Mythendämmerung: Richard Wagner im frühromantischen Kontext 3770544390, 9783770544394

Zwei mächtige Anregungen der Frühromantik hat Ri-chard Wagner in seinen theoretischen Schriften und in seiner musikalisc

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Mythendämmerung: Richard Wagner im frühromantischen Kontext
 3770544390, 9783770544394

Table of contents :
Mythendämmerung: Richard Wagner im frühromanischen Kontext
INHALT
1. Einleitung
2. Vom „Bühnenweihefestpiel“ zum „Thingspiel“. Zur Wirkungsgeschichte der ‚Neuen Mythologie‘ bei Nietzsche, Wagner und Johst
3. „Weltgeschichte aus der Sage.“ Wagners Widerruf der ‚Neuen Mythologie‘
4. Heilsverfehlung und Liebesverbot. Richard Wagners Fliegender Holländer im Motiv-Kontext der endlosen Fahrt
5. „Romantische Ironie“ als musikalisches Verfahren. Am Beispiel von Tieck, Brahms, Wagner und Weber
6. Ein Welterlöser in der Rolle des Anarchisten. Zum 150. Entstehungsjahr von Richard Wagners Jesus von Nazareth
7. Siglenverzeichnis
8. Literaturverzeichnis

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Frank · Mythendämmerung

Manfred Frank

Mythendämmerung Richard Wagner im frühromanischen Kontext

Wilhelm Fink

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Dies betrifft auch die Vervielfältigung und Übertragung einzelner Textabschnitte, Zeichnungen oder Bilder durch alle Verfahren wie Speicherung und Übertragung auf Papier, Transparente, Filme, Bänder, Platten und andere Medien, soweit es nicht §§ 53 und 54 URG ausdrücklich gestatten. © 2008 Wilhelm Fink Verlag, München (Wilhelm Fink GmbH & Co. Verlags-KG, Jühenplatz 1, D-33098 Paderborn) Internet: www.fink.de Einbandgestaltung: Anna Braungart, Tübingen Herstellung: Ferdinand Schöningh GmbH & Co. KG, Paderborn ISBN 978-3-7705-4439-4

INHALT

1. Einleitung ................................................................................................

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2. Vom „Bühnenweihefestpiel“ zum „Thingspiel“. Zur Wirkungsgeschichte der ‚Neuen Mythologie‘ bei Nietzsche, Wagner und Johst .................................................................................... 25 3. „Weltgeschichte aus der Sage.“ Wagners Widerruf der ‚Neuen Mythologie‘ ............................................. 55 4. Heilsverfehlung und Liebesverbot. Richard Wagners Fliegender Holländer im Motiv-Kontext der endlosen Fahrt ................................................................................... 93 5. „Romantische Ironie“ als musikalisches Verfahren. Am Beispiel von Tieck, Brahms, Wagner und Weber ............................... 119 6. Ein Welterlöser in der Rolle des Anarchisten. Zum 150. Entstehungsjahr von Richard Wagners Jesus von Nazareth ....... 142 7. Siglenverzeichnis ...................................................................................... 157 8. Literaturverzeichnis .................................................................................. 159

1. EINLEITUNG

Dies sind Aufzeichnungen eines musikalischen Dilettanten. Nicht eines Bärs von geringem Verstand, aber doch eines Liebhabers, keines in der Materie ausgewiesenen Gelehrten. Was immer ich auf diesem Gebiet wage (vor allem im 5. Text), verdanke ich dem Gespräch mit und der Belehrung von sachverständigen Mentoren, denen ich freilich meine eigenen und penetranten Fragen stellte: allen voran Carl Dahlhaus, dem ich mehrmals während der Treffen der Gruppe Poetik & Hermeneutik in der Bad Homburger Reimers-Stiftung begegnete und der mir am Flügel an Beispielen demonstrierte, was mir an Nuancen in der Partitur entgangen war. Dann den musikologischen Experten und Freund(inn)en, die ich seit Langem die Freude habe, regelmäßig bei den Bayreuther Generalproben zu sehen und zu sprechen: Otto und Elisabeth Kolleritsch aus Graz, Theo Hirsbrunner aus Bern, eine Weile auch Lydia Goehr von der Columbia University, NY. Von Bedeutung sind auch die Namen Agnes Heller, die ich seit einem Semester an der New School for Social Research, NY (1998) kenne und eine Weile auch in Bayreuth und auf einem Wagner-Kongress wiedersah, sowie Richard Klein aus Freiburg, den ich als Berater der Stuttgarter Ring-Aufführung kennen und schätzen gelernt hatte und mit dem – und einigen Mitarbeitern der von ihm herausgegebenen Zeitschrift Musik & Ästhetik – ich seither verbunden geblieben bin. Ich hatte die meisten der nachfolgenden Aufsätze schon geschrieben, als ich gemeinsam mit dem Tübinger Musikologen Manfred Hermann Schmid ein auf zwei Semester angelegtes Wagner-Seminar durchführte. Wir gingen erst einige Texte zur frühromantischen ‚Neuen Mythologie‘, dann Wagners Dresdener und Züricher Theorie-Texte und schließlich exemplarisch den Ring durch. Vor allem in der zweiten Hälfte habe ich viel gelernt. Freilich: In Wagners theoretischen Schriften kannte ich mich aus. Ich hatte sie gründlich studiert, seit ich Ende der 70er Jahre begonnen hatte, über das Thema der ‚Neuen Mythologie‘ nachzudenken. Wie aber bin ich in diesen Kontext geraten, zu dem meine Fachausbildung mich so wenig disponierte? Wieder ohne eigenes Verdienst: Im Frühjahr 1993 erhielt ich einen unversehenen Anruf von Gudrun Wagner. Sie sprach mich zunächst auf eine Rede an, die ich in der Paulskirche am 9. November 1992 zur Kommemoration der Reichspogromnacht gegen Fremdenhass, Antisemitismus und die Asylrechts-Ausdünnung gehalten habe (Frank 1992a, 1993a, 1993b). Die Rede hatte mir damals nicht nur aus der konservativen und rechten Szene medienwirksam rüde Kritik, ja Bedrohung eingebracht. Sie hatte auch durchaus mit dem Thema der hier abgedruckten Aufsätze zu tun, indem sie nach den legitimatorischen Grundlagen eines demokratischen Gemeinwesens fragt und auf frühromantische Stellungnahmen rekurriert. Frau Wagner bemerkte, dass sie und

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ihr Mann über die Jahre beobachtet haben, dass solche Fragen an Richard Wagners Werk in meinen Publikationen eine Rolle gespielt haben, und lud mich schließlich zu einem größeren Beitrag fürs Programmbuch ein, der Kirchners und Rosalies neue Ring-Inszenierung begleiten solle. So entstand Text 3. Er steht seinerseits in einer gedanklichen Folge anderer und früherer Aufsätze, die meinem Fachgebiet ungleich näher lagen als die Musik-Theorie, und hier zögerte ich nicht. Die Einladung wurde der Auslöser für alle folgenden Texte, die ich speziell über Aspekte von Wagners Werk geschrieben habe und die hier – mit einigen Zusätzen, Kürzungen oder Korrekturen – versammelt sind (Texte 3, 4 und 6). Ich kann diese Aufsätze nicht erwähnen, ohne dankbar der hilfreichen Unterstützung des Bayreuther-Festspiele-Presseamt-Leiters Peter Emmerich zu gedenken. Am 28. Nov. 2007 starb Gudrun Wagner jäh – Ihr sind meine Aufsätze gewidmet. I. Seit dem Ende der 70er Jahre war ich aufmerksam darauf geworden, welch ungeheure wirkungsgeschichtliche Macht die frühromantische Fantasie einer ‚Neuen Mythologie‘ aufs 19. und die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts ausgeübt hatte. Es schien, als trete hier ein Problem so lange auf der Stelle, als seine Lösungsbedürftigkeit verdrängt wird. Dadurch schien es zum Indikator pathologischer Deformationen des Modernisierungsprozesses prädestiniert. Ihm war nicht anders beizukommen als durch Ernstnehmen der Not, die es wortreich beschwört. Denn: „Die Wunde schließt/ der Speer nur, der sie schlug“ (SSD X, 375). Aus den Forschungen, die ich in meiner Düsseldorfer Antrittsvorlesung (vom Herbst 1977) über „Die Dichtung als ‚Neue Mythologie‘“ antizipiert hatte (Frank 1979), sind die beiden Teile meiner Vorlesungen über die ‚Neue Mythologie‘ hervorgegangen: Der kommende Gott (Frank 1982) und Gott im Exil (Frank 1988, zus. mit Rolf Kauffeldt und Gerhard Plumpe). In beiden spielt auch Richard Wagner eine wesentliche Rolle. Er schien mir ein Prüfstein, an dem die Idee einer ‚Neuen Mythologie‘ sich hart zu bewähren hatte – oder an dem sie scheitern musste. Für beide Vermutungen liefere ich im Folgenden Belege. (Ich übernehme einige Abschnitte aus Frank [1979] in diese Einleitung.) Das treibende Interesse hinter solchen Erkundungen war die Frage nach den Basen für die Legitimierung eines Gemeinwesens unter Bedingungen vollendeter Säkularisierung. Dabei wurde – mit einigen Frühromantikern – als Prämisse angenommen, in vormodernen Zivilisationen haben Mythen (bzw. – um 1800 semantisch noch nicht durchgehend streng geschieden – Hochreligionen) genau diese Funktion erfüllt. Insbesondere Schelling wollte den Ausdruck ‚Mythos‘ gerade so verstanden wissen, nämlich als normative Rechtfertigung eines sozialen Brauchs, der sich dadurch in einen Kult oder in ein Ritual verwandelt (Gaier 1971; Frank 1982, 2. Vorl.). Schauen wir zunächst auf einige Eigentümlichkeiten des mythischen Genres. Erst aus ihnen wird verständlich, warum Macht habende Mythen sich zur Rechtfertigung sozialer Gebilde in besonderer Weise eignen.

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Man zählt den Mythos zu den nicht-bezeichnenden, nämlich zu den symbolischen Ausdrucksformen (Cassirer 1977). Im Gegensatz zum Zeichen ist das Symbol nicht eindeutig; es ist nicht kodiert und hat keinen festen Verweisungsbezug. Dan Sperber hat vorgeschlagen, es als ein ungebundenes Zeichen zu definieren, dem sein Sinn nicht aufgrund einer systematisch geregelten Beziehung von materiellem Ausdruck und intelligiblem Sinn(gehalt) zugewiesen ist, sondern zum Ausdruck in einer ursprünglichen Stiftung hinzuerfunden werden muss (Sperber 1975). Dieser Ausdruck mag als Zeichen welche Bedeutung auch immer innehaben: Das christliche Symbol des Kreuzes z. B. besteht völlig unbeschadet der semiologischen Funktion des Zeichens „Kreuz“ und ist aus ihr nicht abzuleiten. Symbolische Interpretationen können – wie das Beispiel zeigt – durchaus von rituellen Verrichtungen oder gesellschaftlichen Zeremoniells her motiviert worden sein: Das Wesentliche ist (und damit ist ein Einwand gegen Lévi-Strauss formuliert, der Mythen als Zeichensysteme untersucht), dass der symbolische Vollzug den Sinn an sein zeichenhaftes Substrat magisch anbindet. Im Ritual (z. B. dem Abendmahl) deutet die sinnlich ausgeführte Bewegung nicht auf eine der Handlung äußerliche Idee, sondern ist diese Idee. Der Hut, dem Tell seine Reverenz verweigert, oder die bei Demonstrationen mitgeführte rote Fahne sind unmittelbar die Staatsgewalt bzw. deren Herausforderung, und das vermöge einer ritualisierten interpretatorischen Zusprechung, durch welche die Akteure ihre Zusammengehörigkeit befestigen. Dergleichen imaginäre Identifikationen zählen nicht unter die Möglichkeiten des gewöhnlichen Zeichengebrauchs, in welchem die Ausdrucks- und die Sinnebene im Rahmen ihrer Beziehung immer zugleich analytisch gesondert bleiben. Was ein Zeichen – insofern es dem virtuellen System einer Sprache (langue) zugehört – bedeutet, kann man wissen. Symbolische Zusammenhänge werden geglaubt. Symbole bleiben, selbst wenn sie verstanden werden, vieldeutig und treten nur im Übergang zum Imaginären hervor (Sartre 1940). Die Imagination aber ist eine Bewusstseinshaltung eigener Art: Sie nimmt das Zeichen oder eine Kette von Zeichen zum Anlass von Sinnprojektionen, die deren gewöhnliche Bedeutung unsichtbar überlagern. Darin kommen Ritual und Dichtung überein. Beide gehen mit dem Sinn im Zustande seiner Latenz – vor oder jenseits seiner Kodierung – um. Tatsächlich ist jedoch diese strenge Abgrenzung von Zeichen und Symbol eine künstliche Abstraktion. Denn ein Zeichensystem bleibt – wie jeder Apparat von Handlungsanweisungen und Rezepten – stumm, wenn es nicht interpretiert wird. Auffälligerweise entspricht ja der Spielregel als solcher kein einziger Zug im Spiel selbst. Vor allem darum, weil die Zeichen (wie Ch. S. Peirce gezeigt hat), um unter einer bestimmten Hinsicht auf Objekte sich beziehen zu können, eines Kommentars oder einer Interpretation bedürfen, die sich nicht als Ergebnis einer einfachen Deduktion aus ihrer Grammatik begreifen lässt. Deduktionen lassen sich grundsätzlich nur im gleich gearteten Feld der Struktur (dessen, was Peirce idea oder object nennt) und nicht des angewandten Zeichens (des interpretierten representamen) geben. Die struktural-horizontale Beziehung des Zeichens zu allen anderen Zeichen und zu ihren Objekten wird von einer weiteren, gleichsam vertikalen Beziehung gekreuzt: der der Zeichen zu ihren Benützern. Das Zei-

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chensystem funktioniert auf der Ebene des gesprochenen Worts nur, wenn eine Interpretationsgemeinschaft seinen Verwendungssinn zuvor festgelegt, d. h. das Abbildungsverhältnis zwischen den kodierten Zeichen und ihren Gegenständen von Grund auf hervorgebracht hat, um es im Lauf der Geschichte permanent neu fest zu setzen (vgl. Frank 1985, 334 ff. und 345 ff.; ferner Frank 1982, 107 ff.). Auf diese Weise bleibt – um eine These darauf zu pfropfen – der abendländische Logos, z. B. in der Gestalt der Semiologie, rückgebunden an symbolische Handlungen und axiomatische Entscheidungen, die von der Ebene der sozialen Interaktion ihren Ursprung nehmen und die ich in einer ersten Annäherung als mythisch bezeichnen möchte. – In diesem Sinne wäre der Mythos nicht das Gegenteil, sondern die Kontrolle des analytischen Logos im Namen einer Totalität. Mythen teilen ja mit Sprachen zunächst die Eigenschaft, soziale (und mithin synthetische) Gebilde zu sein; es ist ebenso widersinnig, sie als Privat-Veranstaltungen zu denken, wie die Idee einer Privatsprache widersinnig ist. Sie haben überdies – und das unterscheidet sie von reinen Grammatiken – heuristische oder Modell-Funktion: Sie teilen mit Metaphern und wissenschaftlichen Modellen die Eigenschaft, Paradigmata oder Vorschläge zu einer allgemeinen und sy1 stematischen Weltdeutung an die Hand zu geben (Ricœur 1976, bes. 52 ff.). Was sie von wissenschaftlichen Modellen unterscheidet, ist nicht ihre Un- oder Vorwissenschaftlichkeit (das wäre eine tautologische Behauptung), sondern die Tatsache, dass sie mit der Einsetzung von Axiomen zu tun haben, die im Bereich der analytischen Wissenschaften unbefragte und unhinterfragbare „Urevidenzen“ bleiben müssen. Mythen sind ferner narrative Formen, in denen Deutungen von gesellschaftlichen Ritualen gegeben werden, ohne dass diese Formulierung eine unumkehrbare Zeitfolge zwischen Ritus und Mythos behaupten möchte. Im Allgemeinen sind die mythischen Erzählungen triadisch organisiert, da sie den Kampf des Menschen zwischen einem schuldhaft verwirkten und durch eine Art metánoia wiedereröffneten Zustand der Einigkeit mit dem Göttlichen (dem Numinosen, dem Mana) berichten. Ödipus muss eine Tabuverletzung, Siegfried einen Eidbruch, Parsifal eine Verstocktheit des Herzens büßen, um der Gnade der Überirdischen wieder würdig zu werden. Lévi-Strauss erzählt zahlreiche Mythen aus dem Amazonasgebiet, die diese Struktur aufweisen. Alle erzeugen den Schein einer Ordnung und liefern teleologische Rechtfertigungen des Lebens sowohl der Individuen wie der Gesellschaften, indem sie institutionalisierte Gratifikationen für kulturell anerkannte Bedürfnisse bereitstellen. Der Mythos ist die „feste Burg“, oder, wie Hegel sagt, das „gesicherte Asyl“ (Hegel 1955, 1084), in dessen symbolischer Gewissheit die allgegenwärtige Tragik intersubjektiver Kollisionen und die Auflösung aller menschlichen Begebenheiten und Verhältnisse erst erträglich werden. Schelling nennt, einer pythagoreischen Tradition eingedenk, jenen mythischen Ort, an welchem das menschliche Bewusstsein in seinem Urzustande, d. h. vor seinem Fall, „wie geborgen in einer unzugänglichen Burg“, wohnt, das „göttliche Verwahrsam“ (SW, II/2, 157-159). In ihm ist aufbewahrt 01 Diese These wurde vor allem von Max Black (1962) und Mary B. Hesse (1966) vertreten.

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und beschirmt, was überhaupt an Rettendem das „Verhängnis“ der „Entfremdung“ übersteht (l. c. II/I, 213; II/2, 148, 154 [passim]). Diese stabilisierende und tröstende Funktion des Mythos – sein Bezug auf den Bereich der Rechtfertigung – ist von Psychologen wie von Sozialtheoretikern, auch von Habermas und Luhmann (Habermas 1973, 132/3 ff.; Luhmann, 1977 [passim]), oft hervorgehoben worden. „Myths“, sagt Clyde Kluckhohn, „give men ‚something to hold to‘“ (Kluckhohn 1971, 43). Sie artikulieren basale Wertüberzeugungen, die den Logos im steten Vollzug notwendiger Handlungen von der Verzweiflung bodenloser Selbstrechtfertigung bewahren. Darin besteht die ethiko-pragmatische Funktion des Mythos, die Cassirer im Anschluss an Malinowski und Durkheim als eine „Einheit des Fühlens“ oder als eine „Solidarität des Lebens“ zwischen Mitgliedern einer Gesellschaft verstanden wissen will (Bidney 1971, 9 f.). II. Schellings (und mehrerer Frühromantiker) bevorzugtes Beispiel für die rechtfertigende und sozial integrierende Funktion der Mythen-Erzählung war der angeblich im 6. vorchristlichen Jahrhundert aus Thrakien eingedrungene Dionysos-Kult. Entfesselte Weiber wallfahrteten auf hohe, schneebedeckte Berge und verschlangen roh Tiere, die sie, berauscht, in rasender Jagd erlegt oder nur gefangen hatten. Davon handelt des Euripides in Theben spielende vermutlich letzte Tragödie, die Bákcai. Anders als die thebanischen Sicherheitsbehörden, die ihn in König Kreons Namen barsch verbieten wollen, berufen sich die Anhänger(innen) auf einen Mythos. Und hier beginnt Kreons Tragödie. Der Mythos liefert nämlich die von Kreon und seinen Behörden bestrittene Beglaubigung, indem er eine Geschichte – eben einen ‚mûjo7‘ – erzählt, der den Brauch auf die alljährlich auf Berggipfeln sich ereignende (Wieder-)Geburt des Dionysos gründet, dem die rasenden Frauen als Ammen beistehen. Auch der rituelle Gebrauch von Wein bei bacchischen Orgien bedurfte der (leicht zu erbringenden) mythischen Rechtfertigung – war seine Verwendung doch nicht von allen griechischen Stämmen anerkannt. ‚Re-ligio‘ bedeutet ja, wörtlich übertragen, nichts anderes als ‚Rückbindung‘, nämlich an göttliche Satzung. Schließlich erklärt eine weitere Varietät des Dionysos-Mythos (dem im Grunde einzigen Thema von Schellings Philosophie der Mythologie: „So ist Alles Dionysos“ [Schelling 1993, 237]) auch das Tiere-Zerreißen und -Verschlingen durch die Thyiaden. Dabei werden wenigstens zwei heilige Erzählungen kontaminiert: Nach der einen wird Dionysos (Zagreus) von den Titanen zerrissen und ersteht neu als Dionysos (Bakchos); nach der anderen ersteht er von seinem winterlichen Todesschlaf im Frühling und teilt sich den Seinen, den Thyiaden, in einer Art Abendmahlsrausch (‚Omophagie‘ genannt) körperlich mit: in den Gaben von Brot und Wein (dazu Kott 1975; Frank 1982, vor allem die drei Schlussvorlesungen). Kreons Tragödie ist, dass er die – gegenüber der von ihm verteidigten moderaten hellenischen Religionspraxis – stärker, im Wortsinne: gewaltiger beglaubigende Kraft des neuen Mythos unterschätzt; am Ende schlägt ihm die eigene Mutter die Zähne in die Brust. Selbst diesen Horrorakt beglaubigt der Dionysos-Mythos durch schiere

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Macht der Anerkennung: Er erzählt, dass Dionysos, nach nur anfangs ausgeübtem Charme, seine Anerkennung stets mit Gewalt durchsetzt (darin unterscheidet er sich nur vermeintlich, aber nicht tatsächlich von Uranos, Kronos oder vom olympischen Zeus). Diese Gewalt erscheint nachträglich als legitim, da sie aus dem Vorrat des Heiligen schöpft. Eine Tragödie entsteht, weil zwischen Kreon und Dionysos Mythos gegen Mythos, also Beglaubigungsrede gegen Beglaubigungsrede steht und die mächtigere sich ohne Schiedsspruch durchsetzt. Für Hölderlin, Schelling, Creuzer, Rostorf, Kanne und viele Intellektuelle der Zeit war der Dionysos-Mythos auch darum von besonderer Signifikanz, weil Dionysos, wie es in den Bakchen heißt, alleinige und allgemeine (nicht nur lydisch-phrygische oder griechische) Anbetung verlangt (Euripides 1977, 270 f.). D. h., dass er allein die an massivem Glaubwürdigkeitsverlust leidende polytheistische Mythologie zu retten vermochte. Freilich rettete er sie nicht als solche, er übertrug die Substanz des Heiligen an einen neuen, besser gerechtfertigten Monotheismus. Jedenfalls war dies Creuzers und Schellings Auffassung. Auch darum nennen sie Dionysos – in einer bereits antiken Tradition – den ‚kommenden Gott‘: den, der verborgen schon in allen Generationsablösungen der griechischen Göttergeschichte sich behauptet, in den Mysterien als solcher versprochen wird und endlich in jenem Advent ins Offene tritt, in dem einige urchristliche (und orphische) Gemeinden die Geburt ihres Heilands feierten (Rostorf 1804; Kanne 1816; dazu Frank 1982, 249 ff., 324 ff.). Die drängende Frage Hölderlins, Schellings, Friedrich Schlegels oder Creuzers war: Lässt sich auch nach dem Glaubwürdigkeitsverlust der Religion zu Ende des 18. Jahrhunderts ein neuer ‚kommender Gott‘, ein wiederkehrender Dionysos ausmachen, der eine grundstürzende Religionskrise überlebt und beendet? Oder muss man befürchten, dass die sozial stabilisierende und beglaubigende Funktion so an die religiöse Überlieferung gebunden war, dass sie mit der vollendeten Säkularisierung ein und für allemal verloren gegangen ist? Nun muss man sehen, dass der Mythos seine tröstende und sozialstabilisierende Funktion seiner synthetischen Natur verdankt. Im Gegensatz zu ihr lässt sich die epistemische Einstellung des (traditionellerweise ihm entgegengestellten) Logos durch den Gebrauch definieren, den sie vom Geist der Analyse macht (Frank 1989b). Dessen Ausgangspostulat ist, dass die zusammengesetzten Dinge notwendig auf eine Anordnung von einfachen Elementen zurückgeführt werden müssen. In den Händen der sich emanzipierenden Bourgeoisie war dies Postulat, wie Sartre betont, „ehemals eine Offensivwaffe, die ihr dazu diente, die Bastionen des Ancien Régime zu schleifen. Alles wurde analysiert; man führte in einer und derselben Bewegung das Wasser auf seine Elemente, den Geist auf die Summe seiner Eindrücke [...] und die Gesellschaft auf die Menge der Individuen zurück“ (Sartre 1948, 17 ff.). Ähnlich hatte Marx (in: Zur Judenfrage) den Prozess der „politischen Emanzipation“ charakterisiert: als „Auflösung“ der Feudalität, einer synthetisch und organisch verfassten Form gesellschaftlichen Miteinanders, in welcher alle Elemente des bürgerlichen Lebens wie Besitz, Familie, Arbeitsweise – wenn auch in der entfremdeten Form der Grundherrlichkeit, des Standes und der

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Korporation – Elemente des öffentlichen, des Staatslebens waren. Die Abschüttelung des politischen Jochs war darum – in ungewollter Dialektik – „zugleich die Abschüttelung der Bande, welche den egoistischen Geist der bürgerlichen Gesellschaft gefesselt hielten“ (MEW 1, 369). Von nun an konnte der antagonistisch-analytische Geist Platz greifen. Alle Totalitäten lösten sich auf: Sie enthüllten sich als Anhäufungen elementarer Teilchen von unveränderlicher Natur. Eines von ihnen war das „Wesen des Menschen“, unendlich kombinationsfähig, aber von invarianter Beschaffenheit und nach dem theoretischen Modell des Atoms konzipiert. Als das Ausmaß der Destruktion sichtbar zu werden begann, gab es warnende Stimmen. Es ist auffällig, dass vor allem Dichter und Theoretiker der Poesie (Herder, Hamann, Klopstock, Vertreter des Sturm und Drang usw.) (Strich, 1970 1) mit einer Art von heiligem Entsetzen bemerken, dass mit der totalen Auflösung der Religion und des Mythos die kaum in Umrissen sich abzeichnende neue Gesellschaft das traditionelle Mittel ihrer eigenen Legitimation aus der Hand gegeben hatte. Zugleich sieht sich die Dichtung des Stoffes beraubt, aus dessen Ressourcen sie bis dahin weitgehend hatte schöpfen können. Lessing, der seine Feder oft genug den Erfordernissen der Kritik zur Verfügung gestellt hatte, spricht in seiner Erziehung des Menschengeschlechts von der Notwendigkeit der Verkündigung eines „neuen, ewigen Evangeliums“ (Lessing 1962, 561; § 86; im § 87 wird auf die häretische Tradition des Joachim von Fiore im 13. Jahrhundert verwiesen). Seine Verheißung will nicht die Leistungen der Analyse zurücknehmen, sondern sie der Kontrolle einer neuen Totalität unterwerfen. Ausdrücklich betont Lessing, dass das aufdämmernde dritte Zeitalter der Menschheit die Aufklärung zwar voraussetze (l. c., 562, § 89), gleichwohl aber – wie die Menschheitsgeschichte insgesamt – einer transzendenten „Offenbarung“ (558, §§ 70 f.) bedürfe, d. h. eines „Richtungsstoß[es]“ (557, § 63), „auf welche[n] die menschliche Vernunft von selbst nimmermehr gekommen wäre“ (560, § 77). Lessing deutet auf ein Problem, mit dem besonders Schelling sich auseinander setzen wird: „[D]ie sich selbst überlassene Vernunft“ – so schreibt er, Lessings sechsten Paragraphen zitierend (l. c., 545), in der Philosophie der Mythologie – vermöchte „ohne jenes Leitende, jenes numen“, ihre eigene „Beglaubigung“ nicht zu leisten: Als ein System von Mitteln unfähig, die letzten Zwecke des Prozesses immanent zu rechtfertigen, müsste sie sich – „sich selbst überlassen“ – „in das völlig Sinnlose verlieren“ (SW II/I, 239; 56; 83 f.; vgl. II/2, 241 ff.; 187). Früher als Schelling haben Novalis und Friedrich Schlegel Lessings Idee aufgegriffen. Mit spürbarer Begeisterung: jener in seiner politischen Rede Europa (1799 [NS III, 524, Z. 28 ff.]), dieser besonders in seiner Charakteristik von Lessings Gedanken und Meinungen (1804 [KA III, 46-102]). Auch für ihre Argumentation ist charakteristisch, dass sie der Vernunft das Recht der Analyse, der Polemik, der kritischen Infragestellung aller Positivitäten zuerkennen, ohne ihrer undialektischen Totalisierung zu einer bürgerlichen Nachfolgeideologie mit vergleichbar positivem Anspruch zuzustimmen. „Der wahre Protestant“, sagt Schlegel, „muß auch gegen den Protestantismus selbst protestieren, sobald er sich nur

