mitarbeiter bei der Entwicklung der Einkaufsmethoden und -prozesse mitgenommen. Gerade bei Fragen der Nachhaltigkeit ist die Akzeptanz der Mitarbeiter bedeutsam. In den folgenden fünf Kapiteln werden die Nachhaltigkeitsaspekte in den Strategiebausteinen und den 15 Modulen der 15M-Architektur herausgearbeitet (vgl. auch Giese 2015). Gleichzeitig sollen die bekannten Nachhaltigkeitsinstrumente des Einkaufs systematisch im Einkaufsmanagement verankert werden.

2.3 Nachhaltigkeit in der strategischen Ausrichtung des Einkaufs Die Rahmenstrategie des Einkaufs legt die strategische Ausrichtung des Einkaufs fest. Sie verknüpft den Einkauf mit dem Wertesystem, den Strategien und den Geschäftszielen des Unternehmens. Die Rahmenstrategie wird meist in Form eines Strategiepapiers formuliert und mit strategischen Stoßrichtungen und strategischen Programmen konkretisiert (Heß 2017, S. 43 ff.). Für die Entwicklung eines nachhaltigen Einkaufs ist die Rahmenstrategie sehr bedeutsam, da der Nachhaltigkeitsansatz des Unternehmens für den Einkauf konkretisiert und ein Abgleich bzw. eine Verknüpfung mit den anderen Zielsetzungen des Einkaufs vollzogen wird. Die Rahmenstrategie setzt sich aus vier Modulen zusammen. N01 Wertbeitragsziele festlegen1: Im ersten Schritt muss der Wertbeitrag definiert werden, den der Einkauf für das Unternehmen erbringen soll. Die Wertbeitragsziele sollten qualitativ formuliert sein und möglichst mit Kennzahlen quantifiziert werden. Neben

1Die

Module der 15M-Architektur sind von N01 bis N15 durchnummeriert. N steht für „Neues Modul“. In der Version 1 der 15M-Architekur wurden die Module mit M01 bis M15 bezeichnet. M steht hierbei für „Modul“.

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Kosten, Qualität, Versorgung, Finanzbeitrag oder Risikoposition müssen hier die Nachhaltigkeitsziele berücksichtigt werden. Es muss der Wertbeitrag des Einkaufs zu den Nachhaltigkeitszielen des Unternehmens abgeleitet werden. Dabei ist vom Nachhaltigkeitsverständnis im Unternehmen auszugehen und die Konsequenzen im Einkauf zu konkretisieren. Grundsätzlich gelten der Code of Conduct bzw. die Nachhaltigkeitsrichtlinie des Unternehmens auch im Einkauf. Auf dieser Basis sind die Nachhaltigkeitsthemen herauszuarbeiten, die im Einkauf besondere Priorität haben sollen, z. B. ökologische Nachhaltigkeit wie CO2-Footprint, Energie- und Wasserverbrauch, soziale Nachhaltigkeit mit Arbeitsbedingungen, Gesundheit und Diversity oder Produktsicherheit. In der Regel wird der Bezug auf Nachhaltigkeitsstandards hergestellt, die im Unternehmen und in der Lieferkette gelten sollen. Bekannte Beispiele sind der UN Global Compact, ILO Erklärung über grundlegende Rechte bei der Arbeit, die OECD Leitsätze für multinationale Unternehmen, EMAS, ISO 14001, SA 8000 oder ISO 26000. Darüber hinaus ist es sinnvoll, kritische nachhaltigkeitsorientierte (Gesetzes-)Initiativen wie zu Konfliktmineralien oder zur Verwendung von nachhaltigem Palmöl aufzunehmen, wenn sie für das Unternehmen relevant sind. Im Ergebnis sind konkrete Nachhaltigkeitsziele für den Einkauf formuliert, die mit den anderen Zielen abgestimmt sind. Auf entsprechende Kennzahlen wird in Kap. 7 Performance Management näher eingegangen. Bei der Klärung der Prioritäten der Nachhaltigkeitsziele relativ zu den anderen Zielgrößen ist das grundlegende Nachhaltigkeitsverständnis im Unternehmen entscheidend. Wird Nachhaltigkeit erfolgsstrategisch betrieben, d. h. sie zielt auf Marketingwirkung ab oder soll Unternehmen vor großen Imageschaden schützten und so helfen, Kosten zu vermeiden oder wird Nachhaltigkeit ethisch verstanden, d. h. Nachhaltigkeit ist aus der Verantwortung des wirtschaftenden Subjekts gegenüber anderen Stakeholdern geboten und somit den anderen Zielgrößen vorgeordnet. Im Falle einer ethisch ausgerichteten Nachhaltigkeit gelten bedeutende Nachhaltigkeitsziele unabhängig von den möglichen Kosten. Die Kontroverse einer erfolgsstrategischen oder verständigungsorientierten Ausrichtung der Nachhaltigkeit ist nicht im Einkauf, sondern auf Unternehmensebene zu führen und würde auch den Rahmen dieses Beitrags sprengen (vgl. grundlegend zur Unternehmensethik Steinmann und Löhr 2015). Unabhängig von der Entscheidung des Unternehmens zu dieser Frage müssen die Nachhaltigkeitsziele des Einkaufs und deren Verhältnis zu den anderen Zielen definiert werden. Damit das Unternehmen seine Nachhaltigkeitsziele auch in den Lieferketten sicherstellen kann, müssen die Lieferanten zur Einhaltung der Nachhaltigkeitsforderungen verpflichtet werden. Dazu hat sich der Supplier-Code-of-Conduct bewährt. Hier werden die Nachhaltigkeitsforderungen des Unternehmens gegenüber den Lieferanten eindeutig zusammengefasst. Beispielsweise verpflichtet Bayer seine Lieferanten im Supplier-Code-of-Conduct auf 1) „Ethic Requirements“, z. B. Business Integrity, Fair Competition, Animal Welfare, Conflict Minerals, 2) „Labor Requirements“, z. B. Child Labor Avoidance, Freely Chosen Employment, Diversity and Inclusion, 3) „Health, Safety, Environment, and Quality Requirements“ und 4) „Management Systems Requirements“, z. B.

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Communication of Sustainability Criteria in der Supply Chain (Bayer 2018b). Auch im Supplier-Code-of-Conduct wird der Bezug auf die zugrunde liegenden Nachhaltigkeitsstandards hergestellt, bei Bayer beispielsweise der UN Global Compact oder EMAS. Die Lieferanten müssen/sollen sich verpflichten, die Regelungen des Supplier-Code-of-Conduct einzuhalten. Diese Verpflichtung kann über die Allgemeinen Einkaufsbedingungen erfolgen oder über eine spezielle vom Lieferanten zu unterzeichnende Vereinbarung. Bei der Formulierung und insbesondere bei der Ausdifferenzierung der Wertbeitragsziele und damit auch der Nachhaltigkeitsziele (im Einkauf) kann es sinnvoll sein, mit den relevanten Stakeholdern einen Stakeholder-Dialog zu führen. Dabei bietet es sich bezüglich der Nachhaltigkeitsziele im Einkauf an, auch externe Stakeholder wie Zulieferer und NGO`s in den Dialog mit einzubeziehen. Beispielsweise führte die Norma Group im Jahr 2016 einen Stakeholder-Dialog durch, in dem ein Schwerpunkt auf der Identifikation geeigneter Nachhaltigkeitskriterien für die Lieferantenbewertung lag (Norma Group SE 2016). Die Firma Puma holt sich seit der ersten Ausrichtung ihrer Banzer-Gespräche im Jahre 2003 im Stakeholder-Dialog mit Vertretern von NGOs, Industrie, Zulieferern, Kreativbereichen, Universitäten, Privatorganisationen wertvolle und konstruktive Anregungen zur Nachhaltigkeitsstrategie (Puma 2018). N02 Supply-Guideline formulieren: Soweit im Einkauf ein Leitbild oder eine Einkaufsvision formuliert werden soll, ist dies Gegenstand von Modul N02. Im Leitbild werden – vereinfacht ausgedrückt – das Selbstverständnis des Einkaufs und die Grundprinzipien des Handelns zusammengefasst. In diesem Rahmen sollte auch ein Abschnitt zur Bedeutung der Nachhaltigkeit im Einkauf und zu den Konsequenzen im Handeln enthalten sein. Eine Einkaufsvision zeichnet ein großartiges herausforderndes Bild von der idealen Zukunft. Dies soll sloganhaft verdichtet ausgedrückt werden. Eine nachhaltigkeitsorientierte Einkaufsvision ist gut möglich, aber nicht zwingend. Nicht jeder Einkauf, dem Nachhaltigkeit wichtig ist, muss Nachhaltigkeit zum Top-Thema der Zukunftsbewältigung erklären. N03 Strategische Analyse durchführen: Vor der Strategieformulierung sollen wesentliche Aspekte der Ist-Situation analysiert werden. Typische Analyse-Beispiele mit Nachhaltigkeitsbezug sind: • Analyse von Top-Risiken: Hierbei können kritische ökologische Risiken, Risiken in Bezug auf Veränderungen in der Umweltgesetzgebung in verschiedenen Bezugsländern oder kritische Lieferketten in Bezug auf Kinderarbeit oder Arbeitsbedingungen bedeutsam sein. • Analyse der Prozess- und Systemlandschaft: Beispielsweise können neue ökologische Anforderungen zu erheblichen Anpassungen bei Beschaffungsprozessen oder Einkaufssystemen führen. So stellen beispielsweise transparente Prozesse zur Rohstoffbeschaffung die Automobilindustrie vor erhebliche Herausforderungen (Bergmann et al. 2017). Die Nachweispflicht zur Beschaffung von Konfliktmineralien stellt dabei nur ein kleines Mosaiksteinchen dar.

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• Analyse materialgruppenübergreifender Technologieentwicklungen: Beispielsweise kann das Internet der Dinge auch umfassende Konsequenzen für die Nachhaltigkeitsziele mit sich bringen. Die technischen Möglichkeiten und mögliche Konsequenzen für das Unternehmen sind zu analysieren. N04 Strategische Ausrichtung formulieren: In diesem Modul wird die eigentliche strategische Ausrichtung in Form von strategischen Stoßrichtungen formuliert. Strategische Stoßrichtungen strukturieren die drei bis fünf zentralen Herausforderungen, die in den nächsten drei bis fünf Jahren gelöst werden sollen. Sie werden sloganhaft formuliert, näher beschrieben und mit strategischen Projekten und Strategietreibern konkretisiert. Zum einen kann der Aufbau der Nachhaltigkeit selbst derart bedeutsam eingeschätzt werden, dass dazu eine eigenständige strategische Stoßrichtung formuliert wird, z. B.: „Wir sichern Transparenz und Nachhaltigkeit in der Versorgung unseres Unternehmens mit Rohstoffen.“ Diese strategische Stoßrichtung muss näher beschrieben werden. Beispielsweise sollten die betrachteten Rohstoffe abgegrenzt werden. Kritische Problemstellungen können knapp analysiert und gesetzliche Rahmenbedingungen skizziert werden. Wichtig ist, dass der grundsätzliche Lösungsansatz skizziert wird, z. B. über Blockchain gesteuerte Lieferketten von den Schmelzen bis ins Werk. Damit soll der komplizierte Zertifizierungsprozess vereinfacht werden. Entscheidend für den Erfolg ist, die strategische Stoßrichtung mit strategischen Programmen und Strategietreibern zu konkretisieren. Im Beispiel sind folgende strategische Projekte vorstellbar: (Projekt 1) Entwicklung eines Standardprozesses zur nachhaltigen Steuerung des Rohstoffeinkaufs, (Projekt 2) Entwicklung eines Konzeptes zur Nachverfolgung der Rohstoff-Lieferkette auf Basis der Blockchain-Technologie, (Projekt 3) Durchführen eines Pilotprojektes in der Warengruppe Stahl, (Projekt 4) Sondierung einer möglichen Zusammenarbeit mit Marktbegleitern usw. Die einzelnen Projekte werden mit angemessenen Projektmanagementmethoden gesteuert. Darüber hinaus können Strategietreiber definiert werden, d. h. Kennzahlen, die den Fortschritt des Projektes sichtbar machen. Im Beispiel könnte der Anteil transparent und nachhaltig gesteuerter Rohstoffe am gesamten Rohstoffvolumen ein geeigneter Strategietreiber sein. Strategische Stoßrichtungen, in deren Zentrum keine Nachhaltigkeitsziele stehen, werden darauf hin geprüft, inwieweit Nachhaltigkeitsaspekte zu beachten sind. Soll im Unternehmen ein Werk in China aufgebaut werden und der Einkauf eine möglichst lokale Versorgung sichern, kann die strategische Stoßrichtung lauten: „Wir bauen einen lokalen Einkauf in China als Teil des globalen Einkaufsnetzwerkes auf und sichern eine möglichst weitgehende lokale Versorgung des chinesischen Werkes.“ Wie für alle Wertbeitragsziele ist auch für die Nachhaltigkeitsziele zu prüfen, inwieweit diese durch die strategische Stoßrichtung betroffen sind. Gegebenenfalls müssen Korrekturmaßnahmen ergriffen werden. Im Beispiel könnte es erforderlich sein, gewisse europäische Nachhaltigkeitsstandards auch bei den neuen Lieferanten in China zur Anwendung zu bringen.

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Tab. 2.1  Nachhaltigkeit in der Rahmenstrategie. (Quelle: Eigene Darstellung) N01: Wertbeitragsziele festlegen

• Verständnis und Inhalt von Nachhaltigkeit im Einkauf •N  achhaltigkeitsziele (Ziele, Ausgleich Zielkonflikte, Kennzahlen, Standards) • Supplier-Code-of-Conduct • Stakeholder-Management

N02: Supply-Guideline formulieren

• ggf. Nachhaltigkeit in der Guideline oder in der Vision integrieren

N03: Strategische Analyse • z. B. Risikoanalyse durchführen • z. B. Prozessanalyse • z. B. Technologie-Roadmap N04: Strategische Aus-richtung definieren

• ggf. strategische Stoßrichtung zur Nachhaltigkeit • Nachhaltigkeit in den strategischen Stoßrichtungen beachten • Ggf. Strategietreiber zur Nachhaltigkeit definieren

Fazit: In der Rahmenstrategie werden die Nachhaltigkeitsziele des Unternehmens auf die Wertbeitragsziele des Einkaufs heruntergebrochen und im Supplier-Code-of-Conduct als Handlungsorientierung für die Lieferanten konkretisiert. Diese Ziele gehen insgesamt in die strategischen Stoßrichtungen des Einkaufs ein. Zudem dienen sie als Maßstab für die Marktstrategien (Kap. 4), die Lieferantenstrategien (Kap. 5) und die Prozessstrategien (Kap. 6). Die Steuerung der Ziele erfolgt im Rahmen des Performance Managements (Kap. 7). In Tab. 2.1 findet sich eine Zusammenfassung wesentlicher Ansatzpunkte der Nachhaltigkeit in der Rahmenstrategie.

2.4 Nachhaltigkeit in den Marktstrategien In den Beschaffungsmarktstrategien erfolgt die strategische Ausrichtung in den bedeutsamen Warengruppen. Im Rahmen der 15M-Architektur wird empfohlen, die Warengruppen marktorientiert zu definieren, beispielsweise Gussteile, Stanz- und Biegeteile, IT-Beratung. Die Begriffe Beschaffungsmarktstrategie (bzw. kurz Marktstrategie) und Warengruppenstrategie werden damit synonym verwendet. Welche Warengruppen strategisch bedeutsam sind, hängt von deren Einfluss auf die Wertbeitragsziele ab. Damit sind auch volumenmäßig kleine Warengruppen mit erheblicher Wirkung auf die definierten Nachhaltigkeitsziele strategisch bedeutsam, sodass für sie eine Marktstrategie formuliert werden sollte (Heß 2017, S. 93 ff.). Zur Formulierung einer Marktstrategie wird die Templatemethode empfohlen, d. h. in einer Vorlage sind die Fragestellungen strukturiert, die zur Ableitung der Marktstrategie zu beantworten sind. Die Gliederung des Templates soll sich an den vier Modulen der 15M-Architektur orientieren. Im Folgenden soll die Integration von Nachhaltigkeitsaspekten im Rahmen der Formulierung einer Marktstrategie skizziert werden.

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N05 Supply-Markt analysieren und segmentieren: Im ersten Schritt der Beschaffungsmarktforschung gibt es vielfältige Bezüge zur Nachhaltigkeit, wie folgende beispielhafte Fragestellungen illustrieren: • Gesetze und Standards: Wie entwickeln sich die Gesetze bzw. Nachhaltigkeitsstandards zu bestimmten Leistungen oder Inhaltsstoffen im betrachteten Markt (weltweit)? • Technologie: Wie entwickeln sich die grundlegenden Technologien im Markt und welche Implikationen ergeben sich für die Nachhaltigkeit? Sind alternative Technologien mit positiver Wirkung auf die nachhaltigkeitsorientierten Wertbeitragsziele des Einkaufs zu finden? • Nachhaltigkeitsrisiken in Lieferländern: Welche Nachhaltigkeitsrisiken sind in verschiedenen Regionen zu erkennen? Gegebenenfalls kann die Beschaffung von Leistungen dieser Warengruppe in bestimmten Ländern ausgeschlossen werden. N06 Supply-Marktziele festlegen: Die Wertbeitragsziele und damit die Nachhaltigkeitsziele des Einkaufs sollten auf die einzelnen Beschaffungsmärkte heruntergebrochen werden. Welchen Beitrag leistet der Beschaffungsmarkt beispielsweise zur Reduzierung des CO2-Verbrauchs? Darüber hinaus werden auch marktspezifische Nachhaltigkeitsziele formuliert, z. B. Steigerung des Anteils wasserlöslicher Lacke. Um Wettbewerbsverzerrungen zu vermeiden, kann es sinnvoll sein, Branchenlösungen zu bestimmten Zielsetzungen zu vereinbaren, vgl. z. B. die Pharmaceutical Supply Chain Initiative: „Our mission is to provide members with a forum to establish industry principles that guide ethics, labor, health and safety, environmental sustainability, and management systems practices to support continuous improvement of suppliers‘ capabilities“ (PSCI 2018). N07 Gestaltungsfelder analysieren: Mit einer umfassenden Checkliste werden mögliche Hebel zur Steigerung des Wertbeitrags in der Warengruppe analysiert. Auch hier gibt es bezüglich der Optimierung der Nachhaltigkeitsziele vielfältige Ansatzpunkte, wie die folgenden Beispiele illustrieren: • Objektstrategie: Die Optimierung der Beschaffungsobjekte unter Nachhaltigkeitsgesichtspunkten ist einer der zentralen Hebel. Hierzu können Value Sourcing-Projekte oder Wertanalyseprojekte mit oder ohne Einbeziehung von Lieferanten durchgeführt werden. Beispielsweise fordert BMW im Lastenheft des BMW i3 den Einsatz nachwachsender Rohstoffe. Dräxlmaier entwickelte daraufhin mit Lieferanten eine Türinnenverkleidung aus dem Malvengewächs Kenaf (Schmiedel 2014). • Regionalstrategie: Die regionale Verteilung der Lieferanten stellt einen strategischen Hebel dar. Beispielsweise kann die globale Lokalisierung, d. h. die Werke werden weltweit möglichst lokal versorgt, auch unter ökologischen Gesichtspunkten vorteilhaft sein. Der oben bereits angesprochene Ausschluss von Lieferanten aus bestimmten Ländern, da dort Nachhaltigkeitsziele nicht sichergestellt werden können, ist ein zweites Beispiel.

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Tab. 2.2  Nachhaltigkeit in den Marktstrategien. (Quelle: Eigene Darstellung) N05: Supply-Markt analysieren und segmentieren

• z. B. Analyse nachhaltigkeitsorientierter Gesetzesinitiativen • z. B. Nachhaltigkeitspotenziale in der Technologieentwicklung • z. B. Analyse von Nachhaltigkeitsrisiken in Lieferländern

N06: Supply-Marktziele festlegen

• Nachhaltigkeitsziele auf Markt herunterbrechen • Spezifische Nachhaltigkeitsziele im Markt definieren

N07: Gestaltungsfelder analysieren

• z. B. nachhaltige Objektstrategie (Value Sourcing, Wertanalyse) • z. B. nachhaltige Regionalstrategie • z. B. ökologische Transportketten • z. B. nachhaltiges Lieferantenportfolio

N08: Supply-Marktstrategie formulieren

• ggf. strategische Stoßrichtung zur Nachhaltigkeit • Nachhaltigkeit in den strategischen Stoßrichtungen beachten • ggf. Strategietreiber zur Nachhaltigkeit definieren

• Wahl der Belieferungsprozesse: Die Wahl ökologischer Transportketten für die Anlieferung der Materialien ist ein weiterer bedeutsamer Hebel. • Nachhaltiges Lieferantenportfolio: Die Optimierung des Lieferantenportfolios in der Warengruppe sollte auf alle Wertbeitragsziele und damit auch auf die Nachhaltigkeitsziele gerichtet sein. N08 Supply-Marktstrategie formulieren: Analog zur Rahmenstrategie erfolgt die Formulierung der Marktstrategie mit strategischen Stoßrichtungen und strategischen Projekten. Letztlich wird aus den oben identifizierten Hebeln ein Bündel in sich stimmiger und besonders wirksamer Hebel ausgewählt. Analog zu N04 können auch hier nachhaltigkeitsorientierte strategische Stoßrichtungen definiert werden bzw. die Nachhaltigkeitswirkung der anderen strategischen Stoßrichtungen gestaltet werden. Fazit: In den Marktstrategien werden die Nachhaltigkeitsziele des Einkaufs – zusammen mit den weiteren Wertbeitragszielen des Einkaufs – auf die einzelnen Warengruppen heruntergebrochen und von den Lead Buyern marktspezifisch optimiert. Tab. 2.2 fasst wesentliche Ansatzpunkte zur Optimierung von Nachhaltigkeitszielen in den Marktstrategien zusammen.

2.5 Nachhaltigkeit im Lieferantenmanagement und in den Lieferantenstrategien Im Lieferantenmanagement bzw. in den Lieferantenstrategien erfolgt die Ausrichtung der Zusammenarbeit mit jeweils einem Lieferanten. Letztlich geht es darum, dass der Einkauf in der Beziehung mit dem Lieferanten seine Wertbeitragsziele, inklusive der darin enthaltenen Nachhaltigkeitsziele, optimiert (Heß 2017, S. 129 ff.). In der 15M-Architektur wird das Lieferantenmanagement in drei Module strukturiert.

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N09 Lieferanten bewerten: In der Lieferantenbewertung werden die vergangenen Leistungen sowie die zukünftigen Leistungspotenziale des Lieferanten bewertet. Zur Einbeziehung der Nachhaltigkeit lassen sich folgende grundsätzliche Ansätze unterscheiden: • Kriterienset der Lieferantenbewertung: In der Lieferantenbewertung werden neben den klassischen Kriterien zur Logistik, Qualität, Technologie usw. ökologisch, sozial oder ethisch ausgerichtete Kriterien aufgenommen (Kara und Firat 2016). Beispielsweise wird bewertet, ob bestimmte Standards oder Zertifikate vorhanden sind. Ferner werden ökologische Kriterien wie Energie- oder Wasserverbrauch, soziale Kriterien wie der Grad von Arbeitnehmervertretungen oder ethische Kriterien wie Korruptionsprävention beurteilt. Somit wird die Gesamtleistung des Lieferanten bewertet, was wiederum als Basis für die hieraus abzuleitenden Konsequenzen dient (siehe N11). • Lieferantenselbstauskunft: Der Lieferant wird mit einem Fragebogen zu unternehmensspezifischen Aspekten befragt, z. B. Umsatzentwicklung nach Regionen und Produktsegmenten. In diesem Rahmen werden ebenso Nachhaltigkeitsaspekte erhoben, z. B. vorhandene Zertifikate, Nachhaltigkeitsziele und -kennzahlen. • Besuche und Nachhaltigkeitsaudits: Analog zum Qualitätsmanagement wird man sich bei der detaillierten Beurteilung der Nachhaltigkeit des Lieferanten nicht alleine auf dessen Aussagen verlassen können. Vielmehr werden diese im Rahmen von Lieferantenbesuchen und Nachhaltigkeitsaudits überprüft. Die Ergebnisse können auch in die oben angesprochene Lieferantenbewertung einfließen. • Nachhaltigkeitsmonitoring: Jenseits der punktuellen Bewertungsmaßnahmen muss die Nachhaltigkeit des Lieferanten permanent überwacht werden, um schnell auf neue Nachhaltigkeitsrisiken reagieren zu können. Als Instrumente haben sich Risikoportale wie IntegrityNext oder Riskmethod bewährt, die soziale Medien bzw. das Internet auf relevante Informationen hin scannen und ggf. einen Alert an den zuständigen Einkäufer senden. Ferner unterstützen klassische Hinweisgeberportale das Monitoring. Der Aufwand für Bewertung, Auditierung und Überwachung der Lieferanten ist nicht unerheblich. Dies gilt auch für die Lieferanten, die für unterschiedliche Kunden völlig verschiedene Anforderungen erfüllen müssen. Insofern sollte eine gründliche risikobasierte Auswahl der Lieferanten erfolgen, die zu überprüfen sind. Ferner sollte aus dem Risikoprofil des Lieferanten ein konkretes Überwachungsprofil abgeleitet werden. In einer deutschen Gießerei werden beispielsweise Kinder- oder Sklavenarbeit eher kein Risiko darstellen, Energieeffizienz oder Emissionen schon. Einen Schritt weiter gehen kollaborative CSR-Plattformen wie die Rating-Agentur Ecovadis. Ecovadis begutachtet und zertifiziert Unternehmen im Hinblick auf 21 CSR-Bewertungskriterien. Dabei werden branchen-, länder- und unternehmensgrößenspezifische Lösungen berücksichtigt (Ecovadis 2018). Beispielsweise lässt Bayer im Jahr 2017 insgesamt 622 Lieferanten über Ecovadis bewerten und konzentriert sich mit den eigenen Audits auf 167 Lieferanten mit erhöhtem Risiko (Bayer 2018a, S. 78 f.).

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N10 Neue Lieferanten identifizieren, präqualifizieren und freigeben: Zur Beurteilung der Nachhaltigkeitsleistung und -risiken von Lieferanten im Rahmen der Lieferantenfreigabe werden die unter N09 angesprochenen Instrumente – in leicht modifizierter Weise – eingesetzt. Empfehlenswert ist es, bereits in der Selbstauskunft den Lieferanten abzufragen, ob er bereit ist, den Supplier-Code-of-Conduct zu unterschreiben bzw. weitere geforderte Nachhaltigkeitsaktivitäten zu ergreifen. Ebenso haben technische Produktfreigaben regelmäßig wesentliche Konsequenzen für die Erfüllung von Nachhaltigkeitszielen. N11 Lieferanten klassifizieren, Lieferantenziele und -strategie formulieren: In der Lieferantenklassifizierung und -strategie werden Konsequenzen aus der Lieferantenbewertung gezogen und die Zusammenarbeit mit den Lieferanten fortentwickelt. Im einfachen Fall wird dem Lieferanten – im Gespräch oder per Email – mitgeteilt, was von ihm erwartet wird. Im Falle einer intensiven Lieferantenpartnerschaft wird die Lieferantenstrategie in enger Zusammenarbeit gemeinsam mit dem Lieferanten entwickelt und in enger Abstimmung umgesetzt. Zwischen diesen beiden Extrempositionen sind vielfältige Abstufungen vorstellbar. Mit typischen Beispielen soll die Berücksichtigung der Nachhaltigkeit in der Lieferantenstrategie illustriert werden. • Lieferantenentwicklung: In der Lieferantenentwicklung werden Schwächen des Lieferanten abgebaut bzw. das Leistungspotenzial verbessert. So kann die fehlende Anerkennung des Supplier-Code-of-Conduct angemahnt werden. Identifizierte Schwachpunkte in der Bewertung oder im Nachhaltigkeitsaudit sollen beseitigt werden. Ein gewünschtes Zertifikat oder eine ausstehende Ecovadis-Beurteilung können angefordert werden. • Lieferantenziele: Es wird empfohlen, mit wichtigen Lieferanten Ziele zu vereinbaren, die sich auf Kriterien der Lieferantenbewertung oder auf die Auditkategorien beziehen können. Damit sollten auch nachhaltigkeitsorientierte Ziele mit den Lieferanten fixiert werden. • Lieferantenintegration: In der Lieferantenintegration werden mit Lieferanten meistens auf partnerschaftlicher Basis strategische Projekte durchgeführt. Häufig werden strategische Ziele und Stoßrichtungen der Warengruppenstrategie in einem Projekt mit einem oder mehreren Lieferanten umgesetzt. Beispielsweise kann mit einem Lieferanten eine völlig neuartige technische Lösung seiner Leistungen mit erheblichen ökologischen Vorteilen erarbeitet werden. Oder: Mit einem Lieferanten wird kontinuierlich an der Verbesserung von Nachhaltigkeitsproblemen in der Lieferkette gearbeitet. Oder: Ein Lieferant ist bereit, in der Nähe zum ausländischen Werk einen Standort aufzubauen und somit die globale Lokalisierung zu unterstützen. • Ausphasen eines Lieferanten: Sollte ein Lieferant (in gravierender Weise oder dauerhaft) nicht bereit bzw. nicht in der Lage sein, seinen Beitrag zur Nachhaltigkeit in der Lieferkette zu leisten, kann die Lieferantenstrategie auf die Ausphasung des Lieferanten hinauslaufen.

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Tab. 2.3  Nachhaltigkeit in den Lieferantenstrategien. (Quelle: Eigene Darstellung) N09: Lieferanten bewerten N10: Neue Lieferanten Identifizieren, präqualifizieren und freigeben

• Erweiterung Kriterienset der Lieferantenbewertung • Nachhaltigkeitskriterien in der Selbstauskunft • Nachhaltigkeitsaudits und Lieferantenbesuche, ggf. über CSR-Plattformen wie Ecovadis • Nachhaltigkeitsmonitoring mit Risikoportalen und Hinweisgeberportalen

N11: Lieferanten klassifizieren, Lieferantenziele und -strategie formulieren

• Erhöhte Nachhaltigkeitsanforderungen für Preferred Supplier • Nachhaltigkeitsorientierte Lieferantenentwicklung • Nachhaltigkeitsorientierte Lieferantenziele • Nachhaltigkeitsorientierte Projekte mit Lieferanten • Ausphasen von Lieferanten bei (dauerhafter oder gravierender) Nichterfüllung der Nachhaltigkeitskriterien

• Lieferantenklassifizierung: Im Rahmen der Lieferantenklassifizierung sollten Lieferanten nur höhere Stufen, z. B. Preferred Supplier, Top-Supplier, erreichen können, wenn sie bei den Nachhaltigkeitszielen eine sehr gute Leistung nachweisen. Fazit: In den Lieferantenstrategien werden die Lieferanten auf die Einhaltung der Nachhaltigkeitsziele hin überwacht und bewertet. In der Lieferantenfreigabe werden neue Lieferanten im Hinblick auf ihre Nachhaltigkeitsleistung geprüft. Identifizierte Schwachstellen sollen in der Lieferantenentwicklung beseitigt werden. Darüber hinaus können in gemeinsamen Projekten mit den Lieferanten besonders innovative und herausfordernde Nachhaltigkeitslösungen erarbeitet werden. Tab. 2.3 fasst wesentliche Ansatzpunkte zur Optimierung von Nachhaltigkeitszielen in den Lieferantenstrategien zusammen.

2.6 Nachhaltigkeit in den Prozessstrategien In den Prozessstrategien werden die operativen und strategischen Prozesse im Einkauf im Hinblick auf die Wertbeitragsziele und damit auch auf die Nachhaltigkeitsziele optimiert. Es wird als dauerhafte Aufgabe verstanden, Prozesse zu dokumentieren, zu analysieren und mit Maßnahmen zu optimieren (Heß 2017, S. 165 ff.). In der 15M-Architektur werden zwei Module unterschieden, bei denen sich folgende Ansatzpunkte für die Nachhaltigkeit ergeben: N12 Prozesse dokumentieren und analysieren: Bei der Analyse und Dokumentation der Prozesse sind Nachhaltigkeitsaspekte zu berücksichtigen. Beispielsweise können zur Analyse der Einkaufsprozesse Kriterien zur Absicherung gegenüber Bestechung, gegenüber unfairer Behandlung von Lieferanten oder gegenüber Gefahren im Gesundheitsschutz berücksichtigt werden. Insbesondere bei den ökologischen Nachhaltigkeitszielen bietet sich die nachhaltigkeitsorientierte Wertstromanalyse als Instrument an, wie z. B. die Analyse des Energieverbrauchwertstroms oder des CO2-Emissions-Wertstroms.

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N13 Prozessziele und Prozessstrategien formulieren: Für die bedeutsamen Prozesse im Einkauf sollen Wertbeitragsziele und damit auch Nachhaltigkeitsziele sowie Strategien zur Realisierung der Ziele formuliert werden. Ansatzpunkte zur Berücksichtigung von Nachhaltigkeit sind vielfältig, wie die folgenden Beispiele in ausgewählten Prozessen des Einkaufs illustrieren sollen: • Ausschreibungs- und Bestellprozess: Nachhaltigkeitsorientierte Ziele im Bestellprozess können beispielsweise der Anteil des Einkaufsvolumens über nachhaltigkeitszertifizierte Lieferanten oder Lieferanten, die den Supplier-Code-of-Conduct unterschrieben haben, sein. Die Optimierung im Bestellprozess beginnt bereits bei der Bedarfsspezifikation, in der entsprechende Nachhaltigkeitsziele einfließen können. Ein zweites Beispiel ist die Lieferantenauswahl. Zum einen können in der Bidderlist ungeeignete Kandidaten ex ante ausgeschlossen werden. Ferner sollten in der Lieferantenauswahl auch nachhaltigkeitsorientierte Kriterien berücksichtigt werden (Berry 2011; Menuet 2017). • Belieferungsprozess: Ziele im Belieferungsprozess können beispielsweise der CO2-Footprint oder die Umsetzung sozialer Standards in den Arbeitsbedingungen von Lkw-Fahrern sein. Strategien zur Optimierung der Nachhaltigkeit in der Logistik sind vielfältig, sodass eine umfassende Darstellung den Rahmen dieser Untersuchung sprengen würde (vgl. z. B. Bretzke 2014; Deckert 2015). • Entwicklungsprozess: Der Entwicklungsprozess ist für die Umsetzung ökologischer Nachhaltigkeitsziele sehr bedeutsam. Insofern muss auch der Einkauf – analog zu seinen Qualität- oder Innovationszielen – seine Nachhaltigkeitsziele in den Entwicklungsprozess mit einbringen. So muss beispielsweise vom Einkauf sichergestellt werden, dass Technologietrends im Beschaffungsmarkt und die Potenziale der Lieferanten in den Entwicklungsprozess einfließen. Fazit: Die Prozesse im Einkauf müssen im Hinblick auf die Nachhaltigkeitsziele des Einkaufs optimiert werden. Dies erfolgt im Rahmen der Prozessstrategien. Das Spektrum möglicher Ansatzpunkte zu dieser Fragestellung ist extrem breit. Tab. 2.4 fasst beispielhaft Ansatzpunkte zur Optimierung von Nachhaltigkeitszielen in den Prozessstrategien zusammen. Tab. 2.4  Nachhaltigkeit in den Prozessstrategien. (Quelle: Eigene Darstellung) N12: Prozesse dokumentieren und analysieren

• Z. B. Analyse von Bestechungsgefahr in der Beschaffung • Z. B. Analyse der Gefahr unfairer Behandlung von Lieferanten • Z. B. nachhaltigkeitsorientierte Wertstromanalyse

N13: Prozessziele und Prozessstrategien formulieren

• Z. B. Nachhaltigkeit im Ausschreibungs- und Bestellprozess entwickeln • Z. B. Nachhaltigkeit im Belieferungsprozess entwickeln • Z. B. beschaffungsmarktorientierte Nachhaltigkeit im Entwicklungsprozess integrieren

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2.7 Nachhaltigkeit im Performance Management Im Performance Management werden die oben beschriebenen Strategiebausteine gesteuert (Modul N14) und das Einkaufsmanagement selbst entwickelt (Modul N15) (Heß 2017, S. 181 ff.). N14 Strategie steuern: Zur Formulierung und Umsetzung der Strategien sind vielfältige Steuerungsprozesse erforderlich. Die Nachhaltigkeitsaspekte sind in diesen Steuerungsprozessen ein Objekt unter anderen wie am Beispiel der Marktstrategien illustriert wird: • Supply-Strategie steuern: Eine Marktstrategie, z. B. für Gussteile, muss formuliert und umgesetzt werden. Dabei muss die Umsetzung der strategischen Maßnahmen und die Entwicklung der strategischen Kennzahlen überwacht werden. Ggf. müssen die Strategie oder die Maßnahmen nachjustiert werden. Regelmäßig muss die Strategie fortgeschrieben und gelegentlich reformuliert werden. Die Nachhaltigkeitsziele im Beschaffungsmarkt, wie z. B. Energieziele, müssen überwacht werden. Es werden neue Maßnahmen gestartet, falls die Ziele gefährdet erscheinen. • Steuerung der Strukturierung des Strategiebausteins: Es muss geprüft werden, ob neue Strategien für aufkommende Märkte definiert werden müssen bzw. Strategien wegfallen können, weil der Markt an Bedeutung verloren hat. Mit dem Aufkommen neuer Nachhaltigkeitsforderungen, wie beispielsweise der Initiative zu Konfliktmineralien, können bisher eher unbedeutende Märkte in den Fokus geraten, für die dann eine Strategie formuliert werden muss. • Steuerung der Methoden und Steuerungsprozesse: Die Methodik und der Steuerungsprozess zur Entwicklung der Marktstrategien müssen selbst gesteuert werden. Beispielsweise wird beschlossen, dass zukünftig in jeder Marktstrategie zusätzlich eine Nachhaltigkeitsanalyse durchgeführt werden soll. Für die anderen Strategiebausteine werden vergleichbare Steuerungsprozesse benötigt. Diese Steuerungsprozesse sind für die Umsetzung der Nachhaltigkeitsziele von zentraler Bedeutung. Allerdings lassen sich kaum nachhaltigkeitsspezifische Aussagen treffen. Im Folgenden sollen drei Aspekte näher beleuchtet werden: Controlling und Reporting: Zur Steuerung der Nachhaltigkeit im Einkauf sind die Ziele zu definieren und zu reporten. Nach Möglichkeit sollten hierbei auch quantitative Ziele in Form von KPI`s verwendet werden (vgl. auch N01). Zur Strukturierung der vielfältigen Zielsetzungen und Kennzahlen haben sich die G4-Leitlinien der Global Reporting Initiative bewährt und als Standard durchgesetzt. Neben 58 Aspekten zu allgemeinen Standardangaben und wirtschaftlichen Aspekten werden folgende spezifische Kategorien und Berichtsthemen (Aspekte genannt) vorgeschlagen (Global Sourcing Initiative 2015, S. 9): • Ökologisch: Energie, Wasser, Biodiversität, Emissionen, Abwasser und Abfall, … • Arbeitspraktiken und menschenunwürdige Beschäftigung: Arbeitnehmer-Arbeitgeber-Verhältnis, Arbeitssicherheit und Gesundheitsschutz, …

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• Menschenrechte: Kinderarbeit, Zwangsarbeit, Gleichbehandlung, Vereinigungsfreiheit, … • Gesellschaft: Korruptionsbekämpfung, wettbewerbswidriges Verhalten, Compliance, … • Produktverantwortung: Kundengesundheit und -sicherheit, Schutz der Kundendaten, … Die Kategorien und Aspekte der G4-Leitlinien sind im Unternehmen auf ihre Relevanz für den Einkauf zu prüfen. Die relevanten Aspekte sind unternehmens- bzw. besser branchenspezifisch zu konkretisieren. Dabei ist natürlich die Durchgängigkeit zu den Nachhaltigkeitszielen des Unternehmens zu beachten. Durch die Verwendung des GRI-Standards wird die unternehmensinterne wie -externe Transparenz über das Spektrum und die Definition der Nachhaltigkeitsziele stark unterstützt. Organisation: Zu Beginn des Artikels wurde betont, dass es kein (eigenständiges) Nachhaltigkeitsmanagement im Einkauf braucht, sondern der Einkauf nachhaltig werden muss. Konsequenz dieser Aussage ist, dass kein zusätzliches Nachhaltigkeitsmanagement aufgebaut, sondern das bestehende Einkaufsmanagement mit seinen Wertbeitragszielen, Strategiebausteinen, Methoden und Prozessen um die Nachhaltigkeitsdimension ergänzt werden soll. Trotzdem erscheint es sinnvoll, einen Nachhaltigkeits-Experten bzw. -Kümmerer in Form einer Stabsstelle mit folgenden Aufgaben zu ernennen: • Integration von Nachhaltigkeit in Methoden und Prozesse: Transformation der Nachhaltigkeit des Unternehmens in das Einkaufsmanagement, insbesondere in die Einkaufsmethoden und -prozesse. • Schnittstelle zum Unternehmen: Kontakt zum Nachhaltigkeitsmanagement des Unternehmens, insbesondere auch, um Einkaufsinteressen auf der Unternehmensebene einzubringen. • Nachhaltigkeitsorientierte Aufgaben: Organisation und Durchführung spezifischer nachhaltigkeitsorientierter Aufgaben, z. B. Nachhaltigkeitsaudits, ggf. Reporting von Nachhaltigkeitskennzahlen. • Ansprechpartner: Schulung, Hotline und Motivation der Mitarbeiter bzw. der Lieferanten. • Globale Abstimmung: In globalen Unternehmen muss eine enge Kommunikation mit den verschiedenen Organisationseinheiten bzw. Regionen erfolgen, um ein weltweit abgestimmtes Vorgehen im Einkauf zu gewährleisten. • Repräsentant: Repräsentant des Einkaufs in der Stakeholder-Kommunikation bzw. Kommunikation mit einkaufsspezifischen Stakeholdern, z. B. Lieferanten. Ab einer entsprechenden Größe des Einkaufs sollten in den einzelnen Einkaufsabteilungen oder -teams Nachhaltigkeitsansprechpartner benannt werden, die als Nachhaltigkeits-Kümmerer vor Ort die Umsetzung von Nachhaltigkeit in der eigenen Einheit vorantreiben. Keinesfalls darf die Organisation der Nachhaltigkeit allerdings dazu führen, dass das Einkaufsmanagement und die Einkäufer aus der Verantwortung für die Nachhaltigkeit entlassen werden.

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Führung und Personal: Die Steuerung des Einkaufs umfasst auch die Managementfunktionen Führung und Personal, die üblicher Weise im Managementsystem des Unternehmens eingebettet sind. Ohne dieses sehr bedeutsame Thema in diesem Artikel systematisch behandeln zu können, illustrieren die folgenden Beispiele den Zusammenhang: • Commitment und Prioritäten: Commitment und Prioritäten müssen von der Leitung vorgelebt werden, z. B. in der Kommunikation, in der Durchführung und der Präsenz entsprechender Veranstaltungen, in der Ausgestaltung der Zielsysteme. • Ziele und Incentivierung: Wie werden die Zielkonflikte zwischen Nachhaltigkeit und anderen Wertbeitragszielen in den Zielsystemen und bei der Incentivierung der Mitarbeiter behandelt? • Schulung, Motivation und Unterstützung: Wie werden Führungskräfte und Mitarbeiter auf Nachhaltigkeitsthemen vorbereitet und bei schwierigen Aufgabenstellungen unterstützt? • Kapazität: Haben die Führungskräfte und die Mitarbeiter auch die notwenige Zeit, um sich um Nachhaltigkeitsaspekte zu kümmern? N15 15M-Reifegrad entwickeln: Mit der 15M-Reifegradanalyse wird der Umsetzungsstand des Einkaufsmanagementsystems beurteilt und mit einem Score gemessen. Es werden Verbesserungsideen identifiziert, die in der Fortentwicklung der anderen Strategiebausteine einfließen. Zur angemessenen Beurteilung des Umsetzungsstandes der Nachhaltigkeit im Einkaufsmanagement muss bei der Bewertung der einzelnen Strategiebausteine und Module beurteilt werden, wie die Nachhaltigkeit berücksichtigt ist. Beispielsweise die Frage, ob angemessene Nachhaltigkeitsziele definiert und die Zielkonflikte mit anderen Wertbeitragszielen geklärt sind? Fazit: Zur Realisierung der Wertbeitragsziele und zur Umsetzung der Einkaufsstrategie sind vielfältige Steuerungsprozesse von zentraler Bedeutung. Durch die Einbeziehung der Nachhaltigkeit ergeben sich inhaltliche Erweiterungen in den Steuerungsprozessen. Grundsätzlich ändern sich die Steuerungsprozesse allerdings nicht. Tab. 2.5 fasst wesentliche Aspekte der Nachhaltigkeit im Performance Management zusammen. Tab. 2.5  Nachhaltigkeit im Performance Management. (Quelle: Eigene Darstellung) N14: Supply-Strategie steuern

• Erweiterung der Steuerungsprozesse um die Nachhaltigkeitsdimension • Erweiterung des Einkaufscontrollings um Nachhaltigkeitsziele, ggf. auf Basis der G4-Leitlinien • Aufbau einer Nachhaltigkeitsorganisation im Einkauf, z. B. mit einer Stabsstelle und Ansprechpartnern in den Einheiten • Ausrichtung von Führung und Personal auf die Nachhaltigkeit

N15: 15M-Reifegrad entwickeln

• Beurteilung der Nachhaltigkeit in den Strategiebausteinen und den Modulen

2  Konzeption eines nachhaltigen Einkaufsmanagements …

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2.8 Bemerkung zur evolutionären Entwicklung des Einkaufs Die Botschaft des Artikels ist, dass Nachhaltigkeit ausgehend von den Wertbeitragszielen des Einkaufs systematisch in das Einkaufsmanagement mit den aufgezeigten Strategiebausteinen und Modulen integriert werden muss, wenn sie Wirkung entfalten soll. Das ist ein großer Anspruch, der erheblichen Aufwand in der Umsetzung bedeuten kann, insbesondere wenn das Unternehmen noch nicht einmal einen durchgängigen strategischen Einkauf aufgebaut hat. Allerdings ist die 15M-Architektur als Ansatz evolutionär angelegt. So wird kaum ein Unternehmen das Gesamtsystem in kurzer Zeit implementieren. Vielmehr wird das System schrittweise fortentwickelt, indem die Module, Methoden oder Prozesse, die besonders wertschöpfend erscheinen, vorangetrieben werden. Die Architektur stellt sicher, dass auch zukünftige Bauteile kompatibel eingefügt werden können. Damit können gleichermaßen der Einkauf und die Nachhaltigkeit im Einkauf schrittweise aufgebaut werden.

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G. Heß

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Prof. Dr. Gerhard Heß  lehrt seit 2001 Supply Management und strategischen Einkauf an der Technischen Hochschule Nürnberg GeorgSimon-Ohm. Zuvor war er an der Fachhochschule München und in der Industrie bei der Firma Siemens. Seine Forschungsarbeit zielt auf die Entwicklung eines ganzheitlichen Einkaufsmanagementsystems (15M-Architektur), das Unternehmen in systematischer Weise bei der Entwicklung ihres Einkaufs anleitet (www.beschaffungsstrategie.de). Dazu werden in Zusammenarbeit mit der Praxis die einzelnen Bestandteile, wie Warengruppen- und Lieferantenmanagement, Einkaufscontrolling, Risikomanagement oder Nachhaltigkeit aus­ differenziert. Er ist Leiter des Instituts für Beschaffungsstrategie, das Unternehmen bei der Entwicklung des strategischen Einkaufs und der Formulierung von Einkaufsstrategien unterstützt.

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Integration der „Sustainable Development Goals“ in eine nachhaltige Supply Chain – Der „Nachhaltige Beschaffungs-Case“ Elisabeth Fröhlich und Kristina Steinbiß

Zusammenfassung

Nachhaltige Managementmodelle sind auf Erfüllung der Triple Bottom Line ausgerichtet: Unternehmen adressieren Energie- und Co2-Effizienz (ökologisch), ­Arbeitsschutz oder Arbeitslosenquoten (sozial) sowie mögliche Wachstumspotenziale, die durch Nachhaltigkeit zu erreichen sind, um das eigene Überleben des Unternehmens am Markt zu sichern (ökonomisch). Daneben stehen die 17 Sustainable Development Goals (SDGs), die bis 2030 als Leitlinie nachhaltigen Wirtschaftens weltweit gelten und in nationale Gesetzgebung überführt wurden. Dieser Beitrag entwickelt ein Managementmodell, das Unternehmen dabei unterstützt, relevante SDGs zu identifizieren und Handlungsempfehlungen abzuleiten. Aufbauend auf einer nachhaltigen Supply Chain ordnet das Modell die SDGs den Dimensionen der Triple Bottom Line zu, um kurz eine Checkliste möglicher zu berücksichtigender Nachhaltigkeitsmaßnahmen im Kontext des Behaviour Change Modells zu erarbeiten. Zurückgreifend auf die Empfehlungen der Vereinten Nationen wird ein nachhaltiger Managementansatz eingeführt, der Unternehmen dazu befähigt, Governance, Transparenz und Engagement in ihrer Supply Chain zu implementieren. Dabei gibt es kein „generelles“ Modell, auf das jedes Unternehmen unabhängig von Größe oder

E. Fröhlich ()  E-Mail: [email protected] K. Steinbiß  E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 W. Wellbrock und D. Ludin (Hrsg.), Nachhaltiges Beschaffungsmanagement, https://doi.org/10.1007/978-3-658-25188-8_3

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E. Fröhlich und K. Steinbiß

I­ ndustrie zurückgreifen kann. Vielmehr baut dieser Beitrag eine Brücke zwischen der Erkenntnis, dass die Erreichung der SDGs für die Erhaltung unseres Planeten unausweichlich ist – die Probleme, vor denen Unternehmen in der Adressierung der SDGs liegen, jedoch nicht unbeachtet bleiben dürfen.

3.1 Die Zukunft der nachhaltigen Beschaffung Betrachtet man, welche globalen Trends die Welt verändern, so ergeben sich vor allem aus dem Bevölkerungswachstum, dem Ressourcenverbrauch, der immer weiter auseinandergehenden Schere zwischen arm und reich sowie aus dem Klimawandel globale Risiken und Herausforderungen für die Unternehmen (WBGU 2011). Dabei steht für jedes Unternehmen die kontinuierliche Verbesserung der eigenen Zielerreichung im Vordergrund. Vor allem verändert der Trend zur digitalen Transformation von Geschäftsprozessen in Verbindung mit immer anspruchsvolleren Kunden und einem stetig steigenden globalen Wettbewerb um knappe Ressourcen das unternehmerische Handeln rasant. Aus diesem Grund gilt heutzutage der Umgang mit diesen knappen Ressourcen als ein Erfolgsfaktor des unternehmerischen Handels (Kröhling 2017, S. 23 f.). Um mit der Konkurrenz mithalten zu können, stehen viele Unternehmen daher aktuell vor der Herausforderung, ihre Lieferketten nicht nur flexibel und belastbar, sondern vor allem auch nachhaltig zu gestalten (Chopra und Meindl 2013, S. 18).

3.2 Basiselemente einer nachhaltigen Supply Chain Das Konzept des Supply Chain Managements (SCM) beinhaltet die Optimierung der gesamten Wertschöpfungskette eines Unternehmens. Unter der Prämisse einer optimalen Ressourcenallokation werden die damit einhergehenden Wert- und Informationsströme zur unternehmerischen Zielerreichung in alle Entscheidungen einbezogen. Dabei umfasst das SCM sowohl interne als auch externe Material-, Informations- und Geldflüsse und berücksichtigt darüber hinaus auch die sozialen Beziehungen der Akteure zueinander (Werner 2017, S. 24). Somit bilden Planung, Beschaffung, Produktion, Distribution und Rücknahme die Kernprozesse einer nachhaltigen Supply Chain. An allen Schnittstellen zur Gesellschaft und Umwelt ergibt sich unternehmerischer Gestaltungsraum, Nachhaltigkeit in die Supply Chain zu integrieren – man spricht von sogenannten „Wertschöpfungspunkten“ (siehe Abb. 3.1). Unter Einbezug der unterschiedlichen Interessen der Anspruchsgruppen sowie der Nachhaltigkeitsvision des Unternehmens können so Chancen und Risiken identifiziert werden, um neue Geschäftsmodelle für mehr Nachhaltigkeit in der Supply Chain zu implementieren (D’heur 2014, S. 49). Der Schwerpunkt dieses Beitrags liegt auf dem Wertschöpfungspunkt „Beschaffung“. Dabei zählen Kostensenkung und Versorgungssicherheit zu den wichtigsten Zielen der

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Zulieferer

Hersteller

Kunde

Rohmaterial & Services

Nachhaltige Produkte (LCM)

Nutzung & End-of-Life

Design, Massenproduktion, End-of-Life Management

Innovation

Innovation

Beschaffung

Herstellung

Lieferung

Rückgabe

Rückgabe

Nachhaltiger Geschäftsbetrieb (SCM)

Planen und Ermöglichen von Innovation, Beschaffung, Herstellung, Lieferung, Rückgabe

Abb. 3.1  Wertschöpfungspunkte in einer nachhaltigen Supply Chain. (Quelle: D’heur 2014, S. 49)

Funktion (ökonomische Ziele). Daneben rücken ökologische und soziale Aspekte immer mehr in den Fokus beschaffungspolitischen Handels und stellen vor allem global agierende Unternehmen vor vielfältige Herausforderungen. Das strategische Managen von Lieferanten-Beschaffer-Beziehungen, verbunden mit notwendigen Investitionen in nachhaltige Lieferantenbewertung und Schulungsmaßnahmen – sowohl der Beschaffungsmitarbeiter als auch der Mitarbeiter des Lieferanten –, rücken das nachhaltige Lieferantenmanagement in den Fokus dieses Beitrags (Fröhlich 2015, S. 4, 14). Dabei gilt es, in einem ersten Schritt die grundlegenden Ziele der Nachhaltigkeit handhabbar zu machen, die unternehmerisches Handeln leiten. Eine Betrachtung des Triple-BottomLine-Ansatzes und dessen Überführung in die Sustainable Development Goals bilden hier den Ausgangspunkt.

3.2.1 Die Triple Bottom Line Der Ansatz der sogenannten Triple Bottom Line (TBL) wurde im Jahr 1994 von John Elkington (1997) entwickelt. Heute wird dieses weit verbreitete Konzept, das seinen Ursprung im Brundtland-Bericht und der Rio-Staatenkonferenz von 1992 hat, oftmals als Synonym für Nachhaltigkeit verstandenen (Caviezel 2018, S. 28). Ausgehend von der „Bottom Line“, dem Profit, der sozusagen als „Schlussstrich“ unter der Gewinn-undVerlust-Rechnung steht, erweitert Elkington sein Konzept um zwei weitere Dimensionen. Damit beruht der TBL-Ansatz auf der Idee, dass Unternehmen ihre Strategie nicht nur an der finanzwirtschaftlichen Perspektive, sondern an allen drei Dimensionen gleichgewichtet ausrichten sollen: Neben der ökonomischen Leistung (Profit) trägt auch die ökologische Verantwortung (Planet) sowie die soziale Gerechtigkeit (People) zum unternehmerischen Gesamterfolg bei. Die Schnittmengen der einzelnen Dimensionen sind dabei zentral für die nachhaltige Unternehmensentwicklung (Schubert 2017, S. 27 f.).

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E. Fröhlich und K. Steinbiß

Der TBL-Ansatz wird in der Literatur oft kritisch beleuchtet, gerade neuere Quelle bemängeln, dass wenig integrative Verständnis von Ökonomie und Nachhaltigkeit (Isil und Hernke 2017). Dies liegt u. a. daran, dass sich zur Berechnung der TBL weder in der Literatur noch in der Praxis eine einheitliche Methode finden lässt (Slaper und Hall 2012, S. 5). Das Konzept basiert vielmehr darauf, dass Unternehmen durch individuelle Anpassungen an branchenspezifische Konstellationen eigene Kennzahlen zur Messung ihrer nachhaltigen Entwicklung definieren. Damit ist die TBL ein Instrument der externen Kommunikation im Rahmen von Unternehmensberichten sowie – ähnlich der Balanced Scorecard – eine Möglichkeit, die eigenen Nachhaltigkeitsinitiativen zu steuern und deren Ergebnisse zu messen (Marbach 2018, online). Allerdings werden dazu häufig drei unabhängige Bilanzen erstellt und in unterschiedlichen Dokumenten veröffentlicht. So findet sich das ökonomische Ergebnis im Geschäftsbericht, die ökologischen und sozialen Ergebnisse im Nachhaltigkeitsbericht. Damit führt die Ausrichtung nachhaltigen Handelns eines Unternehmens an der TBL lediglich zu einem recht allgemeinen und wenig gehaltvollen Maßnahmenkatalog, der versucht, eine der genannten drei Dimensionen zu erfüllen, nicht aber den Gesamtansatz im Auge hat. Eine integrierte Steuerung von Nachhaltigkeitsinitiativen wird damit unmöglich (Marbach 2018, online).

3.2.2 Die Sustainable Development Goals Vor dem Hintergrund der eingangs erwähnten globalen Herausforderungen beschlossen die Vereinten Nationen im September 2015 in New York die Agenda 2030. Bestandteil dieser Agenda sind 17 Ziele mit 169 Unterzielen für nachhaltige Entwicklung: Die Sustainable Development Goals (SDGs). Sie bilden unter Einbezug der drei Dimensionen der nachhaltigen Entwicklung (wirtschaftlich, sozial, ökologisch) bis zum Jahr 2030 den globalpolitischen Referenzrahmen (United Nations 2015, online). Neu an den SDGs ist neben der konsequenten Verknüpfung von Armutsbekämpfung und Umweltschutz vor allem der Aspekt, dass alle Staaten weltweit – und damit auch alle Unternehmen weltweit – gemeinsam Verantwortung für die Menschen und ihre Umwelt tragen. Tab. 3.1 stellt die vereinbarten Ziele dar. Für die Unternehmen bedeutet eine Ausrichtung an den SDGs die Möglichkeit, Ziele zur eigenen nachhaltigen Entwicklung sowohl auf globaler als auch auf regionaler oder lokaler Ebene abzuleiten. Dabei eröffnen sich neue Marktchancen: Innovative Ansätze z. B. im Bereich der Ressourceneffizienz schaffen Wettbewerbsvorteile und sichern damit langfristig den Unternehmenserfolg. Letztlich tragen die Unternehmen durch stabilere Gesellschaften, einer höheren Anzahl von Marktteilnehmern und größeren Märkten sowie Marktregelungen zur wirtschaftlichen Stabilität bei (Globalcompact 2018, online). Die Analyse von Nachhaltigkeitsberichten in Unternehmen aus unterschiedlichen Industrien, durchgeführt an der Cologne Business School, hat gezeigt, dass sich die Nachhaltigkeitsberichterstattung weitgehend an der Triple Bottom Line ausrichtet, eine

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Tab. 3.1  Sustainable Development Goals. (Quelle: Globalcompact 2018, online) Ziele für nachhaltige Entwicklung 1. Armut in allen ihren Formen und überall beenden 2. Den Hunger beenden, Ernährungssicherheit und eine bessere Ernährung erreichen und eine nachhaltige Landwirtschaft fördern 3. Ein gesundes Leben für alle Menschen jeden Alters gewährleisten und ihr Wohlergehen fördern 4. Inklusive, gleichberechtigte und hochwertige Bildung gewährleisten und Möglichkeiten lebenslangen Lernens für alle fördern 5. Geschlechtergleichstellung erreichen und alle Frauen und Mädchen zur Selbstbestimmung befähigen 6. Verfügbarkeit und nachhaltige Bewirtschaftung von Wasser und Sanitärversorgung für alle gewährleisten 7. Zugang zu bezahlbarer, verlässlicher, nachhaltiger und moderner Energie für alle sichern 8. Dauerhaftes, inklusives und nachhaltiges Wirtschaftswachstum, produktive Vollbeschäftigung und menschenwürdige Arbeit für alle fördern 9. Eine widerstandsfähige Infrastruktur aufbauen, inklusive und nachhaltige Industrialisierung fördern und Innovationen unterstützen 10. Ungleichheit in und zwischen Ländern verringern 11. Städte und Siedlungen inklusiv, sicher, widerstandsfähig und nachhaltig gestalten 12. Nachhaltige Konsum- und Produktionsmuster sicherstellen 13. Umgehend Maßnahmen zur Bekämpfung des Klimawandels und seiner Auswirkungen ergreifen 14. Ozeane, Meere und Meeresressourcen im Sinne nachhaltiger Entwicklung erhalten und nachhaltig nutzen 15. Landökosysteme schützen, wiederherstellen und ihre nachhaltige Nutzung fördern, Wälder nachhaltig bewirtschaften, Wüstenbildung bekämpfen, Bodendegradation beenden und umkehren und dem Verlust der biologischen Vielfalt ein Ende setzen 16. Friedliche und inklusive Gesellschaften für eine nachhaltige Entwicklung fördern, allen Menschen Zugang zur Justiz ermöglichen und leistungsfähige, rechenschaftspflichtige und inklusive Institutionen auf allen Ebenen aufbauen 17. Umsetzungsmittel stärken und die globale Partnerschaft für nachhaltige Entwicklung mit neuem Leben erfüllen

Orientierung an den SDGs erst in den Kinderschuhen steckt. Auch nachhaltiges unternehmerisches Handeln und damit die Kommunikation über Nachhaltigkeit, hin zu den unterschiedlichen Anspruchsgruppen, adressiert im Wesentlichen noch immer den Triple Bottom Line Ansatz. Als ein mögliches Beispiel, um diese These zu stützen, soll das sequenzielle Modell zur Umsetzung von Nachhaltigkeitsstrategien in der Supply Chain von Schulz genannt werden (Schulz 2012, S. 280). Auch van Weele und Eßig etablieren ihr Modell einer nachhaltigen Beschaffung auf den Grundpfeilern der Triple Bottom Line und zitieren dazu unterschiedliche Unternehmensbeispiele, die einen ähnlichen Aufbau wählen (van Weele und Eßig 2017, S. 460 ff.). Daher gilt es für die Unternehmen zur besseren Transformation bisheriger Nachhaltigkeits-Aktivitäten in das aktuelle Konzept der SDGs, eine Integration dieser in den TBL-Ansatz vorzunehmen. Abb. 3.2 zeigt eine entsprechende Zuordnung, die aber auch verdeutlicht, dass die SDGs teilweise mehr als nur eine Dimension der TBL stützen. SDG 8 „dauerhaftes, nachhaltiges Wirtschaftswachstum“ wird durch ein nachhaltiges Lieferantenmanagement sowohl in seiner gesellschaftlichen Dimension als auch in seiner ökonomischen Dimension unterstützt. Eine konsequente Unterstützung des Lieferanten, z. B. bezogen auf Arbeitsschutz, sorgt nicht nur dafür, dass die Arbeit unter „menschenwürdigen Bedingungen“ durchgeführt

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E. Fröhlich und K. Steinbiß

Ökonomisch-Ökologisch SDG 3: SDG 6: SGD 7: SDG 11: SDG 13: SDG 14: SDG 15:

Gesundheit und Wohlergehen Sauberes Wasser und Sanitäreinrichtungen Bezahlbare und saubere Energie Nachhaltige Städte und Gemeinden Maßnahmen zum Klimaschutz Leben unter Wasser Leben an Land

Soziale Entwicklung SDG 1: SDG 2: SDG 3: SDG 4: SDG 5: SDG 8:

Keine Armut Kein Hunger Gesundheit und Wohlergehen Hochwertige Bildung Geschlechtergleichheit Menschenwürdige Arbeit und Wirtschaftswachstum SDG 10: Weniger Ungleichheiten

Ökonomisch-Wirtschaftlich SDG 8:

Menschenwürdige Arbeit und Wirtschaftswachstum Industrie, Innovation und Infrastruktur SDG 12: Nachhaltige/r Konsum und Produktion SDG 16: Frieden, Gerechtigkeit und Starke Institutionen SDG 17: Partnerschaften zur Erreichung der Ziele SDG 9:

Abb. 3.2  Zuordnung der Sustainable Development Goals zu den drei Dimensionen der Triple Bottom Line. (Quelle: Eigene Darstellung)

werden kann, sondern verringert auch die Zahl von Arbeitsunfällen und Arbeitsunfähigkeit, erhöht damit die Arbeitsproduktivität, vermeidet die Zahlung von Strafen und Invalidenrenten und stärkt damit die ökonomische Basis der Lieferanten-BeschafferBeziehung. Diese „Überlappungen“ (Le Blanc 2015, S. 3 ff.) stellen nach Meinung der Autoren eine der großen Herausforderungen der Implementierung der SDGs im Unternehmenskontext dar. Eine sorgfältige Prüfung der eigenen Möglichkeiten, SDGs zu adressieren, ist Voraussetzung dafür, dass die weltweit akzeptierten Nachhaltigkeitsziele auch erreicht werden können und wird zur Erkenntnis führen, dass Unternehmen nur ausgewählte SDGs umsetzen können. Eine entsprechende Priorisierung ist notwendig (Kolb et al. 2017, S. 289). Nachdem im Rahmen des Supply Chain Managements – mit Fokus auf die Beschaffung – die Basis für ein unternehmerisches Verständnis von Nachhaltigkeit gelegt wurde, soll im weiteren Verlauf dieses Beitrags ein Handlungsrahmen zur unternehmerischen Umsetzung der SDGs vorgestellt werden.

3.3 Ein Managementmodell zur Umsetzung der SDGs Auch wenn sich zunehmend die Erkenntnis durchsetzt, dass eine nachhaltige Lieferkette einen wesentlichen Teil der unternehmerischen Verantwortung ausmacht, so stehen die Entscheider in der Umsetzung vor einer großen Herausforderung: Lieferketten bestehen aus sich ständig wandelnden Märkten und Beziehungen (United Nations Global Compact und BSR 2012, S. 5). Deshalb ist es für Unternehmen unerlässlich, eine branchen- und produktspezifische Ausgestaltung ihres nachhaltigen Beschaffungshandelns vorzunehmen. Im Leitfaden nachhaltigen Wirtschaftens werden, bezogen auf die Lieferkette, verschiedene Maßnahmen genannt, die eine erfolgreiche Verankerung von Nachhaltigkeit im beschaffungspolitischen Handeln unterstützen (United Nations Global Compact 2014, S. 36). Bevor konkrete nachhaltige Instrumente zum Einsatz kommen können, ist

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es wichtig, eine Basis für eine nachhaltige Beschaffung zu legen. Von Beschaffungsverantwortlichen wird Mut erwartet, neue Wege zu gehen, sich nachhaltiger zu verhalten, die originären Ziele der Beschaffung – Kostensenkung und Versorgungssicherung – dabei nicht aus den Augen zu verlieren (Fröhlich 2015, S. 15). Vor diesem Hintergrund sollen diese vom United Nations Global Compact genannten Maßnahmen (siehe dazu Abb. 3.3) den Dimensionen des „Behaviour Change Modell“ zugeordnet werden. Dieses Modell zeigt Möglichkeiten, Unternehmen zu motivieren, sich nachhaltiger zu verhalten und besteht aus drei Dimensionen (Berry 2011, S. 18). Die Dimension „Enable“ diskutiert die Möglichkeiten, Lieferanten zu unterstützen, indem Ressourcen und Wissen zur Verfügung gestellt werden, um nachhaltiger in der globalen Lieferkette zu agieren. Darunter lassen sich zunächst folgende zwei Maßnahmen zusammenfassen: die Erwartung, dass Lieferanten die Prinzipien der Nachhaltigkeit einhalten sowie deren Einbeziehung in die Lieferantendokumentation. Damit wird gemeinsames Wissen generiert, das eine konsequente Ausrichtung kooperativen Handelns in der Lieferkette fördert. Lieferanten werden bei der Festsetzung und Überprüfung ihrer Ziele unterstützt. Die Durchführung von Audits (entweder durch externe oder eigene Mitarbeiter) bildet die Grundlage für die Entwicklung und Implementierung von Aus- und Weiterbildungskonzepten für den Lieferanten. „Exemplify“ stellt die Vorbildfunktion in den Vordergrund. Man kann vom Lieferanten nichts erwarten, was man letztendlich in der Beschaffungsfunktion selbst nicht willens ist zu realisieren. Somit sind die zuvor genannten Erwartungen, die an den



■ ■

Verifizierung von Korrekturmaßnahmen Belohnung der Nachhaltigkeitsperformance des Lieferanten

■ ■ ■ ■

Erwartung, dass Lieferant Prinzipien der Nachhaltigkeit einhält Einbeziehung in die Lieferantendokumentation Unterstützung bei Festsetzung der Ziele Durchführung von Audits Implementierung von Aus- und Weiterbildung für den Lieferanten

Motivation

■ ■

Einbeziehung der Erwartungen in die Kommunikation zum Beschaffungsmitarbeiter Einbeziehung in die Aus- und Weiterbildung des Beschaffungsmitarbeiters

■ ■

Durchführung einer Due-Diligence potenzieller Lieferanten bezüglich Nachhaltigkeit Regelmäßige Unternehmens-Reviews

Abb. 3.3  Die Behaviour-Change-Dimensionen in der Lieferkette. (Quelle: Eigene Darstellung)

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­ ieferanten formuliert werden, auch in der Kommunikation hin zum BeschaffungsmitL arbeiter zu verwenden. Sie beeinflussen auch die Aus- und Weiterbildungsmaßnahmen bezogen auf die Beschaffungsmitarbeiter. „Engage“ ist eine der wichtigsten Dimensionen im Behaviour-Change-Modell. Um Nachhaltigkeit erfolgreich in der Supply Chain implementieren zu können, muss man den Lieferanten „auf die Reise mitnehmen“, ihn für Nachhaltigkeit begeistern. Die Durchführung einer Due Diligence mit potenziellen Lieferanten bezüglich Nachhaltigkeit oder regelmäßige Unternehmens-Reviews zeigen dem Lieferanten Verbesserungspotenziale auf und motivieren zu mehr Nachhaltigkeit in der Lieferkette, da positive Effekte auf den unternehmerischen Erfolg des Lieferanten „erfahrbar“ gemacht werden. Über die Zuordnung von „Verifizierung von Korrekturmaßnahmen“ und „Belohnung der Nachhaltigkeits-Performance von Lieferanten“ zu „Encourage“ kann man zumindest diskutieren. Unter dieser Dimension fallen z. B. steuerliche Be- und Entlastungen in Verbindung mit potenziellen Belohnungsmechanismen oder Subventionen von umweltfreundlichen Technologien. Transferiert man dieses Verständnis auf die individuelle Beziehung zwischen Beschaffer und Lieferant, macht die Einordnung dieser beiden Maßnahmen durchaus Sinn (in Anlehnung an Fröhlich 2015, S. 16 f.). Der Aspekt „Selbstbewertung von Lieferanten“ soll hier aus Sicht der Autoren keine Beachtung finden, da Beschaffer von einer solchen Selbsteinschätzung Abstand nehmen sollten. Zum einen ist Papier geduldig und zum anderen widerspricht diese Maßnahme völlig dem partnerschaftlichen Ansatz in der Lieferanten-Beschaffer-Beziehung, der hier zu vertreten versucht wird. Abb. 3.3 unterstützt somit zwei wichtige Anliegen dieses Beitrags: Zum einen wird deutlich, dass nachhaltiges Beschaffungshandeln letztendlich nachhaltiges Lieferantenmanagement ist. Mit einer durchschnittlichen Wertschöpfungstiefe von 60 % (Materialaufwand bezogen auf den Umsatz) (Lorenzen und Krokowski 2018, S. 19) sind Unternehmen nur so nachhaltig wie ihre Lieferantenbasis. Konkrete Maßnahmen konnten aufgezeigt werden, die entsprechend die Motivation in der Lieferkette aufbauen, um kontinuierlich besser zu werden im Sinne des in diesem Beitrag etablierten Verständnisses einer nachhaltigen Supply Chain. Diese unterschiedlichen Maßnahmen gilt es nun – abhängig von der Branche, dem Produktionsstandort, der Unternehmensgröße und der Wertschöpfungsstufe – spezifisch auszugestalten. Dazu soll in diesem Beitrag auf einen von den Vereinten Nationen entwickelten Managementansatz zurückgegriffen werden, der aus sechs Stufen besteht (United Nations Global Compact 2014, S. 36): Commitment: In einem ersten Schritt muss das Management als Leitlinie vorgeben, dass die nachhaltige Ausgestaltung des unternehmerischen Handels eine strategische Priorität im Unternehmen darstellt. Das Erreichen der SDGs muss in die Zielsetzung des Unternehmens eingebunden und Maßnahmen zur Unterstützung gesellschaftlicher Ziele entwickelt werden. Die mit der nachhaltigen Ausrichtung verbunden Chancen dürfen allerdings nicht nur von der Unternehmensführung erkannt werden, vielmehr müssen alle Anspruchsgruppen ihre unternehmerische Verantwortung verstehen.

3  Integration der „Sustainable Development Goals“ …

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Bewertung: Da nicht alle 17 SDGs für alle Unternehmen gleichermaßen relevant sind, gilt es in einem zweiten Schritt, diese für das Unternehmen individuell zu bewerten und zu priorisieren. Dabei müssen die Chancen und Risiken aus den SDGs sowie deren Auswirkungen möglichst über die gesamte Supply Chain hinweg analysiert werden. Im folgenden Kapitel wird beispielhaft diskutiert, welche SDGs durch ein nachhaltiges Lieferantenmanagement aus Unternehmenssicht bisher adressiert werden. Festlegung: Die Festlegung von unternehmensspezifischen Zielen, Strategien und Richtlinien baut direkt auf der Bewertung auf und ist entscheidend für eine gute Performance entlang der gesamten Wertschöpfungskette. Das Ergebnis dieser Prozessstufe ist eine Sammlung relevanter KPIs für jedes zuvor priorisierte SDG. So messen Unternehmen zum Beispiel SDG 12 – Nachhaltige Konsum- und Produktionsmuster sicherstellen – anhand des CO2-Verbrauchs pro produzierter Einheit bzw. die Verbesserung, die im Laufe der Zeit diesbezüglich erzielt werden konnte oder beispielsweise auch anhand des Periodenwasserverbrauchs und dessen Veränderung (Sustainable Development Solutions Network 2015, S. 51 ff.). Auf die Entwicklung entsprechender KPIs wird jedoch im weiteren Verlauf dieses Beitrags nicht mehr Bezug genommen. Implementierung: Die Nachhaltigkeitsziele müssen in alle Prozesse der Supply Chain eingebunden und verankert werden. Grundlegend müssen die Lieferanten dazu zunächst die an sie gestellten Erwartungen sowie ihren Beitrag zur Erreichung der SDGs verstehen. Darüber hinaus sollte die Bereitschaft vorhanden sein, Maßnahmen zur nachhaltigen Gestaltung der Supply Chain mitzutragen. Somit spielt die nachhaltige Bewertung von Lieferanten eine wichtige Rolle (Fröhlich 2015, S. 25 ff.). SDGs sind bereits in dieser Phase des Lieferantenmanagements zu berücksichtigen. In Abschn. 4.2 wird erläutert, welche SDGs bisher in Lieferantenbewertungssystemen von Beschaffern aus den sechs größten europäischen Industrien angesprochen werden. Messung: Die Auswirkungen der implementierten Maßnahmen des nachhaltigen Handelns müssen gemessen und je nach Ergebnisbeitrag gegebenenfalls angepasst werden. Wurde z. B. als Ziel für die Lieferanten festgelegt, dass ein Nachhaltigkeitsmanagementsystem aufgebaut werden soll, das Auswirkungen auf die Umwelt (z. B. Ausstoß von Treibhausgasen, Abfallproduktion) sowie auf Mitarbeiter und Gemeinden berücksichtigt, so wird eine Messung häufig mittels Unfallquoten, Krankenständen, die bezahlte Gesamtlohnsumme, Fort- und Weiterbildungen für die Mitarbeiter oder durch Vorgaben über die Wirkung der Lieferantentätigkeit auf die jeweilige Gemeinde und die lokale Entwicklung (z. B. Zahl der Arbeitsplätze, Beitrag zu Einkommen und Infrastrukturentwicklung) manifestiert (United Nations Global Compact 2014, S. 59). Kommunikation: Die Ergebnisse der umgesetzten Maßnahmen müssen allen Anspruchsgruppen, unternehmensintern und -extern, kommuniziert werden. Nur so kann Vertrauen in die modifizierten Prozesse und ein Anreiz zur Weiterentwicklung dieser erzielt werden. Suchanek spricht davon, dass „der Erhalt der Vertrauenswürdigkeit den eigentlichen Kern von Unternehmensverantwortung ausmacht“ (Suchanek 2012, S. 55). Abb. 3.4 fasst die Stufen des Managementmodells zur Umsetzung der SDGs zusammen.

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E. Fröhlich und K. Steinbiß

Soziales …

Exemplify … Engage … Encourage …

Commitment Governance

Bewertung Festlegung Implementierung Messung Kommunikation

Damit erreiche man

Ökologie …

Enable …

Ein nachhaltiger Managementansatz für die Beschaffung

Triple Bottom Line

Ökonomie …

Maßnahmen nachhaltigen beschaffungspolitischen Handelns im Kontext des Behaviour-ChangeModells

The Green Procurement Case: SDGs im nachhaltigen Lieferantenmanagement

Transparenz

Engagement

Abb. 3.4  Ein Managementmodell zur Umsetzung der Sustainable Development Goals in der Supply Chain. (Quelle: Eigene Darstellung)

Um im globalen Wettbewerb langfristig bestehen zu können, müssen Unternehmen drei Grundsätze nachhaltigen Lieferkettenmanagements beachten. Diese Grundsätze sind als Output des entwickelten Managementmodells zur Umsetzung der SDGs in der Supply Chain zu verstehen (siehe auch Abb. 3.4): Governance (Unternehmensführung), Transparenz und Engagement (Verpflichtung) (United Nations Global Compact und BSR 2012, S. 5). Dabei bezeichnet „Governance“ den Ordnungsrahmen für die Leitung und Überwachung von Unternehmen (von Werder 2015, S. 3). Bei Einbindung der SDGs in die Unternehmensführung wird dies auf nachhaltigen Werten und Grundsätzen basieren. Der zweite Meta-Aspekt bezieht sich auf die „Transparenz“ im Sinne eines Handelns nach nachvollziehbaren Entscheidungsketten. Gerade das Vertrauen in unternehmerisches Handeln über die gesamte Lieferkette hinweg wird durch Transparenz nachhaltig gestärkt, um potenziellen negativen Imageschäden oder einer möglichen Beeinträchtigung des Unternehmens- oder Markenimages entgegen zu wirken (Lahme und Klenk 2015, S. 365). Entscheidungen werden offen und verständlich kommuniziert und sichern somit das „Engagement“, die Verpflichtung sowohl des Beschaffers als auch des Lieferanten nachhaltig zu agieren. Bezug nehmend auf die Ausführungen zum Behaviour-Change-Modell schließt sich hier der Kreis, denn durch die Dimension „Engage“ wird diese „Verpflichtung“ Realität. Nachhaltige Lieferanten-Beschaffer-Beziehung entwickeln sich im Sinne einer gemeinsamen Zielerreichung weiter. „Die Fokussierung auf eine gemeinsame Zielerreichung in dieser Geschäftsbeziehung führt zur bestmöglichen Nutzung der vorhandenen, knappen Ressourcen. Opportunistisches Verhalten, im Sinne einer eigenen kurzfristigen Gewinnoptimierung in der Lieferkette, wird unterbunden. Damit werden Ressourcen im Kontext einer nachhaltigen Zielerreichung möglichst effizient genutzt, jede Form von Ressourcenverschwendung kann so vermieden werden“ (Fröhlich 2015, S. 8).

3  Integration der „Sustainable Development Goals“ …

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3.4 Der nachhaltige Beschaffungscase: Lieferanten im Sinne der Sustainable Development Goals managen Die zuvor gemachten Aussagen verdeutlichen die steigende Bedeutung eines nachhaltigen Lieferantenmanagements. Gerade vor dem Hintergrund immer komplexer werdender, dynamischer sowie globaler Lieferketten stehen Beschaffer vor der Herausforderung, Lieferanten proaktiv im Sinne von Innovation und der Entwicklung neuer Geschäftsmodelle für mehr Nachhaltigkeit in der Lieferkette zu managen (D’heur 2014, S. 63). Die zunehmende Verringerung der eigenen Wertschöpfungstiefe unterstreicht die Notwendigkeit, mit Lieferanten langfristig und partnerschaftlich zu kooperieren (D’heur 2014, S. 63). Der Lieferant wird schon lange nicht mehr nur als Transaktionspartner wahrgenommen, sondern als Quelle von Innovation und Inspiration für eine nachhaltige Lieferkette. Ein nachhaltiger Lieferantenmanagementprozess (vgl. zum allgemeinen Prozess des Lieferantenmanagements u. a. Weigel und Rücker 2013, S. 51 ff.) beginnt mit der Lieferantenvorauswahl, die Zahl möglicher Lieferanten wird z. B. anhand eines Selbstauskunftsbogens eingegrenzt. Danach folgt die Lieferantenbewertung. Anhand von nachhaltigen Lieferantenbewertungskriterien (ein möglicher Pool findet sich bei Fröhlich 2015, S. 26) werden diejenigen Lieferanten gewählt, mit denen es sich lohnt in den Verhandlungsprozess einzusteigen. Eine effiziente Steuerung der Lieferantenbeziehung durch Lieferantenpflege, -integration oder -entwicklung erfolgt auf Basis eines Abgleichs der vertraglich vereinbarten Bedingungen mit dem tatsächlichen Performanceniveau des Lieferanten (Politis 2010, S. 10 ff.). Die nachfolgenden Kapitel bauen auf zwei Forschungsprojekten auf, die an der Cologne Business School durchgeführt wurden. Beide Projekte wurden bisher nicht veröffentlicht. Nimmt man Bezug auf das in Kap. 3 entwickelte Managementmodell, bezieht sich das erste Beispiel auf die Phase der Bewertung. In einem eMBA Projekt wurde nachhaltiges, beschaffungspolitisches Handeln dahin gehend untersucht, welche SDGs adressiert werden können. Dabei wurden hauptsächlich LieferantenBeschaffer-Beziehungen und entsprechende Ansätze im Lieferantenmanagement analysiert. Im Ergebnis kann eine erste Übersicht erstellt werden, die verdeutlicht, welche SDGs durch nachhaltiges Lieferantenmanagement im Wesentlichen aus unternehmerischer Sicht erreicht werden können. Das zweite Beispiel fasst die Ergebnisse einer Bachelorarbeit zum Thema nachhaltige Lieferantenbewertung zusammen. Nachhaltige Lieferantenbewertungskriterien für sechs unterschiedliche Industrien wurden untersucht und in Bezug auf ihre Anwendung auf die SDGs evaluiert. Dieses Beispiel ist somit der Implementierungsphase des zuvor erläuterten Managementmodells zuzuordnen und erlaubt Aussagen dazu, wie eine nachhaltige Lieferantenbewertung im Sinne einer Integration der SDGs verbessert werden kann.

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E. Fröhlich und K. Steinbiß

3.4.1 Bewertung: Welche Sustainable Development Goals werden im Kontext eines nachhaltigen Lieferantenmanagements adressiert? eMBA-Studenten bekamen die Aufgabe, ein Unternehmen auszuwählen und anhand zweier selbst gewählter SDGs die nachhaltigen Supply-Chain-Aktivitäten dieses Unternehmens zu analysieren. Ein beschaffungspolitischer Fokus wurde nicht vorgegeben. Eine der Zielsetzungen dieser Forschung war es, einen ersten Überblick zu erhalten, welche SDGs im nachhaltigen unternehmerischen Handeln von besonderer Bedeutung sind. Bedeutung wurde in diesem Kontext definiert als konkreter Einsatz nachhaltiger Maßnahmen (wie in Kap. 3 diskutiert) und deren exemplarische Verifizierung durch die Verwendung entsprechender KPIs. Mehr als die Hälfte der Studenten wählte dabei Aspekte aus dem Lieferantenmanagement. Welche SDGs im Rahmen der Unternehmensanalyse aufgegriffen wurden, kann Abb. 3.5 entnommen werden. Im Fokus der Auswertung stehen die Implementierung einer nachhaltigen Lieferantenbewertung, die Einführung von Standards und eines verbindlichen Supplier Code of Conducts (Schröder 2015). Darüber hinaus wird häufig die Zusammenarbeit mit externen Auditoren wie EcoVadis diskutiert (ecovadis 2018, online). Im Sinne der zuvor erläuterten Dimension „Enable“ werden unterschiedliche Programme und Trainingskonzepte mit Lieferanten vorgestellt. Tramontina, ein brasilianischer Hersteller hochwertiger Küchenutensilien, fokussiert sich auf die Implementierung eines nachhaltigen Lieferantenbewertungssystems. Die Nachhaltigkeitsabteilung erarbeitet zusammen mit der Beschaffung einen Kriterienkatalog, der den bisherigen um Nachhaltigkeitskriterien ergänzt, um den hohen Qualitätsstandard auch in Zukunft aufrecht zu erhalten. Darüber hinaus ist die Einführung eines „Supplier Engagement Programms“ geplant, denn wie bereits zuvor erläutert, muss der Lieferant für Nachhaltigkeit begeistert werden und auch verstehen, wie Fortschritte im Sinne einer gemeinsamen Zielerreichung gemacht werden können (Tramontina 2018, online). Ikea hat ein „Responsible Sourcing“-Konzept aufgesetzt. In einem ersten Schritt wurde der IWAY Supplier Code of Conduct als verbindlicher Standard für alle Lieferanten kommuniziert, wodurch die Erwartung von Ikea an seine Lieferanten klar ­formuliert ist

Abb. 3.5  Sustainable Development Goals im nachhaltigen Lieferantenmanagement. (Quelle: Eigene Darstellung)

3  Integration der „Sustainable Development Goals“ …

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(Ikea 2018, online). Der „Supplier Sustainability Index“ misst die nachhaltige Performance jedes Lieferanten und ist integraler Bestandteil der Nachhaltigkeits-Produkt-Scorecard. So können gemeinsam mit dem Lieferanten Verbesserungsvorschläge erarbeitet werden, da jedem Lieferanten die Information vorliegt, welchen Beitrag er zur Umwelt- und Sozialverträglichkeit eines jeden Produktes von Ikea leistet. Diese Vorgehensweise ist auch ein sehr gutes Beispiel, wie nachhaltiges Lieferantenmanagement die Transparenz in der Lieferkette erhöht. Dieser klare Bezug zum Endprodukt von Ikea trägt auch zur Motivation bei, denn jeder Lieferant kann erkennen, welchen Beitrag er leistet oder auch nicht. Diese Bewertungsergebnisse sind mit entsprechenden Incentivesystemen verknüpft. Diese erste Auswertung zeigt, dass alle in Kap. 3 genannten nachhaltigen Maßnahmen in der Lieferkette von Unternehmen Anwendung finden. Diese werden hauptsächlich dazu genutzt, SDG 12, verantwortungsvolle Konsum- und Produktionsmuster (United Nations 2015, online), zu unterstützen. Hier geht es in erster Linie darum, den ökologischen Fußabdruck zu reduzieren, u. a. durch die Verringerung des Wasserverbrauchs oder C02-Ausstoßes. Ein ganz wesentlicher Aspekt ist darüber hinaus die Abfallreduzierung. Die analysierten Unternehmen haben erkannt, dass durch die Optimierung der Gestaltung von Beschaffungsprozessen, Ressourceneffizienz sichergestellt werden kann, mit dem interessanten Nebeneffekt, dass auch die Beschaffungskosten erheblich gesenkt werden können. Das am zweithäufigsten genannte SDG ist die Nummer 9 „Innovation und Infrastruktur“. Den Lieferanten als Quelle von Innovation zu erkennen und auch zu nutzen, ist eine wichtige Aufgabe der Zukunft, die noch deutliches Verbesserungspotenzial für die Praxis aufweist. SDG 4 (hochwertige Bildung) wird ebenfalls häufig, allerdings bereits deutlich weniger oft, genannt. Auch hier muss im Sinne der Partnerschaftlichkeit vermehrt auf Aus- und Weiterbildungsmaßnahmen des Lieferanten gesetzt werden. Gerade wenn man über globale Lieferketten spricht, muss hier vonseiten des Beschaffers mehr gemacht werden, Lieferantenentwicklung und -förderung müssen ein Standardelement im Verhandlungsprozess um mehr Nachhaltigkeit werden. Diese Überlegungen führen uns zu SDG 17 (Partnerschaften zur Erreichung der Ziele), das im Rahmen dieser Erhebung nicht einmal genannt wurde. Nach Ansicht der Autoren ist dies jedoch ein SDG, das automatisch durch die Etablierung eines nachhaltigen Lieferantenmanagements erreicht werden kann.

3.4.2 Implementierung: Welche Sustainable Development Goals finden in einer nachhaltigen Lieferantenbewertung Berücksichtigung? Im Rahmen einer Bachelorarbeit (Wester 2017) wurden die drei umsatzstärksten Unternehmen aus den sechs größten Industrien in Europa auf verwendete Lieferantenbewertungskriterien hin analysiert. Im nächsten Schritt wurden diese Kriterien den SDGs zugeordnet. Eine Zusammenfassung der adressierten SDGs durch entsprechende Lieferantenbewertungskriterien findet sich in Abb. 3.6 und 3.7. Die Vorgehensweise des Forschungsprojekts soll anhand der Automobilindustrie erläutert werden.