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in neues Papsttum und Buchstabenwesen verkehren will“ (KA III, 88), und fährt mit Bezug sowohl auf Lessing wie auf die Französische Revolution fort (ich gebe das Zitat in einer abkürzenden Paraphrase): ‚Während die positive Religion sich immer mehr versteint hat, ist der kritische Geist unverändert geblieben als die Veränderlichkeit selbst; auf der einen Seite ist er unmittelbar politisch geworden und hat eine Revolution der bürgerlichen Welt versuchen wollen, auf der anderen Seite hat er die Religion so lange geläutert und geklärt, bis sie endlich ganz verflüchtigt und vor lauter Klarheit verschwunden ist‘ (l. c., 88 f.). Diese Aufforderung zu einer Selbstkritik des aufklärerischen Kritizismus sollte sich als prophetisch erweisen. Die reine Analyse – die der modernen Vernunft nicht weniger als die der bürgerlichen Emanzipation – bleibt negativ auf einen synthetischen Zustand fixiert, in dessen radikaler Ablehnung ihre einzige Legitimation besteht. Aber diese Beglaubigung wird nie positiv, weil sie den Kritizismus nicht auf sich selbst anwendet. Marx wiederholt Schlegels Einsicht in leicht verändertem Kontext, wenn er schreibt: „Die politische Revolution löst das bürgerliche Leben in seine Bestandteile auf, ohne diese Bestandteile selbst zu revolutionieren und der Kritik zu unterwerfen“ (MEW 1, 369). Das aber ist, wie Schelling wenige Jahre zuvor in München und Berlin gelehrt hatte, eine schwachbrüstige Aufklärung, die vor lauter ängstlicher Besorgnis um ihren eigenen Bestand und „Verstand“ vom Schauder ergriffen wird und die, verzweifelt, ihre eigene Beglaubigung zu erbringen, am Ende selbst in den Aberglauben zurückfällt (SW II/2, 278). „Wo keine Götter sind“, hatte Novalis gewarnt, „walten Gespenster“ (NS III, 520, Z. 23 f.). Die sich selbst überlassene freie Vernunfttätigkeit ist demnach subversiv mit zwiefacher Stoßrichtung: Sie „untergräbt“ die mythischen Residuen nicht oder nicht mehr legitimierter Positivitäten und erfüllt insofern eine emanzipatorische Mission; ist doch, nach Schlegels Worten, „der Idealismus, in praktischer Absicht, nichts anderes als der Geist der Revolution“ (KA II, 314). Aber sie untergräbt mit ihrer nichts verschonenden „Polemik“ gegen alle synthetischen Formationen zugleich die Grundlage ihrer eigenen Legitimität („untergräbt sich selbst bis zur Selbstvernichtung“, sind Schlegels eigene Worte [KA III, 99]). Horkheimer und Adorno werden es in ähnlichen Worten wiederholen: „Rücksichtslos gegen sich selbst hat die Aufklärung noch den letzten Rest ihres eigenen Selbstbewußtseins ausgebrannt. Nur solches Denken ist hart genug, die Mythen zu zerbrechen, das sich selbst Gewalt antut“ (Horkheimer/Adorno 1944, 14). Auf diese – negative – Diagnose baut ein dritter Gedanke, eher: eine kühne Hoffnung: Sollte nicht die normative Substanz der Vorweltreligion(en) von den normativen Ressourcen der Vernunft selbst – und damit erstmals wirklich glaubwürdig – im Bloch’schen Sinne ‚beerbt‘ werden können? Sollte die Mythologie nicht selbst – bei Bewahrung ihrer numinosen Kraft – vernünftig werden können (Mat., 111)? Die romantische Idee einer ‚Neuen Mythologie‘ sucht diese drei Diagnosen bzw. Ausblicke ineinander zu schieben. Schon führende Köpfe unter den so genannten Aufklärern – vor allem Rousseau und der oben zitierte Lessing – waren von Sorge um die Dialektik dieses Pro-

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zesses umgetrieben. Aber erst die frühe Romantik hat die Befürchtung in die Form einer überschaubaren Argumentation gebracht. Danach bestehe Grund zum Zweifel, eine vom ‚Geist der Analyse‘ (im Wortsinne) atomisierte, also um ihre Bindekräfte gebrachte Gesellschaft (Ânalýein = auflösen, zersetzen) könnte neben haltlosen Geltungsansprüchen – wie dem Fürstentum ‚von Gottes Gnaden‘ – auch den Gedanken der Rechtfertigbarkeit sozialer Verhältnisse überhaupt abgeschafft haben (vgl. Frank 1989b). In vorrationalen Gesellschaften – so war die Vermutung – hätten Mythologie und (nach ihr) Religion diese Legitimationsbeschaffung besorgt. Denn ‚heilig‘ war einer Gesellschaft prinzipiell, was für normativ unanfechtbar und allgemein zustimmungsfähig galt. Der damals als philosophischer Grundterminus aufgekommene Ausdruck „das Un-bedingte“ meinte genau dies: eines, das schlechthin als gültig einleuchet, nicht obwohl, sondern weil es nicht mehr auf eine über es hinaus reichende Bedingung verwiesen werden kann. Auf dieses Fundament können sich alle Teilnehmer eines vernünftigen Diskurses verlassen. Um aber diese kommunikative Funktion in einer wirklichen Gesellschaft ausüben zu können, bedurfte es eines geistigen Mediums, eines „mütterlichen Boden[s]“, eines „Mittelpunkt[s], wie es die Mythologie für die Alten war“ (KA II, 312). Die Mythologie gleicht einem ‚Schatzhaus‘ schon vorgebildeter, schon gemeinschaftlich akzeptierter poetischer Bilder und Vorstellungen, einer „allgemeinen Symbolik“, einer „allgemein gültigen Poesie“, über die normativer Konsens und ein „öffentliche[s] allgemeine[s] Leben“ herzustellen waren: eben einer Mythologie (SW I/6, 571 ff.). Dazu tritt der durchaus aufklärerische Gedanke, dass Mythen im Grunde immer schon Erfindungen kollektiver Einbildungskräfte – also intersubjektiv erfolgreiche Erdichtungen – waren. Darum vergleicht Schlegel die Erfindung einer neuen Mythologie einer Schöpfung „von vorn an aus Nichts“ (KA II, 312; vgl. 314 o.; ebenso das Älteste Systemprogramm: „[...] die einzig wahre und gedenkbare Schöpfung aus Nichts“ [Mat., 110]). Dieser Gedanke, schabt man einigen romantischen Kitsch und einige Unglauben verratende Frömmelei ab, steht gar nicht fern dem FeuerbachMarx’schen: „Der Mensch macht die Religion, die Religion macht nicht den Menschen“ (MEW 1, 378; vgl. auch hier Text 6). So lag es nahe, eine traditionell religiös beglaubigte Gesellschaft, deren Legitimationsbasis unter den Hieben der Aufklärung zerbröckelt war, durch ‚Mythen‘ (so sagte man) zu rechtfertigen, die nicht mehr auf göttlicher Offenbarung beruhen, sondern gleichsam einer konzertierten Aktion lebender Dichter entsprangen – in freier und unfrommer Umkehrung des Jesus-Wortes, dass das Heilige dort Ereignis wird, wo mehrere sich in seinem Geiste versammeln (Matthäus 18, 20). Die ‚neue Mythologie‘ sollte eine Völker verbindende, eine universalistische, eine „Mythologie der Vernunft“, nicht – wie bisher – der Unvernunft sein (Mat., 111). Im Würzburger System (1804) unterschied Schelling „partielle“ Mythologien von einer „universellen“, die nicht mehr Nationen oder Völker, sondern – in Marx’scher Sprache – die Mitglieder der „Menschheitsklasse“ vereinte (SW I/6, 572; ebenso II/3, 522). In einer ausgenüchterten Sprache wäre das hier angekündigte Begehren als das nach Ausbildung einer „vernünftigen Identität“ umzuformulieren (in Habermas’

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Sprache [Habermas 1976, 92 ff.]). Sie sollte auf dem Gedanken des normativen Konsenses gründen, was unter posttraditionalen Verhältnissen aus überlieferter Autorität nicht mehr glaubwürdig gelingen kann. Darum musste diese Mythologie in einem ebenso radikalen wie fantastischen Sinne ‚neu‘ heißen. Von dieser komplexen Jugend-Fantasie poetisch-philosophisch begeisterter Intellektueller des zu Ende gehenden 18. Jahrhunderts handeln – neben anderem – die Texte 2 und 3. III. In diesem Kontext erwies sich nun Richard Wagners – insbesondere sein theoretisches und sein literarisches – Werk (samt Briefen und Tagebucheintragungen) als ein eminenter Prüfstein (Texte 2 und 3). Kein Werk hat wie das seine die frühromantische Idee einer Neuen Mythologie aufgenommen und – was den Frühromantikern doch eigentlich zur Gänze misslang – künstlerisch umgesetzt. Auch Wagner hielt das Ereignis der ‚Neuen Mythologie‘ für das Werk vereinigter Einbildungskräfte, ihr Autor sei „das Volk“. Dabei begann Wagner, wie die Frühromantiker – besonders wie der junge Schelling –, mit der Vision einer nach dem Absterben der traditionellen Religionen in der und als Kunst wiederhergestellten Menschheitsmythologie, die auch die neue klassenlose Gesellschaft rechtfertigen würde. Man könnte sagen, daß da, wo die Religion künstlich wird, der Kunst es vorbehalten sei, den Kern der Religion zu retten, indem sie die mythischen Symbole, welche die erstere im eigentlichen Sinne als wahr geglaubt wissen will, ihrem sinnbildlichen Werte nach erfaßt, um durch ideale Darstellung derselben die in ihnen verborgene tiefe Wahrheit erkennen zu lassen (aus: Kunst und Religion von 1880 [SSD X, 211]). Die [griechische] Tragödie war somit die zum Kunstwerke gewordene religiöse Feier, neben welcher die herkömmlich fortgesetzte wirkliche religiöse Tempelfeier notwendig an Innigkeit und Wahrheit so sehr einbüßte, daß sie eben zur gedankenlosen herkömmlichen Zeremonie wurde, während ihr Kern im Kunstwerke fortlebte (aus: Das Kunstwerk der Zukunft von 1849 [SSD III, 132]). Zu allen Zeiten ist den menschen Gott das gewesen, was sie gemeinsam als das höchste erkannten, das stärkste gemeinsame gefühl, die mächtigste gemeinsame anschauung, die wir menschen – weil wir doch alles nur wieder nach menschlichen wesen uns denken können – personificirt als Gott uns darstellten (aus einem Brief an Theodor Uhlig vom 4. Dezember 1849, in: Wagner Briefe III, 182).

Der Künstler der Zukunft – so lautete die Botschaft – ist „das Volk“ selbst, der Musikdramatiker nur sein Mund und seine Feder. In Schellings Worten: Dieser Künstler ist nichts anderes als „eine sittliche Totalität, ein Volk[, das] sich selbst wieder als Individuum constituirt hat“ (SW I/6, 502). Das Volk also ist der gesuchte neue kommende Gott. Da seine Geltung die Menschheit, nicht eine Nation nur beglaubigt, ist dieses Volkes Mythologie die wiederhergestellte „wahre Mythologie“, also die einzige, die soziale Bindekraft mit normativer Geltung vereinigt (l. c. [von mir kursiviert]). Im Verlauf enttäuschter Revolutionserfahrungen (die er ja nicht aus der Unbeteiligten-Perspektive bezog) trübte sich Wagners Bild. Und schließlich hielt er, wie der ähnlich desillusionierte späte Schelling, den

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mythologischen Prozess für ein Selbstvernichtungswerk, das die Haltlosigkeit quasi-religiöser Gesellschafts-Rechtfertigungen entlarvt. Drastischer hätte der Akzent nicht von der sozial stabilisierenden und legitimierenden Funktion des Mythos auf die Legitimation dementierende verlagert werden können. Der Mythos erscheint nun als eine zwar im Bewusstsein der Akteure sich abspielende, aber von ihrer Willkür unabhängige Verhängnisgeschichte (SW II/1, 192 ff.; Schelling 1993, 211 f. ), die auf ihre eigene Desillusionierung hintreibt. Das Ende des Mythos beschert also die Einsicht in seine normative Unhaltbarkeit. In Schellings Vorlesungen über die Philosophie der Mythologie, die Wagner gekannt, aber nicht geschätzt hat, ist die Logik des mythologischen Prozesses die, dass der jeweils machthabende Gott der nächste Ermordete ist. Ich habe sie – mit einem Wort Kafkas – die Logik der „Totschlägerreihe“ genannt. Es ist die Logik, die das Geschehen des Ring vorantreibt. Der ganze mythologische Prozess erweist sich als auf haltlose, aber tödliche Herrschaftsansprüche gegründet. Bei Wagner sind sie im Ring des Nibelungen verkörpert (Text 3). Der Ring war – dieser Logik entsprechend – ursprünglich (im ersten Entwurf von 1848: Siegfrieds Tod) als analytisches Drama konzipiert; und erst nach und nach sah Wagner sich genötigt, um der dramatischen ‚Sinnenfälligkeit‘ der Handlung willen erst den Jungen Siegfried, dann Die Walküre, schließlich Das Rheingold voranzuschicken. Aber der analytische Charakter der Tragödie bleibt erhalten, wie am deutlichsten das Gespräch der Nornen zeigt (zu Beginn schon von Siegfrieds Tod, dann wieder der Götterdämmerung). Längst bevor Alberich durch den Liebeverzicht das Rheingold erwarb, war die „Hauptkatastrophe des Mythos“ (Wotans Schändung der Weltesche) schon geschehen (Brief an Theodor Uhlig vom 12. Nov. 1851 [Wagner 1976, 58]). Der aus dem Eschen-Ast geschnittene, der freien Natur das feindliche ‚Gesetz‘ aufzwingende Speer ist inzwischen von Siegfried in Trümmer zerschlagen, die Verträge haben ihre bindende und schützende Kraft verloren, auch Loge ist der Botmäßigkeit gegenüber Wotan entglitten und schickt sich an, die in Walhall aufgeschichteten Scheite in Brand zu setzen (SSD VI, 179 f.). Mit dem Weltenbrand ist das nur scheinbar aufhaltsame Ende der „ewigen Götter“ definitiv besiegelt (SSD VI, 201). Erst vom ihrem Ende her wird mithin die Handlung des Ring einsichtig: Aus dem VorwegWissen des unabwendbaren Untergangs des letzten Gottes oder Halbgottes wird die dahin führende Vorgeschichte in ihrer Unabwendlichkeit rekonstruiert und sinnenfällig vor Augen geführt. Die unfehlbar ihren Lauf nehmende (und sich früh durch ein düsteres Motiv ankündigende) Götterdämmerung hat Wotans Schändung der Weltesche, die Liebesverfluchung, den Raub des Rheingolds, die Bestrafung der Walküre, Siegfrieds Drachenkampf, Brünnhilden-Erlösung, Treubruch und Tod nur als Epochen. Freilich benutzt Wagner Leitmotive als Indikatoren schon gefallener Schicksals-Entscheidungen so früh, dass ein unbefangener Hörer sie erst im Rückblick (und mit einiger Gelehrsamkeit) erkennen kann – etwa das Schwert-Motiv bei Wotans „großem“ Gedanken am Ende des Rheingold, aber das Götterende doch spätestens seit Erdas, der Nornen-Mutter, Warnung („Ein düst’rer Tag/ dämmert den Göttern“ [SSD V, 262]) und Loges

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Prophezeiung: „Ihrem Ende eilen sie zu,/ Die so stark im Bestehen sich wähnen“ [l. c., 267]). IV. Kein Werk hat einen so tiefen, aber auch so zwiespältigen Eindruck auf die weitere Geschichte der neumythologischen Aufgeregtheit hinterlassen wie das Wagner’sche. Jedenfalls kommt an ihm nicht vorbei, wer auf das Thema der Neuen Mythologie sich einlässt und es nicht bloß philologisch exploriert, sondern es ideen- und gesellschaftsgeschichtlich mit der Pathologie des Modernisierungsprozesses zusammendenkt. Einen Ausblickt auf die letztere liefert Text 2. Dort werden zwei Weisen unterschieden, wie auf den Untergang religionsartiger Sinnquellen reagiert werden konnte. Die eine, von Wagner selbst, von seinen Vorbildern Heine und Feuerbach entweder resigniert oder auch freudig ergriffen, sieht in der Überwindung der Religion die Befreiung von einem Geist deformierenden Aberglauben. Die andere sucht die in die Vision einer Neuen Mythologie investierte Hoffnung am Leben zu erhalten durch Umdeutung der metaphysischen Heilsquellen in solche der zielblinden Biologie. a.) Was die erste betrifft, so hatte sie, wie gesagt, in Schellings eigener Wende vom Entwurf einer Neuen Mythologie zur Philosophie der Mythologie ein bedeutendes Vorbild. Obwohl Schelling selbst – nicht aber Wagner (vgl. Text 6) – der mit dem Polytheismus gleichgesetzten Mythologie die Periode einer fortwährend geltenden offenbarungsgestützten Religion folgen lässt, waren doch er in früherer Zeit sowie Hölderlin und mehrere Vertreter der Jenaer Romantik der Meinung, dass auch die Religion, insbesondere das Christentum, mit dem Ausgang der Aufklärung in eine tiefe Glaubwürdigkeitskrise geraten sei. 1800 – in wütender Reaktion auf Novalis’ frömmelnde Europa-Rede – legte Schelling seinem materialistischen Sprachrohr Heinz Widerporst diese Verse in den Mund: Drum hab’ ich aller Religion entsagt, Keine mir jetzt mehr behagt. Geh weder zur Kirche noch zur Predigt, Bin alles Glaubens rein erledigt (Mat., 148).

Es waren überhaupt so genannte höhere Wahrheiten verdächtig geworden, öffentlicher Überprüfung nicht standzuhalten oder sich gegen solche Überprüfung zu immunisieren. Die Religionsverächter waren allgegenwärtig. Und wenn Schleiermacher eine Lanze bricht fürs Ernstnehmen des (zunächst konfessionsfrei eingeführten) Gedankens der Religion, so wendet er sich charakteristisch an die „gebildeten unter ihren Verächtern“ (1799 [Schleiermacher 1843]). Gerade diese Krise des tradierten Christentums sollte eine ‚Neue Mythologie‘ heilen. Wird nun die Vision einer Neuen Mythologie als Hoffnungsträgerin widerrufen, ja wird dem Publikum – und das heißt: dem Volke – vor Augen geführt, wie die Götterund Heldenwelt ihre eigene Geltung ruiniert und sich gar als ein Kriminaldrama kosmischen Ausmaßes bloßstellt, wird eine eigentümliche Situation geschaffen. Gewiss hätte Wagner Jürgen Habermas’ Überzeugung unterschrieben, nur diejenige zukünftige Gesellschaft dürfe auf das Attribut des Humanum Anspruch ma-

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chen, die Wesentliches ihrer religiösen Tradition verdanke und dieses Erbe transformiert auch bewahre (Gedenkrede auf Gershom Sholem). Im Nachmetaphysischen Denken ist Habermas über diesen Punkt noch expliziter. Ich zitiere – zur Entstaubung des romantischen Kontextes – einen größeren Passus: Wenn wir diesen Kreis von Problemen mit Hilfe einer Herkunftsbezeichnung umschreiben wollen, empfiehlt es sich, um der Klarheit willen von metaphysischen und religiösen Fragen zu sprechen. So glaube ich nicht, daß wir als Europäer Begriffe wie Moralität und Sittlichkeit, Person und Individualität, Freiheit und Emanzipation – die uns vielleicht noch näher am Herzen liegen als der um die kathartische Anschauung von Ideen kreisende Begriffschatz des platonischen Ordnungsdenkens – ernstlich verstehen können, ohne uns die Substanz des heilsgeschichtlichen Denkens jüdisch-christlicher Herkunft anzueignen. Andere finden von anderen Tradtionen aus den Weg zur Plethora der vollen Bedeutung solcher, unser Selbstverständnis strukturierenden Begriffe. Aber ohne eine sozialisatorische Vermittlung und ohne eine philosophische Transformation irgendeiner der großen Weltreligionen könnte eines Tages dieses semantische Potential unzugänglich werden; dieses muß sich jede Generation von neuem erschließen, wenn nicht noch der Rest des intersubjektiv geteilten Selbstverständnisses, welches einen humanen Umgang miteinander ermöglicht, zerfallen soll. Jeder muß in allem, was Menschenantlitz trägt, sich wiedererkennen können. Diesen Sinn von Humanität wachzuhalten und zu klären – nicht in direktem Zugriff, aber durch aufhaltsame, umwegige theoretische Anstrengungen –, ist gewiß eine Aufgabe, von der sich Philosophen nicht ganz dispensiert fühlen dürfen, auch nicht auf die Gefahr hin, sich die zweifelhafte Rolle eines „Sinnvermittlers“ zuschreiben lassen zu müssen (Habermas 1988, 23).

Die semantischen Potentiale der Religion retten (d. h. in Vernunft überführen), ohne den in diesem Erbe auch reichlich angesparten Aberglauben und die entfesselte archaische Gewalt zu übernehmen, das scheint mir eine Hauptsorge auch der jüngeren Publikationen Habermas’ (z. B. Habermas 2005). Der heutige gewalttätige Fundamentalismus unterstreicht eher die Berechtigung von Wagners pessimistischer Sicht. Den Buddhismus (vielleicht) abgerechnet – ihn wollte der junge Wagner verherrlichen im Entwurf zu einer Oper Die Sieger (SSD XI, 325) –, war nie eine religiöse Praxis universalistisch, d. h. frei von genau derselben Gewalt, die die Menschengattung insgesamt dispositional auszeichnet. Was aber wollen wir im Blick auf die ‚Wiederkehr der Religion‘ sagen, die sich in Bushs sektiererischaggressivem Evangelikalismus einerseits, des Al-Kaida-Vizechefs Ajman alSawahiris Aufruf an die islamistischen ‚Gotteskrieger‘ offenbart, den Männermördern und Frauenvergewaltigern in Darfur im Namen des Djihad, des ‚heiligen Krieges‘ (horribile dictu), im Kampf gegen die UN-Hilfstruppen zu Hilfe zu eilen (Frankfurter Rundschau vom 21. Sept. 2007, 63. Jg., Nr. 220, S. 10). Eine dergleichen neue Religion ist vor allem eines nicht: universalistisch, das Gemeinwohl im Auge habend, eine Religion der Vernunft. Die bedrückende Frage lautet: Kann es überhaupt eine soziale Identität stiftende und nicht weiter befragbare letzte Wahrheit geben, die wir ‚Religion‘ nennen dürfen und die nicht gewalttätig ist? Zu Ende der 70er Jahre, als ich mir zuerst solche Fragen stellte, schien über die Religion das entscheidende Wort durch Karl Marx gesprochen, wonach Religi-

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onskritik der Anfang jeder Kritik sei (MEW 1, 378). Marx wollte damit jedoch gewiss nicht sagen, dass man dem Volk die religiöse Hoffnung und gleich auch noch die Hoffnung nehmen müsse, dass einer ‚befreiten Gesellschaft‘ die Legitimationsbeschaffung aus eigenen Mitteln zufallen werde. b.) Schlimmer als die Ernüchterung über ihre salutäre Mission war die Perversion der Neuen Mythologie in Nationalismus und Rassismus. Es bedufte dazu nur eines, des entscheidenden Schritts: Die Bindekräfte der Gesellschaft, die bisher im Geist und in gelingender Kommunikation angebetet worden waren, in den Ungeist, in die Tiefen zielblinder Genetik zu versenken. Während Schelling und Wagner die ‚bisher von der Religion‘ gelieferte Rechtfertigung ‚öffentlichen‘ Meinungsbildungsprozessen überlassen wollten, will der Biologismus sie präkonsensuell fundieren: in den dunklen Mächten des ‚Blutes‘ oder der ‚Rasse‘. Gleichwohl sollte die frühromantisch-Wagner’sche Zeitdiagnose beibehalten werden: Eine vormals in der griechischen Tragödie zelebrierte Konzertation politischer Selbstdarstellung, hoher Kunst und religiös-normativer Unbedingheitsansprüche sollte in ein rassistisch – damit auch angeblich naturwissenschaftlich – fundiertes Spektakel überführt werden: das Thingspiel. Die Rechtfertigungsleistung sollte wieder einem neuen Mythos übertragen werden, dem ideologischen Ausdruck der arischen ‚Rasseseele‘, die sich – man weiß nicht, wie – vom Mythus des 20. Jahrhunderts repräsentieren lässt. Die wiederhergestellte griechische Orchestra hieß nun Thingstätte; und die dort aufzuführenden „Weihespiele“ sind, wie einer der Thingspielautoren ebenso abscheulich wie treffend sie nannte, „ArtWeihespiele“: „Rasse ‚ist‘ Religion“ (Westerich 1922, 62). Von dieser Perversion der Idee einer Neuen Mythologie, die gleichwohl viel mit Wagners Kunstwerk der Zukunft zu tun hat, handelt Text 2 (in einer Düsseldorfer Vorlesung 1980/81 zuerst vorgetragen, zuerst 1989 veröffentlicht). V. Auch der Fliegende Holländer ist ein Anti-Mythos (Text 4). Mit der Verfluchung des überirdischen Sinngaranten überlässt sich der kühne Kapitän den irdischen Meeren, der Aufklärungskraft der Wissenschaft, dem durch sie ermöglichten Erfolg des Kolonialisten. Aber kaum hat er im Namen der Wissenschaft den Altwelt-Gott verflucht, der ihm die Umschiffung des Kaps verwehren will, beginnt der Fluch gegen ihn selbst zu wirken: als unendliche Irre eines sinnentleerten, aller transzendenten Rechtfertigung und Bergung beraubten Lebens, das sich nicht mehr, wie die Irrfahrt des Odysseus, auf „Heimat, Haus, Herd, und – Weib“, sondern auf ‚das Neue‘, ‚nicht Sichtbare‘, ‚Unendliche‘ richtet (vgl. SSD IV, 265). Der Geist, der einem der sagenhaften typologischen Vorfahren des Fliegenden Holländers, dem Kolonialseefahrer Vasco da Gama droht und den Vasco in seine Schranken weist, wäre der feste Ort (‚le lieu propre‘) gewesen, der Hafen oder Ankergrund einer spirituellen Seefahrt, die zu ihrem Ausgangspunkt zurückfindet – wie Odysseus in sein Ithaka. Aber mit der Verwünschung dieses salutären Orts hat sich der Kolonialist den irdischen Gewässern überantwortet, auf denen er nun ziellos irrt. Die Möglichkeit der Erlösung hat er selbst ruiniert, nicht in den Himmel hat er Hoffnung, einst einzugehen, sondern muss endlos

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auf den irdischen Gewässern segeln, vorwärts getrieben von dem „Wind[,] der in den untersten Regionen des Todes bläst“ (Kafka 2002 [Nachgelassene Schriften und Fragmente I], 311). Eigentlich kann man nicht sagen, Wagner habe das Sujet des Holländers gewählt, um die Dialektik der Aufklärung zu illustrieren. Ihm ist um den Aufweis einer Perversion besonderer Art zu tun. Im Ermächtigungswillen des aufgeklärten Kolonialisten sieht er die Liebe zwischen den Geschlechtern bedroht. In Text 3 wird belegt, wie Wagner den Herschaftsgewinn an den Liebesverzicht bindet. Insofern ist der Holländer figural ein Vorläufer Alberichs oder Wotans. Die Liebe hat – so denkt und schreibt Wagner – in der auf Eroberung und Unterdrückung gegründeten Moderne ihre natürliche Gesinnung zur Wechselseitigkeit eingebüßt, sie ist unter die Knute der Beherrschungsobsession geraten. Unfähig, sich aus ihr zu befreien, träumt Wagner (wie viele unter den Frühsozialisten, zumal den Linkshegelianern), vom „Weib der Zukunft“ (SSD IV, 266). Manche werden schmunzeln, wenn nicht zucken in sarkastischer Laune, wenn man ihnen weis machen möchte, Wagner habe Senta als dieses Zukunfts-Weib konzipiert (l. c.). Ihr Opfer ist nicht das stillschweigende der sich an Mann, Haushalt und Kinder verschwendenden Ehefrau (Senta ist am Spinnrad ja deutlich untüchtig und nicht nur nicht mit dem Holländer verheiratet, sondern ihrem Liebsten Erik versprochen). Sie bringt durch ihren Tod – musste es ihr Tod sein? – die verzerrte Geschlechterbeziehung wieder ins Lot. Die Mächte der Erlösung sind ganz unmetaphysischer Art: Es ist die reale Liebe einer Frau, die die unreziprok gewordene Geschlechtsbeziehung wieder herrichtet, indem sie ‚den Mann‘ von seiner Entfremdung heilt. Ist das eine selbst naive Deutung? Wagner hat sie uns vorgeschlagen – warum sollte man nicht einmal versuchen, ihn ernst zu nehmen und seine eigene Vision zu inszenieren? Die wunderhübschen Aufführungen, die die Geschichte des Holländers als Fieberwahn eines naiven Mädchens darstellen, das bis in den Tod seinem Papa treu bleibt, haben ihre Pflicht getan. Mein 4. Text macht einen Vorschlag in die Richtung einer anderen Inszenierung. VI. Nach der captatatio benevolentiae zu Beginn muss ich dem Leser/der Leserin gestehen, dass ich doch auch maßvoll musikologische Prätentionen habe. Sie kommen im 5. Text ungeschützt aus dem Sack. Gewiss habe ich von Adorno gelernt, dass die moderne Musik sich aus der Fessel des im wiederkehrenden Thema dominierenden Identitätszwangs zu befreien sucht und dass wir – auf je verschiedene Weise – bei Brahms und Wagner einen Bruch mit der klassischen musikalischen Syntax erleben. Tendenziell wird die Durchführung ‚total‘, d. h. Mitte und Peripherie werden ununterscheidbar. Wie Wagner (und Weber) das anstellen, habe ich von Carl Dahlhaus gelernt. Aber es bleibt mir doch einige Originalität, wenn ich diese Kompositionstechnik an die Grundintuition der Frühromantik zurückverweise. Auch hier situiere ich also Wagner im frühromantischen Kontext. Die romantische Ironie praktiziert (gelegentlich) ein Sagen, als sagte man nicht. Sie überdeterminiert den Wort- und Satzsinn durch ‚Andeutung‘ dessen,

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was an seiner Stelle ebenso gut hätte gesagt werden können. Das kann geschehen durch logische Spannungen zwischen Aussagen oder Sprechakten. Eine Möglichkeit ist der inhaltliche (und nicht beigelegte, sondern offen gehaltene) Widerspruch. Eine andere die Aufkündigung des Metrums und die Annäherung des lyrischen Sprechens an das der Prosa. Tieck war der Meinung, reale psychische „Empfindungsreihen“ lassen sich in klassischen metrischen Schemata nicht fassen, sondern verlangten eine rhythmische Subversion des Metrums (Tieck 1920, 117 f.). An Brahms’ Vertonung der Magelonen-Lieder wird deutlich, wie sehr sich die Melodie flexibilisieren muss, um diesen zuweilen extrem misstönigen und regellosen Sprachgebilden sich anzupassen. Wie, wenn Wagner Tieck vertont hätte? Der Sache nach – das zeigt Text 5 – hat er’s getan. Gilt nämlich, dass gestabte Verse von äußerster A-metrie typischerweise pro Silbe nur einen Ton zugeteilt bekommen dürfen, entstehen musikalische Reihen, die nicht mehr nach ‚arios‘ oder ‚rezitativisch‘ oder gar nach ‚Thema‘ und ‚Variation‘ unterschieden werden können. Wagner spricht von einer Prosaisierung der musikalischen Sprache (SSD IV, 114, 116), und Adorno ist ihm gefolgt. Das Verfahren romantischer Ironie dringt ein die Sprache der Musik, ja es enthülllt sich als musikalisches Verfahren. Das Lektorat und ich waren begeistert von dem Gedanken, den interpretierten Beispielen eine CD als Bonbon beizulegen, die dem Leser/der Leserin auch den Genuss der vertonten Texte in klassischen Aufnahmen ermöglicht: am liebsten während der markierten Hörpausen bei der Lektüre. Das erwies sich als naiv. Zitate aus Musik-CDs, die eine dreiviertel Minute überschreiten, sind aus Urheberrechts-Gründen unerschwinglich. Ich wünsche mir, dass der eine oder die andere Leser(in) sich die Mühe machen werde, meine jeweilige Wunschaufnahme aufzulegen. Trotzig habe ich die Einladung dazu mit der Angabe der Quellen in meinem Text aufrechterhalten. VII. Wie hielt Wagner es mit der christlichen Religion? In einem nie gründlich analysierten Tragödien-Entwurf Jesus von Nazareth von 1849 hat er sich jedenfalls eingehender als irgend sonst mit der Gründerfigur des Christentums auseinandergesetzt. Aber christliche Frömmigkeit spricht aus seinem Entwurf nicht. Jesus ist ihm nicht der Messias, „sein Reich ist nicht von dieser Welt“: zur Enttäuschung der Juden, die von ihm die Vertreibung der Römer und die Wiederherstellung der Davids-Herrschaft erhofft hatten (und am Ende den Revolutionär Barrabas vom Kreuze freistimmen und Jesus ans Kreuz liefern). Jesus ist für Wagner eine Inkarnationen dessen, was er mit seinem Lieblingsausdruck ‚das rein Menschliche‘ nennt. Im rein Menschlichen spricht die Natur, und der Grundtrieb der Natur ist Liebe. ‚Frei‘ ist der Mensch – in Wagners sehr unkantianischer Denkweise –, wo seine Natur nicht reprimiert wird, wo er sein Wesen ausleben darf (Misselhorn 2004). Nirgends ist Wagner seinem Bundesgenonossen und „Oberfeuerwerker der Revolution“ Bakunin näher als in dieser Überzeugung (Wagner 1911 I, 456, 460). Wie im Ring ist der Natur (bzw. der Liebe) ‚das Gesetz‘ entgegen gestellt, über das sich die liebenden Geschwister Siegmund und Sieglinde hinwegsetzen, ebenso aber der den Ehebruch-aus-Liebe rechtfertigende

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Jesus Wagners. Jesu Überwindung des Gesetzes durch die Liebe entspricht also ganz und gar Wagners anarchistischer Grundüberzeugung. Auch darum lässt sich an keinem der dichterischen Entwürfe Wagners Weggenossenschaft zum französischen wie zum deutschen Frühsozialismus, besonders zum Bakunin’schen Anarchismus so gut belegen und studieren wie in Jesus von Nazareth (Text 6). VIII. Freunde – zuletzt Raimar Zons vom Fink Verlag – haben mich längst gefragt, warum ich meine verstreuten Aufsätze und Abhandlungen zu Wagner, die meisten aus dem Bayreuther Programmbüchern und im Buchhandel nicht erhältlich, nicht zusammenstelle und damit leicht zugänglich mache. In der Tat: Warum eigentlich nicht?