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E. Fröhlich und K. Steinbiß Aerospace

Automove

Biotechnology

Food

Chemistry

Defence

Abb. 3.6  Sustainable Development Goals eins bis neun in der Lieferantenbewertung. (Quelle: Eigene Darstellung)

Aerospace

Automove

Biotechnology

Food

Chemistry

Defence

Abb. 3.7  Sustainable Development Goals zehn bis 17 in der Lieferantenbewertung. (Quelle: Eigene Darstellung)

Auch wenn die Automobilindustrie gegenwärtig nicht den Anschein erweckt, in Bezug auf Nachhaltigkeit besonders fortschrittlich zu agieren, zeigen die Ergebnisse der Analyse ein anderes Bild. Evaluiert wurden die Lieferantenbewertungssysteme der Volkswagen Gruppe, der Renault Gruppe sowie der PSA Gruppe. Auch wenn sechs SDGs keine Berücksichtigung finden (4, 6, 7, 14, 15, 16), achten alle drei Konzerne

3  Integration der „Sustainable Development Goals“ …

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darauf, dass ihre Lieferanten so wirtschaften, dass Armut und Hunger beendet werden, durch z. B. die Zahlung von fairen Löhnen und damit ein gesundes Leben für alle Menschen jeden Alters gewährleistet wird. Wirtschaftliches Wachstum durch Innovation und Infrastrukturverbesserungen reduziert Ungleichheiten in und zwischen Ländern und fördert ein nachhaltiges Wirtschaftswachstum. Nachhaltige Konsum- und Produktionsmuster sind wesentlicher Bestandteil einer nachhaltigen Sourcing-Strategie. Lieferanten werden dazu angehalten den CO2-Ausstoß sowie Ausschuss und Müll auch in ihren eigenen Beschaffungs- und Produktionsprozessen zu optimieren. Die Volkswagengruppe adressiert in ihrer Lieferantenbewertung 9 der 17 SDGs, Renault und PSA 10 (Wester 2017). Abschließend werden noch einige Erkenntnisse der Autoren, auch in Bezug auf die Ergebnisse aus Abschn. 4.1, diskutiert. In Abb. 3.6 wird deutlich, dass SDG 4 (­ Hochwertige Bildung) kaum Berücksichtigung in der Lieferantenbewertung findet. Nur die beiden Industrien Aerospace und Chemie haben die Bedeutung von Bildung für den Aufbau von Lieferantenpartnerschaften verstanden, vor allem vor dem Hintergrund der Sicherstellung von nachhaltigen Konsum- und Produktionsmustern, wobei sie auf die Innovationskraft der Lieferanten angewiesen sind. Wie im Abschnitt zuvor findet SDG 12 (Verantwortungsvolle Konsum- und Produktionsmuster) sowie SDG 9 (Industrie, Innovation und Infrastruktur) fast immer Eingang in die Lieferantenbewertung. Die meisten Industrien haben erkannt, dass Nachhaltigkeit von Innovation, und Innovation von Lieferanten getrieben wird. Diese Einschätzung macht auch Sinn. Speziell in Verbindung mit SDG 9 (Industrie, Innovation und Infrastruktur) und 17 (Partnerschaften zur Erreichung der Ziele) kann eine partnerschaftliche Lieferantenbeziehung dazu beitragen, die ökonomischen Bedingungen in einer Region bzw. einem Land zu verbessern. Die Erkenntnis, dass die analysierten Unternehmen in ihrer Lieferantenbewertung fast vollumfänglich die SDGs 1 (Keine Armut), 2 (Kein Hunger) und 3 (Gesundheit und Wohlergehen) adressieren, wird an dieser Stelle von den Autoren hinterfragt. Weitere Forschungsaktivitäten sind notwendig, um SDGs zu priorisieren. Ein direkter Einfluss durch unternehmenspolitische Aktivitäten auf die SDGs 1 (Keine Armut), 2 (Kein Hunger) und 3 (Gesundheit und Wohlergehen) wird bezweifelt, sehr wohl kann davon ausgegangen werden, dass z. B. durch die Schulung von Bauern in Entwicklungsländern, der Einsatz von Pestiziden reduziert werden kann, wodurch ein gesundes Leben in dieser Region möglich wird. Somit trägt SDG 4 (Hochwertige Bildung) dazu bei, SDG 3 (Gesundheit und Wohlergehen) indirekt zu erfüllen.

3.5 Herausforderungen und Ausblick Der letzte Abschnitt macht deutlich, dass gerade im Bereich der Priorisierung von SDGs noch Forschungsbedarf besteht. Es gibt erste Forschungsansätze, die die Überlappung der einzelnen Unterziele der SDGs visualisiert haben. Diese Ergebnisse liefern sicherlich erste hilfreiche Ansätze, nachhaltige unternehmerische Maßnahmen besser auf die SDGs

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E. Fröhlich und K. Steinbiß

auszurichten. Darüber hinaus sollten jedoch noch Branchenanalysen durchgeführt werden, die aufbauend auf einem Status quo „SDG-Hierarchien“ definieren, um nachhaltiges Handeln deutlich zielorientierter zu implementieren. Dieser Beitrag verdeutlicht, wie wichtig die Etablierung nachhaltiger LieferantenBeschaffer-Beziehungen für die Realisierung einer nachhaltigen Supply Chain ist. Nachhaltiges Lieferantenmanagement bietet zahlreiche Ansatzpunkte, um SDGs erfolgreich umzusetzen. Da viele Beschaffungsabteilungen auch heutzutage noch recht operativ aufgestellt sind, bedarf es in diesem Bereich ebenfalls weiterer Forschungsaktivitäten, um speziell zu verdeutlichen, wie förderlich Lieferanten für die Erfüllung nachhaltiger Ziele im beschaffenden Unternehmen sind.

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3  Integration der „Sustainable Development Goals“ …

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Prof. Dr. Lisa Fröhlich studierte Betriebswirtschaftslehre an der Ludwig-Maximilian-Universität in München sowie an der Universität zu Köln. Nach ihrer Dissertation zum Thema „Lieferantenbewertung“ setzte sie ihre wissenschaftliche Laufbahn am Seminar von Prof. Dr. U. Koppelmann an der Universität zu Köln fort und beendete 2005 ihre Habilitation zum Thema „Modellierung von Berufsbildern in der Beschaffung“. Seit Ende 2007 ist Elisabeth Fröhlich Professorin an der Cologne Business School und ist dort verantwortlich für den Bereich Strategisches Beschaffungsmanagement. Seit dem 01.05.2013 leitet sie als Präsidentin der CBS die Hochschule. Ihre aktuellen Forschungsschwerpunkte liegen in den Themenfeldern Nachhaltiges Supply Chain Management,

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E. Fröhlich und K. Steinbiß Qualifizierung im Einkauf sowie im strategischen Lieferantenmanagement. Vor dem Hintergrund der zunehmenden Bedeutung von CSR und Digitalisierung, liegt das Thema Einkauf 4.0 ebenfalls im Forschungsfokus. Organisatorische und personelle Herausforderungen eines „agilen Einkaufs“ sind weitere Publikationsfelder. Prof. Dr. Kristina Steinbiß  promovierte zum Thema „Beschaffungsmarktwahl“ an der Universität zu Köln, bevor sie in eine Managementberatung wechselte und dort vorrangig die DAX 100 Unternehmen im Bereich Marketingcontrolling und Unternehmensführung beriet. Seit März 2004 ist sie Professorin für Marketing bei den Wirtschaftsingenieuren der ESB Business School an der Hochschule Reutlingen. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen im B2B-­ Marketing.

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Sustainable Supply Chain Governance – Multinationale Unternehmen als Akteure nichtstaatlicher Governance in globalen Lieferketten Klaus Fischer und Marina Jentsch

Zusammenfassung

Multinational agierenden Unternehmen wird im politischen und wissenschaftlichen Diskurs ein hohes Steuerungs- und Einflusspotenzial bei der Umsetzung globaler Nachhaltigkeitsziele in Lieferketten beigemessen. Durch die (Mit-)Gestaltung, Durchsetzung und Überwachung von Regeln und Standards in globalen Lieferketten tragen sie potenziell dazu bei, staatlichen Regulierungslücken in Bereichen wie Menschenrechte, Arbeitsbedingungen, Korruption und Umweltschutz zu begegnen. Im Gegensatz zu staatlichen Governance-Akteuren, sind Unternehmen allerdings nicht per se dazu legitimiert, gemeinwohlorientierte oder gar hoheitliche Aufgaben wahrzunehmen und bestehende „Governance-Gaps“ in Räumen begrenzter Staatlichkeit zu füllen. In diesem Beitrag wird daher der Frage nachgegangen, welche Anforderungen sich aus der Diskussion um die Legitimität und Effektivität von verschiedenen Formen unternehmerischer Steuerung in globalen Lieferketten an die Entwicklung geeigneter Beurteilungsmaßstäbe von Sustainable Supply Chain Governance einerseits sowie an die Gestaltung existierender und neuer Management- und Steuerungsinstrumente in der Lieferkette andererseits ergeben.

K. Fischer ()  E-Mail: [email protected] M. Jentsch  E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 W. Wellbrock und D. Ludin (Hrsg.), Nachhaltiges Beschaffungsmanagement, https://doi.org/10.1007/978-3-658-25188-8_4

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K. Fischer und M. Jentsch

4.1 Politisierung von Unternehmen im Zuge der Globalisierung Vor dem Hintergrund des Nachhaltigkeitsdiskurses und mit Perspektive auf globale Wertschöpfungs- und Lieferketten wird eine ambivalente Rolle multinationaler Unternehmen deutlich. Sie nutzen durch globale Beschaffungs-, Produktions- und Investitionsprozesse einerseits gezielt ökonomische Vorteile, wie geringere Arbeits- und Produktionskosten in Entwicklungs- und Schwellenländern, die oft mit niedrigen nachhaltigkeitsrelevanten Standards einhergehen. Andererseits tragen sie durch ihre Aktivitäten in globalen Wertschöpfungsketten dazu bei, staatlichen Regulierungslücken und sogenannten „Governance Gaps“ in Räumen begrenzter Staatlichkeit durch die (Mit-)Gestaltung, Durchsetzung und Überwachung von Regeln und Standards in Bereichen wie Menschenrechte, Arbeitsbedingungen, Korruption und Umweltschutz zu begegnen (Tihany et al. 2014, S. 1540 f.; Matten et al. 2010, S. 144), was wiederum zur Anhebung von Systemstandards und damit dem Verlust der geschilderten ökonomischen Vorteile führen kann. Insbesondere multinational agierenden Unternehmen wird diesbezüglich in der politikwissenschaftlichen Forschung sowie in der Ökonomie- und Managementforschung (Benn und Dunphy 2013, S. 9 f.; Idowu 2015, S. XI ff.), aber auch im allgemeinen politischen und öffentlichen Diskurs, wie etwa in der Agenda 2030, ein hohes Steuerungs- und Einflusspotenzial bei der Umsetzung globaler Nachhaltigkeitsziele beigemessen. So rückt die mit der Globalisierung eng verbundene Debatte um die Grenzen nationalstaatlicher Steuerung die Bedeutung alternativer Governance-Formen in den Vordergrund, darunter auch die nachhaltigkeitsbezogene Steuerung ökonomischer Aktivitäten in globalen Produktionsregimen (Messner 2003, S. 103 ff.; Lütz 2008, S. 133 ff.). Diskursfelder zu Wirtschafts- und Unternehmensethik sowie unternehmerischer Verantwortungsübernahme und Nachhaltigkeitsorientierung heben die Relevanz von fokalen Unternehmen (siehe Abschn. 4.2) für Nachhaltigkeit in globalen Wertschöpfungs- und Lieferketten zudem hervor, was sich auch in der Entwicklung entsprechender theoretisch-konzeptioneller, politischer und managementbezogener Ansätze zeigt. Hierzu zählen z. B. Corporate Social Responsibility (CSR) als politischer Ansatz (vgl. Politik der EU-Kommission), als Zweig der Managementforschung (vgl. Crane et al. 2008) sowie im Sinne einer Erweiterung von Corporate Governance (vgl. Mason und Simmons 2014) und auch die Konzeptualisierung von Unternehmen als „Corporate Citizens“ in diesem Kontext (vgl. Matten et al. 2010). Die mit der beschriebenen Relevanz- und Verantwortungszuschreibung einhergehende Politisierung multinational agierender Unternehmen wird aber ebenso kritisch diskutiert. So wird die grundsätzliche Frage gestellt, ob Unternehmen jenseits ihrer ökonomischen Aktivitäten überhaupt als sozial verantwortliche Governance-Akteure auftreten und gemeinwohlorientierte Aufgaben übernehmen sollten, u. a. weil sie hierzu von den

4  Sustainable Supply Chain Governance – Multinationale …

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betroffenen Gesellschaften nicht politisch legitimiert wurden (Palazzo und Scherer 2008, S. 773–775). Doch trotz dieser Kritik und der geschilderten Relevanzzuweisung an Unternehmen als nichtstaatliche Governance-Akteure findet bisher kaum eine systematische Auseinandersetzung darüber statt, welche Beurteilungsmaßstäbe für private Governance und insbesondere die Qualität nachhaltigkeitsbezogener Governance-Prozesse in globalen Wertschöpfungsketten herangezogen werden können. In diesem Beitrag wird daher der Frage nachgegangen, welche Anforderungen sich aus der governancetheoretischen Diskussion um Legitimität an die Entwicklung geeigneter Beurteilungsmaßstäbe von Sustainable Supply Chain Governance einerseits sowie an die Gestaltung existierender und neuer Management- und Steuerungsinstrumente in der Lieferkette andererseits ergeben. Vor der Ableitung möglicher Beurteilungskriterien und deren exemplarischer Anwendung auf das Instrument der Materialitätsanalyse werden im folgenden Abschnitt der Begriff der Sustainable Supply Chain Governance abgegrenzt und die theoretische Begründung sowie praktische Umsetzung dieser Steuerungsform erörtert.

4.2 Sustainable Supply Chain Governance Der Trend zur Verlagerung der Produktion in die Lieferkette hält seit Jahren an und führt dazu, dass in vielen Branchen bereits heute mehr Wertschöpfung in Lieferbetrieben als in unternehmenseigenen Werken stattfindet.1 Dies ist mit einem zunehmenden Koordinationsaufwand für fokale multinationale Unternehmen verbunden, wenn sie im Zentrum einer komplexen Supply Chain stehen, also zwischen ihren Downstream-Gliedern (Einzelhandel, Verbraucher, Betriebe der Entsorgung oder Wiederverwertung) und den Upstream-Lieferanten (von der Rohstoffquelle bis zur Produktion von Teilen). Um in diesem Setting die Leistungsfähigkeit des Systems sicherzustellen, sind Koordinationsmechanismen jenseits klassischer hierarchischer oder marktlicher Strukturen erforderlich, welche eine Balance zwischen den Eigeninteressen der formal eigenständigen Akteure der Lieferkette und der gegenseitigen Abhängigkeit dieser herstellen (Richey et al. 2010, S. 237). Neuere governance-orientierte Ansätze befassen sich dementsprechend mit den Aspekten einer Chain Governance, das heißt mit dem Problem der Durchsetzung von Produkt-, Prozess- und Logistik-Parametern innerhalb von (internationalen) Wertschöpfungsketten (Humphrey und Schmitz 2001, S. 19; Gereffi et al. 2005, S. 80). Auch Sozial- und Umweltstandards können als handlungsleitende Prozessparameter in Wertschöpfungsketten verstanden werden, die durch

1So

sind z. B. Kostenanteile zugekaufter Güter in der Automobilindustrie von 1997 bis 2010 von 38 % auf 65 % angestiegen (Semmler und Mahler 2010, S. 25).

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K. Fischer und M. Jentsch

geeignete Instrumente eines Sustainable Supply Chain Managements zu implementieren sind. Diese Parameter können dabei nicht nur vom fokalen Unternehmen in der Kette gesetzt und kontrolliert werden, sondern auch von externen Akteuren, wie zum Beispiel von staatlichen Einrichtungen in Form gesetzlicher Vorgaben oder von internationalen Organisationen, wie im Fall der ILO Kernarbeitsnormen sowie durch NGOs (Messner 2003, S. 106). Sustainable Supply Chain Governance bezeichnet demnach alle Steuerungsformen zur Durchsetzung nachhaltigkeitsbezogener Parameter innerhalb von globalen Wertschöpfungsketten – über nationalstaatliche und organisationale Grenzen hinweg.

4.2.1 Theoretische Begründung Neben den erwähnten Koordinationserfordernissen sind nachhaltigkeitsbezogene Steuerungsansätze in der Supply Chain vor allem auf den Diskurs um unternehmerische Verantwortungsübernahme zurückzuführen. Aus organisationstheoretischer Perspektive lassen sich die Entstehung und Verbreitung von Praktiken einer Sustainable Supply Chain Governance damit unter anderem institutionalistisch erklären (vgl. hierzu Fischer 2017, S. 217 ff.; Hiß 2006, S. 116 ff.), beispielsweise unter Bezugnahme auf die Entstehungsmechanismen institutioneller Isomorphien (DiMaggio und Powell 1983): Unternehmen greifen demnach zu Instrumenten des Sustainable Supply Chain Managements, weil sie hierzu durch entsprechende Vorgaben gezwungen werden („erzwungener Isomorphismus“), weil sie unter Rückgriff auf bekannte und als legitim geltende Ansätze Unsicherheiten reduzieren möchten („mimetischer Isomorphismus“) oder weil diese Instrumente sowie Nachhaltigkeit und Verantwortungsübernahme in der Lieferkette zunehmend zum „State of the Art“ in der Ausbildung und Sozialisierung von Entscheidungsträgern werden („normativer Isomorphismus“). Neben institutionalistischen Erklärungsmustern sind akteursbezogene Zugänge für die theoretische Begründung von Sustainable Supply Chain Governance relevant, wobei hier die Stakeholder-Theorie als wohl wichtigster konzeptioneller Bezugspunkt für die Entstehung und Ausgestaltung von CSR-Praktiken im Allgemeinen und in der Supply Chain im Besonderen zu sehen ist: Dass fokalen Unternehmen mittlerweile Verantwortung für die Einhaltung von Sozial- und Umweltstandards in ihren globalen Lieferketten zugeschrieben wird und sie daraufhin entsprechende Managementinstrumente etablieren, ist vor allem auf die Forderungen verschiedener Stakeholdergruppen und den gesellschaftlichen wie politischen CSR-Diskurs zurückzuführen, der von externer Seite an die Unternehmen herangetragen wird (Curbach 2009, S. 78 ff.). Dementsprechend spielt in der unternehmerischen Nachhaltigkeits- und CSR-Politik der Begriff „Stakeholder“ eine zentrale Rolle. Schon seine frühe Abgrenzung durch Freeman im Jahr 1984 macht jedoch deutlich, dass nicht alle Stakeholder „über einen Kamm geschoren“ werden können. Er definiert: „Stakeholder = Any group or individual

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who can affect or is affected by the achievement of the firm’s objectives” (Freeman et al. 2010, S. 25). Diese Definition umfasst also sowohl Stakeholder im engeren Sinne, die eine spezifische Investition, beispielsweise in Form von Human-, Sozial- oder Finanzkapital getätigt haben und damit in einem reziproken Abhängigkeitsverhältnis zum Unternehmen stehen, als auch solche Individuen und Gruppen, die „nur“ von den positiven oder negativen externen Effekten des Unternehmenshandelns betroffen sind, ggf. auch ohne überhaupt an den marktlichen Transaktionen des Unternehmens beteiligt zu sein (Stakeholder im weiteren Sinn) (Sacconi 2004, S. 7). Die Zahl der potenziell von einem Unternehmen zu betrachtenden Stakeholderinteressen ist damit zunächst unbegrenzt, was in der Praxis des Stakeholdermanagements zur zentralen Herausforderung wird. Hier gilt es zu entscheiden, welche Akteure und welche ihrer Ansprüche für den Unternehmenserfolg besonders relevant sind. Der zentrale Unterschied liegt für Unternehmen demnach darin, ob ein Stakeholder in der Lage ist, die Erreichung der Unternehmensziele zu beeinflussen („can affect“) oder er zwar vom Unternehmenshandeln betroffen ist („is affected“), aber keine weitere Einflussmöglichkeit hat. Welchen Forderungen ein Unternehmen dabei eher entspricht, hängt schließlich auch von deren Macht und dem Sanktionspotenzial der entsprechenden Stakeholdergruppe ab (Steimle 2008, S. 176). Dies kann dazu führen, dass Gruppen, die vom Unternehmenshandeln beeinflusst oder beeinträchtigt werden, ohne dabei ihre Ansprüche gegenüber dem Unternehmen artikulieren und durchsetzen zu können, nicht ausreichend Berücksichtigung finden. Für die weiterführende Diskussion von Legitimität und Effektivität von Sustainable Supply Chain Governance soll der eher diffuse Stakeholder-Begriff daher durch die Unterscheidung von primären und sekundären Stakeholdern sowie Interessengruppen konkretisiert werden (Garvare und Johansson 2010, S. 739). • Primäre Stakeholder besitzen unmittelbar Sanktionspotenzial gegenüber dem Unternehmen, weil sie ihm kritische Ressourcen zur Verfügung stellen (z. B. Kunden, bestimmte (nicht substituierbare) Lieferanten, Gesetzgeber) • Sekundäre Stakeholder stellen für das Unternehmen zwar keine kritischen Ressourcen zur Verfügung, haben aber ausreichende Organisationsfähigkeit, um mittelbar Sanktionspotenzial aufzubauen, meist durch Einflussnahme auf die primären Stakeholder (z. B. Nichtregierungsorganisationen oder Medien, die Kundenmacht mobilisieren, oder Gewerkschaften) • Interessengruppen sind vom Handeln des Unternehmens und seinen wirtschaftlichen Aktivitäten betroffen, besitzen aber keine ausreichenden Sanktionsmöglichkeiten zur Durchsetzung ihrer (legitimen) Ansprüche etwa wegen mangelnder Organisationsfähigkeit oder weil sie an das Unternehmen keine kritischen Ressourcen liefern (z. B. Mitarbeiter in Zulieferbetrieben, die Know-how-arme, leicht substituierbare Tätigkeiten ausführen).

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4.2.2 Praktische Ausgestaltung Sustainable Supply Chain Governance kann durch verschiedene Ansätze und Instrumente eines nachhaltigkeitsbezogenen Lieferkettenmanagements operationalisiert werden. Wie auch bei anderen Ansätzen des CSR-Managements, sind bei der Konzeption dieser Instrumente zwei Gestaltungsparameter relevant, welche die Legitimität und Effektivität der Governance entsprechend beeinflussen (siehe Abschn. 4.3 und 4.4). • Inhaltliche Ausgestaltung: Unternehmen wählen aus der Fülle möglicher Nachhaltigkeitsthemen bestimmte Issues aus, die sie in ihren Lieferketten (zunächst) behandeln. Von dieser Priorisierung hängt ab, ob tatsächlich wichtige CSR-Issues mit dringendem Handlungsbedarf für betroffene Akteure entlang der Lieferkette adressiert werden. • Methodische Ausgestaltung: Unternehmen wählen bzw. entwickeln verschiedene Instrumente, die sie in ihr nachhaltigkeitsbezogenes Lieferkettenmanagement implementieren, was entsprechende Auswirkungen auf die Effektivität der resultierenden Governance-Prozesse haben kann. Das Problem der inhaltlichen Gestaltung und Auswahl relevanter Nachhaltigkeitsthemen wird ausführlich am Beispiel der Materialitätsanalyse in Abschn. 4.4 diskutiert. Was die methodische Gestaltung angeht, steht Unternehmen eine Reihe von Möglichkeiten zur Integration von Nachhaltigkeitsaspekten in das Lieferkettenmanagement zur Verfügung. Die meisten Unternehmen beginnen hier mit der Formulierung von Anforderungen an Lieferanten in Form von Sozialchartas, Verhaltenskodizes oder (seltener) Vertragsklauseln. Die direkten Lieferanten (1st-Tiers) werden aufgefordert, diesen Vorschriften zu folgen und oft auch für deren Einhaltung durch Sub-Lieferanten (2nd- bis n-Tiers) zu sorgen. Überprüft wird die Compliance mit Methoden wie Selbst-Auskunft (Self-Assessment) und Lieferantenaudits durch Unternehmensvertreter oder externe Auditoren. Die resultierenden Governance-Prozesse basieren auf den elementaren Koordinationsmechanismen Weisung und Kontrolle und führen dazu, dass die Verantwortung für die Einhaltung von Sozial- und Umweltstandards von Ebene zu Ebene in der Lieferkette weitergegeben wird. Die praktische Umsetzung dieser Instrumente ist dabei mit erheblichen Herausforderungen verbunden (vgl. z. B. Jentsch und Zink 2017, S. 204 f.; Hobelsberger 2012, S. 119–121): • Hoher Koordinationsaufwand für Lieferanten, die in mehrere Supply Chains eingebunden sind und (oft als KMU) nur begrenzt über Ressourcen verfügen, um für die Kaskadierung der Anforderungen diverser fokaler Unternehmen in die Upstream-Ketten hinein zu sorgen; • Mangelnde Ausgestaltung der Kontrollinstrumente, welche die tatsächliche Situation in den Betrieben oft nicht ausreichend abbilden (Manipulationsgefahr bei Self-Assessments und angekündigten Audits, begrenzte Abdeckung der Lieferkette etc.).

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Zur Verbesserung der Effektivität der genannten Methoden sollten weitere Lösungen mit einer stärkeren Wirkung und einer angemessenen Verteilung des Ressourceneinsatzes zwischen beschaffenden Unternehmen und Lieferanten erarbeitet werden. Sinnvoll ist zudem die Unterstützung dieser Maßnahmen durch proaktive Instrumente des Sustainable Supply Chain Managements, die nicht bestehende Probleme in Lieferbetrieben fokussieren, sondern auf die Vermeidung von CSR-Risiken abzielen: • Strategisches Foresight und Risikomanagement zur Identifikation von relevanten Issues in Beschaffungsländern, aber auch von kritischen Beschaffungsobjekten, • Beteiligung an Multi-Stakeholder-Dialogen neben anderen Akteuren, wie NGOs oder Vertretern der Politik zur Mitwirkung an der Gestaltung von weiteren Governance-Instrumenten (z. B. gesetzlichen Regulierungen oder freiwilligen privaten Standards), • Lieferantenentwicklung zur Steigerung der CSR-Kompetenz vor Ort, • Berücksichtigung von CSR bei der Lieferantenauswahl – ähnlich den Qualitätsaudits vor der Vergabe eines Auftrags (Jentsch und Zink 2017, S. 205–208). Insgesamt werden in der Literatur zahlreiche Hemmfaktoren für die Umsetzung eines nachhaltigkeitsorientierten Lieferkettenmanagements genannt (vgl. Jentsch und Zink 2017, S. 202). Hierzu zählen z. B. widersprüchliche kurz- und langfristige strategische Ziele, unterschiedliche Bewertungen der Relevanz von Nachhaltigkeit auf CEO-Ebene, die generell hohe Komplexität des Themas und der damit verbundene Mangel an Wissen und Kompetenzen sowie fehlende Transparenz und Informationsasymmetrien in Lieferantennetzwerken. Weitere Gründe sind die zum Teil hohen Kosten der Maßnahmen vor dem Hintergrund eines schwer kalkulierbaren Nutzens und einer eher geringen Relevanz für Endkunden.

4.3 Mögliche Beurteilungskriterien von Sustainable Supply Chain Governance Nachhaltigkeitsfragestellungen in globalen Lieferketten sind durch denationalisierte, d. h. nicht von einzelnen Staaten alleine zu bewältigende, Problemlagen sowie globalisierte ökonomische Transaktionen gekennzeichnet. Schon aus diesem Grund können Nationalstaaten nicht der alleinige Steuerungsakteur bleiben. Wie in Abschn. 4.1 beschrieben, werden multinationale Unternehmen und ihr Handeln in den letzten Jahrzehnten dementsprechend zunehmend politisiert: Es wird an sie vonseiten verschiedener Stakeholdergruppen ein hohes Maß an erwarteter nachhaltigkeitsbezogener Verantwortungsübernahme herangetragen, darüber hinaus sehen manche Autoren Unternehmen aber auch als Akteure, die selbst aktiv zur Delegitimierung staatlicher Governance beitragen („State Bashing“) und sich bewusst als Akteure des globalen Regierens inszenieren, etwa durch Foren wie dem UN Global Compact oder dem Davoser Weltwirtschaftsforum (Dingwerth und Weise 2002, S. 112 f.; Palazzo und Scherer 2008,

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S. 774). Insgesamt stellt sich damit weniger die Frage, ob es zu einer Politisierung von Unternehmen kommen darf und soll, sondern vielmehr, wie diese zu gestalten ist. Eine einseitige Mitwirkung und Einflussnahme auf die Politik vonseiten der Wirtschaft, ohne dass diese selbst politisiert wird, kann es demnach nicht geben: „In dem Maße, wie der Markt gegenüber der Politik an Boden gewinnt, wird der Markt politisiert.“ (Zürn 2008, S. 72). Wie die meisten Akteure nichtstaatlicher Governance, etwa internationale MultiStakeholder-Organisationen oder NGOs, sind auch Unternehmen nicht durch Wahlen oder andere Verfahren demokratisch legitimiert. Damit stellt sich die Frage, wie ihre fortschreitende Politisierung zu bewerten ist und welche Problemlösungsbeiträge, aber auch Risiken mit ihnen verbunden sein können (Palazzo und Scherer 2008, S. 773 f.). Allgemein betrachtet, hängt die Legitimität einer politischen Ordnung bzw. politischer Prozesse davon ab, ob sie von den betroffenen Bürgern akzeptiert und unterstützt sowie bezogen auf die gemeinschaftlich geteilten Wertvorstellungen als rechtens anerkannt werden (Beisheim 2004, S. 26 f.). Im Fall staatlicher Governance lassen sich die relevanten Governance-Akteure in Regierende und Regierte unterscheiden, der Bürger ist unmittelbarer Bezugspunkt für die Legitimation politischer Entscheidungsprozesse. Eine solch klare Trennung ist bei über den Nationalstaat hinausgehenden Governance-Prozessen, wie im Fall von Sustainable Supply Chain Governance, nicht möglich. Ihre Effektivität und Legitimität ist letztlich aus der Perspektive unterschiedlicher Stakeholdergruppen zu beurteilen, was eine Bewertung entsprechend erschweren kann. Verglichen mit staatlicher Governance ist die „Stakeholder-Frage“ hier wesentlich schwieriger zu beantworten: Dienen beispielsweise Verhaltenskodizes und Nachhaltigkeitsberichterstattung tatsächlich den vor Ort betroffenen Menschen oder eher westlichen Stakeholdergruppen wie kritischen Aktionären, Kunden und Mitarbeitern? Offen bleibt damit „für wen Governance geleistet wird und somit gegenüber wem sich die Akteure überhaupt zu rechtfertigen haben“ (Schmelzle 2008, S. 163). Als Ausgangspunkt für die weitere Diskussion werden zunächst die grundlegenden demokratietheoretischen Kriterien der Input-, Throughput- und Output-Legitimität vorgestellt. Sie werden in den folgenden Abschnitten als normatives Rahmenkonzept für die Entwicklung von Beurteilungskriterien für Sustainable Supply Chain Governance herangezogen und zu deren Systematisierung genutzt. • Input-Legitimität: Demokratische Verfahren der Entscheidungsfindung, welche die Partizipation der Betroffenen bzw. Regierten sicherstellen (zum Beispiel Wahlen), gelten als Voraussetzungen für Input-Legitimität. Sie zielt darauf ab, „dass politische Entscheidungen direkt oder indirekt auf den authentischen Präferenzen der durch diese Entscheidungen betroffenen Bürgerinnen und Bürger beruhen“ (Beisheim 2004, S. 27). • Throughput-Legitimität ist dann gegeben, wenn eine politische Entscheidung auf einem fairen Verfahren der Entscheidungsfindung beruht (vgl. Dingwerth 2004, S. 86 f.); verglichen mit den Kriterien der Input- und Output-Legitimität wird dieses Kriterium weniger häufig diskutiert.

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• Output-Legitimität kommt zustande, wenn der durch politische Prozesse erzielte Problemlösungsbeitrag von den Betroffenen anerkannt wird und sich politisches Handeln durch den Erfolg bzw. die Zufriedenheit der Bürger mit dieser Leistung auszeichnet (Brunnengräber und Weber 2005, S. 427). Damit beschreibt der Begriff der Output-Legimität gleichsam die Effektivität politischer Prozesse, weshalb beide Begriffe auch synonym verwendet werden (Kenis und Raab 2008, S. 136 f.). Die vorgestellten grundlegenden Legitimitätskriterien entstammen der demokratietheoretischen Forschung und beschreiben die Anforderungen an das Regieren auf nationalstaatlicher Ebene. Dies erschwert die unmittelbare Übertragung der Anforderungen auf Governance in Lieferketten. So handelt es sich bei diesen Prozessen weder um klassische Regierungsformen, noch beschränkt sich ihr Wirkungskreis auf die Ebene des Nationalstaats. Dabei ist die Frage, inwieweit Governance-Formen jenseits des Nationalstaats überhaupt anhand klassischer demokratietheoretischer Kriterien bewertet werden können, Gegenstand der aktuellen politikwissenschaftlichen Debatte (vgl. hierzu exemplarisch den Leviathan Sonderband „Der Aufstieg der Legitimitätspolitik“, Geis et al. 2012). Um sich möglichen Beurteilungskriterien für die Legitimität und Effektivität von Supply Chain Governance zu nähern, sind daher geeignete Weiterentwicklungen der vorgestellten klassischen Legitimitäts-Kriterien zu diskutieren. Dingwerth und Frisch stellen hier aus verschiedenen Diskursfeldern geeignete Ansätze zur Verfügung, die kurz vorgestellt und anschließend auf den konkreten Anwendungsbereich der Supply Chain Governance übertragen werden sollen (Dingwerth 2004, S. 86 ff.; Frisch 2007, S. 721–723). So schlägt Dingwerth zur Konkretisierung eines normativen Begriffs demokratischer Legitimität jenseits des Nationalstaats die folgenden Kriterien vor (Dingwerth 2004, S. 86 ff.): • Angemessene Einbindung aller Betroffenen (Inklusivität), • Transparenz und politische Verantwortlichkeit sowie • Argumentativer Charakter der Meinungs- und Willensbildung (diskursive Qualität). Ansätze für eine weiterführende Konkretisierung dieser Kriterien können aus dem von Frisch entwickelten Kriterienset zur Messung deliberativer Politik gezogen werden (Frisch 2007, S. 722 f.): • Universalität: Für alle von der Entscheidung potenziell Betroffenen diskriminierungsfrei zugänglicher Diskussionsraum; Grad der Partizipation, • Freiheit: Möglichkeit des freien Austauschs von Argumenten, keine Determination von Themen, • Rationalität: Konsensorientierte, argumentative Auseinandersetzung zu Fragen des Gemeinwohls; keine strategische Diskussion von Einzelinteressen; argumentatives Handeln versus strategisches Bargaining,

Messung der tatsächlichen „Nachhaltigkeitseffekte“, z. B. durch Methoden des Life-CycleAssessments (nicht beschränkt auf ökologische Aspekte) und weitere Evaluationsinstrumente

OutputLegitimität

Was ist der tatsächliche Beitrag zur Effektivität Verbesserung negativer sozialer, ökologischer oder ökonomischer Auswirkungen globaler Wertschöpfung?

Stakeholder-Beteiligung als Surrogat für Input-Legitimität: Multi-Stakeholder-Dialoge, Einladung von Interessengruppen bzw. repräsentative Erhebung ihrer Anliegen

Operationalisierung

Nutzung von Crowd-Sourcing als neuem Instrument deliberativer Politik Öffentlichkeit bei der Gestaltung der Governance-Instrumente (z. B. bei der Entwicklung von Bewertungssystematiken etc.)

Inklusivität, Partizipation Inwieweit werden welche Arten von Stakeholdern in die Entstehung und Umsetzung von Governance-Instrumenten und Prozessen eingebunden? Wie werden die Anliegen von nicht artikulations- und sanktionsfähigen Interessengruppen abgebildet und einbezogen?

Anforderungen

Transparenz, Öffentlichkeit, Throughput- Beruhen die Entscheidungen auf Legitimität einem fairen und transparenten Ver- Gerechtigkeit fahren der Entscheidungsfindung?

Legitimitätsformen InputLegitimität

Leitfragen

Tab. 4.1  Mögliche Beurteilungskriterien für Sustainable Supply Chain Governance. (Quelle: Eigene Darstellung)

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• Öffentlichkeit: Zugang zu relevanten Informationen (z. B. Protokollen); offene Beratungen, • Responsivität: Rückkopplung des politischen Handelns an die Interessen der repräsentierten Menschen. Die von Dingwert und Frisch zur Diskussion gestellten Kriterien zielen vorrangig auf die Verfahrenslegitimität (Input- und Throughput-Legitimität) ab. Um das gesamte Spektrum der geschilderten legitimationstheoretischen Kriterien abzudecken, sind diesen weitere Kriterien zur Seite zu stellen, welche auch die Effektivität von Prozessen einer Supply Chain Governance abbilden und damit die Output-Legitimität betrachten. Insgesamt gilt es also zu beantworten, wem die entsprechenden Governance-Prozesse letztlich nützen bzw. wessen Interessen sie abbilden, ob Betroffene adäquat eingebunden sind und ob schließlich ein tatsächlicher Beitrag zur Verbesserung negativer sozialer, ökologischer oder ökonomischer Auswirkungen globaler Wertschöpfung erzielt werden kann (Fischer 2017, S. 245 ff.). Aus den vorgestellten Kriterien und Vorüberlegungen kann schließlich das in Tab. 4.1 dargestellte Kriterienset zur Beurteilung von Supply Chain Governance abgeleitet werden:

4.4 Materialitätsanalyse als Instrument einer Sustainable Supply Chain Governance Mit dem Fortschreiten der gesellschaftlichen, wissenschaftlichen und politischen Diskussion um Sozial- und Umweltstandards wird immer mehr Wissen über globale CSR-Issues generiert, was wiederum zu steigenden Anforderungen an Unternehmen und einer zunehmenden Komplexität der Nachhaltigkeitsgovernance führt. Ein Beispiel dafür ist der Leitfaden zur gesellschaftlichen Verantwortung ISO 26000 (DIN 2011), der über 100 Seiten Handlungsempfehlungen an Unternehmen enthält und sieben unterschiedliche und in sich heterogene Themenfelder abdeckt: von Menschenrechten bis hin zu Konsumentenanliegen. Dieses Regelwerk ist dabei nur ein Ausschnitt eines komplexen normativen Rahmens für unternehmerische Nachhaltigkeit, der neben ISO-Normen, weitere (Branchen-)Standards, Bewertungskriterien von CSR-Rankings sowie mehrere Hard- und Soft-Laws enthält. Zu beachten ist hierbei, dass lediglich ein Teil der relevanten Stakeholder (vgl. Abschn. 2.1) an der Gestaltung dieses normativen Rahmens beteiligt ist. Da die Umsetzung zahlreicher Nachhaltigkeitsanforderungen und vor allem deren Integration in die Supply Chain Governance mit einem hohen Personal- und Kostenaufwand verbunden wäre, bestimmen Unternehmen im Rahmen ihrer CSR-Strategien, welche Themen an ihren eigenen Standorten und in den Lieferketten adressiert werden sollen. Als Priorisierungsmethode verbreitet sich aktuell das Instrument der Materialitätsanalyse (auch bekannt als Wesentlichkeitsanalyse), welches traditionell zur Erstellung von Finanzberichten eingesetzt wird und derzeit von der Global Reporting

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Initiative (GRI) und AccountAbility auch für die Anwendung auf Sozial- und Umweltstandards etabliert und geprägt wird. Zwar geht es dabei in erster Linie um die Auswahl der Themen für Unternehmensberichte, doch getreu dem Motto „walk the talk“ bestimmt diese Auswahl maßgeblich die CSR-Strategie und damit auch die inhaltliche Gestaltung der Supply Chain Governance: Unternehmen gehen in der Lieferkette solche Themen an, über die sie in ihrem CSR-Bericht Rechenschaft ablegen müssen. Es stellt sich dabei die Frage, ob die Materialitätsanalyse aus Sicht der Governance-Theorie eine geeignete Methode für die Verbesserung der Sozial- und Umweltstandards in der Lieferkette ist und den in Abschn. 4.3 dieses Beitrags definierten Kriterien entspricht. Im aktuellen GRI Standard werden Themen als wesentlich bezeichnet, wenn sie signifikante ökonomische, ökologische und soziale Auswirkungen einer Organisation widerspiegeln und die Beurteilungen und Entscheidungen der Stakeholder beeinflussen. Nach dem AccountAbility Standard AA1000AP sind Themen wesentlich, wenn sie tatsächlich oder potenziell kurz-, mittel- oder langfristige Auswirkungen auf das Handeln und die Performance einer Organisation und/oder seiner Stakeholder haben können (AccountAbility 2018, S. 20). Der Analyseprozess besteht aus der Recherche und Priorisierung von Auswirkungen. Die Anforderungen an diesen Prozess sind von AccountAbility wie folgt definiert: Unternehmen sollen alle relevanten internen und externen Stakeholder einbeziehen, umfassende und ausbalancierte Informationen beschaffen, den Umfang der Erhebung und die Priorisierungskriterien bestimmen und transparent darlegen (AccountAbility 2018, S. 20–22). GRI nennt zahlreiche Informationsquellen für die Recherche der Auswirkungen – von der eigenen Wettbewerbsstrategie über durch Stakeholder artikulierte Anliegen bis hin zu breiten gesellschaftlichen Erwartungen. Als Priorisierungskriterium wird eine grobe Orientierung vorgegeben: Die Auswirkungen sind signifikant, wenn sie wichtig genug erscheinen, um eine Handlung der Organisation zu erfordern. Ergebnisse der Analyse werden in einer Matrix mit den beiden Definitionskriterien der Materialität abgebildet: „Signifikanz der wirtschaftlichen, ökologischen und gesellschaftlichen Auswirkungen“ und „Einfluss auf die Beurteilungen und Entscheidungen der Stakeholder“. Wesentliche Themen können hohe Werte auf beiden oder einer der Achsen aufweisen (siehe Abb. 4.1). Diese Gestaltungsempfehlungen sind vage und lassen Interpretationsspielraum für die Praxis. Generell ist Unklarheit eine große Schwäche der Materialitätsanalyse: Bereits als Instrument der finanziellen Berichterstattung, die mit messbaren quantitativen Indikatoren arbeitet, gilt sie als wichtig, aber problematisch; umso schwieriger ist deren Implementierung für oft qualitative Nachhaltigkeitsinformationen (Canning et al. 2018, S. 2). Die Einschätzung der Wesentlichkeit erfolgt meistens subjektiv und intuitiv und hängt stark davon ab, welche Stakeholder in welcher Form in den Prozess eingebunden werden. So geht der Recherche von Issues die Auswahl von relevanten Stakeholdern voran, wobei dazu in den vorgestellten Standards keine deutlichen Regeln vorgegeben werden.

4  Sustainable Supply Chain Governance – Multinationale … Matrix in der Praxis

Influence on stakeholder assessments & decisions

Relevanz für externe Stakeholder

GRI-Matrix

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Significance of economic, environmental, & social impacts

Relevanz für das Unternehmen

Abb. 4.1  Materialitätsmatrix nach GRI und in der Praxis. (Quelle: Eigene Darstellung nach Bauer et al. 2015, S. 162)

Dementsprechend wird die Materialitätsanalyse in der Praxis sehr unterschiedlich gestaltet. Über die Wesentlichkeit von Issues wird auf Basis von Mitarbeiter- oder Stakeholderbefragungen, Diskussionen in internen oder externen Gremien, mit oder ohne Einbindung von internationalen Standorten entschieden. Selbst wenn Unternehmen ihre generelle Vorgehensweise dokumentieren, fehlt die vollständige Transparenz bzgl. der einbezogenen Stakeholdergruppen und der Intensität ihrer Mitwirkung.2 Akteure entlang der Supply Chain, wie z. B. Mitarbeiter in Lieferbetrieben oder Einwohner am Standort des Rohstoffabbaus, die durch Beschaffungsaktivitäten fokaler Unternehmen tangiert werden, werden lediglich über den Einbezug von NGOs oder Experten beteiligt. Hier stellt sich die Frage, ob der Weg über Stellvertreter für die Qualität der resultierenden Governance-Prozesse im Endeffekt ausreichend ist. Eine weitere Unklarheit betrifft das Priorisierungsverfahren. Die von GRI vorgeschlagene Matrix wird in der Praxis oft vereinfacht eingesetzt. So wenden die meisten Unternehmen eine Matrix mit den Dimensionen „Relevanz für externe Stakeholder“ und „Relevanz für das Unternehmen“ an (Bauer et al. 2015, S. 162), womit Issues nur dann als wesentlich anerkannt werden, wenn sowohl interne als auch externe Stakeholder sie als wichtig bewerten. Diese von der GRI-Matrix abweichende Vorgehensweise (siehe Abb. 4.1) birgt jedoch die Gefahr, Themen als unwesentlich abzuwerten, die in (entfernten Stufen) der Lieferkette einen starken Impact auf lokale Interessengruppen haben. Hier ist es als problematisch anzusehen, dass den für die Bewertung der Unternehmensrelevanz

2BASF

spricht z. B. von 350 einbezogenen Stakeholdern, ohne diese näher zu beschreiben (BASF 2018, online).

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zuständigen Mitarbeitern diese Themen kaum bewusst sind. Zweitens verlieren solche Themen im weiteren Verfahren an Relevanz, wenn das Gesamtergebnis als Mittelwert aus den Bewertungen primärer und sekundärer Stakeholder berechnet wird oder wenn sich westliche Akteure stärker einbringen als NGOs an Lieferantenstandorten. Die Anwendung der Materialitätsanalyse auf Sozial- und Umweltstandards ist ein junges Forschungsfeld, sodass bislang nur wenige Studien dazu veröffentlicht wurden. Die ersten Befragungen von Praktikern wurden von Canning et al. und Edgley et al. durchgeführt. Aus Interviews mit Wirtschaftsprüfern für Nachhaltigkeitsberichte leiten sie ab, dass die Konstruktion der Wesentlichkeit im Verlauf der Materialitätsanalyse als Konsensfindung zwischen den Ansichten der Stakeholder, dem Unternehmensmanagement und den beteiligten Wirtschaftsprüfern stattfindet (Canning et al. 2018, S. 19; Edgley et al. 2015, S. 14). Für den Ausgang dieser Verhandlung ist damit die Interpretation des Begriffs Materialität durch Praktiker ausschlaggebend, und diese heben insbesondere das Interesse der Leser von CSR-Berichten als Wesentlichkeitskriterium hervor: „materiality is what’s material to the reader“ (Edgley et al. 2015, S. 8). Das macht Stakeholder wie Investoren, NGOs, Lobbyisten oder Kunden zu den wichtigen Einflussgruppen auf die Wahl von CSR-Issues, die Unternehmen in ihrer Nachhaltigkeitsgovernance verfolgen werden. Problematisch ist dabei, dass tatsächlich betroffene Interessengruppen entlang der Lieferkette nicht zu der Zielgruppe der Berichte gehören und damit kaum als relevant eingestuft werden können. Als Herausforderungen der Implementierung der Materialitätsanalyse nennen die Praktiker fehlende Benchmarks, die Heterogenität des Informationsbedarfs (seitens der Leser) und die Auswertung von qualitativen Daten (Edgley et al. 2015, S. 8). Es werden klare Richtlinien oder Branchenstandards gefordert, die Unternehmen und Wirtschaftsprüfern eine Orientierung geben können (Canning et al. 2018, S. 23; Edgley et al. 2015, S. 15). Wichtig wäre dabei, auch die Richtlinien zur Auswahl der relevanten Stakeholdergruppen zu definieren. Es sollten Möglichkeiten gefunden werden, den betroffenen Stakeholdern an Beschaffungsstandorten eine Stimme zu geben sowie sicherzustellen, dass ihre Anliegen nicht zwischen denen dominanter Stakeholdergruppen untergehen. Unstimmigkeit in den Interpretationen der Wesentlichkeit sowie bei der Gestaltung der Analyse zeigt sich auch in Fallstudien, die konkrete Ansätze für einzelne Länder oder Branchen entwickeln oder kritisch prüfen. So schlagen Hsu et al. vor, Materialität auf Basis der im Qualitätsmanagement verbreiteten Failure Mode and Effects Analyse (FMEA) zu bewerten und dabei das Risikopotenzial von CSR-Issues in den Mittelpunkt zu stellen. Wesentlich sind demnach solche Themen, die hohe Werte in Bezug auf drei Kennzahlen aufweisen: Auftretens- und Entdeckungswahrscheinlichkeit sowie Stärke der Auswirkung auf die strategische Kommunikation (Handlungsbedarf). Relevante Stakeholder (Kunden, Investoren, Community, NGOs, Medien und Lieferanten) wurden in dieser Fallstudie vom Unternehmensmanagement nach der Stärke ihrer Betroffenheit und ihrem Einflusspotential bestimmt (Hsu et al. 2013, S. 147). Die Auswahl orientiert sich an etablierten Mappinginstrumenten des Stakeholdermanagements, welche zur

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­ useinandersetzung mit solchen Gruppen raten, die nicht nur Anliegen an Unternehmen A äußern, sondern auch die notwendige Macht besitzen, um diese Anliegen durchzusetzen (vgl. z. B. Newcombe 2003, S. 843–845; siehe Abschn. 2.1). Akteure in der Lieferkette, die vom Sitz eines fokalen Unternehmens geografisch weiter entfernt sind und keine einflussreichen Vertretungen (z. B. starke Gewerkschaften) haben, werden in solchen Analysen als weniger wichtig gewertet. Ein weiteres Instrument wurde von Muñoz-Torres et al. speziell für KMU in Spanien entwickelt. Hier wurden relevante Stakeholder und wesentliche Issues anhand einer Literaturrecherche mit anschließender Experten- und Unternehmensbefragung ermittelt. Als Ergebnis dieser Konsensfindung (welche aufgrund von konträren Ansichten verschiedener Experten nicht einfach war) wurde eine Liste von wesentlichen Issues für KMU erstellt. In dieser Studie wurden Kunden, Mitarbeiter, die Umwelt und die Gesellschaft als Stakeholder ausgewählt und die Lieferkette explizit ausgeschlossen. Begründet wurde diese Entscheidung mit der geringen Verhandlungsmacht von KMU (Muñoz-Torres et al. 2012, S. 238). Dieses Vorgehen offenbart eine weitere Gefahr der Materialitätsanalyse: Im Prozess der Priorisierung von Issues können Probleme, deren Erhebung oder Lösung mit einem hohen Aufwand verbunden wäre, aus der Kategorie der wesentlichen Issues ausgeschlossen werden. In der Fallstudie von Calabrese et al. wurde ein Instrument zur Identifikation von Stakeholderanliegen entwickelt und mit Hilfe von Kunden eines italienischen Einzelhandelsunternehmens erprobt. Interessant an diesem Ansatz ist, dass die Erwartungen der Stakeholder mit den durch Unternehmen offengelegten Informationen verglichen werden, um mögliche Gaps festzustellen. Die Autoren empfehlen die Anwendung der Methode auf alle Stakeholder, um die Zufriedenheit einzelner Gruppen mit unternehmerischen Aktivitäten einschätzen und vergleichen zu können (Calabrese et al. 2015, S. 323 f.). Auch in der Studie von Font et al. wird von einem Gap zwischen den Wünschen der Stakeholder und den CSR-Absichten der Unternehmen berichtet. Hier wurden Anforderungen eines Leitfadens zur CSR-Berichterstattung für die Kreuzfahrtindustrie mit den Themen verglichen, die von Autoren der Fallstudie als wesentlich für Stakeholder identifiziert wurden. Font et al. bemängeln die bisherige Einseitigkeit des CSR-Dialogs, der von Unternehmen dominiert wird, und fordern eine stärkere Beteiligung der Stakeholder (Font et al. 2016, S. 183). Vor dem Hintergrund der im Abschn. 4.3 vorgestellten Beurteilungskriterien zur Bewertung der Sustainable Supply Chain Governance lassen sich für das Instrument der Materialitätsanalyse eine Reihe von aktuellen Herausforderungen feststellen. Daraus können Anforderungen an die Operationalisierung der Materialitätsanalyse im Einklang mit den Governance-Grundsätzen der Legitimität und Effektivität abgeleitet werden (siehe Tab. 4.2). Die Kriterien der Output-Legitimität greifen erst nach der Bestimmung der Wesentlichkeit von Issues, da sie sich auf die daraus resultierenden Verbesserungsmaßnahmen beziehen, müssen aber bereits bei der Gestaltung der Materialitätsanalyse berücksichtigt werden.

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Tab. 4.2  Gegenüberstellung der Materialitätsanalyse mit den Beurteilungskriterien für Sustainable Supply Chain Governance. (Quelle: Eigene Darstellung) Anforderungen

Unzulänglichkeiten in der aktuellen Praxis

Operationalisierung

InputLegitimität Inklusivität, Partizipation

Vorrangig Orientierung am Leser von Nachhaltigkeitsberichten und Konzentration auf einflussreiche westliche Stakeholder (bei der Stakeholderauswahl und im Zuge der Priorisierung von Issues) Einbindung von lokalen Stakeholdern über Stellvertreter (NGOs)

Verfahren zur Stakeholderauswahl und Priorisierung von Issues sollen: • Vordefinierten Gütekriterien entsprechen, • Eine sanktionsfreie Beteiligung von betroffenen Stakeholdern ohne Macht sicherstellen

ThroughputLegitimität Transparenz, Öffentlichkeit, Gerechtigkeit

Intuitive subjektive Bewertung, qualitative Informationen. Gefahr, wesentliche Issues im Prozess der Konsensfindung zwischen internen und externen Stakeholdern auszuschließen Ausschluss von relevanten Issues aufgrund von Erhebungsaufwand, geringer Einflussmöglichkeit von Unternehmen oder Aufwand der notwendigen Verbesserungsmaßnahmen

Definition von einheitlichen Bewertungs-, Priorisierungsverfahren und Indikatoren Sicherstellen, dass durch Minderheiten artikulierte Anliegen im Prozess gewahrt bleiben Transparenz des Vorgehens

OutputLegitimität Effektivität

Keine Evaluation des tatsächlichen Nutzens von Verbesserungsmaßnahmen für betroffene Stakeholder vorgesehen

Konsequente Ergebnismessung und kontinuierliche Verbesserung Einbindung der betroffenen Stakeholder in die Messung der Effektivität von Verbesserungsmaßnahmen

4.5 Fazit Ausgangspunkt für die Diskussion um die Legitimität und Effektivität von Sustainable Supply Chain Governance in diesem Beitrag war die Feststellung, dass fokalen multinationalen Unternehmen in ihren globalen Lieferketten ein zunehmendes Maß an Verantwortung sowie Möglichkeiten der Einflussnahme mit Hinblick auf die Gewährleistung von Sozial- und Umweltstandards zugeschrieben wird. Im Kontext der Diskussion um denationalisierte, grenzüberschreitende Nachhaltigkeitsherausforderungen bei gleichzeitig begrenzten Einflussmöglichkeiten des Nationalstaats wurden Unternehmen in den letzten Jahren zu viel beachteten Akteuren privater nachhaltigkeitsbezogener Governance und

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von der Privatwirtschaft (mit-)initiierte Instrumente wie Standards, Scoring-Instrumente, Multi-Stakeholder-Initiativen oder Verhaltenskodizes sind zu einem festen Bestandteil der Diskussion um globale Nachhaltigkeit in Lieferketten geworden (vgl. Jentsch und Fischer 2018). In diesem Beitrag wurde versucht, die hiermit verbundenen Steuerungsformen als Sustainable Supply Chain Governance zu konzeptualisieren und für diese, ausgehend von den Anforderungen an staatliches Regieren, erste Beurteilungskriterien abzuleiten. Auch wenn sich das klassische Kriterienset politischer Legitimation nicht unmittelbar auf private, nichtstaatliche Governance übertragen lässt, hat sich hierbei gezeigt, dass einige Anforderungen wie Inklusivität, Partizipation, Transparenz, Öffentlichkeit und Gerechtigkeit sowie Effektivität auch für die Konzeption entsprechender Nachhaltigkeitsinstrumente in der Supply Chain relevant und in der Implementierung zu berücksichtigen sind. Am Beispiel des Instruments der Materialitätsanalyse wurde deutlich, dass governancetheoretische Anforderungen bisher kaum eine Rolle bei der Entwicklung von Instrumenten eines nachhaltigen Lieferkettenmanagements spielen. Dies kann darauf zurückgeführt werden, dass die zentralen Treiber des unternehmerischen Engagements bei primären und sekundären Stakeholdergruppen liegen, wodurch die Anliegen der eigentlich betroffenen Interessengruppen in der Lieferkette höchstens indirekt durch entsprechende „Stellvertreter“ wie Medien oder NGOs wiedergegeben werden. Diese verfolgen wiederum eigene Ziele, die nicht zwangsläufig mit den eigentlichen Anliegen der Interessengruppen kohärent sein müssen (vgl. Fischer 2017, S. 252 ff.). Dabei ist die Materialitätsanalyse insbesondere maßgebend, weil von ihr als „Vorfilter“ die weitere Auswahl, Priorisierung und Bearbeitung von Nachhaltigkeitsthemen in der Supply Chain abhängt. Aus der Diskussion in diesem Beitrag ergeben sich verschiedene Ansatzpunkte für weitere Forschung und die praktische Ausgestaltung von Instrumenten nachhaltigen Lieferkettenmanagements. Zum einen sollten in der Forschung zu CSR, nachhaltigem Lieferkettenmanagement und Corporate Governance systematisch Ansätze des politikwissenschaftlichen Diskurses um Global Governance und Nachhaltigkeit integriert und Unternehmen als politische Akteure auf der Weltbühne wahrgenommen werden. Hierzu zählt auch die weiterführende Forschung zu entsprechenden governancetheoretischen Anforderungen an die Gestaltung von Instrumenten des Lieferkettenmanagements. Zum anderen ist die in der Praxis übliche, einseitige Ausrichtung des Stakeholdermanagements an einflussreichen Stakeholdergruppen zu hinterfragen. Natürlich müssen Unternehmen Stakeholderanliegen priorisieren und auswählen, um handlungsfähig zu bleiben. Vor dem Hintergrund der angestrebten Verantwortungsübernahme und mit dem Ziel eines effektiven CSR-Managements sind aber die Anliegen von Interessengruppen sehr viel systematischer – und nach Möglichkeit – auch über Wege direkter Partizipation einzubinden. Das theoretische Stakeholderkonzept ist hierfür offen und thematisiert normative wie instrumentelle Zugänge gleichermaßen. Gleiches gilt für die weitere „Verarbeitung“ dieser Interessen in den Prozessen praktischer Konsensfindung und etwa bei der Ableitung von Scoring-Ansätzen. Hier wäre ein höheres Maß an Offenheit und Transparenz erforderlich, um im Bereich der Throughput-Legitimität Verbesserungen

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K. Fischer und M. Jentsch

zu erzielen. Last, but not least ist es zwingend erforderlich, sehr viel breiter als bisher geeignete Verfahren zur Evaluation und Effektivitätsbeurteilung CSR-politischer Instrumente in der Supply Chain einzusetzen, um die tatsächliche Wirkung dieser Instrumente auf Nachhaltigkeitsproblemfelder in der Lieferkette erheben und verbessern zu können.

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Prof. Dr. Klaus Fischer vertritt das Fachgebiet Allgemeine Betriebswirtschaftslehre, insbesondere Nachhaltigkeit und Strategisches Management am Standort Mannheim der FOM Hochschule für Oekonomie & Management. Er studierte Wirtschaftsingenieurwesen mit Studienrichtung Chemie an der TU Kaiserslautern und promovierte 2015 im Themenfeld „Corporate Sustainability Governance“. Seit seinem Studium arbeitete er an universitären Forschungsinstituten zu verschiedenen Themen nachhaltiger Entwicklung, darunter auch in der Forschungsbereichs- und Institutsleitung.

Marina Jentsch  forscht im Bereich Nachhaltige Unternehmensentwicklung des Instituts für Technologie und Arbeit e. V. (An-Institut der TU Kaiserslautern). In Forschungs- und Entwicklungskooperationen mit Industrieunternehmen beschäftigt sie sich mit dem Themenfeld Nachhaltigkeit in Beschaffung und Lieferantenbeziehungen. Nach dem Abschluss an der Pädagogischen Universität Rostow am Don absolvierte sie den Studiengang Gesellschafts- und Wirtschaftskommunikation an der Universität der Künste Berlin.

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Kriterien zur Bewertung von ökologischer Nachhaltigkeit in der Automobilindustrie – Eine Analyse aktueller Trends und angewandter Methoden Johannes Dahl

Alles, was gegen die Natur ist, hat auf Dauer keinen Bestand. Charles Darwin (1809–1882) Zusammenfassung

Die ökologische Nachhaltigkeit steht nicht erst seit dem Dieselskandal im Jahr 2013 im erweiterten Fokus von Unternehmen der Automobilindustrie in Deutschland. Drohende Fahrverbote von Kraftfahrzeugen in Ballungszentren und strengere Umweltauflagen durch staatliche Institutionen haben dazu beigetragen, dass insbesondere ökologische Aspekte durch Verbraucher bewusster wahrgenommen und berücksichtigt werden. Für die Unternehmen bedeutet dieses gesteigerte öffentliche Interesse, dass entlang der gesamten Lieferkette ökologische Nachhaltigkeit sichergestellt werden muss. Dies beginnt mit der Auswahl der Lieferanten, setzt sich in der Entwicklung und Gestaltung der Produkte fort und endet mit dem ökologisch verträglichen Transport der Güter. Dieser Beitrag zeigt, welche Konzepte zur Bewertung von Nachhaltigkeit geeignet sind und welche Kriterien als Indikatoren für die Einhaltung ökologischer Nachhaltigkeit in der Lieferkette herangezogen werden können.

5.1 Nachhaltigkeit und die Einflüsse auf Gesellschaft und Industrie In diesem Kapitel werden Grundlagen des Begriffes Nachhaltigkeit in Bezug auf die Aktualität in der Gesellschaft und zum anderen hinsichtlich ihrer strategischen Relevanz für die Akteure der deutschen Automobilindustrie untersucht. Dies geschieht nach J. Dahl ()  E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 W. Wellbrock und D. Ludin (Hrsg.), Nachhaltiges Beschaffungsmanagement, https://doi.org/10.1007/978-3-658-25188-8_5

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J. Dahl

einer kurzen Einführung verschiedener Definitionen und der Darlegung einer grundsätzlich nachhaltigen Gesellschafts- und Wirtschaftsentwicklung durch die beispielhafte Einführung eines in der Industrie weit verbreiteten Konzeptes zur Sicherung von Nachhaltigkeit. Die Ausführungen werden ergänzt durch Statistiken und Zitate, um die praktische Relevanz zusätzlich zu untermauern.

5.1.1 Die Auswirkungen des globalen Trends der Nachhaltigkeit auf die deutsche Automobilindustrie Nachhaltigkeit mit all ihren Teilaspekten ist schon längst als gesamtgesellschaftliches Thema in dem Bewusstsein der Bürgerinnen und Bürger angekommen. Es ist nicht mehr länger nur als kontrovers diskutiertes politisches Thema einer bestimmten Wählergruppe zu sehen, sondern bestimmt bereits entscheidend das alltägliche Handeln aller Menschen. Daher ist „Trend“ in diesem Zusammenhang vielleicht das falsche Wort. Vielmehr drückt Nachhaltigkeit eine Lebenseinstellung aus, die viele Bürger bereits heute verkörpern. Doch bevor auf die gesellschaftlichen Hintergründe dieser Entwicklung eingegangen wird, soll das Thema auf einer übergeordneten Ebene beleuchtet werden. Daher zwei vorangestellte Fragen, die zunächst einmal im Mittelpunkt stehen sollen: Was ist mit Nachhaltigkeit in diesem Zusammenhang gemeint? Und woher kommt der Bedarf an nachhaltigen Lösungen in der Automobilindustrie? Grundsätzlich gibt es keine einheitliche Definition, die an dieser Stelle zugrunde gelegt werden kann. Da sich jedoch Funktionsweise und Struktur der globalisierten Weltmärkte und daher insbesondere das Handeln der dortigen Akteure maßgeblich an den politischen Rahmenbedingungen orientieren und darüber hinaus in dieser Arbeit die deutsche Automobilindustrie thematisiert wird, soll die Nachhaltigkeitsdefintion der Bundesregierung der Bundesrepublik Deutschland Anwendung finden. Unter Nachhaltigkeit verstehen wir eine Entwicklung, die ökologisch verträglich, sozial gerecht und wirtschaftlich leistungsfähig ist. Dadurch, dass uns die Umweltressourcen nur begrenzt zur Verfügung stehen – weil wir nur über die eine Erde verfügen – sind die planetaren Grenzen der Erde, neben dem Leben in Würde für alle, im Nachhaltigkeitskonzept die absoluten Leitplanken des politischen Handelns. Wollen wir unsere Lebensgrundlagen erhalten, müssen unsere Entscheidungen unter den drei Gesichtspunkten Wirtschaft, Umwelt und Soziales dauerhaft tragfähig sein (Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit 2018, online).

Grundsätzlich greift die obige Definition das sogenannte 3-Säulen-Modell der Nachhaltigkeit auf. Dort wird unterschieden zwischen sozialer, ökonomischer und ökologischer Nachhaltigkeit. Jedoch zeigt das Verständnis der Bundesregierung bereits deutlich auf, dass der Schutz der Umwelt, des Planeten, eine Sonderrolle in den politischen Nachhaltigkeitsbestrebungen einnimmt. Neben bedeutenden infrastrukturellen Maßnahmen wie dem bereits eingeläuteten Energiewandel, der die Schaffung einer umweltverträglichen Energiebereitstellung für die Bundesrepublik Deutschland in den

5  Kriterien zur Bewertung von ökologischer …

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Mittelpunkt stellt, wird bereits in der Schule begonnen, über Aufklärungsarbeit ein Bewusstsein für ökologische Nachhaltigkeit zu schaffen. Somit ist grundsätzlich – allein durch die gesteigerte öffentliche Wahrnehmung – eine verstärkt ökologisch ausgerichtete Sensibilisierung in der Bevölkerung zu erkennen. Doch warum ist speziell die Automobilindustrie derart stark von diesen Nachhaltigkeitsentwicklungen betroffen? Zuerst muss festgehalten werden, dass die deutsche Automobilindustrie mit mehr als 820.000 Angestellten und einem Jahresumsatz von über 400 Mrd. EUR der wichtigste Wirtschaftssektor der Bundesrepublik Deutschland ist (Stand 27.07.2018, Statistisches Bundesamt 2018, online). Darüber hinaus sind die Produkte weltweit für Ihre Qualität, ihr modernes Design und ihre hohe Innovationskraft bekannt. Daraus resultiert ein starkes Markenimage, welches deutsche Automobilhersteller und auch -zulieferer kennzeichnet und ihnen weltweit eine Vorreiterrolle sichert. Grundsätzlich ist eine emotionale Verbindung mit dem Produkt, die maßgeblich durch das Markenimage manifestiert wird, ein entscheidendes Kriterium im Prozess des Automobilkaufs. Besonders in einem hart umkämpften gesättigten Markt wie Deutschland, der nach Zahlen des Kraftfahrtbundesamtes bei 61,5 Mio. Wahlberechtigten (Stand 03.02.2017, Bundeswahlleiter 2017, online) zum 1. Januar 2018 46,5 Mio. zugelassene Personenkraftwagen (Kraftfahrtbundesamt 2018, online) aufweist, ist das Gefühl und die damit einhergehende positive emotionale Verbindung mit einer Marke oder einem Produkt entscheidendes Kriterium im Auswahlprozess eines PKW. In diesem Zusammenhang hat der Abgasskandal im Jahr 2013, in welchem bedeutende Hersteller und Zulieferer der deutschen Automobilindustrie tragende Rollen einnahmen, elementar zu einer öffentlichen Diskussion über Nachhaltigkeit und Umweltverträglichkeit der Automobilindustrie beigetragen. Dabei hat auch das angesprochene positive Image der deutschen Automobilindustrie gelitten. Daher ist schon aus diesem Grund – der Aufbereitung der Diesel-Krise und der Umgestaltung des Images – ein Motiv für Nachhaltigkeitsbestrebungen zu sehen. Hinzu kommen politische Vorgaben, die im Fall der Automobilindustrie vor allem auf verschärfte Emissionsgrenzen der Abgase der hergestellten Fahrzeuge abzielen. Durch die niedrige Wertschöpfungstiefe der OEM schließt dies auch maßgeblich die Produkte von Modul- und Systemlieferanten mit ein. In Verbindung mit dem gesteigerten Kundeninteresse an nachhaltigen Antriebsmöglichkeiten führt dies zu einem technologischen Umdenken in der Branche. So war sich der Vorstandsvorsitzende der Daimler AG, Dr. Dieter Zetsche, bereits im November 2008 sicher: „Für die Zukunft nimmt ein Trend immer deutlicher Form an: Die vollständige Elektrifizierung des Antriebs.“ Dieses Zitat kennzeichnet besonders unter Berücksichtigung der Ereignisse des Diesel-Skandals weiterhin eine hohe Relevanz für die Entwicklungen im Automobilmarkt. Nachhaltigkeit ist daher nicht länger ein ergänzendes Thema, um die Markenpräsenz zu optimieren, sondern erhält Einzug in das Produktportfolio der Hersteller. Abb. 5.1 zeigt, welche Kriterien im Einzelnen zu einer verstärkten Implementierung von Nachhaltigkeitsbestrebungen in systemrelevanten Branchen wie der Automobilindustrie führen. Hierfür wurden über 1000 CEOs der weltgrößten Unternehmen befragt, w ­ elche

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J. Dahl Sonsge Gründe Druck von Investoren/Anteilseignern Einfluss von Umweltschäden auf GeschäŠ Gesetzliche Vorgaben Arbeitnehmergewinnung Persönliche Movaon Kundennachfrage

Potenal für Umsatzsteigerung / Kostenredukon Markenimage und Reputaon 0%

10%

20%

30%

40%

50%

60%

70%

80%

Abb. 5.1  Welche Faktoren ermutigen Sie als CEO, Nachhaltigkeit in Ihrem Unternehmen zu fördern? (Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an Accenture und United Nations 2013, S. 37)

Faktoren sie ermutigen, Nachhaltigkeit in ihrem jeweiligen Unternehmen zu fördern. Sicherlich nicht verwunderlich ist, dass über 60 % der befragten Führungskräfte die Steigerung der Reputation und die Verbesserung des Markenimages sehen. In einer globalisierten Welt, die maßgeblich durch Digitalisierung und globale Vernetzung gekennzeichnet ist, spielt die Wahrnehmung des Unternehmens durch den Kunden eine entscheidende Rolle im Kaufentscheidungsprozess. Dementsprechend ist das bereits beschriebene Kriterium der Kundennachfrage an dritter Stelle ebenso nachvollziehbar. Jedoch muss auch auf den als zweitwichtigsten eingestuften Faktor verwiesen werden. Dieser besagt, dass auch Umsatzsteigerungen und Kostenreduktionen ursächlich für Nachhaltigkeitsbestrebungen in Großunternehmen sind. Somit kann sich eine Investition in unternehmerische Nachhaltigkeit auch aus ökonomischer Sicht für Großunternehmen lohnen. Unter Berücksichtigung der Erkenntnisse dieser Befragung und der aktuellen Markttrends in Literatur und Medien können für die Etablierung von ökologischer Nachhaltigkeit im unternehmerischen Umfeld folgende Einflussfaktoren herausgestellt werden: • Kundenorientierung • Risikominimierung • Verbesserung des Images/Steigerung der Reputation • Kostenoptimierung Insgesamt ist das Thema Nachhaltigkeit auf der Managementebene kein neuer Ansatzpunkt der strategischen Unternehmensführung. Vielmehr ist seit mehreren Jahrzehnten ein Entwicklungsprozess zu erkennen, der im folgenden Kapitel vorgestellt wird. Der nächste Schritt und gleichzeitig auch Trend, der sich daraus ergibt, ist die Verankerung von Nachhaltigkeit in betrieblichen Teilfunktionen – im Fall dieser Arbeit im Bereich der Beschaffung und des Lieferantenmanagements.

5  Kriterien zur Bewertung von ökologischer …

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5.1.2 Corporate Social Responsibility als Wertekatalog der Nachhaltigkeit in Organisationen und Unternehmen Seit Nachhaltigkeit als strategisches Leitkonzept unternehmerisch umgesetzt wird, ist das Managementkonzept der Corporate Social Responsibility ein weit verbreiteter Ansatz in Forschung und Praxis, der in allen Branchen Anwendungen findet. Ähnlich wie der Begriff der Nachhaltigkeit gibt es auch hier keine einheitliche Definition, auf die sich bezogen werden kann. Vielmehr bietet die wissenschaftliche Forschung einen „Dschungel an Definitionen“ (Crane et al. 2008, S. 3). Dementsprechend unterliegen die praktischen Umsetzungen unterschiedlichen Schwerpunkten und Interpretationsansätzen. Zur Einführung dieses Begriffes und um für den weiteren Verlauf bereits deutlich zu machen, weshalb auch nachhaltige Beschaffung elementarer Bestandteil einer Idee der Corporate Social Responsibility sein kann, soll im Folgenden eine global angewendete Definition vorgestellt werden, die ISO-Norm 26000. Sie gibt Organisationen und Unternehmen jeglicher Art einen „Leitfaden zur gesellschaftlichen Verantwortung von Organisationen“ vor. Das Fundament bilden sieben Grundsätze, nach denen sich das unternehmerische Handeln richten soll (Bundesministerium für Arbeit und Soziales 2011, S. 12 f.): 1. Rechenschaftspflicht: Eine Organisation sollte für die Auswirkungen ihrer Entscheidungen und Aktivitäten auf Gesellschaft, Wirtschaft und Umwelt die Verantwortung übernehmen und nachweisbar Rechenschaft ablegen. 2. Transparenz: Eine Organisation sollte insbesondere dann transparent agieren, wenn ihre Entscheidungen und Aktivitäten einen Einfluss auf Gesellschaft oder Umwelt haben. Das umfasst eine glaubwürdige, offene, verständliche Kommunikation und Berichterstattung über Zweck, Art und Standorte der Aktivitäten einer Organisation. 3. Ethisches Verhalten: Das Handeln einer Organisation sollte auf den Werten der Ehrlichkeit, der Gerechtigkeit und der Rechtschaffenheit beruhen. 4. Achtung der Interessen von Anspruchsgruppen: Eine Organisation sollte ihre (betroffenen) Anspruchsgruppen kennen und deren Interessen respektieren und berücksichtigen. 5. Achtung der Rechtsstaatlichkeit: Eine Organisation sollte Recht und Gesetz unbedingt achten und einhalten. 6. Achtung der internationaler Verhaltensstandards: Eine Organisation sollte in Übereinstimmung mit internationalen Verhaltensstandards handeln. Darunter sind das Völkergewohnheitsrecht, allgemein anerkannte internationale Rechtsgrundsätze oder zwischenstaatliche Abkommen, Verträge und Konventionen zu verstehen. 7. Achtung der Menschenrechte: Eine Organisation sollte die grundlegenden Menschenrechte, deren Bedeutung und Allgemeingültigkeit anerkennen. Dies sollte unabhängig vom Standort, dem kulturellen Hintergrund oder der spezifischen Situation geschehen.

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J. Dahl

Zwar bildet die ISO 26000 keine zertifizierbare Norm wie vergleichbare Normen zum Qualitäts- oder Prozessmanagement, jedoch bildet sie eine geeignete Zusammenfassung einer gesetzesübergreifenden Werteformulierung, an welcher sich in unternehmerisch umgesetzten CSR-Konzepten global orientiert wird. Sie stellt daher eine über die gesetzlichen Bestimmungen hinausgehende Werteformulierung dar, die Nachhaltigkeit gesamtunternehmerisch sicherstellen kann (Schneider und Schmidpeter 2015, S. 27). So vertritt auch der Verband der Automobilindustrie die Einhaltung sozialer und ökologischer Leitprinzipien, die sich an diesen Wertvorstellungen orientieren. In einer Empfehlung vom 07.09.2016 gibt der Verband seinen Mitgliedern – über 600 Hersteller und Zulieferer der deutschen Automobilindustrie – einen Katalog zur Einhaltung von Nachhaltigkeitsstandards vor. Auch dort liegt der Fokus auf sozialen und ökologischen Standards, die von den Mitgliedern einzuhalten sind. Bezug nehmend auf die externen Einflussfaktoren, die im ersten Kapitel dieses Beitrages vorgestellt wurden, kann ein solcher Wertekatalog, ausgedrückt als unternehmerisches CSR, als Erklärungsansatz herangezogen werden, weshalb Nachhaltigkeit zunehmend auch in unternehmerischen Teilfunktionen Anwendung als wertgebendes Konzept findet. Es dient, im Unternehmen verankert, somit als interner Einfluss- und Motivationsfaktor, welcher Nachhaltigkeit wertegetrieben global vorantreibt.

5.2 Nachhaltigkeit in der betrieblichen Beschaffung Kap. 2 vereint grundsätzliche Definitionen der Beschaffung und des Lieferantenmanagements mit Ausführungen über Methoden und konzeptionelle Erweiterungen, die den Aspekt der Nachhaltigkeit innerhalb der Lieferkette fördern. Hierfür soll zuerst der Begriff der nachhaltigen Beschaffung allgemein erläutert werden, um darauf folgend verschiedene konzeptionelle Ansätze zur Bewertung des ökologischen Teilaspektes der Nachhaltigkeit vorzustellen. Den Abschluss bildet die Vorstellung unterschiedlicher Kriterien, die zur Messung der ökologischen Nachhaltigkeitsdimension herangezogen werden können. Dabei soll vor allem auf Basis wissenschaftlicher Fachliteratur argumentiert werden, um Rückschlüsse auf Entwicklungen der Praxis ziehen zu können.

5.2.1 Nachhaltige Beschaffung und die Positionierung des Lieferantenmanagements Der betriebliche Funktionsbereich der Beschaffung hat in den vergangenen Jahrzehnten einen umfassenden Wandel seiner Aufgaben und der unternehmerischen Bedeutung erfahren. Dieser Entwicklungsprozess führte von einem traditionellem Verständnis eines reinen „Beschaffers“ (Müller 2004, S. 54–59) und Kostenoptimierers von Gütern und Rohstoffen hin zu einem Wertgestalter, der aktiv an der Ergebnisgestaltung und der strategischen Ausrichtung eines Gesamtunternehmens mitwirkt (Hofbauer et al. 2012, S. 3).

5  Kriterien zur Bewertung von ökologischer …

81

Beschaffung stellt in einem modernen Verständnis das Management von Netzwerken dar, welches sowohl interne als auch externe Interessengruppen mit einbezieht. Abb. 5.2 fasst diese Entwicklung noch einmal stichwortartig zusammen. Dabei ist – neben der besagten inhaltlichen Erweiterung des Aufgabenbündels der Beschaffung – vor allem auf die Komponente des Beziehungsmanagements als neue elementare Aufgabe zu verweisen. Hier geht es nicht nur um die Betreuung von Lieferanten, sondern darüber hinaus auch um die Steuerung von partnerschaftlichen Innovationsprojekten und die Entwicklung der gemeinsamen Geschäftsbeziehung (Appfelfeller et al. 2010, S. 5). Dies erfordert ein umfassendes Management der beteiligten Lieferanten, welches sich nicht nur mit der Identifizierung und Auswahl geeigneter Zulieferbetriebe, sondern auch mit der Kontrolle, Steuerung und Entwicklung der gemeinsamen geschäftlichen Bindung beschäftigt (Helmold et al. 2016, S. 21). Die folgende Definition fasst die grundlegenden Ziele des Lieferantenmanagements zusammen und verdeutlicht darüber hinaus die Fülle an Aufgaben, die in selbiges mit einbezogen werden:

Zukunftsfähige Beschaffung

Traditionelle Beschaffung •

Beschaffung als Erfüllungshilfe  





Beschaffung als Beitrag zur Wertschöpfung 

Geringe Wertschätzung Operative und administrative Aktivitäten im Mittelpunkt Geringe Mitarbeiterqualifikationen

Ineffizienz  







Undifferenzierte Prozesse Geringe IT-Unterstützung

Effizienzsteigerung 

 



Ad-hoc Beziehungen zu Partnern  

Intensive Preisverhandlungen Geringe gemeinsame Anstrengungen



Beschaffung als Erfolgsfaktor und Kostengestalter Strategische Aktivitäten im Mittelpunkt

Optimierte Prozesse mit verschiedenen Varianten Höhere Mitarbeiterqualifikation, Schnittstellen-Know-How Verstärkter IT-Einsatz

Langfristige partnerschaftliche Beziehungen   

Gemeinsame Anstrengungen zu Kostenreduktionen Frühere Einbindung von Lieferanten Collaboration

Abb. 5.2   Das zukunftsfähige Beschaffungsmanagement. (Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an Hofbauer et al. 2012, S. 3)

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J. Dahl Übergeordnete Ziele des Lieferantenmanagements sind die Reduzierung von Prozesskosten und Durchlaufzeiten, die Reduzierung der Einstandspreise, die Erhöhung der Prozessqualität sowie die Erhöhung der Transparenz in Bezug auf Ausgaben, Bewertungen und Maßnahmen. Es erfolgt eine Steuerung der Lieferantenbeziehung zum Erhalt einer hohen Produkt- und Dienstleistungsqualität bei gleichzeitig geringen Kosten.

Doch wie ist der vorgestellte Aspekt der Nachhaltigkeit in das Konzept der Beschaffung und des Lieferantenmanagements einzubinden? Grundsätzlich gilt, dass in den unternehmerischen Umsetzungen der nachhaltigen Beschaffung nur selten zwischen sozialer, ökologischer und ökonomischer Nachhaltigkeit unterschieden wird. Vielmehr werden in dem Begriff somit häufig alle Teilaspekte vereint. Inhaltlich wird traditionell jedoch insbesondere auf die Sicherstellung einer ökonomischen Nachhaltigkeit abgezielt. Dies hängt natürlich mit der vormals reinen Kosten- und Preisfixierung der betrieblichen Funktion der Beschaffung zusammen. Die soziale und ökologische Komponente einer nachhaltigen Entwicklung wurden daher in der betriebswirtschaftlichen Forschung weitestgehend ausgeblendet. Jedoch konnten in den vergangenen Jahren zunehmend vor allem Veröffentlichungen zu Unterthemen des „grünen“ und somit ökologisch ausgerichteten Lieferantenmanagements verzeichnet werden (so beispielsweise Yu und Hou 2016, S. 571–588 zum Thema der „Green supplier selection…“ oder Sahu et al. 2018, S. 1579–1604 zum Thema „Evaluation and selection of suppliers considering green perspectives…“). Neben den im vorherigen Kapitel vorgestellten allgemeinen Nachhaltigkeitsentwicklungen bietet die Beschaffung auch spezifische Besonderheiten für die Etablierung ökologischer Nachhaltigkeit. So kann das Lieferantenmanagement genutzt werden, um unternehmensintern gesetzte Ökologieziele auch extern sicherzustellen. Dies geschieht einerseits über die Beschaffung nachhaltiger Materialen und andererseits über die grundsätzliche Engagierung ökologisch nachhaltig agierender Lieferanten und Entwicklungspartner. Dabei wird sich sicherlich an den Wertvorgaben einer nachhaltigen Unternehmensstrategie orientiert. Gemäß eines CSR-Ansatzes nach der eingeführten Definition in Kap. 2.1 – wie bereits erwähnt, inzwischen weit verbreitet in Unternehmen der Automobilindustrie – würden so in einem ersten Schritt eine umfassendeTransparenz, die Einhaltung rechtlicher Normen und ethisches Verhalten sichergestellt. Jedoch müssen gleichzeitig auch stets die Bedürfnisse und Forderungen der Kunden sichergestellt werden. Abb. 5.3 veranschaulicht, wie eine nachhaltige Lieferkette unter Berücksichtigung dieser Einflussfaktoren konzeptuell umgesetzt werden kann und wie Beschaffung und Lieferantenmanagement dabei eingebunden sind. Grundsätzlich stellt der Kunde verschiedene Anforderungen an das beschaffende Unternehmen. Diese Kundenwünsche, deren Befriedigung im Mittelpunkt unternehmerischen Handelns stehen, werden ergänzt durch weitere externe und interne Einflussgrößen (Personalbeschaffungsmarkt, Referenzmarkt, etc.). Um die Kundenwünsche bestmöglich befriedigen und neue Kunden gewinnen zu können, bedarf es eines wettbewerbsfähigen Produktes, das im Absatzmarkt platziert werden kann. Elementar ist dabei die Qualität des Produktes. Da im

5  Kriterien zur Bewertung von ökologischer … Referenzmarkt

83 Personalbeschaffungsmarkt

Einflussmarkt

Interner Markt

Zwänge + Anreize

Lieferantenmarkt

Unternehmen als Koalition

Gemeinsame Zielsetzung interner Markt

Kundenmarkt

Ableitung nachhaltiger Strategien für die Beschaffung Fokus Nachhaltiges Lieferantenmanagement

Abb. 5.3  Struktur einer beziehungsorientierten, nachhaltigen Lieferkette. (Quelle: Fröhlich 2015, S. 9)

Beispiel der Automobilindustrie die Wertschöpfungstiefe der OEM stetig abnimmt, bestimmt daher der Lieferantenmarkt maßgeblich den Erfolg eines Unternehmens. Eine nachhaltige Beschaffung ist daher in diesem Beispiel eine Funktion, die partnerschaftlich unterschiedliche Parteien koordiniert, um mit dem Lieferantenmanagement schnelle und wirkungsvolle Beschaffungsprozesse zu etablieren, die die Kosteneffizienz am Lieferantenmarkt und die Zufriedenheit beim Endkunden zugleich herstellt (Fröhlich 2015, S. 8). Eine elementare Aufgabe eines nachhaltigen Lieferantenmanagements in einer komplexen Marktumgebung stellt daher die Sicherstellung der Funktionsfähigkeit der etablierten Prozesse – besonders in Richtung der Lieferanten – dar. An dieser Stelle setzen verschiedene Methoden zur Bewertung und Kontrolle der Lieferantenperformance an. Im Folgenden sollen hierfür ausgewählte Verfahren vorgestellt werden.

5.2.2 Methoden der Bewertung von ökologischer Nachhaltigkeit in Lieferantenbeziehungen Die betriebswirtschaftliche Forschung bietet eine Vielzahl an Verfahren zur Bewertung von Lieferanten. In der deutschsprachigen Literatur wird klassisch zwischen quantitativen und qualitativen Bewertungsverfahren unterschieden, die auch in der Praxis Anwendung finden. Grundsätzlich liegen dabei keine Methoden vor, die nur auf

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­ nternehmen der Automobilindustrie zugeschnitten sind. Vielmehr greifen Konzepte U der Lieferantenbewertung über Industriegrenzen hinweg vergleichbare Methoden auf. Im Folgenden wird eine Untergliederung dieser branchenübergreifenden Verfahren nach Janker vorgestellt (Janker 2008, S. 77–173), um danach Konzepte aus der internationalen Forschung zu integrieren. Als Beispiele für die quantitative Lieferantenbewertung können die Entscheidungsanalyse auf Basis von Preisen und Kosten, die Bilanzanalyse sowie die Kennzahlenbetrachtung genannt werden. Die Gemeinsamkeit, die diese Verfahren verbindet, ist die ausschließliche Verwendung mathematischer Größen. Die Verfahren können dabei miteinander kombiniert und einander ergänzend angewendet werden. Qualitative Verfahren können grundsätzlich auf sämtliche relevanten Kriterien angewendet werden. Dabei ist es irrelevant, ob diese quantifizierbar oder von qualitativer Natur sind. Zusätzlich können diese Bewertungsverfahren unterteilt werden in numerische Verfahren (u. a. Punktbewertungsverfahren oder Notensysteme), verbale Verfahren (u. a. Portfolioanalyse oder Checklistenanalyse) und grafische Verfahren (z. B. Profilanalyse). Insgesamt sind die vorgestellten Verfahren theoretische Konzepte, die in der Praxis auf die individuellen Anforderungen angepasst werden. So werden sie häufig kombiniert und auf spezifische Problemfelder hin angepasst. Ähnlich geschieht dies auch auf dem Betrachtungsfeld der Nachhaltigkeitsbewertung. Hierzu gibt es zahlreiche Forschungsarbeiten, die in den letzten Jahren entstanden sind und sich mit Konzepten nachhaltiger Lieferantenbewertung auseinandersetzen. Aktuelle Veröffentlichungen aus dem englischsprachigen Raum entwickeln komplexe statistische Verfahren, die zum einen Kombinationen aus den vorgestellten quantitativen und qualitativen Bewertungsverfahren darstellen und zum anderen Methoden des Operational Research aufgreifen und daher auch Ansätze der angewandten Informatik und Mathematik beinhalten (so zum Beispiel Shen et al. 2013, S. 170–179; Sahu et al. 2016, S. 1579–1604). In der deutschsprachigen Literatur werden diese Ansätze nur selten in wissenschaftlichen Veröffentlichungen aufgegriffen. Jedoch ­bieten diese vor allem multikriteriell ausgerichteten Bewertungsansätze bereits vielfältige Ansatzmöglichkeiten für eine Erfassung und Bewertung ökologischer Nachhaltigkeitsaspekte in der Lieferantenbeziehung. Eine Literaturübersicht über die unterschiedlichen Forschungsbeiträge zu diesem Thema liefern u. a. Ho und Govindan (Ho et al. 2010, S. 16–24; Govindan et al. 2015, S. 66–83). Im Folgenden sollen bedeutende theoretische Ansätze der englischsprachigen Literatur kurz vorgestellt werden. Dabei muss darauf hingewiesen werden, dass sich aufgrund der Fülle an Konzeptionen auf eine gerichtete Auswahl beschränkt wird: • Ein konzeptioneller Ansatz, der in einer Vielzahl internationaler Veröffentlichungen aufgegriffen wird, ist der sogenannte Analytical Hierarchy Process, kurz AHP genannt. Er wurde in den 1970er Jahren von dem Mathematiker Thomas Saaty in den USA entwickelt und findet vor allem dort und im asiatischen Raum Anwendung in der Praxis. Die grundlegende Aufgabe des AHP ist die Strukturierung komplexer und

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unübersichtlicher Entscheidungsprobleme, um unter der Berücksichtigung definierter Zielkriterien ein nutzenmaximierendes Ergebnis zu erlangen. Dabei können auch gruppenspezifische Prioritäten in das Modell mit eingebunden werden (Handfield et al. 2002, S. 74). Im Allgemeinen werden innerhalb des AHP verschiedene Phasen durchlaufen (Heinen 1992, S. 52): 1. Definition des Entscheidungsproblems 2. Definition der Kriterien 3. Alternativenselektion 4. Alternativenbewertung 5. Alternativenwahl • Die Data-Envelopment-Analysis (DEA) ist ein bereits etwa 40 Jahre altes Verfahren, welches auf den Grundzügen mathematischer Programmierung basiert (Wilken 2007, S. 11). Die DEA zieht dabei unterschiedliche Vergleiche hinsichtlich der Effizienz verschiedener „Aktivitäten“, in der Literatur auch als Decision Making Units (DMU) bezeichnet (Kerpen 2016, S. 1). Sie greift dabei auf Inputs und Outputs der zu vergleichenden DMUs zurück. Aussagekraft erlangen die Ergebnisse der DEA durch den gezielten Vergleich der In- und Outputs der unterschiedlichen DMUs. Dementsprechend setzt dieses Verfahren voraus, dass identische In- und Outputs vorliegen und diese auch kausal miteinander verbunden sind. Beide vorgestellten Verfahren sind keine neuen Konzepte im Bereich des Operational Research. Sie werden zum Teil seit mehreren Jahrzehnten in der Unternehmenspraxis erfolgreich verwendet. Dennoch sind sie im Bezug auf die Bewertung der ökologischen Nachhaltigkeit von Lieferanten in der Automobilindustrie noch wenig erprobt. Zwar haben beide theoretischen Konzepte – ähnlich wie auch andere Verfahren, die in dieser Arbeit nicht vorgestellt werden konnten – die Nachteile, dass sie zeitintensiv und teilweise nicht ohne größeren Aufwand praktisch realisierbar sind. Dennoch können bei der Etablierung definierter Prozesse einer langfristig ausgelegten Geschäftspartnerschaft durchaus Bewertungsmechanismen implementiert werden, die derart aufwendige Verfahren miteinbeziehen können. In der Praxis herrschen vielmehr klassische Verfahren der Lieferantenbewertung vor. So sind es beispielsweise Bilanzanalysen, Preis- und Kostenentscheidungsanalysen, oder auch Checklistenverfahren, die Unternehmen zur Beurteilung von Lieferanten als Konzepte heranziehen. Ergänzt werden sie durch die Erhebung und Analyse von klassischen Kennzahlen und simplen Notensystemen. Natürlich konnten sich in vielen Unternehmen diese Verfahren über Jahre hinweg etablieren und lassen durchaus auch Aussagen über bestimmte Zielkriterien zu. Jedoch konnte im Verlauf dieses Beitrages bereits aufgezeigt werden, dass die Kundenansprüche steigen, die Bedeutung der Beschaffung sich verändert hat und darüber hinaus neue Themen wie die ökologischen Nachhaltigkeit in Entscheidungsprozesse mit einbezogen werden müssen. Hinzu kommt die Tatsache, dass insbesondere die Bewertung ökologischer Performance geprägt ist von einer großen Diversität der zu beurteilenden Kriterien.