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2. VOM „BÜHNENWEIHEFESTPIEL“ ZUM „THINGSPIEL“ Zur Wirkungsgeschichte der ‚Neuen Mythologie‘ bei Nietzsche, Wagner und Johst Dionysos, dem „allzeit frohen“ Gott (wie ihn Hölderlin in Brod und Wein nennt), wäre es leicht, auf beschwingte Weise zu einem ‚Fest‘-Kolloquium beizu1 tragen. Feier, Fest und Geselligkeit (auch: wieder gefundene Gemeinschaft in dem noch ideologisch unverdächtigen Sinne von fraternité) stehen denn auch im Zentrum der Dionysos-Renaissance, deren Motivation und poetisch-spekulative Ausformung ich im Kommenden Gott (Frank 1982) untersucht habe. Der dort auf Seite 31 in Aussicht gestellte II. Teil hätte die „Wiederkehr des Dionysos im späten 19. und im vorfaschistischen 20. Jahrhundert“ behandeln sollen. Wenn ich im folgenden einen Auszug daraus zugänglich mache, so weiß ich wohl, dass Dionysos – der Gott der Tragödie und seines modernsten Surrogats: des „Weihefestspiels“ – hier weniger als Fest-Gott, denn als „trouble-fête“ auftreten wird und dass mein Nachvollzug dieses Kapitels einer Wirkungsgeschichte der frühromantischen Idee einer ‚Neuen Mythologie‘ zunehmend düstere und unfestlichere Farben tragen muss. Vom ‚Fest‘ ist freilich noch immer die Rede, und wenn es nicht das heitere mehr der Hölderlin’schen Friedensfeier sein kann, so wird doch niemand leugnen, dass wir mannigfachen Grund haben, dies Kapitel unserer jüngeren Kulturgeschichte nicht zu verdrängen, sondern mit besonderer Aufmerksamkeit zu studieren. Ich erlaube mir, den Aspekt des Festes in der historisch so stark überdeterminierten Semantik des von Wagner so genannten „Bühnenweihfestspiels“ aufgehen 2 zu lassen. Ihre Vorgeschichte ist ein Stück romantischer Wirkungsgeschichte der attischen Tragödie und ihres Stiftergottes. Ich kann sie angemessen nur charakterisieren, wenn ich sie einbette in den Fragezusammenhang des Kommenden Gottes, d. h. der Herkunft und Zukunft des frühromantischen Gedankens der Notwendigkeit einer ‚Neuen Mythologie‘. Wagners ‚Weihefestspiel‘ steht ganz in dessen Bann, wie freilich nur der ermessen kann, der die Vorgeschichte und Nachwirkung überblickt. Die Frühromantiker argumentierten etwa so: Die aufklärerische Form von Rationalität kann beschrieben werden als abstrakt analytisch: Alles wird zerlegt, 01 Erstdruck des vorliegenden Textes in: Das Fest, hg. von Walter Haug und Rainer Warning (= Poetik & Hermeneutik XIV), München: Fink, 1989, 610-638. 02 Ich habe im Kommenden Gott (Frank 1982, 251, 281 im Kontext) umständlich gezeigt, dass der Ausdruck ‚Weihe‘ den griechischen ‚telet®‘ übersetzt, der einfach die Einweihung in die Mysterien meint. Hölderlins und Schellings Überzeugung war, der ‚DiónysVğlikníthV‘, auch Iakchos genannt, der Sohn des Zeus und der Demeter, präfiguiere den krippengeborenen Halbgott Jesus. Auch der Name ‚Weihnacht‘ hat ja eine solch griechisch-mysterische Erbschaft. Vgl. die Rede des Eingeweihtenchors in Aristophanes’ Fröschen: „Du, der Weihenacht leuchtender Stern“ („nuktærouğtelet²V fwsfóroV Âst®r“ [Vs. 342]).

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VOM „BÜHNENWEIHEFESTPIEL“ ZUM „THINGSPIEL“

aufgelöst und demontiert, bis jede Synthese sich als äußerliches Ensemble elementarer Bestandteile erweist. Alle synthetischen Posivitäten (die Glaubensgewissheiten, das Gottesgnadentum, die Privilegien, auch das Selbstbewusstsein usw.) werden geschleift und enthüllen sich vor dem Auge des analytischen Geistes als haltlos („illegitim“). Wie steht es aber mit der Vernunft selbst, die diese universelle, nichts verschonende Analyse praktiziert? Friedrich Schlegel hat ihr prophezeit, dass sie eines Tages mit der Idee der Unhaltbarkeit der Idee der Positivitäten auch die Positivität ihrer eigenen Legitimität ‚untergraben‘ haben werde, mit dem Erfolg, dass Rationalität (und der auf ihrer Basis errichtete Staat) fortan und bis heute unter dem Verdacht stehen, illegitim zu sein oder sich doch nicht aus eigenen Mitteln rechtfertigen zu können. Hier schlägt die Geburtsstunde jener Idee, von der der anonyme Verfasser des so genannten ‚Ältesten Systemprogramms des deutschen Idealismus‘ sicher ist, sie sei „noch in keines Menschen Sinn gekommen“, nämlich die: „wir müßen eine neue Mythologie haben“ (Mat., 110 f.). Sie soll die Selbstaufhebung der legitimierenden Kraft von Vernunft umwenden, indem die selbstzerstörerischen Kräfte der Analyse an ihre Abhängigkeit von einer fundierenden Synthese erinnert werden, die nicht mehr, wie früher, in religiösen Traditionen überkommen sein muss, sondern das Resultat einer solidarischen Erfindung sein könnte: das Werk von Dichtern und Schriftstellern, die fortan in der gesamten europäischen Literatur der Nachromantik mit einem quasi-priesterlichen Anspruch reden. Die Dichtung (für Wagner und Nietzsche: auch die Musik) wird diese Neue Mythologie nicht nur vorbereiten, sondern selbst sein. Den Griechen war die Tragödie das ungetrennte Ineins von Kunstwerk, Gottesdienst und politischer Selbstdarstellung des Staates – als Kunstwerk überdies ‚Gesamtkunstwerk‘. Ihre Legitimität bezog sie durch Schöpfen aus dem Schatzhaus der Mythologie, womit sie unmittelbar sozial wurde: Die griechische Tragödie – so liest man’s in den romantischen Geschichtsentwürfen von Schlegel, Schelling über Wagner und Nietzsche bis hin zu Hanns Johst – war unmittelbar ein Ort, an welchem die gesellschaftliche Synthesis der Einwohner des Gemeinwesens als solche in kultischer Form begangen wurde. Die griechische und entscheidend erst die europäische Aufklärung haben dann die Poesie rationalisiert und partikularisiert. Nun ist sie nicht mehr, was sie den Menschen einst war und wieder werden soll: „Lehrerin der Menschheit“. Ihrer Zersetzung als Mythos entspricht der Verlust eines homogenen Publikums. „Wo, wie unseren Staaten, die öffentliche Freiheit in der Sklaverei des Privatlebens untergeht“, lehrt Schelling 1804 in Würzburg, da „kann die Poesie 3 auch nur dazu herabsinken“ (SW I/6, 572 f.). – Es ist das Schicksal der Poesie im Zeitalter des analytischen Geistes, privat hervorgebracht und privat konsumiert zu werden. Ihrer Zersetzung als Mythos entspricht unmittelbar ihr Verlust eines Publikums als homogener Gruppe. Ergebnis einer Abkoppelung von der gemeinschaftsbildenden Idee des Göttlichen, verliert sie die Möglichkeit, eine neue ge03 Vgl. l. c..: „Wo alles öffentliche Leben in die Einzelheit und Privatheit des Privatlebens zerfällt, sinkt mehr oder weniger auch die Poesie herab in die gleichgültige Sphäre.“

ZUR WIRKUNGSGESCHICHTE DER ‚NEUEN MYTHOLOGIE‘

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sellschaftliche Synthesis zu rechtfertigen. Es fehlt, sagt Schelling, „das Mittelglied“, das der analytischen „Wissenschaft“ die „Rückkehr“ zur Idee des Absoluten, nämlich zur „Anschauung der absoluten Identität in der objektiven Totalität“ (SW I/3, 629 und I/2, 73) ermöglichen würde. Ein solches Mittelglied hat unter anderen Bedingungen „in der Mythologie existirt [...], ehe diese, wie es jetzt scheint, unauflösbare Trennung geschehen ist“. Solange sie die Basis bürgerlicher Öffentlichkeit ist, kann es die „neue“ und zugleich „letzte Ausbildung“ einer „Religion“ nicht geben, deren Haupteffekt darin bestehen würde, „die Menschen in einer gemeinschaftlichen Anschauung zu vereinigen“ (l. c.). Die Frage nach der Möglichkeit eines universellen Stoffes des Poesie [...], treibt uns also selbst auf etwas Höheres hin. Nur aus der geistigen Einheit eines Volkes, aus einem wahrhaft öffentlichen Leben, kann die wahre und allgemeingültige Poesie sich erheben – wie nur in der geistigen und politischen Einheit eines Volkes Wissenschaft und Religion ihre Objektivität finden (SW I/6, 573).

Dieser Theorie-Hintergrund lässt ahnen, warum die politisch-gedankliche Kritik an der atomisierten und mythenlos gewordenen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts in Deutschland zugleich einen so stark ästhetizistischen und literarischen Kult hervorbringen konnte. Ist einmal der Tod des Mythos für den Verlust an intersubjektiver Verbindlichkeit verantwortlich gemacht und wird ferner – von Schlegel über Schelling und Wagner bis zum Expressionismus – der Künstler dazu ausersehen, den Mythos aufs Neue hervorzubringen, dann lässt sich absehen eine hohe Politisierung der Kunst-Tätigkeit einerseits, ihr Abzwecken auf die Wiederherstellung eines kollektiven Mythos andererseits. Dies ist in sehr unterschiedlichen Weisen wirklich geworden: einerseits im Ästhetizismus – ich denke an Namen wie Rilke, George oder Benn, die jeweils Dichtung als modernen Mythos restituieren wollten –; andererseits in den politischen Fantasien von der Art des Nietzsche’schen „Künstler-Politikers“ (in dem Hitler sich wiederzuerkennen glaubte) und des „Mythus des 20. Jahrhunderts“. Zwischen diesen Polen bewegt sich der schmale Gratweg meines Themas. Noch bleibt, bevor ich mich dahin auf den Weg mache, die Frage zu beantworten, warum gerade der antike Gott Dionysos es vor allen anderen gewesen ist, der zum Gegenstand der Hoffnungen auf eine Neue Mythologie werden konnte. Tatsächlich kommt Dionysos den mythischen Wunschfantasien der Romantik besonders entgegen. Zunächst darum, weil er der Gott ist, der als Rausch, als Poesie und als Hoffnungsprinzip die Aufklärung als einziger überlebt zu haben scheint: so bei Novalis. Sodann, weil er schon den Griechen derjenige Gott war, der die Essenz aller anderen Götter in sich zusammen nimmt und so gleichsam den gesamten griechischen Götterhimmel aufhebend in sich vereinigt. Hölderlin nennt ihn den „bleibenden“ (in Brod und Wein): den Gott, der die Substanz des Heiligen unter Bedingungen der Aufklärung in vergeistigter Form allein zu retten geschickt ist. Ferner hat er bei Hölderlin, bei Schelling und bei Nietzsche (aber auch bei Jacob Burckhardt oder bei Rilke) den Beinamen „der kommende Gott“, d. h. der Advents-Gott, der Gott, dessen Herrschaft erst in einer Zukunft Ereig-

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nis werden wird. Da Dionysos aber in seiner griechischen Heimat anfangs nicht anerkannt war, durfte er für einen Gott der Verheißung gelten: als der ins Ausland verbannte, der wiederkehren wird, um endlich zur Rechten des Vaters zu sitzen, ja mehr noch, um – wie die Fragmente der Orphiker es dichten – die Weltherrschaft zu übernehmen, wenn die Olympier von der allgemeinen Götternacht dahin gerafft sein werden. Diese Götternacht ist bei Hölderlin als die Geschichte des nachantiken Abendlandes gedacht, d. h. als die Geschichte der europäischen Aufklärung (im weiten Wortsinn). Indem Dionysos allein diese Katastrophe der Sinnverfinsterung übersteht, bleibt er noch jetzt, an der Schwelle zu einer nachabendländischen (heute sagt man: ‚postmodernen‘) Epoche der Menschheit, der kommende Gott, als den Schelling und Nietzsche ihn, freilich auf unterschiedliche Weise, feiern. Und auch Hölderlin, der ihn zugleich als den Gott der wieder gefundenen Menschengemeinschaft, als den Gott der gelungenen fraternité begrüßt, in der der Mensch dem Menschen nicht mehr nur Anderer und Nebenmensch und gleich-gültig (im zynisch gewordenen Sinne von ‚égalité‘) ist, sondern in dessen Geist-Rausch die Menschen – wie beim Pfingstwunder – eines werden. Darin besteht die soziale Verheißung seiner Wiederkunft. Schließlich aber ist Dionysos – wenigstens für Hölderlin, Creuzer, Kanne und Schelling – mit Christus identisch, auf dessen Wiederkehr die verlassene Menschheit hofft. Hölderlin sieht Christus als den letzten des himmlischen Chors; bevor, nach dem Untergang der Mythologie (d. h. des Polytheismus), die Welt sich verfinstert, hinterlässt er die Gedächtnisgaben der Eucharistie, zum Gedächtnis und zum Zeichen, „dass einst er da gewesen und wiederkäme zu richtiger Zeit“ (Brod und Wein). Nun ist der Wein, von dem Christus sagt, er sei sein Blut, zugleich die Gabe und die Substanz des „Weingottes“. Der Weingott ist ferner, wie Christus, ein zu Tode gefolterter und wieder auferstandener Gott: Als Zagreus wird er von den Titanen zerrissen, aber von seinem Vater im Himmel wieder zum Leben erweckt. Ein Kult schloss an diese Mythenerzählung an: Zu Frühlingsbeginn wallfahrteten die Jüngerinnen des gestorbenen Gottes auf den Parnass oder den Kithairon (zwei in Brod und Wein genannte Gebirge), um als Ammen die Ankunft, d. h. die Geburt des wieder zum Leben erwachenden Dionysos-Knaben zu begehen, der auch liknitäs hieß: der in der Wiege (oder Saatwanne) Liegende. Der Weg bis hin zur Krippengeburt des Messias, von der nur Lukas erzählt, ist nicht sehr weit, zumal in beiden Geschichten der Heiland, griechisch sotär – auch Dionysos wird häufig als sotär angesprochen –, das Kind einer irdischen Jungfrau und des höchsten aller Götter (ho hypsistos tôn theôn), Jahwe bzw. Zeus, ist; und diese Verbindung ist nicht nur in der Antike häufig, sondern eben auch von Schelling, Hölderlin und anderen Romantikern vollzogen worden. – Es gibt aber eine dritte Spur, die die Christus- und die Dionysos-Mythen ineinander flicht. Als „der Erde Frucht“ wird in Brod und Wein das Brot bezeichnet, von dem Christus sagt, es sei sein Leib. Nimmt man das wörtlich, wie Hölderlins poetische Verfahrensweise das empfiehlt, so kann man sagen: Christi Leib sei der Erde Frucht. Nun ist die Erde bei Schelling und Hölderlin gedacht als Personifikation der griechischen Erdmutter, der Gä-Mätär, der Mutter Erde oder Demeter, der Göttin des Acker-

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baus und des Getreides. Eine solche Frucht ist aber, schicklicher bezeichnet, ihr Kind. Und in der Tat: In den heiligsten Mysterien der griechischen Religion, denen zu Eleusis, wird nicht Selene, sondern Demeter als Mutter eines Kinds gefeiert, dessen Name verschieden überliefert ist. Den Romantikern war die liebste Version diejenige, wonach dies Kind, das – wie der Bakchos-Knabe – in einer Saatwanne oder Wiege geboren wurde und nach dem Jauchzen der Festgemeinde Iakchos/Jauchzer hieß, eine Reinkarnation des Dionysos-Bakchos gewesen sei. In der Tat wird Iakchos gelegentlich als Dionysos angesprochen; diesmal aber nicht als der aus den Gliedern des Zagreus wieder hergestellte delphische Dionysos, der Weingott, wie wir alle ihn kennen; sondern als der im Geist und in der Wahrheit wieder geborene Weingott, dessen Rausch nun spiritualisiert erscheint zu jenem Gemeinschaftsgeist, der am Pfingstfest aus den Festteilnehmern spricht, die mit Zungen reden und von den Außenstehenden gar nicht unpassend als „voll des süßen Weines“ bezeichnet werden. Mit einem Wort: Die unsichtbare Geburt dieses dritten Dionysos (neben Zagreus und Bakchos), und zwar in der Dürftigkeit der Krippe bzw. der Wiege: sie wurde von den Romantikern als die Vorwegnahme der Geburt des Messias im Stall zu Bethlehem gedeutet. Nimmt man hinzu, dass der Ort Eleusis, in dem diese wunderbare Geburt sich vollzog, übersetzt ‚Ankunft‘, ‚Advent‘ heißt (freilich bedarf es zu dieser Übersetzung einer Akzentverschiebung); und erwägt man ferner, dass sowohl Christus wie Dionysos ihr Fleisch und Blut ihren Jünger(inn)en zu essen/zu trinken geben (Omophagie), dann hat man das Material zusammen, aus dem Schelling, Creuzer, Kanne und Hölderlin und – ihnen verpflichtet – Nietzsche einen neuen dionysischen Mythos formen konnten, von dem sie unterstellten, er entfaltete seine Wirkung erst in der Zeit nach der Götternacht, wie Hölderlin, oder „nach dem Tode Gottes“, wie Nietzsche sagt. Als diesen „kommenden Gott“ feiern ihn zahlreiche neumythische Traktate und poetologische Programme des endenden 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Mein Beitrag ist auf Wagner und Hanns Johst beschränkt – so wird nur ein Bruchstück aus der mächtig gärenden Wirkungsgeschichte der Neuen Dionysos-Mythologie sichtbar.

I Nietzsches Abhandlung und Erstpublikation Die Geburt der Tragödie (1872) kann in unserem Zusammenhang nicht ganz übergangen werden, auch wenn sie nicht Gegenstand einer eigenen Auslegung werden soll. Ich werde insbesondere nichts zu jenem populären, die Schrift leitmotivisch gliedernden Gegensatz der Dionysischen und Apollinischen sagen, sondern möchte nur darin erinnern, dass Nietzsche der apollinisch verklärten dionysischen Lebenskraft – dem Kunstwerk, und ihm allein – eine Daseins-rechtfertigende Macht zuerkennt (Nietzsche 1988 I, 17, 47, vgl. 69). Damit ist das romantische Grundmotiv der ‚Neuen Mythologie‘ in charakteristischer Umgestaltung präsent: Nach dem Sieg der Mächte der Aufklärung über die metaphysischen Sinn-Ressourcen des Abendlandes ist ein Legi-

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timationsdefizit entstanden, das nicht mehr von der traditionellen Religion, auch nicht mehr von einer letztbegründeten Moral, sondern von der „Kunst [...] als d[er] eigentlich metaphysische(n) Thätigkeit des Menschen“ (l. c.) geschlossen wird. Die Kunst selbst setzt sich an die Stelle der Religion. Dabei verliert sie aber keineswegs alle Züge kultischer Gemeinschaftsbildung, wie sie die politisch-sozial integrierte Kunstform der attischen Tragödie aufwies. Nun ist Nietzsche davon überzeugt, dass sich die Tragödie aus dem Chor, dem „eigentlichen Urdrama“ oder „dramatischen Urphänomen“ (l. c., 52, 61), entwikkelt und dass in ihm die Präsenz des großen Gemeinschafts-Stifters, des trunkenen Gottes, am greifbarsten sei. Nietzsches Tragödie-Schrift hat noch nicht den elitär-individualistischen Zug seiner späteren Schriften, sondern widmet, in frühromantischer Tradition, dem sozialen, durch Dionysos’ Einstand verbürgten Charakter des Kunstwerks – seiner mythisch-politischen Mitgift – eine gewisse Aufmerksamkeit (52 f., 61. 133 f., nationalistisch auf den ‚deutschen Mythus‘ eingeschränkt: 146 ff.). Dass er aber den Dionysos als den ‚kommenden Gott‘ – als den geistigen Gemeinschaftsbringer, und nicht mehr ohne weiteres (nur) als den trunkenen Bakchos – auffasst, das lässt sich erweisen aus nahezu wörtlichen Parallelen seines Textes mit Passagen aus Schellings Philosophie der Offenbarung (Nietzsche 1988 I, 72 f.; SW II/3, 480 f., 422, 483-5; dazu ausführlich Frank 1982, 313 mit Anm. 6, S. 344-347; zustimmend Wilson 1996, 151 ff.). Nietzsche spricht den Dionysos, in frühromantischer Tradition, als den „kommenden, dritten Dionysos“ an, und ihm sei „erscholl[en] der brausende Jubelgesang der Epopten“ (SW II/3, 486), nach welchem er, onomatopoetisch, den Namen Iak4 chos (Jauchzer) erhalten habe. In ihm, der ins Geistige umgewendeten bakchischen Befreiung vom Bann der Individuation, gründe die Hoffnung auf eine Wiederkehr des antiken Ineins von Kunstwerk, kultischer Vereinigung vieler und (aus höchsten Werten geleisteter) Daseinsrechtfertigung der Bürger.

04 Bei Nietzsche heißt es: „In Wahrheit aber ist jener Held der leidende Dionysos der Mysterien, jener die Leiden der Individuation an sich erfahrende Gott, von dem wundervolle Mythen erzählen, wie er als Knabe von den Titanen zerstückelt worden sei und nun in diesem Zustande als Zagreus verehrt wurde: wobei angedeutet wird, dass diese Zerstückelung, das eigentlich dionysische Leiden, gleich einer Umwandling in Luft, Wasser, Erde und Feuer sei, dass wir also den Zustand der Individuation als den Quell und Urgrund alles Leidens, als etwas an sich Verwerfliches, zu betrachten hätten. Aus dem Lächeln dieses Dionysos sind die olympischen Götter, aus seinen Thränen die Menschen enstanden. In jener Existenz als zerstückelter Gott hat Dionysos die Doppelnatur eines grausamen verwilderten Dämons und eines milden sanftmüthigen Herrschers. Die Hoffnung der Epopten ging aber auf eine Wiedergeburt des Dionysos, die wir jetzt als das Ende der Individuation ahnungsvoll zu begreifen haben: diesem kommenden dritten Dionysos erscholl der brausende Jubelgesang der Epopten. Und nur in dieser Hoffnung giebt es einen Strahl von Freude auf dem Antlitz der zerrissenen, in Individuen zertrümmerten Welt: wie es der Mythos durch die in ewige Trauer versenkte Demeter verbildlicht, welche zum ersten Male wieder sich freut, als man ihr sagt, sie könne den Dionysos noch einmal gebären. In den angeführten Anschauungen haben/ wir bereits alle Bestandtheile einer tiefsinnigen und pessimistischen Weltbetrachtung und zugleich damit die Mysterienlehre der Tragödie zusammen [...]“ (Nietzsche 1988 I, 72 f.).

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II Schon die Frühromantiker haben die Tragödie mit einem mehr als nur ästhetizistischen Wohlgefallen beschrieben. Für Schelling z. B. war sie ein Akt des wieder zur Einheit verschmolzenen und aus gemeinsamen Axiomen sich rechtfertigenden „Volkes“: eine beneidenswerte (verlorene) Einheit von kultischer Handlung, ästhetischer Darstellung und politischer Repräsentation (SW I/6, 572 f. im Kontext): Denn in der Tat, die Tragödie war ja Gottesdienst, sie war Kunstwerk höchsten Ranges, und sie war eine Art Staatsakt, der der gesamten Republik samt den Sklaven geboten, ja sogar verordnet war – allerdings möglicherweise unter Ausschluss der Frauen (dies Kapitel restriktiver Demokratie-Auslegung steht bei den Griechen auf einem anderen Blatt). Solche Deutung der Tragödie darf übrigens – Romantik hin, Nietzsche her – für philologisch-historisch fundiert gelten. Konrad Ziegler, der Verfasser des umfangreichen Artikels Tragoedia in Paulys Realenzyklopädie (PW Bd. VIa, 1936/7, 1899 ff.), bemerkt: „Das athenische Dionysostheater des 5. Jahrhunderts war eine moralische Anstalt, die T.-Aufführungen große politische Weiheakte, in denen das attische Volk sich auf die sittlichen Grundlagen seiner Existenz besann, wobei trotz des strengen Stiles auch das Aktuelle nicht durchaus verbannt war“ (1942); als Beweis für die aktuelle Tendenz denke man an Die Troerinnen des Euripides. Man kann verstehen, dass eine so – nämlich als Ineins von Weiheakt, Kunstwerk und Politikum – gedeutete Tragödie nostalgische Gefühle hervorbrachte und dass einige Philosophen und Literaten glauben konnte, ihre Wiederherstellung sei gleich bedeutend mit der Überwindung der desolidarisierenden, die Menschen entzweienden und um ihren Lebenssinn betrügenden Effekte der bürgerlichen Gesellschaft. Ich führe, als einen Beleg für hunderte, eine Stelle aus Rilkes Malte Laurids Brigge an: Laßt uns doch aufrichtig sein, wir haben kein Theater, so wenig wir keinen Gott haben: dazu gehört Gemeinsamkeit. Jeder hat seine besonderen Einfälle und Befürchtungen, und er läßt den andern so viel davon sehen, als ihm nützt oder paßt (Rilke 1975 11, 922).

Das ist der Grund-Gesichtspunkt auch und schon in Richard Wagners Schrift Das Kunstwerk der Zukunft. Sie stammt aus dem Revolutionsjahr 1849 und verrät auf jeder Seite Wagners aktives sozialistisches Engagement. Verglichen mit den Manifesten und ästhetischen Räsonnements im Werk etwa der Junghegelianer oder bei Marx und Engels merkt man freilich in Wagners Schrift auffällige Differenzen, nicht nur im Pathos der Darstellung, sondern im Gestus der gesamten Argumentation. Das hängt nicht nur mit der staatsfeindlichanarchistischen (eher an Bakunin als an Marx gemahnenden) Überzeugung Wagners zusammen, sondern auch mit der ästhetizistisch-theologischen Perspektive, in der er die Gegenwart vermisst. Das freilich ist ein Zug, der uns nur darum fremd ist, weil wir den romantischen Sozialismus im Frankreich der 30er und

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40er Jahre des 19. Jahrhunderts nicht gut kennen. Ihm verdankt Wagner viel. Ich will einen kurzen Abriss seiner Grundgedanken versuchen. Der erste Satz seines späten Essays über Religion und Kunst liest sich wie ein gedrängtes Resümee der frühromantischen Ideen zur Kunstreligion in einer bindungslos gewordenen Bürgerwelt: Man könnte sagen, dass da, wo die Religion künstlich wird, der Kunst es vorbehalten sei, den Kern der Religion zu retten, indem sie die mythischen Symbole, welche die erstere im eigentlichen Sinne als wahr geglaubt wissen will, ihrem sinnbildlichen Werte nach erfasst, um durch ideale Darstellung derselben die in ihnen verborgene tiefe Wahrheit erkennen zu lassen (SSD X, 211).