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Dass auch Uneinigkeit in der wissenschaftlichen Literatur herrscht, zeigt die Tatsache, dass in den angesprochenen Literaturübersichten zum Thema der nachhaltiggen Lieferantenbewertung neben den vorgestellten Konzepten zahlreiche alternative Ansätze diskutiert werden.1 Dies zeigt sehr deutlich, dass es kein Verfahren gibt, welches besser oder schlechter für die Bewertung von Nachhaltigkeit in Zulieferunternehmen geeignet ist. Es ist vielmehr wichtig, die geeigneten Indikatoren und Kriterien auszuwählen, an die die Bewertungsverfahren angepasst werden müssen. Eine Übersicht über ausgewählte Kriterien zur ökologischen Nachhaltigkeit wird im folgenden Kapitel ­vorgestellt.

5.2.3 Ausgewählte Kriterien der ökologisch nachhaltigen Lieferantenbewertung Wie bereits im vorherigen Kapitel angesprochen, spielt die Wahl der Kriterien eine entscheidende Rolle für die Qualität der Bewertungsaussage. In der praktischen Umsetzung sind natürlich weiterhin vor allem ökonomische Größen entscheidend, die Aussagen über die Performance und Leistungsfähigkeit eines Lieferanten zulassen. Dies ist auch nicht verwunderlich, da die Automobilindustrie durch einen starken Wettbewerbs- und Kostendruck gekennzeichnet ist. Daher beziehen sich Kriterien der Lieferantenbewertung vor allem auf die Themen Qualität, Logistik und Serviceleistung. Dies veranschaulichen Zahlen von Janker, welcher eine Erhebung zum Thema Hauptkriterien des Lieferantenmanagements im Jahr 2008 gemacht hat (Janker 2008, S. 165). Auch aktuellere Veröffentlichungen zeigen, dass sich an diesem Zustand bisher nur wenig verändert hat (Yu und Hou 2016, S. 571–588). Kriterien zur Bewertung der Umweltleistung spielen keine oder nur eine untergeordnete Rolle. Dies belegt die aufgestellte These, dass die nachhaltige Lieferantenbewertung noch keine praktische Relevanz besitzt. Dennoch soll im Folgenden eine Übersicht bereits bestehender Kriterien zur Bewertung der ökologischen Nachhaltigkeit vorgestellt werden. In einer Studie von Handfield et al. aus dem Jahr 2001 konnten bereits erste Aussagen bezüglich wichtiger und relevanter Bewertungskriterien getroffen werden, die zu dieser Zeit bereits von Unternehmen wie IBM oder

1Neben

den vorgestellten Konzepten AHP und DEA werden besonders Verfahren der mathematischen Programmierung (beispielsweise Fuccy Logic, lineare Programmierung) und in zunehmender Anzahl auch intelligente Verfahren der Informatik in Konzepte der Lieferantenbewertung integriert. Hier wird beispielsweise das Konzept der neuronalen Netze genannt, um Probleme zu lösen, die keine exakte mathematische Beschreibung zulassen. Hinzu kommen Variationen bestehender Verfahren wie der Analytical Network Process (ANP) als eine netzwerkorientierte Interpretation des AHP und individuelle Kombinationen unterschiedlicher Verfahren, die in wissenschaftlichen Veröffentlichungen diskutiert werden. Neben einer Literaturübersicht können auch kurze Erläuterungen angewandter Konzepte Ho oder Govindan entnommen werden (Ho et al. 2010, S. 16–24; Govindan et al. 2015, S. 66–83).

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Ford verwendet wurden. Dabei konnten 54 industrieübergreifende Umweltperformanceindikatoren identifiziert werden, die in der Folge nach Wichtigkeit und Umsetzbarkeit sortiert wurden. Abb. 5.4 zeigt das Ergebnis dieser Studie. Als am wichtigsten hat sich die Offenlegung der Umweltbilanz, die Umweltbewertung nachfolgender Lieferantenebenen und die Funktionsfähigkeit des Entsorgungsmanagements herausgestellt. Am einfachsten umzusetzen – und somit in der Praxis auch am häufigsten verwendet – sind die Kontrolle einer vorliegenden Umweltzertifizierung wie ISO 14000, die Information über ozonabbauende Stoffe und die Quote der recyclebaren Inhaltsstoffe eines Produktes. Insgesamt sind die vorgestellten Kriterien zum Teil sehr spezifisch und aufwendig in der betrieblichen Implementierung. So bedarf es beispielsweise für die Einrichtung einer funktionierenden Entsorgungslogistik grundsätzlicher struktureller Anpassungen, die in der Praxis natürlich mit hohen Investitionskosten verbunden sein können. Nicht immer ist es darüber hinaus möglich, recyclebare Inhalte in den Produkten zu verwenden. Dies hängt maßgeblich von der Materialzusammensetzung ab, die jedoch insbesondere in der Automobilindustrie häufig von den OEM vorgegeben werden. Dementsprechend müssen die Kriterien individuell auf Industrie und gegebenenfalls auf Geschäftsbeziehung ausgerichtet werden. Govindan et al. haben hierzu einen Kriterienkatalog für unterschiedliche Industrien veröffentlicht. Dieser basiert auf Veröffentlichungen zu einer ökologisch nachhaltigen Lieferantenbewertung in verschiedenen Branchen der letzten 20 Jahre (Govindan et al. 2015, S. 66–83). Noci thematisiert in seinem bereits 1997 veröffentlichtem Konzept zur Bewertung ökologischer Nachhaltigkeit im Besonderen die Hauptkriterien, die bei Automobilzulieferern gemessen werden können (Noci 1997, S. 103–114). Auch diese Kriterien sind TOP 10 – Wichtigste Kriterien

TOP 10 – Am besten umsetzbare Kriterien

1. Offenlegung der Umweltbilanz

1. Zertifizierung nach ISO 14000

2. Umweltbasierte Bewertung nachfolgender Lieferanten

2. Ausstoß ozonabbauender Stoffe

3. Funktionsfähigkeit des Entsorgungsmanagements

3. Recyclebare Inhalte

4. Gefahrgutentsorgung

4. Ausstoß flüchtiger organischer Verbindungen

5. In Produkten enthaltene Giftstoffe

5. In Produkten enthaltene Giftstoffe

6. Zertifizierung nach ISO 14000

6. Wiederverwendbarkeit / Aufbereitung der Produkte

7. Rückführungslogistik

7. Reduzierte oder wiederverwendbare Verpackungen

8. Umweltfreundliche Produktverpackung

8. Rückführungslogistik

9. Ausstoß ozonabbauender Stoffe

9. Teilnahme an freiwilligen Gefahrgutfortbildungen

10. Unzureichende Emissionswerte

10. Offenlegung der Umweltbilanz

Abb. 5.4  Top 10 Kriterien der ökologisch nachhaltigen Performance. (Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an Handfield et al. 2001, S. 78)

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vergleichbar mit den in Abb. 5.4 vorgestellten Kriterien. Jedoch ist ein klarer Fokus auf produktionstechnische Aspekte zu erkennen. So werden beispielsweise der Energieverbrauch, der Produktionsabfall oder die Kosten der Materialentsorgung dokumentiert. Grundsätzlich formulieren die angesprochenen Literaturquellen ähnliche Kriterien für die Bewertung der ökologischen Nachhaltigkeit. Sie unterscheiden sich lediglich hinsichtlich der spezifischen Industrieausrichtung. Zugegebenermaßen liegen die Publikationen von Noci und Handfield 17 bzw. 21 Jahre zurück. Jedoch zeigen auch aktuelle Veröffentlichungen wie die bereits angesprochene von Govindan et al. aus dem Jahr 2015 oder auch Veröffentlichungen von Sahu et al. aus dem Jahr 2016 bzw. Shen et al. aus dem Jahr 2013, dass die vorgestellten Kriterien noch immer den aktuellen Stand der Forschung darstellen. Im Allgemeinen bedarf es für die zielbringende Bewertung von ökologischer Nachhaltigkeit keiner zusätzlichen Kriterien. Die wissenschaftliche Literatur bietet hierfür eine Fülle davon. Vielmehr müssen diese geeignet ausgewählt und durch die Wahl geeigneter Methoden miteinander verknüpft werden. Im vorherigen Kapitel konnten hierfür zwei beispielhafte Verfahren eingeführt werden, die nicht nur eine Fülle an Informationen verarbeiten, sondern gleichzeitig auch auf qualitative und quantitative Daten zugreifen können. Aber auch diese Modelle können nur repräsentative Ergebnisse liefern, wenn die Kriterien auf die individuellen Bedürfnisse ausgerichtet sind und verlässliche Aussagen zulassen. So ist die weit verbreitete Darlegung einer Zertifizierung beispielsweise nur ein Indiz für die ökologisch nachhaltige Ausrichtung eines Lieferanten. Für genauere Aussagen bedarf es einer exakten Analyse der operativen Prozesse und Strukturen. Solche Anstrengungen sind jedoch mit einem hohen Kostenaufwand verbunden, der sich insbesondere für kleine und viele mittelständische Unternehmen nicht auszahlt.

5.3 Ausblick und Fazit Dieser Beitrag zeigt, dass Nachhaltigkeit mit all ihren Teilaspekten bereits heute eine entscheidende Rolle in den strategischen Überlegungen eines Unternehmens der Automobilindustrie einnimmt. Als gesellschaftliches Thema hat es nicht nur auf Ebene der Kundenanforderungen zu Veränderungen geführt, es ist innerhalb der Unternehmensführung bereits elementarer Bestandteil einer grundlegenden Unternehmensausrichtung geworden. Die Anpassung des Markenimages, die nachhaltig-orientierte Ausrichtung der Lieferkette und die Etablierung von CSR sind nur drei Beispiele, wie Unternehmen bereits Anpassungen vorgenommen haben. Nachhaltigkeit stellt somit nicht nur ein „Kann“ in einer erfolgreichen Unternehmensausrichtung dar, sondern vielmehr ein „Muss“. Die Betrachtung des Teilbereiches der Beschaffung hat jedoch gezeigt, dass die praktische Umsetzung von ökologischer Nachhaltigkeit durch wirtschaftliche Motive überlagert wird. Zwar stellt die Automobilindustrie durch umfassende CSR-Standards und Umweltzertifizierungen einen Vorreiter im Bereich der ökologischen Nachhaltigkeit dar. Jedoch geschieht dies vor allem auch aufgrund imagebildender Motive. Die

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Betrachtung der Lieferantenbewertung zeigt vor allem anhand der auffindbaren Kriterien deutlich auf, dass das Thema für eine Gewährleistung umfassender Nachhaltigkeitsaspekte entlang der gesamten Lieferkette noch weitaus tiefer gehender behandelt werden muss. Hierfür bedarf es geeigneter Modelle und Konzepte, die nicht nur einfach und kosteneffizient in der Anwendung, sondern vor allem auch problemorientiert auf spezifische Geschäftsbeziehungen zugeschnitten sind. Es besteht daher ein umfassender Bedarf an weiterer Forschung in diesem Bereich, ganz im Sinne des zu Anfang vorgestellten Zitats Charles Darwins.

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Johannes Dahl arbeitet seit 2017 als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Arbeitsgruppe Allgemeine Betriebswirtschaftslehre und Logistik der Philipps-Universität Marburg. Er studierte zunächst von 2010 bis 2014 Wirtschaftswissenschaften an der Universität Hohenheim in Stuttgart. Darauf folgte bis 2017 das Masterstudium der Betriebswirtschaftslehre an der Philipps-Universität Marburg und der St. Mary´s University in Halifax, Kanada. Johannes Dahl sammelte während seiner Studienzeit praktische Erfahrungen in Einkaufsabteilungen der Robert Bosch GmbH in Stuttgart und Bangkok, Thailand sowie bei der Continental Automotive GmbH in Bebra. Hinzu kamen weitere Tätigkeiten in Fachausschüssen des deutschen Bundestags für die Landesvertretung des Landes Sachsen-Anhalts. Sein Forschungsschwerpunkt liegt im Bereich der Lieferantenbewertung in Zulieferunternehmen der Automobilindustrie.

6

Nachhaltige Rohstoffversorgung – Perspektive Kreislaufwirtschaft und Ressourceneffizienz Kathrin Hesse

Zusammenfassung

Der Anstieg des Verbrauchs an natürlichen Ressourcen und der damit einhergehende Bedarf liegen größtenteils an den Bedürfnissen der stetig wachsenden Weltbevölkerung und stellen die Weltwirtschaft vor große Herausforderungen. Vor diesem Hintergrund müssen sich produzierende Industrien in rohstoffarmen Ländern rechtzeitig auf eine Verschlechterung der Rohstoffversorgung einstellen und eine intelligente Ressourcenwirtschaft anstreben. Gleichzeitig wächst das Abfallvolumen und die Verfahren zur Abfallbehandlung stellen aufgrund der Emissionen in die Umwelt keine dauerhafte Lösung zur Abfallentsorgung dar. Daher wird über die Gesetzgebung versucht, die Abfallvermeidung sowie die Abfallverwertung, durch Recycling der im Abfall enthaltenen Wertstoffe und ihre Wiedereinführung in den Produkt- bzw. Wirtschaftskreislauf zu stärken. Konzepte, die neben geschlossenen Rohstoffkreisläufen, eine Minimierung des Ressourceneinsatzes unter Einsatz effizienter Produktionstechnologien sowie die Substitution von Materialien und Technologien im Fokus haben, sollen dazu dienen, die vorhandenen Ressourcen nachhaltig und emissionsarm zu bewirtschaften.

6.1 Ausgangssituation Die teilweise herrschende Rohstoffknappheit und steigende Rohstoffpreise, gepaart mit den Auswirkungen des Klimawandels, zwingen die Unternehmen zum Umdenken. Zu Beginn des Zeitalters der Industrialisierung (1850) betrug die Weltbevölkerung

K. Hesse ()  E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 W. Wellbrock und D. Ludin (Hrsg.), Nachhaltiges Beschaffungsmanagement, https://doi.org/10.1007/978-3-658-25188-8_6

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1,26 Mrd. Menschen. Im Jahre 1950 hatte sich diese Anzahl auf 2,54 Mrd. Menschen verdoppelt. Im Jahr 2000 waren es bereits 6,15 Mrd. Menschen. Laut Weltbevölkerungsuhr der Deutschen Stiftung Weltbevölkerung leben derzeit rund 7,55 Mrd. Menschen auf der Welt (Stand 12. Juli 2017). Diese Anzahl wird sich laut einer UN-Prognose zur Entwicklung der Weltbevölkerung bis 2050 auf 9,7 Mrd. und bis 2100 auf 11,2 Mrd. erhöhen (UN DESA 2017, S. 1 ff.). Gemäß einer Studie der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) hat sich der weltweite Ressourcenverbrauch seit 1980 auf knapp 72 Gigatonnen im Jahr 2010 verdoppelt und sollte bis 2030 rund 100 Gigatonnen erreichen (Linster et. al. 2015, S. 9). Zu den Ressourcen gehören u.a. Rohstoffe zur stofflichen Weiterverarbeitung, wie beispielsweise Baumaterialien, Eisenerz oder Edelmetalle sowie Energieträger wie Rohöl, Kohle oder Erdgas und Biomasse zur Herstellung von Nahrungs- und Futtermitteln. Werden die Kostenanteile am Bruttoproduktionswert im verarbeitenden Gewerbe in Deutschland hinsichtlich der Ressourcenkosten betrachtet, so ist ersichtlich, dass der größte Anteil mit 47 % der Kosten auf die Bereiche Material und Rohstoffe sowie Energie entfällt (Wiendahl 2014, S. 273). Diese Kosten sind in den vergangenen 20 Jahren stark angestiegen. Die Zunahme der Materialkosten liegt neben steigenden Rohstoffpreisen auf einer sinkenden Fertigungstiefe, d. h. durch den Einkauf höherwertiger Vorprodukte und Halbzeuge ­werden die Kosten der vorgelagerten Wertschöpfungskette nur noch als Materialkosten ausgewiesen (Schmidt 2017, S. 16).

6.2 Definitionen und gesetzliche Rahmenbedingungen In Wirtschaft und Wissenschaft wird der Begriff Ressource in verschiedenen Handlungsfeldern in Abhängigkeit von den jeweiligen Aufgaben unterschiedlich genutzt. Soll ein nachhaltiges Management der Ressourcen in der verarbeitenden Industrie installiert werden, muss eingangs geklärt werden, welche Ressourcen in diesem Zusammenhang verwendet und berücksichtigt werden. Der Bereich der Rohstoffe ist vor dem Hintergrund der Versorgungssicherheit und der Berücksichtigung der Umweltwirkungen, die bei der Gewinnung und der Nutzung sowie Entsorgung von Ressourcen auftreten, derzeit weltweit Gegenstand öffentlicher Diskussionen sowie der Gesetzgebung.

6.2.1 Ressourcenbegriff Unter dem Begriff Ressourcen werden, volkswirtschaftlich betrachtet, die Produktionsfaktoren Arbeit, Kapital und Boden angeführt. Der Produktionsfaktor Arbeit wird definiert als „zielgerichtete, soziale, planmäßige und bewusste, körperliche und geistige Tätigkeit“ (Springer 2018b, online). Der Produktionsfaktor Kapital wird noch nach Sachkapital (u. a. Bestand an Produktionsausrüstung für die Güter- und Dienstleistungsproduktion)

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und Humankapital unterteilt (Springer 2018b, online). Der Produktionsfaktor Boden wird inzwischen durch den Produktionsfaktor Umwelt bzw. natürlich vorkommende Ressourcen und Boden(-schätze) ersetzt, da „Umweltleistungen in modernen Industriegesellschaften für die Produktion bedeutsamer seien als Boden“ (Springer 2018b, online). Wissen als weiterer Faktor ergänzt die drei klassischen Produktionsfaktoren (North 2002, S. 65). Unter dem Begriff natürliche Ressourcen werden Ressourcen in Luft, Wasser, Energie und Boden sowie Rohstoffe, unterteilt nach biotischer und abiotischer Herkunft, definiert (VDI 4800 Blatt 1 2016, S. 13 ff.). Abb. 6.1 beinhaltet die Klassifizierung von natürlichen Ressourcen in Anlehnung an die von der United Nations Statistics Division erarbeiteten SEEA-Methodik (System of Integrated Environmental and Economic Accounts) (Hesse und Hohaus 2012, S. 12 ff.). Ressourceneffizienz ist gemäß VDI-Richtlinie 4800 Blatt 1 definiert als das Verhältnis eines bestimmten Nutzens oder Ergebnisses zum dafür notwendigen Aufwand (VDI 4800 Blatt 1 2016, S. 9). Der Aufwand stellt dabei den Einsatz natürlicher Ressourcen dar, der Nutzen wird durch Funktionen beschrieben, die wiederum durch Güter, Dienstleistungen oder Kombinationen aus diesen erfüllt werden. Je höher der Nutzen eines Produktes oder einer Dienstleistung, beziehungsweise je geringer der Verbrauch der eingesetzten Ressourcen, ist, desto höher ist die Ressourceneffizienz. Um eine Vergleichbarkeit unterschiedlicher Systeme zu gewährleisten, sollte der Nutzen lösungsneutral definiert werden, d. h. die zu erfüllende Funktion sollte angeführt werden und nicht ein konkreter Lösungsansatz. Darüber hinaus sollte sich der Nutzen physikalisch quantifizieren lassen (VDI 4800 Blatt 1 2016, S. 12 ff.). Die Einteilung der Ressourceneffizienz erfolgt nach ihrer Verwendung in die Teilgebiete der Materialeffizienz und der Energieeffizienz.

Natürliche Ressourcen

Wasser

Boden

Rohstoffe

Rohstoffe aus der…

Land-

Forst-

Rohstoffe

Fischerei

Fossile Brennstoffe

Metallerze

Industriemineralien

Baustoffe

Abb. 6.1  Klassifizierung natürlicher Ressourcen. (Quelle: Hesse und Hohaus 2012, S. 12 ff.)

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6.2.2 Begriffe aus der Abfall- und Kreislaufwirtschaft In Deutschland wurde – forciert durch die Einführung des Kreislaufwirtschafts- und Abfallgesetzes im Jahre 1996 – das bisherige lineare System der Güterherstellung vom Produzenten zum Verbraucher durch ein zyklisches System ersetzt. Dieses lineare System wird auch als Wegwerfgesellschaft oder auch als Crade-to-Grave Verfahren (von der Wiege bis zum Grab) charakterisiert (Walcher und Leube 2017, S. 4). Kernidee des zyklischen Wirtschaftens – der Kreislaufwirtschaft – ist, ähnlich wie die Natur Kreisläufe zu entwickeln, die sich in gewisser Weise „selbst am Leben erhalten“. Mithilfe einer durchgehenden Produktverantwortung des Herstellers (z. B. Elektroschrott, Verpackungen, Altöl) sowie freiwilliger Selbstverpflichtungen (z. B. grafische Altpapiere) bestehen bereits Ansätze zur Produktrückführung, durch die die Vermeidung, Verringerung und Verwertung von Abfällen gelöst werden soll (Hesse und Clausen 2008, S. 488). „Abfälle im Sinne des Gesetzes zur Förderung der Kreislaufwirtschaft und Sicherung der umweltverträglichen Bewirtschaftung von Abfällen (KrWG) sind alle Stoffe oder Gegenstände, derer sich ihr Besitzer entledigt, entledigen will oder entledigen muss. Abfälle zur Verwertung sind Abfälle, die verwertet werden; Abfälle, die nicht verwertet werden, sind Abfälle zur Beseitigung“ (§3 Abs. 1 KrWG). „Eine Entledigung im Sinne des Absatzes 1 ist anzunehmen, wenn der Besitzer Stoffe oder Gegenstände einer Verwertung im Sinne der Anlage 2 oder einer Beseitigung im Sinne der Anlage 1 zuführt oder die tatsächliche Sachherrschaft über sie unter Wegfall jeder weiteren Zweckbestimmung aufgibt“ (§3 Abs. 2 KrWG). Für ein Produktionsunternehmen bezieht sich hierbei die Verantwortung auf den gesamten Lebenszyklus eines Produktes von der Beschaffung der Ressourcen über die Produktion und Versorgung der Verbraucher bis hin zur Entsorgung (Hesse und Clausen 2008, S. 488). Die gebrauchten Produkte bzw. Abfälle sollen zum Zweck der Ressourcenschonung einer entsprechenden Verwertung wieder in den Wirtschaftskreislauf einfließen (Lammers 2018, S. 15). Dabei wird zwischen einem technischen Stoffkreislauf für Materialien, die aus abiotischen Ressourcen bestehen (z. B. Festplatten aus Computern) sowie einem biotischen Kreislauf für regenerative Materialien (z. B. Lebensmittelabfälle) unterschieden. Während die regenerativen Materialien ohne Kontaminierung nach ihrer Nutzung zur Regeneration in die Biosphäre überführt werden, sollen die abiotischen Materialien so lange wie (qualitativ und wirtschaftlich) möglich im Wirtschaftskreislauf gehalten werden (MacArthur 2018, online). Durch diese „Kreislaufwirtschaft“ sollen – je nach Stoffbeschaffenheit – Abfälle weitestgehend vermieden, der Verbrauch von Ressourcen minimiert oder eine Verwertung als Sekundärrohstoff ermöglicht werden (Hesse und Clausen 2008, S. 488). In Anlehnung an die VDI-Richtlinie 4800 Blatt 1 wird ein Sekundärrohstoff definiert als Abfall oder Rückstand, der aus dem Rohmaterial gewonnen wird und gegebenenfalls auch Primärrohstoffe ersetzen kann. Ein Primärrohstoff ist ein Rohstoff, der durch Entnahme aus der Natur gewonnen wird (VDI-Richtlinie 4800 Blatt 1 2016, S. 8 f.).

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In der Richtlinie VDI 2243 Recyclingorientierte Produktentwicklung wird das Schließen von Stoffkreisläufen durch die Rückführung von Rückständen aus Produktionsprozessen bzw. von Altprodukten und -stoffen nach deren Gebrauch in die Produktion oder für den (erneuten) Gebrauch als „Recycling“ bezeichnet (VDI-Richtlinie 2243 Blatt 1 2002, S. 35). Recycling kann dabei in den unterschiedlichen Phasen des Produktlebenszyklus auftreten, beispielsweise während des Produktgebrauchs aber auch im Produktionsprozess sowie bei Altstoffen. Darüber hinaus werden in der Norm VDI 2243 die Begriffe Verwendung sowie Verwertung definiert (VDI-Richtlinie 2243 Blatt 1 2002, S. 35). Unter Verwendung wird die „erneute Nutzung von gebrauchten Produkten für denselben (Wiederverwendung) oder einen anderen (Weiterverwendung) Verwendungszweck wie zuvor unter Nutzung ihrer Gestalt ohne bzw. mit beschränkter Veränderung des Produktes“ verstanden. Ein Beispiel hierfür wäre der wiederholte Einsatz von Mehrwegflaschen. Als stoffliche Verwertung wird die Nutzung des Abfalls durch Substitution von Rohstoffen durch das Gewinnen von Stoffen aus Abfällen (rohstoffliche Verwertung) oder Nutzung der stofflichen Eigenschaften der Abfälle (werkstoffliche Verwertung) bezeichnet, während der Einsatz von Abfällen als Ersatzbrennstoff als energetische Verwertung definiert wird. Letztendlich gibt die Richtlinie VDI 2243 allen Produktverantwortlichen, insbesondere dem Entwickler und dem Konstrukteur Informationen, Anleitungen und Endscheidungshilfen für die einzelnen Phasen der Produktentwicklung, um technische und wirtschaftliche Möglichkeiten sowie Alternativen zur Verbesserung der Recyclingfähigkeit von technischen Produkten erarbeiten und auswählen zu können. Auch wenn in Einzelfällen die weitere Verwendung bzw. Verwertung von Altprodukten ökologisch nicht sinnvoll erscheint, stellt das industrielle Produktrecycling ein effizientes Werkzeug zur Abfallvermeidung dar. Die Grundüberlegung besteht darin, Folgeanwendungen für Bauteile und Aggregate zu suchen, deren Eigenschaftsspektrum möglichst nahe an dem des ursprünglichen Produktes liegt. Im Sinne einer wirtschaftlichen Wiederverwendung von Komponenten stehen Qualitätskriterien im Vordergrund. Das weitere Vorgehen verläuft analog dem heutigen Werkstoffrecycling, wobei ebenfalls unter ökologischen und ökonomischen Prämissen nach einer Kaskade der Verwertbarkeit gesucht wird, also einer optimalen Ausnutzung der vorhandenen Eigenschaften für die anspruchsvollste Zweitnutzung. Ziel ist ein Recycling auf möglichst hoher Wertschöpfungsstufe. Unterstützt wird dieses Ziel durch die Entwicklung bzw. Konstruktion materialoptimierter und recyclingfähiger Produkte. Um die Stoffkreisläufe letztendlich schließen zu können, müssen Bauteile und Materialien als Sekundärbauteile, -halbzeuge oder -rohstoffe im Wirtschaftskreislauf gehalten werden.

6.2.3 Europäisches und deutsches Abfallrecht Die Entwicklung zur nachhaltigen Kreislaufwirtschaft ist durch die Gesetzgebung der EU, des Bundes und der Länder sowie durch die Vereinbarung „freiwilliger Selbstverpflichtungen“ der Industrie geprägt und reglementiert. Die EU hat bereits seit den 1970er

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Jahren im Bereich der Umweltpolitik Rechtsvorschriften erlassen, die den schonenden Umgang mit natürlichen Ressourcen, die Minimierung der nachteiligen Umweltauswirkungen durch Produktion, Konsum sowie den Schutz der Artenvielfalt und der natürlichen Lebensräume sicherstellen sollen. Die Rechtsvorschriften erstrecken sich dabei von der Abfallentsorgung über die Luft- und Wasserqualität bis hin zu Treibhausgasen und giftigen Chemikalien (EU 2018a, online). Letztendlich bilden das europäische und das deutsche Abfallrecht die Gesamtheit aller Rechtsnormen, die die Behandlung, den Transport, die Entsorgung und die Verwertung sowie den sonstigen Umgang mit Abfällen regeln. Es ist Teilgebiet des Umweltrechts und hat Bezüge zu fast allen anderen Gebieten des Umweltschutzes, wie z. B. dem Natur-, Gewässer- und Immissionsschutz. Nur noch wenige Abfallarten unterliegen nicht gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben. Darüber hinaus integriert die EU Umweltbelange in andere Politikbereiche wie Verkehr und Energie und ist ein führender weltpolitischer Akteur bei den Bemühungen um strengere Umweltschutzstandards und wirksame Maßnahmen gegen den Klimawandel (EU 2018a, online). Der Aufbau des Abfallrechts folgt einer streng hierarchischen Ordnung. Zum einen wird innerhalb der Entscheidungsebene in Rechtsquellen zwischen Verfassungs-, Gesetzes-, Verordnungs- und Vorschriftcharakter unterschieden, zum anderen auf der territorialen Ebene (EU, Bund, Länder, Gemeinden) differenziert. Da die Bundesrepublik Deutschland dazu verpflichtet ist, Rechtsakte der EU als geltendes Recht anzuerkennen und umzusetzen, werden im Folgenden zunächst die wichtigsten europäischen Rechtsakte benannt: EU-Verordnungen (EU-Regulations), EU-Richtlinien (EU-Directives), EU-Entscheidungen (EU-Decisions) sowie EU-Leitlinien und EU-Empfehlungen (EU-Guidelines). EU-Verordnungen richten sich an alle EU-Bürger und sind direkt wirksames sowie bindendes Recht in allen Mitgliedstaaten. Sie erfordern daher keine Umsetzung in nationales Recht. Somit sind auch keinerlei Modifikationen in einzelnen Mitgliedstaaten möglich, wie z. B. bei der Verordnung (E) Nr. 333/2011 des Rates vom 31. März 2011 mit Kriterien zur Festlegung, wann bestimmte Arten von Schrott gemäß der Richtlinie 2008/98/EG des Europäischen Parlaments und des Rates nicht mehr als Abfall anzusehen sind. EU-Richtlinien hingegen müssen in bindende nationale Gesetze oder Verordnungen umgesetzt werden. Dafür wird den Mitgliedstaaten eine definierte Frist eingeräumt. Beispielsweise hatte Deutschland 18 Monate Zeit, die Richtlinie 2011/65/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 8. Juni 2011 zur Beschränkung der Verwendung bestimmter gefährlicher Stoffe in Elektro- und Elektronikgeräten durch entsprechende nationale Rechts- und Verwaltungsvorschriften umzusetzen. I. d. R. enthalten EU-Richtlinien nur allgemeine Prinzipien, nicht jedoch detaillierte Ausführungsbestimmungen. Die erforderlichen Detailregelungen werden in Form von EU-Empfehlungen erlassen. EU-Entscheidungen der verschiedenen EU-Institutionen sind ebenfalls für alle Mitgliedstaaten verbindlich. Im Regelfall bedürfen sie einer Umsetzung in nationales Recht. Wenn sich EU-Entscheidungen direkt an die EU-Bürger richten, stellen sie jedoch direkt bindendes Recht dar und müssen nicht national umgesetzt werden. Im Gegensatz zu

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EU-Richtlinien regeln EU-Entscheidungen nur Einzelfälle. Ein Beispiel für eine EU-Entscheidung ist die Entscheidung 2008/763/EG der Kommission vom 29. September 2008 zur Aufstellung – gemäß Richtlinie 2006/66/EG des Europäischen Parlaments und des Rates – einer gemeinsamen Methodik für die Berechnung des Jahresabsatzes von Gerätebatterien und -akkumulatoren an Endnutzer (bekannt gegeben unter Aktenzeichen K (2008) 5339). Neben verbindlichen EU-Verordnungen, EU-Richtlinien und EU-Entscheidungen gibt es u. a. eine Fülle von Leitlinien und Empfehlungen. Diese bedürfen keiner nationalen Umsetzung. Dennoch besitzen sie eine große Bedeutung, da sie den Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse widerspiegeln, an dem sich die zuständigen Behörden, Unternehmen etc. orientieren sollen. Beispielsweise regelt die Empfehlung 2009/39/EG der Kommission vom 22. Dezember 2008 die sichere Lagerung von metallischem Quecksilber, das von der Chloralkaliindustrie nicht länger verwendet wird (bekannt gegeben unter Aktenzeichen K (2008) 8422). Zusätzlich existieren Umweltaktionsprogramme (UAP), die im Oktober 1972 auf einer Konferenz der Staats- bzw. Regierungschefs ihren Ursprung gefunden haben und keinen rechtlich verbindlichen Charakter besitzen. Mit den Verträgen von Maastricht und Lissabon werden Umweltaktionsprogramme gemäß Art. 192 Abs. 3 AEU-Vertrag nach dem ordentlichen Gesetzgebungsverfahren von Europäischem Parlament und Rat der Europäischen Union nach Anhörung des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses sowie des Ausschusses der Regionen erlassen (BMU 2018, online). Der Vertrag von Maastricht wurde am 7. Februar 1992 im niederländischen Maastricht vom Europäischen Rat unterzeichnet und trat am 1. November 1993 in Kraft. Der Vertrag von Lissabon wurde am 13. Dezember 2007 unter portugiesischer Ratspräsidentschaft in Lissabon unterzeichnet und trat am 1. Dezember 2009 in Kraft (EU 2018a, online). Umweltpolitische Aktionsprogramme legen für mehrere Jahre (drei bis zu zehn) die mittelfristigen Ziele und Prioritäten der gemeinschaftlichen Umweltpolitik fest. Hierzu werden in allgemeiner Form die für einen bestimmten Zeitraum geplanten Maßnahmen in einen globalen Zusammenhang gestellt und ggf. neue Entwicklungen und Orientierungen eingeleitet. Bisher wurden insgesamt sieben Aktionsprogramme verabschiedet. Das derzeitige 7. Aktionsprogramm „Gut leben innerhalb der Belastbarkeitsgrenzen unseres Planeten“ (KOM (2012) 710) vom November 2013 legt den Programmschwerpunkt auf die neun Bereiche Naturkapital, ressourceneffiziente, umweltschonende und wettbewerbsfähige CO2-arme Wirtschaft, Umwelt und Gesundheit, Umsetzung, Wissensgrundlage, externe Umweltkosten, Kohärenz, nachhaltige Städte und internationalen Umweltschutz. Es ist für eine Laufzeit von sechs Jahren (2014–2020) vorgesehen. Die EU hat sich in diesem Umweltaktionsprogramm als Ziel gesetzt, die Verwandlung von Abfällen in Rohstoffe, einschließlich der Ausweitung von Abfallvermeidung, -wiederverwendung und -recycling, sowie die schrittweise Abschaffung verschwenderischer und schädlicher Verfahren wie der Deponierung vorrangig zu betrachten. Einen weiteren Schwerpunkt bilden Maßnahmen zur effizienteren Wassernutzung, da inzwischen

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zahlreiche europäische Regionen deutlich sichtbar unter übermäßiger Wassernutzung (Wasserstress) leiden (BMU 2018, online). Das deutsche Recht und damit auch das Abfallrecht gliedern sich in Bundesrecht und Landesrecht. Unterhalb dieser staatlichen Ebene gibt es öffentlich-rechtliche Gebietskörperschaften (Gemeinden, Landkreise) und berufsständische Körperschaften des öffentlichen Rechts (z. B. Rechtsanwaltskammern), die für ihren Bereich ebenfalls Recht setzen können. Die wichtigsten Rechtsnormen in der Bundesrepublik Deutschland sind neben den Rechtsakten der EU und der Verfassung Gesetze, Rechtsverordnungen und Verwaltungsvorschriften. Als Gesetze werden Rechtsnormen bezeichnet, die durch ein förmliches, verfassungsmäßig vorgeschriebenes Gesetzgebungsverfahren von der Legislative beschlossen werden (Springer 2018a, online), wie Beispielsweise das Kreislaufwirtschaftsgesetz – Gesetz zur Förderung der Kreislaufwirtschaft und Sicherung der umweltverträglichen Bewirtschaftung von Abfällen vom 24. Februar 2012 (Springer 2018a, online). Rechtsnormen, die nicht durch die gesetzgebende, sondern durch die ausführende Gewalt der Bundes- oder Landesregierung (Exekutive) erlassen werden, sind Rechtsverordnungen (Springer 2018c, online), wie z. B. Abfallverzeichnis-Verordnung – Verordnung über das Europäische Abfallverzeichnis vom 10. Dezember 2001. Die Verwaltungsvorschriften in Form von Erlassen, Richtlinien und Durchführungsvorschriften etc. beschäftigen sich hingegen mit Fragen der Gesetzesanwendung und der Verwaltungsorganisation. Sie werden auf übergeordneter Hierarchieebene der Exekutive für nachgeordnete Behörden erlassen (Kluth 2013, S. 14 f.) wie beispielsweise die Verwaltungsvorschrift für Abfallnachweisgebühren (Nachweisverordnung, Kreislaufwirtschafts- und Abfallgesetz und Transportgenehmigungsverordnung; vorl. VwV Abfallnachweisgebühren) – Nordrhein-Westfalen – vom 23 November 2001. Letztendlich ist das Abfallrecht die Gesamtheit aller Rechtsnormen, die die Behandlung, den Transport, die Entsorgung und die Verwertung sowie den sonstigen Umgang mit Abfällen regeln. Es ist Teilgebiet des Umweltrechts und hat Bezüge zu fast allen anderen Gebieten des Umweltschutzes, wie z. B. zum Naturschutz, zum Gewässerschutz und zum Immissionsschutz. Da das Abfallvolumen stetig wächst und die Verfahren zur Abfallbehandlung wegen der damit verbundenen Emissionen in die Umwelt keine dauerhafte Lösung zur Abfallentsorgung darstellen, wird über die Gesetzgebung versucht, die Abfallvermeidung und ergänzend hierzu die Abfallverwertung, durch ­Recycling der im Abfall enthaltenen Wertstoffe und ihre Wiedereinführung in den ­Produkt- bzw. Wirtschaftskreislauf zu stärken.

6.3 Rohstoffversorgung In Bezug auf die Kosten- und Versorgungssituation bestehen in der Europäischen Wirtschaft derzeit Bedenken bezüglich der mittel- bis langfristigen Verfügbarkeit so genannter strategischer Rohstoffe, bei denen es sich überwiegend um metallische ­Rohstoffe handelt. Die Vorkommen vieler kritischer Rohstoffe sind weltweit gesehen

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auf mehrere Länder verteilt. Beispielsweise werden seltene Erden u. a. für Generatoren von Windkraftanlagen verwendet und diese sind in Deutschland in nur sehr geringen Mengen vorhanden. Problematisch ist, dass es bei der Bergwerksförderung u. a. von seltenen Erden zu einer starken Länderkonzentration kommt, so wurden z. B. 95 % der weltweiten Menge an seltenen Erden in 2016 in China gewonnen (BDI 2018, online). Die Notwendigkeit zur Erhöhung der Ressourceneffizienz sowie -substitution folgt daher aus ökonomischen Gründen (Kosten- und Versorgungssituation) sowie aus ökologischen Gründen (Umweltwirkungen des Abbaus und der Nutzung natürlicher Ressourcen).

6.3.1 Entwicklung ausgewählter Primärressourcen Wie in Kap. 1 dargestellt, wird der weltweite Ressourcenverbrauch bis 2030 rund 100 Gigatonnen erreichen (Linster et. al. 2015, S. 9). Der durchschnittliche tägliche Ressourcenverbrauch betrug im Jahr 2011 für einen Bewohner eines OECD-Mitgliedstaates rund 46 kg, davon entfielen 18 kg auf Baustoffe und industrielle Mineralien, 13 kg auf fossile Energieträger, 10 kg auf Biomasse und 5 kg auf Metalle (Linster et. al. 2015, S. 9). Im Vergleich dazu lag der deutsche Rohstoffkonsum im Jahre 2011 bei rund 1302 Gigatonnen, das entspricht einem Ressourcenverbrauch von 44 kg je Einwohner und Tag, davon entfiel der größte Anteil an den Ressourcen auf Mineralien mit 46 % gefolgt von fossilen Energieträgern mit 31 % und Biomasse mit 21 % sowie Metallerze mit zwei Prozent (Lutter et. al 2016, S. 46). Die inländische Rohstoffentnahme in Deutschland betrug im Jahr 2015 rund 1,041 Gigatonnen und lag damit um 15 % niedriger als im Jahr 2000 und um 22 % niedriger als im Jahr 1994 (UBA 2018c, online). Gründe für den Rückgang liegen in der abnehmenden Gewinnung von Baumaterialien und Erdgas sowie der auslaufenden Steinkohleproduktion. Zu den entnommenen Rohstoffen gehörten (UBA 2018c, online): • 49,66 % Baumaterialien wie beispielsweise Kiese, Sande, gebrochene Natursteine und Kalkstein • 18,73 % Energieträger, davon 91,2 % Braunkohle • 5,48 % Industriemineralien, wie Quarzsand, Spezialtone, Industrie- und Düngemittelsalze • 0,05 % Eisenerz mit sehr geringem Eisengehalt (Verwendung als Bauzuschlagsstoff) • 26,08 % Biotische Rohstoffe wie Bäume, Nutzpflanzen sowie Wildtiere, davon 90 % landwirtschaftliche Erzeugnisse wie Futterpflanzen, Hackfrüchte und Getreide Um den Rohstoffbedarf im Jahr 2015 in Deutschland zu decken, wurden 642 Mio. t Materialien und verarbeitete Produkte importiert (UBA 2018c, online). Verglichen mit dem Jahr 2000 stieg die importierte Rohstoffmenge um 23 % und im Vergleich zu 1994 um rund 39 % (UBA 2018c, online). Die Menge in 2015 entsprach einem Wert von 948,5 Mrd. EUR und fiel somit um 4,2 % höher aus als im Vorjahr (Huy et al. 2016,

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S. 21). Die Importe verteilten sich auf 55,29 % Rohstoffe, 21,03 % Halbwaren (vorverarbeitete Güter, die in weitere Produktionsprozesse einfließen, beispielsweise Aluminiumpressbolzen oder Stahlbrammen) sowie 23,68 % Fertigwaren (u. a. Büromaschinen, Fahrzeuge und elektrotechnische Geräte mit hohem Bearbeitungsgrad). Wird die gleiche Nomenklatur wie bei der inländischen Rohstoffentnahme zugrunde gelegt, ergibt sich folgende Verteilung für die Rohstoffimporte (UBA 2018c, online): • 52,65 % Energieträger und deren Erzeugnisse (Halb- und Fertigwaren), davon 82,25 % Erdöl und Erdgas • 19,78 % Erze (Eisen und Nichteisenerze) und deren Erzeugnisse • 19,31 % landwirtschaftliche Produkte, Holz und andere biotische Güter • 8,26 % mineralische Stoffe wie Natursteine und Industriesalze Anhand dieser Rohstoffdaten ist zu erkennen, dass Deutschland nahezu 100 % der notwendigen metallischen Rohstoffe weltweit bezieht (BDI 2018, online). Der hohe Importanteil an Fertigwaren ist auf die strukturelle Verlagerung rohstoffintensiver Fertigungsprozesse ins Ausland zurückzuführen.

6.3.2 Herausforderungen bei der Gewinnung ausgewählter Primärressourcen Viele der nicht-energetischen und nicht-landwirtschaftlichen Ressourcen, die Deutschland importiert, werden von der Europäischen Kommission als kritische Rohstoffe eingestuft. Kritisch bedeutet hierbei, dass die jeweiligen Rohstoffe von hoher wirtschaftlicher Bedeutung für industrielle Anwendungen sind und bei denen aufgrund von Importabhängigkeiten und Ausfuhrbeschränkungen kein fairer Zugang auf dem Weltmarkt sowie keine langanhaltende Versorgung aus europäischen Rohstoffquellen gegeben ist (EU 2017, S. 2 ff.). Die Liste der kritischen Rohstoffe für die EU und damit auch für Deutschland umfasst (nach 14 kritischen Rohstoffen im Jahr 2011 (EU 2011, S. 13 ff.) und 20 kritischen Rohstoffen im Jahr 2014 (EU 2014, S. 5 ff.) inzwischen folgende 27 kritischen Rohstoffe (mit * markierte Rohstoffe sind neu im Vergleich zur Liste 2014): Antimon, Baryt*, Beryllium, Wismut*, Borate, Kobalt, Kokskohle, Flussspat, Gallium, Germanium, Hafnium*, Helium*, Indium, Magnesium, Natürlicher Graphit, Kautschuk*, Niob, Phosphatgestein, Phosphor*, Scandium*, metallisches Silicium, Tantal*, Wolfram, Vanadium*, Platin Gruppen Metalle, schwere seltene Erden und leichte seltene Erden (EU 2017, S. 4 ff.). Zukunftstechnologien im Bereich der alternativen Energiegewinnung, Elektromobilität, Informationstechnik und Telekommunikation sind abhängig von der Verfügbarkeit, der Versorgungssicherheit und den Kosten dieser als kritisch eingestuften Rohstoffe. Anhand des Beispiels der seltenen Erden soll im Folgenden die Rohstoffsituation betrachtet werden. Diese werden in Katalysatoren, Magneten, Leuchtstoffen, Glas oder

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Keramik sowie Lasern eingesetzt (Tradium 2016, online). Zu den seltenen Erden gehören die chemischen Elemente der 3. Gruppe des Periodensystems (mit Ausnahme des Actiniums) und die Lanthanoide: Scandium (Ordnungszahl 21), Yttrium (39), Lanthan (57) sowie die 14 auf das Lanthan folgenden Elemente, die Lanthanoide: Cer (58), Praseodym (59), Neodym (60), Promethium (61), Samarium (62), Europium (63), Gadolinium (64), Terbium (65), Dysprosium (66), Holmium (67), Erbium (68), Thulium (69), Ytterbium (70) und Lutetium (71) (Schorn 2018, online). Die seltenen Erden werden in der Regel aus Mineralen gewonnen. Das wichtigste Mineralerz ist das Bastnäsit, ein Carbonat, das Anteile an leichten Seltenerdmetallen (ca. 49 % Cer, 33 % Lanthan, zwölf Prozent Neodym, vier Prozent Praesodym) und in geringen Mengen Anteile der schweren Seltenerdmetalle (ca. 0,8 % Samarium, 0,12 % Europium, 0,17 % Gadolinium, und Terbium) enthält (Lumitos 2018, online). Seltene Erden sind prinzipiell in der Erdkruste häufig anzutreffen, allerdings werden aus ökonomischen Gründen derzeit nur wenige Förderstellen betrieben. Dazu gehören im Jahr 2011 auf der Angebotsseite China, mit einem Marktanteil von 95,1 %, die USA mit 3,4 %, die Russische Föderation mit 1,4 % und Indien mit 0,1 % (BGR 2014, online). Im Jahr 2017 wurden in China nur noch rund 80 % der seltenen Erden gefördert, es ist davon auszugehen, dass 52.500 t an mineralischen Produkten und 49.925 t Schmelzprodukte hergestellt wurden (HSPUG 2018, online). Da China die Rohstoffe lange vergleichsweise günstig anbot, lohnte sich die eigene Förderung für viele Industriestaaten nicht. Jedoch führten strengere Kontrollen in Bezug auf illegale Förderung und Umweltverträglichkeit in Kombination mit einer Erhöhung der Vorräte durch die chinesische Regierung zu höheren Preisen. Beispielsweise sind im Oktober 2017 die Preise für Praseodym, Neodym und Gadolinium um 30 % gestiegen, nachdem Produktionseinschränkungen angekündigt wurden (HSPUG 2018, online). Darüber hinaus wurden in Folge der höheren Preise Minenprojekte außerhalb Chinas vorangetrieben, dazu gehörten u. a. Mt. Weld (Lynascorp, Australien) und Mountain Pass (Molycorp, USA) (BGR 2014, online). Zukünftig könnte die zur Verfügung stehende Menge an seltenen Erden aus China aufgrund neuer Gesetze und Exportrestriktionen weiter eingeschränkt werden. Experten gehen davon aus, dass mit der Exportbeschränkung eine weitaus interessantere Strategie verfolgt wird. Da die Wertschöpfung bei seltenen Erden in der Anwendung liegt, drängt die chinesische Industrie in diesen profitablen Bereich vor und versucht, der Produzent wesentlicher Schlüsselkomponenten zu werden, die dann mit einer vielfach höheren Wertschöpfung ins Ausland verkauft werden. Damit könnten die rohstoffarmen Hightech-Industrien u. a. in Japan und Deutschland von wesentlichen Märkten entkoppelt werden. Der Abbau natürlicher Ressourcen erfolgt selten unter Einhaltung ökologischer Standards. Beispielsweise ist die Gewinnung seltener Erden und anderer seltener Metalle sehr aufwendig und erfolgt unter hohem Einsatz von Chemikalien (Wehrspohn 2017, S. 316). Das Erz hat wie oben beschrieben einen geringen Gehalt an seltenen Erdmineralien und wird zunächst mit Hilfe von Brechern und rotierenden Feinmühlen gemahlen, um feine Partikel zu gewinnen. Unter Verwendung verschiedener physikalisch-chemischer

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Methoden, wie beispielsweise Schaumflotation, Magnettrenntechnik, Dichte-Konzentration und elektrostatische Konzentration, werden die Mineralien angereichert. Dieses Konzentrat muss in weiteren Schritten chemisch behandelt werden, um eine weitere Veredelung und Trennung der seltenen Erdelemente zu ermöglichen. Die Beschaffenheit des Endproduktes des chemischen Aufbereitungsprozesses hängt u. a. von der genauen Zusammensetzung des Mineralkonzentrates und der Gesamtnachfrage des Marktes ab. Die derzeit eingesetzten Methoden zur Gewinnung von Primärrohstoffen, die fast ausschließlich in Entwicklungs- und Schwellenländern stattfindet, sind extrem gesundheitsund umweltschädigend, während Umwelt- und Arbeitsschutzmaßnahmen de facto nicht vorhanden sind (Jones 2010, online; Rüttinger et al. 2014, online).

6.3.3 Sekundärressourcen Durch die Verwendung von Rest- und Abfallstoffen als Sekundärrohstoff und die energetische Verwertung von Abfällen kann ein erheblicher Beitrag zum Ressourcenschutz geleistet werden (UBA 2018a, online). In den 28 EU-Mitgliedstaaten fallen bei allen wirtschaftlichen Aktivitäten und in Haushalten jährlich rund 2.503 Gigatonnen Abfall an, zu denen auch 95,0 Mio. t gefährliche und giftige Abfälle gehören. Diese Abfallmenge setzt sich wie folgt zusammen (EU 2018b, online): 34,7 % Baugewerbeabfall 28,2 % Abfall aus dem Bergbau und der Gewinnung von Steinen und Erden 10,2 % Abfall aus dem verarbeitenden Gewerbe 9,1 % Abfall- und Wasserdienstleistungen 8,3 % Abfall aus Haushalten 9,5 % Abfälle aus anderen Wirtschaftszweigen, hauptsächlich Dienstleistungen (3,9 %) und Energie (3,7 %) Im Jahr 2014 wurden in der EU rund 92,7 % der Abfälle behandelt. Dies schloss die Behandlung von in die EU eingeführten Abfällen ein, daher sind die gemeldeten Mengen nicht direkt mit denen der anfallenden Abfallmenge identisch. Fast die Hälfte (47,4 %) der Abfälle wurde deponiert. Weitere 36,2 % der Abfallmenge wurden recycelt. 10,2 % der Abfallmenge wurde verfüllt, der Rest wurde der Verbrennung zugeführt, entweder mit Energierückgewinnung (4,7 %) oder ohne (1,5 %) (EU 2018b, online). Im Jahr 2015 betrug das Brutto-Abfallaufkommen in Deutschland 402,2 Mio. t. Das darin enthaltene Netto-Abfallaufkommen (351,3 Mio. t) sank im Vergleich zum Jahr 2000 um 14 %. Der Rückgang ist hauptsächlich auf die Abnahme der Bau- und Abbruchabfälle zurückzuführen. Als Netto-Abfallaufkommen werden die in Abfallentsorgungsanlagen eingesetzten Abfallmengen abzüglich der Importe und zuzüglich der Exporte bezeichnet. Sekundärabfälle, d. h. Abfälle, die bereits in anderen Abfallentsorgungsanlagen behandelt wurden, sind darin nicht enthalten (UBA 2017, online). In Deutschland ist die mengenmäßig bedeutendste Abfallgruppe Bau- und Abbruchabfälle einschließlich des

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­ traßenaufbruchs sowie des Bodenaushubs, die im Jahr 2015 mit 209 Mio. t rund 52 % S des Brutto-Abfallaufkommens betrug. Der Bodenaushub hat den größten Anteil an dieser Abfallgruppe und wird zu 85 % verwertet. Die restlichen mineralischen Bauabfälle werden zu rund 90 % verwertet. Die anfallende Menge der Bau- und Abbruchabfälle verläuft überwiegend parallel zur konjunkturellen Entwicklung im Baugewerbe (UBA 2017, online). Die „übrigen Abfälle (insbesondere aus Produktion und Gewerbe)“ umfassten im Jahr 2015 rund 14,7 % der Abfälle (59,2 Mio. t). Nach den Bauabfällen war dies demnach die bedeutendste Abfallgruppe (UBA 2017, online). Die Abfallgruppe „Abfälle aus Gewinnung und Behandlung von Bodenschätzen“ stammte zum größten Teil aus dem Steinkohlebergbau und betrug im Jahr 2015 mit 31,4 Mio. t etwa 7,8 % des Abfallaufkommens. Dieses Material wurde aufgehaldet, nur zwei Prozent dieser Abfallmenge wurden verwertet. Insgesamt lag das Aufkommen an Bergematerial im Jahr 1999 bei 52,2 Mio. t und im Jahr 2002 bei 45,4 Mio. t. Diese Mengenabnahme geht mit dem Rückgang der Kohleförderung in Deutschland einher (UBA 2017, online). Das Siedlungsabfallaufkommen stieg von 37,6 Mio. t im Jahr 2000 auf 45,9 Mio. t im Jahr 2015 an, pro Einwohner entspricht dies einer Menge von 458 kg/Ew. im Jahr 2000 und 559 kg/Ew. im Jahr 2015. Während im Jahr 2000 rund 51 % der Siedlungsabfälle verwertet wurden, waren es im Jahr 2015 91 %, davon wurden 67,6 % stofflich und 23,4 % energetisch verwertet (UBA 2017, online). Rund sechs Prozent des Abfallaufkommens gehörten 2015 zu den gefährlichen Abfällen, die überwiegend in der Industrie und dem Baugewerbe anfielen und zu 67 % verwertet wurden (UBA 2017, online). Abfälle, die nicht verwertbar sind, werden unter Einhaltung von Umweltstandards beseitigt.

6.4 Alternative Ressourcenbeschaffung Der Rohstoffverbrauch der Weltwirtschaft wächst und gleichzeitig steigen die Preise für Rohöl, Edelmetall und Erze. Da aufgrund von erschöpften Lagerstätten sowie eingeschränkter Verfügbarkeit aus politischen Gründen von einer Rohstoffverknappung auszugehen ist (Neugebauer 2017, S. 14 f.), bedarf es technischer und strategischer Innovationen, um Ressourcen zu schonen, Produkte langlebig zu gestalten und wieder- sowie weiterzuverwenden und gezielt Materialien zu recyceln.

6.4.1 Politische Ressourceneffizienz-Programme auf europäischer und nationaler Ebene Das Thema Ressourceneffizienz ist in der Europäischen Union in den letzten 16 Jahren zu einem wichtigen Bestandteil der europäischen Umwelt- und Wirtschaftspolitik geworden. Beginnend mit dem EU-Umweltaktionsprogramm (6. UAP) aus dem Jahr 2002 und seiner Zielsetzung, Umweltbelastung und Wirtschaftswachstum voneinander

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zu entkoppeln, hat die Europäische Kommission folgende Mitteilungen zur effizienten Ressourcennutzung veröffentlicht: • KOM (2005) 666 der Europäischen Kommission „Weiterentwicklung der nachhaltigen Ressourcennutzung – Thematische Strategie für Abfallvermeidung und Abfallrecycling“ vom 21. Dezember 2005 • KOM (2005) 670 der Europäischen Kommission „Thematische Strategie für eine nachhaltige Nutzung natürlicher Ressourcen“ vom 21. Dezember 2005 • KOM (2011) 21 der Europäischen Kommission Leitinitiative „Ressourcenschonendes Europa“ • KOM (2011) 571 der Europäischen Kommission „Fahrplan für ein ressourcenschonendes Europa“ • KOM (2014) 398 der Europäischen Kommission „Ein Null-Abfallprogramm für Europa“ • KOM (2018) 32 der Europäischen Kommission „Über die Umsetzung des Pakets zur Kreislaufwirtschaft: Optionen zur Regelung der Schnittstelle zwischen Chemikalien-, Produkt- und Abfallrecht“ Mit diesen langfristig angelegten Strategien will die Europäische Kommission erreichen, dass bis zum Jahr 2050 die Wirtschaft der Europäischen Union so arbeitet, dass die Ressourcenknappheit und die Grenzen des Planeten respektiert, und die genannten Ressourcen bis dahin nachhaltig und emissionsarm bewirtschaftet werden. Letztendlich wird durch die Berücksichtigung der Ressourceneffizienz mehr Planungssicherheit für Investitionen und Innovationen gewährleistet (BMU 2018, online). Auf nationaler politischer Ebene hat die Bundesregierung in Deutschland bereits im Jahr 2002 in der Nationalen Nachhaltigkeitsstrategie gefordert, die Rohstoffproduktivität bis zum Jahr 2020 gegenüber dem Jahr 1994 zu verdoppeln. Der Indikator „Rohstoffproduktivität“ präzisiert, wie effizient abiotische Rohstoffe in Deutschland verwendet werden, um das Bruttoinlandsprodukt (BIP) zu erreichen. Bereits bis zum Jahr 2015 wurde die Rohstoffproduktivität um 56,4 % gesteigert (UBA 2018d, online). Um das gesetzte Ziel der nationalen Nachhaltigkeitsstrategie zu erreichen, wurde 2012 von der Bundesregierung ein weiteres strategisches Konzept, das Deutsche Ressourceneffizienzprogramm (ProgRessI), zur Steigerung der Ressourceneffizienz beschlossen. Im März 2016 wurde das Programm als ProgRessII fortgesetzt. Ziel dieses ProgRessII-Programms ist, die gesamte Wertschöpfungskette unter ressourceneffizienten Aspekten zu betrachten sowie die Effizienzberatung für kleine und mittlere Unternehmen auszubauen, die Beschaffung ressourceneffizienter Produkte und Dienstleistungen durch die öffentliche Hand zu optimieren sowie einen stärkeren Technologie- und Wissenstransfer in Entwicklungs- und Schwellenländer zu ermöglichen (BMU 2016, online). Letztendlich ist der Anstieg der Rohstoffproduktivität deutlich abgeebbt. Wird die durchschnittliche Entwicklung der letzten fünf Jahre zugrunde gelegt, sind bis 2020 nur rund 65 % dieser Zielvorgabe erreichbar (UBA 2018d, online).

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6.4.2 Substitution von Material und Technik Eine dauerhafte Reduzierung der Abhängigkeit von der Rohstoffverfügbarkeit lässt sich durch deren Substitution erzielen. Substitution kann dabei auf der Material- oder auf der Produkt- bzw. Technologieebene erfolgen. Die Materialsubstitution bietet einen Ansatz, der Verknappung von Rohstoffen zu begegnen. Materialien, mit ähnlichen chemischen Eigenschaften, können je nach Versorgungslage zur Erfüllung einer bestimmten Funktion in einem technischen Produkt alternativ zur Anwendung kommen. Beispielsweise ist der Einsatz von Palladium oder Platin in Automobilkatalysatoren oder auch Halbleiterelemente, die untereinander teils substituierbar sind, technisch möglich. Ein weiteres Beispiel hierfür ist der Einsatz faserverstärkter Kunststoffe anstelle rostfreier Stähle, die Chrom benötigen (Weissenberger-Eibl et al. 2014, S. 19). Derzeit wird in der Praxis versucht, synthetische Faserverbundwerkstoffe durch nachwachsende Rohstoffe zu ersetzen. Konventionelle Faserverbundwerkstoffe enthalten überwiegend Komponenten aus fossilen Rohstoffen, die zukünftig durch Komponenten aus nachwachsenden Rohstoffen, wie z. B. Reststoffe aus der Landwirtschaft (u. a. Stroh) oder der Textilindustrie (Textilfasern), ersetzt werden. Dazu gehören heute schon Dämmmatten, die aus Hanf oder Flachs bestehen. Werden diese Rohstoffe in biologische Kreisläufe zurückgeführt, ist ein schonender und nachhaltiger Umgang mit den Ressourcen umsetzbar (Schlund et al. 2014, S. 106). Darüber hinaus kann eine Materialsubstitution dazu führen, die Nutzung einer anderen Ressource in Prozessen bzw. Produkten zu verringern. Durch den Einsatz von verbesserten Wärmedämmmaterial können Energieressourcen eingespart oder durch die Verwendung von Leichtbaumaterialien in Fahrzeugen der Kraftstoffverbrauch reduziert werden (Schlund et al. 2014, S. 106). Weiterhin ist es möglich, ein Material durch eine komplett neue Technologie zu substituieren, wie z. B. die Einführung von Glasfaserkabeln anstelle von Kupferkabeln. Im Rahmen der Ressourcenverfügbarkeit sollte darauf geachtet werden, dass nicht eine Verlagerung eines Problems in einen anderen Bereich erfolgt, d. h. dass nicht eine kritische Ressource durch eine andere, ebenso kritische Ressource substituiert wird.

6.4.3 Einsatz effizienterer Produktionstechnologien Im Bereich der Produktionstechnologien ist die Effizienzsteigerung ein durch ökonomische Zwänge vorgegebenes Ziel und in Bezug auf kritische Rohstoffe sind hier auch noch Steigerungspotenziale verfügbar. Ein Beispiel hierfür ist die Sputterdeposition, ein Beschichtungsprozess für die Produktion von Elektronikkomponenten. Bei diesem Beschichtungsprozess wird nur ein geringer Teil des Materials auf die Oberfläche aufgetragen, je nach Anwendung können dies nur ca. zehn Prozent sein. Der Rest des Auftragsmaterials fällt als Produktionsabfall an (Hesse und Hohaus 2012, S. 12 ff.). Oftmals gibt es verschiedene Produktionstechnologien, die das gewünschte Ergebnis am Produkt herbeiführen, wie beispielsweise der Ersatz des Punktschweißens durch das Clinchen,

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beides Fügeverfahren, die dazu dienen Bleche mechanisch und elektrisch miteinander zu verbinden (Erlach 2014, S. 55). Eine weitere Möglichkeit ist, bei Produktionsanlagen veraltete Komponenten durch neuere, mit höherem Wirkungsgrad auszutauschen. In den letzten Jahren sind Fortschritte hinsichtlich der Wirkungsgrade im Bereich von Motoren und Pumpen erzielt worden. Darüber hinaus regeln neue gesetzliche Vorschriften die einzusetzende Effizienzklasse von Antrieben. Da sich die Investitionskosten für Antriebe kleiner Leistungsklassen in der Regel mittelfristig amortisieren, sollte vor Austausch geprüft werden, welche Einsparpotenziale durch den Ersatz einzelner Maschinenkomponenten erreicht werden können (Erlach 2014, S. 56).

6.4.4 Kreislaufführung von Materialien Ein weiterer Ansatz zur Erhöhung der Ressourceneffizienz ist die Verbesserung der Kreislauffähigkeit von Ressourcen, z. B. durch Wieder- bzw. Weiterverwendung von Produkten, Komponenten oder auch Materialien bis hin zu geschlossenen Stoffkreisläufen. Bereits bei der Produktgestaltung sollte entsprechend der Vorgaben für Produktnachhaltigkeit und „Design for Environment“ (DfE) die problemlose Durchführbarkeit von Recyclingprozessen vorgesehen werden. Darüber hinaus sollte ein Produkt modular aufgebaut sein und dadurch den Austausch von einzelnen Komponenten ermöglichen, wie beispielsweise bei einem Fairphone. Des Weiteren führt eine möglichst geringe Materialvielfalt in einem Produkt zu einer geringeren Anzahl von Werkstofffraktionen mit höherer Sortenreinheit (Schlund et al. 2014, S. 107). Um die Abhängigkeit vom ausschließlichen Primärmaterialeinsatz zu verringern, muss das Ziel, die Etablierung einer Sekundärrohstoffwirtschaft sein, die bei anderen Industriemetallen längst zur einer tragenden Säule der Rohstoffversorgung geworden ist. Beispielsweise waren im Jahr 2016 rund 57 % des in Deutschland eingesetzten Aluminiums und 41 % des eingesetzten Kupfers Sekundärmaterial (BGR 2016, online). Der Einsatz von Sekundärmaterialien ist auch vor dem Hintergrund des effizienten Energieeinsatzes anzustreben, denn zur Produktion von Primäraluminium in Deutschland ist ein Stromeinsatz von 15 MwH/t erforderlich, während für die Produktion einer Tonne Sekundäraluminium etwa fünf Prozent der für die Primärproduktion eingesetzten Energie benötigt wird (FIZ 2018, online) Mit dem Begriff des „Urban Mining“ wird die Gewinnung von Sekundärressourcen aus Zivilisationsabfällen und Produktionsresten beschrieben. Beispielsweise weisen etwa gebrauchte Toner-Kartuschen einen höheren Prozentsatz an Gold auf als das Material, aus dem in Südafrika dieses Edelmetall gewonnen wird. Auch in Baurestabfällen befinden sich nicht selten höhere Prozentsätze an Kupfer als im Erz aus Kupferbergwerken. Beispielsweise enthält ein Mobiltelefon über 40 Elemente des Periodensystems inklusive der Metalle Kupfer, Zinn, Kobalt, Indium, Antimon und Edelmetalle, u. a. Silber, Gold und Palladium. Die Metalle betragen im Durchschnitt 23 % des Gewichts des Mobiltelefons, der überwiegende Anteil besteht aus Kupfer. Ein einzelnes ­Mobiltelefon

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enthält im Durchschnitt: 250 mg Silber, 24 mg Gold, 9 mg Palladium sowie 9 g Kupfer. Auf den ersten Blick scheinen diese Menge sehr geringfügig zu sein, aber werden die weltweit 1200 Mio. gebrauchten Mobiltelefone berücksichtigt, resultieren daraus 300 t Silber, 29 t Gold, 11 t Palladium sowie 11.000 t Kupfer. Vor dem Hintergrund der anhaltenden Miniaturisierung von Produkten liegt die Herausforderung in der Rückgewinnung bzw. Aufkonzentrierung der geringen Mengen an kritischen Metallen, wobei die Verringerung des Materialeinsatzes auf der anderen Seite auch einen Beitrag zur Steigerung der Ressourceneffizienz liefert (Hesse und Hohaus 2012, S. 12 ff.).

6.4.5 Energetische Verwertung sowie Einsatz erneuerbarer Energien Neben Rohstoffen können auch alternative Energieträger aus dem heutigem Abfall gewonnen werden, denn große Anteile der Siedlungsabfälle aus gewerblicher Herkunft sind für die Produktion von Ersatzbrennstoffen geeignet. In Kraftwerken und Industriebetrieben können die hochkalorischen Ersatzbrennstoffe fossile Primärenergieträger ersetzen. So wird beispielsweise das Kraftwerk der Weener Energie GmbH & Co. KG auf Basis von Ersatzbrennstoffen betrieben und versorgt die Papierfabrik der Klingele Gruppe mit Wärme und teilweise mit Strom. Mit einer jährlichen Brennstoffmenge von ca. 120.000–140.000 Tonnen werden rund 28 Mio. Kubikmeter Erdgas sowie Primärenergie ersetzt und etwa 48.000 Tonnen fossile CO2-Emissionen pro Jahr eingespart. Wieder- und Weiterverwertung ist auch für verschiedene Energieformen in Produktionsunternehmen anwendbar. Durch Rekuperation oder Abwärmenutzung können primäre Energiemengen eingespart werden, beispielsweise kann durch Wärmekopplung der Abwärme von Kompressoren die Raumluft oder die Temperatur von Reinigungsbädern erwärmt werden. Darüber hinaus ist es möglich, Verarbeitungszeiten in energieintensiven Prozessen (z. B. beim Glühen) durch Vorerwärmung zu verringern (Schlund et al. 2014, S. 107). Erneuerbare Energien, wie Wind- und Sonnenenergie, Biomasse, Geothermie und Wasserkraft, tragen zur Versorgungssicherheit und zur Vermeidung von Energierohstoffkonflikten bei. Im Jahr 2017 wurden aus erneuerbarer Energie 410 Terawattstunden (TWh) Energie gewonnen, davon dienten 53 % der Stromerzeugung, rund 40 % der Wärmegeneration und ca. sieben Prozent entfielen auf biogene Kraftstoffe im Verkehrssektor. Der Anteil der erneuerbaren Energie am Bruttostromverbrauch konnte von 31,6 % (2016) auf 36,2 % (2017) gesteigert werden, dagegen verringerte sich der Anteil am Wärmeverbrauch um 0,3 Prozentpunkte auf 12,9 %. Im Verkehrssektor blieb der Anteil mit 5,2 % erneuerbarer Energie konstant. Während in der Stromerzeugung Windkraft, Sonnenenergie und Wasserkraft mit einem Anteil von zusammen 76 % der erzeugten Strommenge aus erneuerbarer Energie überwiegen, ist Biomasse mit rund 88 % des Endenergieverbrauchs aus erneuerbaren Energien im Wärme- und Verkehrssektor führend. Diese Angaben zeigen, dass der Einsatz erneuerbarer ­Energien

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zu signifikanten Einsparungen von Steinkohle, Erdgas, Heizöl, Dieselkraftstoff und Ottokraftstoff führt (UBA 2018b, online). Um die Ziele der Energiepolitik der Bundesregierung zu erreichen (u. a. soll der Anteil von erneuerbarer Energie am Bruttoendenergieverbrauch von rund elf Prozent im Jahr 2010 auf 60 % im Jahr 2050 steigen sowie der Anteil an der Stromversorgung bis 2020 mindestens 35 % und 2050 gut 80 % betragen), bedarf es weiterer Bestrebungen, die Energieversorgung in den nächsten Jahrzehnten umzubauen.

6.5 Fazit Einer Sicherstellung der mittel- bis langfristigen Versorgung mit Rohstoffen sowie der Minimierung von schädlichen Auswirkungen auf Mensch und Umwelt müssen sich Unternehmen in zunehmend komplexen, globalen Wertschöpfungsketten stellen. Grundsätzliche Ansatzpunkte bieten hier u. a. die folgenden Handlungsfelder: • • • •

Substitution von Material und Technik Einsatz effizienterer Produktionstechnologien Kreislaufführung von Materialien Energetische Verwertung sowie Einsatz erneuerbarer Energien

Die Notwendigkeit zur Erhöhung der Ressourceneffizienz sowie -substitution erfolgt in der Regel aus wirtschaftlichen Gründen (Kosten- und Versorgungssituation) sowie aus ökologischen Gründen (Umweltwirkungen des Abbaus und der endlichen Nutzung natürlicher Ressourcen). Potenzial bietet die Optimierung der Kreislauffähigkeit von Ressourcen, z. B. durch Wieder- bzw. Weiterverwendung von Produkten, Komponenten oder auch Materialien bis hin zu geschlossenen Stoffkreisläufen. Eine nachhaltige ressourceneffiziente Rohstoffversorgung sollte jedoch die Wechselwirkungen unter den einzelnen Handlungsfeldern beachten. Beispielsweise kann die Verringerung des Materialeinsatzes, u. a. durch Miniaturisierung, oder die Materialsubstitution die Kreislaufführung eines Produkts erheblich erschweren.

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Kathrin Hesse hat ein Studium der Chemie an der Universität Dortmund absolviert und im Bereich der physikalischen Chemie promoviert. Anschließend war sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Umweltschutz (INFU) für Risikobewertung von chemischen Stoffen gemäß technischer Richtlinien der Europäischen Kommission zuständig. Danach verantwortet sie 14 Jahre lang als Projektleiterin am Fraunhofer-Institut für Materialfluss und Logistik Recycling-, Umwelt- und Logistikprojekte vorrangig im Auftrag von Industrie- und Handelsunternehmen in den Arbeitsschwerpunkten ökologische Bewertung (LCA, Carbon Footprint Analysen, PIUS), Material- und Energieeffizienzanalysen in Logistikketten, Recycling von Kunststoffen und Metallen sowie Gefahrgut- und Gefahrstofflogistik. Kathrin Hesse folgte zum 01.04.2014 dem Ruf auf die Professur Entsorgungslogistik an der Fakultät für Fahrzeugsysteme und Produktion der Technischen Hochschule Köln. In Forschung und Lehre beschäftigt sie sich mit Themen aus den Bereichen Entsorgungslogistik, Entsorgungstechnik und Umweltmanagementsysteme, insbesondere Green Logistics sowie nachhaltige Logistik und Chemielogistik. Ferner ist sie seit 2007 als Dozentin des Lehrgebiets Entsorgungslogistik an der EUROFH Hamburg aktiv. Sie engagiert sich darüber hinaus im Arbeitskreis VDI 4070 Nachhaltiges Wirtschaften – Anleitung zum Nachhaltigen Wirtschaften sowie im EdDE-Arbeitsausschusses „Logistiksysteme“.

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Öffentliche Beschaffung biobasierter Produkte – Erkenntnisse aus einer deutschlandweiten Studie öffentlicher Auftraggeber Felix Blank, Michael Broens, Jennifer Fischer und Ronald Bogaschewsky

Zusammenfassung

Öffentlichen Auftraggebern kommt hinsichtlich einer nachhaltigen Beschaffung eine Vorbildrolle zu. Dies trifft im Zusammenhang mit der Bioökonomiestrategie der Bundesregierung insbesondere auch auf die Beschaffung biobasierter Produkte zu. Biobasierte Produkte sind dadurch gekennzeichnet, dass sie zu einem relevanten Anteil aus nachwachsenden Rohstoffen bestehen. Über den Umfang und die Potenziale der öffentlichen Beschaffung biobasierter Produkte gibt es bislang keine belastbaren Daten. Ebenso gibt es nur Vermutungen über die Gründe, die einer Beschaffung dieser Produkte in der Praxis entgegenstehen. Diese Lücke schließt eine im Rahmen eines vom Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft (BMEL) geförderten Projekts durchgeführte deutschlandweite Befragung öffentlicher Auftraggeber. Fast 1200 öffentliche Auftraggeber haben sich im Sommer 2017 an dieser Studie beteiligt, sodass nunmehr eine für diesen Bereich äußerst breite Datenbasis vorliegt.

F. Blank () E-Mail: [email protected] J. Fischer E-Mail: [email protected] R. Bogaschewsky E-Mail: [email protected] M. Broens  E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 W. Wellbrock und D. Ludin (Hrsg.), Nachhaltiges Beschaffungsmanagement, https://doi.org/10.1007/978-3-658-25188-8_7

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7.1 Nachhaltigkeit in der öffentlichen Beschaffung Die öffentliche Beschaffung biobasierter Produkte ist als ein Teilbereich einer nachhaltigen Beschaffung anzusehen. Im Folgenden sollen zunächst die Besonderheiten der öffentlichen Beschaffung, die Forderung nach einer nachhaltigen öffentlichen Beschaffung und die Rolle, die biobasierte Produkte hier einnehmen können, herausgearbeitet werden. Anschließend soll der Stand der empirischen Forschung im Bereich der nachhaltigen öffentlichen Beschaffung vorgestellt werden.

7.1.1 Grundlagen der öffentlichen Beschaffung Unter öffentlicher Beschaffung können sämtliche Tätigkeiten subsumiert werden, die dazu dienen, öffentliche Auftraggeber mit fremdbezogenen Waren und Dienstleistungen sowie Bauleistungen zu versorgen. Zu den klassischen öffentlichen Auftraggebern zählen die Gebietskörperschaften Bund, Länder und Kommunen und ihre Einrichtungen. Dem funktionellen Auftraggeberbegriff des europäischen Vergaberechts folgend, sind auch weitere, gegebenenfalls auch privatrechtlich organisierte Einrichtungen, wie z. B. Unternehmen auf dem Gebiet der Trinkwasser- oder Energieversorgung oder des Verkehrs, als öffentliche Auftraggeber einzustufen (§ 99 Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen (GWB)). Die Finanzierung der Ausgaben für öffentliche Aufträge erfolgt im Wesentlichen durch Steuergelder. Dies ist auch der Grund, warum die öffentliche Beschaffung wesentlich stärker im Fokus der Öffentlichkeit steht als die Beschaffungsaktivitäten von Industrieunternehmen. Gleichzeitig ergibt sich auch ein verstärkter Regelungsbedarf bezüglich öffentlicher Beschaffungsaktivitäten, der sich im Vergaberecht manifestiert. Das Vergaberecht soll einerseits der Erreichung kostenwirtschaftlicher und politischer Ziele dienen, andererseits auch einen Schutzmechanismus gegenüber einer übersteigerten Verfolgung politischer Ziele und der Benachteiligung einzelner Anbieter darstellen. Das Vergaberecht regelt dabei den Ablauf ab der Entscheidung eines öffentlichen Auftraggebers, ein bestimmtes Gut am Markt zu beschaffen, bis zum Vertragsabschluss. Die letzte größere Vergaberechtsreform fand 2016 bzw. 2017 statt. Dabei ist zu berücksichtigen, dass sich das Vergaberecht nicht in einer Rechtsnorm konzentriert, sondern aus einer Vielzahl unterschiedlicher Rechtsquellen gebildet wird. Strukturell ist für das nationale Vergaberecht eine Zweiteilung kennzeichnend. Grundlage dieser Teilung ist die in europäischen Richtlinien (u. a. Richtlinie 2014/24/EU und Richtlinie 2014/25/ EU) getroffene Festlegung von Schwellenwerten hinsichtlich der Auftragssummen bei öffentlichen Aufträgen („EU-Schwellenwerte“), ab deren Erreichen die Inhalte der Richtlinien zwingend zu beachten sind. Tab. 7.1 gibt einen beispielhaften Überblick über die aktuellen Schwellenwerte.

7  Öffentliche Beschaffung biobasierter …

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Tab. 7.1  EU-Schwellenwerte für öffentliche Aufträge. (Quelle: Amtsblatt der Europäischen Union L337 2017, S. 17, 19) 5.548.000 €

Bauaufträge

221.000 €

Liefer- und Dienstleistungsaufträge

144.000 €

Liefer- und Dienstleistungsaufträge (gilt nur für obere und oberste ­Bundesbehörden)

Ab dem Erreichen der EU-Schwellenwerte finden sich die anzuwendenden vergaberechtlichen Regelungen im Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen (GWB), der Vergabeverordnung (VgV) sowie dem 2. Abschnitt der Vergabe- und Vertragsordnung für Bauleistungen Teil A (VOB/A). Unterhalb der EU-Schwellenwerte gelten bundes- bzw. landesspezifische Haushaltsordnungen, über die in Form von Gesetzen, Verwaltungsvorschriften oder Erlasse vergaberechtliche Regelungen umgesetzt bzw. auf diese verwiesen wird. Bezüglich der Beschaffung von Liefer- und Dienstleistungen ist dies die Unterschwellenvergabeordnung (UVgO) und bezüglich der Beschaffung von Bauleistungen der 1. Abschnitt der VOB/A. Für die Durchführung von Beschaffungsprozessen sieht das Vergaberecht verschiedene Vergabeverfahrensarten vor. Hierbei ist zu unterscheiden zwischen Vergabeverfahrensarten ab dem Erreichen der EU-Schwellenwerte (EU-weite Verfahren) und unterhalb der EU-Schwellenwerte (nationale Verfahren). Innerhalb der Vergabeverfahrensarten besteht eine Hierarchie, wobei die Verfahrensarten der gleichen Hierarchiestufe inhaltlich sehr ähnlich sind. Unterschiede bestehen neben dem bei EU-weiten Verfahren bestehenden Primärrechtsschutz und den umfangreicheren Publikationspflichten mit einer Übergangsfrist hinsichtlich der verpflichtenden elektronischen Kommunikation im Vergabeverfahren. Primär können öffentliche Auftraggeber zwischen einem offenen Verfahren bzw. einer öffentlichen Ausschreibung und einem nicht offenen Verfahren mit Teilnahmewettbewerb bzw. einer beschränkten Ausschreibung mit Teilnahmewettbewerb wählen (§ 119 Abs. 2 GWB, § 14 Abs. 2 VgV bzw. § 8 Abs. 2 UVgO). Auf nationaler Ebene gilt bei Bauleistungen zudem der Vorrang der öffentlichen Ausschreibung (§ 3a EU Abs. 1 VOB/A). Sofern bestimmte Ausnahmetatbestände erfüllt sind, können auf EU-Ebene ein Verhandlungsverfahren mit oder ohne Teilnahmewettbewerb oder ein wettbewerblicher Dialog oder eine Innovationspartnerschaft durchgeführt werden (§ 14 Abs. 3–4, § 19 VgV bzw. § 3a EU Abs. 2–5 VOB/A). Auf nationaler Ebene sind dies die beschränkte Ausschreibung ohne Teilnahmewettbewerb sowie die Verhandlungsvergabe mit oder ohne Teilnahmewettbewerb (§ 8 Abs. 3–4 UVgO). Das offene und das nicht offene Verfahren sowie die öffentliche und die beschränkte Ausschreibung sind dabei stark formalisierte Verfahren, während die anderen Verfahrensarten u. a. eine Verhandlung mit den Bietern über Inhalt und Preis der Angebote erlauben (§ 17 Abs. 10 VgV, § 12 Abs. 4 UVgO, § 3b EU Abs. 3–5 VOB/A).

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7.1.2 Forderung nach Nachhaltigkeit Das öffentliche Auftragsvolumen in Deutschland liegt schätzungsweise zwischen 300 und 350 Mrd. € (Portz 2004, S. 2; BMWi 2018, online) und damit bei über zehn Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Die volkswirtschaftliche Bedeutung der öffentli­ chen Beschaffung ist folglich beträchtlich. Nicht zuletzt aus diesem Grund wird öffentlichen Auftraggebern eine Vorbildfunktion in Bezug auf eine nachhaltige Beschaffung zugeschrieben, um so dem Erreichen umweltpolitischer Zielsetzungen zu dienen (Hilse 1996, S. 167; Ruff 2009, S. 12). Erfolgreiche öffentliche Beschaffungsprojekte nachhaltiger Produkte können für nachfragende privatwirtschaftliche Unternehmen und auch für Bürger ein wichtiges Signal und gleichzeitig eine Informationsgrundlage sein, sich näher mit solchen Produkten auseinanderzusetzen. Neben dem Einnehmen einer Vorbildfunktion kann mit der Beschaffung nachhaltiger Produkte zudem eine Innovationsförderung einhergehen, wenn dadurch neue Produkte entwickelt werden bzw. deren Marktetablierung vorangebracht wird. Die Forderung nach einer verstärkten Wahrnehmung dieser Vorbildfunktion in Bezug auf eine nachhaltige Beschaffung ist gegenüber den öffentlichen Auftraggebern in den vergangenen Jahren immer prägnanter geworden. Für die öffentlichen Auftraggeber gilt es dabei, die vergaberechtlichen Vorgaben einzuhalten. Die Aufnahme der Berücksichtigung von Qualität, innovations- sowie sozialer und umweltbezogener Aspekte als weitere Vergabegrundsätze im Zuge o.g. Vergaberechtsreform (§ 97 Abs. 3 GWB) zeigt aber deutlich, dass seitens des Gesetzgebers weitreichende Möglichkeiten zu einer nachhaltigen öffentlichen Beschaffung eröffnet werden sollen. So können diese Aspekte in jeder Phase eines Vergabeverfahrens – von der Definition der Leistung über die Festlegung von Eignungs- und Zuschlagskriterien bis hin zur Vorgabe von Ausführungsbedingungen – einbezogen werden (Umweltbundesamt 2018, online). Die tatsächliche Umsetzung einer nachhaltigen öffentlichen Beschaffung ist allerdings im Einzelfall oftmals für die öffentlichen Auftraggeber nicht trivial, da diese weiterhin im Einklang mit den anderen Vergabegrundsätzen, wie Wettbewerbsgebot, Gleichbehandlungsgebot und Wirtschaftlichkeitsgebot (§ 97 Abs. 1 f.), stehen muss.

7.1.3 Biobasierte Produkte und Nachhaltigkeit Allgemein werden Produkte dann als biobasierte Produkte bezeichnet, wenn Sie entweder vollständig oder zu „relevanten“ – i. d. R. nicht konkret spezifizierten – Anteilen aus Biomasse und damit aus nachwachsenden Rohstoffen hergestellt werden. Biomasse definiert sich dabei als biologisch abbaubare Teile von Erzeugnissen, Abfällen und Reststoffen der Landwirtschaft sowie der Forstwirtschaft und dem biologisch abbaubaren Teil von Abfällen aus Industrie und Haushalten. Fossile Brennstoffe, wie Erdöl, Kohle oder Erdgas, werden dagegen, aufgrund der nicht bestimmbaren Dauer der Regeneration, nicht als Biomasse angesehen.

7  Öffentliche Beschaffung biobasierter …

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Die Produktvielfalt, die für das biobasierte Wirtschaften zur Verfügung steht, ist immens. Für einen besseren Überblick empfiehlt sich daher eine Einteilung in Produktgruppen. Dabei kann in biobasierte Produkte aus den Produktgruppen der Baustoffe, der Büro- und Raumausstattung, der Büroartikel, der Energie, der Schmierstoffe, der Textilien und der Reinigungsmittel unterschieden werden. Lebensmittel zählen dabei nicht zu den biobasierten Produkten, da diese im weitesten Sinne stets aus regenerativen Rohstoffen bestehen. Mittlerweile werden die Nachhaltigkeit und eine nachhaltige Lebensweise als ein gesellschaftliches Leitbild für das Handeln und Wirtschaften von Individuen und Unternehmen gesehen. Wirtschaften wird dann als nachhaltig bezeichnet, wenn dieses zukünftige Generationen nicht schlechter stellt als die aktuell lebende (intergenerative Gerechtigkeit). Dabei weist die Nachhaltigkeit eine ökologische, eine soziale und eine ökonomische Dimension auf. Unter der ökologischen Nachhaltigkeit wird die schonende und bestandserhaltende Nutzung von natürlichen Ressourcen verstanden. Konkret sollen Rohstoffe nur in dem Ausmaß genutzt werden, wie diese innerhalb eines angemessenen Zeitraums durch Regeneration wieder entstehen können. Unter sozialer Nachhaltigkeit wird die langfristige Sicherung der sozialen Systeme und die Entwicklung von zukunftsfähigen Lebensstilen zusammengefasst. Weiterhin werden Fragen nach der gerechten Aufteilung des Wohlstandes zwischen der heutigen und künf­ tigen Generationen sowie nach Bildung und Gesundheit gestellt. Sie soll einen Beitrag zur Befriedung von sozialen Spannungen und zu friedlichen Lösungen von Konflikten ­leisten. Hierunter fallen insbesondere auch faire Arbeits- und Wohnbedingungen sowie eine gerechte Entlohnung und adäquate Bildungsmöglichkeiten. Die ökologische und die soziale Dimension sind bei Beschaffungsentscheidungen mit der ökonomischen Dimension in Einklang zu bringen, um zum „wirtschaftlichsten“ und einem anforderungsgemäßen Angebot im Sinne des Vergaberechts zu gelangen. Die Ausrichtung der öffentlichen Beschaffung hin zu einer dauerhaften Berücksichtigung von biobasierten Produkten in den Beschaffungsentscheidungen kann dabei insbesondere einen relevanten Beitrag zur ökologischen und sozialen Nachhaltigkeit leisten.

7.1.4 Überblick über empirische Studien Die öffentliche Beschaffung ist angesichts der komplexen vergaberechtlichen Rahmenbedingungen seit jeher ein stark juristisch geprägtes Forschungsgebiet. Die wenigen betriebswirtschaftlich oder sozialwissenschaftlich orientierten Arbeiten fokussierten bis zur Jahrtausendwende das Thema öffentliche Beschaffungsorganisation, ehe dann die Themenfelder elektronische Vergabe und später nachhaltige Beschaffung aktuell wurden. In Bezug auf die nachhaltige Beschaffung und insbesondere die Beschaffung biobasierter Produkte stellt sich angesichts der Vorbildfunktion öffentlicher Auftraggeber

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die Frage, inwieweit diese in Deutschland auch wahrgenommen wird und welche Einflussfaktoren hier eine Rolle spielen. In den Jahren 2013 und 2015 hat das Institut für den öffentlichen Sektor e. V. Studien zur nachhaltigen öffentlichen Beschaffung auf Kommunalebene durchgeführt. Das Umdenken zu einer nachhaltigen öffentlichen Beschaffung war in der 2013er-Studie bereits erkennbar und wurde durch die Studie von 2015 bestätigt. Ökologische und soziale Gesichtspunkte spielen demnach bei der Auftragsvergabe zunehmend eine größere Rolle, jedoch geben ökonomische Faktoren zumeist letztlich den Ausschlag bei den Beschaffungsentscheidungen. Daneben wurden signifikant längere Beschaffungsprozesse bei der Beschaffung nachhaltiger Produkte festgestellt. Weitere mögliche Hinderungsgründe einer ausgedehnteren nachhaltigen öffentlichen Beschaffung wurden in diesen beiden Studien nicht analysiert. Einen stärkeren Fokus auf die Hemmnisse einer nachhaltigen öffentlichen Beschaffung weist die Arbeit von Hepperle (2016) auf, die ebenfalls die kommunale Ebene fokussiert, sich allerdings auf das Bundesland Baden-Württemberg beschränkt. Als zentrale Hinderungsgründe werden hier erhöhte Einstandspreise von nachhaltigen Produkten sowie eine mangelnde Unterstützung durch die kommunalen Entscheidungsträger identifiziert. Daneben sind an dieser Stelle noch die Arbeiten von Günther und Klauke (2005a, 2005b) zu nennen, die allerdings aufgrund des weit zurückliegenden Zeitpunkts der Datenerhebung nicht für die Darstellung des aktuellen Stands der nachhaltigen öffentlichen Beschaffung herangezogen werden können. Generell zeigt sich, dass kaum empirische Untersuchungen zu einer nachhaltigen öffentlichen Beschaffung in Deutschland vorliegen. Dies gilt auch für die internationale Ebene, auf der u. a. die Beiträge von Walker und Brammer (2009); Brammer und Walker (2011), Kahlenborn et. al. (2011), Centre for European Policy Studies und College of Europe (2012) sowie von Testa et al. (2012) zu nennen sind. Abgesehen von den Arbeiten von Güther und Klauke besteht die Gemeinsamkeit aller genannten Beiträge in der Betrachtung einer nachhaltigen öffentlichen Beschaffung im Allgemeinen ohne Fokus auf einen speziellen Produktbereich. Folglich liegen bislang auch keine empirischen Daten zum Stand der öffentlichen Beschaffung biobasierter Produkte sowie etwaiger dabei auftretender Hemmnisse vor. Diese Lücke schließt die im folgenden Kapitel vorgestellte Studie.

7.2 Aufbau der Studie zur öffentlichen Beschaffung biobasierter Produkte Die öffentliche Beschaffung biobasierter Produkte kann einen Beitrag zu einer nachhaltigen Ausrichtung der öffentlichen Beschaffung leisten. Um den aktuellen Stand der biobasierten öffentlichen Beschaffung, die dabei auftretenden Hürden sowie die

7  Öffentliche Beschaffung biobasierter …

119

erwarteten Zukunftsentwicklungen zu erheben und zu analysieren, wurde Ende 2016 an der Universität Würzburg ein Projekt gestartet, das im Folgenden kurz vorgestellt wird.

7.2.1 BMEL-Projekt an der Universität Würzburg Das vom Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft über den Projektträger der Fachagentur für nachwachsende Rohstoffe e. V. geförderte Projekt „Eine in der Breite verbesserte Zusammenarbeit von öffentlichen Auftraggebern und Anbieterunternehmen biobasierter Produkte in Deutschland“ ist am 1.12.2016 gestartet und läuft noch bis zum 30.11.2019. Innerhalb der dreijährigen Laufzeit sollen jährliche empirische Studien den aktuellen Stand der biobasierten öffentlichen Beschaffung, die auftretenden Hinderungsgründe sowie erwartete zukünftige Entwicklungen erheben und analysieren. Dabei sollen insbesondere auch die Entwicklung der biobasierten öffentlichen Beschaffung sowie die auftretenden Hürden im Zeitverlauf deutlich gemacht werden. Die erste Runde der Befragungen lief von Mai bis Juli 2017. Weitere Befragungen sind für den gleichen Zeitraum der Jahre 2018 und 2019 angesetzt. Um den öffentlichen Auftraggebern und den Anbieterunternehmen biobasierter Produkte die Möglichkeit zu einem verbesserten Austausch zu ermöglichen und eine zentrale Informationsplattform für die biobasierte öffentliche Beschaffung ins Leben zu rufen, wurde im Rahmen des Projekts eine Kommunikationsplattform in das bereits bestehende Verwaltungs- und Beschaffernetzwerk (www.VuBN.de) integriert. Durch die dort bereits bestehende hohe Mitgliederzahl von 18.000 Mitarbeitern aus den ­öffentlichen Verwaltungen kann eine große Aufmerksamkeit für das Thema der biobasierten Produkte geschaffen werden.

7.2.2 Ablauf und Teilnehmer Für eine genaue Evaluation der biobasierten öffentlichen Beschaffung ist ein repräsentativer Querschnitt über alle beschaffenden öffentlichen Stellen notwendig. Folglich waren Bundes- und Landesministerien, Landkreise, Städte und Kommunen, Krankenhäuser, kirchliche Einrichtungen sowie Hochschulen einzubeziehen. Für alle deutschen Landkreise sowie Städte und Kommunen mit über 5000 Einwohnern wurde jeweils ein „Key-Informant“ aus dem Bereich der Hauptverwaltung oder der zentralen Vergabestelle sowie des Bauamts recherchiert, der dann während der Durchführung der Studie per E-Mail kontaktiert wurde. Weiterhin wurden die Beschaffungsverantwortlichen von Bundes- und Landesministerien, Hochschulen (mit mehr als 2000 Studierenden), öffentlichen Krankenhäusern (mit mindestens 200 Betten) und Kirchen (Diözesen/Landeskirchen) erfasst.

120

F. Blank et al.

Tab. 7.2  Stichprobe der Studie 2017. (Quelle: Eigene Darstellung) Stichprobe Beantwortete Fragebögen Resultierende Rücklaufquote % 6445

1003

15,56

Landkreise

Städte und Kommunen

544

65

11,95

Hochschulen

191

42

21,99

Krankenhäuser

540

27

5,00

Bundes- und Landesministerien

151

21

13,91

Kirchen

45

5

11,11

Gesamt

7916

1163

14,66

Wie aus Tab. 7.2 ersichtlich, bestand die Stichprobe strukturbedingt primär aus Städten und Kommunen. Auffallend ist weiterhin die geringe Rücklaufquote der kontaktierten Krankenhäuser. Dies könnte sich durch die fehlende Fokussierung der Studie auf die dortigen, teilweise sehr spezifischen Beschaffungsbedarfe erklären.

7.3 Studienergebnisse Im Folgenden werden die Studienergebnisse der Befragungen des Jahres 2017 vorgestellt. Dabei wird zuerst auf die generelle Nachhaltigkeit, die Organisation und den aktuellen Stand der biobasierten Beschaffung in den öffentlichen Einrichtungen eingegangen. Darauf aufbauend werden die bei der Beschaffung biobasierter Produkte auftretenden Hürden betrachtet und abschließend die Zukunftserwartungen der Befragungsteilnehmer dargestellt.

7.3.1 Nachhaltigkeit, Organisation und Stand der biobasierten öffentlichen Beschaffung Obwohl Nachhaltigkeit in der öffentlichen Wahrnehmung eine zunehmend wachsende Aufmerksamkeit erfährt, ist dies hinsichtlich der Beschaffung der öffentlichen Hand bisher nur teilweise der Fall. So bewerten zwar circa 30 % der Befragungsteilnehmer die Bedeutung der ökologischen und sozialen Nachhaltigkeit als hoch, jedoch knapp 40 % konstatieren eine mittlere Bedeutung und gut 25 % ordnen der Nachhaltigkeit sogar nur eine geringe Bedeutung zu. Diese Ergebnisse spiegeln sich auch in der eher seltenen Durchführung nachhaltigkeitsbezogener Aktivitäten in den jeweiligen öffentlichen Verwaltungen wider (siehe Tab. 7.3). So werden Schulungen zur nachhaltigen Beschaffung, das Erstellen von ­Nachhaltigkeitsreports, die Nutzung von Leitfäden und die Nutzung von ­Instrumenten

7  Öffentliche Beschaffung biobasierter …

121

zur Nachhaltigkeitsmessung nur vereinzelt häufig oder sehr häufig in den befragten öffentlichen Verwaltungen vollzogen (zwischen circa fünf und zehn Prozent). Dagegen überraschend hoch fällt die gezielte Beschaffung von biobasierten Produkten aus: Knapp 15 % der Befragungsteilnehmer beschaffen schon heute häufig bzw. sehr häufig gezielt biobasierte Produkte. Um jedoch überhaupt biobasierte Produkte beschaffen zu können, ist die Kenntnis von relevanten Produktalternativen notwendig. Wie aus Tab. 7.4 zu entnehmen ist, variiert diese sehr stark in Abhängigkeit der jeweiligen Produktgruppen. So besteht für die öffentlichen Beschaffer eine weitreichende Kenntnis in den Produktgruppen, in denen nachhaltige und biobasierte Alternativen stark im Fokus der Öffentlichkeit stehen. Dagegen besteht insbesondere bei der Büro-/Raumausstattung, den Büroartikeln, den Textilien sowie den Schmierstoffen erheblicher Nachholbedarf. Für die Erhebung des Entwicklungsstands der öffentlichen Beschaffung biobasierter Produkte wurden die öffentlichen Auftraggeber nach dem aktuellen und dem theoretisch möglichen Anteil biobasierter Produkte am Beschaffungsvolumen in den ­einzelnen Produktgruppen gefragt. Hierbei zeigt sich bei allen Produktgruppen eine deutliche Realisierungslücke (siehe Abb. 7.1). Tab. 7.3  Nachhaltigkeitsbezogene Aktivitäten in den Verwaltungen. (Quelle: Eigene Darstellung) Keine (%) Gering (%) Mittel (%) Häufig (%) Sehr häufig (%) Schulungen zum Thema ­nachhaltige Beschaffung

63,5

15,6

14,5

5,7

0,7

Nutzung von ­Nachhaltigkeitsleitfäden

53,4

18,9

17,6

7,5

2,6

Erstellung von ­Nachhaltigkeitsreports

71,8

14,0

9,8

3,7

0,7

Nutzung von Instrumenten zur 53,1 Messung von Nachhaltigkeit

17,5

18,7

7,0

3,7

Gezielte Beschaffung ­biobasierter Produkte

21,3

24,0

8,3

4,1

42,3

Tab. 7.4  Kenntnis biobasierter Alternativprodukte. (Quelle: Eigene Darstellung) Bekanntheit biobasierter Alternativen (%) Baustoffe

77,6

Büro-/Raumausstattung

33,3

Büroartikel

53,6

Energie

84,8

Schmierstoffe

62,2

Textilien

51,6

Reinigungsmittel

75,4

122

F. Blank et al.

Prozentualer Anteil biobasierter Produkte am Beschaffungsvolumen (Prozentwert der Befragungsteilnehmer, die mit "mindestens 40 %" geantwortet haben)

80% 70% 60% 50% 40% 30% 20% 10% 0%

tatsächlich

theoretisch möglich

Abb. 7.1  Realisierungslücke bei der Beschaffung biobasierter Produkte. (Quelle: Eigene Darstellung)

Exemplarisch soll dies am Beispiel der biobasierten Reinigungsmittel verdeutlicht werden. Aktuell decken hier circa 30 % der befragten öffentlichen Einrichtungen mindestens 40 % ihres Beschaffungsbedarfes mit biobasierten Produkten. Werden die biobasierten Produkte allerdings lediglich aufgrund ihrer technischen Eigenschaften bewertet, so gehen etwas mehr als 70 % der Befragungsteilnehmer davon aus, dass sie theoretisch mindestens 40 % des Bedarfes bedienen könnten. Bei allen Produktgruppen beträgt die Realisierungslücke mindestens 35 %, bei biobasierten Schmierstoffen, Textilien und Reinigungsmittel sogar über 40 %. Die öffentlichen Auftraggeber gehen folglich davon aus, das biobasierte Produkte zu deutlich mehr Einsatzzwecken als bisher verwendet werden könnten.

7.3.2 Hürden der biobasierten öffentlichen Beschaffung Angesichts der dargestellten Diskrepanz müssen erhebliche Hürden für den Ausbau der biobasierten öffentlichen Beschaffung in Deutschland existieren. Den bestehenden Hürden ist der zweite Teil des Fragebogens gewidmet. Dabei ist dieser so gestaltet, dass zuerst die Haupthürden abgefragt werden (siehe Abb. 7.2). Sofern diese mit mindestens teilweise zutreffend bewertet wurden, wurden den jeweiligen Befragungsteilnehmern auch die zugehörigen möglichen Unterhürden als Fragen angezeigt. Daher ist im Folgenden zu berücksichtigen, dass die abgegebenen Einschätzungen bei den Unterhürden tendenziell negativer ausfallen, als wenn allen Befragungsteilnehmern diese angezeigt worden wären.

7  Öffentliche Beschaffung biobasierter …

123

Potenzielle Hürden bei der Beschaffung biobasierter Produkte (Zustimmung mit mindestens "teilweise" relevant) 0%

25%

50%

75%

100%

Mangelndes Interesse von Anbieterunternehmen Mangelnder Wille innerhalb der eigenen Verwaltung Mangelnde Konkurrenzfähigkeit biobasierter Produkte Aufwand bei der Beschaffung biobasierter Produkte höher Mangelnder Anreiz zur Beschaffung biobasierter Produkte Bürokratie Unsicherheiten bei der Beschaffung biobasierter Produkte

Abb. 7.2  Hürden der biobasierten öffentlichen Beschaffung. (Quelle: Eigene Darstellung)

Alle abgefragten Hürden, mit Ausnahme des fehlenden verwaltungsinternen Willens zur Beschaffung biobasierter Produkte, werden von mindestens 65 % der befragten öffentlichen Verwaltungen als überwiegend zutreffend bewertet. Als der biobasierten Beschaffung in besonderem Maße entgegenstehend werden dabei die mangelnde Konkurrenzfähigkeit biobasierter Produkte, die mangelnden Beschaffungsanreize, die bestehenden Unsicherheiten bei der Beschaffung sowie der mangelnde Wille von Anbieterunternehmen biobasierter Produkte, sich auf öffentliche Aufträge zu bewerben, angeführt. Die genannten Hürden werden von mindestens 75 % der Befragungsteilnehmer als zumindest teilweise zutreffend eingestuft. Als ähnlich relevant wird der erhöhte Prozessaufwand und die herrschende Bürokratie bei der Beschaffung biobasierter Produkte eingestuft. Diese Erkenntnisse decken sich mit denen der oben genannten Studien des Instituts für den öffentlichen Sektor e. V. aus den Jahren 2013 und 2015. Dahingegen wird der Wille der eigenen Verwaltung, biobasierte Produkte zu beschaffen, vergleichsweise gering bewertet. Die mangelnde Konkurrenzfähigkeit biobasierter Produkte ist eine wesentliche Hürde der biobasierten öffentlichen Beschaffung. Da die Konkurrenzfähigkeit von Produkten jedoch kein absolutes Konstrukt ist, sondern sich vielmehr in mehrere Subkategorien aufteilt, wurde diese gesondert untersucht. Dabei fällt auf, dass die biobasierten Produkte über alle Produktgruppen hinweg in den Bereichen der Qualität, Leistung und Technik mehrheitlich als gleichwertig und bei den Betriebs- und Entsorgungskosten, der ökologischen sowie der sozialen Nachhaltigkeit sogar als durchweg besser bewertet werden. Maßgeblich ist die mangelnde Konkurrenzfähigkeit auf die durchgängig mehrheitlich als zu hoch wahrgenommenen Einstandspreise der biobasierten Produkte zurückzuführen. Der Einstandspreis wird, über alle betrachteten Produktgruppen gemittelt, von knapp 80 Prozent der befragten öffentlichen Verwaltungen als schlechter eingestuft.

124

F. Blank et al.

Eine ähnliche Aufteilung in Unterkategorien wurde ebenfalls für den Bereich der mangelnden Anreize zur Beschaffung biobasierter Produkte vorgenommen (siehe Tab. 7.5). Auch hier werden alle genannten Punkte als existent wahrgenommen. Die verwaltungsinterne starke Fokussierung bei Vergabe- und Beschaffungsentscheidungen auf Einstandspreise, die fehlende Bezuschussung von biobasierten Beschaffungsprojekten sowie fehlende rechtliche Pflichten zur entsprechenden Beschaffung werden hierbei als in besonderem Maße hinderlich hervorgehoben. So geben knapp 90 % der befragten Verwaltungen an, dass die zumindest teilweise starke Fokussierung auf Einstandspreise in den Vergabe- und Beschaffungsprozessen einen entscheidenden Teil der mangelnden Anreize zur Beschaffung biobasierter Produkte darstellt. Vor allem die Einstandspreisfokussierung in Kombination mit der, oben ausgeführten, schlechten Bewertung bezüglich der Einstandspreise biobasierter Produkte kann hier als ein Erklärungsansatz für die großen Realisierungslücken in der biobasierten öffentlichen Beschaffung angesehen werden.

Tab. 7.5  Mangelnde Anreize in den Verwaltungen zur Beschaffung biobasierter Produkte. (Quelle: Eigene Darstellung) Trifft nicht zu Trifft eher nicht (%) zu (%)

Teils/teils (%)

Trifft eher zu Trifft zu (%) (%)

Reine Fokussierung auf 5,6 Einstandspreise

5,0

32,9

19,2

37,3

5,4

4,6

23,1

22,5

44,3

Keine rechtliche Pflicht 3,7 zur Beschaffung biobasierter Produkte

4,1

19,0

19,7

53,5

Keine verwaltungsinternen Pflichten/ Vorgaben für die Beschaffung biobasierter Produkte

4,1

4,9

21,5

17,5

52,0

Mangelndes Anreizsystem für die Beschaffung biobasierter Produkte

4,6

4,5

25,1

21,9

44,0

Mangelnde verwaltungsinterne Anerkennung für die Beschaffung biobasierter Produkte

7,9

7,2

27,4

20,1

37,4

Mangelnde Bezuschussung der öffentlichen Auftraggeber für die Beschaffung biobasierter Produkte

7  Öffentliche Beschaffung biobasierter …

125

Darüber hinaus bestehen bei den befragten öffentlichen Verwaltungen erhebliche Unsicherheiten hinsichtlich des Beschaffungsprozesses für biobasierte Produkte (siehe Tab. 7.6). Viele Befragungsteilnehmer nennen als Ursache fehlende Schulungen und unzureichende Informationsangebote bezüglich der zugrunde liegenden Beschaffungsprozesse. Jedoch fehlt es oftmals auch an den notwendigen personellen Ressourcen, um sich, neben den alltäglichen Beschaffungsaufgaben, weitergehend mit dem Themenkomplex der biobasierten Produkte zu beschäftigen. Dies wird von über 90 % als eine Ursache der bestehenden Unsicherheiten angeführt. Noch weiter verstärkt wird diese Problematik durch die oft schwierige und undurchsichtige Rechtslage (Zustimmung von 88,9 % als zumindest teilweise relevant). Somit führen diese genannten Unsicherheiten oftmals zu erheblichen Problemen bei der Formulierung von geeigneten Eignungsnachweisen und Bedarfsspezifikationen. Letztere sind als Folge oftmals unvollständig oder gar falsch. Tab. 7.6  Bestehende Unsicherheiten in den Verwaltungen bzgl. der Beschaffung biobasierter ­Produkte. (Quelle: Eigene Darstellung) Trifft nicht zu (%)

Trifft eher Teils/teils nicht zu (%) (%)

Trifft eher Trifft zu (%) zu (%)

2,8

3,7

28,6

18,9

46,0

2,2 Mangelnde allgemeine Informationsangebote bezüglich der Beschaffung biobasierter Produkte

5,4

31,5

25,0

35,9

Fehlende Schulungen bezüglich der Beschaffung biobasierter Produkte

3,1

5,5

22,2

23,2

46,0

Mangelndes Know-how für eine adäquate Analyse des Beschaffungsmarktes

3,0

4,9

23,9

23,1

45,1

4,2 Die nicht ausreichende Absicherung durch die geltende Rechtslage bei der Berücksichtigung biobasierter Produkte bei der Vergabeentscheidung

7,0

31,8

18,6

38,4

Mangelndes allgemeines ­vergaberechtliches Know-how

17,4

15,4

33,1

11,5

22,7

Mangelnder Kontakt zu Anbieterunternehmen ­biobasierter Produkte

3,5

5,8

32,4

24,0

34,3

Teilweise schwere Identifikation 3,0 von Unternehmen als Anbieter biobasierter Produkte

6,3

32,4

24,3

34,0

Mangelnde Ressourcen, sich mit biobasierten Produkten ­auseinanderzusetzen

126

F. Blank et al.

Die erkannten Mängel bezüglich des Wissens in den Bereichen des Vergaberechts sowie der allgemeinen Beschaffungsmarktforschung lassen jedoch auf Probleme schließen, die auch im Beschaffungsalltag bei nicht biobasierten Produkten auftreten. Insbesondere die erwähnten Unsicherheiten dürften dazu führen, dass ein Kontakt zu Anbieterunternehmen biobasierter Produkte oftmals gar nicht erst zustande kommt.

7.3.3 Zukunftsperspektiven Die beschriebenen Hürden können erste Erklärungsansätze für die bestehenden Realisierungslücken bei der biobasierten öffentlichen Beschaffung liefern. Da der Markt und auch die Nachfrage für biobasierte Produkte noch relativ jung und weitere Produktinnovationen zu erwarten sind, kommt den Zukunftserwartungen der handelnden Personen große Bedeutung zu. Dabei beziehen sich die nachfolgenden Antworten auf die erwartete Entwicklung in den nächsten drei Jahren. Überwiegend gehen die befragten öffentlichen Verwaltungen davon aus, dass sich die Zahl der gezielt biobasierten Ausschreibungen ihrer Verwaltung sowie die Bereitschaft von Anbieterunternehmen biobasierter Produkte, sich auf diese zu bewerben, nicht verschlechtern wird (siehe Tab. 7.7). Jeweils circa die Hälfte der Befragten erwarten bei beiden Aspekten eine gleichbleibende Entwicklung. 30 % gehen von einer positiven Entwicklung bei der Anzahl gezielt biobasierter Ausschreibungen aus. Über 40 % erwarten zukünftig eine höhere Bereitschaft der Anbieterunternehmen, sich an diesen Ausschreibungen zu beteiligen. Ebenfalls grundlegend positiv sind die Erwartungen hinsichtlich der Entwicklung der Konkurrenzfähigkeit der biobasierten Produktalternativen. Bei den, bereits jetzt mehrheitlich als gleichwertig angesehenen Eigenschaften Qualität, Leistung und Technik wird

Tab. 7.7  Erwartete Entwicklungen in Bezug auf Ausschreibungen und Bereitschaft der Anbieterunternehmen biobasierter Produkte, sich auf diese zu bewerben. (Quelle: Eigene Darstellung) Stark Abnehmend Gleichabnehmend (%) bleibend (%) (%)

Zunehmend (%)

Stark zunehmend (%)

0,7

5,5

63,7

27,7

2,5

1,0 Bereitschaft von Anbieterunternehmen biobasierter Produkte, sich um öffentliche Aufträge zu bewerben

7,0

52,7

33,9

5,4

Zahl der ­Ausschreibungen von Verwaltungen gezielt für biobasierte Produkte

7  Öffentliche Beschaffung biobasierter …

127

eine weiterhin positive Entwicklung erwartet. Die bereits bestehenden Vorteile der biobasierten Produkte bei den Betriebs- und Entsorgungskosten, bei der ökologischen sowie der sozialen Nachhaltigkeit werden sich nach Einschätzung der Befragungsteilnehmer ebenfalls weiter verfestigen. Doch auch im Bereich der als besonders kritisch wahrgenommenen Einstandspreise dürfte sich der teils deutliche Nachteil biobasierter Produkte über die nächsten drei Jahre zumindest teilweise abbauen – jedenfalls gehen knapp 50 % der Antwortenden hiervon aus.

7.4 Fazit und Ausblick Das Thema Nachhaltigkeit und damit auch die öffentliche Beschaffung von biobasierten Produkten ist in den vergangenen Jahren immer mehr in den Fokus gerückt. Eine höhere Bedeutung wird letzterer jedoch nur in circa einem Drittel der öffentlichen Verwaltungen auch tatsächlich beigemessen. Faktisch zeigt sich eine große Diskrepanz zwischen dem tatsächlichen und dem aus funktionaler Sicht möglichen Umfang einer biobasierten öffentlichen Beschaffung. Einerseits erklärt sich dies aus der geringen Bedeutung der Nachhaltigkeit im Beschaffungsalltag, andererseits aber auch aus dem geringen Bekanntheitsgrad biobasierter Produktalternativen. Darüber hinaus können zahlreiche weitere Hürden Erklärungsansätze liefern, wie beispielsweise mangelnde Anreize, bestehende Unsicherheiten und ein erhöhter Aufwand im Beschaffungsprozess oder die fehlende Konkurrenzfähigkeit biobasierter Produkte hinsichtlich der Einstandspreise. Dem steht entgegen, dass biobasierte Produkte oftmals konventionellen Produkten in nicht monetären Kriterien als deutlich überlegen angesehen werden. Die starke Fokussierung der öffentlichen Verwaltungen bei Zuschlagsentscheidungen auf Einstandspreise ist als wichtiger Erklärungsansatz anzusehen. Verstärkt wird dieses Problem durch eine nicht gegebene rechtliche Pflicht sowie die nicht vorhandenen Bezuschussungen für biobasierte Beschaffungsprojekte. Weiterhin beklagen auch viele Verwaltungsmitarbeiter fehlende Ressourcen, um sich mit dem Themenkomplex der biobasierten Produkte genauer auseinandersetzen zu können. Generell lässt sich keine Verweigerungshaltung der befragten öffentlichen Verwaltungen gegenüber der Beschaffung biobasierte Produkte erkennen. Dabei wird für fast alle Produktgruppen ein erhebliches Wachstumspotenzial konstatiert. Es sind jedoch nicht nur die öffentlichen Auftraggeber gefragt, die genannten Hürden abzubauen. Vielmehr sind die politischen Entscheidungsträger und auch die Anbieterunternehmen biobasierter Produkte gleichermaßen gefordert. Angesichts der Vielfalt an Hürden ergeben sich vielfältige Ansätze zur konkreten Förderung der Beschaffung biobasierter Produkte. Da erst in einer Folgestudie die Einschätzung der Wirksamkeit dieser Ansätze erhoben wird, können an dieser Stelle nur exemplarisch Beispiele aufgezeigt werden. Bei den öffentlichen Auftraggebern könnte ein Ansatz darin liegen, den beteiligten Mitarbeitern zeitliche Freiheiten zu geben oder die personellen Ressourcen insgesamt zu erhöhen, um sich individuell bzw. im Rahmen von Schulungen näher mit Fragen der Beschaffung

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F. Blank et al.

biobasierter Produkte auseinanderzusetzen. Eine wichtige Rolle dürfte auch der Verwaltungsleitung und im Kommunalbereich der Lokalpolitik zukommen, da diese die Berücksichtigung nachhaltigkeitsbezogener Aspekte zulasten der Einstandspreise und die voraussichtlich zunächst teurere Wahl von biobasierten Produktalternativen mit entsprechenden Budgetfreigaben stützen müssen. Vonseiten der Bundes- oder Landespolitik können Förderprogramme zur Beschaffung biobasierter Produkte für die einkaufenden Verwaltungen als Anreiz dienen und kurzfristig die Nachfrage nach biobasierten Produkten erhöhen. Die Einführung einer verpflichtenden Quote für biobasierte Produkte am gesamten Beschaffungsvolumen könnte ebenfalls Abhilfe schaffen, doch wäre hiermit ein Eingriff in die Eigenständigkeit der öffentlichen Auftraggeber verbunden und dies könnte teilweise gegen EU-Recht verstoßen. Zudem stellen normative Quoten per se keine bestmögliche Lösung dar. Kurzfristig ebenfalls kaum umsetzbar dürfte eine Veränderung der teilweise als unübersichtlich empfundenen Gesetzes- und Richtlinienlage sein, da erst kürzlich eine Reform umgesetzt wurde. Für die Anbieter biobasierter Produkte gilt es, die Wahrnehmung dieser Produkte und insbesondere deren Vorteile bei den öffentlichen Auftraggebern zu erhöhen. Gleichzeitig wird es für sie unumgänglich sein, die eigenen Kosten zu reduzieren, um die Wettbewerbsfähigkeit der Einstandspreise zu erhöhen, sofern sich aus einer Lebenszykluskostenanalyse allein nicht ausreichende positive monetäre Vorteile für den Verwender ergeben. Die Realisierung von Skaleneffekten kann dabei wiederum durch das Nachfrageverhalten der öffentlichen Hand beeinflusst werden. Insgesamt lässt sich festhalten, dass biobasierte Produkte in den nächsten Jahren einen Beitrag zu mehr ökologischer Nachhaltigkeit in der öffentlichen Beschaffung leisten können. Da hierfür jedoch noch viele Hürden zu überwinden sind, ist die Beschaffung dieser Produkte vor allem ein Thema mit hoher Zukunftsrelevanz.

Literatur BMWi: Anreize für eine innovative öffentliche Beschaffung setzen. https://www.bmwi.de/Redaktion/DE/Dossier/innovationspolitik.html (2018). Zugegriffen: 24. Juli 2018 Brammer, S., Walker, H.: Sustainable procurement in the public sector: an international comparative study. International J. Oper. Prod. Manag. 31(4), 452–476 (2011) Centre for European policy studies, College of Europe: The uptake of green procurement in the EU27. http://citeseerx.ist.psu.edu/viewdoc/download?doi=10.1.1.650.2484&rep=rep1&type =pdf (2012). Zugegriffen: 24. Juli 2018 Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen (GWB) in der Fassung der Bekanntmachung vom 26. Juni 2013 (BGBl. I S. 1750, 3245); zuletzt geändert durch Artikel 10 des Gesetzes vom 12. Juli 2018 (BGBl. I S. 1151)

7  Öffentliche Beschaffung biobasierter …

129

Günther, E., Klauke, I.: Einbeziehung von Umweltaspekten in die öffentliche Vergabe von Reinigungsdienstleistungen – Ergebnisse einer Befragung öffentlicher Auftraggeber. Technische Universität Dresden, Dresden (2005a) Günther, E., Klauke, I.: Umweltfreundliche Beschaffung in sächsischen Kommunen. In: Barth, R., Erdmenger, C., Günther, E. (Hrsg.) Umweltfreundliche öffentliche Beschaffung, Innovationspotentiale, Hemmnisse, Strategien, S. 45–104. Physica, Heidelberg (2005b) Hepperle, F.: Nachhaltigkeit in der öffentlichen Beschaffung – Eine empirische Studie auf kommunaler Ebene in Baden-Württemberg. Springer, Wiesbaden (2016) Hilse, T.: Der öffentliche Beschaffungsprozeß – Ansätze einer effizienzorientierten Analyse kommunaler Güterbeschaffungen. M und P, Verl. für Wiss. und Forschung, Stuttgart (1996) Institut für den öffentlichen Sektor e. V.: Kommunale Beschaffung im Umbruch – Große deutsche Kommunen auf dem Weg zu einem nachhaltigen Einkauf? https://publicgovernance.de/media/ Studie_Kommunale_Beschaffung_im_Umbruch.pdf (2013). Zugegriffen: 24. Juli 2018 Institut für den öffentlichen Sektor e. V.: Kommunale Beschaffung im Umbruch – Teil 2. https:// publicgovernance.de/html/de/2340.htm (2015). Zugegriffen: 24. Juli 2018 Kahlenborn, W., Moser, C., Frijdal, J., Essig, M.: Strategic use of public procurement in Europe – Final report to the European Commission MARKT/2010/02/C. Adelphi, Berlin (2011) Portz, N.: Kommunale Auftragsvergabe – Grundlagen – Verfahren – Rechtsschutz. Winkler und Stenzel, Burgwedel (2004) Richtlinie 2014/24/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Februar 2014 über die öffentliche Auftragsvergabe und zur Aufhebung der Richtlinie 2004/18/EG in der Fassung der Bekanntmachung vom 28.03.2014 (Amtsblatt der Europäischen Union L94, S. 64–242) Richtlinie 2014/25/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Februar 2014 über die Vergabe von Aufträgen durch Auftraggeber im Bereich der Wasser-, Energie- und Verkehrsversorgung sowie der Postdienste und zur Aufhebung der Richtlinie 2004/17/EG in der Fassung der Bekanntmachung vom 28.03.2014 (Amtsblatt der Europäischen Union L94, S. 243–374) Ruff, A.: Public Electronic Procurement – Elektronische Vergabe und Beschaffung von Lieferungen und Leistungen der Kommunal-Verwaltung über Internet. GUC-Verlag, Chemnitz (2009) Testa, F., Iraldo, F., Frey, M., Daddi, T.: What factors influence the uptake of GPP (green public procurement) practices? New evidence from an Italian survey. Ecol. Econ. 82, 88–96 (2012) Umweltbundesamt, Vergaberecht und Nachhaltigkeit. http://www.nachhaltige-beschaffung.info/ DE/VergaberechtundNachhaltigkeit/neuesvergaberecht_node.html (2018). Zugegriffen: 23. Juli 2018 Verfahrensordnung für die Vergabe öffentlicher Liefer- und Dienstleistungsaufträge unterhalb der EU-Schwellenwerte (Unterschwellenvergabeordnung – UVgO) – Ausgabe 2017 – in der Fassung der Bekanntmachung vom 2. Februar 2017 (BAnz AT 07.02.2017 B1, BAnz AT 08.02.2017 B1) Vergabe- und Vertragsordnung für Bauleistungen Teil A (VOB/A) in der Fassung der Bekanntmachung vom 1. Juli 2016 (BAnz AT 01.07.2016 B4) Vergabeverordnung (VgV) vom 12. April 2016 (BGBl. I S. 624), geändert durch Artikel 4 des Gesetzes vom 10. Juli 2018 (BGBl. I S. 1117) Walker, H., Brammer, S.: Sustainable procurement in the United Kingdom public sector. Supply Chain Manag. 14(2), 128–137 (2009)

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F. Blank et al. Felix Blank  ist seit 2017 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Betriebswirtschaftslehre und Industriebetriebslehre der Universität Würzburg und arbeitet im vom BMEL geförderten Projekt.

Dr. Michael Broens ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Betriebswirtschaftslehre und Industriebetriebslehre der Universität Würzburg und Projektleiter des vom BMEL geförderten Projektes. Er forscht seit Jahren im Bereich der öffentlichen Beschaffung und wurde 2015 für seine Dissertationsschrift mit dem Kommunalwissenschaftlichem Preis der Goerdeler-Stiftung ausgezeichnet.

Jennifer Fischer  ist seit 2017 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Betriebswirtschaftslehre und Industriebetriebslehre der Universität Würzburg und arbeitet im vom BMEL geförderten Projekt.

Prof. Dr. Ronald Bogaschewsky ist seit 2001 Inhaber des genannten Lehrstuhls. Von 1996 bis 2016 war er Vorstandsmitglied im Bundesverbandes Materialwirtschaft, Einkauf und Logistik e. V. (BME). Seit 2005 leitet er den wissenschaftlichen Beirat des BME sowie seit 2001 den Arbeitskreis ‚Einkauf und Logistik‘ der Schmalenbach-Gesellschaft für Betriebswirtschaft e. V. Zum Themenbereich Einkauf/Beschaffung hat er zahlreiche Artikel und Schriften publiziert

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Nachhaltige Personalbeschaffung in turbulenten Zeiten – Ein systemischer persönlichkeitsorientierter Ansatz und seine praktische Umsetzung Heiko Hansjosten

Zusammenfassung

In einer Zeit, in der die Dynamik in nahezu allen Wirtschaftsbereichen rapide zugenommen hat und sich ebenso weiter zu entwickeln scheint, steht die Frage nach einer langfristig tragfähigen Zukunftsperspektive mehr denn je im Zentrum unternehmerischer Interessen. Unsichere Konjunkturzyklen, zunehmende Vernetzung und Globalisierung oder umweltbedingte Einschränkungen sind nur einige Beispiele für die Vielzahl an Faktoren, die Unternehmen zwingen, ihre Kreativität und ihre Innovationskapazität zu stärken und sich immer schneller anzupassen. Ziel dieses Beitrags ist es, den angesichts dieser Herausforderungen an Unternehmen gerichteten Anforderungen an das Humankapital und die damit verbundene Personalbeschaffung einen wissenschaftlich fundierten, anwendungsorientierten Ansatz zur Evaluation des „Fit“ zwischen persönlichkeitsbasierten Merkmalen der Mitarbeiter und agiler oder zu transformierender Organisation gegenüberzustellen und damit eine mögliche Grundlage aufzuzeigen, auf der eine nachhaltige Personalbeschaffung in der Praxis gelingen kann. Eine – in Ausschnitten dargestellte – empirische Studie illustriert dazu mögliche Anwendungen.

8.1 Agilität und ihre Herausforderungen für die Personalbeschaffung Unternehmen agieren zunehmend in sogenannten VUCA-Umwelten, d. h. in Kontexten, die durch ein hohes Maß an Volatilität (volatility), Unsicherheit (uncertainty), Komplexität (complexity) und Ambiguität (ambiguity) gekennzeichnet sind. Märkte, die schnell

H. Hansjosten ()  E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 W. Wellbrock und D. Ludin (Hrsg.), Nachhaltiges Beschaffungsmanagement, https://doi.org/10.1007/978-3-658-25188-8_8

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und stark reagieren, oder eine hohe Vernetzung innerhalb wie außerhalb des Unternehmens und die damit verbundene Varietät von Einflüssen und potenziellen Einflussmöglichkeiten sind Beispiele für Elemente solcher Umwelten, in denen die besonderen Herausforderungen vor allem aus der Gleichzeitigkeit dieser Elemente und der daraus resultierenden Turbulenz entstehen. VUCA-Umwelten erfordern vor allem schnelle Reaktions- und Anpassungskompetenzen und einen adäquaten Umgang mit Risiken und Veränderungen. Derartige Merkmale werden in der neueren Managementliteratur sowie im unternehmerischen Sprachjargon oft unter dem Begriff der Agilität subsumiert (beispielsweise Fischer et al. 2017, S. 40 ff.). Während dieser Begriff also in der modernen Managementsprache als viel benutztes Schlagwort einer nachhaltigen Unternehmensentwicklung bereits angekommen ist, mangelt es in vielen Unternehmen an Basiskonzepten zur Umsetzung im Personalbereich. Der gezielte Einsatz menschlicher Ressourcen und Energien stellt jedoch einen zentralen Schlüssel zur Anpassungsgeschwindigkeit und folglich zur Erfolgssicherung im Unternehmen dar. Ohne eine konsequente Ausrichtung der Personalbeschaffung eines Unternehmens auf die genannten Herausforderungen sind Agilität und Transformationsfähigkeit in Richtung Agilität jedoch kaum zu erreichen, setzen diese doch ein Humankapital voraus, das etwa nicht nur durch die Bereitschaft zu Flexibilität oder durch Kreativität gekennzeichnet ist, sondern auch durch ein hohes Maß an Identifikation mit und nachhaltiger Loyalität gegenüber dem Unternehmen. Konkret bedeutet dies, dass in der Vielzahl der intern wie extern gerichteten Methoden der Personalbeschaffung das Ziel verfolgt werden muss, Mitarbeiter zu rekrutieren, zu entwickeln und zu binden, bei denen die erwarteten Aufgaben sich mit den individuellen Präferenzen decken und zwischen der strategisch-kulturellen Ausrichtung des Unternehmens und der Haltung des Individuums ein hoher „Fit“ im Sinne einer hohen Passung besteht. Eine solche Personalbeschaffung ist nachhaltig, weil sie gleichzeitig einen langfristigen Verbleib der Mitarbeiter im Unternehmen, den effizienten Einsatz menschlicher Talent-Ressourcen und die Entstehung eines agilen Mindsets fördert (beispielsweise Aulinger 2017, S. 6).

8.2 Ein systemischer persönlichkeitsbasierter Ansatz als Grundlage einer nachhaltigen Personalbeschaffung Wie kann eine solche Personalbeschaffung gelingen? Ziel dieses Beitrags ist es, einen systemischen persönlichkeitsbasierten Ansatz aufzuzeigen und zur Diskussion zu stellen. Dieser basiert auf Forschungsaktivitäten der vergangenen Jahre und den Ergebnissen empirischer Studien und lässt sich auf verschiedene Elemente der Personalbeschaffung beziehen, wie in Abschn. 8.3 beispielhaft dargestellt.1 Der zugrunde liegende Ansatz setzt

1Der hier vorgestellte Ansatz ist auch Grundlage für eine Reihe weiterer praktischer Anwendungen für Unternehmen (vgl. hierzu: www.talentview.de).

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sich aus zwei Hauptelementen zusammen, einerseits einem Modell von Unternehmens-, Team- und Managementfunktionen, andererseits aus einem Persönlichkeitsmodell. Beide werden nachfolgend erläutert, ebenso die Verbindung beider Elemente auf Basis von Ergebnissen der Teamforschung.

8.2.1 Ein systemisches Unternehmens-, Team- und Managementfunktionsmodell In der Systemtheorie werden Unternehmen allgemein als komplexe lebende Systeme verstanden, deren Komplexität unter anderem darin zum Ausdruck kommt, dass der konkrete Output des Systems – etwa im Gegensatz zu einer Maschine, die bei einem definierten Input einen bestimmten erwarteten Output liefert – von einer Vielzahl von Einflussfaktoren abhängig ist. Andererseits ist diesen Systemen die Fähigkeit zur Selbstorganisation immanent, die grundsätzlich eine flexible, schnelle Reaktion erlaubt, wenn diese Fähigkeit zur Selbstorganisation nicht durch bürokratische oder tayloristische Strukturen verkümmert. Bereits James Grier Miller, einer der Pioniere der modernen Systemtheorie, beschrieb 1978 sogenannte Subsysteme, entlang derer lebende Systeme sich selbst organisieren und damit ihr Überleben und ihren Erfolg sichern. Diese 19 Subsysteme – in späteren Veröffentlichungen mitunter um ein weiteres ergänzt – gleichen Funktionen, die komplementär ineinandergreifen und unterschiedliche Aufgaben des lebenden Systems erfüllen. Sind eines oder mehrere dieser Subsysteme nicht funktionsfähig, leidet der Erfolg des Gesamtsystems bis hin zu einem potenziellen Zusammenbruch des Systems (Miller 1978, S. 54 ff.). Ähnlich entwickelte Raymond Meredith Belbin bereits seit Beginn der 1980er Jahre ein Teamrollenmodell, das Millers Idee inhaltlich nahe stehend ist: Belbin sieht den Erfolg von Teams vor allem darin begründet, dass Menschen mit ihren unterschiedlichen Persönlichkeits- und Rollenprofilen zusammenwirken. Im Rahmen seiner Forschungsarbeiten identifizierte Belbin neun Teamrollen, die sich auf die drei Kategorien handlungsorientierte Rollen, kommunikationsorientierte Rollen und wissensorientierte Rollen verteilen (Belbin 2010a, S. 11 ff., b, S. 25 ff.). Ebenso entwickelten Charles Margerison und Dick McCann ein Teamrollenmodell mit acht Funktionen (Margerison und McCann 1996; Tscheuschner und Wagner 2008, S. 25 ff.).2 Die genannten Modelle – Millers Modell der Subsysteme und Belbins sowie Margerison und McCanns Teamrollenmodelle – sind Vorbilder für das im Rahmen des hier vorgestellten weiterentwickelten Unternehmens-, Team- und Managementfunktionenmodells, wobei die inhaltliche Nähe zum letztgenannten Vorbild am größten ist. Das hier verwendete

2Margerison

und McCann beschreiben als acht Rollen: Beraten/advising, Innovieren/innovating, Promoten/promoting, Entwickeln/developing, Organisieren/organising, Umsetzen/producing, ­Überwachen/inspecting, Stabilisieren/maintaining (Margerison und McCann 1996).

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Abb. 8.1   Oktogonales Modell von Unternehmens-, Teamund Managementfunktionen. (Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an Miller (1978, S. 54 ff.); Belbin (2010a, S. 97 ff., b, S. 89 ff.); Margerison und McCann (1996))

Modell umfasst wie bei Margerison und McCann acht Funktionen, die in Abb. 8.1 dargestellt sind und auf unterschiedliche Aggregationsebenen eines Unternehmens bezogen werden können: Sie bilden beispielsweise auf der individuumsbezogenen Ebene die Grundlage für die Beschreibung einer einzelnen Stelle oder verschiedener Aspekte des Managementhandelns von Führungskräften. Auf der Ebene von Gruppen illustrieren sie die Zusammensetzung von Teams und die Verteilung von Rollen im Sinne Belbins und Margerison und McCanns; auf der Ebene des Unternehmens stellen sie einzelne Funktionsbereiche desselben dar. Die Funktion Information lehnt sich an die Subsysteme externer Informator, interner Informator und Dekodierer nach Miller an. Sie umfasst Aktivitäten und Rollen, in denen es um die Beschaffung, Selektion, Aufbereitung und Vermittlung von Informationen innerhalb und außerhalb des Unternehmens geht. Praktische Beispiele sind die Marktforschung oder eine juristische Stabstelle, die interne Rechtsgutachten für das Management erarbeitet. Menschen, die in dieser Funktion arbeiten, benötigen vor allem Kompetenzen in Feldern wie Recherche, Datenanalyse oder Reporting. In Belbins Teamrollenmodell entsprechen dieser Funktion am ehesten die des Spezialisten (specialist) und des Beobachters (monitor – evaluator), bei Margerison und McCann kommt ihr die Rolle Beraten (advising) nahe. Die Funktion Innovation umschreibt, wie bei Margerison und McCann die Rolle Innovieren (innovating), Aktivitäten und Rollen, die sich in einem engeren Sinne mit Innovation befassen und zwar im Sinne paradigmenverändernder Ideen. Menschen, die in dieser Funktion arbeiten, sind die Querdenker oder Visionäre eines Unternehmens. Sie generieren – auf Basis der von Informatoren aufbereiteten Daten – Ideen für neue Produkte oder Dienstleistungen oder leisten kreative Beiträge, wenn es darum geht, das Unternehmen in einem dynamischen Umfeld immer wieder neu auszurichten. Kernkompetenzen für

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diese Funktion sind etwa die Anwendung von Kreativitätstechniken oder die Fähigkeit „außerhalb des Zirkels“ zu denken. Bei Miller findet sich kein einzelnes Subsystem als Äquivalent zur Funktion Innovation, vielmehr sind es mehrere in Kombination: etwa der Kombinator – hier durchaus im Schumpeterschen Sinne des unternehmerischen Innovators zu verstehen – oder etwa der Kodierer und Dekodierer. In Belbins Rollenmodell entspricht vor allem die Rolle Erfinder/Erneuerer (plant) dieser Funktion. In der Funktion Promotion sind Aktivitäten und Rollen vereinigt, in denen Menschen Gelegenheiten ergreifen, Kontakte knüpfen, andere überzeugen und Ressourcen mobilisieren, um Ideen voranzubringen. Praktische Beispiele dafür sind Verkaufsund Vertriebsaktivitäten, in denen Präsentationsfähigkeit, Überzeugungskraft und Motivationsgeschick zählen, oder die erfolgreichen Anstrengungen eines Projektteams, die Geschäftsleitung zu überzeugen, den projektierten Weg tatsächlich einzuschlagen. Bei Margerison und McCann ist die Rolle des Promotens (promoting) analog dazu besetzt. In Millers Systematik entsprechen dieser Funktion vor allem die Subsysteme Kodierer, Dekodierer und Sender, in Belbins Modell die Rolle des Wegbereiters (resource investigator). Progression bezeichnet eine Funktion, in der Aktivitäten und Rollen gebündelt sind, in denen die Bewertung von Ideen und Konzepten im Hinblick auf ihre Marktgängigkeit und deren Entwicklung hin zu marktreifen Produkten und Dienstleistungen im Vordergrund stehen. Menschen in dieser Funktion greifen innovative Ideen auf, analysieren sie, setzen sie prototypisch um und prüfen damit deren Marktreife. Dieser Funktion entsprechen bei Miller die Subsysteme Dekodierer und Entscheider, bei Belbin die Rolle des Umsetzers (implementer) und bei Margerison und McCann Entwickeln (developing). Organisation und Realisation sind Funktionen analog zu Margerison und McCanns Modell, bei denen das Management der konkreten Umsetzung eines Projekts, einer Produktion oder einer Dienstleistung am Markt im Zentrum der Aktivitäten und Rollen steht. Während sich Organisation vor allem auf das vorbereitende, planende Organisieren, etwa die Delegation von Aufgaben, bezieht, beschreibt Realisation solche Aspekte, bei denen die Behebung von akuten Problemen, eine Optimierung im laufenden Prozess oder die Qualitätskontrolle gefragt sind. Menschen, die in einer dieser Funktionen arbeiten, benötigen jeweils anders akzentuierte Kompetenzen: Während die Kernkompetenzen von Organisatoren eher in der Anwendung von Planungstechniken oder Führungsinstrumenten zur Delegation liegen, sind Realisatoren in der Regel Fachkräfte mit einem profunden Detailwissen über die Prozesse des Unternehmens, einem aufmerksamen Beobachtungssinn und der Fähigkeit, mitunter mit improvisatorischer Verve schnelle Lösungen herbeizuführen. Organisatoren entsprechen in ihrer Funktion den Subsystemen Motor und Entscheider bei Miller, Realisatoren je nach Art des Unternehmens den Subsystemen Importeur/Verteiler, Exporteur, Produzent oder Konverter. Im Teamrollenmodell von Belbin entspricht der Organisator den Rollen Mitspieler (team worker), Macher (shaper) und Koordinator (co-ordinator), der Realisator der des Perfektionisten (completer – finisher) und Mitspielers (team worker).

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Die Funktion Verifikation umschreibt Aktivitäten und Rollen, bei denen eine normenbezogene Kontrolle, Prüfung oder Bewertung zentral ist. In der Unternehmenspraxis finden sich solche vor allem in Bereichen wie dem Controlling, in der klassischen Buchhaltung oder nach bürokratischen Prinzipien handelnden administrativ-überwachenden Abteilungen. Menschen, die in dieser Funktion arbeiten, sind häufig zahlenund faktenorientiert und wenden gern Normen und Verfahrensregeln oder quantitative Methoden an. Ihr Antrieb liegt in der Präzision und der Konkordanz zwischen Soll und Ist. In Millers Systematik entspricht das Subsystem Gedächtnis am ehesten dieser Funktion, bei Belbin am ehesten die des Beobachters (monitor – evaluator). Die achte Funktion Stabilisation lehnt sich an die Subsysteme Gedächtnis, Instandhaltung und Reserve nach Miller an. Sie umfasst zwei Aktivitäts- und Rollenbereiche: Aufgaben rund um die Bewahrung, Sicherung und Verstetigung von Wissen und dessen Anwendung sowie Aufgaben, die eine Bewahrung eines harmonischen Miteinanders und geteilter Werte im Unternehmen anstreben. Als praktische Beispiele können einerseits Back-up- und Archivfunktionen und andererseits Compliancefunktionen oder Stellen mit diplomatisch-vermittelnden Aufgaben gelten. Menschen, die in dieser Funktion arbeiten, verfügen je nach Ausrichtung über ausgeprägte Kompetenzen in den Bereichen Wissenssicherung oder Vermittlung von Werten. In Belbins Teamrollenmodell ist diese Funktion nur rudimentär in der Rolle des Koordinators (co-ordinator) abgebildet, bei Margerison und McCann entspricht ihr zumindest partiell im Hinblick auf den ersten Aktivitäts- und Rollenbereich die Rolle Stabilisieren (maintaining). Für den Erfolg eines Teams oder eines Unternehmens sind das Vorhandensein aller Funktionen sowie deren Zusammenspiel auf den unterschiedlichen Ebenen Individuum – Gruppe – Organisation von zentraler Bedeutung. Letzteres – Margerison und McCann sprechen auch von sogenannten linking skills (Tscheuschner und Wagner 2008) – basiert auf der Bereitschaft der Menschen in den jeweiligen Funktionen, neben der eigenen Rolle auch die der anderen Teammitglieder oder Abteilungen des Unternehmens wertschätzend anzuerkennen und in das eigene Handeln mit einzubeziehen. Wo dies nicht eigeninitiativ geschieht, ist es eine vorrangige Aufgabe der jeweiligen Führungskräfte, dies zu fördern. Neben dem reinen Vorhandensein, der Verfügbarkeit aller acht Funktionen kommt der konkreten Verteilung in einem Team oder in einem Unternehmen eine hohe Bedeutung für die jeweils dominante Kultur zu. Hierauf wird in Abschn. 8.2.3 noch näher eingegangen.

8.2.2 Ein Persönlichkeitsmodell Die Affinität zu und das Präferieren von bestimmten Funktionen äußert sich bei Individuen einerseits in Hinwendung zu mit der jeweiligen Funktion verbundenen Aufgaben oder Kompetenzen, andererseits wird sie wesentlich durch die Persönlichkeit des Einzelnen determiniert, d. h., dass Menschen in Abhängigkeit von ihrer Persönlichkeit Affinitäten und Präferenzen für bestimmte Funktionen entwickeln. Diesen Zusammenhang

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haben beispielsweise Margerison und McCann bereits Mitte der 1980er Jahre im Rahmen ihrer Forschungen zum Team-Management-Profile, einem auf Selbsteinschätzung beruhenden Persönlichkeitstest, herausgearbeitet (Margerison und McCann 1996). Der hier vorgestellte Ansatz basiert auf einem Persönlichkeitsmodell, das – ähnlich wie bei Margerison und McCann – vor allem in den ersten drei Dimensionen auf der Persönlichkeitstypologie Carl Gustav Jungs aufbaut und insgesamt vier zentrale Dimensionen, ergänzt um eine Metadimension, umfasst (Jung 2011, S. 353 ff.): Die erstgenannte Dimension „Introvertiert – Extravertiert“ (I-E) bezieht sich auf den Themenbereich der zwischenmenschlichen Beziehungen. Sie beschreibt, wo die Quelle des individuellen Antriebs, der eigenen Motivation einer Person begründet liegt und wohin sie die damit verbundene Energie fokussiert: in Richtung ihrer selbst und die Auseinandersetzung mit sich selbst und ihren Aufgaben oder in Richtung der Interaktivität mit anderen. Bei introvertierten Menschen ist dieses Nehmen und Abgeben eher auf das Selbst bezogenen, während Extravertierte es nach außen, auf die Interaktion mit anderen richten. Extravertierte Menschen werden daher häufig als kontakt- und redefreudiger, ausdrucksstark, energisch, aber auch mitunter als geschwätzig und selbstdarstellerisch empfunden, introvertierte eher als ruhig, zurückhaltend, bescheiden, aber auch als passiv, reserviert oder unnahbar. Ein praktisches Beispiel hierfür sind die unterschiedlichen Managementverhaltenskulturen in Asien oder den Vereinigten Staaten von Amerika. Während japanische Managementformen eher auf Introversion basieren – hier geht es z. B. um Dinge, wie die Wahrung des eigenen Gesichts oder das stille Dienen –, ist der American Way of Management tendenziell von einer starken Extraversionsdominanz geprägt, die sich etwa in mitreißenden Präsentationen oder lebhaften Diskussion manifestieren kann. In der zweiten Dimension (T-R) geht es um die Art, in der Menschen Informationen aufnehmen und verarbeiten: „FakTenorientiert“ bedeutet hier, dass die jeweilige Informationswahrnehmung und -verarbeitung vor allem von Fakten im Sinne von mit den Sinnen direkt wahrnehmbaren, oft messbaren Faktoren bestimmt wird. „KonzeptoRientiert“ hingegen bedeutet, dass die jeweilige Person eher von der Lust, „hinter die Dinge zu schauen“ oder Konzepte zu erkennen und zu entwerfen, geleitet wird. Faktenbezogene Personen sind in der Regel ausgesprochene Praktiker, die die Dinge im engeren Wortsinn anfassen und in den für sie besonders wichtigen Details erfassen möchten, während konzeptbezogene Personen weniger an vermeintlich unwichtigen Details als vielmehr der übergeordneten Vision, an dem Warum und dem Sinn interessiert sind. Die dritte Dimension „Analytisch – GeFühlsbasiert“ (A-F) beschreibt, auf welcher Basis eine Person Entscheidungen fällt: eher auf Basis eines rationalen Analyseprozesses oder eher auf Basis ihres mitunter nicht weniger komplexen Gefühls in Bezug auf die Entscheidung. Dies lässt sich etwa mit einem Beispiel der Rekrutierung eines neuen Mitarbeiters illustrieren, bei dem ein Bewerber, über dessen Einstellung der Personalverantwortliche des Unternehmens zu entscheiden hat, glänzende Zeugnisse mitbringt und formal genau dem geforderten Qualifikationsprofil entspricht. Das „Bauchgefühl“ sagt dem Personalentscheider jedoch: Dieser Kandidat passt nicht zu uns. Auch wenn er dies

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möglicherweise nicht rational begründen kann und sonst eher analytisch an die Sache herangeht, dieses Bauchgefühl wird seine Entscheidung für oder wider den Kandidaten beeinflussen. Die dritte Dimension umschreibt, welches der beiden Muster bei den Entscheidungen einer Person, hier des Personalentscheiders, dominierend ist. Die vierte Dimension „Offen-Dynamisch – Geschlossen-Strukturiert“ (D-S) gruppiert sich um die Frage, wie Menschen ihre Arbeit organisieren und strukturieren: eher offen, fließend, um dynamischen Entwicklungen Raum zu geben und geben zu können oder eher an in sich mehr oder weniger geschlossenen Regeln und Regelsystemen orientiert, mit einer festen Struktur, um Unwägbarkeiten eine möglichst adäquate Planung entgegensetzen zu können. Bei allen Dimensionen gilt: In den Dimensionen wird per se keine Wertung vorgenommen, d. h. keiner der beiden Pole oder das Dazwischen ist besser oder schlechter; alles muss in bestimmten Situationen vorhanden sein. Es gibt dem entsprechend auch kaum Menschen, deren Verhaltensweisen vollständig in eine Richtung einer Dimension gehen, in der Regel gibt es aber eine Dominanz in der einen oder anderen Richtung zwischen beiden Polen. Dies kann auch situationsabhängig erfolgen. Ebenso sind die 16 Typen, die sich durch Kombination der jeweiligen Dimensionsausprägungen ergeben, situations- und mitunter auch lebensphasenabhängig. Diese Situations- und Lebensphasenabhängigkeit wird durch eine Metadimension „Synchron – Diachron“ gekennzeichnet. Sie beschreibt, in welcher Weise Menschen zwischen unterschiedlichen Polen, also z. B. Introversion und Extraversion, wechseln. Nach der Vorstellung Jungs bedeutet die Dominanz eines Pols, also z. B. der Extraversion, bei einer Person in einer bestimmten Rolle, etwa dem aktuellen Beruf, keineswegs, dass der Gegenpol – hier: Introversion – keine Bedeutung besitzt. In der Regel leben Menschen diesen Gegenpol wie auch die jeweils anderen Gegenpole ebenfalls in ihrem Leben aus. Dies kann entweder in der Art geschehen, dass Menschen neben ihren beruflichen Rollen in der gleichen Periode („synchron“) z. B. in der Freizeit Hobbys nachgehen, in denen dieser Gegenpol ausgelebt wird, oder sich in ihrem privaten Umfeld anders verhalten. Bei „diachronen“ Typen geschieht das wechselseitige Ausleben nicht derartig pendelnd, sondern dergestalt, dass der eine Pol eine gewisse Zeitspanne von mehreren Jahren dominiert und entweder nach einer bewussten Entscheidung, das eigene Verhalten oder Leben zu verändern, oder aber nach einem krisenhaften Ereignis als Initialzündung vom jeweils anderen Pol abgelöst wird.

8.2.3 Die Zuordnung von Persönlichkeitstypen zu Unternehmens-, Team- und Managementfunktionen Bereits Belbin (2010b, S. 25 ff., 119 ff.) und Margerison und McCann (1996) ordnen ihren Teamrollen verschiedene Persönlichkeitseigenschaften zu, sodass bestimmte Persönlichkeiten für bestimmte Teamrollen Präferenzen entwickeln. Im Rahmen eigener Forschungen wurde für die beiden hier vorgestellten Teilmodelle ebenfalls eine

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Tab. 8.1  Zuordnungsmatrix. (Quelle: Eigene Darstellung) Funktion

Charakteristische Persönlichkeitsmerkmale

Zugeordnete Typen

Information

GeFühlsbasiert, Offen-Dynamisch

ETFD, IRFD

Innovation

Offen-Dynamisch, KonzeptoRientiert

IRAD, ERFD

Promotion

KonzeptoRientiert, Extravertiert

ERFS, ERAD

Progression

Extravertiert, Analytisch

ETAD, ERAS

Organisation

Analytisch, Geschlossen-Strukturiert

ETAS, IRAS

Realisation

Geschlossen-Strukturiert, FakTenorientiert

ITAS, ETFS

Verifikation

FakTenorientiert, Introvertiert

ITFS, ITAD

Stabilisation

Introvertiert, GeFühlsbasiert

ITFD, IRFS

Zuordnungsmatrix entwickelt, die im Rahmen verschiedener empirischer Studien bei insgesamt 1869 Profilen positiv evaluiert wurde (siehe Tab. 8.1).3 Die Metadimension „synchron – diachron“ wird bei dieser Zuordnung nicht berücksichtigt, da sie als Dimension im Wesentlichen den individuellen Umgang mit Rollen im Verhältnis von Beruf und privatem Leben bzw. in der eigenen Biografie beschreibt und damit für eine von der individuellen Lebenssituation unabhängigen Zuordnung zu einer Funktion von untergeordneter Relevanz ist. Anders ist dies jedoch etwa im Rahmen von reflexionsbasierten Entwicklungsprozessen oder aber im Hinblick auf die Unternehmenskultur. Dort spielt das individuelle Framing im Sinne der Frage, in welchem kontextualen Zusammenhang eine bestimmte Präferenz ausgelebt wird, durchaus eine wichtige Rolle. Die Zuordnung von Persönlichkeitstypen zu den Funktionen eröffnet für eine nachhaltige Personalbeschaffung, gerade in turbulenten Umfeldern, drei zentrale Ansätze: 1. Eine Identifikation von Persönlichkeitstypen mit der damit einhergehenden Präferenz für eine bestimmte Funktion erlaubt eine zielgerichtete Förderung der Passung zwischen Individuum und Arbeit im Unternehmen, sowohl bei der Rekrutierung neuer Mitarbeiter als auch beim späteren Arbeiten im Unternehmen. Wenn sich Mitarbeiter und Personalverantwortliche bewusst sind, wie die Präferenzen der Mitarbeiter gestaltet sind, können sowohl kurzfristige Aufgabenzuordnungen in Teams als auch langfristige Personalentwicklungen daran ausgerichtet werden. Die Ergebnisse werden in den meisten Fällen

3Untersucht

wurden 1869 Profile. Zur Frage der Passung zwischen Persönlichkeitstyp und Funktion lag der Zustimmungsgrad auf einer Skala von 0 (überhaupt nicht passend) bis 10 (vollkommen passend) bei durchschnittlich 8,08. Zu vergleichbaren Ergebnissen, allerdings mit anders akzentuierten und anderslautende Dimensionen, kam etwa ein von Christa Muth geleitetes Forschungsprojekt zur Evaluation des Tools Leonardo 3.4.5 (Hansjosten 2006).

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eine höhere Mitarbeiterzufriedenheit, eine höhere Identifikation mit dem Unternehmen, höhere Leistung und eine Stärkung der beiderseitigen langfristigen Bindung von Mitarbeiter und Unternehmen sein. Insbesondere für Unternehmen, die von VUCA-Kontexten betroffen sind, sind diese Effekte von hoher Bedeutung. 2. Eine Identifikation von Persönlichkeitstypen mit den damit einhergehenden Präferenzen für bestimmte Funktionen erlaubt auf der Ebene von einzelnen Teams oder ganzen Unternehmen die Erstellung von Personalportfolios. Nach welchen Kriterien oder nach welchem Muster jedoch sollten diese aufgestellt sein? Der Blick auf allgemeine systemorientierte Grundsätze führt zunächst zu der Vorstellung, dass das Vorhandensein aller relevanten Funktionen und ihr Zusammenspiel entscheidend für den Erfolg sind. In der konkreten Umsetzung würde dies bedeuten, dass ein Team, das etwa mit dem Aufbau eines neuen Geschäftsfelds beauftragt ist, idealerweise über alle acht Funktionen des vorgestellten Funktionenmodells verfügt. Ein Team, das beispielsweise aus guten Realisatoren, Organisatoren und Verifikatoren besteht, besitzt zwar möglicherweise Stärken in einer praxisnahen und gut kontrollierten Umsetzung des neuen Geschäftsfelds, zeigt aber in der Regel zu wenig Nähe zu Vertriebsaspekten, welche in den Funktionen Promotion und Progression angesiedelt sind. Neben dem reinen Vorhandensein aller Funktionen erscheint jedoch auch die Verteilung der Präferenzen als solche von hoher Relevanz: In welchen Funktionen finden sich die meisten Teammitglieder wieder? Welche Dominanz zeigen diese gegenüber anderen Mitgliedern und was ist die daraus resultierende Teamkultur? Welche Teamkultur wird überhaupt angestrebt? Gerade dann, wenn es um Personalportfolios für Unternehmen in VUCA-Kontexten geht, fällt es schwer, universale Antworten auf diese Fragen zu geben. Eine wichtige Rolle für die Agilität spielen zunächst Funktionen wie Information, Innovation, Promotion und Progression, welche auf die Aufnahme neuer Informationen, Ideen, Veränderungen und deren initiale Verankerung im Unternehmen bezogen sind. Sind sie unbesetzt oder werden von entgegengesetzten Funktionen wie etwa den eher auf Optimierung bestehender Prozesse und Kontrolle ausgerichteten Funktionen Realisation und Verifikation dominiert, wird es der Organisation schwerfallen, agil zu sein. Umgekehrt wäre ein Fehlen der letztgenannten ebenso kontraproduktiv. Im Hinblick auf ein agiles Mindset erscheint es daher als opportun, den Spagat zwischen den erstgenannten und den anderen Funktionen derart zu gestalten, dass die eher innovativ-progressiv ausgerichteten Funktionen zwar die Unternehmenskultur dominieren ohne jedoch die Einbindung der eher auf Organisation, Kontrolle und Stabilität ausgerichteten zu vernachlässigen. Teamkartierungen können, wie im folgenden Praxisbeispiel gezeigt, in der Diagnose des adäquaten Personalportfolios eine große Hilfestellung sein. 3. Die Beschäftigung mit der Zuordnung von Persönlichkeitstypen zu Funktionen in der Praxis von Personalentwicklungs- und Teambildungsmaßnahmen oder Unternehmenskulturanalysen schafft in Unternehmen und ihren Teams ein Bewusstsein hinsichtlich der individuellen Arbeitspräferenzen, Fähigkeiten und Entwicklungsmöglichkeiten sowie ihrem Zusammenwirken in Gruppen. Dadurch werden vor allem Reflexions-

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prozesse als Basis zur Entwicklung eines agilen Mindsets im Sinne einer Offenheit für und eines unternehmerischen Umgangs mit Veränderung gefördert. Das folgende Praxisbeispiel soll die Umsetzung dieser drei Ansätze in mehreren Schritten beleuchten.

8.3 Die Umsetzung des persönlichkeitsbasierten systemischen Ansatzes in der Praxis Das folgende Beispiel bezieht sich auf die Situation eines anonymen Unternehmens mit etwa 35 Mitarbeitern4, dessen Geschäftsfelder sich auf den Bereich spezialisierter Personaldienstleistungen von der Personalbeschaffung bis hin zur Personalfreisetzung erstrecken; der Schwerpunkt liegt in der Vermittlung von Leiharbeitskräften. Das Marktumfeld kann als VUCA-geprägt eingestuft werden. Anzeichen dafür ist beispielsweise das dynamische Wachstum des Zeitarbeitsmarktes: Pendelte die Zahl der Leiharbeitskräfte in Deutschland Mitte der 1980er Jahre um 40.000, stieg sie bis Januar 2013 auf rund 814.000 an, im Dezember 2017 verzeichnete die Bundesagentur für Arbeit 1.032.000 Zeitarbeitskräfte. Das Wachstum ist jedoch keineswegs stetig: Beispielsweise verzeichnete der Markt im Jahr 2009 krisenbedingt einen starken Rückgang und weist generell eine hohe konjunkturelle Abhängigkeit auf, was sich in schwankenden Auftragslagen spiegelt. Der hohen konjunkturellen Abhängigkeit steht die diametral schwankende Verfügbarkeit von zu vermittelnden Fachkräften gegenüber, die in konjunkturellen Hochs zu einem deutlichen Mangel an eben diesen Fachkräften, in konjunkturellen Tiefs jedoch zu einem hohen Arbeitslosigkeitsrisiko für die Zeitarbeitnehmer führt (Bundesagentur für Arbeit 2018, S. 4, 6; PricewaterhouseCoopers 2017, S. 4 ff.). Unsicherheitsverstärkend wirken aktuell die Unklarheit über die Entwicklung der gesetzlichen Rahmenbedingungen, insbesondere im Hinblick auf die Auswirkungen von Equal Pay-Regelungen und erwartete Verschärfungen in der Regulierung von Zeitarbeitsverhältnissen sowie auf die daraus resultierenden Veränderungen im Kundenverhalten (PricewaterhouseCoopers 2017, S. 6). Auch das Unternehmen, bei dem die folgend beschriebenen Erhebungen im Jahr 2017 stattfanden, berichtet von hohen Unsicherheitsfaktoren und komplexen Wettbewerbssituationen. Relativ starke Schwankungen sowohl des Absatzmarktes als auch des Angebots verfügbarer Zeitarbeitnehmer, ein starker Konkurrenzdruck bei unklarer Loyalität der Kunden führen zu einem hohen Druck, für aktuelle und potenzielle Kunden neue oder bessere Dienstleistungen zu generieren und zur – unter anderem aufgrund der notwendigen, aber schwierigen Personalbeschaffung risikobehafteten – Gründung neuer

4Davon

arbeiten 25 am Stammsitz; exklusive der Arbeitnehmer, die das Unternehmen im Rahmen von Arbeitnehmerüberlassungen verleiht.

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Dependancen, um in mehreren Regionen vertreten zu sein. Mitarbeiterseitig leidet das Unternehmen nach eigenen Angaben unter einer hohen Fluktuationsrate von über zehn Prozent, die mit einer subjektiv als eher schlecht eingeschätzten Mitarbeiterzufriedenheit einhergeht. Die empirische Erhebung am Stammsitz wurde in mehreren Schritten durchgeführt, die nachfolgend beschrieben werden.

8.3.1 Individuelle Persönlichkeitsprofile Im ersten Schritt wurden die individuellen Persönlichkeitsfaktoren gemessen und innerhalb einer Profilanalyse die Zuordnung zu den unterschiedlichen Funktionen vorgenommen. Basis hierfür bildete ein standardisierter Fragebogen mit 60 Items, mit dessen Hilfe die Ausprägungen der vier zentralen Dimensionen I-E, T-R, A-F und D-S anhand von jeweils 15 Items ermittelt wurden. Die bisherige statistische Observation des Fragebogens ergab gute bis befriedigende Ergebnisse hinsichtlich statistischer Gütekriterien, die seine Anwendung als gerechtfertigt erscheinen lassen.5 Erhoben wurden die Daten für 22 der 25 Mitarbeiter. Die Ermittlung der Einzelwerte erfolgte jeweils anhand von Situationsbeschreibungen zu den einzelnen Dimensionen, die mit einer vierstufigen Skala verknüpft sind. Das folgende Beispiel für I-E illustriert den Aufbau exemplarisch: Situationsbeschreibung: Im Vergleich zu Einzelarbeit bin ich im Team… A leistungsfähiger; der Kontakt mit anderen verschafft mir in der Regel Motivation und Antrieb. B weniger leistungsfähig, insbesondere dann, wenn die Kommunikation der Teilnehmer aneinander vorbei führt. Antwortmöglichkeiten: überwiegend A; überwiegend A, aber auch B; überwiegend B, aber auch A; überwiegend B Nach der Befragung wurden die Ergebnisse in ein Scoringmodell übertragen: Im Beispiel steht A für „Extravertiert“, B für „Introvertiert“; „überwiegend A“ führt zu einem Einzelscore von zwei Punkten für E, „überwiegend A, aber auch B“ zu zwei für E, einen für I, „überwiegend B, aber auch A“ zu zwei für I, einen für E und „überwiegend B“ zu zwei für I. Die Einzelscores werden pro Dimension addiert, sodass ein jeweiliger Minimalwert von null und ein Maximalwert von 30 möglich ist. Die Zuordnung des aus den vier Dimensionen bestehenden Persönlichkeitstyps erfolgt anhand des maximal erreichten Gesamtscores bei Addition aller Einzelscores der vier (Teil-)Dimensionen; ebenso betrachtet und diskutiert wurden mit den Teilnehmern die dem zweit- und dritt-

5Die

Anzahl der untersuchten Fälle betrug 919. Als beispielhaft für die gütekriterienbezogenen Ergebnisse seien die ermittelten Reliabilitätskoeffizienten des Erhebungsinstruments genannt: I-E α (Cronbach) = 0,805; T-R α  = 0,737; A-F α = 0,771; D-S α = 0,771.

8  Nachhaltige Personalbeschaffung in turbulenten Zeiten …

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höchsten Wert entsprechende Funktion. Anhand beispielhafter Profilbeschreibungen (Profiltexte) zu den jeweiligen Persönlichkeitstypen und Funktionen erfolgte eine Diskussion der Ergebnisse mit den Teilnehmern. Im Nachgang wurden die Teilnehmer nach ihren Erfahrungen befragt: Die 22 Teilnehmer bewerteten die Ermittlung des Persönlichkeitstypus auf einer Skala von 0 (überhaupt nicht zutreffend) bis 10 (voll zutreffend) durchschnittlich 8,22 (Standardabweichung σ = 1,06), den Fit (Passung) der Zuordnung zu den Funktionen mit durchschnittlich 7,80 (σ = 1,81). 17 von 22 gaben an, auch tatsächlich im Unternehmen überwiegend Aufgaben entsprechend der ermittelten Funktionen zu übernehmen. Die Fragen, wie stark (0 bis 10) die Passung von Persönlichkeitstypen und tatsächlich ausgeübten Funktionen zur Arbeitszufriedenheit beiträgt (n = 17) bzw. beitragen würde, falls aktuell die tatsächlich ausgeübten Funktionen nicht den auf Basis des jeweiligen Typus zugeordneten entsprechen (n = 5), ergaben arithmetische Mittelwerte von 8,06 (σ = 0,92) und 8,40 (σ = 0,80). Die Ergebnisse stützen die These, dass die Anwendung des vorgestellten Ansatzes zu einer nachhaltigen Personalbeschaffung beitragen kann, da sie zu einer Sicherstellung und/oder Erhöhung der Arbeitszufriedenheit führt. Eine Anwendung kann sowohl zu Beginn eines Beschäftigungsverhältnisses bzw. vor Aufnahme oder im Laufe der Mitarbeiterentwicklung erfolgen.

8.3.2 Teamkartografie und neue Mitarbeiter im Team Im Rahmen einer Teamkartografie wurden die individuellen Profile zusammengeführt; Abb. 8.2 zeigt die Verteilung der ersten (n = 1, Inhaber) und zweiten Führungsebene (n = 2) in Rot, die der operativen Mitarbeiter in Grün: Die linke Abbildung zeigt die reale Zuordnung von Personen zu tatsächlichen Aufgaben, wohingegen die rechte Abbildung die auf Basis der Persönlichkeitsanalyse und der individuellen Profile erstellte Kartografie verdeutlicht. Gegenüber den in Abschn.  8.2.3 ausgesprochenen Empfehlungen fallen zwei Aspekte besonders auf: Zum einen sind nicht alle Funktionen vertreten; die Funktionen Progression und Stabilisation sind in der realen Aufgabenverteilung nicht besetzt, bei den mit Asteriskus gekennzeichneten Teilnehmern weichen tatsächliche Aufgaben und ermitteltes Profil voneinander ab. Weiterhin werden die Funktionen Innovation und Promotion lediglich von Mitgliedern der ersten und einem Mitglied der zweiten Führungsebene vertreten. Diese Schieflage führte in der Praxis zu starken Spannungen im Unternehmen. In Interviews mit Mitarbeitern und Führungskräften kam zutage, dass seitens der operativen Mitarbeiter den Führungskräften, insbesondere den beiden Inhabern „Realitätsferne“, „Über den Dingen schweben“ und „Jeden Tag eine neue Idee, die umgesetzt werden soll, aber nichts richtig“ zugeschrieben wurden. Umgekehrt wurde den operativen Mitarbeitern von den Führungskräften „fehlende Veränderungsbereit-

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Abb. 8.2  Teamkartografie. (Quelle: Eigene Darstellung)

schaft und Flexibilität“ und „fehlendes Marktdenken“ attestiert. Im Rahmen diverser Personalbeschaffungsmaßnahmen wurden auf Basis der Teamkartografie folgende drei Ansätze probiert: 1. Für die Funktion Stabilisation wurde der Mitarbeiter mit der entsprechenden Präferenz (Nr. 17) auf eine neue Stelle mit Compliance-Aufgaben berufen. 2. Eine neue Stelle „Business Development“, die sich um die Kanalisierung und praxisnahe Aufarbeitung neuer Ideen in Absprache mit der Leitungsebene und operativen Einheiten bemüht und Projektideen bei Bedarf am Markt testet, wurde als Brückenglied zwischen den unterschiedlich ausgerichteten Ebenen eingerichtet und mit einer externen Person besetzt, deren Profil (ERAS) der Funktion entspricht (Nr. 23). 3. Bei sechs weiteren Mitarbeitern (Nr. 4, 5, 6, 9, 13 und 20) wurden entsprechend der ermittelten Profile Veränderungen der Aufgabenbereiche vorgenommen. So wurden beispielsweise drei Mitarbeiter mit Präferenz „Promotion“ stärker in Vertriebsaufgaben eingebunden (Nr. 4 und 20). Insgesamt konnte agilitätsfördernd eine Verstärkung von auf Veränderung gerichteten Funktionen (Information, Promotion) im Vergleich zum bisherigen Übergewicht der Funktionen Organisation, Realisation und Verifikation erreicht werden. Sechs Monate nach Implementierung der Maßnahmen ergab eine zweite Befragung von drei Führungskräften und drei weiteren Mitarbeitern in Form offener Interviews eine Situationsverbesserung: Wenngleich der Charakter des Unternehmens mit Inhaber und Führung als Innovationstreiber und Ressourcenbeschaffer nicht radikal verändert wurde, wird die auf der Teamkartografie aufbauende neue Verteilung als ausgleichend

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empfunden. Die Rekrutierung neuer Mitarbeiter soll in Zukunft ebenfalls auf Basis entsprechender Profilanalysen erfolgen.

8.3.3 Nachgelagerte Reflexionsprozesse Die nachgelagerte Befragung der Führungskräfte bestätigte, dass durch die mit den Mitarbeitern diskutierten Profilanalysen und die Arbeit mit den Ergebnissen der Teamkartografie erste Reflexionsprozesse ausgelöst wurden. Von verschiedenen Seiten wurden als Folge eine allgemein offenere, weniger konfliktbeladene Atmosphäre und ein respektvollerer Umgang miteinander wahrgenommen. Seitens der operativen Mitarbeiter sei eine höhere Akzeptanz gegenüber Veränderungen festzustellen, neue Ideen oder Anpassungen von Prozessen an Marktgegebenheiten würden nicht mehr so leicht als „Spinnerei von denen da oben“ abgetan; seitens der Führungskräfte werde eine stärkere Empathie gegenüber den alltäglichen Problemen im operativen Bereich sowie eine bessere Anbindung aller Beteiligten wahrgenommen. Auf dem Weg zu einem agilen Mindset stellen diese Veränderungen zwar nur einen, aber immerhin einen wichtigen Baustein dar. Ob die internen und externen Maßnahmen der Personalbeschaffung und Personalordnung nachhaltig zum Erfolg führen und sich etwa in einer langfristig geringeren Fluktuationsneigung ausdrücken werden, konnte angesichts des kurzen Beobachtungszeitraums nicht festgestellt werden, wird jedoch unternehmensseitig erwartet. Im Rahmen der ersten Befragung wurden die Teilnehmer auch gebeten, eine Einschätzung zu der ihnen vorher erklärten Metadimension „synchron – diachron“ zu geben. Auf einer zweistufigen Skala (eher synchron/eher diachron) sprachen sich 15 für Synchronität und sechs (darunter die drei Führungskräfte) für Diachronität aus, ein Teilnehmer machte keine Angabe. Im Rahmen der nachgelagerten Befragung ergab die Thematisierung dieser Metadimension, dass die erste Erhebung Reflexionen zur Unternehmenskultur ausgelöst hatte: In der Vergangenheit war es wegen der unterschiedlichen Bedürfnisse im Rhythmus der Präferenzauslebung und verzerrten Wahrnehmung der Bedürfnisse des jeweils anderen immer wieder zu Verwerfungen zwischen dem diachronen Führungsteam und den mehrheitlich synchronen Operativteams gekommen. Während erstere beispielsweise das Bedürfnis synchroner Mitarbeiter nach Arbeitszeiten, die das Ausleben von Hobbys erlauben, als „mangelnde Flexibilität und fehlendes Engagement“ interpretierten, werteten letztere das der Diachronität entspringende Bedürfnis, sich voll und ganz in die berufliche Tätigkeit einzubringen und die Grenze zwischen Beruf und Privatem aufzulösen als „Ausdruck von Workaholictum“ und als „übergriffig und fordernd“. Die Reflexion konnte auch hier Impulse zu einer Entwicklung der Unternehmenskultur setzen, die beispielsweise in der Implementierung bedürfnisgerechterer Arbeitszeitmodelle mündete.

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8.4 Fazit und Ausblick Eine zentrale Voraussetzung für eine nachhaltige Personalbeschaffung ist der Fit, die zielgenaue Passung zwischen den durch die Persönlichkeit eines Mitarbeiters determinierten Präferenzen und der ihm zu übertragenden Arbeit, und zwar in allen Phasen, die Mitarbeiter und Unternehmen gemeinsam durchlaufen, von der Rekrutierung über das Onboarding bis hin zu einem geplanten Ausscheiden des Mitarbeiters. Dies gilt umso mehr, je turbulenter die Unternehmenssituation ist, denn gerade dann werden Identifikation und Commitment benötigt, um eine erfolgreiche Zusammenarbeit und Agilität zu ermöglichen. Es wurde aufgezeigt, wie auf Basis eines systemisch orientierten Ansatzes, der einerseits Funktionen in Teams und Unternehmen, andererseits die Persönlichkeit und die aus ihr abgeleiteten Präferenzen für bestimmte Funktionen in den Blick nimmt, ein Beitrag zur Erfüllung dieser Voraussetzung geleistet werden kann. Im Rahmen einer Fallstudie wurde auch gezeigt, wie dieser Ansatz bei verschiedenen Methoden der Personalbeschaffung wie etwa individuellen Profilings oder Teamrestrukturierungen praktisch umgesetzt werden kann. Weiterer Forschungsbedarf besteht vor allem im Hinblick auf drei Aspekte: eine weiterführende Evaluation des vorgestellten Modells und der damit verbundenen Erhebungsinstrumente, eine Vertiefung der Datensammlung, insbesondere für Unternehmen weiterer Branchen mit VUCA-Charakteristik und eine weitergehende Beforschung der Rolle der Metadimension „synchron – diachron“. Insbesondere der letztgenannte Aspekt erscheint nicht nur im Hinblick auf die Dynamiken der Wirtschaftswelt, sondern auch angesichts des sich im Wandel befindlichen Verhältnisses von Mensch, Beruf und privater Lebensgestaltung als lohnenswertes Forschungsfeld.

Literatur Aulinger, A.: Die drei Säulen agiler Organisationen. IOM Whitepaper, Berlin (2017) Belbin, R.M.: Team roles at work. Butterworth-Heinemann, New York (2010a) Belbin, R.M.: Management teams – why they succeed or fail. Butterworth-Heinemann, Oxford (2010b) Bundesagentur für Arbeit, Berichte: Blickpunkt Arbeitsmarkt – Aktuelle Entwicklungen in der Zeitarbeit, Juli 2018, Nürnberg (2018) Fischer, S., Weber, S., Zimmermann, A.: Agilität heißt…. Personalmagazin o. Jg.(4), 40–43 (2017) Jung, C.G.: Psychologische Typen, Zürich. In: Jung, C.G., Gesammelte Werke, Sechster Band, hg. v. Niehaus-Jung, M. et al., Ostfildern (2011) Hansjosten, H.: Das Personal-, Team- und Organisationsentwicklungssystem Leonardo 3.4.5 – eine Analyse der statistischen Güte des zugrundeliegenden psycho-sozialen Testverfahrens im multikulturellen Umfeld. OneTech s.à.r.l., Montreux (2006) Margerison, C., McCann, D.: Team management – practical new approaches. Management Books, Oxford (1996) Miller, J.G.: Living systems. McGraw-Hill, New York (1978)

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PricewaterhouseCoopers: Zeitarbeitsbranche aktuell 2017 – Eine Erhebung zum Einfluss aktueller und zukünftiger Regulierungsmaßnahmen auf den Zeitarbeitsmarkt. PricewaterhouseCoopers, Frankfurt (2017) Tscheuschner, M., Wagner, H.: TMS – Der Weg zum Hochleistungsteam. Praxisleitfaden zum Team Management System nach Charles Margerison und Dick McCann. Gabal, Offenbach a. M (2008)

Heiko Hansjosten,  studierte Betriebswirtschaftslehre und betriebliche Aus- und Weiterbildung an den Universitäten Trier und Bochum. Im Jahr 2000 promovierte er zum Thema „Humankapitalinvestitionen der DaimlerChrysler AG“. Nach diversen beruflichen Stationen in Deutschland, Luxemburg und der Schweiz in den Bereichen Entrepreneurship und Personalmanagement nahm er 2007 den Ruf auf eine Professur an der Hochschule für Oekonomie und Management an und war für den Aufbau des Hochschulstudienzentrums in Luxemburg verantwortlich. Seit 2011 ist Heiko Hansjosten Professor für Betriebswirtschaftslehre, insbesondere Personalmanagement, an der Hochschule Heilbronn. Darüber hinaus arbeitet und unterrichtet er an verschiedenen Hochschulen in Luxemburg und ist Mitglied des dort ansässigen European Institute for Knowledge- and Value-Management.