Im Gegensatz zu Nietzsche, der die gesellschaftliche Dimension ganz preisgeben wird und – wie die Vertreter des L’art pour l’art, deren Formel er damit unterschreibt – nur mehr eine ästhetische Rechtfertigung des Abstraktums „Dasein“ im Auge hat, steht Wagners Satz auf dem Boden einer philologisch-historisch anfechtbaren, aber in sich konsequent entwickelten Genealogie des Bindungszerfalls der menschlichen Gesellschaft seit der Antike: Die Hoffnung der Menschheit, sich von den Effekten einer totalen „Zersplitterung“ (SSD III, 63) ihrer Wesenskräfte in spezielle Fertigkeiten und Einzelpraktiken zu befreien (so heißt es im Kunstwerk der Zukunft), nährt sich von der Erinnerung an eine vormals integrale Selbstdarstellung der vereinigten Menschheit in der Kultfeier einer poetischen Handlung (eines drómenon, eines Dramas im antiken Sinne). So wie die voneinander getrennten Individuen ihre soziale Synthese als „Volksgemeinschaft“ durch die Gemeinschaftlichkeit ihres Glaubens vollzogen („zu jeder Zeit, wo Mythus und Religion im lebendigen Glauben eines Volksstamms lebten [hat] das besonders einigende Band gerade dieses Stammes immer nur in eben diesem Mythus und eben dieser Religion gelegen“ [l. c. 131]), so brachten sie das Bewusstsein dieses ihres axiomatisch gerechtfertigten sozialen Einverständnisses in der „zum Kunstwerke gewordenen religiösen Feier“ zum Ausdruck (132). Man weiß schon aus Feuerbach, dem Wagner viel verdankt und dem er seine Schrift gewidmet hat, wie es weiter ging: Im Lauf der abendländischen Geschichte ist der analytische Geist wie ein Raureif in die Blütenpracht des synthetischen Geistes eingefallen und hat den „egoistischen, absoluten, einzelnen Menschen“ produziert – den Menschen, der „losgelöst [ist] aus dem schönen Bande der Gemeinsamkeit“ (133). „Die Periode von diesem Zeitpunkt bis auf unsere Tage ist daher die Geschichte des absoluten Egoismus und das Ende dieser Periode wird die Erlösung in den Kommunismus sein“ (134). Und während mehr und mehr „die herkömmlich fortgesetzte wirkliche religiöse Tempelfeier [...] an Innigkeit und Wahrheit [...] so sehr einbüßte, dass sie eben zur gedankenlosen herkömmlichen Zeremonie wurde, [lebte] ihr Kern [allein] im Kunstwerke fort“ (132), das so etwas wie ein Memento des integralen Menschen geblieben ist und daher die meisten Hoffnungen an den Gedanken seiner Wiederherstellung gerettet hat. Darum ist der Verlust des Schönen – im hässlich gewordenen modernen Leben (vgl. SSD XII, 270) – kein bloß ideeller Mangel, der allein dem Bildungsphilister empfindlich wäre: Er

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wurde zum Index einer verlorenen sozialen Identität, da allein die Kunst Ausdruck der Totalität menschlicher Wesenskräfte ist, die unter Bedingungen der gesellschaftlichen Atomisierung, der Klassendifferenzen, der äußersten Arbeitsteilung und der konkurrierenden „Utilitäts“-Optionen „verstümmelt“ und unterdrückt worden sind (SSD III, 145, 127 f.). Damit hängt der Verlust einer wirklich homogenen „Öffentlichkeit“ zusammen, die in der Feier der exemplarischen Handlung ihre soziale Vereinigung symbolisch nachvollzöge („das wahre Drama ist nur denkbar aus dem gemeinsamen Drange aller Künste zur unmittelbarsten Mitteilung an eine gemeinsame Öffentlichkeit hervorgehend“) (l. c., 150). Um sie herzustellen, bedarf es nicht nur einer praktischen Öffentlichkeitsarbeit (149, 2. Abschn.), die revolutionären Charakter annimmt, sobald sie die Interessen des „Volkes“ – der „ärmsten und zahlreichsten Klasse“ – als die vernünftigerweise allein verallgemeinerungsfähigen enthüllt (172 ff.); es bedarf auch eines schon jetzt mitteilbaren und solidarisierenden Sujets, wie es früher der Mythos (SSD IV, 31 ff.) war. Ein wirklich allgemeiner Stoff könnte im Zustand der Abwesenheit einer gemeinsamen axiomatischen Option der Menschheit aber nur negativ wie der der Tragödie sein: Er wird die Selbstaufhebung des egoistischen einzelnen zugunsten einer idealen Gemeinschaftlichkeit darstellen, ohne freilich „die Macht der Individualität“ (SSD III, 165) – im Sinne des Nietzschen ‚Dionysischen‘ – einfach auszulöschen. Mit dieser utopischen Negation der Analyse wird er, wenn auch vorerst aus dem Munde eines einzelnen vernommen, der „Notwendigkeit“ Rechnung tragen, „das Volk selbst als den Künstler der Zukunft“ wieder in seine Rechte einzusetzen (172). Denn sobald ein Stoff als verallgemeinerungsfähig, d. h. als Ausdruck der Interessen der meisten erkannt ist, hat er eben dadurch virtuell mythische Qualitäten: Er wird zum möglichen Ausdruck einer unterdrückten Volksdichtung, die nur als solche – unter den obwaltenden Umständen „unserer Staats- und Kriminalkultur“ (173) – am Ausdruck verhindert ist. Auf diese Weise erkennt sich der Künstler der Zukunft, der von der Analyse der Entrechtung der Meisten durch die Wenigen „in den modernen Staaten“ auf seine eigentlich künstlerische Aufgabe zurückkommt, als Medium jenes unterdrückten Mythos, dessen „einziger Dichter und Künstler (wie in alten Zeiten) das Volk in Wahrheit bereits [...] war“ (172). Seine Aufgabe wird sein, das objektive Band, welches das Volk in der Stunde der äußersten Entfremdung des Menschen vom Menschen als eine tatsächliche Not- und Elendsgemeinschaft schon vereint, im „Kunstwerk der Zukunft“ zu seinem bewussten Besitz werden zu lassen. Wagner selbst macht den Vorschlag zu einer Fabel: Wieland der Schmied, der geschickte Handwerker, wird vom König, dem Eigentümer der Staatsmacht, der ihn gefangen und gelähmt hat, um die Früchte seiner Arbeit betrogen. Aber er ist’s, (und nicht der König), der – wie Hegels Knecht – die reale Macht besitzt. Der Herr, der ihn der Materie gleich stellt, überlässt ihm damit zugleich die Macht, die im Naturreich die Basis über alles vergleichsweise ideellere Leben – und in der sozialen Sphäre die Arbeit über das angemaßte Privileg der Herrschaft – hat; indem er sich dieser Macht bedient und den Herrn besiegt, befreit sich Wieland aus seinem Joch und kehrt heim zur Geliebten (175 f.).

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In Wagners Essay fällt ein Zug auf, der seinen Verfasser unmittelbar als Romantiker – und besonders als Nachfolger Schellings – erkennbar macht. Ich meine den Nachdruck, mit dem Wagner die Situation des bürgerlichen Künstlers als des Künstlers ohne Publikum beschreibt. Der Mythos ist ihm nicht das ‚Archaische‘ oder ‚Irrationale‘ (wie so oft im Sprachgebrauch eines sich aufgeklärt und über ‚wilde‘ Kulturen erhaben dünkenden Eurozentrismus), sondern, ganz im Gegenteil, die Bedingung der allgemeinen Mitteilbarkeit eines verbindlichen Stoffes. Insofern Allgemeinheit und Mitteilbarkeit formale Bedingungen des Vernünftigen und Verbindlichkeit ein materiales Kriterium kommunikativ erzielter Übereinkünfte sind, kann man an die romantische Forderung erinnern, die Neue Mythologie müsse eine solche sein, die im Dienste der Vernunft steht. Der Mythos hat die Rationalität einer Sprache, keine größere, aber auch keine geringere. Niemand [sagt Wagner in Oper und Drama] kann sich verständlich mitteilen, als an die, welche die Erscheinungen in dem gleichen Maße mit ihm sehen: dieses Maß ist aber für die Mitteilung das verdichtete Bild der Erscheinungen selbst, in welchem diese sich den Menschen erkenntlich darstellen. Dieses Maß muß daher auf einer gemeinsamen Anschauung beruhen, denn nur was dieser gemeinsamen Anschauung erkenntlich ist, läßt sich künstlerisch wiederum mitteilen: ein Mensch, dessen Anschauung nicht die gemeinsame ist, kann sich auch nicht künstlerisch kundgeben. – Nur in einem beschränkten Maße innerer Anschauung vom Wesen der Erscheinungen hat sich seit Menschengedenken bisher der künstlerische Mitteilungstrieb bis zur Fähigkeit überzeugendster Darstellung an die Sinne ausbilden können: nur der griechischen Weltanschauung konnte bis heute noch das wirkliche Kunstwerk des Dramas entblühen. Der Stoff dieses Dramas war aber der Mythos, und aus seinem Wesen können wir allein das höchste griechische Kunstwerk und seine uns berückende Form begreifen (SSD IV, 32).

Kurz: der „Mythos erfaßt die gemeinsame Dichtungskraft eines Volkes“, insofern in ihr die Welt auf eine zwar eigentümliche, aber in ihrer Individualität gleichwohl Mitteilung verbürgende Art und Weise schematisiert ist. Die Verbindlichkeit dieser Rede – ihre Bereitschaft, den Wert der Gemeinschaft als solchen voraus zu sehen – wird dadurch symbolisiert, dass es Götter sind, die in den Mythen auftreten. Sie werden irreal erst da, wo die Gemeinschaft nicht mehr existiert: in jeder Form von Klassenherrschaft, die Gruppen der Gesellschaft gegeneinander differenziert und das Kunstwerk als Gesamtrepräsentation aller – als demokratische Repräsentation – vereitelt. Gewiss hat die Religion jahrhundertelang der Legitimation von Klassenherrschaft – oder, was für Wagner nur ein anderer Ausdruck desselben Phänomens ist: als Legitimationsressource für „den Staat“ – dienen müssen. In diesem Augenblick stand sie nicht mehr „im Dienst der Vernunft“, sie wurde Ideologie, d. h., hörte – der eben gegebenen Definition gemäß – auf, Religion zu sein. Wagner ist über diesen Punkt hinreichend deutlich: Je mehr die herrschenden Geschlechter die Religion zu ihrem besonderen Eigentum und zum Mittel der Herrschaft machten, verlor das Volk im allgemeinen den Sinn für Religion, die ihm unverständlich ward, ja, als den Herrschenden günstig, ihm feindlich erscheinen musste (SSD XII, 269).

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Gemessen an der aristokratischen Semantik muss das Kunstwerk der Zukunft notwendig areligiös sein; denn „welches Interesse hatte der Helot, das attische Volk usw. endlich an der Religion? – So ging auch endlich die religiöse Bedeutung jener ländlichen Feste verloren. Der Gott der armen Leute: Pan. Volkshumor. Die fantastischen Masken – ursprünglich Naturgötter darstellend – stellten endlich das Volk selbst dar, wie die Heroengötter endlich zu Heroen = Menschen selbst geworden waren“ (l. c.). Wie bei Pierre Leroux ist auch bei Wagner der Niedergang der Gesellschaft in Begriffen des Niedergangs der Religion gespiegelt. Sie hört auf, vernünftig, d. h. allgemein zu sein, wo es einen „Unterschied zwischen der Religion des Adels und des Volks“ gibt (l. c., 268). Not tat damals die „vollständige Vernichtung des Adels, die gänzliche Reaktion des Volkskunstwerks gegen das Adelskunstwerk“ (l. c.), und, in bürgerlicher Zeit, die Rettung von Kunst überhaupt als der Stimme 5 der „Religion der Notleidenden“ (l. c., 269). Die Not der meisten wird nicht beseitigt durch Abschaffung der Religion, sondern durch die Rettung der ins Irreale der Religion ausgebürgerten Erfahrung, dass Glücksforderungen nur in universeller Wechselseitigkeit verbindlich werden können: Kein Einzelner kann glücklich sein, ehe wir es nicht alle sind, weil kein Einzelner frei sein kann, ehe nicht alle frei sind (l. c., 275).

Das Kunstwerk, das die Stimme der Allgemeinheit spricht, könnte darum die Religion ersetzen; aber es existiert nicht, es ist ‚Kunstwerk der Zukunft‘ in dem romantischen Sinne, dass seine Götter nur kommende (d. h. entbehrte) Götter sein können. Denn, noch einmal, der Künstler kann auf Götter sich nicht berufen, wo er vom einzelnen, isolierten und nicht von den Menschen handelt: Die Menschen aber – das verlorene Publikum – sind als sittliche Totalität erst wieder zu erobern: Die griechische Tragödie war ein religiöser Akt. [...] Im griechischen Mythos war das Band noch nicht zerrissen, mit dem der Mensch an der (in der) Natur haftete. [...] D[...]er von aller Religion losgetrennte Mensch stieg allerdings vom Kothurn herunter, verlor somit aber auch seinen kommunistischen Zusammenhang mit der religiös verbundenen Allgemeinheit – er entwickelte sich nackt und unverhüllt – aber als Egoist [...] [Der Kunst im Zeitalter der verlorenen Sozialbeziehungen] war der Mensch Stoff, dem Kunstwerk der Zukunft werden die Menschen Stoff sein. (Sehr wichtig). (L. c., 265)

Man könnte in Wagners und in der frühsozialistischen Vision einer wieder allgemein gewordenen, religiöse Gemeinschaft restaurierenden Kunstpraxis nostalgische Regressionen des 19. Jahrhunderts erblicken. Doch ließe sich an einem einzigen, aber bedeutenden Beispiel zeigen, dass das ein unzutreffendes Vorurteil ist und dass auch heute eine Literaturtheorie, die die kommunikative Funktion der 05 Die ideologisch so oft missbrauchte (nur von wirklichen Textkennern wie E. Bloch zustimmend und vollständig zitierte) Definition des Volkes hat eine eindeutig sozialistische Tendenz: „Wer ist denn das Volk? Alle diejenigen, welche Not empfinden, und ihre eigene Not als die gemeinsame Not erkennen und sich in ihr inbegriffen fühlen“ (SSD XII, 259; vgl. II, 174 f.).

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Institution Kunst verteidigt, solchen romantischen Ideen begegnet. Dieses Beispiel ist Sartre. Mein Text wird aber – verabredungsgemäß – eine andere Richtung ansteuern. Ich will die Wirkungsgeschichte des Wagner-Nietzsche’schen-Tragödie-Kults bis hinein in die kulturpolitischen Debatten des Nationalsozialismus wenigstens ausschnitthaft dokumentieren. Wir begegnen da allerdings „Mythen des 20. Jahrhunderts“, und insofern einem Thema, das in einer Wirkungsgeschichte der Idee einer „Neuen Mythologie“ nicht umgangen werden darf. Ob und inwiefern Wagner und Nietzsche – und die Romantik selbst – dadurch mit kompromittiert sind, wird man prüfen müssen.

III Der Ausflug in die Texte Nietzsches und Wagners diente einer präzisen Absicht: Ich wollte sie als markante Vorboten einer Bewegung darstellen, die sich erst im 20. Jahrhundert voll entfalten wird. Man sollte glauben, dass neu-mythische Sehnsüchte Schritt haltend mit der technisch-wissenschaftlichen Revolution und dem von ihr verkörperten Rationalitätsstandard zum Verschwinden verurteilt seien. Das Gegenteil war der Fall: Je anachronistischer, desto aussichtsreicher waren die Versuche, das Rad des Fortschritts zurück zu drehen. In diesem Sinne hat Robert Musil scharfsichtig beobachtet, manchen Zeitgenossen, die sich aufgeklärt dünken, gelte Der Mythus des XX. Jahrhunderts nicht für seriös, weil er hinter dem Stand von Intellektualität der Gegenwart zurück bleibe: Aber gerade das Anachronistische sei heute das Aktuelle (Musil 1978 7, 845). Dies Phänomen hat Ernst Bloch als „Ungleichzeitigkeit“ charakterisiert und darunter die Tatsache verstanden, dass die Denkart gewisser Bevölkerungsschichten sich nicht Schritt haltend mit der Evolution der wirtschaftlichen Produktivkräfte entwickelt habe: Dadurch gewinnen, in Form nostalgisch rückwärts orientierter Sehnsüchte, Idole und Lebensformen Vorbildcharakter, die vom Stand der herrschenden Rationalität eigentlich längst überholt sein müssten: wie z. B. Boden, Provinz, Erde, Haus, Ehre, Heimat, Treue, Glaube – selbst Rasse (denn der Kapitalismus fragt nicht nach der „Physiologie“, sondern nach Absatzmärkten und Tauschwerten, wo immer sie sich antreffen lassen), – lauter Begriffe, die die Realität einer hoch industrialisierten, im Weltmaßstab expandierenden Ökonomie und einer durchrationalisierten Bürokratie und Verwaltung nicht im geringsten zu interpretieren vermögen, gerade darum aber in einen reaktionären Widerspruch zu den Fortschrittstendenzen der Epoche geraten. Das ideenlose Funktionieren der (Staats-)Maschine – vor der Musil an derselben Stelle spöttisch anmerkt, sie allein scheine dem aufgeklärten Zeitgenossen einer Mythisierung für würdig – verschafft aber gerade den ungleichzeitigen Sehnsüchten der Mittelschichten, die weder mit dem Monopolkapitalismus noch mit dem Proletariat sich identifizieren können, einen Erlebnishintergrund, in dem fortschrittsfeindliche Phantasien aufblühen.

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Sie richten sich auf die Wiederherstellung von Verbindlichkeit, z. B. von Glauben, für den – neben vielen Ersatzbegriffen – auch der des Mythus einsteht. Nun scheint der Glaube, wie er beispielhaft in einem Buch von Hanns Johst ausgestellt erscheint: Ich glaube! (Johst 1928), auf den ersten Blick als einfacher Rückfall in vergangene Zeiten. „Mit Recht, mit Unrecht?“ fragt Musil und fährt fort: „Kein Mensch hat sich die Mühe genommen, eine Frage daraus zu machen“ (Musil 1978 7, 845). Das möchte ich tun, indem ich die Wirkungsgeschichte einiger der von Wagner und Nietzsche sich herschreibenden Versuche betrachte, unter Bedingungen der Modernität Gesellschaftsformen wiederherzustellen, wie die es waren, in denen die Tragödie als Ineins von Kulthandlung, Kunstwerk und Staatsakt entstanden sein soll. Ihr gemeinsamer Nenner ist eine allgemeine Zivilisationskritik und Feindschaft gegen das bestehende Bildungswesen. Die Aufklärung „westlicher Provenienz“ wird kritisiert und für die Demokratisierung/Verflachung der deutschen Tradition verantwortlich gemacht. Ein Musterbeispiel dafür sind Nietzsches Baseler Vorträge (von 1872, also aus der Zeit der Tragödie-Schrift) Über die Zukunft unserer Bildungsanstalten. Hier tritt ein ‚Diskurs‘ ins Leben, der – wie jeder Diskurs – die Weltansicht nicht etwa Nietzsches, sondern einer ganzen Sprachgemeinschaft zum Ausdruck bringt: die der vom Kapitalismus ebenso sehr wie vom Sozialismus bedroht sich fühlenden gebildeten Mittelschichten: Nach unten verteidigen sie ihr Bildungsprivileg, nach oben – gegen die Großbourgeoisie – die ‚gewachsene Tradition‘, den ‚Heimatboden‘, das ‚Herkommen‘, die ‚humanistische Bildung‘ und die vom Weltmarkt zersetzte ‚Religion‘: also alle Mächte, die der Expansionstrieb des Kapitals und die gleichmacherische Gewalt des universell gewordenen Tauschs zerstören. Unfähig, die Klassenspaltung zu artikulieren, sieht diese Schicht sie als Naturereignis: z. B. sozialdarwinistisch als Kampf der Stärkeren gegen die sich zusammenrottende Herde der „gar zu vielen“ und „Schlechtweggekommenen“. Man sieht zugleich bis auf den Ursprung jener an sich schwer fassbaren präfaschistischen Identifikation des großen Kapitals und des Proletariats (im Begriffe des Weltjudentums): aus kleinbürgerlicher Perspektive macht dies aber in der Tat einen (wenn auch einen phantasmatischen) Sinn: Denn das Proletariat und das große Kapital sind zueinander gleichzeitig: Es sind die beiden dialektischen Seiten oder Momente des Klassenkonflikts. Das Kleinbürgertum dagegen, die zu kurz Gekommenen und vom Ressentiment der Ungleichzeitigkeit Angefressenen fühlen sich von allen beiden Blöcken her bedroht – und zwar in gleicher Hinsicht: Das Kapital produziert die Proletarier. Die nach dem (z. B. Bildungs-) Privileg der Mittelschichten trachten. Beide Klassen zersetzen im Zangengriff das Einmaligkeits-Bewusstsein des kleinbürgerlichen Individuums, die Transzendenz, seinen Glauben usw. Das wird noch deutlicher als bei Nietzsche bei einem anderen und womöglich noch viel wirkungsmächtigeren Vorläufer des Nazismus, in den Deutschen Schriften, einer Sammlung theologisch-politischer Traktate des Göttinger Universitätsprofessors und Orientalisten Paul de Lagarde, zuerst erschienen in zwei Teilen

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1878 und 1881, im Dritten Reich als 1. Band von Schriften für das deutsche Volk neu gedruckt (Lagarde 1934). Lagardes Stil liefert ein Muster für die Rhetorik des Ressentiments und der sozialen Deklassierungs-Ängste des Bildungsbürgers, der spürt, dass weder das herrschende Kapital noch die Arbeiterklasse den Wert kleinbürgerlicher Bildungshamsterei zu würdigen weiß – dass sie beide an der Auflösung dieses alteuropäischen Relikts um die Wette arbeiten. Bei Lagarde zuerst findet sich ein antisemitischer und zugleich antiproletarischer AntiKapitalismus – ein Unbegriff, der die Existenz einer kollektiven Verdrängung ins Licht stellt. Da das Bürgertum als Klasse zu verteidigen zuallererst heißen würde, die Existenz unterschiedener Klassen zuzugeben (und damit der sozialistischen Theorie beizupflichten), muss Lagarde das Problem der Mittelklasse zum nationalen und biologischen Problem verschieben. So artikulieren die Deutschen Schriften in vehementer Aggressivität die Sorge dieses Lehrers und Professors angesichts des geistigen, sittlichen und (besonders) religiösen Niedergangs der Deutschen, die, wie er meint, in besinnungsloser Profitgier alle natürliche Ursprünglichkeit verlieren und denen er den skrupellosen Verrat der Reichsgründungsideale vorwirft. Die nationale Erneuerung des Volkslebens – und das macht Lagardes Deutsche Schriften bedeutsam für unsere Untersuchung – soll sich in Analogie zur Wiederaufrichtung einer Religion und im Widerstand zu den ‚Kräften der Zersplitterung, Auflösung und Zersetzung‘ vollziehen. Die existierende Kirche ist freilich kein Vorbild: In ihr wie im Staat herrsche das Dogma, das gewachsene Traditionen und die natürliche Rangordnung zwischen den Menschen auflöse, so wie im Parlamentarismus und Bürokratismus der natürliche gesellschaftliche Organismus zersetzt werde: An dessen Stelle seien getreten „Berechtigungswesen, Interessenegoismus und kapitalistische Erwerbsgier“: ein Maschinenwesen. Dem stellt Lagarde Die Religion der Zukunft entgegen (l. c., 251 ff.). Ihr Inhalt ist die Gründung und Errichtung einer „deutschen Nationalkirche“ – eine Idee, an der sich besonders gut ablesen lässt, wie der Nationbegriff zum Ersatz für die unter den Hieben der Rationalisierung und Kapitalisierung der Lebenswelt zerstückelte alte Religion werden konnte. Lagarde argumentiert so: „Religion [ist] nur in der Gemeinschaft denkbar“ (252); darum gibt es keine Naturreligion. Ihre Entfaltung oder ihr Niedergang spielen sich demnach in der Evolution einer Gesellschaft ab, Theologie ist nichts „als das Wissen um die Geschichte der Religion“ (256). Von Jesus übernational konzipiert, wird das historische Christentum bald nationalisiert, es wird Sache und Tat „des römischen Kaiserreiches und der in ihm vereinten Nationen“ (267), mit denen es lebte und unterging. Ein Zurück gibt es nicht; nie regrediert Geschichte auf einen gewesenen Zustand. Eine „neue Religion“ will gebaut sein (268). Die alte zerbrach – angeblich – an der nationalen Art des Germanentums. Nun muss das Germanentum sich als „eine religionsbildende Bewegung in unserem heutigen Deutschland“ neu konstituieren (270), d. h. die zu gründende neue Religion mit den Wesenskräften des germanischen Menschen ausstatten, wie das bei jeder historischen Religionsbildung anderer Völker entsprechend der Fall war. Für Lagarde heißt das bündig – und nicht

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unähnlich gilt das für Nietzsche –: Das Christentum als tradierte und noch nicht ganz zersetzte religiöse Macht vom „jüdische[n] Gift“ zu befreien (270). Dies wird nicht sonderlich konkret gemacht. Die Grundidee ist aber deutlich: retten, was von der alten Kirche zu retten ist, indem man den Rest an intersubjektiver Verbindlichkeit hinüberschmuggelt „in unser neues Reich“. „Und als Grundprinzip der neuen Gemeinschaft wird der Satz zu gelten haben, dass Religion das Bewusstsein von der plan- und zielmäßigen Erziehung der einzelnen Menschen, der Völker und des menschlichen Geschlechts ist“ (273). Aber mit diesen noch sehr weltbürgerlich klingenden Idealen ist noch nichts getan; man muss mit ihnen „praktisch ernst [...] machen“ (l. c.); d. h., dass alle Sakramente und Institutionen der früheren Kirche in weltlichen und gesellschaftlichen Realitäten ihr Äquivalent bekommen müssen. Zuvörderst ist im deutschen Volk eine „Zucht und Treue haltende Gemeinde“ zu gründen (274). Finden sich die Menschen für diesen Versuch in Deutschland nicht, und nicht bald, so können wir nur auf die Zukunft unseres Vaterlandes verzichten: Deutschland wird dann noch eine Weile existieren, zu leben wird es bald genug aufhören. Ich wende mich zu der germanischen Naturanlage, welche in der Kirche der Zukunft sich geltend machen muß (274).

Es folgt eine Philippika gegen den Liberalismus und die ‚modernen Ideen‘, die die Deutschnationalität als einen vom Geist des Fortschritts überwundenen Gedanken erscheinen lassen. Zu dessen Beschwörung zitiert Lagarde Fichte, die arme Madame de Staël und den Deutschmann Ernst Moritz Arndt. Aus alledem wird ein Popanz echtdeutscher Art zusammen gebastelt, der dann als die jeder Religion unabdingbare Wertsetzung firmieren muss – eine Figur, die alle nationalen Religionen – und ihre Zahl ist Legion – charakterisieren wird. Deutschland [schließt Lagarde] würde gegründet werden, indem wir gegen die jetzt gültigen, aus dem vorhergehenden deutlich genug zu erkennenden Laster ersichtlich undeutsch beeinflusster Zeit uns verneinend verhielten, indem wir zur Abwehr und Bekämpfung dieser Laster einen offenen Bund schlössen, welcher der äußerlichen Kennzeichen und Symbole so wenige entbehren dürfte wie der strengsten Zucht, indem weiter jedes einzelne Glied dieses Bundes den treuherzigsten Haß gegen seine eigenen Fehler und eine bescheidene, scheue, aber warme Liebe für alles hegte, was ihm – ich sage nicht gut, sondern etwas anderes, wie mich deucht, völlig Deutsches: was ihm echt zu sein schiene und sich als echt erprobte. Eine Aufgabe vorn Jahrhunderten! Aber nur auf dem Wege zum ewigen Leben liegt ein Vaterland, so wahr auch im ewigen Leben, wie jeder anderen Nation Genossen als solche, so auch der Deutsche als Deutscher noch wird zu erkennen sein, und so wahr ihn nicht bloß als Ich und als Menschen, sondern auch als Deutschen Gott und alle Seligen lieben (280).

Finster – aber „echt“! Und nicht einmal Weltfremdheit oder Dummheit kann man dieser schwammigen Prognose nachsagen: Sie erwies sich als realistischere Vorausschau denn viele andere Prophetien und Diagnosen der Epoche. Es gibt übrigens Dutzende und Aberdutzende von zeitgenössischen Traktaten, die in diese gleiche Richtung wiesen. Kein Dümmerer und Geringerer als Christian Morgenstern schrieb in sein Tagebuch:

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Zu Niblum will ich mich rasten aus Von aller Gegenwart. Und schreibt mir dort auf mein steinern Haus Nur den Namen und „Lest Lagarde“.

Kurz: Eine Bibliotheken füllende Literatur hat sich hier angeschlossen. Ich will sie in diesem Fragezusammenhang nur insoweit zur Kenntnis nehmen, als sie von Dichtern oder Dichtungstheoretikern herrührt. Das ist z. B. der Fall in dem schon genannten Buch Ich glaube! Bekenntnisse von Hanns Johst. Hanns Johst begann als expressionistischer Dramatiker. Zwei seiner Dramen: Der Einsame: Ein Menschenuntergang und Schlageter hatten eine Zeitlang gewisse Chancen auf der Bühne. Johst ist ein eindrucksvolles Beispiel für die Durchlässigkeit der Avantgarde-Dichtung zum Rechtskonservativismus völkischer Prägung, für die auch Namen wie Gottfried Benn und Ernst Jünger einstehen. Johst war später eine Zeitlang Präsident der Reichsschrifttumskammer; aber die Schrift Ich glaube! ist noch nicht aus dieser Zeit. Ich will sie, ihrer wirkungsgeschichtlichen Bedeutung und ihres genauen Anschlusses an Nietzsche und Wagner wegen, kurz vorstellen. Es handelt sich um eine Sammlung von Reden und Aufsätzen; geschrieben „vom kulturpolitischen und menschlichen Standpunkt“ (8): „Es [sc.: das Buch] zeigt eine Person, die von der Betrachtung lebt, die bei der Hingabe an die Zeit und durch Gegensätzlichkeit zum Zeitgeist vom menschheitlich orientierten Europäer zum bewußten Deutschen wurde!“ (8). Bevor man zu lesen beginnt, muss man sich mit der in der Einleitung ausgestellten ‚Haltung‘ des Verfassers vertraut machen, der es als „Dichter“ mit dem „Geist der Demut und der Verklärung und nicht mit dem Hochmut der Aufklärung“ hält (7). Das sind Leitmotive der Schrift: Verklären statt aufklären – aufbauen statt zergliedern – erhalten statt zersetzen – sich abwenden vom demokratisch-analytischen Geist der europäischen „Zivilisation“ und sich bekennen „zu dem absolut aristokratischen Prinzip der [Kultur-] Kunst“ (l. c.). Johst sieht es am besten aufgehoben in der religiösen Kunst par excellence, im Drama, das er die „Kultstätte eines heroischen „Gefühls“ nennt (16 f.). Da wir auf diese Charakterisierung durch Wagner und Nietzsche vorbereitet sind, will ich mich auf das beschränken, was Hanns Johst in den Texten „Von Sinn und Sendung des Theaters“ und „Vom neuen Drama“ vorträgt. Johst unterscheidet – denn er versteht ja seine Reflexionen übers Drama als Zeit- und als Zivilisationskritik – das Drama vom Theater. „In diesem Dualismus der Erscheinungsform“, sagt er, „liegt das Krankheitsbild des gegenwärtigen Theaterlebens gefangen. Wir kennen heutzutage nur noch Theater, und kaum die geringste Beziehung lebt mehr von Zuschauerraum und Drama“ (22). Dazu teilt er eine persönliche Erfahrung mit (bei der es, ganz nebenbei, kurios ist zu sehen, wie sehr sich der ‚Aristokrat‘ Johst damals noch vom Massenphänomen des italienischen Faschismus absetzt):

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Als ich voriges Frühjahr die lateinischen Wiederbelebungsversuche an der Dramaturgie des Äschylos mit ansah, wurde es mir klar, was der Gegenwart fehlt, um ein Drama zu erzeugen und zu tragen: Die Kultgemeinschaft. Ich sah die Sieben vor Theben, und was gewannen die zwanzigtausend Zuschauer für sich aus dieser tragischen Melodie der Antike? Ein Evviva für Mussolini, der neben mir Äschylos gesucht hatte. Die zivilisatorische, motorische Kraft [man beachte die Maschinen-Metaphorik] überwog die geheimnisvolle, innerliche Spannung, die sich um den Mythos begab, aus dessen kultischer Zelle das Blut dieser Verse floß. Man übersetzte dieses dunkle Spiel ahndungsvoller Frömmigkeit und göttlicher Lehre, ohne weiteres, robust und lärmvoll in die Unmittelbarkeit von politischen Schlagworten und faschistenfreundlichen Situationen. Man klatscht der Tatkraft des Helden Beifall, statt in die Tiefe seines Schicksals zu folgen. Man riß jubelnd Wirkung an sich, anstatt das Wirken der Gottheit schaudernd zu erfühlen. Wir sind dem Theater verfallen und dem Theaterteufel und haben den Sinn verloren für die erste und letzte Sitzung des Theaters, die eine Botschaft des Übersinnlichen bedeutet. Wir wissen es, dass die Antike den Gehalt eines Dramas liturgisch aus dem Gehalt des religiösen Lebens und der Nation schöpfte (l. c., 22 f.).

Das Theater war also einmal unmittelbar Gottesdienst, wie es auch die Mysterienspiele des Mittelalters noch waren, die sich szenisch aus der Messe ausgegliedert und allmählich verselbständigt haben. Aber an dieser Ausbürgerung aus dem Kult und an dieser Verselbständigung erkrankte [...] das Theater im Ablauf seiner Entwicklung [...]. Es wurde bewußtes Theater, das Theater trat in das Bewußtsein des Volkslebens und verlor im gleichen Augenblick seine Lebens-Weise und Wunder wirkende Anwartschaft darauf, Kultstätte, d. h. Handlungsplatz für Vorgänge und Darstellung des Überbewussten, des Jenseitigen, des göttlichen Daseins zu bleiben. Das Theater verlor Gott und diente dem Volke! Das/Leben des Volkes, seine Gebräuche, Sitten, Situationen, das Leben der Welt als Wirklichkeit wurde beweint oder belacht. Das Theater war eine selbständige Funktion im Abspiel der Menschheitsgeschichte geworden (l. c., 23 f.).

Verweilen wir einen Augenblick bei dem Ausdruck „selbständige Funktion im Abspiel der Menschheitsgeschichte“. ‚Selbstständigkeit‘ will hier sagen: Ausgegliedertsein aus dem Ineins von Gottesdienst und Kunstdarbietung. Diese These variiert, was Wagner über den mit Euripides aufkommenden Egoismus des Einzel-Menschen sagt. Sobald ihn die Kunst zum Objekt ihrer Darstellung macht, löst sie ihn heraus aus dem ursprünglichen Verein der menschlichen Wesenskräfte: D. h., die Kunst hört auf, die ursprüngliche Repräsentation der unzerstükkelten Menschengemeinschaft zu sein: Abbild der menschlichen Integrität. Das bedeutet, dass die Vereinzelung der Menschen gegeneinander und die Indirektheit ihrer – z. B. durch Tauschhandlungen vermittelten und durch ökonomische Konkurrenz sogar unterbrochenen – Beziehungen kein natürlicher Zustand sind, sondern das Resultat einer verhängnisvollen, dem Fortschritt zum Tribut gebrachten Auflösung. Für die Direktheit der Beziehungen und für die Gemeinschaftlichkeit ihres Mitseins steht unmittelbar die Religion ein. Schon für Wagner ist sie überhaupt nichts anderes (ich zitiere ihn) – als „das besonders einigende

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Band“ unter den Menschen (SSD III, 13). Oder, wie Wagner in einem Brief an Ferdinand Heine (vom 4. Dezember 1949) schreibt: „Zu allen Zeiten ist den Menschen Gott das gewesen, was sie gemeinsam als das höchste erkannten, das stärkste gemeinsame Gefühl, die mächtigste gemeinsame Anschauung“ (Wagner Briefe III, 182). Wird Religion so definiert (es ist nicht die Definition des Pfarrers in der Kirche), dann allerdings ist sie ein Kennzeichen jeder Gesellschaft, in der Solidarität ein anerkannter Wert ist. Um sich davor zu schützen, das ideologische Abrutschen in Johsts Text an der falschen Stelle zu vermuten, ist es nützlich, eine Definition des klassischen französischen Soziologen Emile Durkheim in Erinnerung zu bringen. In seinem Buch über Die elementaren Formen des religiösen Lebens (Durkheim 1981, 75) heißt es: Wir kommen also zu folgender Definition: Eine Religion ist ein solidarisches System von Überzeugungen und Praktiken, die sich auf heilige, d. h. abgesonderte und verbotene Dinge, Überzeugungen und Praktiken beziehen, die in einer und derselben moralischen Gemeinschaft, die man Kirche nennt, alle vereinigen, die ihr angehören. Das zweite Element, das in unserer Definition auftaucht, ist nicht weniger wichtig als das erste; denn wenn man zeigt, dass die Idee der Religion von der Idee der Kirche nicht zu trennen ist, dann kann man ahnen, dass die Religion eine im wesentlichen kollektive Angelegenheit ist.

Lässt man seine Phantasie einmal im Horizont dieser Definition spielen, so erscheint der Religionsverlust allerdings als ein untrüglicher Gradmesser dessen, was die Frühsozialisten die „Entfremdung des Menschen vom Menschen“ nannten. Stellvertretend mögen das zwei Belege aus Texten des französischen Frühsozialismus bezeugen. Das erste ist von Henri de Saint-Simon selbst, und zwar aus seiner sozialistischen Utopie Le Nouveau Christianisme (Saint-Simon 1969, 146 f.) und lautet: Die eigentliche Lehre des Christentums, d. h. die am meisten verallgemeinbare, die aus dem Grundsatz der göttlichen Moral abgeleitet werden kann, wird erst noch zu schaffen sein. [...] Sie lautet: Alle Menschen sollen zueinander sein und gegeneinander handeln wie Brüder und Schwestern. Und sie wird alle Institutionen gleicherweise dazu anhalten, das Wohl der ärmsten Gesellschaftsklasse zu mehren.

Das andere Zitat ist von Pierre Leroux und lautet: Trennt also nicht die Religion von der Gesellschaft. Das wäre so, als ob ihr den Kopf eines Menschen von seinem Körper trennen und, während ihr mir diesen Leichnam zeigtet, mir zu sagen wagen würdet: Das ist ein Mensch. Die Gesellschaft ohne die Religion ist eine reine Abstraktion, die ihr euch da schafft; es ist ein absurdes Hirngespinst, das niemals in der Wirklichkeit bestanden hat. Das menschliche Denken ist unteilbar, es ist zugleich gesellschaftlich und religiös, d. h., es hat zwei Aspekte, die sich entsprechen und sich gegenseitig hervorbringen. Dieser Erde entspricht dieser Himmel, und umgekehrt: aus dem gegebenen Himmel ergibt sich diese Erde. [...] Ihr fragt, wo denn heute die Religion ist, und ich frage euch, wo heute die Gesellschaft ist. Sehr ihr denn nicht, dass die gesellschaftliche Ordnung ebenso zerstört ist wie die religiöse Ordnung? Der Verfall der einen folgt / dem Verfall der anderen. Noch einmal, das Gebäude des Menschen ist zugleich Himmel und Erde, die gleichzeitig entstehen, bestehen und zusammen stürzen (Kool/Krause 1972, 283 f.).

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Vor dem Hintergrund dieser Frühsozialisten-Zitate verliert Johsts Aufforderung, „die Beziehungen der Menschen untereinander wieder in Beziehung zu setzen zu dem geheimnisvollen Abspiel der Ideen“ (Johst 1928, 25), sofort den Nimbus von Merkwürdigkeit und entspricht – noch ganz diesseits der politischen Semantik, die „Links“ und „Rechts“ unterscheidet – weit gefächerten politischen Sehnsüchten des 19. und 20. Jahrhunderts, die bis in unsere Tage reichen. Warum sie eines Tages in die politische Rechte abgeglitten sind, das ist eine Frage, deren Beantwortung zusammenfallen müsste mit einer Aufklärung der Versäumnisse der politischen Linken. So jedenfalls hat Ernst Bloch die Dinge gesehen: In einem Gespräch mit Rainer Traub und Harald Wiesner über Ungleichzeitigkeit, Provinz und Propaganda meinte er: Nicht in dem, was sie getan habe, um den Faschismus zu verhindern, verdiene die politische Linke in Deutschland Kritik; man müsse sie kritisieren für das, was sie nicht getan hat. Nicht getan aber hat sie – auf ihrem überstürzt schnellen Gang „von der Utopie zur Wissenschaft“ – dies: den Wunsch nach Gemeinschaft als ein Ziel gerade auch ihres politischen Programms so sichtbar zu machen, dass er dort und nur dort glaubwürdig vertreten schien. Die Attraktivität des Faschismus für die Massen ist nicht nur ein Produkt der Irreleitung und der Manipulation; er zehrt vielmehr von einem altsozialistischen, ins nationale und rassistische Fahrwasser abgedrängten „Erbe“, in dem „Gemeinschaft“ ein Synonym für Solidarität und also ein humanistischer, d h. gerade kein nationalsozialistischer Wert gewesen ist, – ein Wert freilich, den die Linke entweder aufgegeben oder doch nicht entschieden oder glaubwürdig genug besetzt hat (Traub/Wiesner 1975, 200 f.). Die Linke hat auch die emanzipatorischen Elemente der heute so genannten ‚Rationalitätskritik‘ übersehen und darum, verschworen auf die im tiefsten Grunde bürgerliche Identifikation von Fortschritt und wissenschaftlich-technologischer Naturbeherrschung, zu spät den Anschluss an das gewonnen, was heute ‚alternative‘ oder ‚grüne‘ Bewegung heißt: Die könnte sich – auf der Suche nach Vorläufern – in der Tat kaum auf die technologiefreundliche Tradition der Sozialdemokratie berufen, deren Konzeption den Kapitalismus beerben, zunächst also einmal sich austoben und gescholtenen (und vom „wissenschaftlichen Sozialismus“ polemisch abgegrenzten) Ansichten des „romantischen Sozialismus“ im Frankreich der 30er und 40er Jahre. Wir Nachgeborenen haben die undankbare Aufgabe, das Wahre im Falschen (mit einem anderen Wort von Ernst Bloch) auszuspähen und es auf die Seite hinüber zu ziehen, die André Gide „die schlechte [weil gefährdete, der Verf.] Seite der Barrikade“ genannt hat. Bestreiten wir also Hanns Johsts Träume von der Wiedergeburt der Tragödie und der solidarischen Menschengemeinschaft nicht im Vorhinein ihre utopische Motivation, sondern achten wir desto strenger auf den Punkt, an dem Utopie in Ideologie umkippt! Schon an Johsts Verachtung der politischen Anbindung an und Indienstnahme des Dramas für den Faschismus ließ sich absehen, dass es dem Autor von Ich glaube! nicht wirklich um eine politisch-parteimäßige Ideologisierung des Dramas zu tun war. Auch wenn er – wie übrigens Nietzsche – „ein deutsches, volksmäßi-

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ges Drama“ finden oder prägen will (Johst 1928, 29), ist damit noch nicht notwendig eine nationalsozialistisch-chauvinistische Option verbunden, – denn so wenig als wir dem Aischylos oder Sophokles vorwerfen würden, dass ihnen nationalistischer Opferqualm die Augen benebelte, so wenig werden wir leugnen, dass ihr Schöpfen aus dem Quell des Mythos griechisch-ethnozentrisch gewesen sei und den Zuschauern zur Identifikation mit den Grundwerten ihrer Polis verholfen habe. – Es ist auch soziologisch nachvollziehbar, dass diese unmittelbar politisierende – den Zuschauer als Staatsbürger und als Gemeinde-Mitglied ansprechende – Funktion dem Kunst-Drama verloren gegangen sei. Johst zeigt es nicht unzutreffend am antikisierenden Theater des Klassizismus, an Goethe und Schiller (die er, wohl bemerkt, schätzt und verehrt [27 f.]): Dies, sagt er, sei jedenfalls Bildungs- und Ideentheater gewesen; aber die klassizistische Bildung und ihre Ideale seien von ihrer Natur her gemeinschaftsfeindlich, weil nur Besitz weniger. In ihrer schroffen „Antithetik“ zur Aufklärung hätten unsere Klassiker die Volksbildungsidee (die an eine der allgemeinen Kommunikationssprache angepasste Redeform gebunden sei) mit verraten: „Die Bildung war besonders Goethe wesentlicherer Besitz als die Gemeinschaft mit seinem Volke“ (28). „Woher [aber] nun Hoffnung schöpfen, daß es anders werde?“ (29). Johst beantwortet die Frage mit einem „Ausblick auf die kommende Sendung einer Synthese von Drama und Theater“, also von Volksschauspiel und Guckkastenbühne. Dazu ist allem voran nötig die Wiedergeburt „einer Einheit von Kult und Nation [wie es die war, aus der „das Drama der Antike wuchs“]. Deutschland auf seinen ernsten Schicksalwegen steht vor der Entscheidung, Nation zu werden oder zugrunde zu gehen“ (29). – Was soll dieser Satz bedeuten? Geschrieben im Jahr 1928, scheint er gar keinen Sinn zu machen; denn Deutschland ist doch klarerweise im Sinne der Definition Nation, und zwar zum ersten Mal in seiner Geschichte eine (zwar von den Alliierten erzwungene) Republik, d. h. ein demokratisch konstituiertes Volk. Gerade darin erblickt Johst den Mangel. In der unscharfen Sprache, die den Gegnern der Demokratie eigen war und ist und sie zu kulturphilosophischen Umschreibungen zwingt, vergleicht er – in einer uns wohl bekannten Tradition – die deutsche Demokratie (ohne sie so zu nennen) einer Maschine („Mechanik“, 30). Sie hat sich „als eine zivilisatorische Funktion in das Geistesleben Europas ein[ge]pa[ßt]“ (l. c.). Die demokratisch-liberalistische Gesellschaft ist aber – auch dies kennen wir – ein ideenloser Funktionalismus: die Tauschwerte des freien Marktes ersetzen nicht, sondern steigern nur das Bedürfnis nach einem höchsten Wert, der als solcher schlechthin verbindlich und nicht durch Angebot und Nachfrage bestimmbar ist. Diese Deutung geht nicht ganz nur auf meine Rechnung. An anderen Stellen der Aufsatz- und Redensammlung Ich glaube! ist Hanns Johst über diesen Punkt hinreichend deutlich. Er vergleicht den Verfall des Theaters – z. B. das Experimentell-Werden, die naturalistische Psychologie, das Zergliedern und die Bühnen-Technik (33) – mit den Errungenschaften des technisch-naturwissenschaftlichen Denkens, das er wiederum in Zusammenhang bringt mit dem „zerset-

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zenden“ Liberalismus der Wirtschaftsform, die die Menschen spaltet. Ich zitiere: Die Naturwissenschaften, die heute Atome zertrümmern, die uns heute von den größten Energien in den kleinsten Einheiten lehren, diese Naturphänomene zwingen uns, in der Natur mehr zu sehen als verschwommene, vage Wortspiele, als phantastische Experimente. Es gilt nicht mehr, der Masse zu imponieren mit grenzenlosen, alle Unterschiede überspielenden Gesichtspunkten, es gilt diese Masse/ zum Gefühl vom eigenen Wesen zu führen, ohne wiederum der romantischen Gefahr des Individualismus zu verfallen. Und wir brauchen zunächst nur einmal für die Masse die erste Bindung, die erste einengende Bedeutung aufzugreifen und wir stehen vor dem Begriff des Volkes. Wie anders klingt, wie anders ist der Wert, der sich ergibt: Masse und Volk [...] Die Masse ist der Rohstoff an Menschheit, so wie er dem Mechanismus und Maschinismus im Dienste am Ganzen entströmt, von der Hand eines geistigen Inge6 nieurs befreit. Die Masse ist ohne Bindung und Form nur roh glühendes Material. Sie vernichtet, tötet alles, was ihr entgegentritt. Sie hat nichts als sie selbst. Sie ist von der Schau irgendeiner Idealität her das Entsetzlichste, Unmenschlichste, was sich denken läßt. Denn der Mensch als Einzelwesen ist unvollkommen ohne die Metaphysik seines persönlichen Gewissens: die Masse aber als mechanische Summation des Menschen ist ein irrationelles Produkt eben dieses unvollkommenen Einzelwesens und ist als solches aller metaphysischen Bedeutung verloren gegangen (45 f.).

Die Schwammigkeit der Terminologie und die Ungenauigkeit der Denkart hindern uns nicht an einigen Beobachtungen. Im Klartext sagt Johst: Die Naturwissenschaften haben uns die Existenz der Atome als unwiderlegliche Tatsache gelehrt. Das aber ist nicht die Natur Rousseaus oder des deutschen Idealismus, die ja als ein Ganzes gedacht war (als Einheit, und nicht als Zersetzung). („Wir stehen wieder vor dem mütterlichen, ewigen Wort: Natur“ [43].) Beruft man sich auf „die Natur“, um den Staat zu begründen, wie es ja die Menschenrechtserklärungen tun, so muss man sehen, auf welche Konzeption von Natur diese Berufung zieht: auf die analytische oder auf die synthetische. Die Französische Revolution, meint Johst, habe sich auf die analytische berufen: „alle liberté wird Liberalismus“ (41). Liberalismus ist die Politik der Massen-Gesellschaft. Masse ist die analytische oder mechanische Summierung oder Juxtaposition der Einzel-Iche. Ihr fehlt die „Verpflichtung, [die] Verantwortung des Geistigen“ (45). Das Geistige wiederum ist das fehlende Band, das die Masse – organisch – zur Nation verbindet, und dieses Band ist die Wirkkraft der anderen, der einigenden Natur. Deren Stimme wiederum ist die immer synthetisch gewesene und gebliebene Dichtung. „Die Dichtung ist völkisch, ist Besitz eines Volkes, wie Erze, wie Kohle, wie Wald und Feld. Ihr Wesen ist kommunistisch, sie gehört allen denen, die Unruhe und Sehnsucht nach ihr tragen, allen denen ist sie auch Trost, Hilfe, Schutz, Bereicherung, Beglückung, Befriedigung, Gewinn“ (50). So tönt die einigende Stimme des Dichter-Führers (53) der Nationwerdung der Masse voraus und weist ihr den Weg. Sie macht aus den gesellschaftlichen „Atom[en]“ ein ge06 Das ist, fast wörtlich, von Schelling zitiert: SW I/3, 584.

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bundenes Molekül, sie vereinigt die „in [ihre] Individuen aufgelöst[e]“ Masse zum „Volk“ (60), d. h. sie stiftet den verlorenen „religiösen Charakter“ (61), der die liberalistisch zerklüftete, vom analytischen Weltbild der Naturwissenschaften geprägte Masse konkurrierender Einzel-Iche zur nationalistischen Solidargemeinschaft verbindet. Die Weimarer Republik hat, sagt Johst, die „Zusammenhänge mit dem Reich der Ideen“ verloren oder vielmehr durchschnitten. „Die Politik Europas ist am Ende, die Zivilisation hat ausgespielt, der dramatische Boden ist bearbeitet“ (30). Wir erinnern uns, dass schon Nietzsche das Entstehen der griechischen Tragödie aus einer Reaktion auf den zivilisatorischen Verfall des hellenischen Geistes erklärt hatte. So auch Johst im Blick auf die wieder zu gebärende Tragödie, die den Verbindlichkeitsverlust des auf der Grundlage des wirtschaftlichen Kapitalismus errichteten Staates für das Wiedererstarken der mythischen Sehnsucht verantwortlich macht. Die entfremdete, um alle Solidarität gebrachte „Masse ist einsam“. Jetzt kann nurmehr der Dichter helfen, der als Prophet eingreift und – wie es bei Jeremia heißt – aus der Höhe den Geist ausschüttet: „der Geist aus der Höhe wird einen Kult bringen, um dessen Stätte uns nicht zu bangen braucht! Das neue Drama wird aus übersinnlichen Quellen springen, und es wird national sein, wie es das griechische wurde“ (30). „Das Drama der Zukunft“ (31) wird aber nicht aus nichts geboren werden, sondern aus der „Seele“ der Deutschen, die am Wertverfall der Weimarer Republik leiden und aus deren zeitkritischer „Vorstellungswelt“ die neue Tragödie ebenso sich speisen wird wie früher die griechische aus dem Schatzhaus des Mythos (l. c.). Es gibt andere Passagen, wo Johst die Fähigkeit zu glauben vielleicht noch ausdrücklicher und greifbarer dem analytischen Geist entgegensetzt, z. B. in der Rede „Vom Glauben“ (86 ff.). Hier ist bereits das Taschenspielerkunststück vollbracht, den Bolschewismus und den Kapitalismus für das Weltbild des „homme machine“ verantwortlich zu machen: „Im Bolschewismus führt von der Vermechanisierung des Menschlichen bis zur Vermenschlichung des Maschinenwesens [...] eine zwingende logische Kette“ (88). Aber die „Geschichte des Kapitals“, fügt Johst hinzu, hat den gleichen Effekt; und er führt – sehr interessant – auch noch das naturfeindlich-gegenmütterliche „männliche Prinzip“ unter den Verfallskräften auf (89): „Kultur, ebensogut wie Wirtschaft, nehmen ihre Richtlinien gemäß dem männlichen Prinzip“, das, wie gesagt, auch in der „Geschichte des Kapitals [durchschlägt], die in der Gegenwart, an der internationalen Börse vielleicht ihre letzten Kapitel zu erleben beginnt“ (89): Aussicht auf eine kapitalistische Wirtschaftskrise und anti-kapitalistisch-völkische ‚Revolution‘. All diese Phänomene fallen unter den Begriff ‚Zersetzung‘; und alle Rettung steckt im Begriff der „Wiedergeburt einer Glaubensgemeinschaft“, dem Werk der Dichtung der Zukunft. Nur der Glaube läßt die Welt als Ganzes ertragen, alle anderen Methoden geistiger Einsicht vermögen nur zu zertrümmern. Das Drama war zuletzt am augenscheinlichsten die Stätte der Zersetzung, der Auseinandersetzung, der Materialismen, der Parteilichkeit.

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Das kommende Theater wird Kult werden müssen oder das Theater hat seine Sendung, seinen lebendigen Ideengehalt abgeschlossen und wird nur noch als eine Art versteinte Fossilie in den Kulturschiebungen mitgeführt! Das kommende Drama wird leben! Die Not, die Verzweiflung, das Elend unseres Volkes braucht Hilfe. Und Hilfe kommt letzten Endes und tiefsten Sinnes nicht aus Betteleien und Banknoten der Hochvaluta, sondern die Hilfe kommt aus der Wiedergeburt einer Glaubensgemeinschaft (36).

Hier finden sich aufs Gedrängteste versammelt die Vermischung der Kritik am zersetzenden Geist der modernen Wissenschaft, des wirtschaftlichen Liberalismus (mit seiner Reduzierung des ‚Höchstwertes‘ auf den Tauschwert an der Börse) mit dem Hinstarren auf eine antidemokratische Wiedergeburt der Solidargemeinschaft aus dem Geist des Kults, der wiederum völlig über die nationalistische Identifikation der klassenmäßig undifferenzierten Masse, die freilich von Johst noch nicht als ‚Rasse‘ gedeutet wird, verläuft. Anders gesagt: Die neue Religion ist, wie schon bei Lagarde, die nationale Identität – und das ist der wesentliche Unterschied zu den Griechen, die sich als Nation über die religiösen Inhalte vereinigten, während bei Johst – in Ermangelung einer verbindlichen übersinnlichen Welt und aus kleinbürgerlichem Widerstand gegen den Sozialismus – die Nation umgekehrt zum Substitut der übersinnlichen Welt werden muss. Das Drama dient also nur noch der nationalen Vergemeinschaftung – und gerade die verrät den Gedanken einer neuen Mythologie. Sie ist – auf andere Weise, gewiss – genauso diesseitig wie der mit Recht so charakterisierte zersetzende Liberalismus der 7 „europäischen Zivilisation“ (30). Da klingt nun zuerst in dieser Deutlichkeit eine Phantasie an, die das kommende Jahrzehnt in Bann schlagen wird. Ihr wesentliches Merkmal ist, dass sie „Gemeinschaft“ und „Nation“ nicht anders artikulieren kann denn als reaktionären Widerspruch gegen die Demokratie. Statt, wie es der Sozialismus in der Tat selbst viel zu wenig sich bemüht, den demokratischen Idealen der Freiheit und der Gleichheit die dritte Forderung, diejenige nach Brüderlichkeit zurück zu erobern, wird ‚Brüderlichkeit‘ nur noch in radikaler Gegenführung gegen Kapitalismus und demokratische Verfassung gesucht. Ich will dazu, zum Beleg für das Umkippen einer noch mit nachvollziehbaren Ungleichzeitigkeits-Erfahrungen arbeitenden Gesellschaftskritik in die reaktionäre und aggressive Ideologie des Nazismus, ein paar Stimmen anführen. Die ersten beiden sind entnommen der Aufsatzsammlung des berüchtigten Germanisten Heinz Kindermann, betitelt Des deutschen Dichters Sendung in der Gegenwart, erschienen 1933 mit der Eloge im Vorwort an den „Führer“ (Kindermann 1933). Paul Ernst, der selbst ein neoklassizistisches Drama zu kreieren versuchte, nennt den Dichter den Bringer „der Möglichkeit eines neuen Glaubens. [...] Der Dichter muss das Volk so lange führen, bis er es zur Vorhalle von Gottes Tempel ge07 Das kommt am zwingendsten zutage im Text eines „Weihespiel“-Autors der 20er Jahre, der seine Produktion ebenso abscheulich wie treffend „Art-Weihespiele“ nannte, nämlich in dem VorwortTitel: „Rasse ‚ist‘ Religion“ (Westerich 1922, 62).