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Nachhaltige Personalbeschaffung – Am Beispiel der Stellenbesetzung von Professoren an Hochschulen für angewandte Wissenschaften Maren Lay und Michael Ruf

Zusammenfassung

Für Hochschulen ist die Personalbeschaffung – speziell die Stellenbesetzung von ­Professuren – eines der strategisch wichtigsten Aufgaben. Professoren bestimmen mit ihrem Profil maßgeblich die Qualität des akademischen Bildungswesens. Eine erfolgreiche Stellenbesetzung verlangt von den Aspiranten eine multiple Qualifikation in Form von Promotion, Praxiserfahrung und pädagogischer Eignung. In Konsequenz müssen die Professoren z. B. einen Wechsel aus der Wissenschaft in die außerhochschulische Beschäftigung und wieder zurück an die Hochschule meistern. Dass dieser Sektorenwechsel mit Schwierigkeiten verbunden ist, zeigt sich aktuell in einem quantitativen und qualitativen Bewerbermangel. Dringender Handlungsbedarf ergibt sich, wenn man den Beschaffungsweg der professoralen Personalkategorie unter Nachhaltigkeitsaspekten betrachtet. Dieser Beitrag beschäftigt sich mit der konzeptionellen Verknüpfung des Konstruktes der Nachhaltigkeit mit der Personalbeschaffung speziell an Hochschulen, was als unerforscht gilt. Es wird herausgearbeitet, dass das substanzerhaltungsorientierte Nachhaltigkeitsverständnis zu neuen Erkenntnissen und Strategien führt. Der Beitrag schließt mit Implikationen in Form flexibler Onboardingkonzepte, die Potenzialträger beim Erwerb und der Entwicklung fehlender Kompetenzen in Forschung, Lehre oder Praxis unterstützen, zeigt Ansatzpunkte zur Attraktivitätssteigerung des Hochschullehrerberufes und betont den Kooperationsgedanken im Sinne einer nachhaltigen Ressourcennutzung.

M. Lay ()  E-Mail: [email protected] M. Ruf  E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 W. Wellbrock und D. Ludin (Hrsg.), Nachhaltiges Beschaffungsmanagement, https://doi.org/10.1007/978-3-658-25188-8_9

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9.1 Die Personalbeschaffung von Professoren an Hochschulen 9.1.1 Zur Situation der Stellenbesetzung von Professoren Das Ziel einer Hochschule für angewandte Wissenschaften (HAW) bzw. Fachhochschule ist die wissenschaftliche und praxisnahe Ausbildung von akademischen Nachwuchskräften. Sie nehmen eine wichtige Schnittstellen- und Vernetzungsfunktion zwischen Wissenschaft und Wirtschaft ein und gelten aufgrund ihres anwendungsbezogenen Forschungs- und Bildungsauftrages als Innovationsmotoren (Ruf 2011, S. 73 f.). Die Umsetzung des Selbstverständnisses der HAW, auf der Grundlage einer Partnerschaft zwischen HAW und Wirtschaft einen erfolgreichen Wissens- und Technologietransfer in beide Richtungen zu realisieren, ist ohne entsprechend qualifiziertes Personal nicht möglich. Eine Schlüsselrolle kommt dabei den Professoren zu, die als Leistungsträger entscheidend zur erfolgreichen Erfüllung der beschriebenen Aufgaben beitragen, mit ihrer Forschungs- und Lehrkompetenz das Profil der HAW bestimmen und eine „Brückenfunktion“ in die Wirtschaft übernehmen (Ruf und Steidl 2018, im erscheinen). Aus diesem Grund sind HAWs auf die Beschaffung bzw. Gewinnung exzellenter und hoch qualifizierter professoraler Humanressourcen angewiesen. Eine Studie des Deutschen Zentrums für Hochschul- und Wissenschaftsforschung zur „Bewerberlage bei Fachhochschulprofessuren“ (In der Smitten et al. 2017a, b, c) zeigt allerdings, dass nach einer ersten Ausschreibung nur etwa jede zweite Professorenstelle besetzt werden kann und im Extremfall auch nach mehrfachen Ausschreibungsrunden Vakanzen bestehen. Neben einer geringen Anzahl an Bewerbungen, von fächerübergreifend durchschnittlich 22 Bewerbungen, sind es zudem häufig unpassende Bewerberprofile. So zeigt die Studie weiter, dass etwa jeder dritte interessierte Kandidat aufgrund der Nichterfüllung formaler Berufungsanforderungen vom Verfahren ausgeschlossen werden muss. Besonders betroffen von diesen Entwicklungen sind Bereiche neuer akademischer Berufsbilder sowie z. B. der Fachbereich Ingenieurswesen, was auch eine Umfrage des Verbands Deutscher Maschinen- und Anlagenbau e. V. bestätigt (VDMA 2016, online). Gerade aber in Bereichen mit Fachkräftemangel ist die Besetzung von zentraler wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Bedeutung und eine adäquate Besetzung umso dringlicher, damit der Nachwuchs entsprechend qualifiziert und ausgebildet wird. Damit kann von einer Dilemmasituation gesprochen werden, da Unternehmen derzeit hohe Anstrengungen unternehmen, um erfolgskritische Mitarbeiter durch Steigerung der Arbeitgeberattraktivität ans Unternehmen zu binden (Ruf 2015, S. 278 f.). Zudem sind in den letzten Jahren die Studierendenzahlen an HAWs kontinuierlich gestiegen (Destatis 2018b, S. 6). Zählte die Bundesstatistik im Jahr 2006 noch 542.000 Studierende, waren es im Wintersemester 2017/2018 knapp 979.000 (Destatis 2018a, S. 6). Aufgrund des nicht gedeckten Bedarfs an Professoren verschlechtert sich die Betreuungsrelation, die im Jahr 2018 mit 19.640 Professoren (Destatis 2018c, S. 96) ein Betreuungsverhältnis von 1.50 ergibt. Die Qualität der Bildung steht und fällt mit der Qualität der Professoren.

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9.1.2 Besonderheiten der Personalbeschaffung von Professoren 9.1.2.1 Formale Berufungsvoraussetzungen Die allgemeinen Einstellungsvoraussetzungen eines Professors sind in § 44 Hochschulrahmengesetz (HRG) und in den einzelnen Landeshochschulgesetzen z. B. § 47 Landeshochschulgesetz (LHG) Baden-Württemberg geregelt. Berufungen an eine HAW erfordern in der Regel eine Mehrfachqualifikation: • Die Promotion als Befähigung zum wissenschaftlichen Arbeiten • Die pädagogische Eignung und Erfahrung im Lehrkontext • Eine mindestens fünfjährige Praxiserfahrung, von der mindestens drei Jahre außerhalb des Hochschulbereichs ausgeübt worden sein müssen. Gerade das letztgenannte Anforderungsmerkmal in Form der geforderten Praxiserfahrung außerhalb des Hochschulbereichs unterscheidet die HAW ganz wesentlich von einer Universität und deren Eigengesetzlichkeiten bei Berufungen. Während Universitäten über einen großen Pool an Nachwuchswissenschaftlern unterhalb der Professur, dem sogenannten Mittelbau, verfügen (Lay 2015, S. 79 ff.; Lay und Fomin 2015, S. 7 ff.), können HAWs nicht aus den eigenen Reihen rekrutieren. Von den Bewerbern wird ein Sektorenwechsel – von der Universität in die Wirtschaft oder umgekehrt – erwartet. Dafür entfällt, wie es Berufungsvoraussetzung an einer Universität ist, die Habilitation bzw. habilitationsadäquate Leistungen. Abb. 9.1 stellt den Zugang zu einer Professur im Fachhochschulkontext dar. Da in Deutschland Universitäten als Monopol über das Promotionsrecht verfügen, kommen geeignete Kandidaten nicht umhin, an einer Universität den Doktorgrad zu erlangen. Der klassische Karriereweg beginnt mit einer an das Studium anschließenden wissenschaftlichen Tätigkeit während der Promotionsphase an einer Universität, darauf folgt eine mehrjährige außerhochschulische Beschäftigung und endet idealerweise mit einem Wechsel zurück an die HAW als Professor. Lehrerfahrungen können sowohl während der wissenschaftlichen als auch nicht-wissenschaftlichen Beschäftigung z. B. im Rahmen von Lehraufträgen gesammelt werden.

Doktorgrad Promotionsrecht besitzen Universitäten

+

Berufspraxis 5 Jahre, davon min. 3 Jahre außerhalb der Hochschule

=

Hochschulprofessur

Lehrerfahrung

Abb. 9.1  Formale Berufungsvoraussetzungen an einer HAW. (Quelle: Eigene Darstellung)

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Bei den geschilderten Systemübergängen kann es jedoch zu Komplikationen kommen. Erstens erweist sich der Übergang von einer wissenschaftlichen Tätigkeit in die außerhochschulische Beschäftigung in vielen Fachbereichen als schwierig (Lay 2015, S. 206 ff.). Darüber hinaus ist der Wechsel zurück an die HAW nicht immer einfach zu bewerkstelligen, da sich die Bewerber veränderten Aufgaben in Forschung, Lehre und Selbstverwaltung gegenübersehen. Im Gegensatz zu Universitäten stehen die HAWs zudem auch in direkter Konkurrenz zu Wirtschaftsunternehmen, die sich in vielen Fachbereichen im „war for talents“ befinden und mit attraktiven Arbeitsbedingungen um hochqualifizierte Fachkräfte ringen (Ruf 2015, S. 278 ff.). Es sei an dieser Stelle aber auch darauf verwiesen, dass alternative Karrierepfade möglich sind. Zu nennen ist die sogenannte Industriepromotion, die es erlaubt, bereits während der Promotionsphase praktische Kompetenzen zu erwerben. Darüber hinaus ist denkbar, dass die Promotionsphase an eine mehrjährige Berufspraxis anschließt.

9.1.2.2 Attraktivität des Hochschullehrerberufs Attraktivitätsfaktoren Der Hochschullehrerberuf bringt ohne Zweifel viele Vorteile mit sich. Laut einer Umfrage des Hochschullehrerbundes (Niemeijer und Bauer 2014, S. 44 f.) schätzen Professoren vor allem die eigenständige Arbeitsplanung und Zeiteinteilung, interessante und selbstbestimmte Arbeitsinhalte, die Möglichkeit zur wissenschaftlichen Arbeit sowie die gesellschaftliche Anerkennung des Berufsbildes. Die akademische Freiheit von Forschung und Lehre im Sinne des Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG gibt Professoren grundsätzlich einen großen Handlungsspielraum und die Möglichkeit autark und selbstbestimmt zu arbeiten. In der Lehre bedeutet dies zum Beispiel, Lehrveranstaltungen im Rahmen der Studienordnung inhaltlich und methodisch frei gestalten zu können. Freiheit in Forschung meint beispielsweise, Forschungsgebiete nach persönlichem Interesse zu wählen. Die Arbeitsplatzsicherheit ist ein weiteres Attraktivitätsmerkmal des Berufsbildes eines Professors (Niemeijer und Bauer 2014, S. 44). Wer die Voraussetzungen aus § 7 Bundesbeamtengesetz (BBG) erfüllt und sich während einer Probezeit von drei Jahren bewährt, wird auf Lebenszeit verbeamtet und genießt diverse Versorgungsansprüche sowie den Status der Unkündbarkeit. Die Altersgrenze für die Verbeamtung liegt bei Vollendung des 50. Lebensjahrs. Ab dem 51. Lebensjahr ist eine Berufung nur im Angestelltenverhältnis möglich, was Einbußen und Nachteile z. B. bei Nettovergütung, Altersvorsorge, Berufsunfähigkeit mit sich bringt. Geeignete Professorenkandidaten, die zwar die gewünschte berufliche Praxis vorweisen, jedoch das 50. Lebensjahr überschritten haben, könnten diesen Umstand als Argument gegen eine Professorenlaufbahn heranziehen.

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Attraktivitätsbarrieren Die Professorentätigkeit an einer HAW korrespondiert damit grundsätzlich mit zentralen Attraktivitätstreibern, die heute gemeinhin einen Arbeitgeber als „attraktiv“ beschreiben (Ruf 2015, S. 280; Reichert et al. 2015, S. 14). Im Kampf um geeignete Kandidaten für das Professorenamt steht die HAW allerdings im direkten Wettbewerb zu Arbeitgebern der freien Wirtschaft. Zwei zentrale Aspekte sind anzuführen, die für Bewerber mit außerhochschulischer Berufserfahrung oder außerhochschulischen Berufsalternativen als weniger attraktiv erscheinen können: Ein monetärer Aspekt sowie die Tatsache eingeschränkter Karriereund Entwicklungsperspektiven an Hochschulen. • Monetäre Anreize in Form der Vergütung: Während Anfang des 20. Jahrhunderts Professoren zu dem bestverdienenden Prozent der Bevölkerung gehörten (vgl. Sohn 2014, S. 737), sind die Bezüge im Vergleich zu Durchschnittsgehältern der meisten Wirtschaftssektoren nicht konkurrenzfähig. Aus diesem Grund müssen Anwärter mit Einbußen im Grundgehalt rechnen. Die Besoldung der Professoren an HAWs erfolgt in der Regel nach W2 und unterscheidet sich je nach Bundesland teilweise erheblich. Gehaltstabellen sind transparent einsehbar. Für Baden-Württemberg errechnet sich ein jährliches Brutto-Grundgehalt von etwa 74.000 EUR. Berufungs- und Leistungszulagen unterliegen einem Vergaberahmen. Allerdings bezieht sich die Beschreibung lediglich auf die Grundbezüge und berücksichtigt keine Nebeneinkünfte. Letztere unterliegen der Landesnebentätigkeitsverordnung und dem Landesbeamtengesetz und müssen – je nach Charakter – angezeigt bzw. genehmigt werden. • Nicht monetäre Anreize in Form von Karriere- und Weiterentwicklungsmöglichkeiten: Klassische Karriere- und Entwicklungsstufen – vom Lower-Management über das Middle-Management bis zum Top-Management – wie sie aus der Wirtschaft bekannt sind, existieren an HAWs nicht. Je nach persönlichem Interesse und Initiative können sich Professoren in der Selbstverwaltung z. B. in Gremien engagieren oder Wahlämter, wie beispielsweise das eines Dekans, übernehmen. Angebote der gezielten und systematischen Personal- oder Laufbahnentwicklung oder auch Schulungen existieren in der Regel nicht (Wissenschaftsrat 2016, S. 38). Ausnahme bilden Angebote der Hochschuldidaktik-Zentren, die mittlerweile beinahe an jeder HAW institutionalisiert sind. Darüber hinaus sind in den Hochschulgesetzen der ­Länder (z. B. LHG § 49 Abs. 7) Möglichkeiten zur Freistellung im Rahmen eines Forschungs- und Entwicklungsvorhaben sowie zur Fortbildung in der Praxis geregelt. Eine Studie des Hochschullehrerbundes (Niemeijer und Bauer 2014, S. 44) zeigt, dass nur jeder dritte der professoralen Befragungsteilnehmer diese Gelegenheit in Anspruch genommen hat.

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9.2 Nachhaltigkeitsverständnis Im deutschen Sprachgebrauch erscheint das Wort „nachhaltig“ erstmalig im 18. Jahrhundert in einem forstwissenschaftlichen Werk mit dem Titel „Sylvicultura Oeconomica“. Von Carlowitz fordert in dieser prominenten Schrift, nicht mehr Bäume zu fällen als nachwachsen, damit eine kontinuierliche, beständige und nachhaltende Nutzung des Waldbestandes möglich ist. (von Carlowitz 2009). Eine Entwicklung wird allgemein dann als nachhaltig bezeichnet, wenn sie „die Bedürfnisse der Gegenwart befriedigt, ohne zu riskieren, dass künftige Generationen ihre eigenen Bedürfnisse nicht befriedigen können“ (WCED 1987, S. 34). Dabei sind ökologische, ökonomische und soziale Aspekte gleichermaßen zu betrachten. In der Nachhaltigkeitsdiskussion wird aus diesem Grund auch häufig von den drei P´s (People, Planet, Profit), einem Dreisäulenmodell, Nachhaltigkeitsdreieck oder magischen Dreieck gesprochen (einen Überblick der einzelnen Konzepte liefert beispielsweise Kleine 2008, S. 73 ff.). Schwierigkeiten ergeben sich, wenn die sehr allgemein formulierten Leitplanken des globalen Nachhaltigkeitsleitbildes Einzug in das Management von Organisationen finden sollen (Kurz und Wild 2015, S. 325). In der Literatur werden hierzu vielfältige Vorschläge und Ideen beschrieben, die sich grundsätzlich in drei Handlungsstränge unternehmerischer Nachhaltigkeit differenzieren lassen: • Nachhaltigkeit als gesellschaftliches Verantwortungsprinzip • Nachhaltigkeit als Mittel zur Zweckerreichung • Nachhaltigkeit zur Erhaltung der Substanz

9.2.1 Nachhaltigkeit als gesellschaftliches Verantwortungsprinzip Die Erwartungshaltung der Anspruchsgruppen und der öffentliche Druck auf wirtschaftende Einheiten, mehr gesellschaftliche Verantwortung zu übernehmen, steigt. Der unternehmerische Beitrag zur nachhaltigen Entwicklung soll als ethisches Korrektiv wirken, um z. B. ökologische und soziale Anliegen auf Ebene der Gesellschaft sicherzustellen. In Anlehnung an dieses Nachhaltigkeitsverständnis, kann nachhaltiges Handeln auch bedeuten, Einschränkungen in der Erreichung ökonomischer Zielgrößen in Kauf zu nehmen. In der Literatur haben sich in diesem Zusammenhang vor allem Begriffe wie „corporate sustainability“ und „corporate social responsability“ etabliert. Übertragen auf die Hochschule könnte dies bedeuten, bisher vernachlässigten Zielgruppen einen Bildungszugang zu ermöglichen, um deren Chancen auf dem Arbeitsmarkt zu verbessern und einen sozialen Beitrag auf gesellschaftlicher Ebene zu leisten. Da das Nachhaltigkeitspostulat viel Spielraum für ethische bzw. moralische Interpretationen lässt, gibt es Schwierigkeiten in der Überführung ins praktische Handeln. Außerdem wird davon ausgegangen, dass ein freiwilliger Beitrag der Wirtschaftseinheiten relativ gering ist, weshalb sich dieser Ansatz in der Praxis als wenig erfolgsversprechend erwiesen hat (Steimle 2008, S. 96).

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9.2.2 Nachhaltigkeit als Mittel zur Zweckerreichung Wenn das ökonomische Interesse einer Organisation mit ökologischen und sozialen Zielen verknüpft wird, spricht man von einem Nachhaltigkeitsengagement als Mittel zur Zweckerreichung (Ehnert 2010). Die Säulen der Nachhaltigkeit werden dabei nicht als Widerspruch, sondern als zu integrierende Zielsysteme verstanden. Da es im Kern um die Suche nach pareto-optimalen Zuständen geht, spricht man in der Literatur auch von „win-win-Lösungen“, einem „Business Case unternehmerischer Nachhaltigkeit“ (Schreck 2012), „Nachhaltigkeit als Geschäftsmodell“ (Schneidewind 2012, S. 80 f.), „Shared-Value-Konzept“ (Porter und Kramer 2012) oder einem „vermittlungsorientierten Verständnis“ (Elias-Linde 2013, S. 163). Nachhaltigkeit wird als Chance verstanden, zum Wohlstand der Gesellschaft beizutragen sowie gleichzeitig Erlöse zu steigern oder Kosten zu senken. Wenn HAWs, wie in Abschn. 9.2.1 angeführt, einen sozialen Bildungsbeitrag leisten, dadurch gleichzeitig aber auch neue Finanzquellen erschließen, wäre das ein Beispiel für ein nachhaltiges Handeln als Mittel zum Zweck. Diese Form des nachhaltigen Handelns birgt jedoch die Gefahr eines „Etikettenschwindels“ und wird in der Literatur unter der Problematik des „Greenwashings“ diskutiert (z. B. Kurz und Wild 2015, S. 324).

9.2.3 Nachhaltigkeit mit dem Ziel der Substanzerhaltung Das substanzerhaltungsorientierte Nachhaltigkeitsverständnis baut auf dem Gesetz des ewigen Waldes und der Handlungsmaxime, nicht mehr Bäume zu fällen als nachwachsen, auf. Organisationen sind auf einen Zugriff knapper Ressourcen aus der Umwelt angewiesen und nur durch den Erhalt der Ressourcensubstanz kann letztendlich auch die wirtschaftliche Existenz dauerhaft gesichert werden. Wirtschaftende Einheiten (siehe Abb. 9.2) werden im Modell ressourcenabhängiger Systeme nach Müller-Christ als Systeme verstanden, die mit ihrer Umwelt, also anderen Systemen in kooperativen Austauschbeziehungen stehen und Abstimmungen über Ressourcenbedarf und -nachschub treffen (Müller-Christ 2010). Wirtschaftende Einheiten können sowohl Ressourcenquelle für Andere sein und somit die Funktion eines Ressourcenlieferanten übernehmen, als auch die Rolle eines Abnehmers von Ressourcen einnehmen. Diesem Nachhaltigkeitsverständnis liegt ein Gemeinschafts- und Kooperationsgedanke zugrunde, denn alle Systeme sind in einer Art Mitgliedschaft dazu angehalten, die Substanz der Ressource zu bewahren. Andernfalls würden Rückwirkungen die Existenz des Einzelnen gefährden. Um die Ressourcensubstanz zu wahren, müssen auch die Eigengesetzlichkeiten der Ressourcenquelle sowie ressourcenaufnehmender Systeme berücksichtigt werden. Nachhaltig handelnde Organisationen reduzieren also nicht nur den Ressourcenverbrauch, im Kern reproduzieren sie die Ressourcen auch wieder. Der Effizienzgedanke

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M. Lay und M. Ruf Ressourceneffizienz

Ressourcenquelle

Eigengesetzlichkeiten

Ressource

Wirtschaftende Einheiten

Nachhaltigkeit

Ressourcenabhängige Systeme

Ressource

Eigengesetzlichkeiten

Abb. 9.2  Wirtschaftende Einheiten als ressourcenabhängige Systeme. (Quelle: In Anlehnung an Müller-Christ 2010, S. 108)

im Umgang mit Ressourcen wird um eine vernunftorientierte Rationalität ergänzt und stellt daher eine Weiterentwicklung zum strategischen Management dar (Müller-Christ und Hülsmann 2003, S. 271).

9.3 Nachhaltige Personalbeschaffung am Beispiel von Professoren an Hochschulen Die Umsetzung einer nachhaltigen Personalbeschaffung im Kontext der Stellenbesetzung von Professoren an HAWs setzt zunächst eine Auseinandersetzung und Verknüpfung des Konstruktes Nachhaltigkeit und Personalbeschaffung voraus.

9.3.1 Erklärungsansatz zur nachhaltigen Personalbeschaffung Die Personalbeschaffung verfolgt das übergeordnete Ziel, Organisationen bedarfsgerecht und kostengünstig mit potenziellen Arbeitskräften zu versorgen (Oechsler 2012, S. 214). In den letzten Jahren werden in der Personalliteratur auch vermehrt Nachhaltigkeitsbezüge hergestellt (z. B. Fischer et al. 2018; Jackson et al. 2012; DGFP 2011; Weißenrieder und Kosel 2010; Zaugg 2009). In diesem Zusammenhang wird zum Beispiel der Aufbau einer grünen Arbeitgebermarke empfohlen, die den Beschaffungsprozess aufgrund eines verbesserten Images bei relevanten Bewerbern verbessern soll (Bauer et al. 2012). Vor allem aber wird die grundständige Neuausrichtung der Personalarbeit unter Berücksichtigung von Nachhaltigkeitsaspekten diskutiert (z. B. DGFP 2011; Zaugg 2009). Zielkategorien liegen dann vor allem in einer langfristigen Gewinnung von jungen Talenten, um im Wettbewerb erfolgreich bestehen zu können. In der Regel baut das Gedankengut auf den Grundzügen des strategischen (Talent-)Managements auf und rückt einen Konkurrenzgedanken in Zeiten des demografischen Wandels und Fachkräftemangels in den Fokus.

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Dieser Konkurrenzgedanke lässt sich nur eingeschränkt auf die Fachhochschullandschaft übertragen. HAWs stehen zwar einerseits auch mit anderen Arbeitgebern im Wettbewerb um hervorragende Fachkräfte. Andererseits sind sie aufgrund systemimmanenter Qualifikationsanforderungen an Professoren (Promotion und Praxiserfahrung) und mangelnder interner Personalbeschaffungs- bzw. Ausbildungsmöglichkeiten in besonderem Maße darauf angewiesen, knappe Humanressourcen aus z. B. Wirtschaftsunternehmen aufzunehmen. Einen möglichen Erklärungsbeitrag liefert der Ansatz zum nachhaltigen Ressourcenmanagement (Müller-Christ 2010), welcher auf dem substanzerhaltungsorientierten Nachhaltigkeitsverständnis aufbaut. Sobald erfolgskritische Ressourcen in nicht gewünschter Quantität und Qualität vorliegen – wie es bei der Besetzung von Professuren derzeit der Fall ist – führen Abstimmungen über Ressourcenverbrauch und -nachschub im Selbstverständnis einer Haushaltsgemeinschaft zum nachhaltigen Erfolg (Müller-Christ und Hülsmann 2003, S. 248). D. h. im übertragenen Sinne, dass die nachhaltige Beschaffung von professoralen Humanressourcen nicht nur für die Institution Hochschule existenziell ist, sondern vielmehr für alle der Haushaltsgemeinschaft angehörigen Mitglieder. Wie in Abb. 9.3 grafisch visualisiert, werden HAWs als Systeme verstanden, die eng verbunden mit anderen Systemen (anderen HAWs, Universitäten, Wirtschaftsunternehmen usw.) eine Humanressourcengemeinde bilden. Jedes dieser Systeme ist prinzipiell auf knappe Humanressourcen angewiesen, nimmt diese von umliegenden Systemen (sogenannten

Universitäten

Einstellungsvoraussetzung „Praxiserfahrung“

Ressource

Wirtschaftsunternehmen

Einstellungsvoraussetzung „Promotion“ Attraktivitätsverlust

Ressourcenquellen

Systemstörung 1

Hochschule für angewandte Wissenschaften

Qualität akademischer Ausbildung

Wirtschaftsunternehmen

Ressource

Universitäten Systemstörung 2

Wirtschaftende Einheiten

Ressourcenabhängige Systeme

Abb. 9.3  Systemstörungen im Rahmen der Personalbeschaffung von Professoren. (Quelle: Eigene Darstellung)

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M. Lay und M. Ruf

Ressourcenquellen) auf und kann zur gleichen Zeit die Rolle eines Ressourcenlieferanten für Andere einnehmen. Eine nachhaltig agierende Organisation denkt daher aus der Perspektive einer dauerhaften Nutzung der Humanressourcen und zwar über ihre eigenen organisationalen Grenzen hinaus. Nur wenn sich alle an die Substanzerhaltungsspielregeln halten, kann ein nachhaltiger Humanressourcenkreislauf erfolgen.

9.3.2 Verstoß gegen Nachhaltigkeitsprinzipien Halten sich ein oder mehrere Mitglieder nicht an die Nachhaltigkeitsprinzipien, liegt eine Systemstörung mit negativen Rückwirkungen für alle Beteiligten vor (siehe Abb. 9.3). Genau diese negativen Konsequenzen sind, wie bereits in Abschn. 9.1.2 angesprochen, aktuell festzustellen und könnten sich zukünftig noch weiter verschärfen. Systemstörung 1 Im internationalen Vergleich nehmen deutsche Universitäten die Spitzenposition ein, wenn es um die Anzahl der erfolgreichen Promotionsverfahren geht. Jährlich werden etwa 28.000 Doktortitel verliehen. (Destatis 2018d, S. 20). Viele der erfolgreich Promovierten verharren an der Universität bzw. begeben sich auf einen Qualifikationsparkour (z. B. Post-doc, Habilitation, Junior-Professur) mit dem Ziel, eine Universitätsprofessur zu erlangen. Bezogen auf die Anzahl der zu qualifizierenden Personen, gilt das universitäre Karrieresystem als deutlich überlastet. Es wird weit über den Eigenbedarf hinaus qualifiziert. Statistisch gesehen haben z. B. mehr als die Hälfte der Habilitierten keine Chance, eine Universitätsprofessur zu erlangen (Lay 2015, S. 122 ff.). Fest steht, dass für viele der Weg zum dauerhaften Verbleib an einer Universität versperrt bleibt, denn Personalkategorien unterhalb der Professur unterliegen dem Wissenschaftszeitvertragsgesetz. Systemübergänge bzw. alternative Karrierewege gestalten sich dann aber als schwierig (Lay 2015, S. 206 ff.; Lay und Fomin 2014, S. 85 ff.). Die prinzipiell Hochqualifizierten verfügen zwar über die Befähigung zum wissenschaftlichen Arbeiten in Form der Promotion, meist auch über genügend Lehrerfahrungen, jedoch fehlt ihnen die für die Berufung an einer HAW geforderte außerhochschulische Praxiserfahrung. Das heißt in Konsequenz, dass kein Weg an einem zumindest temporären Wechsel in ein Tätigkeitsprofil außerhalb der Hochschule vorbeiführt. Die Individuen sehen sich jedoch häufig einem Arbeitsmarkt gegenüber, der veränderte Anforderungen an sie stellt (Lay 2015, S. 206 ff.; KBWN 2013, S. 267). Es wird deutlich, dass dieser Verstoß gegen das Substanzerhaltungsprinzip den nachhaltigen Humanressourcenkreislauf stört und schließlich negative Rückwirkungen für die gesamte Haushaltsgemeinschaft nach sich zieht. Wirtschaftsunternehmen nehmen die Arbeitsmarktfähigkeit der Humanressourcen trotz höchster akademischer Grade

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als reduziert wahr. Die Individuen selbst tragen ein hohes berufliches und persönliches Risiko. Die HAWs können vom großen Pool an Promovierten aufgrund der Berufungsanforderung der Praxiserfahrung nicht direkt profitieren. Im Zusammenspiel bedeutet dies, dass kein direkter Ressourcenfluss stattfinden kann und somit kein direkter Beschaffungsweg zwischen Universität und HAW existiert. Systemstörung 2: Auch Wirtschaftsunternehmen können ihrer Funktion als direkter Ressourcenlieferant für HAWs nur beschränkt nachkommen. Kandidaten verfügen zwar über die Praxiserfahrung, meist aber nicht über die zwingend erforderliche Befähigung zum wissenschaftlichen Arbeiten oder die pädagogische Eignung. Für Kandidaten, die alle erforderlichen Berufungskriterien erfüllen, sprich bereits einen erfolgreichen Sektorenwechsel bewältigt haben, sind die Arbeits- und Rahmenbedingungen der Professorenlaufbahn oftmals unattraktiv. Dies verhindert teilweise eine angestrebte Bestenauslese bei der Stellenbesetzung einer Professur, was wiederum negative Rückwirkungen auf die Qualität der akademischen Ausbildung von Studierenden und die zukünftige Humanressourcenausstattung der Unternehmen mit sich bringt. Zielt man darauf ab, dass das Potenzial der prinzipiell Hochqualifizierten für die beteiligten Systeme ausgeglichen nutzbar ist, kommt der Kooperation als Kontrollinstrument eine zentrale Rolle zu. Es kann durchaus unterstellt werden, dass durch die aktuelle Situation kein Mitglied als langfristiger Gewinner bzw. kein pareto-optimaler Zustand auszumachen ist. Vielmehr zeigen die Systemstörungen Stellschrauben zur Optimierung auf, die eine Durchlässigkeit und Mobilität der Humanressourcen sicherstellen können. Maßnahmen werden im folgenden Abschnitt in Kürze angesprochen.

9.4 Handlungsempfehlung und Fazit Der Erklärungsansatz zur nachhaltigen Substanzerhaltung bzw. zum nachhaltigen Ressourcenmanagement zeigt auf, wo genau zentrale Stellschrauben zur Verbesserung der Personalbeschaffungssituation bzw. Abmilderung von Systemstörungen auszumachen sind. Drei zentrale Ansatzpunkte können identifiziert werden: 1. Onboardingkonzepte und Unterstützung beim Erwerb der Berufungsvoraussetzungen 2. Steigerung der Attraktivität des Hochschullehrerberufes 3. Ausbau von Kooperationen mit Universitäten und Wirtschaft Onboardingkonzepte und Unterstützung beim Erwerb der Berufungsvoraussetzungen Die Bewerberlage bei Professuren an HAWs zeigt, dass viele Kandidaten vom Berufungsverfahren ausgeschlossen werden, weil sie in der Regel eine formale Anforderung nicht erfüllen – entweder es fehlt ihnen an der Befähigung zum wissenschaftlichen Arbeiten

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in Form der Promotion, am Nachweis entsprechender Lehrerfahrung oder an einem dreijährigen Tätigkeitsnachweis außerhalb der Hochschule. Einheitliche und strukturierte Karrierewege existieren bis auf wenige hochschulspezifische Leuchtturmprojekte nicht, weshalb flexible Onboardingkonzepte empfohlen werden, die Potenzialträger beim Erwerb und der Entwicklung fehlender Kompetenzen in Forschung, Lehre oder Praxis unterstützen. Um den Erwerb der erforderlichen wissenschaftlichen und praktischen Kompetenzen zu erlangen, bieten sich Tandem-Partnerschaften mit Wirtschaftsunternehmen und kooperative Promotionsmodelle mit Universitäten an (Wissenschaftsrat 2016, S. 57 ff.). Lehrerfahrung kann über den systematischen Zugang zu Lehraufträgen an den Hochschulen gesammelt werden. Auch hier sollten HAWs verstärkt mit Unternehmen kooperieren. In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass auf Ebene der Länder bereits Förderprogramme existieren (z. B. Mathilde-Planck-Programm in Baden-Württemberg), die sich für die Finanzierung von Lehraufträgen speziell weiblicher promovierter Akademikerinnen, die über eine adäquate außerhochschulische Berufserfahrung verfügen, engagieren. Steigerung der Attraktivität des Hochschullehrerberufes Die Arbeitgeberattraktivität ist ein wichtiger Erfolgsfaktor für eine nachhaltige Personalbeschaffung von Professoren. Auch HAWs haben die Möglichkeit mit ihren spezifischen Stärken zu punkten, sich vom Wettbewerb zu differenzieren und der Zielgruppe ein attraktives Gesamtangebot zu machen. Daher sollten sich HAWs vermehrt dem Thema „Employer Branding“ zuwenden, um sich so im Wettbewerb um die Höchstqualifizierten erfolgreich zu behaupten. Nachhaltigen Rekrutierungs- und Bindungserfolg haben allerdings nur Arbeitgeber, die Employer Branding nicht als reine Marketingaktivität verstehen, sondern vielmehr als einen kontinuierlichen Organisationsentwicklungsprozess. In diesem Sinne ist das Konzept des Employer Brandings nicht exklusiv den großen, international tätigen Wirtschaftsunternehmen vorbehalten, sondern der Ansatz bietet insbesondere auch öffentlich-rechtlichen Institutionen eine klare Perspektive zur Weiterentwicklung der eigenen Arbeitgeberattraktivität (Ruf 2015, S. 278). Konkrete Maßnahmen wie z. B. Kampagnen, die das Berufsbild eines Professors attraktiv und adressatengerecht kommunizieren, sind ebenso zu empfehlen, wie Maßnahmen mit dem Ziel, HAWs als attraktiven Arbeitgeber zu positionieren. Dafür kann jede HAW individuell Maßnahmen ergreifen und umsetzen. Einen zentralen Hebel hierfür stellt die Einführung von professionellen HR-Instrumenten dar. Dabei spielen individuelle Karrieregespräche und darauf abgestimmte Personalentwicklungsmaßnahmen eine zentrale Rolle (Lay 2015, S. 246 ff.). Zudem könnten Leistungsbezüge, insbesondere in der W-Besoldung, anhand eines Zielvereinbarungssystems vereinbart und gewährt werden. Damit hätten individuelle Leistungen in z. B. Lehre und Forschung einen spürbaren Einfluss auf die Besoldung und würden engagierten Mitarbeitern mehr Anerkennung und Wertschätzung entgegenbringen.

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Bei der Entwicklung eines Gesamtangebots für potenzielle Bewerber gilt es auch aktuelle rechtliche Rahmenbedingungen zu beachten, deren Gestaltung nicht im Verantwortungsbereich der einzelnen HAWs liegen. Hier könnten „hybride Lösungsansätze“ eine sinnvolle und attraktivitätssteigernde Konstellation sein, um hochqualifizierte Experten zu gewinnen, da es bei einer Berufung für den Bewerber bisher um eine Entscheidung zwischen Wirtschaft und HAW geht. Mit der Einführung neuer Stellenkonstellationen und „hybrider Karriereansätze“ könnten Zielgruppen angesprochen werden, für die eine „Entweder Wirtschaft oder HAW“-Entscheidung bisher ein zentrales Argument gegen eine Fachhochschullaufbahn dargestellt hat. Der Wissenschaftsrat empfiehlt in diesem Zusammenhang die Einführung von Teilzeitprofessuren oder gemeinsamer Professuren. Während Teilzeitprofessuren durch ein reduziertes Lehrdeputat mehr Zeit für z. B. selbstständige nebenberufliche Tätigkeiten einräumen, erlauben gemeinsame Professuren ein weiteres hauptberufliches Dienstverhältnis (z. B. in der Wirtschaft) parallel zur Tätigkeit als Professor (Wissenschaftsrat 2016, S. 33 f.). Neben attraktiven Aufgaben und ggf. finanzieller Vorteile für die Stelleninhaber, könnten HAWs und Wirtschaftsakteure gleichbedeutend von diesen hybriden Denkmustern profitieren. Professoren, die die aktuelle Unternehmenspraxis aus eigener Erfahrung kennen, tragen erheblich zur Qualität der Lehre und des anwendungsbezogenen Bildungsauftrages der HAWs bei. Auch für die wachsende Anzahl berufsbegleitender Studiengänge mit besonderen Ansprüchen an die Praxisorientierung in der Lehre, sind derartige Lösungen von hoher Bedeutung (Lay und Ruf 2018, im Erscheinen). Ferner sind erfolgreiche Wissens- und Technologietransfers in beide Richtungen zu realisieren mit positiven Impulsen für die Unternehmenspraxis einerseits und die Lehr- und Forschungstätigkeit andererseits. Die HAWs profitieren z. B. auch vom leichteren Zugang zu Drittmitteln und potenziellen Lehrbeauftragten. Unternehmen haben z. B. einen leichteren Zugang zu talentierten Studierenden und Ergebnissen praxisorientierter Forschung. Ausbau von Kooperationen mit Universitäten und Wirtschaft Aus den vorangegangenen theoretisch-konzeptionellen Ausführungen und praktischen Empfehlungen zur nachhaltigen Personalbeschaffung wird deutlich, dass Lösungen zur Abmilderung von Systemstörungen und Instrumente, wie z. B. neue Onboardingkonzepte und hybride Karriereansätze, nur mit Hilfe von Kooperationsmodellen zwischen HAWs, Universitäten und Wirtschaftsunternehmen erfolgreich implementiert werden können. Hier bietet sich der institutionsübergreifende Auf- und Ausbau von nachhaltigen Kooperationsplattformen an, die wie der Wissenschaftsrat vorschlägt, von Bund und Ländern gefördert und finanziert werden sollten (Wissenschaftsrat 2016, S. 75 ff.). Schließlich liegt es aber auch am Engagement jeder einzelnen HAW, ihrer Funktion als Vernetzungsinstanz nachzukommen und mit Akteuren nach individuellen und gemeinschaftlichen Lösungen im Sinne des Nachhaltigkeitspostulates zu suchen.

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Prof. Dr. Maren Lay studierte Wirtschaftswissenschaften an der Universität Hohenheim. Nach Ihrer wissenschaftlichen Tätigkeit und Promotion zum Thema „Nachhaltiges Humanressourcenmanagement an Universitäten“ an der Universität Hohenheim arbeitete sie im Hochschulmanagement, der Unternehmensberatung und im HR-Management. Seit 2017 ist sie Inhaberin der Professur für Personal- und Organisationsentwicklung an der Hochschule Heilbronn mit den Forschungs-, Lehr- und Beratungsschwerpunkten Nachhaltiges HR, Employer Branding, Change Management und HR-Wargaming. Darüber hinaus unterrichtet sie an verschiedenen Hochschulen und ist Projektmanagerin am Institit for Science and Markets in Stuttgart.

Prof. Dr. Michael Ruf studierte Betriebswirtschaftslehre, Wirtschaftspädagogik und Politikwissenschaften an der Universität Konstanz und der Dualen Hochschule Baden-Württemberg. Nach der Promotion an der Universität Konstanz arbeitete er beim Automobilzulieferer ZF Friedrichshafen in verschiedenen Positionen. Seit Oktober 2011 ist er Inhaber der Professur für internationales Personalmanagement an der Hochschule Heilbronn mit den Forschungs-, Lehr- und Beratungsschwerpunkten Employer Branding und Personalmarketing, Demografie, Personalentwicklung und Talentmanagement, globale Rekrutierungs- und Ausbildungsstrategien und Personalmanagement 4.0. Er ist Beauftragter für Weiterbildung der Hochschule Heilbronn und Geschäftsführer des Heilbronner Instituts für Lebenslanges Lernen gGmbH.

Teil II Best Practices aus der Unternehmenspraxis und dem öffentlichen Sektor

Tetra Pak® – Von Natur aus nachhaltig. Verantwortungsbewusste Beschaffung am Beispiel einer Getränkekartonverpackung

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Caroline Babendererde

Zusammenfassung

Tetra Pak ist der weltweit führende Anbieter von Verarbeitungs- und Verpackungssystemen für Lebensmittel. Als globales Unternehmen mit weltweit Tausenden von Lieferanten und mehr als 188 Mrd. produzierten Verpackungen sieht es das Unternehmen als seine Verpflichtung und auch Chance an, sich für verantwortungsvolle Beschaffungsmaßnahmen einzusetzen. Dies bedeutet, über die herkömmlichen Aspekte wie Kosten, Qualität und Liefertermin hinauszuschauen. Das heißt auch, dass sowohl bei den direkten wie indirekten Lieferanten von Produkten und Dienstleistungen ethische, arbeitsrechtliche, soziale und ökologische Aspekte berücksichtigt werden. Diese sind in einem Verhaltenskodex für Lieferanten festgelegt, der auf den zehn Grundsätzen des Globalen Pakts der Vereinten Nationen basiert.

10.1 Das Unternehmen Tetra Pak Tetra Pak ist eines von drei Unternehmen, neben DeLaval und Sidel, der Tetra LavalGruppe – einer privaten Gruppe mit schwedischen Wurzeln, deren Hauptsitz sich in der Schweiz befindet. Tetra Pak wurde im Jahr 1951 gegründet. Seitdem werden die bestmöglichen Lösungen zur Verarbeitung und Verpackung von Lebensmitteln angeboten. In enger Zusammenarbeit mit Kunden und Lieferanten werden sichere, innovative und umweltverträgliche Produkte auf den Markt gebracht, die täglich den Bedarf von Hunderten von Millionen Menschen in mehr als 160 Ländern decken. Mit über 24.000

C. Babendererde ()  E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 W. Wellbrock und D. Ludin (Hrsg.), Nachhaltiges Beschaffungsmanagement, https://doi.org/10.1007/978-3-658-25188-8_10

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Mitarbeitern legt das Unternehmen Wert auf eine verantwortungsvolle Unternehmensführung und einen nachhaltigen Ansatz für sein Geschäft. Das Unternehmensmotto „Schützt, was gut ist“ spiegelt seine Vision wider, Lebensmittel überall auf der Welt sicher und verfügbar zu machen. Einen Überblick über die wichtigsten Entwicklungen des Unternehmens zeigt Tab. 10.1. Tab. 10.1  Unternehmensgeschichte Tetra Pak im Überblick. (Quelle: Tetra Pak 2018, online) 1943 Beginn der Entwicklung einer Milchverpackung, die nur ein Minimum an Material benötigt, gleichzeitig aber maximale Hygiene gewährleistet 1946 Die Idee von Dr. Ruben Rausing wird in einem ersten Tetra Pak-Modell aus Holz, Fahrradketten und einer Stahlkonstruktion veranschaulicht 1951 Im schwedischen Lund wird AB Tetra Pak von Ruben Rausing gegründet. Das Unternehmen wird als Tochterfirma von Åkerlund & Rausing eingeführt. Am 18. Mai wird der Presse das neue Verpackungssystem vorgestellt, das viel Aufmerksamkeit erhält 1956 Beginn der Entwicklung eines aseptischen Verpackungssystems 1961 Im September wird im schweizerischen Thun die erste aseptische Abfüllmaschine für bakterienfreie Milch vorgestellt 1981 Das Management der Tetra Pak Group wird von Lund ins schweizerische Lausanne verlagert 1983 Dr. Ruben Rausing, der Gründer von Tetra Pak, stirbt am 10. August 2000 Zum ersten Mal veröffentlicht Tetra Pak einen Umweltbericht über seine weltweiten Aktivitäten. Eine externe Organisation vergleicht den Tetra Pak-Bericht mit denen anderer Unternehmen und stuft ihn als einen der führenden ein 2006 Globale Partnerschaft mit dem WWF bei Klimaschutz und Forstwirtschaft 2010 Immer mehr Kartonverpackungen erhalten das FSC-Siegel. 2007 hat Tetra Pak die erste Kartonverpackung mit FSC-Siegel eingeführt. Im Jahr 2010 kaufen Kunden mehr als 8,5 Mrd. Tetra Pak-Verpackungen mit FSC-Siegel Klimaauszeichnung für Tetra Pak: Das Unternehmen erhält die Klimaauszeichnung des schwedischen Holzverarbeitungsverbands. Der Preis, den Finn Rausing von Prinz Carl Philip erhielt, wurde unter anderem folgendermaßen begründet: „Tetra Pak übernimmt zudem Verantwortung für die Wälder, aus denen die Rohstoffe stammen. Nur wenige andere Unternehmen auf der Welt zeigen ein ähnliches Engagement.“ 2014 Markteinführung von Tetra Rex® bio-basiert, der weltweit ersten vollständig erneuerbaren Verpackung für Frischmilch Alle Standorte weltweit mit FSC-CoC-Zertifizierung 2016 200 Mrd. verkaufte Verpackungen mit FSC-Siegel (seit 2007) Beitritt zu RE100 2017 Science Based Targets bestätigt 2018 CDP Supplier Climate und Forest A Listen. CDP ist eine Non-Profit-Organisation, über die u. a. einmal jährlich Umweltdaten in den Bereichen Klimaschutz, Forstwirtschaft und Wasser von Unternehmen und Kommunen erhoben werden. In den „A Listen“ werden nur diejenigen Unternehmen geführt, die außergewöhnliche Leistungen in den genannten Bereichen erbringen

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Tagtäglich werden weltweit Milliarden Liter an Wasser, Milch, Saft und anderen flüssigen Lebensmitteln konsumiert. Tetra Pak hat ein Sortiment an Verpackungen entwickelt, um sowohl den Nährstoffgehalt als auch den Geschmack der darin enthaltenen Produkte zu schützen. Dank der Tetra Pak-Technologie hat sich die Verpackung und der Vertrieb von flüssigen Erzeugnissen an die Verbraucher erheblich vereinfacht. „Eine Verpackung sollte mehr sparen, als sie kostet“. Dies war der Leitsatz von Dr. Ruben Rausing, dem Gründer von Tetra Pak, auf dessen Initiative die erste, tetraederförmige Verpackung entwickelt wurde. Der Grundgedanke war, einen Tubus aus einer Rolle kunststoffbeschichteten Papiers zu formen, diesen mit dem Getränk zu befüllen, zu verschließen und erst dann die finale Form der Verpackung zu geben. Mit dieser Entwicklung erfolgt bis heute der vollständige Abfüllprozess kontinuierlich und ohne Unterbrechung. Mittlerweile bietet Tetra Pak weit mehr als nur Verpackungsanlagen für flüssige Lebensmittel. Angeboten wird darüber hinaus eine Reihe von Prozess- und Verpackungstechnologien für eine breite Palette an Produkten, angefangen bei Eiscreme und Käse, über Obst und Gemüse bis hin zu Tiernahrung. Das Unternehmen liefert komplette Systeme für Verarbeitung, Verpackung und Distribution von Produkten, die entwickelt wurden, um den Einsatz von Ressourcen zu optimieren. Die Verarbeitungsanlagen wurden nicht nur für einen schonenden Umgang mit Produkten entwickelt, sondern auch um den Verbrauch von Rohstoffen und Energie bei der Herstellung und beim anschließenden Vertrieb so gering wie möglich zu halten. Tetra Pak verfolgt dabei konsequent das Ziel, die Auswirkungen seiner Unternehmenstätigkeit auf die Umwelt zu verringern und die Umweltverträglichkeit seiner Produkte und Lösungen zu verbessern. Dazu zählen auch die kontinuierliche Weiterentwicklung umwelteffizienter Verpackungen, die Lebensmittel schützen und einer Verschwendung von Lebensmitteln vorbeugen.

10.2 Verantwortungsbewusste Unternehmensführung Verantwortungsbewusste Beschaffung beginnt bei einer guten Unternehmensführung. Diese bildet das Fundament für die Unternehmensstrategie und das Führungskonzept und trägt letztlich dazu bei, die Vision von Tetra Pak zu erfüllen, Lebensmittel überall sicher und verfügbar zu machen. Die festgelegten Standards zur Unternehmensführung helfen dabei, dieses Markenversprechen des Unternehmens einzulösen, einschlägige Vorschriften und Gesetze einzuhalten und jede Mitarbeiterin und jeden Mitarbeiter zu ethischem und verantwortungsvollem Verhalten anzuleiten. Dabei ist ein weltweites Führungsteam für die Umsetzung der Standards verantwortlich und wird von einem Corporate Governance Office und einem Netzwerk von lokalen Governance- und Risikobeauftragten unterstützt (siehe Abb. 10.1).

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Abb. 10.1  Tetra Pak Governance Framework. (Quelle: Tetra Pak 2018, online)

Eine Charta der Verantwortung beschreibt die Aufgaben und Zuständigkeiten des Tetra Laval-Vorstands und von Tetra Pak. Zu den Standards gehören u. a. ein umfassendes Risikomanagementverfahren und -system mit entsprechenden Richtlinien zur Minimierung von Risiken sowie weltweite Prozesse zur Steuerung von und Reaktion auf Risiken. Um ein effektives und transparentes internes Kontrollumfeld sicherzustellen, wurde ein Governance-Risk-Compliance-System (GRC-System) eingeführt. Dies schafft eine einheitliche Plattform zur Risikosteuerung und führt ausführliche Kontrollen mit Sicherungsprozessen, Bewertungen und Berichten zusammen. Ergänzend hierzu definieren die Tetra Pak Grundwerte („Core Values“) die Unternehmenskultur und somit die Arbeits- und Verhaltensweise. Sie bilden die Grundlage für das Verhalten nach innen und außen, führen aber auch Menschen aus unterschiedlichen Kulturkreisen, Ländern und Verhältnissen zusammen, sorgen für gegenseitigen Respekt und verhelfen allen bei Tetra Pak zu einem harmonischen Miteinander. Kurz: Sie prägen die Unternehmenskultur des Unternehmens. Die Grundwerte bilden die folgenden vier Paare: • • • •

Kundenfokus und langfristige Perspektive, Qualität und Innovation, Freiheit und Verantwortung sowie Partnerschaft und Spaß

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Der Verhaltenskodex hingegen legt die Haltung des Unternehmens zu Arbeitsbedingungen, Diskriminierung, Vertraulichkeit, Interessenkonflikten, Finanzberichterstattung, Compliance, Korruption, Bestechung, Ausbeutung von Kindern und Umweltfragen fest. Im Jahr 2016 wurde darüber hinaus ein Nachhaltigkeitsforum ins Leben gerufen, welches das strategische und funktionsübergreifende Nachhaltigkeitskonzept weiter unterstützt. Seine Mitglieder berichten an den Strategierat und sind aus dem gesamten Unternehmen stammende Vizepräsidenten und Vertreter auf Direktionsebene. Als Unterzeichner des globalen Pakts der Vereinten Nationen (UNGC) engagiert sich Tetra Pak seit 2004 für die Umsetzung, Offenlegung und Förderung seiner zehn Grundsätze in den Bereichen Menschenrechte, Arbeitsnormen, Umweltschutz und Korruptionsbekämpfung. Jährlich legt das Unternehmen einen Fortschrittsbericht vor und leistet zudem einen aktiven Beitrag zu den Zielen der Vereinten Nationen und den Standards für bewährte Praktiken des Forest Stewardship Council® (FSC®), World Wide Fund for Nature (WWF), UN World Food Programme (WFP) und der Global Alliance for Improved Nutrition. Korruptionsbekämpfung ist ein wichtiger Bestandteil der Tetra Pak Unternehmensführung und Korruption, Bestechung und Betrug werden unter keinen Umständen geduldet. Korruption ist unethisch, sie untergräbt die Fairness des Marktes, verzerrt Transaktionen, zerstört eine offene, ehrliche und anständige Gesellschaft und schadet dem wirtschaftlichen, sozialen und politischen Fortschritt. Korruptionsbekämpfung ist ein wichtiger Baustein der Vertrauensbildung und trägt maßgeblich dazu bei, das Vertrauen der Kunden, Lieferanten und anderer Interessengruppen zu gewinnen und eine verantwortungsvolle, transparente Unternehmenskultur zu festigen. Alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter auf sämtlichen Ebenen des Unternehmens sind bei ihren täglichen Entscheidungen und Handlungen für die Einhaltung der Standards verantwortlich. Dazu sind ein verpflichtendes eLearning-Programm sowie ausführliche Informationen im firmeninternen Intranet vorhanden.

10.3 Verantwortung und Nachhaltigkeit beginnen bei der Produktidee Während der frühen Phasen der Produktentwicklung wird jedes Tetra Pak-Verpackungsprodukt einer vollständigen Umweltverträglichkeitsprüfung unterzogen. Zudem werden die bereits in den frühen 1980er-Jahren eingeführten Design-for-Environment-(DfE)-Grundsätze angewendet, um sicherzustellen, dass die komplette Umweltbelastung einer neuen Verpackung und zugehöriger Maschinen berechnet und minimiert und ein umweltfreundliches Design garantiert wird. Zur weiteren Absicherung dienen Lebenszyklusanalysen (auch Life Cycle Assessment genannt), die bereits in einem sehr frühen Stadium einer Produktidee durchgeführt werden. Die Lebenszyklusanalyse ist eine Methode zur Bewertung der Umweltbelastung eines Produkts über den gesamten Lebenszyklus, d. h. von der Rohstoffgewinnung

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über die Materialverarbeitung, Fertigung und den Vertrieb bis hin zur Entsorgung bzw. Weiterverwertung. Der Wert, den das Verständnis für die Umweltbelastung entlang der Wertschöpfungskette bietet, wurde schon früh bei Tetra Pak erkannt. Schon seit Mitte der 1980er Jahre werden Lebenszyklusanalysen durchgeführt, mit denen Tetra Pak-Produkte untersucht werden. Nur wenn man die Auswirkungen eines Produktes entlang des gesamten Lebenszyklus’ versteht, können Möglichkeiten zur Verbesserung der Umweltaspekte der Produkte identifiziert und eine umweltbewusste Produkt- und Prozessgestaltung gefördert werden. Bis heute werden auch auf Länderebene Lebenszyklusanalysen mit unabhängigen Instituten durchgeführt, um stets den neuesten Entwicklungen im Unternehmen, aber auch den gesetzlichen Anforderungen an Produkte Rechnung zu tragen. Doch woraus bestehen Tetra Pak-Getränkekartons? Alle Verpackungen bestehen, wie der Name schon sagt, hauptsächlich aus Karton. Dabei wird nur so viel verwendet, wie für die Stabilität der Verpackung erforderlich ist, ohne das Gewicht unnötig zu erhöhen. Karton ist ein nachwachsender Rohstoff aus Holzfasern. Die weiteren Bestandteile sind Polyethylen und, für aseptische Verpackungen, Aluminium (siehe Abb. 10.2). Bezüglich Verpackungsalternativen lassen sich bei Tetra Pak folgende Varianten unterscheiden: Aseptische Verpackungen Durch die aseptischen Verarbeitungsprozesse von Tetra Pak bleiben Farbe, Textur, Geschmack und Inhaltsstoffe von flüssigen Lebensmitteln für mindestens 12 Monate ohne Kühlung und ohne den Einsatz von Konservierungsstoffen erhalten. Die Kombination aus aseptischer Verarbeitung und Verpackung ermöglicht eine effiziente Produktion mit geringem Ausschuss und einem besonders kosteneffizienten Vertrieb. Gleichzeitig werden die Produkte in einem konsumentenfreundlichen Format verpackt und können auch an Verbraucher in abgelegenen Gebieten dieser Welt, in denen es keine kontinuierliche Kühlkette Abb. 10.2   Aufbau eines Tetra Pak-Getränkekartons. (Quelle: Tetra Pak Mediabox 2018)

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gibt, ausgeliefert werden. Alle aseptischen Kartonverpackungen von Tetra Pak beinhalten den nachwachsenden Rohstoff Karton, Polyethylen und eine hauchdünne Schicht Aluminium. Polyethylen schützt das Produkt vor Feuchtigkeit und dient als Haftschicht zwischen Karton und Aluminiumfolie. Letztere dient wiederum dem Schutz vor Sauerstoff und Licht, um die Inhaltsstoffe und den Geschmack der verpackten Lebensmittel außerhalb der Kühlkette zu erhalten. Das bedeutet, dass aseptisch verpackte Produkte während des Transports und der Lagerung nicht gekühlt werden müssen. Verpackungen für Frischprodukte Diese Verpackungen wurden entwickelt, um frische Produkte optimal zu schützen. Sie bestehen lediglich aus Karton und Polyethylen, die darin abgefüllten Produkte müssen jedoch gekühlt transportiert und gelagert werden (Bsp. Frischmilch). Lebensmittelverpackungen Die Lebensmittelindustrie entwickelt sich rasant weiter. Verbraucher, Händler und Lebensmittelproduzenten stellen hohe Anforderungen an Verpackungslösungen für Lebensmittel. Sie sollen nicht nur frisch halten und praktisch sein, sie müssen auch möglichst umweltschonend sein. Darüber hinaus steigt die Nachfrage nach einfach zuzubereitenden Nahrungsmitteln. Mit Tetra Recart® hat Tetra Pak eine innovative und umweltfreundliche Alternative zu Dosen, Gläsern und Schlauchbeuteln entwickelt. Diese Kartonverpackung war die erste auf dem Markt, mit der feste, stückige Lebensmittel im Karton sterilisiert werden konnten. Zu diesen Lebensmitteln gehören Gemüse, Tomaten, Fertiggerichte, Suppen und Tiernahrung.

10.4 Verantwortungsbewusste Beschaffung bei Tetra Pak Verantwortungsvolle Beschaffung ist eines von drei strategischen Zielen, die Tetra Pak sich für die Aktivitäten in der Lieferkette gesetzt hat. Als globales Unternehmen mit weltweit tausenden von Lieferanten und mehr als 188 Mrd. produzierten Verpackungen im Jahr 2017 hat das Unternehmen die Verpflichtung und die Chance, sich für verantwortungsvolle Beschaffungsmaßnahmen einzusetzen und eine transparente, nachhaltige Unternehmensführung zu fördern. Verantwortungsbewusste Beschaffung bedeutet, über die herkömmlichen Aspekte wie Kosten, Qualität und Liefertermin hinauszuschauen. Das heißt, dass sowohl bei den direkten als auch bei den indirekten Lieferanten von Produkten und Dienstleistungen ethische, arbeitsrechtliche, soziale und ökologische Aspekte berücksichtigt werden. Das Ziel von Tetra Pak besteht sowohl in der Minimierung negativer Auswirkungen als auch darin, einen positiven Beitrag für die Unternehmen, Menschen und Gemeinden entlang der Lieferkette zu leisten. Dazu müssen sich alle neuen Lieferanten dem Verhaltenskodex für Lieferanten verpflichten, bevor Tetra Pak mit ihnen in Geschäftsbeziehungen tritt. Aber auch bei bestehenden Lieferanten wurde der Kodex in den

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vergangenen Jahren sukzessive umgesetzt. Im Jahr 2016 hatten 97 % der Lieferanten (nach Ausgabevolumen) den Kodex unterzeichnet – einschließlich direkter und indirekter Lieferanten. Bei den Verpackungsrohmateriallieferanten liegt die Quote bei 100 %. Basis für den Lieferantenkodex sind die zehn Grundsätze des Globalen Pakts der Vereinten Nationen für Umwelt, Arbeit, Korruptionsbekämpfung und Menschenrechte. Diese sind in Tab. 10.2 dargestellt. Der Tetra Pak Lieferantenkodex soll die Lieferanten darüber hinaus anregen, in ihre eigene Nachhaltigkeitsagenda zu investieren, um die weltweit geltenden bewährten Verfahren einzuhalten oder zu übertreffen. Ein Kontrollrahmen ermöglicht es Tetra Pak, die Einhaltung dieser Grundsätze und damit auch die Lieferanten zu bewerten. Als Teil eines Konzepts für eine verantwortungsvolle Beschaffung bei Lieferanten und um Vertrauen und Transparenz bei den Kunden zu schaffen, ist Tetra Pak Mitglied im Supplier Ethical Data Exchange (Sedex, www.sedexglobal.com), einer gemeinnützigen Mitgliederorganisation, die sich der Förderung verantwortungsvoller und ethischer Geschäftspraktiken in der Lieferkette verschrieben hat. Dazu werden Lieferanten zur Teilnahme am jährlichen Lieferantenbewertungsfragebogen eingeladen. Die Rückmeldungen werden kontinuierlich überprüft, um mögliche Risiken und weitere Handlungsschwerpunkte zu beurteilen. Mit denjenigen, bei denen potenzielle Risiken erkannt werden, wird weiter an Verbesserungen gearbeitet. Darüber hinaus wurden im Jahr 2016

Tab. 10.2  Zehn Grundsätze des Globalen Pakts der Vereinten Nationen. (Quelle: United Nations Global Compact 2018, online) Menschenrechte Grundsatz 1: Unternehmen sollen den Schutz der internationalen Menschenrechte innerhalb ihres Einflussbereichs unterstützen und achten und Grundsatz 2: sicherstellen, dass sie sich nicht an Menschenrechtsverletzungen mitschuldig machen Arbeitsnormen Grundsatz 3: Unternehmen sollen die Vereinigungsfreiheit und die wirksame Anerkennung des Rechts auf Kollektivverhandlungen wahren sowie ferner für Grundsatz 4: die Beseitigung aller Formen der Zwangsarbeit, Grundsatz 5: die Abschaffung der Kinderarbeit und Grundsatz 6: die Beseitigung von Diskriminierung bei Anstellung und Beschäftigung eintreten Umweltschutz Grundsatz 7: Unternehmen sollen im Umgang mit Umweltproblemen einen vorsorgenden Ansatz unterstützen, Grundsatz 8: Initiativen ergreifen, um ein größeres Verantwortungsbewusstsein für die Umwelt zu erzeugen, und Grundsatz 9: die Entwicklung und Verbreitung umweltfreundlicher Technologien fördern Korruptionsbekämpfung Grundsatz 10: Unternehmen sollen gegen alle Arten der Korruption eintreten, einschließlich Erpressung und Bestechung

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strategische Lieferanten für Audits vor Ort ausgewählt. Hier arbeitet Tetra Pak eng mit externen Wirtschaftsprüfungsgesellschaften zusammen, um Leistungsverbesserungen im Einklang mit dem Lieferantenkodex zu erreichen. Darüber hinaus nimmt Tetra Pak am Scorecard-System und den Nachhaltigkeitsbewertungen von EcoVadis (www.ecovadis.com) teil, die den Beschaffungsteams helfen, Umwelt- und Sozialaspekte sowie die Unternehmensführung betreffende Faktoren in der Lieferkette zu überwachen. Zur fundierten Ausbildung der mit diesen Themen betrauten Kollegen hat Tetra Pak im Jahr 2016 ein E-Learning-Modul zum Thema verantwortungsvolle Beschaffung eingeführt, das ab 2017 für alle Kollegen im Einkauf verpflichtend ist. Um sicherzustellen, dass Nachhaltigkeit zum Bestandteil des täglichen Handelns wird, hat das Unternehmen darüber hinaus ein Kompetenzforum für verantwortungsvolle Beschaffung ins Leben gerufen, das sich aus zentralen und lokalen Lieferantenmanagement-Teams zusammensetzt. Das Forum unterstützt auch globale Lieferantenmanagement-Teams darin, ihre Kompetenzen weiterzuentwickeln.

10.4.1 Karton – nachhaltige Forstwirtschaft fördern Kartonmaterial macht etwa drei Viertel des Gewichts einer Tetra Pak-Kartonverpackung aus. Obwohl das Unternehmen keine Wälder besitzt oder bewirtschaftet, setzt es seine Kaufkraft zur Förderung einer nachhaltigen Forstwirtschaft ein. Als großer Abnehmer von Karton fühlt Tetra Pak sich verpflichtet dafür zu sorgen, dass der weltweite Waldbestand auf sozialverträgliche, umweltverträgliche und ökonomisch sinnvolle Weise bewirtschaftet wird. Dabei wird daran gearbeitet, sicherzustellen, dass das in den Verpackungen eingesetzte Kartonmaterial zu 100 % aus zertifizierten Quellen stammt. Dazu schließt Tetra Pak sich mit Lieferanten, Nichtregierungsorganisationen und anderen Stakeholdern zusammen, um eine verantwortungsvolle Forstwirtschaft zu fördern und die Rückverfolgbarkeit durch Zertifizierung und Kennzeichnung transparenter zu gestalten. Bei der Beschaffung von Kartonmaterial für die Herstellung von Tetra Pak-Getränkekartons folgt das Unternehmen zwei Hauptprinzipien: • Alle Holzfasern für die Getränkekartons müssen aus Wäldern stammen, die von unabhängiger Seite für eine Bewirtschaftung gemäß den Prinzipien einer nachhaltigen Forstwirtschaft zertifiziert sind. • Das Unternehmen muss die Rückverfolgbarkeit von den Wäldern bis hin zu dem in den Produktionswerken von Tetra Pak in aller Welt gefertigten Verpackungsmaterialien belegen können. Dies kann nur durch eine unabhängige Zertifizierung der gesamten Produktionskette erreicht werden. Dazu wird das gesamte Kartonmaterial aus Holz hergestellt, das aus, nach Standards des Forest Stewardship Council (FSC), zertifizierten Wäldern und anderen kontrollierten

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Quellen stammt. In diesem Kontext ist Tetra Pak der Auffassung, dass der FSC einen glaubwürdigen einheitlichen Standard bietet. Gleichzeitig erkennen fast ein Viertel der Verbraucher das FSC-Logo, sodass Tetra Pak seine Kunden aktiv dazu anhält, das Logo auf ihren Verpackungen anzubringen. Somit werden die Kunden aktiv in verantwortungsvolle Lieferketten eingebunden. Rund 92 Mrd. Tetra Pak-Verpackungen standen 2017 weltweit mit dem FSC-Logo in den Handelsregalen, gegenüber 65 Mrd. im Jahr 2016. Tetra Pak hat das Chain-of-Custody-Zertifikat des FSC für alle Produktionswerke und Marktgesellschaften weltweit erhalten, sodass das Unternehmen überall auf der Welt Verpackungen mit FSC-Siegel anbieten kann. Bei der Zertifizierung der Produktionskette seiner eigenen betrieblichen Abläufe arbeitet Tetra Pak mit der Rainforest Alliance zusammen, einer der weltweit größten, vom FSC akkreditierten, Zertifizierungsstellen. Der FSC-Lizenzcode für Tetra Pak lautet FSC® C014047. Neben der engen Beteiligung bei der Umsetzung der FSC-Standards und der Gestaltung einer nachhaltigen Forstwirtschaft, unterstützt Tetra Pak eine Reihe freiwilliger Initiativen von Stakeholdern. So ist das Unternehmen unter anderem Mitglied des WWF Global Forest and Trade Network, das sich bis 2020 für einen vollständigen Stopp der Entwaldung und Waldschädigung einsetzt. In den letzten zehn Jahren hat Tetra Pak an einer Reihe von Projekten gearbeitet, die dabei geholfen haben, mit seinen Stakeholdern auf globaler und lokaler Ebene zusammenzuarbeiten, um praktische, nachhaltige Lösungen für aktuelle und zukünftige Herausforderungen zu finden. Darüber hinaus ist Tetra Pak Gründungsmitglied des High Conservation Value Resource Network und arbeitet mit weiteren Netzwerken zusammen, um den Erhaltungswert zu identifizieren, zu managen und zu überwachen als ein Schritt in Richtung Zertifizierung von großen Forst- und Agrar-Standardsystemen. Aufgrund dieses Engagements konnte sich Tetra Pak den Status als Branchenführer 2016 und 2017 in der A-Liste im Forstprogramm der CDP (früher „Carbon Disclosure Project“) sichern. CDP ist eine globale Non-Profit-Plattform für die Veröffentlichung von Umweltdaten.

10.4.2 Polymere aus bio-basierten Rohmaterialien Eine Verpackung von Tetra Pak verfügt über eine dünne Schicht aus Polymer oder Kunststoff, um das Ein- und Ausdringen von Feuchtigkeit zu verhindern und den Inhalt frisch zu halten. Es ist auch in Kappen, Verschlüssen und Trinkhalmen enthalten. Das langfristige Ziel von Tetra Pak besteht darin, dass alle Verpackungen für sowohl haltbare als auch frische Produkte aus nachwachsenden Alternativen zu erdölbasierten Kunststoffen bestehen. 2011 hat Tetra Pak die branchenweit ersten Verschlusskappen aus bio-basierten Polymeren eingeführt. Die aus brasilianischem Zuckerrohr-Ethanol hergestellten Verschlusskappen sehen zwar genauso aus wie herkömmliche Kappen, sie zeichnen sich jedoch durch eine deutlich bessere Kohlenstoffbilanz aus. Die Recyclingfähigkeit wird nicht

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beeinträchtigt, da die neuen Materialien ohne Einschränkung wie herkömmliche Polymere verarbeitet werden. 2014 hat Tetra Pak die weltweit erste Verpackung für flüssige Lebensmittel entwickelt, die vollständig aus nachwachsenden Rohstoffen besteht, die bio-basierte Tetra Rex®-Verpackung mit bio-basierter Verschlusskappe und Folie sowie bio-basiertem Verschlusshals. Bis Ende 2016 konnten mehr als 100 Mio. dieser Verpackungen aus nachwachsenden Rohstoffen ausgeliefert werden. Im selben Jahr wurde auch die erste aseptische Verpackung mit einer Folie und Verschlusskappe aus Kunststoff auf Zuckerrohrbasis eingeführt. Zusammen mit dem Karton wächst der Anteil an Materialien aus nachwachsenden Rohstoffen in der Verpackung auf über 80 % und erfüllt damit die Anforderungen der Akkreditierungsstelle TÜV Austria für eine Vier-Sterne-Zertifizierung. Mit steigendem Umweltbewusstsein der Verbraucher gewinnt die unabhängige Überprüfung der nachwachsenden Rohstoffe zunehmend an Bedeutung. Die Zertifizierung „OK Biobased“ zeigt Verbrauchern, wie hoch der Anteil nachwachsender Rohstoffe tatsächlich ist. Das von Vinçotte entwickelte und vom TÜV Austria übernommene Prüfverfahren verwendet strenge wissenschaftliche Verfahren und Methoden, um den tatsächlichen Anteil an bio-basierten Rohstoffen zu bewerten. Vier Sterne zeigen, dass mehr als 80 % aus bio-basierten Materialien stammen. Trotz erheblicher Fortschritte sind bio-basierte Polymere bisher nur in einem kleinen Teil der Tetra Pak-Getränkekartons enthalten und stellen für die Kunststoffindustrie ein Nischenprodukt dar. Das Bestreben des Unternehmens bleibt es, ihren Einsatz auszuweiten, um einen größeren Teil der Verpackungen über alle Größen hinweg abzudecken. Die Herausforderung wird zunehmend komplexer, wenn die sozialen Kosten alternativer Rohstoffquellen (z. B. lokale Verfügbarkeit von Lebensmitteln und Arbeitsbedingungen) in Betracht gezogen werden, die mit bio-basierten Polymeren verbunden sind. Auch dazu arbeitet Tetra Pak mit einer Reihe von Stakeholder-Partnern zusammen, um diese Themen zu untersuchen und gleichzeitig Alternativen wie andere pflanzliche Materialien, organische Abfälle und Algen zu bewerten. Mit Braskem, dem größten Hersteller thermoplastischer Kunststoffe in Nord-, Mittel- und Südamerika, wurde beispielsweise ein Vertrag geschlossen, sodass nun Polyethylen niedriger Dichte auf Zuckerrohrbasis für die Beschichtung aller in Brasilien hergestellten Verpackungen eingesetzt werden kann. Ein Verhaltenskodex, der soziale und ökologische Kriterien beinhaltet, begleitet den Beschaffungsprozess von Braskem und ist Bestandteil der Liefervereinbarung.

10.4.3 Herausforderung Aluminium Auf der Innenseite der aseptischen Tetra Pak-Kartons schützt eine Aluminiumschicht, die achtmal dünner ist als das menschliche Haar, vor Sauerstoff und Licht und macht so verderbliche Lebensmittel ohne Kühlung und Konservierungsstoffe für Monate haltbar.

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Obwohl diese Schicht bereits sehr dünn ist, ist Tetra Pak bemüht, sie durch laufende Neuerungen so dünn wie möglich zu machen und alternative Barrierematerialien zu finden. Die Produktion kann aber auch mit Umwelt- und sozialen Problemen in Verbindung gebracht werden, die von der Landnutzung über gefährliche Nebenprodukte bis hin zu Arbeitsbedingungen, Gesundheit und Sicherheit reichen. Da Aluminium zudem auf dem offenen Markt gehandelt wird, kann dies seine Rückverfolgung bis zur ursprünglichen Quelle erschweren. Die Bewältigung dieser Herausforderungen ist komplex und erfordert kontinuierliche Forschung und Innovation sowie die Zusammenarbeit mit verschiedenen Stakeholdern. Grundlage dafür ist die Arbeit von Tetra Pak im Rahmen der Aluminium Stewardship Initiative (ASI), die darauf abzielt, einige der beschriebenen Probleme auf Branchenebene anzugehen. 2016 wurde Tetra Pak in den Vorstand der ASI gewählt. Gemeinsam mit Rio Tinto Aluminium, BMW, Nespresso, dem WWF und der International Union for the Conservation of Nature wird unter anderem daran gearbeitet, einen globalen Standard zu etablieren, der ökologische und soziale Kriterien für alle Phasen der Aluminiumproduktion und -verarbeitung beinhaltet. ASI hat 2017 offiziell das Zertifizierungsprogramm für die Aluminium-Wertschöpfungskette eingeführt.

10.5 Value-Chain-Ansatz über die Beschaffung hinaus Nicht nur mit Lieferanten, sondern auch mit Kunden arbeitet Tetra Pak an der Verringerung der Umweltbelastung entlang der gesamten Wertschöpfungskette, angefangen bei der Beschaffung bis hin zur Nutzung und Entsorgung. Die entwickelten Maßnahmen beziehen sich dabei nicht nur auf die Treibhausgasemissionen, sondern auch auf die Ressourcennutzung, die Abfallmengen, den Wasserverbrauch und den Einsatz von Chemikalien. Ziel von Tetra Pak ist es, die Klimabelastung bis 2020 in der gesamten Wertschöpfungskette auf das Niveau von 2010 zu begrenzen – unabhängig vom Unternehmenswachstum. Im Jahr 2016 lag der Anteil der Emissionen in der Wertschöpfungskette um 16 % unter dem von 2010, trotz einer Steigerung der verkauften Verpackungen um 19 %. Da über 50 % der Klimabelastung auf die Nutzung von Anlagen durch die Kunden zurückzuführen sind, konzentriert Tetra Pak sich darauf, ihnen bei der Suche nach innovativen Lösungen zur Reduzierung des Kohlenstoffausstoßes zu helfen. Im Jahr 2016 war Tetra Pak zudem das erste Unternehmen der Lebensmittelverpackungsindustrie, dessen Klimaschutzziele von der Science Based Targets Initiative (SBT), einer globalen Partnerschaft zwischen CDP (früher „Carbon Disclosure Project“), dem World Resources Institute, World Wide Fund for Nature und dem Globalen Pakt der Vereinten Nationen, der sich über 210 Unternehmen verbindlich angeschlossen haben, bestätigt wurden. In diesem Zusammenhang hat Tetra Pak sich verpflichtet, ausgehend vom Referenzjahr 2015, die betrieblichen Treibhausgasemissionen bis 2030 um 42 % und bis 2040 um 58 % zu reduzieren.

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Doch was ist ein wissenschaftsbasiertes Ziel? Die Ziele gelten als „wissenschaftsbasiert“, wenn sie dem Grad der Kohlendioxidreduzierung entsprechen, der erforderlich ist, um die globale Temperatur unter zwei Grad gegenüber den vorindustriellen Temperaturwerten zu halten, die die Grundlage des Übereinkommens von Paris im Rahmen der UN-Klimakonferenz 2015 bildeten. Ziel der wissenschaftsbasierten Zielsetzungen ist es, dass sie bis 2018 zur gängigen Geschäftspraxis werden und die Unternehmen eine wichtige Rolle bei der Schließung der durch die Länderzusagen entstandenen Emissionslücken spielen. Die Initiative für wissenschaftsbasierte Zielvorgaben hat es Tetra Pak ermöglicht, Ziele neu zu formulieren, die sich an wissenschaftlichen Erkenntnissen und auch daran orientieren, welche Maßnahmen erforderlich sind, um die globale Erwärmung unter der gefährlichen Schwelle von zwei Grad zu halten. Gleichzeitig hat der Prozess der wissenschaftsbasierten Zielsetzungen dem Unternehmen die Möglichkeit gegeben, über die bestehenden Verpflichtungen hinauszublicken und die weitere Vorgehensweise bis 2040 festzulegen. Die neuen Zielvorgaben stellen sicher, dass Tetra Pak in der Lage ist, seinen Beitrag zu einer kohlenstoffarmen Wirtschaft bei Kunden und anderen Stakeholdern offen und genau darzustellen.

10.5.1 CO2-Bilanz eines Getränkekartons Die CO2-Bilanz eines Produktes ist die Summe aller Treibhausgase, die während seines Lebenszyklus ausgestoßen werden. Dazu zählen die Beschaffung der verwendeten Rohstoffe, die Produktion, die Distribution, der Konsum, der Transport sowie die Entsorgung bzw. Weiterverwertung des Produkts. Tetra Pak produziert viele verschiedene Arten von Verpackungen, die an verschiedenen Orten der Welt befüllt und verteilt werden. Auch die Entsorgung bzw. Verwertung am Ende der Lebensdauer variiert von Fall zu Fall, je nach den örtlichen Recyclingbedingungen und den Entscheidungen des Endverbrauchers. Die exakte Berechnung der Kohlenstoffbilanz jeder dieser Kombinationen wäre eine fast unmögliche Aufgabe. Ergebnisse für den gesamten Lebenszyklus einer Reihe von Kartonverpackungen können mit dem online verfügbaren Tetra Pak CO2-Rechner für Kartonverpackungen ermittelt werden. Die Ergebnisse des CO2-Rechners für Kartonverpackungen zeigen die CO2-Bilanz von Kartons unter europäischen Bedingungen bis zu der Stufe, an der das Verpackungsmaterial das Produktionswerk verlässt. Die Auswirkungen im Zusammenhang mit der Beschaffung und dem Transport von Rohstoffen hin zu den Tetra Pak-Werken sowie der Weiterverarbeitung der Materialien zu Verpackungsmaterialien sind Bereiche, die das Unternehmen durch Richtlinien und Maßnahmen direkt steuert. Außerdem können Kunden anhand dieser Kennzahlen das Treibhauspotenzial in ihre Kaufentscheidung mit einbeziehen.

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10.5.2 Rohstoffverfügbarkeit durch Recycling sichern Bei den betrieblichen Aktivitäten berücksichtigt Tetra Pak auch die weitergehenden Auswirkungen für Umwelt und Gesellschaft. Dabei ist das Unternehmen der Überzeugung, dass das Recycling von gebrauchten Produkten eine Investition in die Zukunft darstellt. Wenn recycelten Getränkekartons ein neues Leben geschenkt wird, werden natürliche Ressourcen geschont, die Klimabelastung verringert und ein Beitrag für die Gesellschaft geleistet. Die Arbeit von Tetra Pak zur Förderung und Erleichterung des Recyclings erstreckt sich über die gesamte Recycling-Wertschöpfungskette und umfasst weltweit den Aufbau und die Unterstützung einer Sammel- und Sortierinfrastruktur, die Erweiterung der Marktchancen für Recyclingmaterialien und die Förderung von Geschäftsmöglichkeiten für Recyclingunternehmer sowie die verstärkte Sensibilisierung von Verbrauchern. Dabei ist die Zusammenarbeit mit Entsorgern, Verwertern, Kommunen, Industrieverbänden und Anlagenlieferanten für eine erfolgreiche Umsetzung von entscheidender Bedeutung. So zeigt sich in manchen Fällen, dass beispielsweise ein Rohstoff, der ökologischer erscheint als derjenige, den er substituieren soll, am Ende des Lebenszyklus nicht funktioniert, da er nicht mit den bestehenden Recyclingtechnologien kompatibel ist und das Ergebnis sogar belastet. Daher empfiehlt es sich, die Wertschöpfungskette immer auch „von hinten zu denken“, um zu einer rundum verantwortungsvollen Beschaffung zu kommen. Daher hat sich Tetra Pak im März 2016 auch der Circular Economy 100 (CE 100) angeschlossen, einer Initiative der Ellen MacArthur Foundation, um einer sinnvollen Kreislaufwirtschaft zu entsprechen und eine solche zu unterstützen. In der CE 100 vereinen sich Unternehmen, Regierungen, Städte und weitere Stakeholder.

10.6 Global Reporting Initiative Wesentlichkeitsbewertung Im Jahr 2013 hat die Global Reporting Initiative (GRI) mit G4 die vierte Version ihrer Leitlinien zur Nachhaltigkeitsberichterstattung veröffentlicht. Schwerpunkt bei dieser Neuerung war die Darstellung der Wesentlichkeit von Nachhaltigkeitsaspekten, das heißt, die Unternehmen können seitdem selbst festlegen, welche Themen für sie oder ihre Branche am wichtigsten, also „wesentlich“ sind. Über acht Monate hinweg hat Tetra Pak 2016/2017 seine Wesentlichkeitsbewertung in Zusammenarbeit mit den Nachhaltigkeitsexperten von Salterbaxter und im Einklang der G4 Leitlinien durchgeführt. Die Wesentlichkeitsbewertung bestand aus den folgenden vier Schritten: Schritt 1 – Identifizierung der Stakeholder-Gruppen: Unternehmensweites Einbeziehen von Mitarbeitern in Schlüsselfunktionen sowie Identifizierung von Kunden, Verbrauchern, Meinungsführern, Regulierungsbehörden, Nichtregierungsorganisationen (NGOs) und Lieferanten. In den kommenden Jahren werden auch Gemeinden, Verwerter und Medien mit einbezogen werden.

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Schritt 2 – Aspekte der Identifizierung: Da Tetra Pak ein privatwirtschaftliches Unternehmen ist, konzentrierte es sich 2016 ausschließlich auf soziale und ökologische Aspekte der G4 Leitlinien der GRI (ohne finanzielle Aspekte). Diese Aspekte wurden entlang der gesamten Wertschöpfungskette, sowohl in Bezug auf Verpackungsmaterialien als auch auf Anlagen, analysiert. Schritt 3 – Aspekte der Priorisierung: Durchführung einer Reihe von internen Workshops und Befragungen mit 40 Mitarbeitern aus verschiedenen Unternehmensfunktionen und allen 14 Mitgliedern des weltweiten Führungsteams. Umfassende Recherchen auf der Grundlage einer Vielzahl von Materialien wie Präsentationen, Berichte, wissenschaftliche Arbeiten, Websites und andere Einblicke halfen dabei, die Erwartungen externer Stakeholder zu verstehen. Dazu wurden unter anderem mit einbezogen: • 351 Kunden und 6044 Verbraucher aus zwölf Ländern in Nord-, Mittel- und Südamerika, Europa, Afrika und Asien, einschließlich acht vollständiger Materialitätsbewertungen von Kunden. • 241 Meinungsführer aus denselben zwölf Ländern (Vertreter des Managements, Produkt-, Marketing-, Umwelt- und Nachhaltigkeitsverantwortliche von Lebensmittelherstellern und-händlern sowie von globalen NGOs und Industrieverbänden). • Normen und Grundsätze des Sustainability Accounting Standards Board, des Sustainability Consortium, des Forest Stewardship Council und der Aluminium Stewardship Initiative. • Über 20 Lebenszyklus-Analysen (Begutachtung durch entsprechende Fachleute). • Zehn externe Nachhaltigkeitsnetzwerke wie das Consumer Goods Forum. • Andere Multi-Stakeholder-Initiativen mit Beteiligung von Kunden, Lieferanten und NGOs. Schritt 4 – Validierung: Die Wesentlichkeitsmatrix wurde dem Tetra Pak-Strategierat im Oktober 2016 vorgelegt, wo die Materialitätsaspekte validiert und bestätigt wurden. Es wurde vereinbart, dass die 14 wichtigsten Materialaspekte die Grundlage des Nachhaltigkeitsberichts 2017 bilden und für die Darstellung der G4-Indikatoren der GRI herangezogen werden. Die Verfügbarkeit von Nahrungsmitteln kam bei der Bewertung nicht zur Sprache, wurde aber separat hinzugefügt, da der Strategierat zu dem Schluss kam, dass dies ein sehr wichtiges Thema ist, das in die Materialaspekte des Unternehmens einbezogen werden sollte.

10.7 Fazit Verantwortungsbewusste Unternehmensführung ist bei Tetra Pak die Voraussetzung für eine nachhaltige Unternehmensstrategie und Befähigung aller Beschäftigten zu ethischem und verantwortungsvollem Verhalten. Strategische Partnerschaften und Kooperationen unterstützen das Unternehmen darin, sich im Sinne der Nachhaltigkeit

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weiter zu entwickeln und transparent über Fortschritte zu berichten. Basierend darauf wird schon bei der ersten Produktidee festgelegt, wie dieses Produkt den definierten Nachhaltigkeitskriterien über den gesamten Lebenszyklus hinweg entsprechen kann. Hilfreich dabei sind unter anderem Erkenntnisse, die aus Lebenszyklus- und anderen technischen Analysen gewonnen werden. Denn nicht immer entspricht ein Rohstoff, der auf den ersten Blick nachhaltiger erscheint, auch diesem Anspruch. Daher wird im Sinne einer verantwortungsbewussten Beschaffung empfohlen, stets die gesamte Wertschöpfungskette im Blick zu haben und sich den verantwortungsvollen Umgang mit den verwendeten Rohmaterialien und Produkten durch unabhängige Dritte bestätigen zu lassen und, wo immer möglich, auf Produkte zurückzugreifen, die nach anerkannten Standards zertifiziert wurden. Zur Förderung eines nachhaltigen Konsums ist es zudem wichtig, die Konsumenten umfassend darüber zu informieren, um ihnen die Kaufentscheidung für ein nachhaltigeres Produkt zu erleichtern.

Literatur Die Inhalte wurden der Tetra-Pak-Webseite (www.tetrapak.de) entnommen und durch die Webseite www.globalcompact.de ergänzt, (2018) Tetra Pak Mediabox, (2018) United Nations Global Compact, (2018), online

Caroline Babendererde ist seit 2003 Environment Manager bei der Tetra Pak GmbH & Co KG in Hochheim a. M. Ihre Tätigkeit ist unter anderem geprägt durch Lebenszyklusbetrachtungen von Getränkekartonverpackungen, in der sie sowohl intern als auch extern die Hersteller von flüssigen Nahrungsmitteln fachlich berät und in der Umweltkommunikation unterstützt. Zuvor war sie bei der Acterna GmbH Eningen als Environmental Health and Safety Manager und der Quelle AG Fürth als Fachreferentin Umwelt tätig. Neben ihrem Diplom-Studium der Physischen Geografie, Landschaftsökologie und Raumplanung an der Ludwig-MaximiliansUniversität München war sie als Projektleiterin der Horstmann Stiftung – Wissenschaft und Bildung in der Umwelt – tätig, der sie seit 1997 als Mitglied des Kuratoriums angehört.

Technische Lösungen für ökologische Herausforderungen – Nachhaltigkeit in der Prozess- und Verpackungstechnik

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Zusammenfassung

Die zunehmende Urbanisierung, kleinere Haushaltsgrößen und eine alternde Bevölkerung verändern die Ansprüche an Verpackungen von Nahrungs- und Arzneimitteln entscheidend. Gleichzeitig steigt der Bedarf an nachhaltigeren Verpackungslösungen und -prozessen. Doch ein Unternehmen kann diese Aufgabe unmöglich alleine bewältigen. Um wahrhaftig nachhaltige und für den Konsumenten attraktive Verpackungskonzepte zu entwickeln, sollten sich produzierende Unternehmen, Material- und Verpackungshersteller sowie Maschinenbauer und Entsorger zusammentun.

11.1 Wandel des Konsumentenverhaltens Die „Supersize Me“-Mentalität gehört im Großteil der Industriestaaten der Vergangenheit an. Stattdessen geht der Trend aufgrund des demografischen Wandels und bewussterem Konsumverhalten hin zu immer kleineren Portionsgrößen. Dies spiegelt auch die steigende Nachfrage nach Convenience- und On-the-go-Produkten wider. In vielen Wachstumsmärkten sind kleine Portionen allein aufgrund der finanziellen Mittel die Einheit der Wahl. So werden zwar die Verpackungsgrößen an sich kleiner, die Anzahl an Einzelverpackungen hingegen wächst unaufhörlich. Obwohl das Umweltbewusstsein in der Bevölkerung insgesamt steigt, landen jedes Jahr mehr als acht Millionen Tonnen Kunststoffmüll in den Weltmeeren, was unter anderem auch auf unzureichend etablierte oder umgesetzte Entsorgungsprozesse zurückzuführen ist. Laut der UN entspricht das

C. Weiß ()  E-Mail: [email protected]

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 W. Wellbrock und D. Ludin (Hrsg.), Nachhaltiges Beschaffungsmanagement, https://doi.org/10.1007/978-3-658-25188-8_11

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einer Müllwagenladung pro Minute. Parallel nehmen die Bemühungen um nachhaltigere Verpackungen und umweltschonende Herstellungsprozesse zu. In Zukunft wird es noch stärker darum gehen, den Anforderungen der Circular Economy zu entsprechen. Gefordert sind Verpackungen gemäß des „Design for Recycling“, also einfach trennbare Materialien, Monomaterialverpackungen und der Gebrauch nachwachsender Rohstoffe. Doch was nutzen die umweltfreundlichsten Verpackungsdesigns, wenn sie nicht mit Prozess- und Verpackungsanlagen kompatibel sind? Oder wenn die Prozessschritte, die für die Verarbeitung, Abfüllung, Verpackung und Entsorgung benötigt werden, ihrerseits mehr Energie verbrauchen? Alle an der Produktions- und Lieferkette Beteiligten müssen gemeinsam an nachhaltigeren Lösungen arbeiten. Erfahrungen aus einschlägigen Initiativen wie Save Food, CEFLEX oder European Bioplastics geben dabei wertvolle Rückschlüsse auf den künftigen Bedarf.

11.2 Auf der Suche nach neuen Verpackungskonzepten Zu den wichtigsten Trends im Verpackungsmarkt zählen die Weiterentwicklung herkömmlich genutzter Materialien, die Erforschung neuer Materialkombinationen sowie die Entwicklung ressourcenschonender Prozesse (siehe Abb. 11.1). Dabei arbeiten zahlreiche Parteien Hand in Hand, um gemeinsam neuartige Lösungen zu entwickeln, die dem Nachhaltigkeitsgedanken Rechnung tragen. Zur Erreichung dieser Ziele lassen sich auch Erfahrungen ganz anderer, nicht direkt verwandter Bereiche nutzen. In der Automobilindustrie etwa wird bereits seit vielen Jahren erheblicher Aufwand in die Material- und Prozessoptimierung investiert. Bei Produkten mit sehr hohen Barriereanforderungen, wie beispielsweise Batteriezellen, steht die Optimierung flexibler Verpackungsmaterialien im

Abb. 11.1  Bosch Sustainability – Bosch Packaging Technology investiert in neue technische Lösungen für mehr Nachhaltigkeit in der Prozess- und Verpackungstechnik. (Quelle: Eigene Darstellung)

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Vordergrund. Erkenntnisse aus diesen Bemühungen können – sofern verfügbar – auch direkt in die Entwicklung neuer Verpackungslösungen und Produktionskonzepte für Nahrungsmittel und Pharmazeutika einfließen. Eine Vielzahl an Forschungsaktivitäten widmet sich der Entwicklung biobasierter beziehungsweise biologisch abbaubarer Kunststoffe, die den Anforderungen an Lebensmittelverpackungen entsprechen. Biobasierte Kunststoffe weisen im Vergleich zu herkömmlichen Kunststoffen häufig eine bessere CO2-Bilanz auf. Biologisch abbaubare Kunststoffe haben insbesondere dann einen Vorteil, wenn sie sich leicht durch Mikroorganismen zersetzen lassen. Der Einsatz kompostierbarer Materialien ist besonders bei Nahrungsmitteln sinnvoll, bei denen sowohl Produkt als auch Verpackung gemeinsam dem Entsorgungskreislauf zugeführt werden. Das trifft beispielsweise auf Kaffeekapseln oder Teebeutel zu. Doch auch bioabbaubare Kunststoffe sind nicht das Allheilmittel gegen die Verschmutzung von Umwelt und Weltmeeren: Beim Abbau entsteht Kohlenstoffdioxid, Wasser und Methan. Letzteres hat einen deutlich höheren Effekt auf die globale Erderwärmung als CO2, weshalb es auf gemanagten Deponien zu CO2 und H2O verbrannt wird. Sind bioabbaubare Kunststoffe zusätzlich biobasiert, weisen sie eine deutlich bessere CO2-Bilanz auf. Bioabbaubare Kunststoffe auf Basis nachwachsender Rohstoffe hingegen können andere negative Effekte auf die Umwelt haben, wie Eutrophierung, Bodenversauerung oder freigesetzte Luftschadstoffe. Insgesamt sind schnell abbaubare Kunststoffe dann besonders vorteilhaft für die Umwelt, wenn sie „marine degradable“ sind, sich also im Meereswasser zersetzen. Natürlich sollte das Ziel weiterhin sein, die Weltmeere mit so wenig wie möglich Verpackungsmüll zu belasten. Dafür sind gute Recyclinglösungen und funktionierende Entsorgungssysteme elementar.

11.3 Erste Konzepte bereits umgesetzt Auch im Bereich faserstoffbasierter Verpackungen wird bereits intensiv an neuen Konzepten gearbeitet, um die Anforderungen der Circular Economy bezüglich Recyclebarkeit und Nutzung erneuerbarer Materialien zu vereinen, ohne dabei den Produktschutz außer Acht zu lassen. Die erste gesiegelte Papierverpackung zum Beispiel besteht statt aus Polymerfolie aus Monomaterial-Papier und ist somit komplett recyclingfähig. Sie eignet sich für trockene Nahrungsmittel wie Zucker, Teigwaren, Getreide oder Pulver (siehe Abb. 11.2). Bislang war die Verpackung von Produkten in Monomaterial-Papier nur mit geklebten, vorgefertigten Beuteln oder geklebten, mittels Dornrad-Technologie hergestellten Papierverpackungen möglich. Mit der neuen Lösung lassen sich erstmals Nahrungsmittel auch mit vertikalen Schlauchbeutelmaschinen (VFFS-Technologie) verpacken und versiegeln, was zu einer höheren Flexibilität im Hinblick auf Formate und Packstile führt. Darüber hinaus gewährleistet die Siegelung mittels VFFS verbesserten Produktschutz und Staubdichte. Dank der Verwendung von FSC- oder PEFC-zertifiziertem Papier wird der nachhaltige Charakter vom Rohstoff bis zur Wiederverwertung

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Abb. 11.2  Bosch ZAP Modul und Bosch ZAP Paper Packaging – Die erste gesiegelte Papierverpackung besteht aus Monomaterial-Papier statt aus Polymerfolie und ist somit komplett recyclingfähig. (Quelle: Eigene Darstellung)

erhalten und für Produkte mit geringen Barriereanforderungen eine echte Alternative zu Kunststoff geboten. Neben der Herstellung von Monomaterialverpackungen und der Anwendung auf VFFS-Maschinen sind in Zukunft noch weitere Applikationen denkbar. Durch eine entsprechende Modifikation vorhandener Verpackungen lassen sich zum Beispiel die Anzahl unterschiedlicher Materialien reduzieren oder auch die immer höheren Barriereanforderungen für den Produktschutz umsetzen. Um die Kosten niedrig zu halten und gleichzeitig einen hohen Produkt- und Umweltschutz zu erreichen, ist allerdings noch einige Entwicklungsarbeit nötig, wie eine aktuelle Analyse zeigt (siehe Abb. 11.3). Während die meisten Materialien aufgrund der extrem hohen Produktschutzanforderungen für Pharmazeutika gar nicht erst infrage kommen, sind auch im Nahrungsmittelbereich häufig Kompromisse hinsichtlich Haltbarkeit zugunsten einer höheren Nachhaltigkeit notwendig. Hier bleibt für alle Parteien auch in Zukunft noch viel zu tun, um Verpackungsanforderungen, Kosteneffizienz und Umweltschutz optimal miteinander in Einklang zu bringen. Obwohl die Pharmaindustrie aufgrund der hohen Barriereanforderungen noch komplexeren Herausforderungen gegenübersteht, gibt es auch hier bereits Sekundärverpackungskonzepte, die sich als richtungsweisend herausstellen könnten. Bei bruchempfindlichen Produkten wie Spritzen, Vials oder Ampullen sowie medizintechnischen Applikatoren wie Insulin-Pens wurden bislang häufig unterschiedliche Verpackungsmaterialien verwendet, um eine produktschonende Handhabung zu gewährleisten. Als Alternativlösung bietet sich eine vollständig aus Karton bestehende Tray-Faltschachtel mitsamt gestaltbaren Inlays an. Dank Mono-Packstoff erübrigt sich der Einsatz von Kunststoff-Trays.

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Abb. 11.3  Bosch Sustainable Food Packaging Materials – Je nach Produkt und dessen Barriereanforderungen eignen sich in der Nahrungsmittelbranche unterschiedliche Verpackungsmaterialien. (Quelle: Eigene Darstellung)

Dadurch müssen beim Recycling keine unterschiedlichen Materialklassen getrennt werden, was wiederum zu einer besseren Sortierung und einem besseren Recyclingergebnis führt.

11.4 Energierückgewinnung im laufenden Prozess Der schonende Umgang mit Ressourcen ist ein weiterer Aspekt, wenn es um die Nachhaltigkeit in der Prozess- und Verpackungsindustrie geht. In der energieintensiven Pharmaindustrie sorgen etwa neuartige Energierückgewinnungskonzepte für signifikante Einsparungen. Im Sterilisationsprozess wird zum Beispiel Heiz- und Kühlenergie wiederverwendet, was zu Einsparungen von bis zu 40 % beim Heizen und 60 % beim Kühlen führen kann. Auch im Bereich der Reinstdampferzeugung und Destillation sind die neuesten Anlagengenerationen in der Lage, den Heizdampfverbrauch dank eines Vorwärmers (siehe Abb. 11.4) um rund 30 % zu senken. Bis zu 65 % Energie bei Heiß- und Kaltwasser sowie Dampf und Elektrizität lassen sich je nach Luftversorgungssystem durch den Einsatz modernster Isolatortechnologie in der Reinraumproduktion einsparen (siehe Abb. 11.5). Ähnliche Konzepte gibt es seit Neuestem auch in der Nahrungsmittelbranche. Durch Wärmerückgewinnung verbrauchen neue Systeme zum Beispiel in der Herstellung von Geleeprodukten beim Lösen der Masse bis zu 50 % weniger Energie. Neben einer Senkung der Gesamtbetriebskosten durch niedrigeren Energieverbrauch sorgt die Verringerung des Dampfdrucks um 0,3 bar beim Löseprozess für eine geringere Wärmebelastung des Produktes und trägt so zur Wahrung von Qualität und Geschmack bei.

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Abb. 11.4   Bosch Reinstdampferzeuger – Neueste Reinstdampferzeuger und Destillatoren können den Heizdampfverbrauch um rund 30 % senken. (Quelle: Eigene Darstellung)

11.5 Ressourcenverbrauch dank Industrie 4.0 stets im Blick Wie Hersteller auch bei bereits existierenden Maschinen und Linien Ressourcen einsparen können, zeigen neueste Software-Lösungen im Umfeld der Digitalisierung: Welche Maschinen konsumieren den meisten Strom? Zu welchem Zeitpunkt wird für welchen Prozessschritt die meiste Energie verbraucht? Durch die zunehmende Vernetzung der gesamten Produktion stehen immer mehr Daten zur Verfügung, die auch für Verbrauchsanalysen herangezogen werden können. Dabei liefern Sensoren beispielsweise Angaben über Energie- und Druckluftverbrauch und ermöglichen Analysen der Verbrauchswerte über einen bestimmten Zeitraum hinweg. Die Auswertung dieser oft sehr unterschiedlichen Daten lässt sich auf einer Plattform bündeln und analysieren und in Echtzeit auf dem Human Machine Interface (HMI) einer Maschine oder Linie visualisieren. So lassen sich Fluktuationen, Lastspitzen und Unregelmäßigkeiten identifizieren – und diesen gezielt entgegenwirken.

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Abb. 11.5  Bosch Isolator – Modernste Isolatoren in der Reinraumproduktion ermöglichen Energieeinsparungen von bis zu 65 % bei Heiß- und Kaltwasser sowie Dampf und Elektrizität. (Quelle: Eigene Darstellung)

In naher Zukunft wird dank Industrie 4.0 immer ausführlicheres Datenmaterial zur Verfügung stehen, das tiefer gehende Analysen von der Einzelmaschine bis hin zur gesamten Fabrik ermöglicht. Anhand von Predictive Analytics lassen sich dann Verbrauchs- und Fehlerquellen in der Produktion vorausschauend identifizieren – und damit einhergehend Optimierungspotenziale für eine effizientere und ressourcenschonendere Produktion ableiten.

11.6 Dreiklang aus Design, Material und Maschine Letztlich spielen bei der Wahl geeigneter Verpackungen und Prozesse immer mehrere Aspekte eine Rolle: Neben Kosteneffizienz geht es unter anderem um Barriereeigenschaften, Prozessierbarkeit, mechanische Anforderungen, Qualität und die Einhaltung von Regularien. Der Nachhaltigkeit wird dabei in Zukunft eine immer größere Bedeutung zukommen. Faktoren wie Recycling, Energie- und Ressourceneffizienz sind bereits jetzt bei der Entwicklung neuer Verpackungskonzepte und Anlagen ein

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C. Weiß

s­elbstverständlicher Teil des Lastenheftes. Führende Anbieter von Prozess- und Verpackungstechnik entwickeln bereits in zahlreichen Pilotprojekten gemeinsam mit ihren Kunden Lösungen, die im Dreiklang aus Design, Material und Maschine eine holistische Gesamtlösung zum Ziel haben. Das lässt sich am besten durch die frühe Einbindung von Materialherstellern, Markeninhabern und deren Kunden umsetzen. Im Rahmen des sogenannten UX-Ansatzes (User Experience) wird Feedback über Erwartungen und Bedürfnisse eingeholt, das unmittelbar in die weitere Entwicklung einfließt. Neben den individuellen Kundenbedürfnissen müssen stets auch die regionalen Spezifika wie gesetzliche Anforderungen, Verbrauchermentalität und Automatisierungsgrad der Produktion betrachtet werden. Nur so lassen sich Lösungen entwickeln, die es auch den aufstrebenden Märkten ermöglichen, in den eigenen Regionen ökologische Produktions-, Verpackungs- und Entsorgungskonzepte zu etablieren. Das kann nur gelingen, wenn Produzenten und Materialentwickler, Verpackungshersteller und Maschinenbauer sowie Logistiker, Entsorgungs- und Recyclingunternehmen gemeinsam an einem Strang ziehen, damit die gesamte Verpackungsindustrie einen Beitrag zu mehr Nachhaltigkeit leistet.

Dr.-Ing. Carsten Weiß  Leiter der Entwicklung bei Bosch Packaging Technology, plädiert dafür, dass sich produzierende Unternehmen, Material- und Verpackungshersteller sowie Maschinenbauer und Entsorger gemeinsam für nachhaltigere Lösungen einsetzen.

Integration von Nachhaltigkeitsaspekten bei der Lieferantenauswahl am Beispiel eines deutschen Industrieunternehmens

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Rubén Medina Serrano, Wanja Wellbrock, María Reyes González und José Luis Gascó

Zusammenfassung

Die Entscheidung über die Lieferantenauswahl stellt ein kritisches Dilemma für viele Unternehmen dar. Sie ist ein grundlegender strategischer Unternehmensprozess und spielt eine wichtige Rolle im Supply Chain Management. In den letzten zehn Jahren hat sich die akademische Forschung zur Nachhaltigkeit in der Lieferkette rasant entwickelt, sodass es bisher kaum Möglichkeiten für die Forschungsgemeinschaft gab, eine qualifizierte Bewertung des nachhaltigen Lieferantenauswahlprozesses durchzuführen. Dieser Beitrag untersucht das Themenfeld nachhaltige Lieferantenauswahl in der Supply Chain anhand einer Fallstudie eines deutschen Industrieunternehmens. Das Ergebnis ist die Entwicklung eines nachhaltigen Lieferantenauswahlrahmens, der Managern hilft, die Auswahlentscheidungen für einzelne Lieferanten zu bewerten. Der Beitrag folgt der Best-in-Class-Herangehensweise, um alle geltenden Umweltschutzbestimmungen und -gesetze in allen Bereichen und Prozessen bei der Lieferantenauswahl zu berücksichtigen.

W. Wellbrock () E-Mail: [email protected] M. R. González E-Mail: [email protected] J. L. Gascó E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 W. Wellbrock und D. Ludin (Hrsg.), Nachhaltiges Beschaffungsmanagement, https://doi.org/10.1007/978-3-658-25188-8_12

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12.1 Einführung Europäische und US-amerikanische Hersteller geben heute große Teile ihrer Einnahmen für den Kauf von Waren und Dienstleistungen aus. Dies erhöht die Relevanz von Outsourcing-Entscheidungen und verknüpft ihre Entscheidungsergebnisse mit der Unternehmensleistung. Laut den im Juni 2017 von Eurostat extrahierten Daten ist die Ressourcenproduktivität der EU im Zeitraum 2000 bis 2016 um 41 % gestiegen. Dies könnte auch das Ergebnis der Auslagerung materialintensiver Produktion in andere Teile der Welt sein. Ein ressourcenschonendes Europa ist eine der Leitinitiativen der Strategie Europa 2020: Es unterstützt den Übergang zu einer ressourceneffizienten Wirtschaft, um nachhaltiges Wachstum zu erreichen (Eurostat 2017, online). Zur Umsetzung einer nachhaltigen Lieferkettenstrategie ist die Rolle der Beschaffungsmanager von entscheidender Bedeutung, um eine nachhaltige Politik im Beschaffungsprozess ihrer Unternehmen einzuführen und einen Rahmen und Prozess für ihre Operationalisierung zu entwickeln. Das Dilemma der Manager, die während der Lieferantenauswahlphase mit dem Kauf einer bestimmten Dienstleistung oder eines Teils bei unterschiedlichen Lieferanten konfrontiert sind, wurde in der Vergangenheit vielfach von Forschern untersucht. Oftmals wurde hierbei allerdings versäumt, die in der 2010 veröffentlichten ISO 26000 zusammengefassten Richtlinien zur sozialen Verantwortung zu berücksichtigen. Der internationale Standard ISO 26000 enthält Leitlinien zum Verständnis, zur Umsetzung und kontinuierlichen Verbesserung der gesellschaftlichen Verantwortung von Organisationen, die als Auswirkungen der Handlungen der Unternehmen auf die Gesellschaft und die Umwelt verstanden werden. Warum lohnt sich nachhaltige Beschaffung für Unternehmen? Eine nachhaltige Beschaffung stärkt die Reputation des Unternehmens, senkt Kosten und wird von den Kunden honoriert. Im Wesentlichen wollen Unternehmen: 1) Risiken managen (Markenschutz, Lieferkettenstörungen, Bußgelder und Rechtsstreitigkeiten), 2) Kosten reduzieren (verbesserte Gesamtbetriebskosten, reduzierte Überspezifikationen und Umstieg auf Alternativenergien) und 3) Einnahmen steigen (Produkt- bzw. Dienstleistungsdifferenzierung, Zugang zu neuen Märkten, Einnahmen aus Recyclingprojekten) ­(EcoVadis 2018, online). Während sich der traditionelle Lieferantenauswahlprozess auf die Kriterien Preis, Qualität, Flexibilität und Lieferperformance konzentriert (Öztürk und Özçelik 2014), fokussiert sich die nachhaltigen Lieferantenauswahl auf die gesellschaftliche Verantwortung von Unternehmen (Corporate Social Responsibility). Im Mittelpunkt steht die nachhaltige Entwicklung der Supply Chain in Kombination mit der Wahrnehmung sozialer und ökologischer Verantwortung im Sinne einer ganzheitlichen Erhöhung der Ressourceneffizienz. Im Rahmen der vorliegenden Studie werden Corporate-Social-Responsibility-­ Kriterien anhand unterschiedlicher Nachhaltigkeits-Cluster in die Bewertung externer Lieferanten integriert. Hierdurch werden die Anforderungen der gesellschaftlichen Verantwortung während des gesamten Supply-Chain-Management-Prozesses erfüllt. Es wird ein nachhaltiger externer Lieferantenauswahlrahmen entwickelt, der das

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Triple-­Bottom-Line-Konzept1 erweitert und einen Multi-Kriterien-Ansatz darstellt. Der Aufbau des Artikels sieht folgende Abschnitte vor: Erstens wird anhand einer Literaturanalyse der erwähnte Lieferantenauswahlrahmen mit einem klaren Fokus auf Nachhaltigkeit entwickelt, bevor anschließend der grundlegende Auswahlprozess externer Lieferanten analysiert wird. Hierauf aufbauend wird die Fallstudie des deutschen Industrieunternehmens vorgestellt und sowohl die Anwendung des Lieferantenauswahlrahmens als auch des Lieferantenauswahlprozesses dort untersucht und spezifiziert. Abschließend wird die Berücksichtigung der Nachhaltigkeits-Kriterien bei der Auswahl von Lieferanten anhand einer eigens entwickelten Entscheidungsmatrix vorgestellt.

12.2 Entwicklung eines nachhaltigen Lieferantenauswahlrahmens Aufgrund der gestiegenen Relevanz der nachhaltigen Beschaffung im letzten Jahrzehnt sind die von Chen et al. (2006) identifizierten fünf Kriterien der Lieferantenauswahl (Rentabilität des Lieferanten, technologische Kapazität, Konfliktlösung, enge Beziehung und Übereinstimmungsqualität) zu ergänzen und in folgende sechs Punkte zusammenzufassen: 1) Strategischer Wert, 2) Ressourcenposition, 3) Leistung, 4) Risiken der Produktlieferkette, 5) Qualitätsmanagement (Übereinstimmungsqualität) und 6) Corporate Social Responsibility (CSR). Alle Kategorien sind in mehrere Unterpunkte gegliedert und stellen die Basis für die Lieferantenbewertung dar. Unter der Kategorie CSR sind exemplarisch folgende Nachhaltigkeitskriterien zusammengefasst: (TOP1) Verhaltenskodex für Lieferanten, (TOP2) ISO 14001 – Umweltmanagementsystem, (TOP3) Reach/ Rohs/Konfliktmineralien-Berichte wie CMRT-Berichte (Conflict Minerals Reporting Template), (TOP4) Arbeits- und Gesundheitsschutz ISO 45001 und (TOP5) ISO 50001 – Energiemanagement. Die fünf Kategorien sind im Abschn. 12.4.3, Unterpunkt „Kategorien der nachhaltigen Lieferantenauswahl“, detailliert beschrieben. Die Auslöser und die möglichen Ereignisse aus der Lieferantenauswahl sind im Lieferantenauswahlrahmen ebenfalls integriert. Auslöser können beispielsweise folgende Punkte sein: 1) Notwendigkeit der Einführung neuer Produkte oder Dienstleistungen, 2) Notwendigkeit einer Kosten- oder Serviceverbesserung, 3) zusätzlicher Bedarf an Nachfrageflexibilität, 4) Notwendigkeit eines Wettbewerbsvorteils, 5) Bedarf an Ressourcen oder Fähigkeiten in der Organisation, 6) Notwendigkeit der Nähe zu Märkten oder 7) Notwendigkeit zur Verbesserung der Lieferperformance oder des Qualitätsniveaus. Die Definition der genannten für die Lieferantenbewertung entscheidenden Hauptkategorien sind in Abb. 12.1 genauer dargestellt.

1Der

Triple-Bottom-Line-Ansatz ist eine Methode zur Messung der nachhaltigen Leistungsfähigkeit, der von Elkington entwickelt und von Jackson et al. weiterentwickelt wurde (Elkington 1994; Jackson et al. 2011).

Abb. 12.1  Nachhaltiger Lieferantenauswahlrahmen. (Quelle: Eigene Darstellung)

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12.3 Grundmodell des externen Lieferantenauswahlprozesses Grundlegend kann der Lieferantenauswahlprozess in vier Stufen unterteilt werden: 1) Planung, 2) Datensammlung und -analyse, 3) Leistungsbewertung und 4) Verbesserung (siehe Abb. 12.2). Der Projektleiter, der für die Auswahlentscheidung bzgl. des externen Lieferanten zuständig ist, plant, koordiniert und leitet unterschiedliche Aktivitäten zur Sicherstellung der Erfüllung des zugrunde liegenden Meilensteinplans. Das Projekt ist in einem Projektblatt zu dokumentieren, das folgenden Abschnitte enthält: 1) Allgemeine Informationen, 2) Hauptziele, 3) Anforderungskriterien, 4) paarweise Vergleichsbewertung, und 5) Entscheidungsmatrixblatt. Die einzelnen Abschnitte, wie beispielsweise das Entscheidungsmatrixblatt, werden in Abschn. 12.4.3, „Anwendung des nachhaltigen Lieferantenauswahlrahmens in der Unternehmenspraxis“, detailliert beschrieben. In der Planungsphase werden zunächst die Produkte oder Baugruppen für die Analyse identifiziert und die Ziele des Auswahlprozesses sowie die erforderlichen Ressourcen (einschließlich der Auswahl eines multidisziplinären Teams) in Übereinstimmung mit der Unternehmensstrategie festgelegt. Ergänzend werden Risiken und Chancen diskutiert und gegeneinander abgewogen. In Stufe zwei führt das interdisziplinäre Team die Datensammlung und -analyse durch und sammelt hierfür ­entsprechende

Abb. 12.2  Lieferantenauswahlstufen. (Quelle: Eigene Darstellung)

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Aufzeichnungen und Beweise. Hier werden Workshops durchgeführt, um die Gewichtung, Beurteilung und Kostenkalkulation lieferantenbezogen zu ermitteln. Um anschließend in Stufe drei eine ganzheitliche Leistungsbewertung vornehmen zu können, werden vergangene Bewertungen der Lieferanten integriert und anhand der gesammelten Daten eine SWOT-Analyse der Lieferanten durchgeführt. Ergebnis der vierten Stufe ist die Bereitstellung des Projekts und die Erstellung eines Maßnahmenplans, gewichtet nach der Reihenfolge der potenziellen Wirksamkeit der einzelnen Maßnahmen. Neben der Ableitung von Verbesserungsmaßnahmen besteht der Sinn des Auswahlprozesses auch in der Festlegung eines klaren Zeitrahmens und eindeutiger Verantwortlichkeiten für die Umsetzung.

12.4 Überprüfung der theoretischen Modelle anhand der Fallstudie eines deutschen Industrieunternehmens Anhand einer unternehmensinternen Fallstudie – ergänzt um weitere Interviews mit einzelnen Industrievertretern – wird die praktische Anwendung der beiden zuvor vorgestellten Modelle analysiert. Die Datenerhebung erfolgte durch vielfältige Befragungen im Unternehmen und dessen externen Supply-Chain-Partnern sowie durch die Analyse von existierenden Dokumenten und einer entsprechenden Literaturanalyse.

12.4.1 Fallstudie Die unternehmensinterne Fallstudie betrachtet einen führenden Hersteller von Elektronikkomponenten, die auf NEC-, CEC-, ATEX-, GOST-, Inmetro- und IECEx-Standards zertifiziert sind. Das Unternehmen ist ein in Deutschland ansässiger Global Player mit 1788 Mitarbeitern und 286,6 Mio. € Umsatz im Jahr 2016. Das Hauptkriterium für die Auswahl dieses Unternehmens war, dass dort vor kurzem Entscheidungen über die nachhaltige Lieferantenauswahl für bestimmte Produkte und Dienstleistungen in unterschiedlichen Branchen getroffen wurden. Die Fallstudie integriert unterschiedliche Lieferantenauswahlentscheidungen wie beispielsweise 1) Kauf der Produkte oder Dienstleistungen von einem externen Anbieter (Einzelquelle), 2) Investitionen bei einem externen Anbieter, um Produkte zukünftig kaufen zu k­önnen, 3) Auswahl mehrerer paralleler externer Anbieter, um Single-Sourcing-Risiken zu minimieren (­Multiple Sourcing), 4) Bildung einer strategischen Allianz und 5) Neugestaltung oder Abkündigung von Produkten. Die Fallstudie wurde durchgeführt, um den Entscheidungsprozess des Unternehmens zu dokumentieren. Die Fallstudie wurde unter Verwendung von mehreren Dokumenten, beispielsweise Geheimhaltungsverträge, Lieferverträge, Projektpläne, Vertraulichkeitsvereinbarungen, Lieferantenselbstauskünfte, Lieferantenauswahlbewertungen, Qualitätssicherungsvereinbarungen, Lieferantenauditberichte und Abschlussberichte, analysiert.

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Der Entscheidungsprozess für die Lieferantenauswahl ist in der Fallstudie aus strategischen Gründen auf zwei Lieferanten beschränkt. Zum einen wird ein deutscher Lieferant betrachtet, der ein Komplettanbieter im EMS-Markt (Electronic Manufacturing Services) mit globalen Kunden in der Fertigungsindustrie ist. Kernkompetenzen sind individuell angepassten Lösungen für das Produktlebenszyklus-Management von elektronischen Anwendungen. Der deutsche Lieferant gehört zu einem niederländischen Konzern, der im Reed Electronics Research Bericht als einer der führenden EMS-Dienstleister in Europa 2018 aufgelistet ist und 2017 konzernweit 439 Mio. € erwirtschaftete. Zum anderen wurde ein Lieferant in der Slowakei ausgesucht, der im Gegensatz zum niederländischen Konzern im Jahr 2017 ca. elf Mio. € Umsatz erwirtschaftete. Der Einfluss des zu betrachtenden Industrieunternehmens beim slowakischen Lieferanten ist wesentlich höher als beim deutschen Lieferanten.

12.4.2 Nachhaltiger Lieferantenauswahlprozess im Rahmen der Fallstudie Die Lieferantenauswahl ist der Prozess, bei dem der Käufer Lieferanten identifiziert, bewertet und Verträge abschließt. Aufbauend auf dem grundlegenden Lieferantenauswahlprozess aus Kap. 3 wird der Prozess nun anhand der Fallstudie validiert und weiter spezifiziert (siehe Abb. 12.3). Die nachhaltige Beschaffung beginnt mit der Identifikation und Auswahl potenzieller Lieferanten. Im Anschluss an die Lieferantenidentifikation fordert das Unternehmen eine Selbstauskunft von den Lieferanten ein und nimmt eine Bewertung dieser vor. Die folgenden festgelegten Anforderungen an die Lieferanten sind unternehmensintern abgestimmt und werden durch die Lieferantenselbstauskunft bei jedem Lieferanten angefragt und bewertet: 1. Hat der Lieferant ein zertifiziertes Umwelt-/ Arbeits- und Gesundheitsschutz-/ oder Energiemanagementsystem gemäß den Standards in Tab. 12.1? 2. Wird den Grundsätzen der Firma im Sinne des Verhaltenskodex für Lieferanten zugestimmt? ja Nein 3. Wird den Grundsätzen der Firma im Sinne der Qualitätssicherungsvereinbarung (QSV) für Lieferanten zugestimmt? ja Nein 4. Ist die Kreditwürdigkeit des Lieferanten bestätigt? ja Nein

Abb. 12.3  Nachhaltiger Lieferantenauswahlprozess. (Quelle: Eigene Darstellung)

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Tab. 12.1  Zertifizierungsmatrix. (Quelle: Eigene Darstellung) Norm

Ja

Nein

Geplant

Umgesetzt jedoch nicht zertifiziert

ISO 9001 ISO 14001 EMAS ISO 50001 OHSAS 18001 ISO 45001

Die Klassifizierung der Lieferanten erfolgt anschließend gemäß folgender Kategorien: • Erfüllt (Alle Fragen mit ja beantwortet) • Teilweise erfüllt (Eine Frage mit nein beantwortet; Kreditwürdigkeit, QSV und ­Einhaltung der Verhaltensrichtlinie sind Pflichtkriterien) • Nicht erfüllt (Zwei oder mehr Fragen mit nein beantwortet) An dieser Stelle wird nochmals im Detail auf den Verhaltenskodex für Lieferanten eingegangen, um die Bedeutung nachhaltiger Aspekte hervorzuheben. Das betrachtete Unternehmen hat für sich selbst strenge ethische Grundsätze aufgestellt, die es bei ihren Geschäften leiten. Im Gegenzug wird erwartet, dass auch die Lieferanten nach denselben ethischen Grundsätzen arbeiten. Deshalb hat das Industrieunternehmen einen Verhaltenskodex erarbeitet, der die Mindestanforderungen für eine mögliche Geschäftsbeziehung definiert und wie zuvor besprochen Bestandteil der Lieferantenselbstauskunft ist. Mittels einer Unterschrift unter dem Verhaltenskodex stimmt der Lieferant folgenden Punkten zu: Menschenrechte und Sozialstandards • Die Gesetze der jeweils anwendbaren Rechtsordnung(en) in Bezug auf Menschenrechte und Sozialstandards sind einzuhalten. • Keine Diskriminierung, sexuelle oder andere persönliche Belästigungen oder ein Anleiten zu einem solchen Verhalten sind zu dulden. • Die persönliche Würde, die Privatsphäre und die Persönlichkeitsrechte jedes Einzelnen sind zu achten. • Die Diversität im Unternehmen ist zu fördern. • Die Vereinigungsfreiheit der Mitarbeiter ist anzuerkennen. • Keine Toleranz gegenüber Kinderarbeit und Zwangsarbeit ist zuzulassen. • Für angemessene Entlohnung ist zu sorgen und der gesetzlich festgelegte nationale Mindestlohn ist zu gewährleisten. • Die im jeweiligen Staat gesetzlich festgelegte maximale Arbeitszeit ist einzuhalten.

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Sicherheit, Gesundheit und Umweltschutz • Die Gesetze der jeweils anwendbaren Rechtsordnung(en) in Bezug auf Sicherheit, Gesundheit und Umwelt sind einzuhalten. • Auf den Schutz der Umwelt und die Schonung ihrer Ressourcen ist zu achten. • Auf die Sicherheit der Mitarbeiter ist bestmöglich zu achten und die Bemühungen sind stets darauf auszurichten, diese permanent zu verbessern, beispielsweise durch Schulungen und Trainings. Korruption und Bestechung • Die Gesetze der jeweils anwendbaren Rechtsordnung(en) in Bezug auf Korruption und Bestechung sind einzuhalten, das Wettbewerbs- und Kartellgesetz ist stets zu a­ chten. • Auf einen fairen Wettbewerb und eine faire Vertragsgestaltung gegenüber seinen Geschäftspartnern ist zu achten. • Keine Form der Korruption oder Bestechung ist zu tolerieren. Darin sind auch jegliche gesetzeswidrigen Zahlungsangebote oder andere Zuwendungen und Einflussnahmen in die Entscheidungsfindung integriert. Lieferkette • Die Einhaltung der Inhalte des Verhaltenskodex ist auch bei vorgelagerten Sublieferanten bestmöglich zu fördern. Konfliktmineralien • Angemessene Maßnahmen sind zu treffen, um die Nutzung von Rohstoffen in den Produkten zu vermeiden, welche direkt oder indirekt bewaffnete Gruppen, die Menschenrechte verletzen, finanzieren. Der Nachweis, dass der Lieferant die geforderten Sozial- und Umweltstandards einhält, kann durch bestimmte Gütezeichen und/oder Zertifikate erfolgen. Sobald die erhaltenen Informationen die Mindestanforderungen für die Auswahl eines Lieferanten erfüllen oder teilweise erfüllen, wird eine Geheimhaltungsvereinbarung für Lieferanten angefordert. Nach Erhalt des Dokuments erstellt das Industrieunternehmen eine Ausschreibung bzgl. der Teileanfrage für die Lieferanten, auf die diese mit einem Angebot reagieren können. Bestandteil des Angebots sind Vertragsbedingungen wie Preis, Vorlaufzeit und Qualität. Nach Eingang der Angebote und anschließender Vereinbarung der Vertragsbedingungen mit den ausgewählten Lieferanten führt das Unternehmen ein erstes Lieferantenaudit durch. Hierbei werden die Mindestanforderungen des Verhaltenskodex für die Lieferanten sowie die Vergabeunterlagen vor Ort geprüft. ­Innerhalb dieser beiden Dokumente sind weitere zusätzliche Anforderungen an einen

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nachhaltigen Beschaffungsprozess formuliert, die grundsätzlich die Einhaltung von sozialen und umweltbezogenen Aspekten umfassen. Im Rahmen des ersten Besuchs wird zudem eine Qualitätssicherungsvereinbarung vorgestellt und mit dem Lieferanten besprochen. Nach der Bewertung wird ein Auditbericht erstellt und Korrekturmaßnahmen abgeleitet. Abschließend werden, wie im vorherigen Schritt erläutert, die Ergebnisse mit der entwickelten Entscheidungsmatrix ausgewertet und der Lieferantenstatus festgelegt. Der Lieferant wird anschließend in die Lieferantendatenbank aufgenommen, sobald er qualifiziert und freigegeben ist. Ein Bericht mit der Bewertung wird erstellt und der Lieferant wird informiert. Das Unternehmen bestimmt, welcher Lieferant oder welche Lieferanten einen Vertrag erhalten und überwacht den Lieferanten während der Vertragslaufzeit, um zukünftige Lieferantenauswahliterationen zu unterstützen. Die entwickelte Entscheidungsmatrix ist im nächsten Abschnitt unter Punkt 7 „Aufbau der Supermatrix“ detailliert beschrieben.

12.4.3 Anwendung des nachhaltigen Lieferantenauswahlrahmens in der Unternehmenspraxis Dieser Abschnitt zeigt, wie der nachhaltige Lieferantenauswahlrahmen und seine Inhalte aus Kap. 3 mit den Überlegungen der diskutierten Fallstudie im Unternehmen im Einklang stehen. Die Frage ist, wie dies in der Realität im Tagesgeschäft umgesetzt werden kann. Das entwickelte Modell für die praktische Operationalisierung orientiert sich an der ANP (Analytic Network Process)-Methodik2, die von Saaty entwickelt und anschließenden von Gencer und Gürpinar weiterentwickelt wurde (Saaty 1996; Gencer und Gürpinar 2007). Das Modell ist in acht Schritte unterteilt: 1) Analyse des Auslösers (Trigger), 2) Bestimmung der Gewichtung von Entscheidungsträgern, 3) Bestimmung des Ziels und der Kriterien und Teilkriterien aus dem Rahmenwerk, 4) Bestimmung möglicher externer Lieferanten, 5) Aufbau des externen Lieferantenauswahlmodells, 6) Erstellung einer paarweisen Vergleichsmatrix, 7) Aufbau der Supermatrix für die finale Bewertung und 8) Entscheidung anhand der Bewertung über die bevorzugten Lieferanten. Die einzelnen Schritte werden folgend detailliert beschrieben: • Schritt 1: Ermittlung der Auslöser für den neuen Lieferantenauswahlprozess anhand folgender Kategorien: 1) Notwendigkeit der Einführung neuer Produkte oder Dienstleistungen, 2) Notwendigkeit einer Kosten- oder Serviceverbesserung, 3) zusätzlicher Bedarf an Nachfrageflexibilität, 4) Notwendigkeit eines Wettbewerbsvorteils, 5) Bedarf an Ressourcen oder Fähigkeiten in der Organisation, 6) Notwendigkeit der Nähe zu Märkten oder 7) Notwendigkeit zur Verbesserung der Lieferperformance oder des Qualitätsniveaus.

2Die ANP-Methodik

ist eine Technik zur Lösung von mehrkriteriellen Entscheidungsproblemen, welche die Erstellung von Entscheidungsnetzen ermöglicht (Saaty 1996).

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• Schritt 2: Bestimmung der wichtigsten Entscheidungsträger für die finale Auswahl der Lieferanten inklusive entsprechender Gewichtung. Im Rahmen der Fallstudie werden insgesamt drei Ebenen der Entscheidungsträger berücksichtigt. Die erste Ebene bilden Managern und der strategische Einkauf, die zweite Ebene Entwickler, die Arbeitsvorbereitung und der Fachbereich und die dritte Ebene das Qualitätsmanagement und die Qualitätssicherung. Die Gewichtung liegt gemäß aktueller Forschungsergebnisse bei 40,6 % für Ebene eins, 23,8 % für Ebene zwei und 35,6 % für Ebene drei, sodass insgesamt eine Gewichtung von 100 % sichergestellt ist (Boran et al. 2009; Chaharsooghi und Ashrafi 2014). Pro Ebene sind mindestens drei Entscheidungsträger in den Entscheidungsprozess zu integrieren. Lieferantenauswahlentscheidungen werden somit nicht ausschließlich durch den Einkauf oder eine Fachabteilung getroffen, sondern durch unternehmensweite cross-funktionale Teams. • Schritt 3: Festlegung des Ziels für die Lieferantenauswahlbewertung und Bestimmung und Anpassung der zu gewichtenden Teilkriterien in einer paarweisen Vergleichsmatrix (siehe Abb. 12.4). Die Teilkriterien für die Bewertung sind im

Abb. 12.4  Paarweise Vergleichsmatrix. (Quelle: Eigene Darstellung)

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e­ntwickelten Lieferantenauswahlrahmen festgelegt und berücksichtigen unter anderem die Nachhaltigkeitskriterien aus der ISO 26000. Hierzu wurde das Hauptcluster Corporate Social Responsibility aufgebaut, in dem Umweltattribute wie Reach/Rohs/ Konfliktmineralien-Berichte, ISO 14001 Zertifikat effektives Umweltmanagementsystem, ISO 50001 Zertifikat effektives Energiemanagementsystem, soziale Attribute wie OHSAS 18001/ISO 45001 Arbeits- und Gesundheitsschutzmanagementsystem und Verhaltenskodex für Lieferanten gruppiert sind. Die internationale Norm ISO 14001 legt Anforderungen an ein Umweltmanagementsystem fest. Mit dieser kann eine Organisation ihre Umweltleistung verbessern, rechtliche und sonstige Verpflichtungen verwalten und die gesteckten Umweltziele erreichen. Ziel eines Energiemanagementsystems nach ISO 50001 ist die kontinuierliche Verbesserung der energiebezogenen Leistung eines Unternehmens. Arbeitsschutzbewertungen, Sozialberichte, Gesundheits- und Sicherheitspläne und Unfallvorfallrate sind in einem ISO 45001 zertifizierten Arbeits- und Gesundheitsschutzmanagementsystem integriert. Ein Code of Conduct beziehungsweise Verhaltenskodex ist Teil der Corporate Social Responsibility eines Unternehmens. Der Code of Conduct soll den Beschäftigten Handlungsorientierung geben bzw. unerwünschte Handlungen vermeiden. Erwartet wird ein verantwortliches, ethisch korrektes und integres Verhalten von Beschäftigten sowie von Dritten, beispielsweise Lieferanten, damit der Unternehmensruf nicht beschädigt wird. • Schritt 4: Bestimmen Sie mögliche externe Lieferanten für eine spezifische Vergabe. Mögliche externe Lieferanten können entweder neue oder bestehende Anbieter sein. Zur Einholung notwendiger Nachweise für die anschließende Lieferantenbewertung werden unter anderem Lieferantenselbstauskünfte, Lieferantenbefragungen und Bonitätsauskünfte eingeholt sowie Lieferantenaudits durchgeführt. • Schritt 5: Das Modell zum Lieferantenauswahlverfahren wurde zusammen mit den Entscheidungsträgern entwickelt und intern im Industrieunternehmen veröffentlicht. • Schritt 6: Anhand einer paarweisen Vergleichsmatrix wird jedes Clusterkriterium hinsichtlich seines Beitrags zum Ziel paarweise verglichen (Thurstone 1927). Entscheidungsträger werden gebeten, auf eine Reihe paarweiser Vergleiche zu antworten, bei denen stets zwei Kriterien bzgl. ihrer Wichtigkeit verglichen werden. Die relativen Wichtigkeitswerte werden mit einer Skala von null bis zwei bestimmt, wobei eine Bewertung von null eine geringere Wichtigkeit als ein anderes Kriterium bedeutet, eine Bewertung von eins gleiche Wichtigkeit signalisiert und eine Bewertung von zwei die höhere Wichtigkeit eines Elements im Vergleich widerspiegelt. Ein Beispiel aus Abb. 12.4 ist das Cluster „Strategischer Wert“, das im Vergleich zum Cluster „Leistung“ mit 1,2 bewertet ist. Dies bedeutet, dass in diesem Fall der Strategische Wert gering höher bewertet wird als die Leistung. Die Gewichte jedes Kriteriums werden anschließend bestimmt und ebenfalls in den paarweisen Vergleich übernommen. Beispielsweise wird der Gewichtungsfaktor des Kriteriums CSR wie folgt berechnet: Gewichtungsfaktor = Ganzzahl ((Summe der Mittelwerte der Reihe des Kriteriums CSR (1; 0,4; 2; 0,4; 1)/Maximalwert der Spalte „Summe“)*10); ergibt 6 = ((4,8/8)*10).

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• Schritt 7: Aufbau der Supermatrix nach der TOPSIS-Methode3 (Technique for Order Preference by Similarity to Ideal Solution). In der Supermatrix wird die Lieferantenbewertung durch die Entscheidungsträger mit einer Skala von eins bis fünf vorgenommen, wobei eine Bewertung von eins bedeutet, dass der Zustand die Anforderungen nicht erfüllt, eine Bewertung von zwei bedeutet, dass die Anforderungen nur teilweise erfüllt sind, eine Punktzahl von drei zeigt an, dass die Anforderungen nahezu vollständig erfüllt sind, ein Wert von vier bedeutet, dass die Anforderungen vollständig erfüllt sind, und ein Wert von fünf gibt an, dass der Zustand vorbildlich ist (siehe Abb. 12.5). Beispielsweise werden beim Kriterium „Strategischer Wert“ die Lieferanten A und B mit 4,1 bzw. 4,8 Punkten bewertet. Die Gewichtung jedes Kriteriums wird aus der paarweisen Vergleichsmatrix übernommen und in die Supermatrix eingefügt. Für das Kriterium „Strategischer Wert“ liegt der Gewichtungsfaktor bei acht. Die Messergebnisse der Berechnung sind abgerundet, somit erhält Lieferant A bei der Kategorie „Strategischer Wert“ eine Punktzahl von 4,1, was nach Berücksichtigung des Gewichtungsfaktors einen Wert von gerundet 33 Punkten ergibt und final zu einem Gesamterfüllungsgrad von 65 % führt. • Schritt 8: Entscheidung über die bevorzugten Lieferanten anhand der Bewertung. Für die Bewertung der Ergebnisse werden fünf Klassifizierungsklassen gemäß des Gesamterfüllungsgrades festgelegt: – (1) 100  %–80  %: Hohes Potenzial (bewährt und bevorzugt; fortfahren ist ­empfohlen) – (2) 80 %–60 %: Mittleres Potenzial (bewährt; fortfahren ist empfohlen) – (3) 60 %–40 %: Geringes Potenzial (geringes Risiko) – (4) 40 %–20 %: Hohes Risiko (Vorsicht, suche nach Alternativen) – (5) 20 %–0 %: Geht nicht voran (Suche nach Alternativen) Folgend werden die einzelnen Kategorien des Lieferantenauswahlrahmens anhand der Fallstudie detailliert vorgestellt. Es handelt sich um ein hochtechnologisches Produktionsunternehmen, das einen geeigneten Lieferanten für den Kauf von Schlüsselkomponenten neuer Produkte sucht. Im Fokus steht die Herstellung von innovativen Interface- und Systemlösungen, die die Leiterplattenbestückung, die Lackierung und die Durchführung der jeweiligen Funktions- und In-Circuit-Tests beinhalten. Die Forschungs- und Entwicklungsaktivitäten der elektronischen Geräte werden intern durchgeführt. Diese Produktfamilie stellt eine neue Produktserie innerhalb der Geschäftsbereichsautomatisierung dar.

3TOPSIS

ist eine Multikriterien-Entscheidungsanalyse-Methode, die ursprünglich von Hwang und Yoon entwickelt und von Yoon und Hwang et al. weiterentwickelt wurde (Hwang und Yoon 1981; Yoon 1987; Hwang et al. 1993).

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Abb. 12.5  Anwendung der Entscheidungsmatrix. (Quelle: Eigene Darstellung)

Auslöser Aus der Analyse des Falles wird deutlich, dass der Hauptauslöser für die Lieferantenauswahl die Einführung neuer Produkte und die Notwendigkeit ist, das Projekt in der erforderlichen Zeit zu bearbeiten. Die derzeit hohe Nachfrage nach elektronischen Komponenten auf dem globalen Markt, die Allokation und die Zuteilung von Teilen durch Zulieferer macht es schwierig, Anbieter von elektronischen Fertigungsdiensten (EMS) zu finden, die über verfügbare Fähigkeiten und genug Fachwissen verfügen, um diese Bestellung anzunehmen. Aus diesem Grund wurde ein multidisziplinäres Team zur Durchführung der Lieferantenauswahlanalyse zusammengestellt. Kategorien der nachhaltigen Lieferantenauswahl Ziel des Unternehmens war es, die Auswahl eines Lieferanten mit einer hohen Kapazität, hoher Rentabilität, einem hohen Corporate-Social-Responsibility-Wert, einem geringen Opportunitätspotenzial, guten Leistungsergebnissen und zahlreichen Beweisen sowie ISO-Zertifikaten für die Zertifizierungsstellen sicherzustellen. Entscheidende Kategorien für die Sicherstellung dieser Ziele sind:

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Strategischer Wert. Die genannten Produkte aus der Fallstudie haben einen relativ hohen strategischen Wert und stellen aufgrund ihrer technischen Differenzierung ggü. Wettbewerbern einen klaren Wettbewerbsvorteil dar. Ressourcenposition. Während der Mangel an verfügbaren Vertragsherstellern mit fortgeschrittener Technologie und Fachkenntnissen auf dem Inlandsmarkt derzeit ein Problem darstellt, identifizierte das Unternehmen einen potenziellen Lieferanten in der Slowakei mit verfügbaren Ressourcen, um das Projekt innerhalb der für die Firma erwarteten Zeit abzuwickeln. Dieses Kriterium hatte somit eine große Bedeutung bei der Lieferantenauswahl. Die Möglichkeit, das neue Produkt pünktlich an die eigenen Kunden zu liefern, ist ein klarer Vorteil für das Unternehmen gegenüber seinen Wettbewerbern. Spezielle Testadapter und Werkzeuge sind erforderlich, um die In-Circuit- und Funktionstests beim Lieferant durchzuführen. Um eine fundierte Lieferantenbewertung durchführen zu können, wurde jeweils im Februar und März 2018 in Deutschland und der Slowakei ein Lieferantenaudit vor Ort bei beiden Lieferanten durchgeführt. Aufgrund spezieller Zertifizierungen und technischer Anforderungen der Teile war ein Support-Team erforderlich. Leistung. Neben Kriterien der Kostenreduzierung stellt vor allen eine hohe Lieferleistung ein grundlegendes Kriterium für die Bewertung dar. Während die Bewertung von Technologie und Fertigungsprozess beim in Deutschland ansässigen Lieferanten höher ist, ist seine derzeit geringe Ressourcenposition/Kapazität aufgrund der hohen Nachfrage auf dem Markt für den Projekterfolg als kritisch anzusehen. Das Nachhaltigkeitslevel des deutschen Lieferanten ist höher als das des slowakischen Lieferanten, was durch die Zertifizierung beider Lieferanten und das durchgeführte Vor-Ort-Audit bestätigt wurde. Die Definition der wichtigsten Leistungsindikatoren zur Überwachung des Prozesses ist für die Bewertung der Ergebnisentscheidung unerlässlich. Kontraktkostenreduktionsindikatoren, Liefer- und Qualitätskennzahlen sowie die Auslastung der Anlagen wurden berücksichtigt. Risiken der Produktlieferkette. Während das Qualitätsniveau des deutschen Lieferanten besser bewertet wurde, ist die Lieferperformance und die Flexibilität des slowakischen Lieferanten vorbildlich. Die Informationsasymmetrie spielt für den slowakischen Lieferanten eine wichtige Rolle, nicht jedoch für den deutschen Lieferanten, der mit dem Unternehmen in derselben Sprache kommunizieren kann. Das Risiko einer Zunahme von Qualitätsmängeln, Preiserhöhungen, Lieferverzögerungen und einer Komplexitätsbeziehung zu den Lieferanten wurde ebenfalls berücksichtigt. Darüber hinaus sind Überwachungs- und Prüfkosten erforderlich, um den externen Anbieter zu unterstützen, bis die Prozesse an seinem Standort ausgereift und stabil sind. Übereinstimmungsqualität. Nachdem das Audit an beiden Standorten durchgeführt wurde, konnte bestätigt werden, dass beide Unternehmen nach ISO 9001: 2008 und ISO/TS 16949: 2009 zertifiziert sind. Die deutsche Firma wurde zusätzlich nach den Anforderungen für Hersteller von Medizinprodukten ISO 13485: 2013 zertifiziert. Während bei der slowakischen Firma die Bereitschaft zu vertraglichen Vereinbarungen höher ist als bei der deutschen, ist ein Supply-Chain-Überwachungsplan durch den deutschen

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Lieferanten konsistenter und zuverlässiger. Im Gegensatz zum deutschen Anbieter, der in Asien im vergangenen Jahr sechs Lieferantenaudits durchgeführt hat, fokussiert sich der slowakische Anbieter hauptsächlich auf Lieferantenstatistiken und Dokumentationsauswertungen. Corporate Social Responsibility. Im Rahmen der nachhaltigen Lieferantenbewertung wurden beide Anbieter in Bezug auf Umwelt, Soziales, Ethik und ökonomisch nachhaltige Lieferkettenaspekte bewertet. Beide Lieferanten haben einen internen Verhaltenskodex definiert, allerdings keinen spezifischen Verhaltenskodex für die eigenen Lieferanten. Beide Lieferanten verfügen über ein gültiges und zertifiziertes Umweltmanagementsystem, das den Anforderungen der ISO 14001 entspricht. Darüber hinaus wurde dem slowakischen Unternehmen eine Zertifizierung nach OHSAS 18001 Arbeitssicherheit und Gesundheitsschutz erteilt. Einen Corporate-Social-Responsibility-Wert hat keiner ermittelt. Der deutsche Anbieter verfügt jedoch über ein Qualitätsmanagementsystem (QMS), das globale Standards für Nachhaltigkeitsberichterstattung der Global Reporting Initiative berücksichtigt (GRI Report 2017, online). Darüber hinaus verfügt die Gruppe des deutschen Lieferanten über eine interne Nachhaltigkeitspolitik, die für alle zur Gruppe gehörenden Firmen und Mitarbeiter gilt.

12.5 Ergebnisse Der Lieferantenauswahlprozess wurde mit der Vergabe des Auftrags an den slowakischen Anbieter abgeschlossen. Eine Risikobewertung für die mögliche zweite Quellenoption wurde dargestellt. Zuerst wird das Gewicht der festgelegten Kriterien berechnet. Die Berechnung der paarweisen Vergleichsmatrix ist in Abschn. 12.4.3, „Schritt 6“ detailliert beschrieben. Die CSR-Variablen wurden von drei Entscheidungsträgern bewertet, um die Gewichtung der Kriterien in Bezug auf diese Fallstudie zu ermitteln. Die Alternative mit dem höchsten gewichteten Koeffizient über alle sechs Bewertungskategorien ist Lieferant B mit 79 % des maximal möglichen Gesamtwertes im Vergleich zu 65 % für Lieferant A. Obwohl beide Ergebnisse innerhalb von 60 bis 80 % liegen, wurde letztendlich die Übernahme von Lieferant B präferiert. Um die Lieferanten zu integrieren, ist eine hohe Investition in Werkzeuge und Testadapter erforderlich. Hierfür wurde ein Team aufgebaut, um die Lieferanten bis hin zur Prozessreife zu unterstützen. Im Mittelpunkt stehen die Programmierung und Kalibrierung der neuen Testadapter, die Erstellung von Produktionslenkungsplänen zur Überwachung des Herstellungsprozesses und die Lösung möglicher technischer Probleme und Anfragen des Lieferanten. Was sind die wichtigsten Informationen für Unternehmen, die einen nachhaltigen Lieferantenauswahlprozess aufbauen und aufrechterhalten wollen? Im Gegensatz zu bisherigen Ansätzen wurde ein multidisziplinäres Team gebildet und die Bewertung wurde nicht ausschließlich durch die Entscheidung von Führungskräften getroffen, die sich hauptsächlich auf Kosteneinsparungen konzentrieren, sondern auch Fachbereiche, die

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den Fokus auf eine strategische Sichtweise und die Lieferperformance der Lieferanten legen, wurden integriert. Ein Schlüsselfaktor, der zudem berücksichtigt werden muss, ist die Denkweise, kontinuierlich aus früheren Ansätzen zu lernen, um frühere Fehler in zukünftigen Lieferantenauswahlprozessen zu vermeiden.

12.5.1 Operationalisierung der nachhaltigen Beschaffung Für die ganzheitliche Konzeption eines nachhaltigen Beschaffungsmanagements in einem Unternehmen sind in einem nächsten Schritt für die verschiedenen Ansatzpunkte klare Messgrößen zu definieren, anhand derer die Leistungen und Ergebnisbeiträge des Einkaufs geplant und gesteuert werden können. Die Gestaltung eines nachhaltigen Beschaffungsprozesses setzt genau an der Strategie an, die Produktivität und den Geschäftswertbeitrag des Gesamtunternehmens zu steigern. Der Erfolg einer nachhaltigen Beschaffung spiegelt sich in den Zielen und Erfolgsfaktoren des Unternehmens wieder und wird vor allem durch folgende Kernaufgaben des Beschaffungsteams gespeist: • Senkung der Materialkosten und Nebenkosten durch – nachhaltiges global Sourcing und – Verhandlungen von Preisen und Konditionen sowie von langfristigen Zahlungszielen. • Vermeidung von Single Sourcing und Präferierung der Multiple-Sourcing-Strategie. • Nachweis der Kreditwürdigkeit und der Eignung der Lieferanten. • Vermeidung von Beanstandungen bei der Festlegung von klaren Anweisungen, Erwartungen und Abstimmungen von Qualitätssicherungsvereinbarungen mit den Lieferanten. • Vermeidung von verspäteten Lieferungen oder Fehlteilen bei der vertraglichen Regelung von Sicherheitslagerbeständen mit den Lieferanten auf Basis von genaueren ­Prognosen. • Bestandsreduzierung entlang der Supply Chain, Reduzierung der Filialbestände, kurze Wiederbeschaffungszeiten, Minimierung der Lagerhaltung und Verringerung des gebundenen Kapitals. • Frühzeitige Einbindung der Lieferanten in die Produktentwicklung zur Integration von externen Fachwissen und der Realisierung möglichst kosteneffizienter ­Entwicklungsprozesse. • Reduzierung der Produktvariationen durch Standardisierungsstrategien, um Durchlaufzeiten, Herstellungskosten und Verfügbarkeiten zu optimieren. • Gruppierung und strategische Steuerung der Lieferanten in klar definierten Warengruppen. Somit können ähnliche Lieferanten miteinander verglichen und gemeinsam notwendige Maßnahmen abgeleitet werden.

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• Die Vergabeunterlagen müssen Nachhaltigkeitsanforderungen enthalten, die beim Audit zu überwachen sind. Eine regelmäßige Kommunikation über Corporate-­SocialResponsibility-Aktivitäten und die entsprechende Zielerreichung findet innerhalb des Einkaufs und zwischen dem Einkauf und der Unternehmensführung statt. • Festlegung eines Verhaltenskodex für Lieferanten, der die Corporate-Social-Responsibility-Werte vollumfänglich beinhaltet. • Schulung der Mitarbeiter in der Beschaffung. Corporate-Social-Responsibility-Aspekte werden anhand von regelmäßigen Pflichtschulungen bei Einkäufern und Lieferanten vergegenwärtigt. Ein eigenes Corporate-Social-Responsibility-Modul ist Teil des Qualifikationsprozesses für neue Lieferanten. Der Prozess „nachhaltige Beschaffung“ ist zu etablieren. Ein positiver Beitrag zur nachhaltigen Entwicklung setzt voraus, dass Unternehmen geeignete Strukturen und Prozesse implementieren, um die gesellschaftlichen und ökologischen Herausforderungen in ihrer Unternehmenstätigkeit zu managen.

12.6 Fazit Die in diesem Beitrag vorgestellte Forschung hat vielfältige Implikationen für Theorie und Praxis im Beschaffungsmanagement. Frühere Forschungsarbeiten liefern wertvolle Ergebnisse, beruhen jedoch auf der Bewertung von Lieferantenauswahlentscheidungen, bei denen die Triple-Bottom-Line-Kriterien nicht in Kombination mit anderen, basierend auf strategischen Entscheidungen oder auf Ressourcenpositionsgesichtspunkten abgeleiteten Indikatoren, betrachtet werden. Dieser Beitrag zielt darauf ab, einen Beitrag zum Themenfeld nachhaltiges Beschaffungsmanagement zu leisten. Der vorgelegte Lieferantenauswahlrahmen beabsichtigt, sich mit den in der Literatur identifizierten Trends zu befassen, indem relevante Ansätze beurteilt werden, die für die Entscheidung bei der Lieferantenauswahl relevant sind. Ziel ist eine grafische Darstellung relevanter Dimensionen, die bei der Prüfung externer Lieferantenauswahlentscheidungen untersucht werden müssen. Einer der wichtigsten Beiträge besteht in der Integration des Auswahlrahmens in den beschriebenen nachhaltigen Lieferantenauswahlprozess und dessen Anwendung in der Unternehmenspraxis. Im Gegensatz zu Song et al. wurde ein Modell entwickelt, das nicht nur Umweltaspekte, sondern auch soziale Aspekte integriert, um die nachhaltige Lieferantenbewertung vollständig zu betrachten (Song et al. 2018). Der Lieferantenauswahlrahmen erfasst nicht nur relevante zu berücksichtigende Faktoren, sondern stellt auch eine Struktur bereit, um diese Faktoren zu untersuchen und innerhalb einer praktischen Entscheidungsmatrix mit einem paarweisen Vergleich zu gewichten. Im Unterschied zu Banaeian et al. wurde ein Grundmodell des externen Lieferantenauswahlprozesses entwickelt, das Klassifizierungsklassen für Lieferanten gemäß der Nachhaltigkeitskriterien eindeutig integriert, um das Wissen für Praktiker und Akademiker in diesem Bereich zu erweitern (Banaeian et al. 2018). Dieser Beitrag bietet einen langfristigen Rahmen für Maßnahmen in vielen Industriebereichen. Ziel

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ist jeweils, die Sicherheit für Investitionen und Innovationen zu erhöhen und sicherzustellen, dass die Ressourceneffizienz stets in ausgewogener Weise berücksichtigt wird. Die Identifizierung von Best Practices für die Integration von CSR-Kriterien beruht primär auf folgenden Zertifizierungen der externen Lieferanten: ISO 9001, ISO 14001, ISO 50001 und ISO 45001. Weiterhin werden soziale und ökologische Aspekte beim Unternehmensergebnis positiv berücksichtigt. Der Lieferantenauswahlrahmen kann als Richtlinie dienen, um Managern, Praktikern und Akademikern eine praktische Lösung zu bieten, damit externe Anbieterauswahlentscheidungen besser strukturiert und konsistenter getroffen werden können. Wie in der Fallstudie festgestellt, sollte ein besseres Verständnis über Erfahrungen und Verbesserungspotenziale für jede zukünftige Entscheidung in Betracht gezogen werden, insbesondere durch Anpassung des gesetzten Ziels an die Relevanz und das Gewicht der Cluster. Daher können Praktiker aus früheren Misserfolgen lernen, indem sie zukünftige Anforderungen anpassen und den Rahmen und das Werkzeug durch fortlaufende Aktualisierung lebendig halten.

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Rubén Medina Serrano  ist ein erfahrener Praktiker aus dem Feld des internationalen Lieferantenmanagements mit Erfahrung aus Europa und Asien. Er promoviert an der Universität von Alicante zum Thema „Entscheidung zur nachhaltigen Beschaffung oder eigene Fertigung (Make-or-Buy)“. Parallel ist er bei einem namhaften Unternehmen im Lieferantenmanagement tätig.

Prof. Dr. Wanja Wellbrock  hat eine Professur für Beschaffungsmanagement an der Hochschule Heilbronn inne. Seine Hauptforschungsbereiche sind Supply Chain Management, strategisches Beschaffungsmanagement und Big-Data-Anwendungen in unternehmensübergreifenden Wertschöpfungsketten. Er ist Autor verschiedener englisch- und deutschsprachiger Publikationen und Projektleiter mehrerer praxisorientierter Forschungsprojekte in diesen Bereichen. Prof. Dr. Wanja Wellbrock sammelte praktische Erfahrungen in Führungspositionen in der Automobil- und Luftfahrtindustrie sowie in der Unternehmensberatung.

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R. M. Serrano et al. Prof. Dr. María Reyes González  ist eine Professorin für Unternehmensorganisation an der Universität von Alicante und Direktor der SIRHO Research Group.

Prof. Dr. José Luis Gascó  ist Professor und Direktor der Abteilung für Unternehmensorganisation an der Universität von ­Alicante. Er ist stellvertretender Direktor der SIRHO Research Group.

Die Rolle der Verpackung in Logistikprozessen – Auswirkungen auf eine Nachhaltige Logistik im Lebensmittelbereich

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Stefan Schmidt

Zusammenfassung

Die Lebensmittelsicherheit vom Erzeuger bis zum Verbraucher ist von entscheidender Bedeutung und hängt vor allem von Verpackungs- und Logistikprozessen ab. Ein breites Spektrum an regulatorischen Maßnahmen, hohen Standards und der richtige Umgang mit Lebensmitteln in Logistikprozessen sorgen dafür, dass Lebensmittel sicher vom Erzeuger bis zum Verbraucher geliefert werden. Die wesentliche Rolle der Verpackung in der Logistik besteht darin, den Produkten während Lagerung und Transport den notwendigen Schutz zu bieten und Kosten zu reduzieren. Verpackungen wirken sich insbesondere bei Lebensmitteln positiv auf die Produktdistribution und -sicherheit aus, verlängern die Haltbarkeit und erleichtern den Transport und helfen Kosten zu sparen, da durch die Anordnung und Verpackung von Produkten in geeigneter Verpackung der vorhandene Raum optimal genutzt werden kann. Dieser Beitrag stellt die Funktion der Verpackung in logistischen Prozessen wie Transport, Lagerung, Verladung und Verpackung von Lebensmitteln mit einem klaren Fokus auf Nachhaltigkeit dar. Eine Fallstudie zeigt beispielhaft die Übersee-Logistikkette eines Superfood mit sehr hoher CO2-Freisetzung und hohem Wasserverbrauch.

S. Schmidt ()  E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 W. Wellbrock und D. Ludin (Hrsg.), Nachhaltiges Beschaffungsmanagement, https://doi.org/10.1007/978-3-658-25188-8_13

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S. Schmidt

13.1 Grundlagen zur Verpackung von Lebensmitteln 13.1.1 Funktionen der Verpackung Hauptaufgabe der Verpackung ist der Schutz des Gutes entlang der gesamten Logistikkette. Dies gilt für mechanische Einflüsse bei Transport und Umschlag, Umwelteinflüsse wie Feuchtigkeit, Kontaminanten oder Mikroorganismen (BMEL 2010, online). Abb. 13.1 zeigt Beispiele für eine Verpackung die auf 5300 m Höhe den Inhalt zuverlässig schützt sowie die hygienisch und funktionsgerecht verpackte Verpflegung beim Langstreckenflug. Die Verpackung schützt das Gut sowie die Umwelt vor dem Inhalt, beispielsweise bei Gefahrgütern. Bei der Verpackung kann in Primär-, Sekundär- und Tertiärfunktionen unterschieden werden (Querblicke 2018, online). Primärfunktionen Die Primärfunktionen beziehen sich auf die technische Beschaffenheit der Verpackung mit der Schutz-, Lager-, Lade- und Transportfunktion (Querblicke 2018, online): • Schutzfunktion: Die Verpackung soll die Güter vor Beschädigungen, Verunreinigungen sowie Umwelteinflüssen schützen. Bei scharfkantigen oder toxischen Materialien schützt sie auch die damit umgehenden Personen vor Verletzungen oder gesundheitlich schädlichen Einflüssen. Die Umwelt wird vor Gefahrgütern geschützt. • Lagerfunktion: Güter, insbesondere Stückgüter, werden vom Herstellungsprozess bis zur Nutzung üblicherweise mehrmals ein- oder umgelagert. Dies erfolgt über verschiedene Lagerungsstufen vom Hersteller über Handelsstufen sowie Lagerungs- und Transportunternehmen bis zum Endverbraucher. Die Verpackung ermöglicht eine schnellere, sichere und einfachere Lagerung.

Abb. 13.1  Beispiele – Verpackung hält auf 5300 Höhenmetern und Verpflegung Langstreckenflug. (Quelle: Eigene Darstellung)

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• Ladefunktion: Die Verpackung ermöglicht eine sichere, einfachere und schnellere Verladung der Güter. • Transportfunktion: Die Transportverpackung schützt vor mechanischen Beanspruchungen wie Stöße. Be- und Entladevorgänge werden beschleunigt. Der Raumbedarf in den Transportmitteln ist optimal zu Nutzen. Umverpackungen werden auf die Maße der Transportmittel abgestimmt zur optimalen Auslastung dieser. Sekundärfunktionen Die Sekundärfunktionen beziehen sich auf den kommunikativen Bereich mit Verkaufs-, Dienstleistungs-, Werbe- und Garantiefunktion (Querblicke 2018, online): • Verkaufsfunktion: Die Verkaufsfunktion ermöglicht den Verkauf und gestaltet diesen rationeller. • Dienstleistungsfunktion: Durch verschiedene auf der Verpackung aufgedruckte Informationen wird der Verbraucher über Inhalt und Verwendung der jeweiligen Ware informiert. • Werbefunktion: Die Werbung auf der Verpackung richtet sich direkt an den Endverbraucher und soll den potenziellen Käufer auf die Ware aufmerksam machen sowie dessen Kaufentscheidung positiv beeinflussen. • Garantiefunktion: Der Warenhersteller garantiert mit der unbeschädigten und einwandfreien Verpackung, dass die Angaben auf der Verpackung mit dem Inhalt übereinstimmen. Dies stellt die Grundlage für die Produkthaftung und den Verbraucherschutz dar. Tertiärfunktionen Die Tertiärfunktionen sind Zusatzfunktionen, die die Weiterverwendung der Packmittel nach der Benutzung des Packgutes anstreben (Querblicke 2018, online): • Weiterverwendung: Beispiele für die Weiterverwendung sind Mehrwegverpackungen sowie die Verwendung von Packmitteln aus kompostierbaren Materialien. Die Verpackung kann nach Nutzung des Packgutes eine weitere Funktion erfüllen (z. B. Vorratsbehälter, Material). • Recycling: Durch das Recycling von Papier- und Kartonverpackungen sowie Behälterglas werden Rohstoffe zurückgewonnen und der Anfall von Restabfall stark reduziert.

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S. Schmidt

• Umweltschutz: Die Umwelt wird durch die Herstellung und Entsorgung der Verpackungen belastet. Der Ressourceneinsatz ist zu optimieren sowie kompostier-, recycle- und wiederverwendbare Verpackungen sind einzusetzen. Der Restmüll ist ordnungsgemäß zu entsorgen. In Sonderfällen wertet die Verpackung das Produkt erheblich auf bzw. stellt das eigentliche Produkt dar (Schmidt 2016).

13.1.2 Verpackung von Lebensmitteln Dieses Kapitel gibt einen kurzen Überblick über die Bedeutung und den Nutzen der Verpackung für Lebensmittel. Einer der größten Industriezweige ist die Lebensmittelindustrie, die wesentlich auf Lebensmittelverpackungen aufbaut (Forbes 2007, online). Die Haltbarkeit von Lebensmitteln kann durch neue Verpackungsmaterialien und -methoden wesentlich erhöht werden. Besonders in Schwellenländern gibt es eine wachsende Nachfrage nach Verpackungen. Dabei besteht sowohl ein erheblicher Bedarf an Verpackungstechnologien als auch an Fachwissen. Die Verpackung stellt ebenfalls einen Kostenfaktor dar. Dies gilt insbesondere für die Lebensmittelindustrie, die den größten Verpackungsaufwand betreibt. Fast sechs Prozent des Warenwertes entfallen bei Lebensmitteln auf die Verpackung. Dieser Anteil ist mehr als doppelt so hoch wie bei der nächsten Produktgruppe (Esu-services Ltd. 2018, online). Primärfunktionen Die wichtigsten Anforderungen der Primärfunktionen an Verpackungstechniken im Lebensmittelsektor sind:

• Haltbarkeit: Die Steigerung der Produkthaltbarkeit ist für Lebensmittel von höchster Bedeutung. Durch geeignete Packmittel können biochemisch aktive Nahrungsmittel auch ohne Kühlung länger frisch gehalten werden. Eine längere Haltbarkeit ermöglicht häufig erst den Export dieser Güter. Dazu dient der Schutz vor Licht, Sauerstoff, Kontaminanten, Bakterien und Schädlingen. „Für Kontaminanten gelten eine Vielzahl von Vorschriften. In diesen sind unter anderem die zulässigen Höchstgehalte für gesundheitsbedenkliche Stoffe, Sondervorschriften für die Einfuhr aus Nicht-EUStaaten oder spezifische Überwachungsprogramme zu belasteten Produkten geregelt. Sie gelten für alle Lebensmittelunternehmer von der Primärproduktion bis zum Händler.“ (BMEL 2010, online).

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• Rückverfolgbarkeit: Rückverfolgbarkeit bedeutet, dass ein Lebensmittel und seine Zutaten über alle Produktions-, Verarbeitungs- und Vertriebsstufen bis zu den Ursprungsorten verfolgt werden müssen. Für den Gesetzgeber ist die Sicherstellung der Rückverfolgbarkeit ein wesentliches Instrument zur Gewährleistung der Lebensmittelsicherheit. Rückverfolgbarkeit dient vor allem dem Rückruf unsicherer Lebensmittel. Unternehmen sind verpflichtet, in Eigenregie Systeme zu etablieren, die darüber Auskunft geben, von welchem Lieferanten sie das Vorprodukt erhalten haben und an wen sie ihr Produkt verkauft haben (Lebensmittel-info.eu 2016, online).

• Transportbeanspruchung: Die Verpackung soll vor Transportbeanspruchungen schützen. Dies gilt besonders für dynamische Beanspruchungen auf den See-, Landund Luftwegen. Eine ganze Reihe von Lebensmitteln ist druckempfindlich und muss entsprechend verpackt sein. Bis zu 70 % der Transportschäden sind durch eine bessere Verpackung vermeidbar. Verpackungen sollen die Bildung von Ladeeinheiten fördern sowie einfach und sicher aufgenommen, bewegt, gestaut und abgesetzt werden. • Maschinenfähigkeit: Packmittel müssen maschinenfähig sein, um die Lebensmittel möglichst störungsfrei maschinell zu verarbeiten. • Raumausnutzung und Stapelbarkeit: Die Transportwege haben einen direkten Einfluss auf die Frachtkosten. Zur Kostendämpfung müssen die Frachtkapazitäten effizient durch eine gute Volumenauslastung der Verpackung genutzt werden, was besonders für Kühllager wichtig ist. • Materialfluss: Der Materialfluss umfasst die Anlieferung, das Handling, den Transport und die Lagerung von Gütern in festgelegten Verpackungen. Sowohl für industrielle Güter als auch für Lebensmittel gilt, dass der gesamte Materialfluss möglichst rationell ablaufen soll. • Ressourceneinsatz: Ein sparsamer Ressourceneinsatz sowohl für Verpackungsmittel als auch für die benötigte Energie. Verpackungsmaterialien werden dünner, ihre Qualität wird verbessert und ihre Herstellung erfordert weniger Energie. Der Anteil der Kunststoffe an den Packmitteln steigt kontinuierlich. Sekundärfunktionen Die Sekundärfunktionen bei Lebensmitteln haben eine hohe Bedeutung für den kommunikativen Bereich der Verkaufs-, Dienstleistungs-, Werbe- und Garantiefunktion:

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• Verkaufsfunktion: Die Verkaufsfunktion ermöglicht den Verkauf und gestaltet diesen rationeller. Verkaufsverpackungen verlängern die Haltbarkeit von Lebensmitteln auf dem Weg vom Erzeuger bis zum Endverbraucher. • Dienstleistungsfunktion: Auf Lebensmittelverpackungen sind Informationen aufgedruckt wie Art, Preis, Gewicht, Menge, Verfallsdatum bzw. Mindesthaltbarkeitsdatum, Nährwertinformationen und Verwendungszweck. Mit dem aufgedruckten Barcode der Europäischen Artikel-Nummer (EAN-Code) ist ein schnelles Einlesen an Scannerkassen möglich. • Werbefunktion: Anhand der Verkaufsverpackung erkennt der Kunde die Lebensmittel (Logo, Bezeichnung, Farbe). Sie richtet sich direkt an den Endverbraucher und soll den potenziellen Kunden auf dieses Lebensmittel aufmerksam machen. Eine attraktive Verkaufsverpackung kann Kaufentscheidungen positiv beeinflussen, den Absatz der Lebensmittel fördern sowie neue Kunden gewinnen. Die gleichen Lebensmittel in bunten bzw. gefälligen Verpackungen schmecken besser als in schlichtem weiß verpackte Genussmittel. Der erste und damit kaufentscheidende Eindruck wird über die Verpackung vermittelt. • Garantiefunktion: Die Garantiefunktion der Lebensmittelverpackung dient dem Verbraucherschutz und der Produkthaftung. Der Lebensmittelhersteller garantiert mit der unbeschädigten und einwandfreien Verpackung, dass die Angaben auf der Verpackung mit dem Inhalt übereinstimmen. Verschiedene Gesetze fordern die eindeutige Kennzeichnung der Lebensmittel nach Art, Zusammensetzung, Gewicht, Menge und Haltbarkeitsdauer. Tertiärfunktionen Die Weiterverwendung der Packmittel bei Lebensmitteln nach der Benutzung des Packgutes ist zur Reduzierung der Umweltbelastung zu verstärken: • Weiterverwendung: Am bekanntesten für die Weiterverwendung von Verpackungen von Lebensmitteln sind Mehrwegverpackungen wie die Mehrwegflasche. Mit dem Grünen Punkt versehene Einwegverpackungen aus privaten Haushalten werden in einen Wertstoffkreislauf übergegeben. Umverpackungen sind i. d. R. Mehrwegverpackungen wie Paletten, Gitterboxen, Trolleys oder Kunststoffbehälter. Verkaufsverpackungen können weiterverwertet werden, z. B. als Vorratsbehälter oder die Nutzung des Senfglases als Trinkglas. • Recycling: Lebensmittelverpackungen können zu einem hohen Anteil recycelt werden wie bei Weißblech, Behälterglas, Kunststoffen, Flaschen sowie Papier- und Kartonverpackungen. Rohstoffe werden gewonnen und Restabfall stark reduziert bzw. thermisch verwertet.

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• Umweltschutz: Der Umweltschutz gewinnt zunehmend an Bedeutung. In der Bundesrepublik Deutschland besteht der Haus- und Gewerbemüll nach Volumen zu ca. 50 % und nach Gewicht zu ca. 30 % aus Verpackungen (Relay Group 2016, online). Ein stärkeres Umweltbewusstsein fördert Bestrebungen, möglichst wiederverwendbare Verpackungen und Packmittel einzusetzen. Die Mülltrennung reduziert den Haus- und Gewerbemüll beträchtlich. Verpackungen aus kompostierbaren Materialien werden aus biologisch abbaubaren Kunststoffen hergestellt, die gänzlich oder zum Teil aus nachwachsenden Rohstoffen bestehen und als Packstoffe z. B. für Lebensmittel eingesetzt werden. Der Verpackungsabfall ist zu recyceln, zu kompostieren sowie der Restmüll ordnungsgemäß zu entsorgen. In den Entwicklungsländern wird dem Umweltschutz oft noch eine untergeordnete Rolle zugewiesen. Für diese Länder sind höhere Ernteerträge und geringe Verpackungskosten wichtiger. Verpackungsmaterialien halten Lebensmittel auch ohne Kühlung länger frisch. Dazu gehört die aseptische Verpackung. Verpackung in modifizierter Atmosphäre, die Koextrusionstechnik und Kunststoffe mit Sperreigenschaften verbindet. Die aseptische Verpackung – das „Tetra-Pak-System“ – ist in Europa, Lateinamerika, Asien und auch in den USA im Einsatz. Mit den Anlagen und der Technik wird die aseptische Verpackung auf Flüssigkeiten wie Milch, Säfte und Wein sowie auf Lebensmittel wie Gemüse, Tomaten, Fertiggerichte, Suppen und Tiernahrung angewendet. „Aseptische Technologie sorgt dafür, dass Lebensmittel ohne Kühlung und Konservierungsstoffe mindestens sechs Monate lang sicher für den Verzehr, frisch und wohlschmeckend bleiben. Lebensmittel behalten mehr Farbe, eine bessere Textur sowie mehr Geschmack und Nährstoffe ­(Tetra-Pak)“. Verpackung von Agrarprodukten, frischen und weiterverarbeiteten Lebensmitteln, bedeutet Schutz von sehr komplexen, biologisch mehr oder weniger aktiven Stoffen. Um die Qualität von Agrarprodukten zu erhalten sind die Wasser-, Dampf-, Gas- und Licht-Sperreigenschaften der als Verpackungsmittel verwendeten Polymere von entscheidender Bedeutung. Von einigen Obst- und Gemüsemärkten abgesehen, möchte keiner als Dauerzustand Lebensmittel erwerben im Straßenstaub in offenen Verpackungen und auf der Straße wie die Beispiele in Abb. 13.2 zeigen. Mit der Koextrusionstechnik werden Polymere mit unterschiedlichen, jeweils spezifischen Eigenschaften wie Sperrung von Licht, Wasser oder Gas zu einer einzigen Folie zusammengefügt. Bei diesem Prozess werden die Kunststoffgranulate geschmolzen, zu dünnen Folien extrudiert und dann zusammengeklebt. Extrudierte Kunststoffe werden anstelle von Glas und Metall zur Produktion von Flaschen und Tuben verwendet. Da diese Behälter hitzebeständiger als normale Kunststoffverpackungen sind, können auch Produkte abgefüllt werden, die in der Verpackung pasteurisiert werden. Die so verpackten Lebensmittel zeichnen sich durch Haltbarkeitsdauern von über einem Jahr aus. Kunststoffe mit Sperreigenschaften erlauben den Lebensmittelverarbeitern von energieaufwendig hergestellten Metall- und Glasverpackungen zu koextrudiertem Verpackungsmaterial zu wechseln. Kunststoffbehälter haben verschiedene Vorteile:

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Abb. 13.2  Beispiele – Lebensmittel in offenen Verpackungen im Straßenverkauf. (Quelle: Eigene Darstellung)

geringe Transportkosten, einen hohen Belastungswiderstand und minimale Produktverluste. Diese Verpackungen werden für Produkte des Inlandsverbrauchs und des Exports verwendet. Sie sind besonders wichtig für den Exportmarkt, da Verpackungen mit verbessertem Sperrverhalten den Export von Fertigprodukten anstelle von Agrar-­ Rohprodukten ermöglichen. In der Fleischindustrie erlauben solche Verpackungen den Export von tiefgefrorenen Fertiggerichten aus Argentinien und Brasilien in die USA.

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Ein bedeutender Trend der Lebensmittelindustrie hatte in Europa seinen Ursprung. Hier wurde die Verpackung in modifizierter und gesteuerter Atmosphäre entwickelt. Sie bietet Gelegenheit, die Haltbarkeit von frischen Früchten und Gemüse zu verlängern. Und schon kann der Konsument grüne und blaue Weintrauben aus Südafrika und Chile, die in den Niederlanden in eine Konsumentenverpackung verpackt werden, frohen Herzens genießen. Es ist schon seit längerem bekannt, dass eine Steuerung der, die Früchte umgebenden Atmosphäre, deren Qualität für einen längeren Zeitraum erhält. Seit Jahrzehnten wird dies für die Massenlagerung von Obst angewendet, wodurch sich die Vermarktungssaison des Produkts verlängert. Wenn diese zu Ende geht, kommt dann der Import von der südlichen Halbkugel CO2-trächtig zum Tragen. Die Verpackung in gesteuerter Atmosphäre basiert auf der Entwicklung neuerer Polymerfolien. Sie steuern in gewissem Ausmaß selbstständig die Atmosphäre von Verpackungen, die biochemisch aktive Nahrungsmittel enthalten. Durch mikroskopisch kleine Poren wird der Gasaustausch reguliert und damit die Haltbarkeitsdauer wesentlich verlängert.

13.2 Verpackungs-, Logistik- und CO2-aufwendige Lebensmittel In diesem Kapitel wird die Avocado als Beispiel für ein Verpackungs-, Logistik- und CO2-aufwendiges Lebensmittel beschrieben. Die Ernährung bzw. verschiedene Lebensmittel unterliegen häufig gewissen Modetrends. Beispielsweise waren in den siebziger und achtziger Jahren auch in schlichtesten Dorfkneipen serbische Bohnensuppe und dann Toast Hawaii angesagt. Jetzt boomt die Avocado und macht Küchenkarriere als moderne Öko-Mode. Anscheinend kommt kaum noch ein Gericht ohne die grüne Frucht aus. Immerhin kann sie in der veganen Küche Butter und Eier ersetzen. Die Avocado ist inzwischen bei Discountern und Supermärkten ganzjährig erhältlich, je nach Saison aus Südafrika, Kenia und Peru oder im Winter aus Spanien, Israel, Mexiko, Marokko, Chile und Brasilien. Von 2008 bis 2017 nahm die Importmenge von Avocados um mehr als das Dreifache zu, von weniger als 20.000 Tonnen auf über 71.000 Tonnen (Brandt 2018, online). Die Avocado gilt als Superfood wie Chiasamen, Quinoa, Acai- und Goji-Beeren mit außerordentlichen positiven Wirkungen auf die Gesundheit. Deren Wirkungen sind allerdings durch klinische Studien kaum belegt. Sie enthält viele Vitamine, Mineralstoffe und ungesättigte Fettsäuren, aber alle Obst- und Gemüsesorten haben eine positive Wirkung auf den menschlichen Körper. Beispielsweise sind auch inländische Äpfel ausgezeichnete Vitamin- und Mineralstofflieferanten. Der Fokus soll allerdings auf den Aufwendungen für die Bereitstellung von Avocados liegen und nicht auf den Modeerscheinungen zu diesem Thema. Die Avocado ist eine etwa 400 Gramm schwere Beere eines immergrünen Laubbaumes und benötigt wie alle Bäume Wasser, Erde und Luft. Neben den überaus zahlreichen positiven Berichten über die Avocado werden seit einigen Jahren viele kritische Berichte veröffentlicht, allein ungefähr 289.000 Ergebnisse einer Google-Suche zum Begriff „Kritik Avocado“. Einer

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der größten Avocadolieferanten Europas ist die Farm ZZ2 in Südafrika mit 10.000 Mitarbeitern und fast der Größe Hamburgs mit Flughafen, Schule und Krankenstation. Am Beispiel dieser Farm wurde bereits häufiger die außergewöhnliche energie- und arbeitsaufwendige Avocado-Aufzucht beschrieben: • • • • •

Schösslinge entstehen in einem komplett dunklen Raum. Auswahl der Schösslinge für den nächsten Schritt. In einem Raum mit grünem Licht werden spezielle Hormone aufgetragen. Aufzucht im vor Krankheitserregern geschützten Gewächshaus. Wegen der Anfälligkeit der Wurzeln des Avocadobaums werden die Schösslinge auf andere Pflanzen, z. B. Apfelbäume, gepfropft. • Der Boden muss von Steinen befreit sein und wird deshalb mit schwerem Gerät durchsiebt. • Der Stamm wird mit sonnenschützender Farbe bestrichen, einem Sunblocker. Neben der arbeitsaufwendigen Kultur wird vor allen Dingen der hohe Wasserverbrauch kritisiert: 1000 L Wasser für zweieinhalb Avocados. Die Bäume sind effizient zu bewässern. Den Wasserverbrauch von Lebensmitteln in Liter Wasser pro Kilogramm zeigt folgende Auflistung (Hoekstra und Water Footprint 2017, online): Tomate

200

Salat

250

Kartoffel

300

Gurke

350

Orange

560

Apfel

800

Avocado

1000

Dattel

2200

Avocados sind nicht das Produkt regionaler kleinbäuerlicher Landwirtschaft, sondern von Großfarmen, die zur Wasserversorgung auch ihre eigenen Pipelines bauen können. Für die Avocado sind neben dem Transportaufwand aufgrund langer Entfernungen noch weitere erhebliche Logistikaufwendungen erforderlich: • Transport z. B. von der Farm ZZ2 mit LKW ca. 1000 km zum Hafen Durban. • Verladung Schiff und Überfahrt 26 Tage nach Rotterdam. • Auf dem gesamten energieaufwendigen Transport Lagerung in strombetriebenen Containern bei sechs Grad mit kontrollierter Luftfeuchtigkeit und CO2-Konzentration. • Die Stoßempfindlichkeit erfordert weiteres Verpackungsmaterial für eine gepolsterte Einzelaufnahme.