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führt hat; dort wird ein andrer Führer an seine Stelle treten“ (27). Paul Fechter, Autor einer damals wirkungsmächtigen Literaturgeschichte, definiert im gleichen Jahr „die Aufgabe, die der deutschen Dichtung auch in der Gegenwart [...] gestellt ist“, als „die Rückwendung auch der dichterischen Welt vom Ich zum Wir, von der Vereinzelung zur Allgemeinheit“ (146). Goebbels nennt 1934 den Dichter den begnadeten Sinngeber der Kräfte des Volkes; seine Ursünde sei gewesen, im liberal-analytischen Geiste von den mythischen Wurzeln der Gemeinschaft sich zu lösen (Goebbels 1934, 328). – Diese wenigen Zeugnisse sind entschieden repräsentativ, d. h. sie stellen die Ansichten weiter Schichten des Bildungsbürgertums tatsächlich dar und ließen sich durch eine Zitaten-Häufung nur bestätigen, kaum wesentlich nuancieren. Ich schlage – als gangbare Alternative zur Zitat-Häufung – einen Kompromiss vor: Ich werde am Beispiel weniger Zeugnisse vorführen, wie aus dieser Brauküche von völkisch-mythischen Phantasien ein Phänomen hervorgehen konnte, das dann, wenigstens in den ersten Jahren des Dritten Reiches, tatsächlich politische Funktion übernehmen konnte. Wer durch Deutschland fährt und im Verlauf dieser Reise z. B. auf den Heiligenberg über Heidelberg steigt, begegnet dort und anderswo Theater-Plätzen, die architektonisch im Stile der hellenischen Orchestren, also der Rund-Theater gebaut und „wie in Griechenland einem offenen Himmel anvertraut sind“ (Hanns Johst, 1928, 43). Heute dienen sie Rockfestivals – aber kaum noch Theateraufführungen, denn ihr Gedächtnis ist ‚belastet‘. Es handelt sich um die so genannten Thing-Stätten, auf denen Eiferer der wieder zu gebärenden Tragödie aus deutsch-völkischem Geist ihre „Weihespiele“ aufzuführen hofften – und das eine Zeitlang auch durften. Den Namen dieser Festveranstaltungen übernahmen sie aus der deutschen Tradition (vor allem von Wagner), die „Tragödie“ durch „Mysterienspiel“ und „Weihefestspiel“ oder „Bühnenweihefestspiel“ übersetzt hatte. Klaus Vondung, der eine lesenswerte Dissertation über die Wiederbelebung magisch-kultischer Formen in der Kulturpolitik des Dritten Reichs geschrieben hat (Vondung 1971), hat dafür den Titel „Weihedichtung“ vorgeschlagen. Er unterscheidet sie von den anderen Textsorten der „volkhaften Dichtung“ und der „Heldischen Dichtung“ (Vondung 1973). Damit kann er sich stützen auf einen der ersten, nämlich zu Beginn des Dritten Reichs selbst unternommenen Versuche einer Klassifikation der Naziliteratur durch Hellmuth Langenbucher. Dieser Autor arbeitete mit im Amt für Schrifttum und übernahm als Germanist bereitwillig die drängende Aufgabe, im Eilverfahren parteiverbindlich festzustellen, was „eigentlich“ unter Naziliteratur zu verstehen sei und was nicht. Sein Buch, 1935 in Berlin erschienen, trägt den Titel: Nationalsozialistische Dichtung. Einführung und Übersicht. Wie schon das Erscheinungsjahr 1935 klar bedeutet, konnte Langenbucher unter dem Titel „nationalsozialistische Dichtung“ nur den literarischen Bestand erfassen, der schon vor der so genannten Machtergreifung zuhanden war, und darunter finden sich denn neben vielen anderen auch Namen wie Hermann Hesse und Thomas Mann, deren Emigration freilich scharf getadelt – aber auch unverständlich genannt wird. Diese Tatsache muss wenigstens den Verehrern die-

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ser beiden Schriftsteller den Sinn für die Bedeutung der Blochschen Formel schärfen, im Nazismus heiße es das Wahre im Falschen genau auszumachen und für die Nachwelt zu retten. Langenbuchers Klassifikatiosversuch, unternommen unter dem vagen Titel „Dramatische Formen“ (41 ff.), stützt sich fast ausschließlich auf Hanns Johst und seine Forderung nach einem „kultische[n] Drama“ (l. c., 41) – darum glaubte ich eben, bei der Darstellung Johsts so ausführlich sein zu sollen. Der Parteiführung war er, trotz seiner expressionistischen Anfänge, beglaubigt durch seine offene Parteinahme für den Nazismus, der einzige theoretisch akzeptable Vorläufer des Thingspiels. Langenbucher referiert das uns Bekannte knapp und richtet den Blick sodann auf Johsts „Forderung des Theatergroßraums unter dem freien Himmel, [...] eine [...] Forderung, die heute in der Schaffung der Thing/stätten ihre Erfüllung findet und damit gleichzeitig zum Anfang einer neuen dramatischen Kunstgattung wird, einer Gattung, die Kunst im höchsten Sinne und doch allgemeines Volksgut sein wird, da sie nur durch den Volksanteil zum wirklichen Leben zu bringen ist“ (l. c., 42 f.). Das Thingspiel soll unter „offenem Himmel“ stattfinden, wie weiland das antike Theater (Johst 1928, 40; Langenbucher 1935, 43). Wieder wird ausführlich Johst zitiert und dann gefolgert: „Von hier ist dann nur noch ein letzter Schritt zum Glauben an das neue Theater als einer [sic!] Stätte der im Freien Wirklichkeit gewordenen Volksgemeinschaft“ (l. c., 43). Wie dicht die nazistische Pervertierung der pervertierten Wahrheit auf den Fersen bleibt, lässt sich an zwei Tatsachen ausmachen: erstens an dem lebhaften Interesse, das der Marxist Bert Brecht am Thingspiel bezeugte, insofern es tatsächlich dem Volke seine Utopie präsentieren sollte: dem Volke, d. h. dem Proletariat, nicht den herrschenden Klassen und schon gar nicht dem nationalrassistisch geeinten und um sein Klassenbewusstsein betrogenen „Volk“; zweitens daran, dass der aus Deutschland geflohene (damals noch) anarchistische Revolutionär Wagner seinem in Dresden einsitzenden Kampfgenossen Theodor Uhlig, den er als „Allertheuerster Freund und Genosse“ anredet (Wagner Briefe III, 423 ff., Brief vom 20. September 1850), einen auf den ersten Blick mit dem Thingspiel sehr verträglichen Gedanken mitteilt. Hätte ich, schreibt er dem Freund am 20. September 1850 ins Gefängnis, – hätte ich nur 10.000 Taler, so würde ich folgendes veranstalten: – hier, wo ich nun gerade bin und wo manches gar nicht so übel ist [nämlich in Zürich], würde ich auf einer schönen wiese bei der stadt von Bret und/ balken ein rohes Theater nach meinem plane herstellen und lediglich blos mit der ausstattung an decorationen und maschinerie versehen lassen, die zu der Aufführung des Siegfried nötig ist. Dann würde ich mir die geeignetsten sänger, die irgend vorhanden wären, auswählen und auf 6 wochen nach Zürich einladen: den chor würde ich mir größten theils hier aus freiwilligen zu bilden suchen (hier sind herrliche stimmen und kräftige, gesunde menschen). So würde ich mir auch mein orchester zusammen laden. Von Neujahr gingen die Ausschreibungen und Einladungen an alle freunde des musikalischen Drama’s durch alle Zeitungen Deutschland’s mit der Aufforderung zum Besuche des beabsichtigten dramatischen Musikfestes: Wer sich anmeldet, bekommt gesichertes entrée, – natürlich wie alles entrée: gratis! Des weiteren lade ich die hiesige jugend, Universität, Gesangs-

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vereine u. s. w. zur Anhörung ein. Ist alles in gehöriger Ordnung, so lasse ich dann unter diesen umständen drei Aufführungen des Siegfried in einer woche stattfinden: nach der dritten wird das theater eingerissen und meine partitur verbrannt. Den leuten, denen die sache gefallen hat, sage ich: „nun macht’s auch so!“ Wollen sie auch von mir einmal wieder etwas Neues hören, so sage ich aber: „schießt ihr das Geld zusammen!“ – (Wagner Briefe III, 425 f.; ebenso: Brief vom 14. September an Ernst Benedikt Kietz in Paris, l. c., 404; auch: Wagner 1911 II, 584 f.).

Bekannt ist, wie Wagners Traum Wirklichkeit wurde: Aus den Festwiesen-Plänen des anarchistischen Revolutionäres, der überall vom (Welten-)Brand und der großen Erneuerung träumte, wurde Bayreuth der Ort, an dem Wagners Schwiegertochter Winifred einen prominenten Besucher empfing, wenn der „Siegfried“ gespielt wurde, nämlich Adolf Hitler. Dies wurde freilich erst möglich durch eine rigoros nationalistisch-rassistische Umdeutung des bei Wagner wie bei Brecht klassenkämpferisch aufgeladenen Ausdrucks „Volk“. Diese Umdeutung ist bei Langenbucher vollzogen: Die Volksgemeinschaft, von der er spricht, ist nicht die „ärmste und zahlreichste Klasse“, sondern das Gesamt der „Volksdeutschen“, d. h. die in „Nation“ aufgehobene „Menschheitsklasse“. Die freilich ist, wie in der Tragödie, repräsentiert vom Chor. Zunächst vom Sprecher als der sinnenfälligsten Darstellung von „Gemeinschaft“ (Langenbucher 1928, 43 f.), sofern sie eben nicht nur Volksgemeinschaft, sondern „Kampfmittel der Bewegung“ ist. Den Sprechchor kennen und schätzen ja auch Brechts Lehrstücke; auch bei ihm ist er Stimme der Partei, wenn auch nicht der Nation, son8 dern der verallgemeinerungsfähigen Interessen des Proletariats. Er verdichtet dessen Repräsentanz in einem „Kontrollchor“, vor dem – ganz ähnlich wie im Thingspiel etwa Möllers – drei kommunistische Agitatoren bzw. (bei Möller, dessen Stück im Bauernkrieg spielt) die bauernfeindlichen Richter sich zu verantworten haben. In der Maßnahme ebenso wie in Möllers Frankenburger Würfelspiel fällt das Urteil des Chors negativ aus. Bei Brecht: Also beschlossen wir: jetzt Abzuschneiden den eigenen Fuß vom Körper. Furchtbar ist es zu töten (Brecht 1988, 114).

Der Kontrollchor bejaht diese „Maßnahme“ mit den Worten: [...] euer Bericht zeigt uns, wie viel Nötig ist, die Welt zu verändern: Zorn und Zähigkeit, Wissen und Empörung Schnelles Eingreifen, tiefes Bedenken

08 Lehrstücke, sagt Brecht im Rückblick, sind eine „Kette von Versuchen, die sich zwar theatralischer Mittel bedienten, aber die eigentlichen Theater nicht benötigten“ (Brecht 1993, 117 f., 167 f., 351 f.). Anderswo: „Das Lehrstück ist kein Theaterstück im üblichen Sinne. Es ist eine Veranstaltung von einem Massenchor und vier Spielern“ (Brecht 1988, 410 f.). Und: „Der ‚zwölfte Versuch‘: ‚Die Maßnahme‘ [in zwei Versionen von 1930 und 1931], mit einer Musik von Hanns Eisler, ist der Versuch, durch ein Lehrstück ein bestimmtes eingreifendes Verhalten einzuüben“ (l. c., 100).

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Kaltes Dulden, endloses Beharren Begreifen des Einzelnen und Begreifen des Ganzen: Nur belehrt von der Wirklichkeit, können wir Die Wirklichkeit ändern (l. c., 125, im Orig. kursiv).

Denken wir uns statt dessen Hans-Sachsische Knittelverse, so glauben wir das Urteil des Möllerschen Kontrollchors im Frankenburger Würfelspiel zu lesen. Das ist übrigens nicht verwunderlich, denn sowohl das Thingspiel wie das Brecht’sche Lehrstück verwenden nicht nur die Elemente des Tragödienchors, sondern auch des „Arbeiter-Weihespiels“, das einer autochthon sozialdemokratischen ArbeiterTradition entwachsen ist und doch (wie der Titel „Weihe“ verrät) ganz direkt an das hellenische (und das Wagner’sche) „Weihefestspiel‘“ (die deutsche Überset9 zung von Mysterien-Spiel) anknüpft. „Der Sprechchor“, sagt Langenbucher, „steht auch heute noch im Vordergrund des volklichen Gemeinschaftserlebnisses und dient als feierlicher, Empfindungssteigerung vermittelnder Rahmen bei allen irgendwie Festcharakter tragenden Zusammenscharungen deutscher Menschen“ (44). Daneben gibt es das „chorische Spiel“ (l. c.), ein szenisch-dramatisch aufgelockerter Wechselgesang von Solist(en) und Chor, der auch im eigentlich erst von den Nazis zur Mächtigkeit entfalteten Massen-Medium, dem Radio-Hörspiel, sich aufführen ließ. Illustrationen von Thingspielen sind ihrer Banalität halber weniger lehrreich als eine aufs Schlimmste gefasste Ahnung sich das ausmalen mag. Aufmerksamkeit verdienen die epischen Züge der neuen dramatischen Gattung, in die sich unübersehbar so etwas wie Zeitgenossenschaft und Stilähnlichkeit zum ‚epischen Theater‘ dieses Namens einprägt. Ich gebe zwei in ihrer Banalität charakteristische Zitate aus chorischen Spielen: Parteigenossen und liebe Freunde und ganze sonstige liebe Gemeinde ich bitte euch um Ruhe und nocheinmal um allergrößte Ruhe im Saal.

oder Und wie das alles ist geschehn, das sollt ihr nun im folgenden sehn genau wie es von den Evangelisten ist beschrieben worden für alle Christen und in gute deutsche Reime gebracht 09 Teletä hieß (siehe Anm. 2) im Griechischen die Einweihung in ein Mysterium, teletai die Mysterien- oder Weihespiele. Und da die mystische Nachtfeier (pannychís), die jeweils nach der Ankunft in Eleusis begangen wurde, nyktéros teletä hieß, durfte sie – wörtlich – als ‚Weihnacht‘ übersetzt werden. Das umso mehr, als in dieser Weihnacht der von den Titanen/Mänaden zerstückelte Dionysos (Zagreus und Bakchos) in Kindsgestalt und vergeistigt als ‚kommender Gott‘ (Dionysos Iakchos) wiedergeboren wurde, in dem später einige Christen ihren in der Krippe geborenen Heiland (sotär) wieder zu erkennen glaubten. In Aristophanes’ Fröschen heißt dieser Neugeborene nyktérou teletäs phôsphóros astär: „der Weihenacht strahlender Stern“. Vgl. dazu ausführlich und mit vielen Belegen die Vorlesungen 9-11 von Frank (1982, hier: 281).

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zu Lob und Feier der Heiligen Nacht, an der sich alle sollen erfreun, von Wolfgang Möller, Sturm hundertdreizehn, zwo neun (zit. Langenbucher, l. c., 45).

Dies steht irgendwo zwischen Brechts ‚Lehrstücken‘ und ‚Mainz, wie es singt und 10 lacht‘, ist aber Eberhard Wolfgang Möllers „Südender Weihnachtspiel“ entnommen, über dessen Entstehung der Verfasser u. a. Folgendes sagt: Dieses Weihnachtsfestspiel entstand unmittelbar aus dem Erlebnis der neuen Volksgemeinschaft und dem Bedürfnis, den Festen dieser Volksgemeinschaft eine eigene und würdige Gestalt zu geben, die den alten Anlaß mit einem neuen Geist verband (Möller 1933, 27).

Möller hat sich aber auch sonst, in mehr theoretisierenden Texten, zum Sinn des Thingspiels geäußert, z. B. in einem Aufsatz mit dem Titel: „Die Wendung des deutschen Theaters – Ein Aufriß zum Spiel auf Thingplätzen“ (Möller 1933/34, 147-152). Darin heißt es u. a.: Es ist von vornherein klar, dass das neue tragische Theater, wenn es ein Theater des Volks sein soll, nicht auf den üblichen Bühnen vor sich gehen kann, sondern auf Stätten, wie sie jetzt überall im Reich eigens dazu geschaffen werden. Das sind Plätze, auf denen das Volk im Halbkreis oder auch ganz im Kreis um die Spielfläche herum sitzt. Daraus ergibt sich eine ganz andere Art zu spielen, als man sie bisher vom Theater gewöhnt ist. Die Spieler stehen völlig ungedeckt zum Publikum. Keine Wand, keine Kulisse täuscht etwas vor, was nicht wirklich da ist. Keine äußerliche Technik kann mit äußerlichen Mitteln eine Stimmung erzielen, die nicht aus dem Vorgang selbst und aus dem unmittelbaren Wort kommt. Dieses Theater ist also unmittelbarer, gegenwärtiger, gleichsam wirklichkeitsnäher als das Theater der intimen Bühne. Seine Handlung muß sich hier auf diesem Schauplatz, offen und abgegrenzt vor aller Augen und nirgendwo anders vollziehen. Sie beginnt, wenn die Handelnden einzeln oder in Gruppen einziehen. Hier erwächst das Drama unmittelbar aus dem Aufzug der Trommeln und Fahnen, der Gruppen und ihrer Sprachen,| der Rede und Gegenrede. Hier wird das Drama zwangsläufig aus den Gegebenheiten der Plätze und der Massen heraus wieder dramatisch und kann sich nicht mehr darauf beschränken, nur eine Stimmung, nur ein Milieu abschildern zu wollen, wie man es in der Zeit des sogenannten Naturalismus versuchte. Das Drama wird auf seine Grundelemente zurückgeführt, auf die/ Auseinandersetzung, auf das Ringen der Massen und der Persönlichkeiten, aber auch auf den Aufzug, auf Feier. Man sieht: Vorbild und Anregung waren zweifellos die großen Aufmärsche und Versammlungen der letzten Vergangenheit. Die Formen des neuen Dramas sind die gleichen Formen, in denen sich die Volkwerdung vollzog. [...] Das Volk will selbstverständlich dieses Erlebnis gestaltet sehen. Auch ist das ja gerade die seelische Grundlage des neuen Schauspiels der Massen auf den Thingplätzen, daß weder von einem historisierenden noch ästhetisierenden Gesichtspunkt aus Bil10 Auffällig die Ähnlichkeit zum Lehrstück Brechts, etwa zum „Badener Lehrstück“ von 1930), das auch den Ort (und Anlass) im Titel führt.

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dungstheater um des Theaters willen gemacht wird. Das Theater, das wir wollen, soll Erlebnistheater sein. Dann erst kann es zu wahrhaft kultischem Ausdruck des Massengefühls emporgestaltet werden (l. c., 149 f.).

Man beobachtet hier eine Bewegung der Politisierung und der Konkretisierung gegenüber etwa Hanns Johst, der das Theater zwar auch der nationalistischen Synthese, doch aber nicht der politischen Indienstnahme, sondern dem ‚Erlebnis des Übersinnlichen‘ gewidmet wissen wollte, von dem er meinte, die Tauschgesellschaft habe dies Erlebnis unmöglich gemacht. Dagegen will Möller das Thingspiel deutlich als Partei nehmendes Stück, wobei wir freilich sehen müssen, dass letzte Reste der Arbeiter-Weihespiel-Tradition auch seine Thingstücke den Machthabern nicht ganz geheuer erschienen ließen. Johst seinerseits avancierte zwar zum Präsidenten der Reichsschrifttumskammer, musste dort aber erleben, dass Hitler und Rosenberg schon wenige Jahre nach der Machtergreifung am „Kult“ kein sonderliches Interesse zeigten und vor Kriegsausbruch sogar eine entschiedene Ablehnung aussprachen. Der Faschismus hatte sich mit der liberalistischen Wirtschaft ausgesöhnt; die Kriegsrüstung und -vorbereitung bedurfte des „Kultes“ nicht: Der war gut für Friedenszeiten und zum Ködern religiös zu kurz gekommener ‚Idealisten‘, die im Faschismus noch immer eine ‚Idee‘ erblicken wollten. Ohne ein ausdrückliches Verbot ging das Thingspiel langsam und unmerklich ein. Die großen paramilitärischen und militärischen Aufzüge, die Reichsparteitage und die Olympischen Spiele, Dutzende von Formen direkterer und weniger ästhetisch gebrochener Massen-Manipulation taten bessere Dienste als die Thingspiele, über die mit unfreiwilligem Zynismus im Rückblick geurteilt werden muss, dass sie, als auf einem immer noch viel zu hohem Niveau konzipiert und im Grunde der ArbeiterBewegung entwendet, ohne doch zu einem wirklichen Arbeiterpublikum zu sprechen, nie wirklich volkstümlich geworden sind.

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3. „WELTGESCHICHTE AUS DER SAGE“ Wagners Widerruf der ‚Neuen Mythologie‘1

„Anfang und Ursprung der seienden Dinge ist das Apeiron (das Unbegrenzte oder Unendliche). Woher die Dinge ihre Entstehung haben, – dahin müssen sie auch zu Grunde gehen, nach der Nothwendigkeit; denn sie müssen einander Buße zahlen und für ihre Ungerechtigkeiten gerichtet 2 werden, gemäß der Ordnung der Zeit“ (Der Spruch des Anaximander).

I. „Der Ring ist die Dichtung meines Lebens, all dessen was ich bin und all dessen 3 was ich fühle“ (zit. Geck 1993, 280). „Vollendet in Wahnfried, ich sage nichts weiter!! R.W.“ steht am 21. November 1874 unter der letzten Seite der Partitur: fast genau 26 Jahre und 3 Monate nach dem „Entwurf“ des Nibelungen-Dramas. Diese Lebensdichtung stellt sich als mythische Handlung par excellence dar. Wagner jedenfalls spricht von ihr ständig als von einem ‚Mythos‘. Und in der Tat erfüllt sie auf den ersten Blick zentrale Kriterien der mythischen Gattung, so wie sie die zeitgenössische romantische Theorie definiert hatte.

Zum Begriff des Mythos ‚MûjoV‘ meint ursprünglich ‚Rede‘, ‚Wort‘, also das gleiche wie ‚lógoV‘. ‚Mythos‘ ist ‚Wort‘ gleichsam im Zustand seiner Wildheit: noch nicht ans Licht der Wahrheit gezogenes Wort oder: Fabel, die vom Ritual (in dem sie gründet) noch nicht abgespalten ist. Nicht erst Claude Lévi-Strauss hat gezeigt, dass alle Versuche, den Mythos durch inhaltliche oder semantische Merkmale von der logischen Rede zu unterscheiden, scheitern (Lévi-Strauss 1974, 229; vgl. Frank 1983, 49ff., 66 ff.). Das wussten auch die Romantiker: Es gibt a priori keinen Zug einer Handlung oder keinen Akteur, der im Mythos, aber nicht in der ge-

01 Zuerst veröffentlich in: Programmbuch der Bayreuther Festspiele 1994, hg. von Wolfgang Wagner. Redaktion: Peter Emmerich und Barbara Christ, Bayreuth 1994, 16-37. 02 Diels/Kranz, 89. Ich zitiere den zweiten Satz in der Übersetzung von Friedrich Nietzsche: Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen, in: Nietzsche 1988 1, 818. Wagner kannte diesen Text. 03 Vgl. den Brief vom 10. Juli 1856 aus Mornex über Genf an den Verlag Breitkopf und Härtel: „Es ist nicht möglich, daß ich je wieder etwas meinem ‚Nibelungenwerk‘ ähnliches konzipiere oder gar ausführe: es ist das volle und üppige Hauptwerk meines Lebens, und schon in dem Gedichte glaube ich der Nation ein Werk geschenkt zu haben, das ich mit Stolz ihr auch für die Zukunft empfohlen halten darf“ (Wagner 1911a, 88 f.).

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wöhnlichen Rede auftreten könnte. Entsprechend schillernd war und ist die Verwendung des Ausdrucks. Gerade im Journalismus, aber auch in den so genannten Humanwissenschaften muss er für alles Mögliche herhalten: für standardisiertes Sozialverhalten ebenso wie für Ideologien, für kollektive Symbole ebenso wie für Göttergeschichten, Volksmärchen, Heldensagen oder Naturallegorien. Gesprochen wird auch von ‚Mythen des politischen Romans‘ oder von ‚Mythen des Alltags‘. Und dann meint ‚Mythos‘ einfach: kollektive, meist wertbesetzte Phantasien, z. B. ‚Massentraumbilder‘. Anderen ist ‚Mythos‘ einfach das, wovon die klassischen Werke der Homer und Hesiod, der griechischen Tragöden oder Verfasser der Edda handeln; und ‚mythologische Dichtung‘ das, was daraus zitiert. Wieder anderen ist der Mythos etwas Irreales oder gar Irrationales. Aber Adorno, Horkheimer oder Blumenberg sehen in der mythischen Denkleistung selbst schon eine Form der lebensorientierenden Aufklärung. Die Wissenschaft setze die vom Mythos geleistete Arbeit nur mit anderen, teilweise wirkungsvolleren Mitteln fort (Quine 1961, 44). Wenn das so ist, dann tun wir gut daran, uns die Bedeutung des Begriffs ‚Mythos‘ von der Theoriebildung bzw. von der Begrifflichkeit der Epoche vorgeben zu lassen, von der her auch Wagners theoretische Versuche der Züricher Zeit über den Mythos sich verstehen: von der (Früh-)Romantik.

Die kommunikative Funktion des Mythos Wie ich zu Beginn der Vorrede gezeigt habe, verstanden die Frühromantiker unter ‚Mythenüberlieferung‘ – der Begriff ist noch nicht streng abgesondert gegen den anderen der ‚religiösen Tradition‘ – ein Unternehmen im Dienste der Rechtfertigung von Lebensformen einer Gesellschaft aus einem letztverbindlichen Wert. Und in einem radikalen Sinne unumstritten ist nur, was für heilig – für unanfechtbar, für allgegenwärtig und für allvermögend – gehalten wird. Geltung von Lebensformen oder sozialen Praktiken gründet also darin, dass eine Population über sie normativ verständigt ist – und diese Verständigung erfolgt über eine Beglaubigungsrede, eben den Mythos. Diese funktionale Bestimmung des Mythos lässt sich an Mythen-Erzählungen der Antike veranschaulichen. Ulrich Gaier (1971) hat dafür mehrere Belege ge04 Eine in diesem Sinne strukturalistische Mythenbetrachtung findet sich schon bei Schelling, der gezeigt hat, wie unterschiedene Götternamen und -handlungen dieselbe mythische Funktion erfüllen können und dass sich irrt, wer die Göttergeschichten für individuierte Narrationen hält. Vgl. z. B. SW II/1, 123 ff. oder II/2, 625 f., 663 f.: Der Inhalt (die Bedeutung, Schelling sagt auch: die ‚Materie‘) der Götter(namen) ist gleichgültig, bleibend sind die ‚Formen‘ oder ‚Funktionen‘ in wechselnden Kontexten (die Konstellationen der 'Potenzen'). So kann Persephone zugleich die Urgöttin und der Demeter und des Hades Tochter, Hades kann der Bruder des Zeus und die in die Unsichtbarkeit zurücktretende olympische Mythologie, Dionysos kann der späteste und der früheste Gott sein usw.

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liefert. Eines findet sich bei Apollodor (III, 14). Es erklärt die Existenz eines Brunnens auf der Akropolis und die Ölbaumkultur in Attika aus einem Götterhandeln. Den Brunnen hatte Poseidon mit einem Schlag seines Deizacks inmitten der Akropolis angelegt (zusamt dem Meer Erechtheis). Den Ölbaum, der im Pandrosium zu besichtigen war, hat Athene als Zeichen ihrer Besitzergreifung gepflanzt. Die Mythen, die diese Geschichte erzählt, begründen ein gegenwärtig Vorhandenes oder einen Rechtsanspruch oder einen kultischen Brauch durch Rückführung auf eine heilige Handlung. Ein anderes Beispiel hatte ich in der Vorrede genannt (hier S. 11 f.). Der im 6. vorchristlichen Jahrhundert (angeblich) aus Thrakien eindringende (und von den einheimischen hellenischen Religionen zunächst mit Entsetzen verfolgte) barbarische Kult, in dem ‚rasende Frauen‘ bei Nacht zu Frühlingsbeginn auf hohe, schneebedeckte Berge wallfahrteten und unterwegs Tiere zerrissen und roh verschlangen, wird durch eine beigefügte Erklärung beglaubigt: eben durch den Mythos, der berichtet, dass die Frauen so handeln, weil sie von ihrem Gott, den sie Dionysos nennen, gerufen werden, um seiner jeden Frühling auf Berggipfeln sich ereignenden (Wieder-)Geburt in einer Wiege (oder Saatwanne) als Ammen beizustehen. Durch den narrativ gestifteten Rückbezug auf ein Heiliges ist der 5 Brauch nunmehr sozial gerechtfertigt.

„Eine Idee, die noch in keines Menschen Sinn gekommen ist“ Dies ist also die Funktion des Mythos. Ich habe früher vorgeschlagen (hier: Text 1, Frank 1982, 1988), sie kommunikativ zu nennen, weil sie auf das Verständigtsein der Gesellschaftsteilnehmer untereinander und auf die Einträchtigkeit (oder wenigstens: Vereinbarkeit) ihrer Wertüberzeugungen abzielt. Diese (im romantischen Wortsinn) „gesellige“ Kraft verdankt der Mythos seiner synthetischen Natur. Werte sind wesenhaft intersubjektiv: es ist widersinnig, sie aus Privatoptionen erklären zu wollen. Religionen bestehen und tradieren sich – das ist die gemeinsame Überzeugung Durkheims und des Autors der Reden über die Re6 ligion – nur in Gemeinschaft (Durkheim 1981, Schleiermacher 1843, 133-460). Eine atomisierte Sozietät gewährt ihnen keine Stätte. Auch für Wagner wird dies sozialintegrative Interesse die Haupttriebfeder für die Beschäftigung mit der (Neuen) Mythologie.

05 Dies zu erklären, ist Gegenstand zahlreicher mythologischer Traktate der Epoche. Ich nenne nur Friedrich Creuzer (1798/99; 1973). Creuzer Symbolik und Mythologie der alten Völker (1973) war Wagner durch den Einfluss von Gustav Schlesier schon früh bekannt geworden; vgl. Gregor-Dellin 1991, 92; vgl. auch Wagners Bemerkung in Cosimas Tagebüchern vom 1. Dezember 1880. Wichtig auch: Kanne (1811 und 1813): Die letzere Schrift hat Wagner gewiss schon der Bedeutung wegen wahrgenommen, die sie für seinen verehrten Onkel Adolph Wagner hatte, der als Mitautor auftrat. 06 Vierte Rede (316 ff.) „Ueber das Gesellige in der Religion [...]“.

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„WELTGESCHICHTE AUS DER SAGE“

So greift die erkenntnistheoretisch orientierte Frage nach den Bedingungen religiösen Lebens auf die zweite, eher sozialhistorisch gerichtete Frage über, die sich nach dem Zustand einer Gesellschaft erkundigt, welche diese Frage stellt. „Ihr 7 fragt mich“, ruft der französische Frühsozialist Pierre Leroux seinen Zeitgenossen zu, „wo heute die Religion ist, und ich frage euch, wo heute die Gesellschaft ist. Seht ihr nicht, daß die gesellschaftliche Ordnung ebenso zerstört ist wie die religiöse Ordnung? Der Verfall der einen folgt dem Verfall der anderen“ (Kool/Krause 1972, 283 f.). Aber schon das Älteste Systemprogramm des deutschen 8 Idealismus (von 1796/97) misst den Grad maschinenmäßigen Idee- (und das heißt: Legitimations-) Verlusts des mit der Französischen Revolution in die 9 Möglichkeit getretenen Staats (Krauß 1989, 221-224) an dem der Auslöschung des Gedankens religiöser Rechtfertigbarkeit von Sozialverhältnissen – und fordert dann eine ‚Neue Mythologie‘: Zuerst werde ich hier von einer Idee sprechen, die so viel ich weiß, noch in keines Menschen Sinn gekommen ist – wir müßen eine neue Mythologie haben, diese Mythologie aber muß im Dienste der Ideen stehen, sie mus[s] e[ine] Mythologie der Vernunft werden (Mat. 111 f.).