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• Die Laderäume sind äußerst sauber zu halten, da die Avocado Fette, Öle und Verschmutzung nicht verträgt. • Wegen der hohen Geruchsempfindlichkeit ist die Lagerung mit geruchabgebender Ware ausgeschlossen. Bei der Ernte sind die Avocados steinhart. Sie werden im nächsten Schritt in der Reifekammer verbrauchergerecht gereift, nicht steinhart oder matschig, sondern genau ­verzehrgerecht: • Verladung im Hafen von Rotterdam auf LKW und Transport 30 km nach Maasdijk. • Übernahme der harten Avocados und Bestimmung der Zeitdauer für die Reifekammer durch den Reifemeister. • Stapelung der Avocadokisten in der Reifekammer. • Einblasen des Gases Ethen. Dies ist in kleinen Mengen ungiftig und wird beim Reifen der Bananen abgegeben. • Verweildauer in der Reifekammer im Durchschnitt sechs Tage bei verschiedenen Temperaturen zwischen sechs und 25 Grad entsprechend Forschung und Erfahrung. Nach der Reifezeit bis zum Versand werden noch weitere Schritte durchgeführt: • Ultraschall zur Prüfung auf innere dunkle Flecken und Aussortieren der Betroffenen. • Maschinelle Tastprüfung der Reifung. • Automatisches Sortieren nach grünen und schwarzbraunen Avocados wegen der Einstellung des Verbrauchers, der „schöne“ Früchte erstehen möchte. • Manuelle Aufnahme vom Laufband und Sortierung in Kisten. • Manuelles Aufkleben eines Labels auf die Avocados. Die Reifekammern ermöglichen eine verbrauchergerechte Marktversorgung was zu erheblichen Umsatzsteigerungen führt. Die Avocado ist nur ein Beispiel für einen Verpackungs-, Logistik-, Wasser- und CO2-aufwendigen Lebensstil. An einem alltäglichen Gut wie ein Lebensmittel lässt sich dies eindringlich vermitteln. Sehr hoher Wasserverbrauch in wasserarmen Ländern und Energieaufwand sowie Umformen kompletter Landschaften kennzeichnen den Widersinn der gegenwärtigen Wirtschaftsform mit besonderer Auswirkung auf neue Ernährungsweisen. Die Avocado stellt gute Werte für die Gesundheit dar, wird aber global energieaufwendig transportiert. Die Erkenntnis, die Umwelt und damit den Planeten für die nächsten Generationen zu erhalten, verbreitet sich. Es liegt allerdings eine sehr hohe Widersprüchlichkeit zwischen Umweltbewusstsein und Umweltverhalten. Umweltschutz möchte fast jeder, greifbare Beschränkungen möchte aber kaum einer erfahren. Viele Bürger setzen sich für Naturprodukte ein, am besten regionale. An ihrem Verbrauchsverhalten ist dies aber kaum festzustellen. Die Ergebnisse einer repräsentativen Forsa-Umfrage zeigen (Ehrenstein 2016, online):

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• 94 % der Bundesbürger sind überzeugt, dass Umweltschutz ihre Lebensqualität entscheidend verbessert. • 79 % der Befragten sind überzeugt, dass jeder Einzelne mit seinem Verhalten etwas gegen Umweltverschmutzung und Naturzerstörung ausrichten kann. Allerdings herrscht eine eindeutige Diskrepanz zwischen dem eigenen Anspruch und der Realität: • 68 % finden es schwierig, in den eigenen vier Wänden stets auf den Schutz der Umwelt zu achten. • Nur zwölf Prozent der Verbraucher verwenden umweltfreundliche Reinigungsmittel. • 38 % der Deutschen finden es zu aufwendig, beim Einkauf auch noch darauf zu achten, ob ein Produkt ein Umweltsiegel trägt und biologisch abbaubar ist. • 46 % kaufen einfach aus Gewohnheit das, was sie schon immer gekauft haben. • Jeder Dritte trennt die organischen Abfälle nicht vom Hausmüll und wirft sie in die Restmülltonne. Mit jährlich 618 kg Haus- und Verpackungsmüll pro Kopf liegt Deutschland in der Europäischen Union nach Dänemark (759 kg) an zweiter Stelle. Umweltschutz funktioniert immer dann gut, wenn der Verbraucher auch in finanzieller Hinsicht einen Nutzen hat. Die Avocado zeigt lediglich den Handlungsbedarf auf für eine nachhaltige Beschaffung und eine Anpassung unseres kompletten Lebensstils. Einem existierenden Umweltbewusstsein müssen auch Taten folgen, ansonsten ist Umweltschutz nur eine hohle Phrase.

13.3 Grüne Logistik und Best Value Country Sourcing 13.3.1 Verändertes Umfeld und steigende Anforderungen Das veränderte Umfeld zeigt sich in verschärften Auflagen und Druck seitens der Gesetzgeber sowie Verbraucher. Eine Wettbewerbsdifferenzierung kann zukünftig nur noch mit grünen Produkten erreicht werden. Die stark steigende Anzahl an Produkten samt ihrer Varianten bedingt eine enorm anwachsende Teilevielfalt, notwendigerweise eine höhere Zahl von Sequenzierungen, einen höheren Behälterumschlag wegen zunehmender Verwendung von kleineren Behältern, eine verringerte Größe der Sendungen pro Lieferant sowie höhere Reichweiten und einen höheren Lagerplatzbedarf aufgrund des zunehmenden Anteils von Best Cost Country (BCC) Sourcing. Um Transporte zu konsolidieren sowie die Komplexität der Transportnetzwerke zu verringern, werden Cross Docking Prozesse eine zunehmende Rolle spielen.

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Das Beispiel des strategischen Einkaufs eines Maschinenbauunternehmens (Potthast 2007) zeigt die erhöhten Anforderungen an die Logistik bei BCC Sourcing. Die Verlagerung von Lieferanten und Outsourcing der Produktion nach BCC führt zu einem steigenden Transportvolumen aus diesen Ländern verbunden mit steigenden Transportkosten wegen den größeren Entfernungen. Aus aktuellem Anlass denken auch viele Unternehmen daran, die unterschiedlichsten Risiken wie Naturkatastrophen, politische Krisen oder Kernschmelzen in ihr Risikomanagement einzubeziehen, d. h. es wird über partial höhere Bestände und Bezugsalternativen nachgedacht.

13.3.2 Best Value Country Sourcing Eine internationale Studie zur Beschaffung zeigt den Wandel der Einkaufsentscheidungen zur umweltfreundlichen Beschaffung auf. Zwar bilden quantitative Faktoren wie Arbeitskosten und Rohstoffpreise genauso wie qualitative Faktoren wie Flexibilität der Produktion und Logistik die wichtigsten Entscheidungskriterien, aber auch Kriterien wie ökologische und ethische Unbedenklichkeit gewinnen zunehmend an Bedeutung, beispielsweise gelten fehlende Umweltstandards für den Einkauf in China mit als größtes Hindernis (BrainNet 2009). Unter dem Titel „Best Cost Country Sourcing: Das bessere Low Cost Country Sourcing“ beschreibt Grassl (2007), dass der Trend, in Ländern mit niedrigeren Faktorkosten einzukaufen, keine Erscheinung der letzten Jahre gewesen ist. Im Gegenteil – die boomende Wirtschaft hat die Notwendigkeit, global zu beschaffen, weiter vorangetrieben. Waren es in der Vergangenheit primär die Lohnkosten, so sind heute die u. a. fehlenden Kapazitäten der „traditionellen“ Industriestaaten der Grund, sich nach alternativen Lieferanten vornehmlich aus Osteuropa und Asien umzuschauen. Übersehen wird hierbei oft die mittlerweile geänderte Rolle dieser Lieferanten. Die Zeiten, in denen die Mehrzahl dieser Unternehmen die Rolle der „billigen, verlängerten Werkbank“ innehatten, die zu den niedrigsten Herstellkosten produziert, sind in den meisten Fällen vorbei. Diese Firmen produzieren heute nicht mehr „billige Massenware“, sondern technologisch anspruchsvolle Produkte für ihren Heimat- und den Weltmarkt. Kostensenkung war der Hauptgrund für Best Cost Country Sourcing (BCCS) und wurde in erster Linie von den Unterschieden der Arbeitskosten bestimmt, mit Schwerpunkt auf der Beschaffung von arbeitsintensiven Produkten oder Teilen zu den niedrigsten Gesamtkosten. Heute erfordern eine Reihe von Faktoren eine Änderung dieser Herangehensweise. Global-Sourcing-Strategien werden durch neue Kräfte beeinflusst (Dutzler et al. 2011, S. 4): • Inflationsdruck auf die Löhne in Schwellenländern • veränderliche Wechselkurse, • zunehmender Fokus auf umweltfreundlichere Versorgungsketten,

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• • • •

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zunehmender Schwerpunkt auf die Beschleunigung bis zur Markteinführung, Bedenken zur Erfüllung gesetzlicher Auflagen, Logistikkosten und Terminplanung sowie die individuellen Präferenzen und Anforderungen der aufstrebenden Verbrauchermärkte.

Diese Probleme und Chancen müssen auf neue und innovative Weise gelöst und berücksichtigt werden, wobei die Gesamtkosten weiterhin im Fokus stehen. Der massive Abbau bzw. die Anpassung von Produktionskapazitäten, wie es in den letzten Jahren insbesondere in Deutschland geschehen ist, hat die Position der Produzenten in den Drittstaaten drastisch zu ihrem Vorteil verändert. Unternehmen, die heute bei ihren strategischen Einkaufsentscheidungen immer noch auf einer eindimensionalen Preis- und Commodity-Strategie als Entscheidungsgrundlage aufsetzen und nicht auf einer mehrdimensionalen Best-Cost-Country-Strategie, werden zu Verlierern im Kampf um die besten Lieferanten in Osteuropa und Asien gehören. Für ein gewinnbringendes Best Cost Country Sourcing sind folgende Erfolgsfaktoren von Bedeutung (Grassl 2007, S. 8 f.): • Eine exakte Warengruppensegmentierung, • produktkostenanalytische Betrachtungen der für das „Sourcing“ infrage kommenden potenziellen Komponenten und Baugruppen, • Transparenz der Fertigungsverfahren und Kosten der Lieferanten, • genaue Kenntnisse der Zielmärkte, • Verfahren und Prozesse für Lieferanten-Audits, • Qualitätssicherung in den Zielmärkten und • die Überlegung, wie sich das Unternehmen als fairer Partner mit einer eindeutigen Win-win-Situation gegenüber dem neuen, potenziellen Lieferanten positionieren kann. Der strukturierte Best-Cost-Country-Ansatz unterstützt den Einkauf in hohem Maße methodisch und prozessual bei der Entscheidungsfindung und beim Aufbau technologisch anspruchsvoller Lieferanten in den Märkten Osteuropas und Asiens. Die Entwicklung und Einführung des hierauf aufbauenden Best-Value-Country-­ Sourcing-Ansatzes entstand aus Best Practices von mehr als 1000 durchgeführten Einkaufsprojekten. Dieser ganzheitliche Ansatz berücksichtigt nicht nur die Kosten, sondern u. a. auch eine umweltfreundliche Beschaffung, Wertschöpfungspotenziale, Qualität, Unternehmenssozialverantwortung (CSR) und Risiken (BrainNet 2009). Den Paradigmenwechsel der Beschaffung vom Low Cost Country Sourcing über das Best Cost Country Sourcing zum sich entwickelnden Best Value Country Sourcing zeigt Tab. 13.1. In einer Fallstudie von More und Vu werden die Anforderungen für ein Land, das als bestes Partnerland für ein schwedisches Unternehmen ausgewählt werden soll, wie folgt beschrieben (More und Vu 2017, S. i):

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Tab. 13.1  Paradigmenwechsel der Beschaffung. (Quelle: Eigene Darstellung nach Marlinghaus 2009, S. 8) LCCS Low Cost Country Sourcing

BCCS Best Cost Country Sourcing

BVCS Best Value Country Sourcing

1980–2001

2002–2009/2010

1009/1010–2020

Kurzfristiger Ansatz

Langfristiger Ansatz

Nachhaltiger Ansatz

Sourcingansatz basiert ausschließlich auf der Auswahl des Angebots im Hinblick auf Kostenvorteile und die Nutzung der Kostenarbitrage zwischen den Regionen

Kostenorientierte Beschaffungsstrategie, die das Prinzip der Gesamtbetriebskosten (Total Cost of Ownership, TCO) und weitere qualitative Faktoren zur Erreichung der „besten Leistung“ impliziert

Best Practice Sourcing Ansatz auf TCO-Basis unter Berücksichtigung von Kosten-, ­Qualitäts- und Logistikdimensionen mit Fokus auf umweltfreundliche Beschaffung und Wertschöpfung

1. „Das Land sollte niedrige Gesamtbetriebskosten haben; 2. die Risiken, die mit der Beschaffung aus einem Land verbunden sind, sollten gering sein und wenn sie existieren, sollten sie überschaubar sein; 3. das Land sollte über Materialien verfügen, die Stahlstangen, Stahlrohre sowie Schmiede- und Gießverfahren zur Herstellung von Stahlringen umfassen, und 4. die lokale und regionale Beschaffungsstrategie des Unternehmens sollte erfüllt werden. Um diese Bedingungen zu erfüllen, wurde eine Liste verschiedener Parameter bereitgestellt, die sich auf die Auswahl und Bewertung der Länder mit den besten Kosten auswirken.“ Erforderlich sind allerdings die Kenntnis und der zielgerichtete Einsatz von Erfolgskriterien, damit es nicht anstatt des Best Value Country Sourcing zum „Fiasko Sourcing“ kommt. Ein Märchen? Nein, oftmals Realität. Richtig angewendet ist Best Value Country Sourcing der Weg zum erfolgreichen „Sourcing“ – kein Märchen, sondern Realität (Grassl 2007). Neue Verkehrswege bieten neue Transportmöglichkeiten. Duisburg z. B. entwickelt sich zum Hub für die neue Seidenstraße mit dem Eisenbahnverkehr von China nach Duisburg. Der Containerverkehr ist noch nicht ausgeglichen. Für vier volle Container die in Duisburg ankommen wird nur ein beladener Container nach China transportiert sowie dann notwendigerweise drei Leergutcontainer.

13.3.3 Grüne Logistik „Grüne Logistik ist die ganzheitliche Transformation von Logistikstrategien, -strukturen, -prozessen und -systemen in Unternehmen und Unternehmensnetzwerken zur Schaffung umweltgerechter und ressourceneffizienter Logistikprozesse. Das Zielsystem der g­ rünen

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Logistik verfolgt, über ein Gleichgewicht von ökonomischer und ökologischer Effizienz, die Schaffung eines nachhaltigen Unternehmenswertes.“ (Cetinkaya 2011, S. 14). Für „grüne Logistik“ ist auch der Begriff „klimafreundliche Logistikdienstleistungen“ üblich. Das Thema nimmt in der Öffentlichkeit kontinuierlich Fahrt auf. Es schafft Wettbewerbsvorteile und wird als eines der wichtigsten Zukunftsthemen im Logistiksektor betrachtet. Kostensteigerungen, z. B. durch zusätzlichen Ankauf von CO2-Zertifikaten, können vermieden werden. Die „Transport Logistic“, die Internationale Fachmesse für Logistik, Mobilität, IT und Supply Chain Management, die 2011 in München stattfand, ist die weltweit größte Messe für den vielschichtig strukturierten Güterverkehr auf Straße, Schiene, Wasser und in der Luft. „Zwischen Ökogewissen und Ökonomiezwang – wie viel Grün kann (sich) die Logistik leisten?“ lautete das Thema der Auftaktveranstaltung am 10. Mai 2011. Bundesverkehrsminister Ramsauer eröffnete die Fachmesse mit einer Podiumsdiskussion über „Grüne Logistik“ mit Bahn-Chef Grube, dem Lufthansa Cargo-Vorstandsvorsitzenden Garnadt und weiteren Branchenexperten (www.transportlogistic.de). Grüne Logistik setzt Aufgeschlossenheit gegenüber neuen Formen der Zusammenarbeit voraus. Die Kette von der Rohstoffgewinnung bis zum Recycling ist in einer Art Umweltmanagement zu berücksichtigen. Dieses Thema betrifft auch kleine und mittlere Betriebe, nicht nur Großfirmen. Ein Praxisleitfaden „Grüne Logistik“ für klein- und mittelständischen Logistikbetriebe stellt eine Übersicht aller speziell für die Logistik relevanten Themenbereiche zur Verfügung. Die Logistikunternehmen erhalten geeignete Informationen für die Umsetzung konkreter Energiesparhinweise für ihre typischerweise energiebasierten Anwendungen (Hochschule Osnabrück 2011, S. 3 f.). Wie weit wird nachhaltige Logistik schon gelebt? In Ansätzen schon, wobei sie bei der Mehrheit der Unternehmen noch auf strategischer Ebene verharrt. Ein Grund hierfür könnte die Schwierigkeit des Messens des Erfolgs sein. Wie könnte die grüne Logistik erfolgreicher sein? Entsprechendes allgemein verbreitetes Bewusstsein zu diesem Thema reicht nicht, eine gewisse Bereitschaft, den Aufwand bzw. die Kosten zu tragen, ist ebenfalls erforderlich. Zumindest im deutschen Online-Handel zeigt die grüne Logistik noch viel Verbesserungspotenzial, denn sie wird dort offensichtlich schlichtweg nur sehr gering angewendet. Nachhaltige Versandlösungen spielen hier noch keine große Rolle (Internet World 2010, online): • Zwei Drittel der Händler (61 %) sind mit dem Thema noch nicht vertraut. • Jeder Fünfte (21 %) sieht in grüner Logistik keinen signifikanten Mehrwert. • Und nur acht Prozent der Händler haben ihr Online-Geschäft bereits an nachhaltige Logistik angepasst oder dies geplant. • Zehn Prozent beobachten die Entwicklung. Im März 2010 befragte forsa für Steria Mummert Consulting 100 Entscheider aus 68 der größten Konsumgüterherstellern und 32 der größten Einzelhändler in Deutschland zu ihren Strategien und konkreten Maßnahmen im Umwelt- und Klimaschutz. Hierbei

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zeigt sich, dass lediglich 32 % der befragten Personen bereit dafür sind, für eine grüne Logistik einen höheren Preis zu zahlen. Nicht zahlungsbereit sind hingegen 60 % der Teilnehmer. Acht Prozent machten keine Angaben. (Steria Mummert Consulting 2010, online). Dem Verlangen von Kunden nach grüner Logistik steht die fehlende Bereitschaft entgegen, dafür zu bezahlen. Das Ergebnis einer Befragung in Deutschland zur Zahlungsbereitschaft für umweltfreundliche Produkte 2017 zeigt den Anstieg der Personen von 2013 bis 2017, die bereit waren, für umweltfreundliche Produkte mehr zu zahlen von ca. 17,1 auf tatsächlich 22,2 Mio. (Statista 2018, online). So ermutigend Beispiele der Branchenführer sind, desto weiter erscheint der Weg zu einer breiten Anwendung der grünen Logistik mit der Erkenntnis, dass Ökonomie und Ökologie zusammengehören. Davon zeugen die Themen einiger Veranstaltungen wie: • „Grüne Branchenlogistik – Ein Oxymoron oder der Königsweg?“ • „Marketing der Grünen Logistik – Verkaufsförderung oder Mogelpackung?“ • „Zertifizierungen einer Grünen Logistik – Miteinander oder Durcheinander der Awards und Zertifikate?“

13.4 Zukünftige Anforderungen an Unternehmen und Konsumenten Unternehmen müssen Verantwortung nicht nur für ihren wirtschaftlichen Erfolg, sondern auch für die Umwelt und Gesellschaft übernehmen, weil der langfristige wirtschaftliche Erfolg nur von den Unternehmen erreicht wird, die sowohl die Interessen der Menschen wie auch die Anforderungen der Umwelt berücksichtigen, d. h. von Unternehmen, die nachhaltig agieren. Nachhaltig führen bedeutet für die Unternehmen, Ressourcen effizient und sparsam zu nutzen, Risiken zu erkennen und zu minimieren, auf sozial verantwortliche Art zu handeln und auf diese Weise das Ansehen des Unternehmens zu steigern. So streben beide, Mitarbeiter und Management, danach, ihre Errungenschaften und Ergebnisse zu verbessern. Verpackungen ermöglichen rationellere Logistikabläufe und verlängern die Haltbarkeit von Lebensmitteln. „Die vorgepackten Lebensmittel sind keine kostspielige Laune fortschrittssüchtiger Kaufleute. Sie sind eine, die ohnehin längst überfällige Handelsrationalisierung beschleunigende, Folge des eklatanten Personal- und Raummangels im Einzelhandel sowie des Konkurrenzfaktors Kundendienst.“ (Die Zeit 1955). Der mittlere Anteil der Kosten der Verkaufspackung am Verkaufspreis von verpackten Lebensmitteln wurde für Deutschland mit 5,9 % ermittelt. Einschließlich Transportpackungen ergibt sich ein Gesamtaufwand von etwa sieben Prozent (Buchner 1999, S. 29). Insgesamt gehen in Deutschland, wenn die gesamte Wertschöpfungskette bis hin zum Endverbraucher betrachtet wird, über 18 Mio. t Nahrungsmittel verloren. Dies entspricht fast einem Drittel des aktuellen Nahrungsmittelverbrauchs Deutschlands (54,5 Mio. t).

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Davon wären über die Hälfte vermeidbar, fast 10 Mio. t (u. a. Getreideerzeugnisse knapp 2 Mio. t, Obst und Gemüse mit jeweils ca. 1,5 Mio. t, Kartoffel und Milcherzeugnisse jeweils über 1 Mio. t). Unvermeidbar sind etwa 8 Mio. t (Atmungs-, Kühl-, Koch-, Säuberungs- und Schnittverluste, inklusive Knochen) (Noleppa und Cartburg 2015, ­ online). Sich über Verpackungen zu entrüsten ist die eine Seite. Andererseits werden Lebensmittel aus aller Welt nach Deutschland transportiert und anschließend von 54,5 Mio. Tonnen Lebensmitteln über 18 Mio. Tonnen weggeschmissen. Das passt zu dem Widerspruch von Umweltbewusstsein vs. Umweltaktivitäten. Eine neue Analyse stellt dar: Die jedes Jahr verschwendete Menge an Lebensmitteln wird weltweit bis 2030 um ein Drittel zunehmen, wenn 2,1 Mrd. Tonnen entweder verloren gehen oder weggeworfen werden, was 66 Tonnen pro Sekunde entspricht. Jedes Jahr gehen 1,6 Mrd. Tonnen Lebensmittel im Wert von etwa 1,2 Mrd. Dollar verloren – etwa ein Drittel der weltweit erzeugten Nahrungsmittel (Hengsholt et al. 2018, online). Weltweit gehen Lebensmittel zu folgende Anteilen in der Wertschöpfungskette ­verloren: • Bereits 32 % der Verluste auf dem Feld oder im Stall. • 46 % beim Lagern, in der Verarbeitung und im Handel. • Nur 22 % werden vom Konsumenten in der Mülltonne entsorgt. Der Konsument kann dies nicht alleine lösen, insbesondere die Unternehmen müssen umdenken. Die Verluste von Lebensmitteln sind auf allen Produktionsstufen zu verringern wie beispielsweise Transportverluste mittels durchgehender Kühlketten, optimierter Lagerung sowie schnellerer Verarbeitung, d. h. kürzerer Durchlaufzeiten (Hengsholt et al. 2018, online; Lieberich 2018, S. 23). Die Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO) schätzt, dass im Jahr 2016 rund 815 Mio. der 7,6 Mrd. Menschen in der Welt (10,7 %) an chronischer Unterernährung litten. Acht Prozent der weltweiten Treibhausgasemissionen entfallen auf Nahrungsmittelabfälle und -verluste (Ratcliffe 2018, online). Die gigantische Finanzierung von Produktionsstätten durch Unternehmen der fossilen Brennstoffindustrie wird die Kunststoffproduktion um 40 % erhöhen und damit die dauerhafte Verschmutzung der Erde gefährden. Der weltweite Plastikrausch, der den Ozeanen, Habitaten und Nahrungsketten bereits weitreichende Schäden zufügt, wird in den nächsten zehn Jahren dramatisch zunehmen, nachdem in eine neue Generation von Kunststoffwerken in den USA Multimilliarden Dollar investiert wurden. Zu den Unternehmen, die seit 2010 mehr als 180 Mrd. US-Dollar in neue Cracking-Anlagen investierten, gehören die Unternehmen der fossilen Brennstoffindustrie, die den Rohstoff für den alltäglichen Kunststoff von der Verpackung bis zu Flaschen, Einsätzen und Kartonagen produzieren (Taylor 2017, online). Die neuen Anlagen werden von Konzernen wie Exxon Mobile Chemical und Shell Chemical gebaut. Laut Experten wird dies zu einem 40 prozentigen Anstieg der Kunststoffproduktion im nächsten Jahrzehnt führen.

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Wissenschaftler warnen bereits vor „permanenter Verschmutzung der Erde“. „Etwa 99 % des Rohstoffs für Kunststoffe sind fossile Brennstoffe. Dies sind dieselben Unternehmen wie Exxon und Shell, die zur Entstehung der Klimakrise beigetragen haben. Zwischen Öl- und Gas- sowie Kunststoffunternehmen besteht eine tiefe und durchdringende Beziehung.“ Die Menge an Plastik, die in einem Jahr produziert wird, entspricht ungefähr dem gesamten Gewicht der Menschheit (Taylor 2017, online). Verpackungen ermöglichen rationellere Logistikabläufe für Unternehmen sowie mehr Annehmlichkeiten für die Verbraucher. Besonders der Umgang mit Lebensmitteln und deren Verpackung zeigt den Widerspruch zwischen Umweltbewusstsein und Umweltaktivitäten auf. Alle Beteiligten müssen ökologisch, ökonomisch und sozial verträglich mit Verpackungen sowie allen Ressourcen umgehen, gemäß der Reihenfolge der invertierten/ umgekehrten Pyramide des Abfallmanagements mit den 5R’s von Zero Waste (Zero Waste Switzerland 2018, online; Zerowastehome 2018, online; Su 2015, online). • Refuse (ablehnen): Nicht Beschaffen oder ablehnen was nicht gebraucht wird, z. B. Umverpackungen, Werbeprospekte und -geschenke; vermeiden von Spam Mail gehört auch dazu. • Reduce (reduzieren): Vermeiden von Anschaffungen, die nicht gebraucht werden wie Fehlkäufe. Lebensmittel nach Einkaufsliste beschaffen, abgelaufene Vorräte im Kühlschrank vermeiden. • Reuse (wiederverwenden und reparieren): Wiederverwendbare Produkte nutzen statt Einwegartikel, Mehrwegeverpackungen nutzen und Reparaturen an den Produkten veranlassen • Recycle (zur Wertstoffsammlung geben): Was weder abgelehnt, reduziert oder wiederverwendet werden kann, kann dem Recycling-Prozess zugefügt werden. In Bezug auf Lebensmittel ist es wichtig, auf recyclebare Verpackungsmaterialien zu achten. • Rot (kompostieren): Den Restabfall, beispielsweise Küchen- und Gartenabfälle, in ein möglichst lokales Kompostsystem geben. Damit entsteht Humus und es werden keine Abfälle herumgefahren. • Landfill (Deponie): Der nicht nach den 5R’s verwendbare Restmüll kann thermisch verwertet oder deponiert werden.

13.5 Fazit Die Hauptfunktionen der Verpackung wie Schutz, Konservierung, Wirtschaftlichkeit, Komfort/Zweckmäßigkeit und Präsentation/Darbietung sowie insbesondere bei Nahrungsmitteln die Lebensmittelsicherheit und Verlängerung der Haltbarkeit sind unbestritten. Der Verpackungsmüll ist sehr in den Fokus der öffentlichen Diskussion geraten. Verpackungen sind ein kurzlebiges Gut. Entscheidend ist nicht die Verpackung selbst, sondern die Behandlung der Verpackung in einer nachhaltigen Logistikkette:

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Reduzieren, wiederverwenden und recyceln. Aus Gründen der Nachhaltigkeit, der Wirtschaftlichkeit, der Gesellschaft und der Umwelt ist es wichtig, dass die Unternehmen ihre Aufmerksamkeit auf die Reduzierung aller Arten des Verbrauchs von Ressourcen richten. Verpackungen machen durchschnittlich bis zu zwei Prozent und bei Lebensmitteln bis etwa sechs Prozent der Produktkosten aus. Entscheidend ist eine umweltgerechte Denkhaltung. Der Umgang mit der Verpackung ist ein Einstieg in diese Denkweise, die für den ressourcenschonenden Verbrauch der weiteren 94 bis 98 % der Güter unbedingt erforderlich ist. Die nachhaltige Beschaffung leistet dazu einen Beitrag. Alle Beteiligten, sowohl Unternehmen als auch alle Konsumenten, müssen sich vom Umweltbewusstsein hin zu konkreten Umweltaktivitäten weiterentwickeln.

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S. Schmidt Stefan Schmidt Dipl.-Ing. Feinwerktechnik und Dipl.-Ing. Wirtschaftsingenieur Stefan Schmidt ist seit 1984 in der Automobilindustrie mit den Schwerpunkten Industrieplanung, Logistik, Strategie, Facility Management und Total Productive Maintenance, Life Cycle Costing in F&E, Lean-, Change- und Qualitätsmanagement tätig. Vorher war er als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Technischen Universität Dortmund im Sonderforschungsbereich Materialfußsysteme Stückgut beschäftigt, nachdem er in Japan und den USA Arbeitserfahrung gesammelt hatte. Darüber hinaus übernimmt Stefan Schmidt Lehraufträge und Gastvorlesungen an Universitäten und Fachhochschulen sowie Trainings am Zentrum für Technologische Zusammenarbeit und der IHK München, ist in Verbänden tätig, Autor zahlreicher Artikel in Fachzeitschriften und Zeitungen, Referent, Fachsitzungsleiter und Mitglied der Programmkomitees auf internationalen Konferenzen. Stefan Schmidt ist Mitglied im VDI Fachausschuss 201 „Ganzheitliche Produktionssysteme der VDI-Gesellschaft Produktion und Logistik“ sowie Herausgeber der Bücher „Management der Produktionseinrichtungen (TPM)“ und „Kaizen für schnelles Umrüsten“.

Nachhaltige Beschaffung in der Schwäbisch Hall-Gruppe: „Vermeiden – Reduzieren – Kompensieren“ – aus dem Führungsalltag im Einkauf eines Finanzdienstleisters

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Daniela Apel

Zusammenfassung

Die Bausparkasse Schwäbisch Hall AG versteht als Finanzdienstleister unter Nachhaltigkeit mehr als nur das eigene, nachhaltige Geschäftsmodell, wie es das Bausparen in seinen grundsätzlichen Wesenszügen seit Jahrzehnten ist. Als Finanzinstitut und Arbeitgeber wählt die Schwäbisch Hall-Gruppe (Zur Schwäbisch Hall-Gruppe gehören die Bausparkasse Schwäbisch Hall AG (hier auch „Bausparkasse “ genannt), die Schwäbisch Hall Kreditservice GmbH, die Schwäbisch Hall Training GmbH und die Schwäbisch Hall Facility Management GmbH und deren Tochterunternehmen. Die Schwäbisch Hall Gruppe ist selbst ein Teil der DZ BANK Gruppe, mit dem Spitzeninstitut DZ BANK AG, Sitz Frankfurt, und Teil der Genossenschaftlichen Finanzgruppe) einen ganzheitlichen Nachhaltigkeitsansatz, der auch eine nachhaltige Beschaffung der externen Güter und Dienstleistungen beinhaltet, um die gesellschaftlichen Erwartungen zu erfüllen. Der anwendungsorientierte Beitrag konzentriert sich zunächst auf systematische Vorgehensweisen und standardisierte Dokumente als Erfolgsfaktoren zur Umsetzung der Nachhaltigkeitsanforderungen speziell im Beschaffungsprozess und Lieferantenmanagement, nachdem diese in die unternehmerische Gesamtverantwortung eingeordnet worden sind. Ergänzt wird dies durch die Darstellung der wesentlichen fachlichen und personellen Führungsaufgaben im Einkauf. An Beispielen werden die allgemeinen Herausforderungen im Führungsalltag und in den beschaffungsbezogenen Entscheidungssituationen aufgezeigt und reflektiert.

D. Apel ()  E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 W. Wellbrock und D. Ludin (Hrsg.), Nachhaltiges Beschaffungsmanagement, https://doi.org/10.1007/978-3-658-25188-8_14

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14.1 Nachhaltigkeit in der Schwäbisch Hall-Gruppe Unstrittig soll jedes Unternehmen einen Beitrag zur Nachhaltigkeit leisten. Dabei betreffen die UN-Nachhaltigkeitsziele (Vereinte Nationen 2015, online) mehr als den Schutz der natürlichen Ressourcen und natürlichen Lebensgrundlagen sowie nachhaltige Produktions- und Konsumweisen. Dieser gesellschaftlichen Erwartung stellt sich die Bausparkasse Schwäbisch Hall AG und die gesamte Schwäbisch Hall-Gruppe in vielfältiger Form (Bausparkasse Schwäbisch Hall AG 2018f, online). In erster Linie wird unter dem Fokus Nachhaltigkeit das Geschäftsmodell eines Finanzinstituts, also nachhaltige Finanzierungen anderer Wirtschaftsobjekte, globaler Projekte, privater Investitionsgüter oder „grüne“ Fonds, durchleuchtet (Rat für Nachhaltige Entwicklung 2018, online). Diese Bewertungen werden sowohl aus Sicht der Bausparkasse Schwäbisch Hall AG als auch durch externe Bewertungen/Ratings (Bausparkasse Schwäbisch Hall AG 2018e, online) mit dem Geschäftsmodell der Bausparkasse, einem regional verankerten und im Finanzmarkt für Bauen und Wohnen etablierten Unternehmen, erfüllt. Die Heimatexperten von Schwäbisch Hall bieten eine sichere Grundlage für eine solide Baufinanzierung an, unabhängig davon, ob es sich um Neubau, Kauf oder Modernisierung handelt. Die Hilfe zur Selbsthilfe beim Bausparen zählt zudem zum Kern des genossenschaftlichen Selbstverständnisses (BVR 2018, online). Das nachhaltige Geschäftsmodell der Bausparkasse wurde aus Produktsicht kurz vorgestellt und bestätigt. In der Öffentlichkeit weniger direkte Beachtung findet, dass ein Finanzinstitut selbst ein physisches Objekt mit Bürofläche und Mitarbeitern1 ist und in Interaktion mit dem direkten oder weiter entfernt liegenden Umfeld tritt. Somit sollten weitere globale Nachhaltigkeitsanforderungen, wie z. B. die Tiefe der Wertschöpfungskette, die Inanspruchnahme natürlicher Ressourcen oder die klimarelevanten Emissionen anhand des Nachhaltigkeitscodex (Rat für Nachhaltige Entwicklung 2017, online), als Messlatte zur Erfüllung eines mit Zielen hinterlegten Nachhaltigkeitsanspruchs dienen. Ebenso gilt es hinzuschauen, ob in einer Unternehmensgruppe, wie der Schwäbisch Hall, Dienstleistungen und Produkte für den sogenannten Eigenbetrieb oder dem Drittmarkt angeboten werden, denen wiederum Beschaffungsvorgänge zugrunde liegen und das Finanzinstitut oder dessen Tochterunternehmen in den Status eines sogenannten Inverkehrbringers (ProdHaftG, § 4, Absatz 1, Definition Hersteller) versetzen. Dazu zählen Werbegeschenke oder Werbemittel sowie die Nutzung des Betriebsrestaurants durch Gäste oder das Catering bei Firmenveranstaltungen im regionalen Umfeld (Schwäbisch Hall Facility Management GmbH 2018, online).

1Mit

der Bezeichnung Mitarbeiter sind im Beitrag aufgrund der Lesbarkeit stets sowohl Mitarbeiterinnen als auch Mitarbeiter gemeint. Diese Anmerkung bezieht sich auf alle geschlechtsspezifischen Bezeichnungen.

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Den Schwerpunkt der aktuellen Nachhaltigkeitsziele bildet die von der DZ BANK Gruppe, zu der die Schwäbisch Hall-Gruppe gehört (DZ BANK 2018, online), verabschiedete Klimastrategie 2017 (Bausparkasse Schwäbisch Hall AG 2018d, online): „Minus 80 Prozent CO2 bis 2050“ auf Basis der Emissionswerte von 2009, statt 1990 (BMUB 2016, online). Dabei steht für dieses ambitionierte Ziel jedes Einzelunternehmen in der eigenen Verantwortung. Alle Maßnahmen werden jedoch in der Gruppe koordiniert. Zur Erreichung der Nachhaltigkeitsziele liegt der Schwerpunkt zunächst auf den Nachhaltigkeitsthemen, die direkt beeinflusst werden können. Zu nennen sind Energie, Mobilität, Beschaffung, Produkte, Personal (Verhalten), Abfallaufkommen, Wasserverbrauch und Organisation. Dabei kommt der Vermeidung oder Verringerung von Emissionen sowohl bei der Finanzierung insbesondere von Neubauten als auch dem eigenen CO2 -Fußabdruck eine besondere Bedeutung zu (Bausparkasse Schwäbisch Hall AG 2018d, online). Der für die Bausparkasse ganzheitliche Nachhaltigkeitsansatz (Bausparkasse Schwäbisch Hall AG 2018d, online) kann dabei wie folgt zusammengefasst werden: • Nachhaltige Produkte – Nachhaltigkeitscharakter des Bausparens, energieeffizientes Wohneigentum als Hebel zum Klimaschutz • Nachhaltiger Bankbetrieb – Ökoeffizienz, Lieferantenstandards, klimaneutrale Investitionen und Anlagen, klimaneutrale Bewirtschaftung • Ethik und Gesellschaft – Unternehmensführung/Compliance, Dialog mit den Stakeholdern, CSR-Aktivitäten und Stiftungen • Nachhaltigkeits-Kommitment – Reporting, Rating, Statements und Nachhaltigkeitsstrategie der DZ BANK Gruppe Die Bausparkasse Schwäbisch Hall AG versteht unter Nachhaltigkeit mehr als nur ein nachhaltiges Geschäftsmodell. Alle Ziele und Maßnahmen werden seit 2013 im jährlichen Nachhaltigkeitsbericht der Bausparkasse Schwäbisch Hall AG veröffentlicht und sind Teil der Maßnahmen zur Nachhaltigkeit der gesamten DZ BANK Gruppe. Die in der Aufzählung zum Nachhaltigkeitsansatz der Bausparkasse hervorgehobenen Punkte werden im Kap. 2 näher erläutert.

14.2 Nachhaltige Beschaffung in der Schwäbisch Hall-Gruppe Auf der Grundlage des konsolidierten Nachhaltigkeitsansatzes der Bausparkasse unterstützt der Einkauf direkt oder indirekt mit seinem funktionalen oder kennzahlenbasierten Beitrag die Erreichung der gesetzten Nachhaltigkeitsziele. Im Wesentlichen bezieht er sich dabei auf folgende Gebiete: • Nachhaltiger Bankbetrieb • Ethik und Gesellschaft • Nachhaltigkeits-Kommittent

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Nachfolgend werden Vorgehensweisen und Dokumente entlang der im Nachhaltigkeitsansatz gewählten Reihenfolge detailliert vorgestellt, ohne dabei tatsächliche Beschaffungsvorgänge zu beleuchten: • Lieferantenstandards In der DZ BANK Gruppe werden seit 2013 einheitliche Dokumente bei der Lieferantenauswahl im konkreten Beschaffungsvorgang oder als Baustein im Lieferantenmanagement eingesetzt, sodass alle Lieferanten grundsätzlich vergleichbare Auskünfte geben und Anforderungen erfüllen müssen. Damit stellen die Einkaufseinheiten dieselben Lieferantenstandards sicher. Mit dem sogenannten Lieferantenfragebogen (= Selbstauskunft) beantwortet der Lieferant Fragen zur ökonomischen, ökologischen und sozialen Verantwortung des eigenen Unternehmens. Die spätestens im Zuge einer Vertragsschließung gegenzuzeichnenden Nachhaltigkeitsanforderungen für Lieferanten der Schwäbisch Hall-Gruppe (Bausparkasse Schwäbisch Hall AG 2018c, online) orientieren sich u. a. an den darin genannten Prinzipien des UN Global Compact aus den Bereichen Menschenrechte, Arbeitsnormen, Umweltschutz und Korruptionsbekämpfung, der vom Bundesverband Materialwirtschaft, Einkauf und Logistik e.  V. (BME) verabschiedeten BME-­ Verhaltensrichtlinie „Code of Conduct“ und den einschlägigen Konventionen der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO). Ebenso finden darin die Anforderungen aus dem Nationalen Aktionsplan Wirtschaft und Menschenrechte Berücksichtigung. • Klimaneutrale Bewirtschaftung Die klimaneutrale Bewirtschaftung wird durch die Mitarbeiter im Einkauf direkt unterstützt, indem möglichst energie- und ressourcensparend agiert wird, ob bei der Lichtnutzung, der Anzahl Papierausdrucke, beim Lüften oder Heizen, der Optimierung der Dienstreisen oder der Nutzung der öffentlichen Verkehrsmittel in Schwäbisch Hall. Daneben steht die Regionalität, die auch unter „Mehrwert für die Region“ zusammengefasst werden kann, im Mittelpunkt. Bei der Wahl von Dienstleistungen und Lieferanten legt die Bausparkasse großen Wert auf regionale Anbieter. Mindestens 50 % des Nahrungsmittelbedarfs werden mit Produkten aus dem Umland gedeckt. So werden Fleisch- und Wurstwaren von regionalen Metzgern geliefert, Käse und Schafsjoghurt stammen aus einer Dorfkäserei, fertige Salate von einem ansässigen Gasthof und die Eier aus dem nahe gelegenen Murrhardt (Bausparkasse Schwäbisch Hall AG 2018d, online). • Compliance Zu den relevanten Nachhaltigkeitsanforderungen zählen auch alle Maßnahmen insbesondere zur Vermeidung von Korruption (Bausparkasse Schwäbisch Hall AG 2018a, online). Daher wird dies nicht nur allgemein vom Lieferanten mit den Lieferantenstandards erwartet und gefordert, sondern ist wesentlicher Bestandteil des Compliance-Systems der Bausparkasse (Bausparkasse Schwäbisch Hall AG 2018b, online). Neben der grundsätzlichen Geschäftspartner-Prüfung wird durch den Einkauf

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die volumenabhängige Compliance-Prüfung pro Beschaffungsvorgang anhand der Vorgaben und der in einer einkaufsinternen Arbeitsanweisung festgelegten Kriterien vor Vertragsschluss in einem standardisierten Vorgehen mit dem Fachbereich und der Compliance-Abteilung durchgeführt und darüber berichtet (Bausparkasse Schwäbisch Hall AG 2018d, online). • Reporting/Rating Die Bausparkasse veröffentlicht seit 2013 ihre Grundsätze, Erfolge und Maßnahmen zum Erreichen der Nachhaltigkeitsziele und lässt diese regelmäßig extern durch Nachhaltigkeits-Ratings überprüfen; seit diesem Jahr auch in Erfüllung der Berichterstattung zu nicht-finanziellen Leistungen (Deutscher Bundestag 2017, online). Die Ergebnisse für die Schwäbisch Hall-Gruppe (Bausparkasse Schwäbisch Hall AG 2018e, online) dienen – neben Benchmark und Reputation – ebenso finanziellen Aspekten wie der Refinanzierung der DZ BANK Gruppe. So testiert die Rating-Agentur ISS oekom der Bausparkasse in 2018 zum wiederholten Mal die Einstufung „Prime/C+“ und hebt das überdurchschnittliche Engagement in Sachen Umwelt und Soziales hervor. Transparenz wird durch interne und externe Veröffentlichungen erzeugt. Den Schwerpunkt bildet dabei der jährliche Nachhaltigkeitsbericht ergänzt um die Angaben auf der Homepage des Unternehmens. In der Bausparkasse Schwäbisch Hall AG wird ein ganzheitlicher Ansatz auch bei der nachhaltigen Beschaffung gewählt. Die gemeinsamen Vorgehensweisen und Dokumente werden in der DZ BANK Gruppe eingesetzt, regelmäßig auf Aktualität überprüft und bedarfsbezogen um weitere Aspekte ergänzt. Diesem Punkt wird Kap. 3 gewidmet.

14.3 Gemeinsame Nachhaltige Beschaffung in der DZ BANK Gruppe Bereits seit 2010 bündeln die Einkaufsorganisationen der Unternehmen der DZ BANK Gruppe ihre Nachhaltigkeitsaktivitäten. Im Auftrag der jeweiligen Einkaufsleitung wurde eine gemeinsame Leitlinie im Arbeitskreis Nachhaltigkeit erarbeitet und im Frühjahr 2018 verabschiedet, die nachfolgend mit den im Kontext des Beitrags stehenden Punkten vorgestellt wird. Die in der Leitlinie systematisch beschriebenen Anforderungen an die einzelnen Unternehmen und deren Einkaufsorganisationen stehen als Grundprinzipien für ein klimaneutrales und soziales Wirtschaften und sind für die Führungsarbeit im Einkauf so bedeutend, dass das operative Prinzip „Vermeiden – Reduzieren – Kompensieren“ als Überschrift für diesen Beitrag dient. So entspricht es der Leitlinie, wenn nachhaltige, zertifizierte Produkte und Dienstleistungen auch bei geringen Mehrkosten beschafft werden. Entscheidungskriterien für den einzelnen Beschaffungsvorgang sind beispielhaft definiert, wie Langlebigkeit von Produkten oder der Energieverbrauch bei Herstellung

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und Dauerbetrieb, biologisch abbaubare Materialien und die Regionalität durch kurze Wege und der Förderung des sozialen Umfelds. Die Leitlinie bietet zudem als Einschätzung der Einkaufstrukturen ein mehrstufiges, aufeinander aufbauendes Reifegradmodell an, um den aktuellen Stand der Organisation zu klassifizieren und das weiterführende Entwicklungspotenzial für das Nachhaltigkeitsmanagement und die Einkaufsorganisation abzulesen – je nach Ausrichtung der Nachhaltigkeitsziele des Unternehmens. Folgende Aspekte werden dabei berücksichtigt: • Einhaltung gesetzlicher Vorgaben (u. a. Mindestlohn, ILO Kernarbeitsnormen) durch die Lieferanten • Der Einsatz diverser Standards und Werkzeuge (u. a. Selbstauskunft des Lieferanten) im Beschaffungsprozess und Lieferantenmanagement • Die Qualifizierung der Mitarbeiter „rund um die Nachhaltigkeit“ • Führen von Lieferantengesprächen zur Nachhaltigkeit und das Nachhalten vereinbarter Maßnahmen • Zertifizierung des Nachhaltigkeits-/Umweltmanagements inkl. Einkauf Nach der Einführung der Leitlinie 2018 erfolgt derzeit die Aktualisierung und Erweiterung des „Werkzeugkastens“ (u. a. digitale Bewertungsverfahren, Checklisten/Dokumente) sowie die Entwicklung zielgruppengerechter Schulungs- und Trainingsmaterialien für Einkäufer und perspektivisch auch für die Mitarbeiter aller anderen Fachbereiche. Die bereits in Kap. 2 dargestellten systematischen Vorgehensweisen – unterstützt durch spezielle Checklisten und Dokumente – und die in diesem Kapitel ergänzenden Ausführungen erfüllen mehrheitlich die sich im gesellschaftlichen Konsens befindlichen Nachhaltigkeitsanforderungen. Sie lassen dabei noch nicht abschließend explizite Ableitungen für aktuelle und zukünftige Akteure im Beschaffungsprozess und für ein optimales Lieferantenmanagement zu. Diese Lücke wird durch die in Kap. 4 stehenden Ausführungen zu den wesentlichen Führungsaufgaben im Einkauf geschlossen.

14.4 Der Führungsalltag im Einkauf der Bausparkasse Nach den grundlegenden Erläuterungen, was in der Schwäbisch Hall-Gruppe unter Nachhaltigkeit verstanden und im Zuge der Beschaffung grundsätzlich getan wird, soll nun der Fokus auf die tägliche Umsetzung „der Nachhaltigkeit“ im Einkauf gelenkt werden. Dabei werden vordergründig die wesentlichen Führungsaufgaben als Erfolgshebel im Allgemeinen und für den Einkauf der Bausparkasse im Speziellen beleuchtet. Das beginnt mit der organisatorischen Aufstellung des Einkaufs, benennt die Herausforderungen bei der Lieferantenauswahl und im Lieferantenmanagement sowie praxiserprobte Erfolgshebel und hebt in Summe mit der Zusammenfassung der organisatorischen und strukturellen Führungsaufgaben die Bedeutung der Führung hervor.

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14.4.1 Führungsverantwortung im Einkauf der Bausparkasse Schwäbisch Hall AG Der in der Bausparkasse zentral organisierte Einkauf für die Schwäbisch Hall-Gruppe verantwortet seit Jahren ein breites Aufgabenspektrum. Zusammengefasst sind das die Einkaufsgebiete IT und Dienstleistungen, Bau/Technik/Fuhrpark und der Allgemeine Einkauf inkl. Food und Travelmanagement. Bereits seit 2013 organisiert der Einkauf systematisch und erfolgreich die sogenannte Nachhaltigkeit bei der Lieferantenauswahl und im Lieferantenmanagement der weit über 1000 Lieferanten. Dazu zählen insbesondere Themen rund um das Gebäude- und Energiemanagement, der Papierverbrauch und die Gemeinschaftsverpflegung. Die Mitarbeiter des Einkaufs übernehmen eine entscheidende Rolle bei der Beschaffung externer Güter und Dienstleistungen für die Bausparkasse Schwäbisch Hall über den gesamten Beschaffungsprozess und im Lieferantenmanagement, wobei die finale Entscheidung zur Zusammenarbeit mit einem Lieferanten und die Budgethoheit mehrheitlich beim Kunden, dem budgetverantwortlichen Fachbereich, liegt. Jeder einzelne Einkäufer hat dabei zusätzlich mind. eine (bereichs-)übergreifende Fachfunktion mit direkter Prozess- und Themenverantwortung oder ist der Vertreter. So ist z. B. eine Person etabliert, die die strategische und operative Qualitätssicherung betreut, eine andere Person fungiert als Experte für Nachhaltigkeit und verantwortet dabei „die einkaufsbezogenen strategischen Nachhaltigkeitsthemen“ sowohl in der Schwäbisch Hall-Gruppe als auch als Mitglied im Arbeitskreis Nachhaltigkeit der Einkaufsorganisationen in der DZ BANK Gruppe. Zusätzlich erfolgt eine enge Zusammenarbeit mit dem Nachhaltigkeitsbeauftragten der Bausparkasse. Nun könnte erwartet werden, dass bei klarer Strategie und Zielsetzung, bei beschriebenen Nachhaltigkeitsanforderungen, nach der Schaffung geeigneter Arbeitsstrukturen, bei qualifiziertem Personal und eingeführten Standarddokumenten nur noch eine konsequente Umsetzung erfolgen muss. Die Erfahrung zeigt, dass dies bei weitem nicht so ist. Das Grundverständnis, nachhaltige Produkte auch bei geringen Mehrkosten bevorzugt zu beschaffen, wie es in der Leitlinie beschrieben ist (siehe Kap. 3), umreißt deutlich, worin bereits heute die Herausforderungen bestehen können. Das wird verschärft, wenn nicht unbegrenzt Budgetmittel zur Verfügung stehen. Zusätzlich ist eine gestiegene allgemeine Erwartungshaltung des Umfelds zu spüren, immer nachhaltiger agieren zu ­müssen. Das bedeutet, dass die Unsicherheit beim Einzelnen wachsen kann, tatsächlich „richtig“ aus Sicht des Unternehmens, der Kunden und der Mitarbeiter sowie der Lieferanten zu handeln. In jeder konkreten Entscheidungssituation treten demnach – wie im ­Privatleben – sogenannte Dilemmata auf, die – anders als im Privatleben – mit mehr Akteuren und i. d. R. größerem Wirkungskreis gemanagt werden müssen. Angenommen

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wird, dass zukünftig zur Erreichung der Nachhaltigkeitsziele das bewusste Managen offensichtlicher Widersprüche und Unsicherheiten im konkreten unternehmerischen Umfeld stärker als bisher den Alltag einer Führungskraft prägen wird. Hier müssen die Führungskräfte direkt die ihnen zugesprochene Führungsverantwortung im Einkauf übernehmen. Nachstehend werden wesentliche fachliche und personelle Punkte des Führungsalltags hervorgehoben.

14.4.2 Fachliche Aspekte der Führung Es geht im Wesentlichen darum, lösungsorientiert die Nachhaltigkeit als Entscheidungsund Bewertungskriterium im Beschaffungsprozess fest zu verankern. Der Fokus liegt zunächst auf den fachbezogenen Regelungspunkten, die direkt beeinflusst werden können und Ansatzpunkte zur Optimierung des Lieferantenmanagements – auf der Basis geeigneter Warengruppen- und Nutzungsstrategien – darstellen. Da sind exemplarisch folgende Entscheidungsoptionen für „die Nachhaltigkeit“ zu sehen, die als Maßstab für die Ernsthaftigkeit, nachhaltig agieren zu wollen, sowie zur Bewertung der Wirtschaftlichkeit gelten können: • Strategisch ausgewählte Warengruppen vs. alle Warengruppen • Relevante Lieferanten vs. alle Lieferanten • Regionaler Anbieter = im Umkreis 50 km, in der Metropolregion oder im eigenen Bundesland • Direkter Lieferant vs. gesamte Lieferantenkette • Unterschrift UN Global Compact und Selbstauskunft durch Lieferanten vs. regelmäßiges Audit vor Ort • Leuchtturmaktionen/Zertifikatskauf zur Kompensation/Siegelgläubigkeit vs. kontinuierliches Vorgehen • Qualifizierung oder Auslistung des Lieferanten bei Verstößen/Nichterfüllen von Kriterien: Alternative Lieferanten vorhanden vs. mögliche Monopolstellung/Pfadabhängigkeit (Technologie, Herstellerbindung etc.) • Suffizienz (grundsätzlich geringer Rohstoff-/Energieverbrauch bis Konsumverzicht): nur bei fossilen Brennstoffen, Gefahrstoffen/Umweltgiften oder ausreichender Einsatz nachhaltiger Ressourcen Anhand der aufgezeigten Optionen wird deutlich, dass es sich operativ im einzelnen Beschaffungsvorgang nicht um ein „Entweder/Oder“ handeln kann. Wichtig wird dadurch die strategische Ausrichtung. So haben z. B. in der Schwäbisch Hall-Gruppe im Food-Bereich nicht nur alle Lieferanten die Formalitäten (siehe Kap. 2) zu erfüllen, sondern müssen produktspezifische Zertifikate nachweisen. Zudem werden sukzessive Besichtigungen durch Einkäufer vor Ort durchgeführt.

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Je nachdem, wie sich ein Unternehmen mit seinem individuellen Geschäftsmodell und der geografischen Verortung entscheidet, wird es den Erfolg der Nachhaltigkeit mit der bewussten Steuerung der Maßnahmen aus Eigeninteresse und Erwartungshaltung der Kunden und weiterer Stakeholder nachhaltig beeinflussen. Für die Mitarbeiter im Einkauf bedeutet das, klar zu wissen, worin sie pro Beschaffungsvorgang das eigene Unternehmen in Sachen Nachhaltigkeit unterstützen.

14.4.3 Personelle Aspekte der Führung Wurde vorstehend eine wachsende Unsicherheit genannt, „richtig“ in Sachen Nachhaltigkeit zu handeln, so kann für den Einzelnen im Einkauf zusätzlich das Gefühl entstehen, sich mit „dem Richtigen“ im Unternehmen nicht konsequent durchsetzen zu können. Entweder haben zu viele Themen über die gesamte Lieferkette hinweg gegenseitig eine nicht beherrschbare Wechselwirkung oder manche Folgen sind schlichtweg nicht (sofort) erkennbar oder überhaupt nicht erfassbar. Zudem gibt es noch immer Abhängigkeiten und konkurrierende Ziele, wenn der Verzicht auf einen Lieferanten mit Marktmacht das eigene Geschäftsmodell schwächt oder das derzeitige Budget allein als finales Entscheidungskriterium herangezogen wird. Das Dilemma wird noch deutlicher, wenn sogar die gemeinsame Leitlinie (siehe Kap. 3) nur von der Bevorzugung nachhaltiger und zertifizierter Produkte und Dienstleistungen bei geringen Mehrkosten spricht. Nach der Schaffung geeigneter Arbeitsstrukturen und einer strategischen Einordnung der Beschaffung ist neben den dazugehörigen Entscheidungsspielräumen für den einzelnen Einkäufer ein transparentes Rollen- und Kompetenzprofil zur Befähigung der Mitarbeiter eine wichtige Voraussetzung. Folgende Kompetenzen und Fähigkeiten der Einkäufer werden daher im Kontext Nachhaltigkeit – sowohl für Mitarbeiter als auch für Führungskräfte – für besonders wichtig angesehen: • Ganzheitliches Faktenwissen zur Nachhaltigkeit auf- und ausbauen sowie stets aktuell halten • Stabile Grundüberzeugung (kein Dogma), selbst Vorbild sein; idealerweise mehr als nur die gesetzlichen Mindestanforderungen einfordern und erfüllen wollen • Zusammenhänge verstehen wollen und verdeckte Kosten aufdecken können • Pfadabhängigkeiten erkennen sowie Zielkonflikte und Widersprüche managen; Wirkungsgrad aller Instrumente ermitteln und erhöhen; Routinen hinterfragen • Gestaltungswille zeigen; Mut und Beharrlichkeit mitbringen • Vernetzt arbeiten können: Mitstreiter suchen und Netzwerk ausbauen und pflegen • Für technische und sonstige intelligente Lösungen offen sein und ausprobieren • Gewohnheiten, Verdrängung, Bequemlichkeit, das (vermeintliche) Nicht-BetroffenSein in Bezug auf Nachhaltigkeit ansprechen können

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• Andere überzeugen (keine Belehrung) und zum Handeln befähigen können; wo es sein muss, klare Ansagen tätigen und direkte Entscheidungen treffen und für die Umsetzung sorgen; Ergebnisse nachhalten Der Umfang und die jeweils geforderten Ausprägungen (i.S.v. Kennen – Können – Beherrschen) sind abhängig von der individuellen Aufgabenstellung und der konkreten Beschaffungssituation zu sehen und in der Aufzählung nicht enthalten.

14.4.4 Leitfragen im Beratungs- und Steuerungsansatz des Einkaufs Die bisher beschriebenen Herausforderungen und genannten Kompetenzen leiten zur Fragestellung über, welcher Beratungs- und Steuerungsansatz im konkreten Beschaffungsprozess und Lieferantenmanagement durch den Einkäufer zu wählen und wie das in einer Beschaffungsstrategie nachhaltig zu verankern ist. Nachstehende Beispiele aus dem Büroalltag sollen zunächst konkreter die in diesem Kapitel bisher allgemein aufgezeigten Entscheidungsoptionen in Richtung Bedarf bzw. Erfordernis als Reaktion auf veränderte Verhaltensweisen exemplarisch veranschaulichen: • Schutz des Produkts durch Folien-Umverpackung (z. B. bei belegten Brötchen zur Einhaltung der Hygienevorschriften), • Einweggeschirr aus Bambus, • Lieferungen von Kleinstmengen an Büromaterial etc. Daraus können Leitfragen zur Orientierung – angefangen von der Beschaffungsstrategie, über die Jahresziele und Aufgaben bis zum einzelnen Beschaffungsvorgang – abgeleitet werden. Dabei wird das Grundprinzip der Leitlinie „Vermeiden – Reduzieren – Kompensieren“ wieder aufgegriffen: • Vermeiden: Was kann (wann) vermieden werden? • Reduzieren: Ressourcenschonung/Reduktion von…? Ersatz von… für geringeren, dauerhaften Verbrauch von…., Abgleich Qualität, Nachkaufoptionen, Wiederverwertbarkeit, Zweitnutzung, Recycling (Kreislaufwirtschaft) etc. Produktion in Deutschland oder in einem Umkreis von X km, ohne „Germany first“, sondern Berücksichtigung Öko-Bilanz (Transport/Verpackung)? Einbringen Marktrecherche, kaufmännische Absprachen? • Ersetzen: Gibt es nachhaltigere Ersatzprodukte? Regionalität, ohne nachhaltige Lieferanten in Abhängigkeit zu bringen? Auf der einen Seite: Ist nachhaltig immer teurer? Auf der anderen Seite: Ist nachhaltig immer besser oder sollte nicht der Verzicht gewählt werden? Ist alles, was technisch machbar ist, derzeit auch wirtschaftlich; ist eine Beteiligung an der Weiterentwicklung von Produkten etc. sinnvoll? • Kompensieren: Wie gleicht das Unternehmen… aus? Oder erbringt das der Lieferant?

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In der Aufzählung wurde aufgrund der darin enthaltenen zielführenden Fragestellung „Ersetzen“ ergänzend zur Leitlinie aufgeführt. Für eine Überprüfung und Reflexionen des Bedarfs bieten sich produktbezogene Beispiele an: • • • • • • • • •

Verzicht auf Permanent-Marker bei Flipchartnutzung Reduktion Grammatur bei Kopierpapier Ersatz großvolumiger A4-Sichthüllen (Weichmacher) Wiedereinführung Refill bei Flipchartmarkern Rückgabeaktion für Schreibgeräte etc. durch Lieferant Wasser- und Energieverbrauch und Recycling-Papier vs. FSC-Papier Produktion in D/Europa vs. Asien (Transportwege) Umweltfreundlichere Reinigungsmittel „GOGREEN“ der Deutschen Post AG (Deutsche Post AG 2018, online)

Viele der genannten Punkte sind bereits im Alltag der Bausparkasse umgesetzt worden. Jedoch zeigt sich, dass immer wieder daran gedacht werden muss – ob nun im einzelnen Beschaffungsvorgang oder im Lieferantengespräch – und dabei auch die Lieferanten eine Mitverantwortung tragen. Es kann festgehalten werden, dass, je mehr sich der Lieferant selbst für die Nachhaltigkeit einbringt, umso mehr sich auch dessen Unternehmensvertreter um die Beachtung der relevanten Themen sorgen und auch unaufgefordert über entsprechende Neuerungen informieren.

14.4.5 Zusammenfassung der wesentlichen Führungsaufgaben Ziel ist die Verstetigung des nachhaltigen Wirtschaftens bereits im Beschaffungsprozess und später im Lieferantenmanagement. Dafür müssen die Mitarbeiter im Einkauf ausreichend befähigt sein. Zu Beginn können kleine Schritte und Pilotprojekte genutzt werden, um z. B. wesentliche Hinweise für eine Übertragung auf andere Warengruppen zu erhalten. Weiterhin muss über Ergebnisse und Erfahrungen berichtet werden, z. B. in Mitarbeiterzeitschriften. Neue Ideen zum Beschaffungsmanagement sollten unterstützt und Erfahrungen aus anderen Branchen zugänglich gemacht werden (z. B. Austausch mit Hochschulen oder mit Unternehmen der Region). Die Führungsaufgaben zur Nachhaltigkeit können auf der Grundlage der bisherigen Ausführungen wie nachfolgend zusammengefasst werden. Es ist für passende Rahmenbedingungen und ein geeignetes Schnittstellenmanagement zu sorgen, was im Einzelnen Folgendes bedeutet: • Gemäß der strategischen Positionierung geeignete Arbeitsstrukturen zu schaffen und Arbeitsmittel (Standards, Checklisten etc.) zur Verfügung zu stellen

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• Nachhaltigkeit als Entscheidungskriterium zur Lieferantenauswahl und -bewertung/ • -entwicklung zu verankern und für eine Integration in Warengruppenstrategien/ Nutzungsstrategien zu sorgen • Die Zusammenarbeit im Unternehmen (z. B. Nachhaltigkeitsbeauftragter oder Compliance) und ggf. innerhalb der Unternehmensgruppe sicherzustellen • Explizite Ziele und sinnstiftende Aufgaben zu vereinbaren, die entweder Vorlagen/ Standards optimieren oder Teil des einzelnen Beschaffungsvorgangs sind Exemplarisch soll der nachfolgende Auszug (siehe Tab. 14.1) aus den Zielen für die Einkaufsorganisation der Bausparkasse 2018 dienen, die unternehmensweit im Intranet veröffentlicht sind. Zudem sind die Mitarbeiter für ihre Aufgaben zu befähigen. Grundlagen können sein: • ein aktuelles Rollen- und Kompetenzprofil mit Ausführungen zur Nachhaltigkeit und ein rollenbasierter Kompetenzausbau sowie • regelmäßiges zweiseitiges Feedback zum tatsächlichen Handeln. Für die Umsetzung der Nachhaltigkeitsanforderungen sind wie vorab beschrieben durch Führungskräfte verschiedene Voraussetzungen auf allen Ebenen eines Unternehmens sowohl prozessorientiert als auch ergebnisbezogen zu schaffen, die jedem einzelnen Einkäufer im beruflichen Alltag die Arbeit auch in Sachen Nachhaltigkeit ermöglichen. Hier wurde der Schwerpunkt auf die direkt beeinflussbaren Parameter und Instrumente, z. B. Ziele oder das Kompetenzmanagement, gesetzt, ohne einen Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben. Es wurden dabei keine neuen Instrumente geschaffen, sondern allgemein bekannte Führungsinstrumente ergänzt. Letzteres kann die Umsetzungswahrscheinlichkeit erhöhen, indem es Orientierung bietet und weniger als „add on“ wahrgenommen wird.

14.5 Zusammenfassung und Ausblick Die nachhaltige Beschaffung in der Schwäbisch Hall-Gruppe wurde unter verschiedenen Aspekten beleuchtet. Der Führung kam dabei eine besondere Rolle zu. Darauf aufbauend geben nachfolgend zusammengestellte Erfolgshebel eine Orientierung, welcher Fokus für eine nachhaltige Beschaffung in der Schwäbisch Hall Gruppe gesetzt wird: • Grundprinzip „Verzicht auf …?“ anwenden • „Dranbleiben“ bei Papier, Wasser, Strom, Jobticket, bei Dienstreisen und im Gebäudemanagement • Einheitliche Selbstauskunft und Nachhaltigkeitserklärung der Lieferanten und Dienstleister in der DZ BANK Gruppe; Anwendung idealerweise über gesamte Lieferkette

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Tab. 14.1  Ziele für die Einkaufsorganisation der Bausparkasse 2018 – Auszug. (Quelle: Eigene Darstellung) Zielbeschreibung

Das Ziel ist erreicht, wenn…

Messkriterien

… die Lieferantenentwicklungsgespräche systematisch geplant und durchgeführt worden sind (inkl. der Kriterien Innovationsfähigkeit/ Nachhaltigkeit) … jeweils die Geschäftspartner-Compliance-­ Überprüfung für neue Lieferanten und s­ trategische Partner im d­ efinierten Umfeld durchgeführt worden ist

Lieferantenportfolio, ­Checkliste, Anzahl Lieferantenentwicklungsgespräche Systematik Geschäftspartner-Compliance/Stichproben

… in den relevanten Warengruppen nur Produkte beschafft bzw. abgenommen worden sind, die den gesetzlichen und definierten Qualitätsanforderungen entsprechen

Vertragsklauseln Zertifikate/Testergebnisse Vorort-Besichtigungen beim Lieferant

Markt- und Kundenziele Partnerschaftliche Zusammenarbeit mit den Lieferanten: Auswahl und Lieferantenmanagement weiter konsequent professionalisieren

Qualitäts- und Prozessziele Qualitätssicherung: hohe Qualität der zu beschaffenden Produkte sicherstellen

• Werben für ganzheitlichen Nutzen (beispielsweise Akzeptanz einer höheren Leasingrate bei E-Auto) • Compliance-Prüfung pro Beschaffungsvorgang ab definiertem budgetrelevanten Beschaffungsvolumen und auf Personenebene • Gemeinsame Verantwortung in der Region, u. a. kurze Lieferwege und Austausch mit anderen Unternehmen • Weiterhin enger strategischer, projektorientierter und operativer Austausch innerhalb der DZ BANK Gruppe und Zusammenarbeit beim Mobilitätskonzept inkl. Fuhrpark Im Mittelpunkt steht hierbei sowohl die Einbettung in die gesamtunternehmerische Verantwortung eines Finanzdienstleisters zum nachhaltigen Wirtschaften als auch die Herausstellung der Bedeutung eines systematischen Vorgehens, der Kompetenzen der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sowie der Führung im Einkauf. Grundsätzlich wird der zentrale Einkauf der Bausparkasse weiterhin faire, langfristige Partnerschaften mit den bisherigen und neuen Lieferanten anstreben und pflegen. Dazu wird auch auf Kooperationen zur Erfüllung der Nachhaltigkeitsanforderungen gesetzt. Die gewählten produktbezogenen Beispiele stellen dabei weder die komplette Bandbreite der Beschaffungsvorgänge noch eine Priorisierung in der Schwäbisch Hall-Gruppe

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dar, sondern sollen bewusst mit Alltagsbezug zur Beschäftigung mit der Thematik Nachhaltigkeit sensibilisieren. Dabei wurde nicht durchgehend nach den Einzelunternehmen der Schwäbisch Hall-Gruppe getrennt. Ebenso wurden Themen zum Fuhrpark oder Travelmanagement nicht vertieft. Es handelt sich bei den Ausführungen nicht um eine Anleitung, die beliebig oft eindeutig messbare, quantifizierbare Ergebnisse erzeugt oder sicherstellt. Dennoch sind die meisten Aspekte bereits seit 2013 praxiserprobt und bedurften einer strukturierten Aufbereitung. Dies kann und soll als Angebot für einen Austausch unter allen Beteiligten und Betroffenen dienen. Ganz praktisch geht es in den nächsten Schritten um die weitere Professionalisierung der Werkzeuge und Dokumente. So sind Nachhaltigkeitskriterien bei der Lieferantenauswahl intern mit allen Stakeholdern zu vereinbaren und in der Beschaffungsstrategie zu verankern, die wiederum aus der jeweiligen Warengruppenstrategie abgeleitet ist. Auszüge daraus sollen in allgemeinerer Form, z. B. in der Bestellrichtlinie, veröffentlicht werden und auch Aussagen zum konkreten Umgang bei Verstößen durch Lieferanten enthalten. Ergänzt wird dies in der DZ BANK Gruppe durch eine laufende Aktualisierung und Erweiterung des „Werkzeugkastens“ und die Entwicklung zielgruppengerechter Schulungs- und Trainingsmaterialien für Einkäufer und perspektivisch für Mitarbeiter aller Fachbereiche. Zudem arbeitet die Schwäbisch Hall-Gruppe an der Einführung eines Umweltmanagementsystems (Bausparkasse Schwäbisch Hall AG 2018d, online). Dabei wird es auch eine externe Bewertung des Beitrags des Einkaufs zur Nachhaltigkeit geben.

Literatur Bausparkasse Schwäbisch Hall AG. Allgemeine Einkaufs- und Vertragsbedingungen der Schwäbisch Hall-Gruppe (Stand Mai 2018). https://www.schwaebisch-hall.de/unternehmen/nachhaltigkeit/ einkaufs-und-vertragsbedingungen.html (2018a). Zugegriffen 27. Juli 2018 Bausparkasse Schwäbisch Hall AG. Compliance, Vorbeugen, 2. Richtlinien und Verfahren, f) Geschäftspartner-Prüfung. https://www.schwaebisch-hall.de/unternehmen/compliance/vorbeugen. html (2018b). Zugegriffen 27. Juli 2018 Bausparkasse Schwäbisch Hall AG. Nachhaltigkeitsanforderungen für Lieferanten der Schwäbisch Hall Gruppe. https://www.schwaebisch-hall.de/content/dam/dambsh/unternehmen/dokumente/ einkauf/nachhaltigkeitsanforderungen-lieferanten.pdf (2018c). Zugegriffen 27. Juli 2018 Bausparkasse Schwäbisch Hall AG. Nachhaltigkeitsbericht der Bausparkasse Schwäbisch Hall AG 2017. https://www.schwaebisch-hall.de/content/dam/dambsh/unternehmen/bilder/nachhaltigkeit/nachhaltigkeitsbericht_2017/nachhaltigkeitsbericht_2017_schwaebisch_hall.pdf (2018d). Zugegriffen 27. Juli 2018 Bausparkasse Schwäbisch Hall AG. Nachhaltigkeits-Ratings. https://www.schwaebisch-hall.de/ unternehmen/nachhaltigkeit/nachhaltigkeit-bei-schwaebisch-hall.html (2018e). Zugegriffen 27. Juli 2018

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Bausparkasse Schwäbisch Hall AG. Unternehmenspräsentation 2018. https://www.schwaebisch-hall.de/content/dam/dambsh/unternehmen/dokumente/präsentationen/unternehmenspraesentation_BSH_2018.pdf (2018f). Zugegriffen 27. Juli 2018 BMUB – Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit. Klimaschutzplan 2050, Klimaschutzpolitische Grundsätze und Ziele der Bundesregierung (Stand November 2016). http://m.bmu.de/fileadmin/Daten_BMU/Download_PDF/Klimaschutz/klimaschutzplan_2050_bf.pdf (2016). Zugegriffen 27. Juli 2018 BVR – Bundesverband der Deutschen Volksbanken und Raiffeisenbanken e. V. Wer wir sind, Genossenschaftliche Finanzgruppe. https://www.bvr.de/Wer_wir_sind/Genossenschaftliche_ FinanzGruppe (2018). Zugegriffen 27. Juli 2018 Deutsche Post AG. GOGREEN. https://www.deutschepost.de/de/g/gogreen.html (2018). Zugegriffen 27. Juli 2018 Deutscher Bundestag, CSR Richtlinie. Gesetz zur Stärkung der nichtfinanziellen Berichtserstattung der Unternehmen in ihren Lage- und Konzernlageberichten, CSR-Richtlinie-Umsetzungsgesetz, vom 11. April 2017, veröffentlicht im Bundesgesetzblatt Jahrgang 2017 Teil I Nr. 20, ausgegeben zu Bonn am 18. April 2017. www.bmjv.de/SharedDocs/Gesetzgebungsverfahren/ Dokumente/BGBl_CSR-RiLi_UmsetzungsG.pdf?__blob=publicationFile&v=3 (2017). Zugegriffen 27. Juli 2018 DZ BANK. Porträt DZ BANK Gruppe. https://www.dzbank.de/content/dzbank_de/de/home/ unsere_partner/DZ_Bank_Gruppe.html (2018). Zugegriffen 27. Juli 2018 ProdHaftG. Produkthaftungsgesetz, beispielhaft aus der Gesetzessammlung dejure.org 2018. https://dejure.org/gesetze/ProdHaftG/4.html (2018). Zugegriffen 27. Juli 2018 Rat für Nachhaltige Entwicklung. Der Deutsche Nachhaltigkeitskodex, Maßstab für nachhaltiges Wirtschaften, 4. aktualisierte Fassung. https://www.nachhaltigkeitsrat.de/wp-content/ uploads/2017/11/DNK_Broschuere_2017.pdf (2017). Zugegriffen 5. Sept 2018 Rat für Nachhaltige Entwicklung. Thesen der Mitglieder des Steuerungskreises des Hubs für Sustainable Finance für eine nachhaltige Finanzwirtschaft in Deutschland. https://www.nachhaltigkeitsrat.de/wp-content/uploads/2017/10/20170926_Thesen_H4SF.pdf (2018). Zugegriffen 27. Juli 2018 Schwäbisch Hall Facility Management GmbH. Catering. https://www.shfm.de/facility-management/catering.html (2018). Zugegriffen 27. Juli 2018 Vereinte Nationen. Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung, Generalversammlung, 70. Tagung, Tagesordnungspunkte 15 und 16 am 25.09.2015, A/RES/70/1, Transformation unserer Welt: die Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung. http://www.un.org/depts/german/gv-70/band1/ ar70001.pdf (2015). Zugegriffen 2. Aug 2018

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D. Apel Daniela Apel verantwortet als Einkaufsleiterin der Bausparkasse Schwäbisch Hall AG seit mehr als zwei Jahren das Einkaufs- und Lieferantenmanagement für die Schwäbisch Hall-Gruppe mit insgesamt 6800 Mitarbeitern und Auszubildenden. Sie gehört dem Unternehmen seit 1991 an und verfügt über langjährige Führungserfahrung. Vor ihrem Wechsel 2013 in den Einkauf war sie fast 15 Jahre im Personalbereich tätig. Verantwortung für das eigene Handeln zu übernehmen und darin Kollegen und Mitarbeiter praxisorientiert zu begleiten, zieht sich wie ein roter Faden durch ihre beruflichen Stationen. Ihre Unterstützung bietet sie inzwischen auch außerhalb des unternehmensbezogenen Netzwerkes branchenübergreifend an: Als Mentorin von MentorMe – einem beruflichen Förderprogramm für Frauen.

Nachhaltiges Beschaffungsmanagement im Lebensmitteleinzelhandel – Eine Fallstudie

15

Oskar Grün und Jean-Claude Brunner

Zusammenfassung

Unternehmungen werden zunehmend mit dem Anspruch konfrontiert, nachhaltig zu wirtschaften. Das gilt auch für den Einzelhandel mit Lebensmitteln, denn Nahrungsmittel sind mit ca. 40 % die größte Produktgruppe im Einzelhandel. Wieweit sich der Anspruch der Nachhaltigkeit im Lebensmitteleinzelhandel erfüllen lässt, ist eine spannende Frage, da in der Branche einerseits ein heftiger Verdrängungswettbewerb herrscht und andererseits die Bereitschaft der Konsumenten, für Lebensmittel zu zahlen, als eher gering einzustufen ist. Glaubt man einem Insider, dem CEO der HOFER KG, gibt es keine Alternative zur Nachhaltigkeit. Der Beitrag zeigt, wie sein Unternehmen, eines der „Big Four“ des österreichischen Lebensmitteleinzelhandels, mit dem „Projekt 2020“ der Nachhaltigkeit im Rahmen des Beschaffungsmanagement Rechnung trägt, insbesondere durch die Sortiments- und Lieferantenpolitik.

15.1 Themenrelevanz und Vorgehensweise Die Nachhaltigkeit als ein wesentlicher Pfeiler der Corporate Social Responsibility (CSR, vgl. Willers 2016, S. 6 ff.) hat sich zu einem mächtigen Treiber des unternehmerischen Handelns entwickelt. Sie verlangt, neben ökonomischen auch ökologische und soziale Aspekte zu berücksichtigen (sog. Triple Bottom Line). Die Lebensmittelwirtschaft ist vom

O. Grün () · J.-C. Brunner  E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 W. Wellbrock und D. Ludin (Hrsg.), Nachhaltiges Beschaffungsmanagement, https://doi.org/10.1007/978-3-658-25188-8_15

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O. Grün und J.-C. Brunner

Anspruch der Nachhaltigkeit besonders betroffen, „…denn die Nahrung, die wir täglich aufnehmen, ist zentral für unsere Lebensqualität und die Gesundheit aller Menschen“ (so Schmidpeter im Vorwort zu Willers 2016, S. V). Zudem entfällt ein erheblicher Teil der Treibhausgasemissionen auf die Landwirtschaft, insbesondere auf die Fleischproduktion. Innerhalb der Lebensmittelwirtschaft fällt dem Einzelhandel eine Schlüsselrolle zu, weil er an der Nahtstelle zum Konsumenten platziert ist und darüber hinaus eine starke Position in der Wertschöpfungskette (Food Value Chain) gegenüber Lieferanten und Vorlieferanten hat (Lorentschitsch 2016, S. 331 ff.). Deshalb wird ihm eine ökologische Gatekeeper-Funktion zugeschrieben (Schoenheit et al. 2008, S. 12 ff.). „Aufgrund seiner starken Machtposition kann er sozial-ökologische Forderungen an die Hersteller übertragen und gleichzeitig durch eine vordringliche Warenpräsentation nachhaltiger Produkte das Einkaufsverhalten der Verbraucher beeinflussen.“ (Pittner 2017, S. 8). Traditionell gilt die Beschaffung als erfolgskritische Funktion des Handels (vgl. den Slogan „Der Gewinn liegt im Einkauf“). Eine nachhaltige Beschaffung verlangt allerdings mehr als die Orientierung an den Beschaffungskosten, obwohl sie eine wesentliche Determinante des Beschaffungsmanagements bleiben werden. Ein um die ökologische und soziale Dimension erweitertes Beschaffungsmanagement ist im Handel mit folgenden Herausforderungen konfrontiert: • Wie wird der Zielkonflikt zwischen Versorgungssicherheit, Versorgungswirtschaftlichkeit und Nachhaltigkeit gelöst? Diese Frage ist im Hinblick auf den im Lebensmitteleinzelhandel herrschenden Verdrängungswettbewerb äußerst relevant, insbesondere wenn die Konkurrenten mit immer neuen Billigangeboten um die Kunden werben (siehe Abschn. 15.2). • Welche Maßnahmen eignen sich, um das Ziel der Nachhaltigkeit zu erreichen? Diese Frage betrifft insbesondere die Sortiments- und die Lieferantenpolitik, aber auch Aspekte der Lagerhaltung und der Verpackung sowie der Kommunikation (siehe Abschn. 15.3). • Wie werden der Erfolg dieser Maßnahmen und damit die Zielerreichung gemessen? Zu berücksichtigen sind hier neben internen auch Branchenvergleiche sowie der standardsetzende Einfluss der NGOs (siehe Abschn. 15.4). • Welches Aktionspotenzial ist erforderlich, um die zieladäquaten Maßnahmen durchzusetzen? Hier interessieren die, der Nachhaltigkeit verpflichteten, Stellen, insbesondere deren Ausstattung, Kompetenzen und hierarchische Positionierung (siehe Abschn. 15.5). Die Feststellung der Relevanz dieser Herausforderungen und die Optionen ihrer Bewältigung sind in diesem Beitrag Gegenstand einer Fallstudie (Yin 2014, S. 51). Sie liefert ein ganzheitliches Bild der Ziele und Maßnahmen, der Zielerreichung sowie des Aktionspotenzials unter gebührender Beachtung der externen und internen Kontextfaktoren wie Commitment des Top Managements, Ansprüche der Stakeholder und der

15  Nachhaltiges Beschaffungsmanagement im Lebensmitteleinzelhandel …

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Tab. 15.1  Kenndaten der HOFER KG 2017 (Österreich). (Quelle: ALDI SÜD 2018, online) Gründung

1968

Umsatz

EUR. 4,1 Mrd.

Marktanteil

20,9 %

Mitarbeiter

>11.000

Filialen/Logistikzentren

>480/7

Sortiment

>1000 Artikel des täglichen Bedarfs + > 5000 Aktionsartikel ­jährlich + diverse Dienstleistungen, z. B. Reiseangebote und Mobilfunk

Wettbewerbssituation (Oelze 2015, S. 42 ff.). Fallstudien eignen sich auch dazu, die Plausibilität und empirische Evidenz der vorliegenden konzeptionellen Ansätze zu evaluieren. Wir verweisen hier beispielhaft auf die Beiträge von Fröhlich zur Entwicklung eines nachhaltigen Beschaffungsprozess-Modells (Fröhlich 2015, S. 9 ff.) und zur Integration von Nachhaltigkeitsrisiken in das Beschaffungsportfolio von Kraljic (Fröhlich et al. 2015, S. 64 ff.) sowie auf die Erweiterung des Supplier-Relationship-ManagementAnsatzes mit dem Ziel eines Sustainable Supplier Relationship Management durch Fries (Fries 2015, S. 77–92). Als Objekt der Fallstudie haben wir die österreichische Firma HOFER KG ausgewählt, Teil der weltweit tätigen Unternehmensgruppe ALDI SÜD, weil sie in Bezug auf Nachhaltigkeit eine Vorreiterposition beansprucht und diesen Anspruch mit der Nachhaltigkeitsinitiative „Projekt 2020“ öffentlichkeitswirksam unterstreicht. Das Projekt umfasst vielfältige Maßnahmen, um die Nachhaltigkeit von Produkten und Prozessen zu steigern, die Zusammenarbeit mit Lieferanten und Kunden zu fördern und die Umwelt zu entlasten. Diese Aktivitäten sind auf Webseiten und in Presseaussendungen gut dokumentiert (insbesondere HOFER KG 2018b, online; 2018c, online; 2018d, online). Darüber hinaus stand eine maßgebliche Akteurin der Nachhaltigkeit für ein Interview zur Verfügung und den Autoren wurde Einsicht in interne Dokumente gewährt, beispielsweise bzgl. der Lieferantenpolitik. Vereinzelt konnte auf Fallstudien von Mitbewerbern zurückgegriffen werden (beispielsweise REWE bei Fries 2015, S. 84 ff.). Die wichtigsten Kenndaten der HOFER KG sind in Tab. 15.1 aufgeführt.

15.2 Die Verankerung von Nachhaltigkeit im Zielsystem der Beschaffung Für das Verständnis der nachfolgenden Darstellung der Zielproblematik ist die Kenntnis der Anstöße zur Entwicklung eines nachhaltigen Beschaffungsmanagement aufschlussreich.

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O. Grün und J.-C. Brunner

15.2.1 Anstöße des nachhaltigen Beschaffungsmanagement Fröhlich et al. nennen folgende (mögliche) Treiber für eine nachhaltige Beschaffung: Der Einfluss regulatorischer Gruppen, von Stakeholdern und vom Klimawandel, die Transparenz im unternehmerischen Handeln, die Bedeutung von ISO-Zertifikaten, der Marktwert und der finanzielle Nutzen sowie die Unternehmensreputation und der Topmanagement-Support (Fröhlich et al. 2015, S. 57 ff.). Die Anstöße bei der HOFER KG waren das Prinzip der Eigenverantwortung, die Erwartungen der Stakeholder, das Feedback von NGOs und die einschlägigen Aktivitäten der Mitbewerber. Die Ressourceneffizienz und die Vermeidung von Verschwendung sind Kernbestandteile des HOFER Geschäftsmodells und finden nun auch in der Corporate Responsibility (CR) ihren Niederschlag. Mit dem „Projekt 2020“ werden die Nachhaltigkeitsinitiativen, die es teilweise schon früher gegeben hat, auch veröffentlicht und beworben.

15.2.2 Die Zieltroika Versorgungssicherheit, Versorgungswirtschaftlichkeit und Nachhaltigkeit Die klassischen Ziele des Beschaffungsmanagement sind Versorgungssicherheit und ­Versorgungswirtschaftlichkeit. Die Versorgungssicherheit soll gewährleisten, dass die der Beschaffung nachgelagerten Funktionen Produktion (im Industriebetrieb) bzw. Absatz (im Handelsbetrieb) störungsfrei verlaufen. Die Versorgungswirtschaftlichkeit zielt auf möglichst niedrige Beschaffungskosten. Aufbauend auf diesem klassischen Zielduo hat Kraljic seine vielzitierte Vierfeldermatrix mit den Ausprägungen „unkritische Produkte“, „Hebelprodukte“, „Engpassprodukte“ und „strategische Produkte“ mit jeweils spezifischen beschaffungspolitischen Maßnahmen entwickelt (Kraljic 1983, S. 109–117). Wenn man das klassische Zielduo um die Nachhaltigkeit zur Zieltroika erweitert, entstehen zusätzliche Konfliktpotenziale und Herausforderungen für das Beschaffungsmanagement (siehe Abb. 15.1). Grundsätzlich gibt es die folgenden Möglichkeiten zur Lösung von Zielkonflikten: Die Bildung von Zielprioritäten (dauerhaft bzw. temporär bzw. lokal), die Zielverfolgung mit Nebenbedingungen und den Zielkompromiss. Die HOFER KG operiert sowohl mit temporären bzw. lokalen Zielprioritäten als auch mit Nebenbedingungen. Wir interpretieren das erwähnte „Projekt 2020“ als eine im Jahr 2013 beschlossene Priorisierung der Nachhaltigkeit, ungeachtet weiterer Anstrengungen nach Auslaufen des Projekts. Jedenfalls sollen in dieser Zeitspanne der Ressourcenverbrauch durch eine umweltschonende Herstellung der HOFER-Produkte gesenkt, der Klimaschutz forciert, die Gesundheit (insbesondere der Kunden) geschützt, das Miteinander (bezogen auf Mitarbeiter, Kunden und Lieferanten sowie soziale Einrichtungen) forciert und das Vertrauen in die HOFER KG gestärkt werden, auch durch Transparenz in Bezug auf die Maßnahmen zur Sicherung der Nachhaltigkeit. Lokale Schwerpunktsetzungen l­assen sich dar-

15  Nachhaltiges Beschaffungsmanagement im Lebensmitteleinzelhandel …

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Nachhaltigkeit

Preis

Versorgungswirtschaftlichkeit

Verantwortung

Versorgungssicherheit

Qualität

3 Säulen HOFER KG

Zieltroika

Abb. 15.1  Die Zieltroika und die drei Säulen der HOFER KG. (Quelle: Eigene Darstellung)

aus ableiten, dass bei landwirtschaftlichen Produkten in lokale Beschaffung investiert, aber international vor allem auf Zertifizierung und Mindeststandards gesetzt wird. Diese Unterschiede in den Maßnahmen (siehe Abschn. 15.3) sind Voraussetzung, um sowohl lokal als auch global zu agieren. In Bezug auf das Verhältnis von Versorgungswirtschaftlichkeit und Nachhaltigkeit wird letztere als Nebenbedingung postuliert: Man soll bei der HOFER KG „täglich alles billiger einkaufen, … ohne dass andere dafür draufzahlen müssen“ (HOFER KG 2018c, online). Dass heißt, die angestrebte Preisführerschaft soll nicht zulasten der Nachhaltigkeit und der Qualität der Produkte erreicht werden. Die von der HOFER KG praktizierten Mechanismen zur Vermeidung von Zielkonflikten schließen nicht aus, dass es in Einzelfällen zu Konflikten zwischen Versorgungssicherheit, Versorgungswirtschaftlichkeit und Nachhaltigkeit bzw. zwischen Preis, Qualität und Verantwortung kommt, da die CR-Maßnahmen meist zu Aufschlägen auf den Einkaufspreis führen. Die Lösung der Konflikte hängt maßgeblich vom Aktionspotenzial der Stellen ab, deren Spezialaufgabe die Sicherung der Nachhaltigkeit ist (siehe Abschn. 15.5).

15.3 Maßnahmen des nachhaltigen Beschaffungsmanagements Obwohl die HOFER KG seit 2016 zu 100 % CO2-neutral wirtschaftet und dafür mit dem Energy Globe World Award ausgezeichnet wurde, beschränken wir uns im Folgenden auf Maßnahmen zur Beschaffung von Handelswaren, weil bei der Beschaffung von Betriebsmitteln (inklusive Filialbau) keine handelsspezifischen Probleme auftreten. Die Maßnahmen betreffen vor allem die Sortiments- und die Lieferantenpolitik (siehe Abschn. 15.3.1 und 15.3.2), aber auch das Logistikmanagement (siehe Abschn. 15.3.3) und die Kommunikation (siehe Abschn. 15.3.4) sowie die diversen Instrumente (siehe Abschn. 15.3.5).

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O. Grün und J.-C. Brunner

15.3.1 Sortimentspolitik Für die Sortimentspolitik der HOFER KG gilt folgendes Motto: „Wir bieten ein ausgewähltes Sortiment, und unsere Verantwortung liegt in der gezielten Zusammenstellung von Produkten des täglichen Bedarfs. Unser ganzheitliches Qualitätsverständnis umfasst die Sicherheit, die Gesundheit und das Wohl der Verbraucher ebenso wie die Umweltund Sozialverträglichkeit der Produkte und ihrer Herstellung.“ (ALDI SÜD 2016, online). Dem Ziel einer gesunden Ernährung der Verbraucher dienen auch die Angaben über den Brennwert und die Nährstoffe auf (fast) allen Lebensmittelprodukten. Bei der Beurteilung des Lebensmittelsortiments der HOFER KG ist zu berücksichtigen, dass die Verbraucher in Österreich als besonders bioaffin gelten, weshalb das Bio-Sortiment mit den Eigenmarken „Zurück zum Ursprung“ und „Natur aktiv“ ständig ausgebaut wird. Des Weiteren ist zu beachten, dass es neben einer großen Sortimentsbreite eine beachtliche Sortimentstiefe gibt. So werden beispielsweise für das Produkt Milch zehn Varianten offeriert. Dabei gilt, dass die Ansprüche an die Nachhaltigkeit mit zunehmender Sortimentsbreite und -tiefe wachsen. Es ist daher geboten, bei der nachhaltigen Sortimentspolitik Schwerpunkte zu setzen: • Unter dem Stichwort „Tierwohl-Einkaufspolitik“ wird bei der Herstellung von Rind-, Schwein-, Geflügel- und anderen Fleischprodukten darauf geachtet, dass die Vorgaben zu artgerechter Tierhaltung und zum Tierschutz eingehalten und überwacht werden. In 2017 wurde das Projekt „FairHOF“ gestartet. Unter diesem Label wird ein wachsendes Sortiment an Fleischprodukten angeboten, welche dem Anspruch „fair zum Tier und fair zum Bauern“ gerecht werden. Die Tierwohl-Einkaufspolitik gilt auch für Molkereiprodukte und Lebensmittel mit tierischen Zutaten (z. B. Milch) und inkludiert den Verzicht auf Produkte von exotischen oder bedrohten Tierarten. Alle tierischen Produkte der Marke „Zurück zum Ursprung“ tragen das Prüfzeichen „Tierwohl kontrolliert“. Das Zeichen bestätigt die Einhaltung strengster Tierschutzrichtlinien, die über die EU Bio-Verordnung hinaus gehen und die im „Prüf Nach! Standard“ geregelt sind. • Da die HOFER KG die Käfighaltung von Hühnern ablehnt, stammen die Frischeier garantiert aus Bio-, Freiland- oder Bodenhaltung. Auch bei verarbeiteten Eiern als Zutaten von Backwaren, Teigwaren, Mayonnaise und Soßen wird darauf geachtet, dass sie aus Boden- bzw. Freilandhaltung-Betrieben stammen. Unter dem Produkt „Hahn im Glück Bio-Eier“ der Eigenmarke „Zurück zum Ursprung“ werden jährlich beispielsweise ca. 200.000 Hähne artgemäß aufgezogen (siehe Abb. 15.2). • Derzeit gibt es bei der Bio-Marke „Zurück zum Ursprung“ rund 400 Bio-Produkte, von Milch und Milchprodukten, Fleisch und Brot über Getreide- und Teigwaren bis zu Obst, Gemüse und Getränken, die alle nicht nur aus kontrolliert biologischem Anbau stammen, sondern auch sehr strengen Nachhaltigkeitskriterien entsprechen. • Die Fisch-Sortimentspolitik betrifft ein Produkt, das sich steigender Beliebtheit erfreut und deshalb die Gefahr der Überfischung heraufbeschwört. Die HOFER KG

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Abb. 15.2  „Hahn im Glück Bio-Eier“ der Eigenmarke „Zurück zum Ursprung“. (Quelle: HOFER KG, internes Dokument)

bemüht sich hier wie bei anderen Meerestieren (z. B. Garnelen) vor allem um eine lückenlose Rückverfolgbarkeit, eine umfassende Deklaration auf den Produkten und eine Kooperation mit NGOs (WWF) bei der Fischbewertung (siehe Abschn. 15.3.5 „Instrumente“). Im Rahmen des „Projekts 2020“ soll Fisch („möglichst ausschließlich“) aus nachhaltiger Fischerei und verantwortungsvoller Zucht im Sortiment angeboten werden. Außerdem wurde in Indien ein Garnelenprojekt mit biozertifizierter Lieferkette initiiert. Bemerkenswert ist, dass die HOFER KG dabei ist, gefährdete Fischarten auszulisten; auf Hummer wird zur Gänze verzichtet. • Nach Maßgabe der Kaffee-Sortimentspolitik (betrifft Rohkaffee-Produkte, löslichen Kaffee und Cappuccino) sollen bis Ende 2020 mindestens 80 % der Rohkaffeemengen aus zertifizierten Quellen bezogen werden. Akzeptiert werden die Zertifizierungs-Standards Fairtrade, UTZ (bedeutet „gut“ in der Sprache der Maya) und Rainforest Alliance. Diese Standards sollen die Lebens- und Arbeitsbedingungen von Kleinbauern und auf Plantagen verbessern, u. a. durch Fairtrade-Prämien für die ­Bauern. Populär geworden ist Fairtrade vor allem durch Bananen, Kaffee und Orangensäfte. • Bei Kakao-Produkten gilt hinsichtlich der Lebens- und Arbeitsbedingungen der Erzeuger in den tropischen Ländern Ähnliches wie für Kaffee. Deshalb soll bis Ende 2020 jedes HOFER-Produkt mit Kakao-Anteil aus zertifiziertem Anbau stammen.

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• Auch Tee-Produkte werden entweder auf Plantagen oder in kleinbäuerlichen Betrieben (vor allem in China, Indien, Kenia und Sri Lanka) gewonnen. Teeblätter werden meist von Frauen in anstrengender Handarbeit geerntet, die Erträge sind klimabedingt stark schwankend und die Löhne liegen vielfach unter dem Existenzminimum. Folglich wird hier wiederum eine kontinuierliche Steigerung des Anteils der Produkte aus zertifiziertem Anbau angestrebt. • Die weltweit steigende Nachfrage nach Palmöl und Palmkernöl bedroht sensible Lebensräume in den tropischen Anbaugebieten. Die HOFER KG ist deshalb Mitglied des Roundtable on Sustainable Palm Oil (RSPO), der sich insbesondere zum Schutz der Regenwälder konstituiert hat. Bei allen „Zurück zum Ursprung“-Produkten wurde von Anfang an auf Palmöl verzichtet. Bei Produkten der Bio-Eigenmarke „Natur Aktiv“ wird ab Ende 2018 kein Palmöl mehr verwendet. Wie bei Lebensmitteln wird auch beim Sortiment der Nonfood-Produkte auf die Berücksichtigung der Nachhaltigkeit geachtet: • Unter einer Eigenmarke bietet die HOFER KG Wasch- und Reinigungsmittel mit natürlichen Wirkstoffen und guter biologischer Abbaubarkeit an. Dafür und für deren umweltschonende Produktion wurden das österreichische und das europäische Umweltzeichen vergeben. • Produkte mit Holz- oder Papierbestandteilen sollen bis 2020 nur noch aus zertifizierten Quellen bezogen werden bzw. aus Recyclingmaterial bestehen. Das betrifft Kleinmöbel und Gebrauchsgegenstände mit Holzbestandteilen aber auch Zelluloseprodukte für den Hygiene- und Schreibbedarf. • Im Rahmen eines Commitments (Detox) hat sich ALDI SÜD verpflichtet, bis spätestens 2020 bei Textilien und Schuhen darauf zu achten, dass bestimmte Chemikalien in der Produktion nicht mehr verwendet werden. Die oben geschilderten, nach Produktgruppen differenzierten Maßnahmen zielen darauf ab, dass bis Ende 2020 ein erheblicher Teil des Sortiments der HOFER KG dem Anspruch der Nachhaltigkeit genügt. Die HOFER KG trägt mit ihrer Sortimentspolitik dem von der Gesellschaft für Konsumforschung (GfK) festgestellten Trend Rechnung, wonach die Konsumenten immer mehr Bio-Produkte von den Discountern erwerben und der Marktanteil des Bio-Fachhandels merklich sinkt (Kläsgen 2018).

15.3.2 Lieferantenpolitik Die Sortimentspolitik ist eine wesentliche Determinante der Lieferantenpolitik, d. h. der Suche und Auswahl, der Bewertung und der Entwicklung der Lieferanten. Umgekehrt gilt, dass die Attraktivität des Sortiments wesentlich von der Preiswürdigkeit und Qualität der gelieferten Produkte abhängt. Das trifft auch auf die Sicherung der Nachhaltigkeit

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des Sortiments zu, die eine enge Zusammenarbeit der Abnehmer mit ihren Lieferanten voraussetzt. Folglich strebt die HOFER KG eine (möglichst langfristige) Partnerschaft mit ihren Lieferanten an (Brandes 1999, S. 224 ff.). Um der Zieltroika Versorgungssicherheit, Versorgungswirtschaftlichkeit und Nachhaltigkeit gerecht zu werden, müssen bei der Suche, der Auswahl und der Bewertung der Lieferanten Kriterien berücksichtigt werden, die alle drei Zielbereiche abdecken. Wir verzichten an dieser Stelle auf die Darstellung der, die Sicherheit und die Wirtschaftlichkeit betreffenden, Kriterien (wie Lieferkapazität und Einstandspreis, vgl. hierzu Grün und Brunner 2013, S. 182 ff.). Wir konzentrieren uns vielmehr auf Kriterien, welche für die Nachhaltigkeit relevant sind. Dabei ist zu beachten, dass es vielfach nicht genügt, die in der Lieferkette unmittelbar vorgelagerten Lieferanten zu taxieren, sondern auch deren Lieferanten (Sublieferanten), die vielfach weit entfernt und unter anderen ökonomischen und sozialen Bedingungen (Entwicklungsländer) agieren: „Diese Zulieferer aus der Ferne aktiv zu steuern, bleibt eines der größten Probleme der nächsten Jahre.“ (Fries 2015, S. 78; Lingohr 2015, S. 221 ff.). Zu diesem Zweck kooperiert die HOFER KG mit externen Partnern, insbesondere mit Initiativen, und schaltet unternehmenseigene Außenstellen in den Herkunftsländern der Lieferanten mit ein (CR-Abteilungen in Hongkong und in Bangladesch). Die geografische Entfernung zu den Lieferanten ist demnach ein für die Nachhaltigkeit relevantes Kriterium, bei manchen Produkten fast ein KO-Kriterium. Um der Nachfrage der Kunden nach heimischen Produkten („Bio aus Österreich“ oder „Aus Österreich für Österreich“) Rechnung zu tragen, ist die HOFER KG zu einem der größten Abnehmer der österreichischen Landwirtschaft geworden und bietet u. a. ­Bio-Bergbauern-Butter, Bio-Heumilch, Fruchtjoghurt, Fleischwaren, Brot und Gebäck sowie frisches Obst und Gemüse aus Österreich an. So kennzeichnet das Siegel „Herkunft garantiert aus Österreich“ Fleischprodukte aus Österreich, für welche die Tiere in Österreich geboren, aufgewachsen und verarbeitet werden. Im Hinblick auf Transparenz steht die HOFER-eigene Rückverfolgbarkeits-Plattform „Check Your Product“ für Kunden zur Verfügung (wird u. a. für die Produkte Fisch, Soja, Obst und diverse Fleischwaren angeboten, HOFER KG 2018a, online). Bei Auswahl und Bewertung von Lieferanten spielen die bereits mehrfach erwähnten Standards eine große Rolle. Sie decken ein breites Spektrum von Kontrollbereichen ab, wie die folgenden Beispiele zeigen: • ALDI SÜD und die HOFER KG sind einem internationalen Abkommen zur Brandschutz- und Gebäudesicherheit in Bangladesch beigetreten. Dies beinhaltet hohe Anforderungen an die Gebäudesicherheit der Produktionsstätten hinsichtlich der Gültigkeit der Baugenehmigungen, der Einhaltung der Bauvorschriften und der Installation von Brandschutzsystemen. • Die Lieferanten, insbesondere jene aus Risikoländern, werden auch i Hinblick auf die Einhaltung von Sozialstandards ausgewählt und bewertet. Das betrifft u. a. das Verbot von Kinder- und Zwangsarbeit und die Beachtung des gesetzlichen Mindestlohns.

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• Wie oben erwähnt, müssen Lieferanten bestimmter Produkte (u. a. Kaffee, Kakao, Tee) zertifiziert sein oder es werden (etwa bei Fleischprodukten) besonders hohe Anforderungen an den Tierschutz gestellt. • Von den Lieferanten der Textilien und Schuhe wird erwartet, dass sie den Einsatz von Chemikalien in der Produktion reduzieren (ALDI Detox Commitment). Ein Eckpfeiler der Lieferantenpolitik ist die Lieferantenentwicklung. Das sind gezielte Interventionen des Abnehmers mit dem Ziel, die Lieferanten hinsichtlich der Beschaffenheit ihrer Produkte bzw. ihrer Produktionsprozesse zu ertüchtigen. Es handelt sich also um eine Form des Empowerment. Eine besonders wirksame Maßnahme der Lieferantenentwicklung ist die Schulung, insbesondere die Schulung von Lieferanten und Sublieferanten zum Thema Sozialstandards in Entwicklungsländern. Bzgl. der bereits erwähnten Detox-Anforderungen wird das Ziel verfolgt, den Pool der Produktionsstätten weiter zu optimieren und diese u. a. fit für die Einhaltung der Umweltanforderungen zu machen. Ein weiteres Beispiel für die Lieferantenentwicklung betrifft die Garnelenzucht. Dabei hat die HOFER KG gemeinsam mit einer österreichischen Fördereinrichtung die erste bio-zertifizierte Lieferkette für Garnelen in Indien initiiert. Neben der Entwicklung bereits in Anspruch genommener Lieferanten geht es auch um die Erschließung neuer Lieferquellen. Eine von der HOFER KG unterstützte Initiative sieht vor, im Donauraum Soja anzubauen, um unabhängiger von Exporten aus Übersee zu werden. Wie breit gefächert die Entwicklungsmaßnahmen sind, belegt das letzte Beispiel: Bei einer erheblichen Zahl österreichischer Bauernhöfe gibt es akute Nachfolgeprobleme. Deshalb unterstützt die HOFER KG die Initiative „HOF sucht Bauer“, wobei Kontakte zwischen Landwirten ohne Nachfolger und interessierten Jungbauern geknüpft werden.

15.3.3 Logistikmanagement Neben der Sortimentspolitik und der Lieferantenpolitik kann auch das Logistikmanagement zur Nachhaltigkeit in der Beschaffung beitragen. Im Einzelnen betrifft dies den Transport (inklusive Verpackung), die Lagerung und die Entsorgung. Was die Optimierung des Transports betrifft, können wir an das beim Lieferantenmanagement bereits erwähnte Prinzip der Regionalität anknüpfen. Die Anlieferung aus der Region bzw. aus einem der Logistikzentren bedeutet kurze Transportwege und ist sowohl umwelt- als auch ressourcenschonend. Generell gilt bei der HOFER KG die Devise, mit einer modernen LKW-Flotte „keinen Kilometer zu viel“ zurückzulegen. In Zusammenarbeit mit anderen Unternehmen und mit Universitätsinstituten sollen im Council Nachhaltige Logistik (CNL) Nutzfahrzeuge mit Elektroantrieb entwickelt werden. Als Transporthilfsmittel für Brot, Gebäck, Obst und Gemüse kommen vermehrt Mehrweg- und Poolkisten zum Einsatz.

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Im Handel wird unter dem Aspekt der Nachhaltigkeit nicht nur der Transport von den Lieferanten zu den Abnehmern und von Zentrallagern zu den Filialen diskutiert, sondern auch die Verpackung, insbesondere für die „letzte Meile“ vom Händler zum Verbraucher. Beim Transport der Produkte von den Lieferanten zu den Abnehmern wird zunehmend gefordert, auf umweltbelastende Plastikverpackungen zu verzichten. Deshalb bemüht sich die HOFER KG in Zusammenarbeit mit den Lieferanten um innovative Verpackungslösungen durch Verwendung kompostierbarer Zellulosefolien (für Gemüseprodukte) bzw. Zellulosenetze (für Bio-Zwiebeln). Für den Transport der Waren von der Filiale bis zum Haushalt stellt die HOFER KG wie viele andere Händler an der Kasse keine Einwegverpackungen („Plastiksackerl“) mehr zur Verfügung, vielmehr werden umweltfreundliche Mehrwegtaschen zum Kauf angeboten. Die Attraktivität dieser Mehrwegtaschen ergibt sich daraus, dass sie mit Motiven namhafter österreichischer Künstler verziert sind. Vom Verkaufserlös dieser Taschen fließt ein namhafter Betrag in ein Kooperationsprojekt mit dem WWF. Die Lagerung ist aus logistischer Sicht eng mit der Beschaffung verzahnt und kann ebenfalls zur Nachhaltigkeit beitragen. Bei der HOFER KG mit ihrem beträchtlichen Anteil an Kühlwaren ist man bestrebt, die Energieeffizienz von Kühlregalen und ­Tiefkühltruhen zu steigern. Demselben Zweck dienen Anstrengungen zur Wärmerückgewinnung. Ein weiteres Problem, das im Zusammenhang mit nachhaltiger Beschaffung zunehmend diskutiert wird, ist die Entsorgung (Stichwort Lebensmittelverschwendung). Die HOFER KG ist bestrebt, ihre Überschüsse in den Filialen mit gezielten Maßnahmen zu reduzieren. Übrig gebliebene Lebensmittel werden Tafeln und Sozialmärkten (vgl. zum Betriebstyp Sozialmärkte Lienbacher 2013) zur Verfügung gestellt. Neuerdings bietet die HOFER KG unter der Marke „Krumme Dinge“ Obst und Gemüse wie etwa schief gewachsene Gurken und deformierte Paprika an, um deren Verschwendung zu vermeiden (HOFER KG 2018b, online).

15.3.4 Kommunikation Die HOFER KG profitiert davon, dass Nachhaltigkeit in der öffentlichen Meinung positiv besetzt ist und handelt nach dem Motto: „Tue Gutes und rede darüber“. Damit werden Verbraucherschichten angesprochen, die nachhaltigkeitsaffin sind und sich deshalb bewusst für den Kauf von HOFER Produkten entscheiden. Die Nachhaltigkeit als wesentliches Element der Social Corporate Responsibility stellt spezifische Anforderungen an den Inhalt, an die Gestaltung und an die Kanäle der Kommunikation. Bezüglich des Inhalts wird in der Literatur gefordert, nicht die Ziele und die Maßnahmen, sondern die Fortschritte und Ergebnisse – möglichst in nachprüfbarer Form – in den Mittelpunkt zu stellen (Schoenheit und Schleer 2012, S. 333). Bei der Gestaltung sind wegen der Komplexität der Materie besonders hohe Anforderungen an die Verständlichkeit der Text- und Bildkommunikation zu stellen. Schließlich ist bei den

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Informationskanälen zu beachten, dass bestimmte (insbesondere standardisierte) Berichte (z. B. CR-Reports) zwar für Experten informativ, für Verbraucher dagegen weniger relevant sind, d. h. es bedarf verschiedener Kommunikationsmedien für differenzierte Adressatengruppen. Resümierend geht es darum, „… das Vertrauensgut CSR sichtbar und glaubwürdig zu kommunizieren“ (Schoenheit und Schleer 2012, S. 318), was u. a. bedeutet, den Verdacht des „Greenwashing“ auszuräumen (Rottwilm und Theuvsen 2016, S. 119 ff.). Die HOFER KG bedient sich verschiedener Medien, um über Nachhaltigkeit und ihre diesbezüglichen Aktivitäten und Erfolge zu informieren: • Ein wöchentlich erscheinendes Flugblatt an alle Haushalte informiert über die jeweiligen Aktionsartikel, enthält jedoch auch Hinweise auf Bio-Produkte, auf das „Projekt 2020“, auf Spendenaktionen, auf Aktionstage und auf Auszeichnungen. • Webseiten und Presseaussendungen adressieren die breite Öffentlichkeit. Die Webseiten informieren u. a. über das Unternehmen HOFER KG sowie über das „Projekt 2020“. In den Presseaussendungen wird häufig über Maßnahmen und Erfolge zur Sicherung der Nachhaltigkeit berichtet. • Die Öffentlichkeit ist auch Adressat des internationalen Berichts zur Unternehmensverantwortung, des CR-Reports. Er erscheint alle zwei Jahre (erstmals 2016) und ist online zugänglich (ALDI SÜD 2016, online; 2018, online). Er wird von der Abteilung CR International der Unternehmensgruppe ALDI SÜD verfasst und entspricht den Sustainability Reporting Standards der Global Reporting Initiative. Der Bericht informiert über Kenndaten der Unternehmensgruppe und deren CR-Grundsätze. Als „Handlungsfelder“ werden die Kunden, die Lieferkette, die Mitarbeiter, die Gesellschaft und die Umwelt und die jeweils relevanten Kennzahlen dargestellt. Damit sind auch die Interessen der für die HOFER KG relevanten Stakeholder abgedeckt. • Mittels maßgeschneiderter Newsletter an bestimmte Zielgruppen werden Kunden über interaktive „Customer-Experience-Plattformen“ als Produkttester angesprochen (derzeit etwa 60.000). • Ein besonderes Anliegen ist der HOFER KG die interne Kommunikation des ­Themas Nachhaltigkeit. Durch Mails, Infoboards und Broschüren werden die Mitarbeiter regelmäßig auf dem Laufenden gehalten, u. a. über Schwerpunktthemen (z. B. ­Bienen, Landwirtschaft). Aktionen wie gemeinsames Müllsammeln und Corporate Volunteering in der Dienstzeit (einzeln und in Teams) schärfen das Bewusstsein für Nachhaltigkeit ebenso wie Strom-Spar-Appelle.

15.3.5 Instrumente Bei der Umsetzung der oben geschilderten Maßnahmen bedient sich die HOFER KG verschiedener Instrumente: Verhaltenskodizes, Zertifizierungen, Projekte, Kampagnen und Kooperationen.

15  Nachhaltiges Beschaffungsmanagement im Lebensmitteleinzelhandel …

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• Verhaltenskodizes (Codes of Conduct) fixieren die Ansprüche, die an das eigene Handeln (Selbstverpflichtung) oder an das Handeln Dritter (Geschäftspartner, Mitarbeiter) gestellt werden. Die bereits erwähnten CR-Grundsätze gelten für die gesamte Unternehmensgruppe ALDI SÜD und verpflichten sowohl die HOFER KG als auch deren Geschäftspartner, insbesondere die Lieferanten (Schröder 2015, S. 152 ff.). Diese müssen sich darüber hinaus bereit erklären, die ALDI „Sozialstandards in der Produktion“ zu respektieren. Sie postulieren u. a. das Recht der Arbeitnehmer auf Vereinigungsfreiheit und Kollektivverhandlungen, das Verbot jeglicher Diskriminierung und der Kinderarbeit, den Anspruch auf den gesetzlichen Mindestlohn und die Einhaltung der Arbeitsschutzvorschriften. Darüber hinaus gelten für bestimmte Produkte spezifische Regelungen, z. B. die Fischeinkaufspolitik „… als bindende Richtlinie zur Umsetzung einer nachhaltigen Beschaffung unserer Fischerei- und Meeresprodukte“. • Zertifizierungen zählen zu den wichtigsten Instrumenten des nachhaltigen Beschaffungsmanagement: „Zertifikate bringen Sicherheit“, sowohl für den Händler als auch für deren Kunden. Als zertifizierte Quellen werden solche Lieferanten bezeichnet, die sich verpflichten, bestimmte Standards (für Produktionsstätten, Materialeinsatz, Produktionsverfahren, soziales Verhalten etc.) zu beachten, die überwiegend von NGOs, aber auch von Staatengemeinschaften (z. B. EU-Bio-Verordnung) und Einzelstaaten festgelegt werden und deren Einhaltung von ALDI SÜD- Mitarbeitern und akkreditierten Kontrollstellen in Audits überprüft wird. Die Einzelhandelsunternehmen entscheiden darüber, welche Produkte mit dem Anspruch der Zertifizierung angeboten werden, welche der Zertifizierungen sie akzeptieren und wem die Kontrolle obliegt (eigene Prüfstellen, Prüfung durch NGOs, durch akkreditierte Bio-Kontrollstellen oder – bezogen auf die Sublieferanten – durch Lieferanten). • Projekte sind singuläre Vorhaben mit spezifischen Leistungs-, Termin- und Kostenzielen. Es handelt sich i. d. R. um Vorhaben, die wegen ihres Umfangs und ihrer Bedeutung bewusst gegenüber den Routineaufgaben abgegrenzt werden (Grün 1992, Sp. 2102 ff.). Mit dem 2013 gestarteten „Projekt 2020“ hat die HOFER KG die Bedeutung der Nachhaltigkeit für das Unternehmen hervorgehoben und gegenüber anderen Vorhaben priorisiert. Die lange Projektdauer entspricht der Einsicht, dass die nachhaltige Beschaffung kein Sprint sondern ein „Marathonlauf“ ist (Cavaleri 2015, S. 113). Das Ziel ist anspruchsvoll, wie oben bereits ausgeführt: „Mit dem Projekt 2020 stellt sich HOFER der Herausforderung, dem Claim ‚täglich alles billiger einkaufen‘ mit einer nachhaltigen Nebenbedingung zu verknüpfen (‚ohne dass dafür andere draufzahlen müssen‘).“ (HOFER KG 2018c, online). Das Projekt umfasst Maßnahmen bzgl. der Ressourcen, des Klimaschutzes, der Gesundheit, der Mitarbeiter und des sozialen Bereichs. Bezüglich der Maßnahmen in der Landwirtschaft wird einerseits in lokale Beschaffung investiert, während international vor allem die Zertifizierung von Mindeststandards forciert wird. Das Projekt gliedert sich in eine Vielzahl von Teilprojekten (z. B. das Bienenprojekt) mit unterschiedlichen Zeithorizonten: Zum Beispiel sollen bis Ende 2020 Produkte mit Holz- oder Papierbestandteilen nur noch aus zertifizierten Quellen angeboten werden. D ­ erart operationalisierte Zielvorgaben

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sind eine wichtige Voraussetzung für wirksame Kontrollen. Im Rahmen von „Projekt 2020“ operiert die HOFER KG auch mit Events und Kampagnen. So fand anlässlich der von einem österreichischen Bundesministerium koordinierten Aktionstage auf dem Gelände der Zentrale ein „Tag des offenen Bienenstocks“ mit Führungen, Info-Ständen und Animationen für Kinder, Jugendliche und Erwachsene statt. Ziel war es, über die Lebensgewohnheiten dieser bedrohten Tierart und über die Imkereiarbeit zu informieren. Erwähnenswert sind auch Mitmachprojekte für Kunden und Mitarbeiter. • Die Sicherung eines nachhaltigen Beschaffungsmanagements kann durch Kooperationen wesentlich erleichtert werden. Kooperationen innerhalb der Unternehmensgruppe dienen dem Erfahrungsaustausch und sparen Ressourcen. Dies gilt insbesondere für das Lieferantenmanagement, wo die HOFER KG bei der Suche, der Auswahl, der Bewertung und der Entwicklung vom Know-how anderer Landesgesellschaften profitieren kann. Unternehmensgruppenextern gibt es ein breites Spektrum von Kooperationspartnern in wichtigen Handlungsfeldern des nachhaltigen Beschaffungsmanagement, die oben teilweise schon erwähnt wurden. Wir erinnern an die Zusammenarbeit mit NGOs, Initiativen und Zertifizierungsstellen, an Vereinbarungen zur Vermeidung von Plastiktaschen, an die Initiativen zur Forcierung des Elektroantriebs (u. a. zusammen mit Universitätsinstituten) oder an die Erstellung eines Kriterienkatalogs zum stufenweisen Verzicht auf bestimmte Chemikalien. Dabei fungiert die HOFER KG als Botschafter, als Partner oder als Sponsor, z. B. mit der ARA (Altstoff Recycling Austria) bei deren Initiative „Reinwerfen statt Wegwerfen“ und u.a. mit der Caritas, deren Sozialprojekte sie fördert. Zu den Kooperationen zählt auch die Mitarbeit in Arbeitsgruppen und Verbänden bzw. produktspezifischen Initiativen wie der Leather Working Group und dem ALDI Detox Commitment (zum ­Verzicht auf bestimmte Chemikalien bei der Textil- und Schuhproduktion).

15.4 Erfolgsmessung Wenn man das Ziel eines nachhaltigen Beschaffungsmanagements ernst nimmt, kann man auf die Kontrolle der Zielerreichung nicht verzichten. Folgerichtig sind nicht nur ein Nachhaltigkeitsreporting, sondern auch eine Nachhaltigkeitskontrolle als Einstieg in ein Nachhaltigkeitscontrolling zu etablieren. Dabei sind u. a. folgende Fragen zu klären: Was soll kontrolliert werden, wer kontrolliert, wann wird kontrolliert und welche Konsequenzen ergeben sich aus der Kontrolle? Die von der HOFER KG getroffene Wahl eines Projekts als organisatorischer Rahmen für die Ziele und Maßnahmen eines nachhaltigen Beschaffungsmanagements erleichtert die Erfolgsmessung ganz entscheidend. Da sich die Ziele meist auf bestimmte Produkte bzw. Lieferquellen beziehen und der Erfolg der Nachhaltigkeit am jeweils erreichten Anteil an der Gesamtmenge zu einem bestimmten Zeitpunkt gemessen wird (z. B. „Bis Ende 2018 sollen mindestens 80 % der Rohkaffee-Mengen aus zertifizierten Quellen stammen“), sind die Bildung von Kennziffern (KPIs) und deren Periodenvergleich relativ

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einfach. Die Einhaltung der Sozialstandards seitens der Sublieferanten wird in Hunderten von Audits dokumentiert und einem jährlichen Monitoring unterzogen. Der jährliche Kontrollrhythmus gilt beispielsweise ebenso für die Kakao- oder Palmöl-Einkaufspolitik. Eine Vereinfachung der Erfolgskontrolle ergibt sich auch durch die der Zertifizierung zugrunde liegenden Standards sowie durch den Einsatz spezialisierter (zum Teil akkreditierter) Kontrollinstanzen (vgl. die erwähnten Bio-Kontrollstellen für die Eigenmarken „Zurück zum Ursprung“ und „Natur aktiv“). Eine Konsequenz der Erfolgsmessung wurde bereits erwähnt, nämlich die Schulung der Lieferanten, wenn sie bestimmte Standards verfehlen. Eine Besonderheit der Erfolgsmessung für das nachhaltige Beschaffungsmanagement sind die Preise und Auszeichnungen durch Institutionen, die für Nachhaltigkeit zuständig sind (staatliche Stellen) oder sich dafür auf internationaler Ebene engagieren (insbesondere NGOs). Beispielhaft für NGO-Auszeichnungen, welche die HOFER KG erhalten hat, erwähnen wir die Greenpeace-Bestnoten für zwei Bio-Eigenmarken, für die Herkunft von Eiern in Fertigprodukten sowie für die mehrfach verwendbaren Künstler-Tragetaschen. Für die innovative Verpackung aus biogenem Material (für Gemüseprodukte) wurde der HOFER KG der fibrePLUS-Award der Vereinigung der österreichischen Papierindustrie (Austropapier) verliehen. Die Unterstützung einiger sozialer Projekte der Diakonie wurde mit dem „Wirtschaft hilft-Award“ ausgezeichnet. Im Jahr 2009 erhielt die HOFER KG den Österreichischen Klimaschutzpreis und im Jahr 2016 gewann sie den Energy Globe World Award in der Kategorie Luft.

15.5 Aktionspotenzial der Akteure des nachhaltigen Beschaffungsmanagements Wie in der Einleitung erwähnt, geht es hier um das Aktionspotenzial, das notwendig ist, um ein nachhaltiges Beschaffungsmanagement zu etablieren und auf Dauer zu betreiben. Im Einzelnen interessieren die Ausstattung, die Kompetenzen (insbesondere Vetorechte) und die hierarchische Positionierung der für das nachhaltige Beschaffungsmanagement verantwortlichen Stellen (zum Aktionspotenzial vgl. Grün 1994, S. 546 ff.). Die organisatorische Verankerung der Nachhaltigkeitsaktivitäten ist neben ihrem Niederschlag in der Unternehmenskultur eine wichtige Voraussetzung für ihre ­Wirksamkeit (Schoenheit et al. 2008, S. 33 ff.). Die HOFER KG wird diesem Anspruch insofern gerecht, als sie 2010 eine eigene CR-Abteilung (als „Stabsstelle“) im Zentraleinkauf eingerichtet und personell adäquat ausgestattet hat. Ihre Nähe zum Zentraleinkauf und damit zu den Produkten und Lieferanten ist Gewähr dafür, dass ihre Vorschläge und Empfehlungen die Adressaten ohne zwischengeschaltete Instanzen erreichen. Darüber hinaus obliegen ihr eine Monitoring-Rolle im Hinblick auf die Erreichung der Nachhaltigkeitsziele und vielfältige unternehmensweite Informationsund Koordinationsaufgaben. Ergänzend zu den CR-Teams in den einzelnen Landesgesellschaften gibt es bei ALDI SÜD eine personell gut ausgestattete internationale

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CR-Abteilung (CRI) mit Außenstellen in Hongkong und Bangladesch. Schließlich stärken internationale Gremien in der gesamten Unternehmensgruppe das Aktionspotenzial. Im Hinblick auf die organisatorische Verankerung ist auch die Wahl der Projektorganisation für die wichtigste Nachhaltigkeitsinitiative („Projekt 2020“) von Bedeutung. Das Projekt betrifft alle HOFER KG-Mitarbeiter, und die dort fixierten Ziele haben unternehmensweite Gültigkeit. Schließlich ist in diesem Zusammenhang auch die Abteilung Qualitätsmanagement zu erwähnen. Die dort tätigen Experten (z. B. Lebensmitteltechniker, Textil- und Elektroingenieure) definieren Qualitätsstandards und Prüfkriterien, beraten die Einkäufer und wählen unabhängige Prüfinstitute für die Projektkontrolle aus.

15.6 Bewertung der fallspezifischen Nachhaltigkeit Im Abschnitt über Erfolgsmessung ging es um den Vergleich des jeweiligen IstZustandes mit den von der HOFER KG avisierten Zielen. Im Folgenden werden deren Bemühungen zur Etablierung eines nachhaltigen Beschaffungsmanagement aus unternehmensexterner Sicht evaluiert. Hierbei sind sowohl die Anstrengungen der Konkurrenten der HOFER KG als auch die branchenspezifischen Erwartungen der Gesellschaft an den Handel relevante Maßstäbe. Was die Aktivitäten der Mitbewerber angeht, ist festzustellen, dass sich auch die anderen marktbeherrschenden Unternehmen (Rewe, Spar und Lidl) um ein nachhaltiges Beschaffungsmanagement bemühen. Dies wird am Beispiel der Rewe-Gruppe deutlich, die in zwölf europäischen Ländern (auch Österreich) mit ca. 15.000 Märkten und ca. 330.000 Mitarbeitern präsent ist (Fröhlich et al. 2015, S. 84 ff.). Ihre Kooperationen mit Lieferanten, ihre Projekte und ihre Initiativen stellen Fröhlich et al. in Form eines „House of Sustainable Relationship Management“ dar. Es wird aus drei vertikalen Säulen und drei horizontalen Ebenen gebildet. Die vertikalen Säulen sind Wertsteigerung (value-in), Kostenreduktion (cost-out) und Risikominimierung (risk-down). Die drei horizontalen Ebenen decken die Ökonomie (Ressourceneffizienz), die Ökologie (Umweltverträglichkeit) und Soziales (Sozialverantwortlichkeit) ab. Eine Maßnahme an der Schnittstelle zwischen der Säule Wertsteigerung und den Ebenen Ökologie und Soziales ist das Eigenmarken-Label „PRO PLANET“ für diverse Teile des Food- und Non-Food Sortiments. Das Label steht für die Beachtung ökologischer und sozialer Standards entlang der gesamten Wertschöpfungs- und Lieferkette. Eine weitere Maßnahme betrifft die Ebene Ökologie und die Säule Kostenreduktion. Es handelt sich um eine Kooperation mit strategischen Verpackungslieferanten mit dem Ziel, umweltfreundliche Inhaltstoffe für die Verpackung zu verwenden und den Rohstoffeinsatz zu reduzieren. Schließlich sei eine Initiative am Schnittpunkt der Säule Risikominimierung mit der Ebene Ökologie erwähnt: In Zusammenarbeit mit dem Bananenlieferanten Chiquita sollen die Tropen in Panama geschützt und die dort gewonnen Erfahrungen auf andere Anbaugebiete übertragen werden.

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Was die gesellschaftlichen Erwartungen betrifft, orientieren wir uns an den für die HOFER KG relevanten „Handlungsempfehlungen“ der Studie über die gesellschaftliche Verantwortung des Einzelhandels aus dem Jahr 2008 (Schoenheit et al. 2008, S. 67): • Förderung eines nachhaltigen Konsums – Dieser Empfehlung trägt die HOFER KG insofern Rechnung, als das sie die Gesundheit der Verbraucher ausdrücklich als ein Ziel des „Projekts 2020“ deklariert: „Als Lebensmittelhändler hat HOFER eine große Verantwortung. Wir fördern daher eine aktivere und gesündere Lebensweise.“ (HOFER KG 2018c, online). • Deutliche Ausweitung des nachhaltigen Produktsortiments – Wir konnten im Zusammenhang mit der Sortimentspolitik zeigen, dass für die wichtigsten Produktgruppen der HOFER KG (von Fleischprodukten über Genussmittel wie Kaffee bis zu Holzprodukten) anspruchsvolle Ziele in Bezug auf die Steigerung der Nachhaltigkeit formuliert und zu einem erheblichen Teil bereits erreicht wurden. • Umsetzung nachhaltiger Beschaffungsrichtlinien und Verbreitung des Konzepts der Business Social Compliance Initiative – Die Analyse der Lieferantenpolitik hat ergeben, dass bei der Suche, bei der Auswahl und bei der Bewertung der Lieferanten bzw. deren (Sub-)Lieferanten das Kriterium der Nachhaltigkeit einen hohen Stellenwert hat, und der Anteil der regional und global zertifizierten Lieferquellen kontinuierlich gesteigert wurde. Die HOFER KG ist seit 2008 Mitglied der freiwilligen privatwirtschaftlichen Business Social Compliance Initiative im Handel. • Bessere Information der Verbraucher über die Nachhaltigkeit der Produkte – Diese Empfehlung greift die HOFER KG u. a. dadurch auf, dass sie Bio-Eigenmarken wie „Zurück zum Ursprung“ und „Natur aktiv“ kreiert hat und massiv bewirbt. Darüber hinaus kann der Verbraucher mit dem Service „Check Your Product“ die Herkunft wichtiger Produktgruppen bis zum Erzeuger rückverfolgen. • Verbessertes CSR-Reporting und Beteiligung an unabhängigen CSR-Untersuchungen – Hierzu verweisen wir auf die diversen Kommunikationsanstrengungen der HOFER KG (siehe Abschn. 15.3.4) und deren intensive Zusammenarbeit mit unabhängigen Zertifizierungsstellen. Resümierend ist demnach festzustellen, dass die HOFER KG ihre gesellschaftliche Verantwortung nicht nur erkannt hat, sondern durch massive Anstrengungen auch wahrnimmt. Eine letzte Überlegung betrifft die Frage der Generalisierbarkeit der in der Einzelfallstudie gewonnenen Erkenntnisse über Ziele und Maßnahmen, über die Erfolgsmessung und über das Aktionspotenzial des nachhaltigen Beschaffungsmanagements. Zunächst gilt, dass Einzelfallstudien eine denkbar schmale empirische Basis aufweisen und dass die HOFER KG nur einen bestimmten Betriebstyp des Lebensmitteleinzelhandels repräsentiert (Discounter), der mit dem sprichwörtlichen Tante-Emma-Laden (fast) nichts gemein hat. Wenn man den Anspruch der Generalisierbarkeit allerdings auf die Mitbewerber der HOFER KG (Rewe, Spar und Lidl) beschränkt, die in Österreich

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zusammen ca. 85 % Marktanteil erreichen, ist die empirische Evidenz merklich größer, da HOFER im Marktanteil mit knapp 21 % an dritter Stelle (vor Lidl) gereiht ist. Insofern bietet unsere Einzelfallstudie mehr als eine bloße Möglichkeitsanalyse des nachhaltigen Beschaffungsmanagement. Es ist vielmehr davon auszugehen, dass die Großen Vier die jeweiligen Schwerpunktsetzungen und Aktivitäten ihrer Mitbewerber intensiv beobachten und für sich als handlungsrelevant betrachten. Im Übrigen profitieren auch die kleinen und die auf Bio-Produkte spezialisierten Läden von den Großen wie der HOFER KG, insbesondere von deren Anstrengungen, höhere Nachhaltigkeitsstandards in den Produkten und Produktionsverfahren der Lieferanten durchzusetzen.

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15  Nachhaltiges Beschaffungsmanagement im Lebensmitteleinzelhandel …

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HOFER KG. Über HOFER. https://www.HOFER.at/unternehmen/ueber-HOFER/ (2018d). Zugegriffen 16. Mai 2018 Kläsgen, M.: Das große Fressen. Süddeutsche Zeitung vom 25.07.2018 Kraljic, P.: Purchasing must become supply management. Harv. Bus. Rev. 61(5), 109–117 (1983) Lienbacher, E.: Corporate Social Responsibility im Handel. Diskussion und empirische Evidenz des alternativen Betriebstyps Sozialmarkt. Gabler, Wiesbaden (2013) Lingohr, T.: Nachhaltige Beschaffung in Entwicklungsländern. In: Fröhlich, E. (Hrsg.) CSR und Beschaffung: Theoretische wie praktische Implikationen eines nachhaltigen Beschaffungsprozessmodells, S. 221–235. Springer, Berlin (2015) Lorentschitsch, B.: Der Lebensmittelhandel im Spannungsfeld zwischen gesellschaftlicher Verantwortung und „Geiz ist geil“. In: Willers, C. (Hrsg.) CSR und Lebensmittelwirtschaft. Nachhaltiges Wirtschaften entlang der Food Value Chain, S. 331–344. Gabler, Berlin (2016) Oelze, N.: Implementierung von Umwelt- und Sozialstandards entlang der Wertschöpfungskette: Lernen aus den Erfahrungen führender Unternehmen. In: Fröhlich, E. (Hrsg.) CSR und Beschaffung: Theoretische wie praktische Implikationen eines nachhaltigen Beschaffungsprozessmodells, S. 37–54. Springer, Berlin (2015) Pittner, M.: Consumer Segment LOHAS. Springer Fachmedien, Wiesbaden (2017) Rottwilm, I., Theuvsen, L.: Nachhaltigkeitskommunikation in der Ernährungswirtschaft. In: Willers, C. (Hrsg.) CSR und Lebensmittelwirtschaft. Nachhaltiges Wirtschaften entlang der Food Value Chain, S. 119–137. Gabler, Berlin (2016) Schoenheit, I., Grünewald, M., Krischak, S.: CSR im Handel. Die gesellschaftliche Verantwortung des Einzelhandels. imug Institut für MarktUmwelt-Gesellschaft e. V. an der Leibniz Universität, Hannover (2008) Schoenheit, I., Schleer, C.: CSR-Kommunikation im Glaubwürdigkeitstest: Ein Anforderungsprofil aus Sicht der Konsumenten. In: Hansen, U., Schoenheit, I. (Hrsg.) Corporate Social Responsibility. Auf dem Weg zur Akzeptanz und Glaubwürdigkeit, S. 317–336. imug Institut für Markt-Umwelt-Gesellschaft e. V., Hannover (2012) Schröder, S.: Supplier Code of Conduct: CSR und Vertragsgestaltung mit Lieferanten – „Ansprüche an Compliance und Nachhaltigkeit glaubhaft vertreten und durchsetzen“. In: Fröhlich, E. (Hrsg.) CSR und Beschaffung: Theoretische wie praktische Implikationen eines nachhaltigen Beschaffungsprozessmodells, S. 145–160. Springer, Berlin (2015) Willers, C.: CSR in der Lebensmittelwirtschaft – eine Einleitung. In: Willers, C. (Hrsg.) CSR und Lebensmittelwirtschaft. Nachhaltiges Wirtschaften entlang der Food Value Chain, S. 3–22. Gabler, Berlin (2016) Yin, R.K.: Case Study Research: Design and Methods, 5. Aufl. Sage, Thousand Oaks (2014)

Sonstige Quellen HOFER KG. Interview mit der Leiterin der Abteilung Corporate Responsibility am 10.07.2018 in Sattledt (Oberösterreich) HOFER KG. Interne Dokumente

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O. Grün und J.-C. Brunner Em. o.Univ.Prof. Dr. Oskar Grün  war Vorstand des Instituts für Organisation und Materialwirtschaft (Supply Management) an der Wirtschaftsuniversität Wien. Neben der Beschäftigung mit Entscheidungsprozessen und Innovationen – insbesondere Großprojekten – bilden konzeptionelle Fragen sowie Kern- und Supportprozesse der Materialwirtschaft einen Schwerpunkt seiner Lehre und Forschung.

Jean-Claude Brunner  ist Consultant für Business Intelligence und Business Analyse bei einer Technologieberatung. Zuvor war er Mitarbeiter am Institut für Organisation und Materialwirtschaft (Supply Management) an der Wirtschaftsuniversität Wien.

Proaktives Risikomanagement als Unterstützung einer nachhaltigen Beschaffung

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Felix Walther, Christoph Hein und Wanja Wellbrock

Zusammenfassung

Um Nachhaltigkeit zu erreichen, benötigen Unternehmen einen ganzheitlichen und risikoadjustierten Planungsprozess. Für die Umsetzung des Prozesses bedarf es transparenter Datenbestände und eines zukunftsorientieren Datenmanagements. Dieser Beitrag analysiert, inwieweit ein proaktives Datenmanagement zur Vermeidung und Steuerung von Supply-Chain-Risiken beitragen kann. Der gewünschte Sollzustand wird anschließend anhand einer empirischen Studie mit der Umsetzung in der Realität verglichen. Ein selbst entwickeltes Reifegradmodell ermöglicht letztendlich die Eingruppierung von Unternehmen auf ihrem Weg zu einem proaktiven nachhaltigen Vorgehen. Der Fokus liegt hierbei auf einer unternehmensübergreifenden Ausrichtung im Sinne des Supply Chain Managements.

16.1 Bedeutung eines transparenten Datenmanagements Ein nachhaltig handelndes Unternehmen benötigt eine risikoadjustierte Strategie für alle Unternehmensbereiche. Risikomanagement muss daher integraler Bestandteil einer auf Nachhaltigkeit ausgerichteten Unternehmensstrategie sein. Einer Studie des

F. Walther E-Mail: [email protected] C. Hein E-Mail: [email protected] W. Wellbrock () E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 W. Wellbrock und D. Ludin (Hrsg.), Nachhaltiges Beschaffungsmanagement, https://doi.org/10.1007/978-3-658-25188-8_16

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F. Walther et al.

­ eratungsunternehmens Ocean Tomo zufolge lassen sich nur 16 % des Börsenwerts B aller S&P 500 gelisteten Unternehmen durch den Wert ihrer physischen und finanziellen Vermögenswerte erklären. Die restlichen 84 % bestehen aus immateriellen Vermögenswerten, wie beispielsweise intellektuelles Kapital oder Markennamen (Ocean Tomo 2017, online). Dennoch wird in den wenigsten Unternehmen beispielsweise ein risikoadjustierter Planungsprozess zum Schutz dieser Vermögenswerte verfolgt. Im Sinne einer nachhaltigen Unternehmensentwicklung muss der Risikomanagementprozess zudem kontinuierlich an die sich verändernden Rahmenbedingungen angepasst werden. Potenzielle Risiken entlang der Supply Chain und innerhalb des eigenen Unternehmens müssen proaktiv identifiziert und aggregiert werden. Die Basis für ein nachhaltiges Risikomanagement ist daher ein transparentes Datenmanagement, welches alle verfügbaren Daten zur Analyse verwendet. Nur bei einer qualitativ hochwertigen Datenlage können Eintrittswahrscheinlichkeiten und Auswirkungen der unterschiedlichen Risiken ermittelt werden. Nur so können Unternehmen den disruptiven Veränderungen im Rahmen der Digitalisierung begegnen.

16.2 Definitorische Abgrenzung 16.2.1 Nachhaltigkeit Durch die Arbeit der Brundtland Kommission wurde 1987 der Begriff „Nachhaltigkeit“ erstmals in seinem heute gebräuchlichen Dreiklang aus ökologischen, ökonomischen und sozialen Aspekten definiert (World Commission on Environment and Development 1987, S. 43). Auch wenn es andere Definitionen des Begriffes gibt, so hat diese sich am ehesten als allgemeingültig durchsetzen können: „Sustainable development is development that meets the needs of the present without compromising the ability of future generations to meet their own needs“ (World ­Commission on Environment and Development 1987, S. 43). Vor diesem Hintergrund lässt sich eine nachhaltige Entwicklung mit dem Begriff „Nachhaltigkeit“ gleichsetzen. Folglich ist die nachhaltige Entwicklung eine solche, die den Bedürfnissen der heutigen Generation nachkommt, ohne die Fähigkeiten zur Bedürfnisbefriedigung zukünftiger Generationen zu kompromittieren. Im Unternehmenskontext werden drei Dimensionen der Nachhaltigkeit betrachtet: • Die ökonomische Nachhaltigkeit zielt darauf ab, die Stabilität und Kontinuität der Vermögensposition des Unternehmens zu gewährleisten. Voraussetzung dafür sind eine wirtschaftliche Entwicklung mit dauerhaftem Wachstum, Innovationsbereitschaft und -fähigkeit sowie die Erhaltung des Kapitalstocks. • Die Ziele der ökologischen Dimension sind die Erhaltung natürlicher Ressourcen, die Verbesserung der Umweltqualität, die Verringerung des Rohstoff- und Energieverbrauchs, der Schutz der biologischen Vielfalt sowie die Vermeidung des Risikos

16  Proaktives Risikomanagement als Unterstützung einer …

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Abb. 16.1   Triple Bottom Line. (Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an Faris et al. 2013, S. 1)

für Menschen und Umwelt, etwa durch die Nutzung erneuerbarer Ressourcen und die Schaffung von Substituten für alle verbrauchten, nicht-erneuerbaren Ressourcen. • Die soziale Nachhaltigkeit zielt darauf ab, dass der heutige soziale Standard auch für künftige Generationen mindestens erhalten bleibt. Dazu zählen unter anderem Menschenrechte, Gesundheit, Wohlstand, individuelle Freiheit, soziale Sicherheit, Chancengleichheit und Bildungschancen. Die Triple Bottom Line ist ein von John Elkington 1997 entwickeltes Konzept, das die drei Dimensionen der Nachhaltigkeit und das betriebswirtschaftlich Wünschenswerte mit den Prinzipien der nachhaltigen Entwicklung vereint. Wie in Abb. 16.1 dargestellt, herrscht Nachhaltigkeit dort, wo sich alle drei Dimensionen überschneiden (Jentjens und Münchow-Küster 2012, S. 12–16).

16.2.2 Risikomanagement Risiken sind die aus der Unvorhersehbarkeit der Zukunft resultierenden, durch „zufällige“ Störungen verursachten Möglichkeiten, von geplanten Zielwerten abzuweichen. Risiken können daher auch als „Streuung“ um einen Erwartungs- oder Zielwert betrachtet werden. Risiken sind immer nur in direktem Zusammenhang mit der Planung eines Unternehmens zu interpretieren. Mögliche Abweichungen von den geplanten Zielen stellen Risiken dar – und zwar sowohl negative („Gefahren“) wie auch positive Abweichungen („Chancen“) (Risknet.de 2018a, online). Im Hinblick auf die stetig zunehmenden disruptiven Technologien und Innovationen, die als charakteristisch für die Digitalisierung gelten, steigt die Relevanz volatiler Risiken und somit auch der Mehrwert präventiver Maßnahmen. Mittels moderner Methoden, wie beispielsweise Datenanalysen und Simulationen, lassen sich Korrelationen oder Muster von Daten erfassen, präzise Prognosen erstellen und somit potenzielle Risiken oder Chancen frühzeitig erkennen und angehen. Die systematische Koordination,

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F. Walther et al.

­ lanung und Ausführung dieser risikosteuernden Maßnahmen werden in einem strategiP schen Risikomanagement zusammengefasst. Die fachspezifische Einordnung eines solchen Risikomanagements kann wie folgt vorgenommen werden: Das Risikomanagement umfasst Prozesse und Verhaltensweisen, die darauf ausgerichtet sind, eine Organisation bezüglich Risiken zu steuern. Risikomanagement identifiziert, analysiert und bewertet potenzielle Risiken, die die Vermögens-, Finanz- und Ertragslage eines Unternehmens mittel- und langfristig gefährden könnten. Das Ziel besteht in der Sicherung des Fortbestandes eines Unternehmens, der Absicherung der Unternehmensziele gegen störende Ereignisse und in der Steigerung des Unternehmenswertes (Risknet.de 2018a, online).

16.2.3 Supply Chain Risk Management Supply Chain Management zielt darauf ab, die materialflussaufwärts (upstream) bzw. -abwärts (downstream) gerichteten Beziehungen zu Zulieferern und Kunden zu optimieren und den Kundennutzen bei insgesamt möglichst geringen Kosten zu erhöhen. Auf der anderen Seite erhöht diese Ausrichtung auf Effizienz und schlanke Strukturen auch die Anfälligkeit für Unterbrechungen der Lieferketten und resultiert in einer erhöhten Risikoposition der Unternehmen (Christopher 2005, S. 65). Die folgenden sechs Supply Chain Management-Strategieelemente wirken als Treiber auf dessen Verwundbarkeit ein (Jüttner 2005, S. 134): • Globalisierung • Reduzierung der Bestände entlang der Netzwerke • Zentralisierung von Produktions- und Distributionsstandorten • Outsourcing von Wertschöpfungsbestandteilen • Reduktion von Lieferanten pro Zulieferteil • Mangelnde Transparenz und ungenügender Informationsfluss, der maßgeblich dazu beiträgt, dass aus begrenzten Ereignissen große Schäden entstehen können Unter Supply Chain Risk Management wird der Baustein innerhalb des Supply Chain Managements verstanden, der alle Strategien und Maßnahmen, alle Prozesse sowie alle Technologien umfasst, die auf technischer, personeller und organisatorischer Ebene dazu geeignet sind, das Risiko innerhalb der Supply Chain zu minimieren (Kersten et al. 2007, S. 1171). Ein proaktives und auf langfristige Chancen und Risiken ausgerichtetes Nachhaltigkeitsmanagement bedeutet, sowohl geltendes Recht zu achten als auch, sich auf bevorstehende Regulierungen vorzubereiten bzw. diese zu antizipieren.

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16.3 Supply Chain und damit verbundene Risiken 16.3.1 Grundlagen zum Bereich Risiken in der Supply Chain Die Supply Chain ist ein globales Netzwerk aus verschiedenen Organisationen, die zusammenarbeiten, um den Material- und Informationsfluss zwischen Zulieferern und Kunden bei möglichst geringen Kosten und einer hohen Geschwindigkeit zu verbessern. Ein Wertschöpfungsnetzwerk besteht ausfolgenden Elementen: Zulieferer, Produktionsstandorte, Transportdienstleister, Lagerhäuser, Distributionszentren, Händlerorganisationen, Materialfluss zwischen den einzelnen Einrichtungen (Rohmaterial, Halbfertigerzeugnisse und Fertigwaren), Informationsfluss, Kapitalfluss, Servicefluss und Wissensfluss (Bowersox et al. 2007, S. 6; Simchi-Levi et al. 2004, S. 1). Die Elemente eines Wertschöpfungsnetzwerks lassen sich verschiedenen Teilsystemen zuordnen, wie beispielsweise dem Lieferantennetzwerk, dem Distributionsnetzwerk und dem betrachtenden Produktionsunternehmen selbst (siehe Abb. 16.2). In der Literatur zum Supply Chain Risk Management hat sich eine Definition durchgesetzt, nach der sich die Betrachtung von Supply-Chain-Risiken nicht allein auf das eigene Unternehmen erstrecken kann, sondern ebenso eine Einbindung der Kunden, Lieferanten und deren Vorlieferanten in die Analyse notwendig ist (Norrman und Lindroth 2004, S. 20). Da Risiken immer nur in einem direkten Zusammenhang mit der Planung eines Unternehmens zu interpretieren sind, können Supply-Chain-Risiken als mögliche Abweichungen von den geplanten Zielen des Logistiknetzwerks wie Qualität, L ­ieferzuverlässigkeit,

Abb. 16.2  Allgemeines Supply-Chain-Modell. (Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an Kersten et al. 2008, S. 9)

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Flexibilität und Kosten verstanden werden. Supply-Chain-Risiken sind in den vergangenen Jahren durch andere Autoren bereits ausführlich und detailliert behandelt worden. Typische Supply-Chain-Risiken umfassen: • Angebotsrisiken wie Kapazitätsengpässe, Qualitätsprobleme, Produktdesignänderungen oder Lieferschwierigkeiten • Beschaffungsrisiken wie Wechselkurse, Lagerbestände • Logistische Risiken • Risiken in den Beziehungen der Mitglieder eines Wertschöpfungsnetzwerks wie Betriebsstörungen oder moralisches Fehlverhalten • Nachfragerisiken wie Nachfragevolatilität, falsche Absatzplanung oder der Bullwhip-Effekt • Infrastruktur- und systemische Risiken wie Pannen oder Produktionsausfälle Wird die Triple Bottom Line zugrunde gelegt, kommen zu diesen klassischen Supply-Chain-Risiken noch die in Tab. 16.1 dargestellten, nach endogenen und exogenen Risikofaktoren aufgeteilten Nachhaltigkeitsrisiken hinzu:

16.3.2 Risikoarten Um Supply-Chain-Risiken zu klassifizieren und geeignete Steuerungsmaßnahmen zu identifizieren, sollten sie nach ihrem Entstehungs- und Wirkbereich, den betroffenen Managementebenen und der potenziellen Schadenhöhe eingeordnet werden (Kersten et al. 2008, S. 11). In Anlehnung an eine flussorientierte SCM-Definition können die Risiken zudem in Material-, Informations- und Finanzflussrisiken unterschieden werden. Eine Klassifizierung nach Risikoquellen ordnet betriebliche Risiken den Quellen Beschaffung, Produktion und Absatz zu. Nach Art der potenziellen Schäden können Supply-Chain-Risiken außerdem in finanzielle, leistungsbezogene, materielle, immaterielle, soziale und zeitbezogene Schäden klassifiziert werden. Christopher und Peck (2004, S. 4 f.) unterscheiden drei Risikogruppen, je nachdem ob die Risiken endogen, also innerhalb des betrachteten Unternehmens, innerhalb der betrachteten Supply Chain oder exogen, also im Umfeld des Wertschöpfungsnetzwerks entstanden sind (Christopher und Peck 2004, S. 4 f.).

16.3.3 Management von Nachhaltigkeitsrisiken in der Supply Chain Mit der Umsetzung der europäischen Corporate Social Responsibility (CSR)-Richtlinie zur Berichterstattung über nicht-finanzielle Aspekte und dem von der Bundesregierung

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Tab. 16.1   Nachhaltigkeitsbezogene Supply-Chain-Risiken. (Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an Giannakis und Papadopoulos 2015, S. 457) ENDOGEN

EXOGEN

Ökologisch Umwelt-Unfälle (Feuer, Explosionen)

Naturkatastrophen

Verschmutzung (Luft, Wasser)

Wasserknappheit

Nichteinhaltung von Nachhaltigkeitsrichtlinien

Hitzewellen, Dürren

Emission von Treibhausgasen Energieverschwendung Unnötige Verpackungen Produktabfälle Sozioökonomisch Überhöhte Arbeitszeiten

Pandemien

Unfaire Löhne

Soziale Unruhen

Kinderarbeit/Zwangsarbeit

Demografische Herausforderungen

Diskriminierung (Rasse, Geschlecht, Religion…) Arbeitsplatzsicherheit Sittenwidrige Einstellungspraktiken Unethisches Verhalten ggü. Tieren Finanziell/Ökonomisch Bestechungszahlungen

Boykotte

Unrechtmäßige Forderungen

Rechtsstreitigkeiten

Preisabsprachen

Energiepreisschwankungen

Kartellverfahren

Finanzkrisen

Patentverstöße Steuerflucht

im Dezember 2016 beschlossenen Nationalen Aktionsplan Wirtschaft und Menschenrechte sowie dem CSR-Forum wurden bereits Maßstäbe zur Wahrnehmung gesellschaftlicher Verantwortung gesetzt (Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit 2017, online). Einer Studie von KPMG folgend haben so gut wie alle Global 250-Unternehmen Nachhaltigkeitsziele definiert und Verhaltensgrundsätze für ihr Lieferkettenmanagement implementiert. Dennoch veröffentlichen nur rund die Hälfte der Firmen Details über die Prozesse und Mechanismen, mit denen sie die Einhaltung dieser Verhaltensgrundsätze kontrollieren (KPMG 2017, S. 4). Das Problem dabei ist, dass die meisten Wertschöpfungsnetzwerke ihren Ursprung in asiatischen Ländern haben und zunehmend auch dort oder in anderen Schwellen- und Entwicklungsländern enden. Dennoch ist das Bewusstsein in diesen Ländern für Themen der Nachhaltigkeit kaum vorhanden. Bei diesen verarbeitenden und dienstleistenden

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Unternehmen handelt es sich zum Großteil um kleinere und mittlere Unternehmen (SMEs). Diese SMEs sind ein wichtiger Bestandteil in den Wertschöpfungsnetzwerken von größeren Unternehmen. Entsprechende Einflussmöglichkeiten für die größeren Unternehmen, die Produktionsabläufe und -technologien in diesen SMEs nachhaltiger zu gestalten, wären demzufolge gegeben (Seuring et al. 2008, S. 1550).

16.4 Supply-Chain-Risikomanagementprozess Analog zum Standard-Risikomanagementprozess bildet die Risikostrategie auch beim Supply Chain Risk Management die integrative Klammer und das Fundament des gesamten Risikomanagementprozesses. Sie beinhaltet vor allem die Formulierung von Risikomanagementzielen in Form einer Risikopolitik sowie die Definition einer zugrunde liegenden Organisation. Der operative Risikomanagementprozess besteht aus fünf aufeinander aufbauenden Stufen (siehe Abb. 16.3).

16.4.1 Identifikation von Risiken Einer aktuellen Umfrage zufolge haben rund 40 % der Lieferketten-Unterbrechungen ihren Ursprung in Sub-Lieferanten-Strukturen. Dennoch überwachen nur rund 20 % der Unternehmen die Ebene unterhalb der direkten Lieferanten (Tier 1) (Risknet.de 2018c, online). Den Startpunkt für die Ermittlung von potenziellen und tatsächlichen Nachhaltigkeitsrisiken bildet deshalb die sukzessive Darstellung der einzelnen Stufen der Lieferkette. Abb. 16.4 zeigt, wie die Verbindung aus den Aktivitäten in der Lieferkette und den

Abb. 16.3  Operativer Risikomanagementprozess in fünf Stufen. (Quelle: Eigene Darstellung)

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daraus entstehenden Nachhaltigkeitsaspekten und -auswirkungen als Wirkungskette zu verstehen ist (Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit 2017, online). Nachhaltigkeitsrisiken sind meistens „neu“ auftretende Risiken, die im Rahmen globaler und regionaler Megatrends wie steigender Konsumentenmacht, Klimawandel und Ressourcenverknappung zunehmend auftreten. Der relative Bedeutungszuwachs spiegelt sich auch in der im Global Risk Report 2018 des World Economic Forums veröffentlichten Aufstellung der zehn Top-Risiken nach Eintrittswahrscheinlichkeit und Auswirkung wider (World Economic Forum 2018, online). Im Verlauf der letzten zehn Jahre hat sich der Fokus dieses Reports von ökonomischen auf gesellschaftliche, geopolitische und ökologische Risiken verlagert. Dominierten im Jahr 2008 noch Risiken wie ein weiterer Preisverfall von finanziellen Vermögenswerten, eine sich verlangsamende Konjunktur in China, eine Abkehr von der Globalisierung und geopolitische Risiken in Nahost die Risikolandkarte, stellen in 2018 Klima- und Naturrisiken die Hauptrisiken nach Eintrittswahrscheinlichkeit und Auswirkung dar. Grundlegend lassen sich drei unterschiedliche Arten von Techniken zur Risikoidentifikation unterscheiden:

Abb. 16.4  Wirkungskette der Aktivitäten in der Lieferkette auf Nachhaltigkeitsaspekte. (Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit 2017, S. 14)

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• Kreativitätsmethoden sind durch divergentes Denken charakterisiert, um weitestgehend flexibel zu neuen Erkenntnissen, Einfällen und Szenarien der zukünftigen Risikolandkarte zu kommen (Risknet.de 2012a, online). Organisations- und funktionsübergreifende Expertenteams sammeln etwa über Brainstorming oder in Experteninterviews potenzielle Nachhaltigkeitsrisiken. Das BMU empfiehlt unternehmensexterne Gruppen und Stakeholder in den Risikoidentifikationsprozess miteinzubeziehen, um die Außensicht auf das Unternehmen zu berücksichtigen. Beispiele hierfür sind NGOs, wissenschaftliche Einrichtungen und Branchenverbände, welche Ländergutachten, Nachhaltigkeitsratings bis hin zu Einschätzungen über die Nachhaltigkeit von Unternehmen in bestimmten Ländern anbieten (Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit 2017, S. 21 f.). • Analytisch-strukturierte Techniken: Risikochecklisten sind eine einfach anzuwendende Technik zur Überprüfung bereits bekannter Supply-Chain-Risiken. Die Ausfalleffektanalyse (Failure Mode and Effects Analysis (FMEA)), die ihren Ursprung im Militär hat, ist eine systematische, halbquantitative Risikoanalysemethode. Sie analysiert präventiv Fehler und deren Ursache. Das Vorgehen gliedert sich meistens in die vier Bestandteile I) Beschreibung des Systems, II) Zerlegung des Gesamtsystems in unterschiedliche Funktionsbereiche, III) Untersuchung der potenziellen Störungszustände der einzelnen Komponenten und IV) der Ableitung von Auswirkungen auf das Gesamtsystem. Jeder Risikofaktor wird anschließend mithilfe einer Rating-Skala („1“ (sehr gering) bis „10“ (sehr hoch)) nach Schadensausmaß, Eintrittswahrscheinlichkeit und Entdeckungswahrscheinlichkeit bewertet, um anschließend eine Risiko-Prioritätszahl zu berechnen (Giannakis und Papadopoulos 2015, S. 460–461). • Spezielle Techniken mit Supply-Chain-Charakter: Die Supply Chain Risk Map ist ein strukturierter Ansatz, um Risikoquellen ausgewählter Supply Chains grafisch abzubilden und ihre potenziellen Konsequenzen zu verstehen. Die Auswahl/Priorisierung der zu berücksichtigenden Supply-Chain-Glieder kann anhand der Parameter „strategische Bedeutung“ (hoher Ertrag) und „Verwundbarkeit“ (hohe Anzahl an Unterbrechungen in der Vergangenheit) erfolgen. Die grafische Darstellung erleichtert die Identifikation kritischer Lieferkettenpartner und Prozesse mit schwachen Sicherheitsvorkehrungen (Bayer und Bioly 2014, S. 43 f.) und ermöglicht die Analyse weiterer Einflussfaktoren auf Nachhaltigkeitsrisiken wie dem Land, Branche, Struktur der Lieferkette, der Beziehung zu Lieferanten und Möglichkeiten der Beeinflussung und dem Nachhaltigkeitsniveau von Lieferanten (Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit 2017, S. 22). Bayer und Bioly (2014) halten fest, dass mit der subjektiven Bewertung der Risiken bei der FMEA – insbesondere der Eintrittswahrscheinlichkeit – eine große Schwankungsbreite der Risiko-Prioritätszahl einhergeht und eine Scheingenauigkeit suggeriert wird (Bayer und Bioly 2014, S. 39). Romeike und Hager merken an, dass Supply-Chain-Risiken meist keine singulär zu betrachtenden Ereignisse sind, sondern mit vielen anderen Ereignissen verbunden sind, von denen einige Hauptursachen, manche allerdings

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auch lediglich Folgeereignisse sind. Die klassische FMEA vernachlässigt diese Interdependenzen, eine Analyse der Abhängigkeiten zwischen den einzelnen Komponenten des Gesamtsystems findet nicht statt. Aus diesem Grund wird die FMEA in der Praxis häufig durch andere Verfahren wie der Fehler- und Ereignisbaumanalyse komplementiert (Risknet.de 2018b, online). Simchi-Levi et al. (2014) merken die Nachteile der Supply Chain Risk Map – insbesondere der Priorisierung anhand der Parameter strategische Bedeutung und Verwundbarkeit – an, da nur zwei Prozent der Lieferanten – Lieferanten von sogenannten A-Teilen, die möglicherweise in vielen Produkten vorhanden sind – im Falle einer Unterbrechung einen signifikant negativen Einfluss auf den Gesamtumsatz eines Unternehmens hätten. Deshalb schlagen sie eine Vorgehensweise vor, bei der vor allem diejenigen Knotenpunkte im Wertschöpfungsnetzwerk betrachtet werden, bei denen die Wiederinstandsetzungszeit (Time to Recovery) nach einer Unterbrechung besonders hoch ist.

16.4.2 Bewertung von Nachhaltigkeitsrisiken Die Quantifizierung von Nachhaltigkeitsrisiken ist aufgrund fehlender historischer Daten schwierig. Quantitative Methoden wie die Value at Risk (VaR)-Methode oder die Sensitivitätsanalyse kommen bei der Bewertung von Supply-Chain-Risiken selten zum Einsatz, da objektive Werte für das Schadensausmaß sowie die Eintrittswahrscheinlichkeit (VaR) fehlen, und sich ein Zusammenhang zwischen einer einzelnen Inputgröße und der Zielgröße (Sensitivitätsanalyse) aufgrund der wechselseitigen Abhängigkeiten zwischen Nachhaltigkeitsrisiken nicht darstellen lässt. Risikosimulationen bezeichnen die Abbildung eines realen Systems in einem Modell und die systematische Durchführung von Experimenten an diesem Modell mit dem Ziel, zukünftige Zustände einzelner Systemkomponenten oder des Gesamtsystems zu prognostizieren (Bayer und Bioly 2014, S. 33–35). Eine Variante des Verfahrens ist die historische Simulation, die allerdings eine Datenbank zu Nachhaltigkeitsrisiken voraussetzt. Diese wiederum erlaubt die Bildung von Korrelationen und Simulationen in Bezug auf die möglichen Auswirkungen der Nachhaltigkeitsrisiken auf den Marktwert, das Ergebnis und Wettbewerbsanteile (Faris et al. 2013, S. 8). Die Fehler- und Ereignisbaumanalyse (FTA und ETA) gehören zu den semi-quantitativen Methoden, die sich sowohl für die quantitative als auch für die qualitative Evaluation eignen. Im Rahmen der Fehlerbaumanalyse wird zunächst das unerwünschte Supply-Chain-Ereignis bzw. die Nachhaltigkeitsauswirkung identifiziert. Im nächsten Schritt wird dieses Ereignis in einzelne, nicht weiter unterteilbare Ursachen und den dazugehörigen Aktivitäten zerlegt. Die Ereignisbaumanalyse ist hingegen eine induktive Methode, die mit der Identifikation des auslösenden Ereignisses/den Aktivitäten beginnt. Ausgehend von dem auslösenden Ereignis wird der Baum bei jeder Folgereaktion weiter aufgespannt, sodass sich verschiedene Szenarien gestalten lassen.

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Die ­Fehlermöglichkeits- und Einflussanalyse (FEMA) ist ein Verfahren, das bereits im Abschnitt zur Risikoidentifikation behandelt wurde. Qualitative Methoden bieten sich insbesondere dann an, wenn sich die Eintrittswahrscheinlichkeit und die Schadenshöhe des Nachhaltigkeitsrisikos nicht exakt messen lassen. Bei der Methode der Risikoklassifizierung werden die Risiken auf einer RatingSkala (z. B. Likert-Skala) hinsichtlich ihrer Eintrittswahrscheinlichkeit/Häufigkeit und dem Schadensausmaß erfasst und somit vergleichbar gemacht, wodurch die anschließende Wahl der später einzuleitenden Maßnahmen erleichtert wird. Die Szenarioanalyse ist eine Bewertungsmethode, die den Einbezug qualitativer Aspekte und quantitativer Daten erlaubt. Die Grundidee ist, einen oder mehrere alternative Zustände zu beschreiben und anhand dieser Beschreibung Konsequenzen auf eine zu untersuchende Fragestellung abzuleiten. In der Regel werden zunächst potenzielle Einflussfaktoren unter Einsatz von Kreativitätstechniken gesammelt und durch vertiefende Experteninterviews ergänzt. Anschließend werden die identifizierten Einflussfaktoren mithilfe der Einflussfaktorenanalyse oder einer Einfluss-Unsicherheitsanalyse priorisiert. Als Faustregel sollten in der Folge nicht mehr als zwanzig Einflussfaktoren übrig bleiben, für die in einem nächsten Schritt realistisch erscheinende Ausprägungen festgelegt werden. Quellen für diese Festlegung sind Studien, Experteninterviews, Extrapolationen, Gruppendiskussionen und Intuition. Durch eine Kombination verschiedener Ausprägungen der Einflussfaktoren werden anschließend Szenarien gebildet. Diese werden wiederum auf ihre Konsistenz überprüft, auf ihren Einfluss auf die Supply Chain analysiert und die sich aus ihnen ergebenden Konsequenzen und Maßnahmen abgeleitet (Romeike und Hager 2013, S. 71). Die quantitative Beschreibung der Häufigkeit von Verlustfällen infolge von Nachhaltigkeitsrisiken erfolgt über klassische Schadenanzahlverteilungen wie der Poisson-Verteilung oder der negativen Binomialverteilung. In der Regel ist aber die Schadenanzahl nur von untergeordneter Bedeutung und die dominierende Komponente ist die Einzelverlusthöhe. Diese wird meistens durch klassische rechtsschiefe Verteilungen wie der Exponential-, der Weibull- oder Lognormalverteilung am besten ­charakterisiert. Im Rahmen der Risikobewertung in der Supply Chain ist zu beachten, dass das Risiko nicht ausschließlich unternehmensintern betrachtet wird, sondern ebenfalls die relationale Ebene zwischen zwei direkt verbunden Elementen der Supply Chain und die ganzheitliche Netzwerkebene zu berücksichtigen sind. Nur so lassen sich die Gesamtwirkungen auf das Wertschöpfungsnetzwerk ermitteln.

16.4.3 Risikoaggregation Das geeignetste Verfahren zur Risikoaggregation stellt die Monte-Carlo-Simulation dar. Im Prinzip wird durch die Monte-Carlo-Simulation eine repräsentative Stichprobe aller möglichen Risikoszenarien eines Unternehmens generiert. Zielsetzung der

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Risikoaggregation ist die Bestimmung der Gesamtrisikoposition eines Unternehmens und die Ermittlung I) der relativen Bedeutung einzelner Risiken auf Zielgrößen wie Gewinn, Cash-Flow und den Unternehmenswert und II) der durch Risiken verursachten „Streuungsbänder“ (die möglichen Abweichungen) der zukünftigen Gewinne und anderer Positionen der Plan-GuV. Als Ergebnis erhält das Unternehmen eine risikoadjustierte Bandbreitenplanung (Gleißner 2004, S. 350–359).

16.4.4 Steuerung von Nachhaltigkeitsrisiken in der Supply Chain Giannakis und Papadopoulos bieten einen aussagefähigen Überblick über die verschiedenen Nachhaltigkeitsrisiken und geeignete Risikosteuerungsmaßnahmen, dessen ausführliche Behandlung den Rahmen dieses Beitrags allerdings sprengen würde. Deshalb sei an dieser Stelle auf die gängigsten Risikominderungsstrategien verwiesen. In der Literatur findet oft eine Unterscheidung in ursachenbezogene und wirkungsbezogene Maßnahmen statt (siehe Abb. 16.5). Zu den ursachenbezogenen Maßnahmen zählen die Risikovermeidung und die Risikominderung. Die Risikovermeidung beinhaltet die Vermeidung aller Aktivitäten, die zu einem Exposure gegenüber Nachhaltigkeitsrisiken führen könnten, beispielsweise durch Auswahlverfahren oder Audits, in denen nicht nachhaltige Technologien, Prozesse oder Lieferanten nicht berücksichtigt oder aufgegeben werden (Giannakis und Papadopoulos 2015, S. 465–468). Risikominderung umfasst exemplarisch die ganzheitliche Übertragung von Risiken an Lieferanten oder andere Wertschöpfungspartner.

Abb. 16.5   Risikosteuerungsmaßnahmen. (Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an ­Risknet.de 2018d, online)

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Zu den wirkungsbezogenen Maßnahmen zählen die Risikobegrenzung, die Risikoversicherung und die Selbsttragung. Eine Art der Risikobegrenzung ist die wertmäßige Risikoteilung, welche etwa durch Kooperation mit Lieferanten erreicht werden kann. Ein Beispiel hierfür sind multilaterale Verträge innerhalb der Supply Chain über die Begrenzung des CO2-Fußabdrucks. Dieser Risikotransfer kann auch Vereinbarungen zu einer weiteren Risikoübertragung enthalten, indem die Vertragspartner sich zusätzlich gegen den Risikoeintritt versichern (Vose 2008, S. 10). Sobald die Kosten zur Reduzierung des Risikos die Schadenshöhe überschreiten, wird das Unternehmen sich dazu entscheiden, das Risiko selbst zu tragen (Selbsttragung).

16.4.5 Überwachen und Berichten von Nachhaltigkeitsrisiken in der Supply Chain Die  Risikoüberwachung bzw. die Risikokontrolle  ist ein zusammenfassendes und zugleich steuerndes Element innerhalb des gesamten Risikomanagementprozesses. Sie ist zur Beurteilung von Effizienz und Wirksamkeit des Risikomanagements sowie zur Feststellung möglicher Verbesserungspotenziale erforderlich. Überwachung und Kontrolle verlangen auch immer eine Dokumentation bzw. eine Berichterstattung der Risiken. In der Risikoberichterstattung soll über das Risikoprofil des Unternehmens berichtet werden. Sie dient somit der permanenten Überwachung und stellt sicher, dass identifizierte und bewertete Risiken den (internen und externen) Adressaten mitgeteilt werden. Nur eine angemessene Berichterstattung ermöglicht es den verschiedenen Parteien, die in den Risikomanagementprozess eingebunden sind, ihrer Überwachungs- oder Entscheidungsfunktion auf Basis der erhaltenen Informationen nachzukommen (Rohlfs 2017, online). Um der vermehrten Nachfrage nach Informationen zu Nachhaltigkeitsrisiken gerecht zu werden, sollten Unternehmen über alle von Ihnen analysierten Risiken und die zur Steuerung dieser Risiken unternommenen Maßnahmen effizient berichten. Alle entlang der Lieferkette auftretenden Risiken sollten klassiert nach Risikoland und -region sowie der zugehörigen Lieferantenliste offengelegt werden. Eine mögliche Herangehensweise dafür liefert die Plattform „repect-code.org“, auf der die Benutzer nach Eingabe des Produkt-, bzw. des QR-Codes die gesamte Lieferkette von Firmen und Produkten einsehen können, die auf dieser Webseite registriert sind. Ebenso sollte der Prozess der Risikoanalyse und das Vorgehen bei der Bewertung der Wertschöpfungskette offengelegt w ­ erden. Neben den Inhalten dessen, was berichtet wird, sollten Unternehmen auch geeignete Kennzahlen auswählen bzw. bestehende Kennzahlen im Hinblick auf ihre Bedeutung für das Management von Nachhaltigkeitsrisiken überprüfen und gegebenenfalls anpassen. Die „Global Reporting Initiative (GRI) Sustainability Reporting Standards“ und der „Deutsche Nachhaltigkeitskodex“ enthalten zahlreiche Kennzahlen für das Lieferkettenmanagement (Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit 2017, S. 49–51).

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16.5 Einfluss von Informationsbeschaffung und Datenmanagement auf das Supply-ChainRisikomanagement Im Rahmen eines proaktiven Risikomanagements, insbesondere mit dem Ziel einer nachhaltigen Beschaffung, müssen Sachzusammenhänge und Risikotreiber auf Basis transparenter, unternehmensübergreifender Datenbestände ermittelt werden. Wie zuvor bereits erwähnt, überwachen nur 20 % der Unternehmen Lieferanten über die Tier 1 Ebene hinaus. Dabei lassen sich aus umfangreicheren Daten leichter nutzbringende Informationen für das Unternehmen im Allgemeinen und das Supply Chain Risk Management im Speziellen gewinnen. Grundlage dafür ist allerdings, dass die Daten zielgerichtet analysiert werden können. Ist dies nicht der Fall, werden keine „neuen Informationen“ gewonnen und, sofern den Regeln des Lean Managements gefolgt wird, kein Mehrwert geschaffen, sondern lediglich Verschwendung erreicht (Burgin 2010, S. 35–38). Weltweit steigt die Datenmenge exponentiell an. Dies betrifft einzelne Technologieunternehmen aus dem Silicon Valley ebenso sehr wie den deutschen Mittelstand. Doch dieser nutzt in der überwiegenden Mehrheit der Fälle die Potenziale der gewachsenen Datenmengen nicht. Zu diesem Ergebnis kommt zumindest eine Studie der Commerzbank AG (Commerzbank AG 2018, online).

16.5.1 Konzept der Information Supply Chain Wie können nun die eigentlichen Informationen in der stetig wachsenden Menge an Daten identifiziert werden? Genauso wenig wie ein Schreiner aus einem Stück Holz all diejenigen Teile entfernt, die nicht wie der Spazierstock aussehen, den er produzieren möchte, ist auch das Gewinnen von Informationen keine Sammlung von Rohstoffen, sondern bedarf einer Produktion. Daten stellen hierfür den Rohstoff dar, aus dem in einem kreativen Prozess die benötigten Informationen gewonnen werden (Han et al. 2012, S. 25–28; Naisbitt 1982, S. 37; Wellbrock und Hein 2018, S. 118 f.). Beispielhaft lässt sich der zugehörige Prozess anhand der sogenannten „Information Supply Chain“ illustrieren. Ähnlich wie bei der „klassischen“ Supply Chain wird der Fluss der Informationen entlang der Geschäftsprozesse durch das Unternehmen oder die gesamte Lieferkette visualisiert. Bei dieser ganzheitlichen Sicht von der Gewinnung der Rohdaten bis zur Entscheidungsfindung werden Daten als ein Rohstoff gesehen, der im Rahmen der Information Supply Chain zu Informationen weiterverarbeitet wird (siehe Abb. 16.6). Das Ziel dabei ist, den Endanwendern die passenden Informationen zur richtigen Zeit am richtigen Ort bereitzustellen (Edmunds und Morris 2000, S. 23–25). Angefangen bei den Rohdaten, die sich aufgrund ihres Umfangs und ihrer oftmals nicht vorhandenen Struktur nur mäßig für eine direkte Analyse eignen, gilt es sicherzustellen, dass die gewonnenen Datensets nachhaltig gesichert werden. So kann g­ arantiert

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Abb. 16.6  Modell der Information Supply Chain. (Quelle: Eigene Darstellung)

werden, dass allen relevanten Stellen der Organisation auch zukünftig Zugang zu den Daten gewährt wird. Insbesondere für die eventuelle spätere Nutzung durch automatische Analysemethoden (neuronale Netze und künstliche Intelligenz) sowie zur Sicherstellung unvoreingenommener Analysen, müssen klar umrissene Datensets langfristig konsistent sein. Die gesicherten Daten werden anschließend mit weiteren Metadaten angereichert, bereinigt und konsolidiert, um spätere Analysen zu vereinfachen. Die Daten werden im Rahmen daten- oder hypothesengetriebener Analyseverfahren ausgewertet und letztendlich den Endanwendern in Form von Berichten bereitgestellt (­Wellbrock et al. 2018, im Erscheinen). Die Basis für zielgerichtete Analysen im Rahmen des Risikomanagementprozesses liegt daher in einem strukturierten Datenmanagementprozess, welcher sicherstellt, dass die Daten für eine spätere Verwendung, z. B. im Rahmen einer Risikoanalyse und -bewertung, bereitstehen (Chaudhuri und Dayal 1997, S. 69). Die Daten müssen dabei für Zeitreihen-Analysen, Abweichungsuntersuchungen oder andere Vergleiche aufbereitet werden. Nach diesem Prinzip arbeiten beispielsweise alle modernen OLAP-Systeme (Sarawagi et al. 1998, S. 171).

16.5.2 Datenmanagement als Grundlage Laut einer Studie der Hochschule Heilbronn in Kooperation mit der Düsseldorfer Unternehmensberatung HENDRICKS, ROST & CIE. GmbH setzt nur jedes zweite Unternehmen in Deutschland Daten zur strukturierten Entscheidungsfindung auf strategischer Ebene ein. Methoden der automatisierten Entscheidungsfindung spielen mit jeweils fünf Prozent weder auf operativer, noch auf strategischer Ebene eine Rolle (Wellbrock et al. 2018, im Erscheinen). Die Potenziale der Automatisierung lassen sich anhand zahlreicher Projekte aus der Praxis aufzeigen. Neben einer kürzeren Reaktionszeit, ergibt sich für Unternehmen ­oftmals auch eine höhere Flexibilität in den Prozessen, da aufwendige, manuelle Schritte

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vermieden werden können. Als ein Beispiel sei hier die Analyse der Buchungsvorgänge auf Kreditkarten erwähnt, mithilfe derer automatisch Ausreißer entdeckt und die entsprechenden Karten vorsichtshalber gesperrt werden können (Anderson 2007, S. 250; Harris und Davenport 2005, S. 84). Unter den Studienteilnehmern lässt sich dabei ein differenziertes Verständnis von Datenmanagement erkennen. Nur 28 % der Teilnehmer sehen im proaktiven Erschließen neuer interner und externer Datenquellen einen Bestandteil von Datenmanagement (Wellbrock et al. 2018, im Erscheinen). Dieser Punkt ist im Rahmen eines proaktiven und auf Nachhaltigkeit ausgerichteten Risikomanagements allerdings von besonderer Bedeutung. Denn nur so können die potenziellen Risiken umfassend identifiziert, bewertet und aggregiert werden (Plattner und Zeier 2012, S. 23–26; Wessel et al. 2013, S. 1789–1791).

16.5.3 Daten als strategische Komponente Neben der Qualität der Datenprozesse – wie zuvor am Beispiel der Information Supply Chain ausgeführt – hat auch der Umfang des verfügbaren Datenraumes Auswirkungen auf die folgenden Analysen. Je größer und umfassender der zur Verfügung stehende Datenbestand ist, desto konkretere Aussagen lassen sich mit den verschiedenen Vorhersagemodellen treffen (Banko und Brill 2001, S. 29–31). Allerdings konzentrieren sich deutsche Unternehmen derzeit stärker auf interne als auf externe Datenquellen, wie beispielsweise die von Kunden oder Lieferanten. Wie Tab. 16.2 entnommen werden kann, wird die Datenerfassung und -analyse interner Daten mit 3,2 von fünf möglichen Punkten bedeutender eingestuft als die Datenerfassung und -analyse interner und externer Daten mit nur 2,8 von fünf möglichen Punkten. Die bisher ausgeführten Ergebnisse der Studie legen den Schluss nahe, dass es vielen Unternehmen an einer kohärenten, unternehmensweiten und proaktiven Strategie im Bereich Datenmanagement mangelt. Ein Punkt, der mit der Frage nach der organisatorischen Verantwortung des Datenmanagements bestätigt zu sein scheint (siehe Tab. 16.3). Nur in jedem fünften Unternehmen gibt es eine dezidierte Stabsstelle, die für das Thema verantwortlich ist. In der Mehrheit der Fälle erfolgt das Datenmanagement indirekt durch den einzelnen Fachbereich oder die IT-Abteilung. Eine strategische Verankerung des Datenmanagements in der Organisation könnte mittels der Einführung eines Business Intelligence Competence Centers (BICC) ermöglicht werden. Hier wären neben dem Datenmanagement auch Themen wie Risikomanagement oder ein unternehmensweiter Planungsprozess verortet. Durch die interdisziplinäre Zusammensetzung des BICC wäre ein Vermeiden des klassischen Interessenkonflikts zwischen IT und Fachbereich denkbar (Totok und Gansor 2015, S. 23). Mit einer Outsourcing-Rate von bis zu 80 % können es sich Unternehmen heutzutage in den seltensten Fällen leisten, beim Datenmanagement nur auf ihre eigenen Daten zu setzen. Ein transparenter Informationsfluss ermöglicht Unternehmen unter anderem eine

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Tab. 16.2  Strategie des Datenmanagements. (Quelle: Eigene Darstellung) Bewerten Sie die Ausprägung der nachfolgenden Aussagen in Bezug auf Ihr Unternehmen! (n=228; Skala: 1 (sehr niedrig) bis 5 (sehr hoch))

Deskriptive Statistik Durchschnitt σ

Signifikanz Test Wert 3 Test Wert 4

Wir verfolgen eine klare Strategie bei der Datenerfassung und -speicherung innerhalb unseres Unternehmens

3,22

1,152

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