Diese Äußerung steht in einem dichten Kontext gleichgerichteter. Die emanzipatorische Mission der Aufklärung, so liest man vor allem bei Friedrich Schlegel und Schelling, schlägt um in Selbstverblendung, sobald sie mit ihrer nichts verschonenden Kritik an der Unhaltbarkeit von Positivitäten zugleich den Gedanken der Legitimierbarkeit von Lebensverhältnissen als solchen aus der Welt schafft (KA 1958, Bd. III, 88, 99). Fortan steht Aufklärung und der aus ihr entwickelte bürgerliche Staat unter dem strukturell unabweisbaren Verdacht der Illegitimität, jedenfalls aber des Zweifels, er könne mit Mitteln einer ganz auf eigene Füße gestellten Analyse seine eigene Beglaubigung erbringen. Aus dieser Not entspringt das mächtige, ab 1795 allerorten artikulierte Verlangen nach Wiederherstellung des Mythos in der und als Dichtung unter Bedingungen vollbrachter Entzauberung der aufgeklärten Welt. Denn allein im Mythos verkörpert sich der ‚gemeinsame Geist‘, den der Geist der Analyse (wörtlich übersetzt: der Geist der Auflö07 Pierre Leroux (1797-1871), französischer Frühsozialist und Revolutionär, wegen seiner Verteidigung Schellings und der Frühromantik, selbst des Mittelalters und der Religion, gegenüber der Hegelschen Linken auch als ‚romantischer Sozialist‘ bezeichnet (und von Marx darum getadelt, wenn auch „genial“ genannt [Brief an Ludwig Feuerbach vom 2. Okt. 1943, in: Schelling 1993, 567]), steht dem frühen Wagner in vielerlei Hinsicht besonders nahe. Vgl. David Owen Evans (1948). 08 Das anonyme Fragment, vermutlich von Anfang 1797, in Hegels Handschrift überliefert, möglicherweise die Abschrift eines Schelling-Textes, wurde erst im ersten Viertel des letzten Jahrhunderts von Franz Rosenzweig entdeckt und unter dem irreführenden Titel Ältestes Systemprogramm des deutschen Idealismus veröffentlicht. Man hat in ihm die Keime der späteren idealistischromantischen Systeme entdecken wollen. Zuerst wird hier der Gedanke der ‚Neuen Mythologie‘ ausgesprochen. 09 Dass der (im modernen Sinne) bürgerliche, und nicht etwa der feudale Staat der Gegenstand der anarchistischen Staatskritik des Ältesten Systemprogramms ist, habe ich an allerlei Quellen (vor allem bei Schelling und Tieck) nachgewiesen in: Frank (1989a).

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sung) zerstört hat. Die so genannte klassische deutsche Literatur lässt sich insgesamt aus der Reaktion auf den Verlust jenes „Mittelpunkt[es]“ ableiten, „wie es die Mythologie für die Alten war“: der „mütterliche Schoß“, ein von der kollektiven Phantasie schon vorgebildeter Stoff, aus dem die Dichtung wie aus einem Schatzhaus ihre sozial-integrative Kraft zieht und der sie unmittelbar verbindlich 10 für alle macht (KA II, 312; Fried 1985, 9–37). Gilt nun aber (wie diese Generation mit Kant glaubt), dass die sittliche und die natürliche Welt nur unter Voraussetzung eines synthetischen Prinzips (einer ‚Idee‘) begriffen werden können; und trifft ferner zu (wie etwa Herder gelehrt hatte), dass dieses synthetische Prinzip sich ganz ursprünglich in der Dichtung artikuliert, dann kann man folgern: Die Dichtung sei – als Organ der Idee – in glücklicheren Zeiten einmal „Lehrerin der Menschheit" gewesen, wie es im Ältesten Systemprogramm (Mat. 111) heißt. Und man kann ferner wünschen, sie möge das – in Form der wiederhergestellten Mythologie – aufs Neue werden (KA II, 312). Von der ‚alten‘ Mythologie ist die neue dadurch unterschieden, dass sie nicht aus der Überlieferung schöpft, sondern den Fehl einer übersinnlichen Offenbarung durch die Einträchtigkeit der Gemeindebildung zu ersetzen sucht. Da Mythen wesentlich Dichtungen sind (wenn auch keine bewussten), kann eine neue Mythologie aus der Wiederbelebung der sozialintegrativen Kraft der Dichtung (diesmal natürlich der bewusst ‚hervorgebrachten‘) wieder entstehen. Das kann freilich nur gelingen, wenn eine Bedingung erfüllt ist, die noch im Zentrum von Wagners Überlegungen aus der Züricher Zeit stehen wird. Vor ihm hat das niemand leidenschaftlicher getan als Schelling (1804): Kunst kann eine „allgemeine Symbolik“ (SW I/6, 571) – eine an alle gerichtete und alle verbindende Universalsprache – nur werden, wenn eine funktionierende „Öffentlichkeit“ wiederhergestellt ist (l. c., 572 f.). Eine solche gab es, bevor die moderne Welt sich in zahlreiche „partielle Mythologien“ zersplitterte (l. c., 572), z. B. im klassischen Athen, wo die Vorführung der Tragödie und der Komödie zugleich Gottesdienst, Kunstwerk und politisch-normative Demonstration (Selbstvergewisserung der póliV über die sie leitenden höchsten Werte) war. Unter Bedingungen der Moderne hat sich diese Einheit zersetzt; sie ist „in der Sklaverei der Privatlebens“ untergegangen, und mit ihr die volksverbindende Kraft des kultischen Dramas ( l. c., 573; vgl. 572 f.). Hier deutet sich allerdings eine zirkelhafte Verwicklung an: Einerseits setzt ja die Verkündigung einer neuen Mythologie die bereits existierende Öffentlichkeit – eine sozial integrierte politische Gemeinschaft – voraus; denn nur wenn ein Volk mit einer Stimme spricht, werden seine Dichtungen zum Mythos. Andererseits soll die neue Mythologie die Bedingungen der Bildung dieses öffentlichen Lebens erst vorbereiten und herstellen. So noch 46 Jahre später Richard Wagner: Kann die Kulturkunst [das ist die individuell erzeugte, nicht mehr aus dem kollektiven Symbol-Arsenal des Mythos schöpfende Kunst der Moderne] von ihrem ab10 Das sind Formulierungen aus Fr. Schlegels Rede über die Mythologie von 1800. Dass auch und gerade die klassische Literatur den ‚fehlenden Mittelpunkt‘ beklagt, zeigt ausführlich Jochen Fried.

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strakten Standpunkte aus in das Leben dringen, oder muß nicht vielmehr das Leben in die Kunst dringen, – das Leben aus sich heraus die ihm allein entsprechende Kunst erzeugen, in ihr aufgehen, – statt daß die Kunst (wohlverstanden: die Kulturkunst, die außerhalb des Lebens entstandene) aus sich das Leben erzeuge und in ihm aufgehe (SSD III, 161)?

Dies Hysteron-Proteron von zur Gemeinschaft verbundener Gesellschaft und neuer Mythologie wird, wie wir gleich sehen werden, desaströse Folgen für den Gedanken ihrer Realisierbarkeit unter Bedingungen der entfesselten Moderne haben.

Wagner und die ‚Neue Mythologie‘ Wagners frühe Theorie-Entwürfe – vor allem Die Kunst und die Revolution (1849), Das Kunstwerk der Zukunft (1849/50) und Oper und Drama (1851/52) – sind von dieser Frage besessen (vgl. Text 1, S. 16 ff.). Auch sonst bewegen sie sich bis in Einzelheiten im Kielwasser ihrer frühromantischen Vorgängerinnen. Den Dresdener und Zürich Schriften liegt, wie Schellings frühen Texten zum Thema, zugrunde die Überzeugung einer katastrophischen „Zersplitterung“ (SSD III, 63) der vormals vereinigten menschlichen Wesenskräfte in Spezialfertigkeiten und Arbeitsteilung. Ursprünglich bestanden Politik, Religion und Kunstwerk zusammen: in der großen kultischen Feier der Tragödie, die 1. eine Selbstrepräsentation der die Polis beseelenden normativen Überzeugungen lieferte, sie 2. – sozialintegrativ – bezog auf das, was den Bürgern heilig war (die Mythologie), und dies 3. in einer Form vollbrachte, die höchsten ästhetischen Standards genügte (l. c., 131 f.). In diese schön verbundene Trias zog der abendländische Geist der Analyse zerstörerisch ein: Die Politik wurde von der Religion getrennt, und die Kunst zerschnitt die Nabelschnur, die sie mit dem gemeinschaftlichen Bildervorrat der Mythologie verbunden hatte. Fortan war, was Künstler hervorbrachten, individuell ersonnen und wurde individuell konsumiert. Es war nicht mehr Ausdruck der Gemeinschaft und verlor seine Einverständnis besiegelnde Kraft. „Innigkeit und Wahrheit“ hatten die herkömmliche Tempelfeier verlassen; der „Kern“ der Religion lebte allein im Kunstwerk fort, dessen nicht zu Ende ausdeutbare Sinnfülle den ernüchterten Bürger an das Numinose der Religion gemahnt (l. c., 132; vgl. SSD X, 211). So ist allein die Kunst noch Ausdruck der Integrität menschlicher Wesenskräfte, ja einer recht verstandenen politischen „Öffentlichkeit“, die unter Bedingungen der gesellschaftlichen Atomisierung, der Klassendifferenzen, der äußersten Arbeitsteilung „verstümmelt“ und unterdrückt worden ist (SSD III, 11 145, 151, 127 f.). Im modernen Zustand der Abwesenheit einer gemeinsamen axiomatischen Option der Menschheit wird aber der Stoff des Kunstwerks der Zukunft (SSD IV, 31) nur negativ sein können wie der der Tragödie: Er wird nur 11 Von „Öffentlichkeit" und ihrem Verlust in der Moderne ist viel schon die Rede in Schellings Würzburger System von 1804 (SW I/6, 572 f..). Vgl. auch Wagners Rede von einem in „eine[r] gemeinsame[n] Anschauung" vereinten Volk : SSD IV, 31 (wörtlich so Schelling: SW I/2, 73).

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die imaginär vorweggenommene Selbstaufhebung des egoistischen Einzelnen und seines Eigentums zugunsten einer idealen Gemeinschaftlichkeit darstellen können: des „Volkes“ als der Masse der „Notleidenden“ einerseits, als des „Künstler[s] der Zukunft“ andererseits (SSD III, 172; vgl. XII, 268 f., 274).

Negative und positive Mythen: ‚Rechtfertigung‘, ‚Liebe‘ und ‚realer Besitz‘ So kann das Sujet eines neuen Mythos nur negativ sein: Ausdruck einer ‚gemeinsam gefühlten Not‘ (SSD III, 175 ff.). In diesem Sinn war Wieland der Schmied ein geeigneter Gegenstand. Er ersetzt die Partizipation an einer positiven Religion durch die Gemeinschaftlichkeit ihrer Entbehrung. So wendet sich der siegreiche Dulder Wieland am Schluss pathetisch an „[s]eine Brüder“: „Nichts bleibt von dir und deiner Macht“, ruft er seinem Unterdrücker und Folterer, dem König Neiding, zu, „als die Kunde von der Rache eines freien Schmiedes, und dem Ende seiner Knechtschaft“ (l. c., 206). Im gleichen Sinn negativ war aber von Beginn an auch ein anderes Sujet, an dem Wagner seit 1848 arbeitete: Der Prosaentwurf vom Oktober trug den Titel Die Nibelungensage (Mythus) und wurde später unter dem Titel Der NibelungenMythus. Als Entwurf zu einem Drama veröffentlicht (SSD II, 156–166). In Zukunftsmusik stellt Wagner den inneren Zusammenhang zwischen der Idee zu einem „großen Nibelungen-Drama“ und den kunsttheoretischen Schriften selbst heraus („daß meine Theorie fast nichts anderes als ein abstrakter Ausdruck des in mir sich bildenden künstlerisch-produktiven Prozesses war“ [VII, 118]). Vorausgegangen war ihm (im Sommer 1848) die Skizze Die Wibelungen. Weltgeschichte aus der Sage (SSD II, 115-155; vgl. auch den Entwurf zu einem Drama Friedrich I. in SSD XI, 270 ff.). Obwohl auf verworrene Weise mit der romantischen (schon bei Novalis, aber in den 40er Jahren auch bei Bettina von Arnim beschworenen) Idee eines ‚Volkskönigtums‘ (des wiederkehrenden Friedrich Barbarossa) verquickt, ist diese weltgeschichtliche Phantasie doch sehr charakteristisch für Wagners Denken in dieser Zeit. So zeigt es die dominante Rolle, die das Legitimationsproblem in den mythologischen Überlegungen spielt. Den Hort – ein Name, dessen etymologische Nähe zum ‚Garten‘, jenem umfriedeten Bezirk einer vorgeschichtlichen Existenz der vereinigten Menschheit, zusätzliche Assozia12 tionen bereitstellte (vgl. SW II/2, 157 f.) – fasst Wagner als die materialisierte Form der universellen politischen Legitimation eines Stammkönigtums: Die Stammsage der Nibelungen (oder Wibelungen) leite sich auf die Erinnerung an 13 einen göttlichen Urvater (Siegfried [SSD IV, 311 ff.] , Christus, Herakles, Ae12 Z. B. zu Asgard, zu Eden, zu Persephones Burg. 13 Wie dicht „Siegfried“ und „Friedrich der Rotbart“ damals in „[s]einer dichterischen Phantasie“ beisammen lagen, berichtet Wagner in Eine Mitteilung an meine Freunde (von 1851 [SSD IV, 311 [ff.]).

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neas) des Geschlechtes zurück, dessen Priester – nach der Patriarchalverfassung – ungeteilt über die königliche und die priesterliche Herrschaft verfügt habe, also in einer und derselben Geste „tatsächliche“ Herrschaft über die Welt und die „ideelle Rechtfertigung“ derselben (SSD II, 142 ff., bes. 145). Herrschaft stand in Abhängigkeit von einer gemeinschaftlich (sozusagen urdemokratisch) akzeptierten „Urberechtigung“, ohne die sie zur Gewalt verkommen wäre. Der „Hort“ wäre demnach – ähnlich dem „heiligen Gral" (l. c., 150 f.) – so etwas wie eine „anspruchsrechtfertigende“ Instanz gewesen (vgl. l. c., 129 f., 130, 134, 137, 139, 141 ff.), die erst in der Stunde des Erlöschens überweltlicher Legitimationsreserven für politische Herrschaft zum „realen Besitz", zum „Eigentume", sich pervertierte (l. c., 153). Von nun an muss nicht mehr „geistliche“ oder „ideelle Berechtigung“ – die an der „Tugend“ der Herrschenden und an sozialen Verbindlichkeiten Maß nahm (l. c., 152 f.) – die Herrschaft über die Welt legitimieren; sondern der erbliche Besitz als solcher wird zum exklusiven Legitimationsersatz der Machtausübung des Eigentümers, wie dies in den plutokratischen Systemen der modernen kapitalistischen Staaten sinnenfällig vor Augen trete: Das „arme Volk" aber träume vom Advent einer gemeinschaftlichen neuen Religion, die den Einzelnen von der Herrschaft durch die leblose Sache wieder befreit und „die hierauf sich gründende immer tiefere Entwertung des Menschen, gegen die immer steigende Hochschätzung des Besitzes“ rückgängig macht (l. c., 154 f.). Eine ganz andere Funktion hat der „Hort“ im Entwurf des NibelungenDramas (vom Oktober 1848), obwohl auch hier die Ächtung des ‚erblich‘ gewordenen, im toten ‚Besitz‘ versteinerten Eigentums eine überragende Rolle spielt. „Der Welt Erbe/ gewänne zu eigen,/ wer aus dem Rheingold/ schüfe den Ring,/ der maßlose Macht ihm verlieh‘“, verrät Wellgunde dem Alberich im Rheingold (SSD V, 210 f.). Alberich lockt Hagen, den durch „des Goldes Gunst“, ‚Zwang‘ und bare ‚Bewältigung‘ der Gibichungen-Mutter gezeugten Sohn (VI, 43; vgl. 184), in der Götterdämmerung mit dem Worten: „Ich – und du:/ wir erben die Welt“ (VI, 210). Und selbst Siegfried und Brünnhilde kleben an einem im Voraus sie entfremdenden Besitzdenken, wenn sie in höchster Liebesekstase und in einem (bei Wagner fast stets verdächtigen Unisono) eins vom anderen singen: „Sie [er] ist mir ewig,/ sie [er] ist mir immer/ erb’ und eigen“ (Siegfried, l. c., 176). Auch dass Brünnhilde, von Waltraute, und später Siegfried, von den Rheintöchtern gewarnt, den Ring nicht abgegeben wollen, den Ehe-Vertrag mit freier Liebe verwechselnd, ist Zeichen einer Verwechslung von realem Besitz und ideeller Berechtigung. So wie Wagner die Geschwisterliebe (von Fricka als „Blutschande“ angeprangert) – als naturgewollt – verteidigt (Walküre, l. c., 26 f.; vgl. die Verteidigung des Inzests zwischen Iokaste und Ödipus in Oper und Drama als Ausdruck „unwillkürliche[r] Gefühl“, als naturgewollt und damit gerechtigt [SSD IV, 55 ff.]), so stellt sich die nach dem Gesetz der Sippentreue zwangsverheiratete Sieglinde als Hundings Eigentum vor: „Dies Haus und dies Weib/ sind Hundings Eigen“ [l. c., 3]). Von hier fällt ein ungünstiges Licht auch auf den Ausdruck ‚Treue‘: „Unheilig/ acht’ ich den Eid,/ der Unliebende eint“, hält Wotan Fricka entgegen (l. c., 26), die Siegmunds und Sieglindes Blutschande als die

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‚zuchtlose Frucht deiner Untreue‘ bezeichnet: „O was klag’ ich/ um Ehe und Eid,/ da zuerst du selbst sie versehrt!“ (l. c., 29). Und tatsächlich träumt Wotan von der Frucht der Geschwister-Verbindung als einem „Held[en],/ der, ledig vom Göttergesetz:/ so nur taugt er/ zu wirken die Tat,/ die, wie not sie den Göttern,/ dem Gott doch zu wirken verwehrt“ (l. c., 32). Freilich: Wotan kann Fricka nicht blenden: Sie durchschaut seine Freiheitsliebe als fortgehende Manipulation von Marionetten, die nur scheinbar frei sind vom Göttergesetz, aber im Stillen einzig Wotans Willen betreiben (so Fricka l. c., 32-34; vgl. Wotan selbst: 39-41). Dass ‚treu‘ eine schlimme Eigenschaft sein kann, zeigt auch das Treue-Schwert, das der als Gunther getarnte Siegfried zwischen sich und die wie ein Tier erbeutete Brünnhilde legt (Götterdämmerung: „Nun, Notung, zeuge du/ dass ich in Züchten warb:/ Die Treue wahrend dem Bruder,/ trenne mich von seinem Weib“ [l. c., 208. Kursiv von mir]). Zur ‚Treue‘ schließlich mahnt der „schlimme Albe“ seinen nächtlichen Sohn Hagen: „Sei treu’ – treu!“ (l. c., 212). Zur Treue gehört der Schwur (l. c.), der an das schauerliche Blutsbrüderschafts-Unisono zwischen Siegfried und Gunther erinnert: „So – biet’ ich den Bund:/ so – trink’ ich dir Treu‘!“ (l. c., 196 f.) – ein Vertragsschluss, in dessen Beginn misstönig-schauerlich Wotans Speer-/Gesetzes-Motiv hereindröhnt. Bitter brütend will Wotan „der Götter nichtigen Glanz“ Alberich „zum Erbe“ geben (SSD VI, 43) – zu welcher heroischen Tat er allerdings ohnehin keine Alternative hat, als er – in ohnmächtigem Theater-Pathos – nur noch „das Ende“ zu wollen behauptet, gleich aber realistisch hinzufügt: „Und für das Ende/ Sorgt Alberich!“ (VI, 42). Erst in Brünnhildes Schlussgesang wird der Ausdruck ‚Erbe‘ von seiner BesitzKonnotation gereinigt: indem es nämlich tatsächlich zurückgegeben wird: „Mein Erbe nun/ nehm’ ich zu eigen. – / Verfluchter Reif!/ Furchtbarer Ring!/ Dein Gold faß’ ich/ und geb’ es nun fort“ (Götterdämmerung, l. c., 253). Dies Weggeben des Erbes ist die wahre Tat der Liebe, nicht sein fetischistischer Gebrauch als 14 Vertragssymbol (Trauring). Die Liebe, die Wagner ganz auf die Seite der „reine[n] menschliche[n] Natur“ oder des „Reinmenschliche[n]" stellt, ist damit schroff „gegen den politisch-juristischen Formalismus“ opponiert (SSD IV, 318), der seinen gewalttätigsten Ausdruck im Zwangsinstrument des „Staats“ findet (verkörpert durch Laios und Kreon). Am deutlichsten hat sich Wagner darüber in seiner Ödipus- und Antigone-Interpretation (Oper und Drama [IV, 55-67]) aus-

14 In der Parallelfassung der Götterdämmerung, die Wagner nur privat für Ludwig II. vertont hat, ist Brünnhildes Widerruf des Besitz- und Assekuranz-Anspruchs in der Liebe noch deutlicher: „Nicht Gut, nicht Gold,/ noch göttliche Pracht;/ nicht Haus, nicht Hof,/ noch herrischer Prunk;/ nicht trüber Verträge/ trügender Bund,/ nicht heuchelnder Sitte/ hartes Gesetz:/ selig in Lust und Leid/ läßt – die Liebe nur sein. –“ (SSD VI, 255). Wagner interpretiert die Stelle in seinem Brief an Röckel vom 23. August 1856 als eine misslungene Utopie. Er spricht von „der tendenziösen Schlußphrase, welche Brünnhilde an die Umstehenden richtet, und, von der Verwerflichkeit des Besitzes ab, auf die einzig beseligende Liebe verweist, ohne (leider!) eigentlich mit der ‚Liebe‘ selbst recht in’s Reine zu kommen, die wir, im Verlaufe des Mythos, eigentlich doch als recht gründlich verheerend auftreten sahen“.

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gesprochen, wo die rein-menschliche Heldin die ‚liebende Vernichterin des Staates‘, die Wegbereiterin seines Absterbens, genannt wird (l. c., 62 ff.). Auch in einem anderen Dramen-Entwurf der Zeit, in Jesus von Nazareth, erscheint die Liebe als Widersacherin des Gesetzes, auch der „Ehe", die als die „verfestigte“ Vertrags- oder Gesetzesform der rein-menschlichen „Liebe“ geächtet wird (XI, 287 ff.; bes. 289 f.). Ehe hat mit ‚Zwang‘, „Macht, Herrschaft“, auch mit Besitz und Angst vor dessen Verlust zu tun – wie der auf dem „Eigentum“ gründende Staat als Einrichtung der besitzenden Klassen (l. c., 288). Das ist ein Gedanke, den Wagner zweifellos bei Bakunin aufgelesen hat. Er zitiert ihn mit den Worten, „der einzige Genuß des Lebens [könne] menschenwürdig allein in der Liebe bestehen“ (Wagner 1911 I, 460). „Die Liebe“, notiert er anderswo, „ist frei“ (Jesus von Nazareth [SSD XI, 292,5]]), so wie es die Ehe ist – oder vielmehr sein soll (IV, 50, 73; vgl I, 456, 460). Am Schluss der 1856er Fassung der Götterdämmerung singt Brünnhilde: „Trauernder Liebe/ tiefstes Leiden/ schloß die Augen mir auf“ (SSD VI, 256). Damit sind die Triebfedern freigelegt, die schon dem ersten Entwurf des Nibelungen-Dramas seine anarchistische Dynamik verliehen. Indem Alberich das natürliche Rheingold an sich reißt, und zum Macht-Instrument (zum GeldSymbol) umschmiedet, kommt das Streben nach „Herrschaft über die Welt und alles in ihr Enthaltene“ in dieselbe (SSD II, 156). Auch Wotans jugendliche Liebe ist unter die Fuchtel seines Macht- und Besitzstrebens geraten (SSD VI, 37); fortan zehrt ihn die Sorge um den Erhalt von Burg und Gold. So verliert der „Hort“, der im Wibelungen-Essay noch ein Herrschafts-Beglaubiger war, seine Heiligkeit und wird zur Ursache eines untilgbaren, vom einen Besitzer auf den anderen übertragenen „Unrechts“ (158). An ihm klebt der ‚Fluch‘ des ersten Beraubten (II, 157). Die Herrschaft der ersten Räuber, der Götter, ist selbst auf Unrecht gegründet; und sie können es „nicht tilgen, ohne neues Unrecht zu begehen“ (158): [...] der Friede, durch den sie zur Herrschaft gelangten, gründet sich nicht auf Versöhnung: er ist durch Gewalt und List vollbracht. Die Absicht ihrer höheren Weltordnung ist sittliches Bewußtsein: das Unrecht, das sie verfolgen, haftet aber an ihnen selbst. Aus den Tiefen Nibelheims grollt ihnen das Bewußtsein ihrer Schuld entgegen (157).

In Oper und Drama wird geradezu der „Frevel des Mythos“ (hier: des ÖdipusMythos) darin gesehen, dass er – als Seismograph der Ermächtigungsgeschichte „des Staats“ – reinmenschliche Gefühle und Verhältnisse in Gesetz- und Herrschaftsbeziehungen verzerrt (SSD IV, 65): Die Symmetrie von Natur freier Liebesbeziehungen weicht einem unnatürlichen Druck „von oben herab“ (51), der etwas mit der Herrschafts- und Eigentumsordnung zu tun hat, durch den der Staat die Besitzenden vor den Ansprüchen der – im Wagner’schen Wortsinne – Enterbten schützt. Eteokles geriert sich wie Kreon als ein „oberster Eigentümer“, und die oberste Aufgabe der Politik ist der Schutz vor Eidbruch („die eidbruchschützende Stadt“ [59]).

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Götterschuld und Weltenende „Nur ein, von den Göttern selbst unabhängiger, freier Wille“ (SSD II, 158) könnte leisten, was Kafka „das Hinausspringen aus der ‚Totschlägerreihe‘“ (Kafka 1951, 563 f.) genannt hat: Siegfried, der von Wotan als rettender Enkel erschaf15 fene ‚reinmenschliche‘ Held (SSD IV, 318, 290, 331 passim), der an Herrschaft und Überwältigung nicht interessiert ist, dessen Handlungsmotive Freiheit und Liebe sind, der „schuldlos die Schuld der Götter übernommen [hat]“, dessen trotzige „Selbständigkeit“ sich aber an der umsichtig eingefädelten Intrige der Gibichungen (mit Hagen als Alberichs Sohn) bricht (163). Während Wotan, von Alberichs Fluch betroffen, „dem Tode verfallen“ und ‚von Furcht gefesselt‘ ist (SSD V, 254), ist Siegfried, der „Liebesfrohe“, einer, dem die „Furcht [...] fremd bleibt“ (VI, 156, 210 f.; schon Alberich kennt übrigens die „Angst“ als Erbteil des Liebesfluchs: V, 253). Durchgängig hat Wagner die Furchtlosigkeit als Eigenschaft der Liebe gezeichnet (Dahlhaus 1971, 99 f.), so im Jesus-Drama: „Furcht ist nicht in der Liebe, sondern die völlige Liebe treibet die Furcht aus, denn die Furcht hat Pein. Wer sich aber fürchtet, der ist nicht völlig in der Liebe" (SSD XI, 312). Sogar am Leben hängt Siegfried nicht. Als völlig verfehlte Begründung (durch ein „denn“ eingeleitet) für seine trotzige Weigerung, den Rheintöchtern den Ring zurückzugeben, sagt er: „Denn Leben und Leib/ – sollt’ ohne Lieb’/ in der Furcht Bande/ bang ich sie fesseln –/ Leben und Leib –/ seht! – so/ werf’ ich sie weit von mir! (Er hat eine Erdscholle vom Boden aufgehoben und mit den letzten Worten sie über sein Haupt hinter sich geworfen.)“ (SSD VI, 238). Hier, da Furcht einmal mit Einsicht und Klugheit zusammengefallen wäre, zeigt sich Furchtlosigkeit im schlimmen Sinne als Torheit! – Ohnehin benimmt sich Siegfried den Nixen gegenüber wie ein Freier, gerade wie Alberich am Anfang („ich geb’ ihn euch, gönnt ihr mir Lust“); und später wie ein bei NotzuchtsWünschen ertappter Ehespießer: „Und doch –/ trüg’ ich nicht Gutrun’ Treu’,/ der zieren Frauen eine/ hätt’ ich mir frisch gezähmt!“ (l. c, 239) – ein neuer Beleg für die grundnegative Konnotation der Treue im Ring. Umgekehrt sät Wotan Furcht durch die Macht seiner Verträge, deren ‚Bande‘ er selbst ‚trügend‘ nennt, da sie ihn ihrerseits vor den Rechtsansprüchen der von ihm Betrogenen zu schützen haben (vgl. Die Walküre, SSD VI, 37 ff.). „Wer meines Speeres/ Spitze fürchtet,/ durchschreite das Feuer nie!“ (l. c., 84). Siegfried allein muss sie nicht fürchten; und Wotan, dessen Speer er in Stücke geschlagen hat, kann ihn nicht mehr halten (Siegfried, l. c., 163). So erfüllt Wotan Brünnhil15 Zur Rede von dem „von aller Konvention losgelöste[n] Reinmenschlichen" vgl. vor allem Eine Mitteilung an meine Freunde. „Die herrliche Gestalt des Siegfried“ erscheint dort als „der wahre Mensch überhaupt“ (SSD IV, 312). Diese Bestimmungen gehen aber nicht zu Lasten Brünnhildes. In seinem langen Brief an Röckel vom 25./26. Januar 1854 schreibt Wagner: „Siegfried allein (der Mann allein) ist nicht der vollkommene ‚Mensch‘: er ist nur die Hälfte, erst mit Brünnhilde wird er zum Erlöser.“ „Allein der wirkliche Mensch ist Mann und Weib, und nur in der Vereinigung von Mann und Weib existiert erst der wirkliche Mensch.“ „Erst diese Vereinigung von Mann und Weib, erst die Liebe also erzeugt (sinnlich und metaphysisch) den Menschen.“

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de doch den kniefällig vorgetragenen Erlösungs-Wunsch, den er zunächst ihr abzuschlagen scheint (Walküre, l. c., 81 f.): nur durch den „furchtlos/ freieste[n] Held“ auf dem Felsen einst gefunden zu werden. Er erfüllt sich damit freilich nur seinen eigenen tiefsten Wunsch, denn Brünnhilde ist ja nur „Wotans Willen“ (VI, 37; vgl. 34 u. 44). Fricka fragt Wotan, was der Name ‚Walhall‘ bedeute. Wotan antwortet: „Was, mächtig der Furcht,/ mein Mut mir erfand,/ wenn siegend es lebt –/ leg’ es den Sinn dir dar!“ (SSD V, 267). Walhall: das unnatürliche Bollwerk gegen die Furcht. Vorgedeutet wird in diesen dunkel-verquälten Versen auf den furcht-freien Wälsung Siegfried (das bei diesen Worten erklingende Schwertmotiv verrät es), aber auch das Hilfsheer der Walküren. Wotan selbst muss sich auch in und trotz Walhall fürchten. Im ersten Entwurf des Dramas (von 1848) gelingt die Erlösung der Götter, allen voran Wotans. Siegfrieds Tod erlöst – in merkwürdiger Verkehrung des Opfertodes Christi – den auf den Göttern lastenden Fluch. „Hört denn“, ruft Brünnhilde, „ihr herrlichen Götter, euer Unrecht ist getilgt: dankt ihm, dem Helden, der eure Schuld auf sich nahm“ (SSD II, 166). In der ausgeführten Dichtung von Siegfrieds Tod (Oktober/November 1848) sollten durch Siegfrieds Opfertod selbst die Nibelungen von ihrer „Knechtschaft“ befreit werden. „Nur einer“ soll herrschen: „Allvater! Herrlicher du“ (l. c., 227). Siegfried ist depotenziert zum „Bürgen ewiger Macht“ der Götter. So ist Wotans (pars pro toto für die Götter-)Macht nicht ultimativ diskreditiert, sondern durch den Tod der Menschen neu befestigt. In der Endfassung (im Frühjahr 1853 zuerst als Privatdruck erschienen) tritt statt dessen die Götterdämmerung ein: Mit Siegfried (und Brünnhilde selbst) verbrennen in Loges Feuerbrand (oder ertrinken im Wasser des über die Ufer tretenden Rheins) Zwerge, Riesen (sofern sie nicht schon erschlagen sind), Götter und Menschen ohne Unterschied (obwohl ein vom Regietheater ausgeschlachtetes Publikum – wir Zuschauer und Zuhörer? – das Spektabel „in sprachloser Erschütterung“ anschaut [SSD VI, 256]). Das ist die konsequentere Version. Sie allein entspricht der gnadenlosen Logik der „Totschlägerreihe“, nach der der Ring des Nibelungen gearbeitet ist: Der jeweilige Besitzer des Rings, der ‚maßlose Macht‘ verleiht, ist immer der nächste Todeskandidat. Seine Mörder formieren sich hinter seinem Rükken, um ihm die Macht zu entreißen, die sie selbst nur für kurze Zeit verwalten dürfen. So rächt sich die Schuld, die am „Raub des Rheingoldes“ (Wagner 1930, 16 213–229; Frank 2005, 102-122) klebt. Sie wird erst gesühnt durch den Tod des 16 So der Titel des Vorspiels im großen Prosaentwurf vom Frühjahr (vom 23. März bis 26. Mai) 1852. Übrigens: Nicht Alberich ist der Räuber, sondern Wotan. Alberich hat mit dem Verlust der Liebesfähigkeit seinen Preis fair entrichtet. Wotan sagt er ganz richtig: „Hüte dich,/ herrischer Gott!/ Frevelte ich,/ so frevelt’ ich frei an mir:/ doch an allem, was war,/ ist und wird,/ frevelst, Ewiger, du,/ entreißt du frech mir den Ring“ (SSD V, 253) Wotan war es, der Alberichs Gold geraubt hat und als Gesetzeshüter und Verträge-Schützer hinfort Alberichs berechtigte Rache zu fürchten hat. Wotan rechtfertigt den Raub wie ein Mafia-Boss, als den ihn die Stuttgarter Inszenierung auch darstellt: „Dein eigen nenn’st du den Ring?/ Rasest du schamloser Albe?/ Nüchtern

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letzten Besitzers. Wenn Hagen, Alberichs Sohns, in den überbordenden Fluten des Rheins ertrinkt, entzaubert sich das fluchbeladene Metall. Es legt seine Gewalttaten-trächtige Präge-Form als ‚Ring‘ (und Geld-Symbol) ab und wird wieder, was es war: natürliches Mineral, „Riff“-Gold im Flussgrund (l. c. 215 f., 104 f.). Aber vor allem die Götter – und ihr Repräsentant Wotan – sind tief in den Schuldzusammenhang verstrickt. Ja von Wotan nimmt die Totschlägerreihe ihren Ausgang. Das konnte darum so oft übersehen werden, weil Generationen leicht zu täuschender Liebhaber des Ring nicht das Drama der Exekution gesellschaftsrechtfertigender Mächte, sondern eine Verherrlichung des ‚Lichtalben‘ darin sehen wollten, so wie sie im Sujet dieses Anti-Mythos nichts als die Glorifika17 tion des Germanischen erkennen konnten. Wagner hat dem regelmäßig Vorschub geleistet und damit die biographistische Ring-Deutung, die nicht zuerst von der Semantik des Werks ausging, ermutigt. Schon im frühen Briefwechsel mit Röckel sieht er im wandernden Wotan „nur noch ein[en] abgeschiedene[n] Geist“: ein Symbol seiner eigenen ziel- und tatunfähig gewordenen Generation von Intellektuellen, die nach einem befreienden Siegfried schmachte (25./26. Januar 1854). Den Hut tief ins Gesicht gedrückt, wie es „so [...] Wandrers Weise

sag’,/ wem entnahmst du das Gold,/ daraus du den schimmernden schuf’st?/ Wär’s dein eigen,/ was du Arger/ der Wassertiefe entwandtest?“ (252). Wotans Argument ist schon darum inkonsistent, weil er bei mehreren Gelegenheiten ablehnt, den Rheintöchtern ihren Besitz – der kein Besitz im privativen Sinne ist: Alberich besitzt legal den Ring – zurückzuerstatten (226, 268, passim). 17 Einige Zeitgenossen haben sich jedenfalls nicht darüber getäuscht, dass ihnen hier kein germanisierendes Nationalkunstwerk geboten wurde, so Ludwig Speidel, der nach der ersten Bayreuther Ring-Aufführung am 15. Oktober 1876 im Wiener Fremdenblatt schrieb: „Wir möchten aber wohl wissen, was an Wagners Textbuch ‚Der Ring des Nibelungen‘ national ist?“ Das deutsche Volk habe mit dieser Affenschande nichts gemein, „und sollte es an dem falsche Golde des ‚Nibelungen-Ringes‘ einmal wahrhaftes Wohlgefallen finden, so wäre es durch diese bloße Tatsache ausgestrichen aus der Reihe der Kulturvölker des Abendlandes“ (zit. Gregor-Dellin 1991, 725 f.). Es ging wohl anders: Die Nationalen hatten sich aus dem Konzert der Kulturvölker ausgestrichen. Es fällt in diesem Zusammenhang schwer, nicht an Nietzsche zu denken, der im Fall Wagner hämisch, ja widerlich Wagners ‚Deutschtum‘ bestreitet und ihm seine womöglich jüdische Abkunft (von seinem Stiefvater, dem Schauspieler Ludwig Geyer) vorhält, und zwar unter Benutzung eines gängigen Vorurteils gegen jüdische Künstler, dass sie nämlich wie Schmarotzer im Mark des deutschen Volkskörpers hausen und ihm ihre Substanz entnehmen: „War Wagner überhaupt ein Deutscher? Man hat einige Gründe, so zu fragen. Es ist schwer, in ihm irgend einen deutschen Zug ausfindig zu machen. Er hat, als der große Lerner, der er war, viel Deutsches nachmachen gelernt – das ist Alles. Sein Wesen selbst widerspricht dem, was bisher als deutsch empfunden wurde: nicht zu reden vom deutschen Musiker! – Sein Vater war ein Schauspieler Namens Geyer. Ein Geyer ist beinahe ein Adler [‚Adler‘ war ein häufiger jüdischer Familienname: Katz 1985, 195]... Das, was bisher als ‚Leben Wagner’s‘ in Umlauf gebracht ist, ist fable convenue, wenn nicht Schlimmeres. Ich bekenne mein Misstrauen gegen jeden Punkt, der bloss durch Wagner selbst bezeugt ist. Er hatte nicht Stolz genug zu irgend einer Wahrheit über sich. Niemand war weniger stolz; er blieb, ganz wie Victor Hugo, auch im Biographischen sich treu, – er blieb Schauspieler“ (Nietzsche 1988 6, 41, Anm.; vgl. dazu Newman 1933, Bd. 1, 5-10; Scholz 2000, 30 ff.; 50 ff.).

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[ist],/ wenn dem Wind entgegen er geht“ (Siegfried, SSD VI, 160), gleicht Wotan 18 manchen Fotographien oder Porträts seines Schöpfers. Aber nur dessen sentimentale biographische Einfühlung lässt Wotan zu jener hohlen Größe aufschwellen, die zuweilen bis zur Identifikation reicht (so, wenn er der Sängerin Amalie Materna seine Fotographie mit der Widmung „Seiner Brünnhilde / WagnerWotan“ widmet [Geck 1993, 310]). Den Selbstbetrug in solcher Einfühlung entlarvt Fontanes Bosheit treffend: „Er ist ganz Wotan, der Geld und Macht haben, aber auf ‚Lübe‘ nicht verzichten will und zu diesem Zwecke beständig mogelt“ (Gregor-Dellin 1991, 360). Ganz verfehlt (wenn auch typisch noch im Fehlgriff) war darum Chamberlains Idee, die ganze Trilogie Wotan zu nennen (Chamberlain 1892; 1910; Cosima Wagner & Houston Stewart Chamberlain 1934, 297). Nein, die Blutspur, welche die Totschlägerreihe durchzieht, nimmt nirgendwo anders als bei Wotan ihren Ausgang. Von „Unrecht“, „Frevel“ und „Schuld“ spricht im Blick auf ihn klar schon der erste Entwurf. Längst bevor den Rheintöchtern – oder ihrem „Vater“, dessen Gestalt dunkel bleibt (vgl. SSD V, 211; Der Raub des Rheingoldes, 215) – das Gold geraubt wurde, hatte Wotan vom Quell der Weltesche getrunken und einen Ast von ihrem Stamm gerissen – worauf der Quell versiegte, die Esche ausdorrte und für die Flammen des Weltenbrandes anfällig wurde (SSD VI, 104, 179 [ff.]). Aus dem Ast ist Wotans Speer gearbeitet: zum Schutze der Gesetze und Verträge, in deren Schlinge sich sein freier Wille spätestens in der Walküre verfängt (VI, 36). Wie stets bei Wagner sind die semantischen Sphären von ‚Freiheit‘ und ‚Natur‘ denen von ‚Vertrag‘, ‚Treue‘, ‚Eigentum‘ und ‚Gesetz‘ direkt entgegengesetzt. Auch das von Wotan der Weltesche eingerammte Schwert wird dem Baum schwerlich gut tun (VI, 12 f., 14 f., 21): Es ist das Werkzeug von Wotans listiger Selbstbefreiungsstrategie aus den selbstverhängten Vertragsverpflichtungen (VI, 37 ff.). Wotans Trank geschah 19 – in der Worten der ersten Norn – um der „Weisheit“ willen (VI, 178), die aber – wie der Fortgang zeigt – der Natur zu ihrem Schaden entwendet wurde und als know how des Staatenlenkers und Vertragsherrn ihr geradezu entgegenarbeitet. Wotans Weisheit befasst ein der Natur nicht förderliches, sondern ein Naturbeherrschungs-Wissen. „In langer Zeiten Lauf/ zehrte die Wunde den Wald;/ falb fielen die Blätter,/ dürr darbte der Baum;/ traurig versiegte/ des Quelles Trank“ (VI, 178 f.; vgl. schon Wotans Auskunft in der Wissenswetten-Szene aus Siegfried: „Aus der Welt-Esche/ weihlichstem Aste/ schuf er sich einen Schaft:/ dorrt der Stamm,/ nie verdirbt doch der Speer!“ [VI, 104]). Der Speer ist inzwischen von Siegfried in Trümmer zerschlagen, die Verträge haben ihre bindende und

18 „Richard Wagner war ‚mit einem ungeheuren Hute auf dem großen Schädel‘ ausgegangen. Es war sein Wotanshut“(Gregor-Dellin 1991, 589). 19 Wotan bezahlt die Schändung der Weltesche mit dem Verlust seines rechten Auges. Im Rheingold tat er das angeblich, um Fricka „als Weib zu gewinnen“ (SSD V, 216). Aber besteht nicht zwischen Frickas Ehe- und Treue-Runen und dem abgerissenen Ast der Weltesche (dem Verträge schützenden Speer) einer tiefer innerer Zusammenhang? Die Tragödie der Wälsungen und der Brünnhilde in der Walküre bringt ihn schaurig zur Anschauung.

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schützende Kraft verloren, auch Loge ist der Botmäßigkeit gegenüber Wotan entglitten und schickt sich an, die in Walhall aufgeschichteten Scheiter in Brand zu setzen (VI, 179 f.). Auch Sieglinde weiß das, wenn sie zu Siegmund sagt: „du fällst –/ in Stücken zerstaucht das Schwert: –/ die Esche stürzt –/ es bricht der Stamm!“ (VI, 48). Die Agonie der geschändeten und zerstörten Natur beginnt also nicht mit Alberichs Liebesverzicht, sondern im kalten Herzen Wotans, der ja nicht minder zugunsten der ‚Macht‘ auf die ‚Liebe‘ verzichtet (VI, 37; „liebelos“ nennt ihn gleich zweimal Fricka im Rheingold, V, 215 f.) Das Verhängnis des Weltenbrandes reicht also viel weiter zurück als der (Wotan’sche) Raub des Rheingoldes und der Bau Walhalls. Ihr Ursprung ist Wotans Entweihung der Weltesche. Er und niemand sonst ist für alles Folgende verantwortlich. Darauf deutet Wagners dunkle Rede von der „Hauptkatastrophe des Mythos“ (im Brief an Theodor Uhlig vom 12. Nov. 1851 [Wagner 1976 9.1, 58]). Mit Recht sagt Dahlhaus: „Die Götter der Ring-Tetralogie sind Götter im Untergang, und zwar von Anfang an. Der Glanz, der von Walhall ausgeht, ist ein Trug, den die Musik bewirkt, solange man sie ungenau hört. Und der germanische Göttermythos, von dem es scheint, als habe ihn Wagner für das Bewusstsein des späten 19. und 20. Jahrhunderts wiederhergestellt, rückt in ein Zwielicht“ (Dahlhaus 1971, 110). Im gleichen Sinne schrieb Wagner an Röckel (25./26. 1. 1854): „Nicht [...] daß Alberich von den Rheintöchtern abgestoßen wurde [...], ist der entscheidende Quell des Unheils; Alberich und sein Ring konnten den Göttern nichts schaden, wenn diese nicht bereits für das Unheil empfänglich waren.“ Und noch in Cosimas Tagebüchern wird das Rheingold als „Bauernprozeß“ bezeichnet, das mit „zwingende[r] Notwendigkeit“ „Wotan’s Schuld und Verhängnis“ zeige (Eintrag vom 12. Dezember 1870). Wenn es dessen bedürfte, so müsste uns Wagners Musik in dieser Deutung bestärken. Schließlich ist das Walhall-Motiv aus dem des Rings entwickelt: Es ist dessen ins Diatonische geschönte chromatische Fassung (Donington 1976, 40; Dahlhaus 1971, 108 ff.), unmerklich gemacht durch die Kunst der feinsten Übergänge. Zwischen den Szenen Auf dem Grunde des Rheines und Freie Gegend auf Bergeshöhen vermittelt zunächst ein Wirbel unruhiger Noten, überlagert vom Gram-Motiv („Wehe, ach wehe“) und dem Liebesversagungs-Motiv („Nur wer der Minne Macht versagt“). Darauf folgt das Ring-Motiv, ambivalent wie stets, doch in einer ziemlich strahlenden Fassung, die allmählich ins Walhall-Motiv hinübervariiert wird, als dessen pseudo-erhabener Zielpunkt sie stehen bleibt. Walhall ist ja nicht Symbol von Wotans Größe, sondern seiner kleinlichen Furcht vor dem Eingeholtwerden durch seine Ausgangsschuld – Symbol auch der Ersetzung von Liebe durch Macht (Fricka, die ihm Machtgier als Baumotiv unterstellt, antwortet Wotan: „Um des Gatten Reue beorgt,/ muß traurig ich wohl sinnen,/ wie an mich er zu fesseln“ [SSD V, 215]). Schließlich ist Walhall Eigentum: anderen (den Riesen) schuldig gebliebener ‚realer Besitz‘. So ist es errichtet als unfreiwilliges Mahnmal einer nicht (oder nur durch den erklärten GötterBankerott) zu tilgenden Schuld: „bis denn der Verlauf der Zeit das trübselige Ex-

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empel einmal ausrechnen und das schreckliche Fazit mit blutiger Feder durch20 streichen wird“ (TS 24, 176). Auch die Cinemascope-Szene: das Schreiten der Götter über die RegenbogenBrücke, ist völlig ungeeignet, ihre Erbärmlichkeit in Erhabenheit zu münzen. Man muss sich das gruselige Szenario vergegenwärtigen: Während unten die Rheintöchter den Verlust des Goldes beklagen (und Wotan mit unüberbietbarer Scheinheiligkeit fragt: „was klagen die frauen?“ [Der Raub des Rheingoldes, 229]), „hat Fafner an der seite seines erschlagenen bruders den Sack vollends mit dem horte gefüllt, über den rücken geworfen und ist so / mit ihm davongegangen“ (l. c., 228 f.). Das hindert die Götter – angeführt von Wotan, der in Patrice Chéreaus Inszenierung die Zögernden mehr ziehen muss, als dass sie freiwillig folgten – nicht, unter Hollywood-Klängen über Donners Regenbogenbrücke zu „schreiten“: Klängen, deren Falschheit Generationen verblendeter Wagner-Fans (darunter die Nazis) überhört haben, weil ihr Gehör selbst falsch programmiert war. Ist es Wagners Schuld, dass das Falsche, das er hier eindrucksvoll bloßgestellt hat, so gut gefällt? 21 Bleibt Wotans ‚großer Gedanke‘ (SSD V, 267). Seine Größe lässt sehr zu wünschen. Im „Entwurf“ von 1848 wird er sehr nüchtern und treffend beim Namen genannt: Selbst unrettbar in unabwendbare Schuld verstrickt, will Wotan zuerst sich selbst durch das Totenheer der gefallenen, von den Walküren zu ihm heimgeführten und ihm dienstbaren „Helden“ schützen (indem er mit Erda – übrigens gewalttätig [SSD VI, 38, 154] –, vielleicht auch mit anderen Frauen (l. c., 29 f.), die Walküren als ihn schützende und seinem Willen blind dienstbare „Wunschmädchen“ [SSD II, 158] erzeugt). „Von göttlichem Samen befruchtet“, blüht ferner das Menschengeschlecht (das der Wälsungen) auf. Auch diese Zeugung geschieht allein in der Absicht, sich aufgrund der menschlichen Unverwickeltheit in den Schuld-Zusammenhang der Gesetze/Verträge selbst zu salvieren. Wotan erzeugt die Wälsungen übrigens mit einer Stamm-Mutter notwendig als Geschwister, so dass der Inzest, den er später (von Fricka nur gemahnt, nicht gezwungen) rächen muss, die Bedingung ihrer Vermehrung als ‚Sippe‘ ist. Wotans Gedanke ist: „nur ein, von den Göttern selbst unabhängiger, freier Wille, der alle Schuld auf sich selbst zu laden und zu büßen imstande ist, kann den Zauber lösen, und in dem Menschen ersehen die Götter die Fähigkeit zu solchem freien Willen“, vor allem in Siegfried, dem „rechte[n] Held[en]“, „in dem die selbständige Kraft zum vollen Bewußtsein gelangen soll, so daß er fähig sei, aus freiem Willen[,] die Todesbüßung vor Augen, seine kühnste Tat sein eigen zu nennen“ (l. c.). Kann man verächtlicher planen? Von Beginn ist Siegfrieds Karriere belastet von einer fremdgesteuerten Finalisierung, die seinen prätendiert ‚freien Willen‘ unter fremde Botmäßigkeit bringt und so entfremdet (SSD VI,

20 Wie Der Alte vom Berge in Tiecks Novelle ganz allgemein über das „Capital“ sagen wird. 21 Das Wie von einem großen Gedanken ergriffen fehlt noch in SSD vor „So – grüß’ ich die Burg/ sicher vor Bang und Grau’n“.

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41). Der freieste Held wird zur Marionette in einer Intrige, deren Akteure Hagen und Brünnhilde sind (Dahlhaus 1971, 92). Als „Kasperl“ bezeichnet Wagner ihn in Cosimas Tagebüchern (Wagner 1982 I, 12). Er, der unabhängige Held, soll tun, woran Wotan als ‚Herr der Verträge‘ ex officio gehindert ist: gesetzwidriganarchisch-furchtlos den Drachen erschlagen und den Ring zurückgewinnen (wohlbemerkt: für den Genuss der Götter). Das heißt man: andere die Kastanien aus dem Feuer holen lassen: „Zu dieser hohen Bestimmung, Tilger ihrer eigenen Schuld zu sein, erziehen nun die Götter den Menschen“ (l. c.). ‚Hohen‘ muss wohl als Wagner’sche Ironie gelesen werden. Als die grausame (den erwählten Helden und sein Leben brutal instrumentalisierende) Intrige misslingt (und Wagner das süße Gift der Universal-Exkulpation aus der Lektüre von Schopenhauers Hauptwerk gesogen hat), wird Wotan altersweise (wie ein Sünder, den auf dem Totenlager fromme Gefühle einholen). Zu Unrecht spricht Wagner von Wotans „tragische[r] Höhe“ (Brief an Röckel vom 25./26. Januar 1854). Sie soll darin bestehen, dass Wotan, seit er einsieht, dass seine kosmologische Intrige zum Scheitern verurteilt ist (und nach der Schopenhauer-Lektüre, die sich Wagner/Wotan seither verordnet haben), ‚seinen Untergang wolle‘ (l. c., vgl. SSD VI, 42: „Auf geb’ ich mein Werk;/ nur eines will ich:/ das Ende –/ das Ende!–/ [...]/ Und für das Ende/ sorgt Alberich! –“ und 156: „Um der Götter Ende/ grämt mich die Angst nicht/ seit mein Wunsch es – will!“). Stimmt; nur hat er zu diesem Willen gar keine Alternative mehr, seit die Fäden seines Welt-Marionetten-Theaters ihm aus den Händen geglitten sind („was frommte mir eig’ner Wille?/ Einen Freien kann ich nicht wollen“ [VI, 43]) und er auch des letzten verborgenen Wunsches, die Herrschaft zu halten, beraubt ist (163: „Zieh hin! Ich kann dich nicht halten!“). Es macht sich indes allemal besser, dem ohnehin Unausweichlichen durch eigenes Wollen zuvorzukommen: „Der Mensch kann alles dadurch adeln [...], daß er es will“ (NS III, 271, Nr. 174).

Wandlungen und Wanderungen des Goldes Wotan ist eben nicht die Hauptgestalt des Ring. Die Natur – als Rheingold – selbst ist es, von der die Handlung ausgeht und zu der sie ringförmig zurückkehrt. Wer das Gold sich ‚aneignet‘, macht es zum Wertträger, der es als natürliches Mineral nicht war: zum Geld. Damit hat er sich als den künftigen Leichnam definiert. Er weiß es nur noch nicht. Darauf beruht die erstaunlich einfache Logik der Handlung. Dem Nibelungen Alberich verrät sich der mögliche Geldcharakter der Metallstufe, welche bis dahin „traulich und treu“ (Der Raub des Rheingoldes, 229; SSD 22 „Nur einer dürfte,/ was ich nicht darf:/ ein Held, dem helfend/ nie ich mich neigte;/ der fremd dem Gott,/ frei seiner Gunst,/ unbewußt,/ ohne Geheiß,/ aus eig’ner Not/ mit der eig’nen Wehr/ schüfe die Tat,/ die ich scheuen muß,/ die nie mein Rat ihm riet,/ wünscht sie auch einzig mein Wunsch –.“

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V, 268) ihren Goldschlaf in des Rheines Tiefen träumte, an dem „blendend hell strahlenden goldglanze“ (215; vgl. SSD V, 209), der mit einem Male aus den Fluten hervorbricht: Im Nu geht ihm das wahre Ziel seines Begehrens auf; die „gleißenden“, „glatten“, „im Schimmer/ [...] hell und schön scheinend[en]“ Leiber der Rheintöchter (SSD V, 209) – was sind sie anderes als die personifizierten Elementargeister des Goldes, die „Geldseele[n]“, wie Marx, unter Anspielung auf die animae aureae der Alchimisten, die im Erglänzen das Geheimnis ihrer Verwertbarkeit preisgeben und deren „metallenes Dasein [...] in allen Gliedern und Bewegungen der bürgerlichen Gesellschaft steckt“ (StA II, 249; vgl. Jung 1972, 340 f., und 394). Die Geldseele erst macht den Wert eines Naturgegenstandes im Wortsinne sichtbar. Der Glanz kommt freilich nicht aus dem Metall selbst. Wie in so vielen romantischen Erzählungen der Epoche spiegelt sich darin das lodernde Begehren nicht der Stein-, sondern der Menschen-Seele. Ist doch der Schein oder Wert einer Sache etwas rein Ideelles, etwas, in das „kein Atom Naturstoff eingeht“, wie Marx sagt (MEW 23, 62). Zur Instrumentierung der Verblendung durch den Gold-Glanz verwendet Wagner ein Motiv aus der Edda: Ägir, der milde Herrscher des Meeres und der alle Schätze, die das Meer birgt, als sein Eigentum betrachtet (ist er es, den die Rheintöchtern ihren „Vater“ nennen?), wohnt in einem prachtvollen Palast, dessen Saal vom Widerschein des Goldes im Wasser wie Feuer erstrahlt. Ran, seine Gemahlin, sinnt jedenfalls auf Unheil, indem sie mit ihren Nixentöchtern die vom Schein des Goldes betörten Seefahrer in Netzen fängt und in die Fluten herabreißt (Donington 1976, 28). Fricka, die Schutzgöttin der kulturell erworbenen und insbesondere der ehelichen Verbindlichkeiten, kennt die archaische Gefahr, die von diesen Naturwesen droht, sehr gut: „Von dem Wassergezücht/ mag ich nichts wissen:/ schon manchen Mann/ – mir zum Leid –/ verlockten sie buhlend im Bad“ (SSD V, 229; im Raub des Rheingoldes nennt Fricka die Nixen „Buhlerinnen“, l. c., 220). Gewinn und Fluch liegen eng beieinander. Einerseits ist der goldene „Hort“ ein Symbol der „Erde mit all’ ihrer Herrlichkeit selbst, die wir beim Anbruche des Tages, beim frohen Leuchten der Sonne als unser Eigentum erkennen und genießen" (SSD II, 133). Auf der anderen Seite kündet der im „Tageslicht“ fürs Menschenauge erschlossene Glanz von einer Möglichkeit, die so lange nicht wahrgenommen wird, wie das Metall seiner Verwertung im Prozess der Zirkulation entzogen bleibt. „Die metallenen Eingeweide der Erde“ (l. c.) sind eben, dem Vermögen nach, auch „Mittel, die Herrschaft zu gewinnen und sich ihrer zu versichern“, insofern in dem Hort „zugleich der Inbegriff aller irdischen Macht“ beschlossen ist (l. c.). „Glaub mir“, sagt Fafner zu seinem Bruder, „mehr als Freia/ frommt das gleißende Gold:/ auch ew’ge Jugend erjagt,/ wer durch Goldes Zauber sie zwingt“ (SSD V, 229). Der Zwang bringt freilich keine Liebe, sondern nur Lust – die Tauschform der Naturkraft Liebe: „durch das Gold“, erwägt Alberich im Raub des Rheingoldes, „gewänn’ ich die welt, und zwäng’ ich nicht liebe den nickern ab, doch zwäng’ ich mir sie zur lust“ (Der Raub des Rheingoldes, 215; vgl. SSD V,

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212: das Los, das der Gibichungen-Mutter Grimhild durch Alberich widerfahren wird [SSD VI, 43]). Und Wotan, der alternde Ehemann, gesteht: „Als junger Liebe/ Lust mir verblich,/ verlangte nach Macht mein Mut“ (SSD VI, 37). Seine scheinheilig ihn um Macht- und Herrschaftsgier schmälende Ehefrau (V, 215) ist nicht frei von solcher Begierde: „Gleiche Gier“, hält ihr Wotan entgegen, „war Fricka wohl fremd,/ als sie selbst um den Bau mich bat?“ (V, 215). Das habe sie nur aus Sorge um seine Gattentreue getan, deren sie ohne Zugeständnisse an seine Herrschaftsgelüste nicht länger sicher sein könne (l. c.). Und später, als Fricka für den BeuteSchmuck sich interessiert, gibt ihr Loge zu bedenken: „Des Gatten Treu’/ ertrotze die Frau,/ trüge sie hold/ den hellen Schmuck“ (l. c., 227). Darauf Fricka „schmeichelnd zu Wotan“: „Gewänne mein Gatte/ wohl sich das Gold?“ (l. c.). Das „frohe Leuchten“ des reinen Naturgebildes kann unmittelbar als Verheißung eines allerhöchstes Wertes, mitteilbar als Verheißung von „Herrschaft“ und „thatsächlichem Besitz“ (SSD II, 152 ff.) gelesen werden. Unschuldige Lust an dem einen ist leicht vertauschbar gegen die Gier nach dem anderen. Das ist’s, was dem Alberich beim Anblick des Goldglanzes im buchstäblichen Sinne einleuchtet. Mit dem Geheimnis der Umwandlung von Natur in Kultur gewinnt er also auch „der Welt Erbe [...] zu eigen“ (SSD V, 212). Eine Bedingung ist allerdings noch daran geknüpft: Wer „maßlose Macht“ (SSD V, 211; VI, 38) erstrebt, muss zuvor das tiefste, das unverbrüchlichste Gesetz der Natur brechen, er muss ‚der Minne Macht versagen, der Liebe Lust verjagen‘ (SSD V, 211, 213, 228), Auch Elis Fröbom in Wagners Opern-Entwurf Die Bergwerke zu Falun (1842) muss sich, um „zum Anblick der hohen Königin [der verkörperten Mineralseele] zu gelangen, [...] alle Liebesgedanken aus dem Sinn schlagen“ (SSD XI, 128) – ein Zug übrigens, den Wagner nicht in E. T. A. Hoffmanns Vorlage antraf. Das Motiv des Liebesverzichts – in Wagners Werk präsent seit der Oper Das Liebesverbot (1834) – wird von zahlreichen romantischen Erzählungen vorweggenommen, in denen das warme Herz um Machtgewinn gegen das kalte Mineral getauscht und damit selbst lieblos-kalt wird (Frank 2005). Herrschaft ist also als Preis auf die Verfluchung des warmen Herzens gesetzt; und sie wird durch Geld erworben und ausgeübt, also durch die Umwandlung des Naturgoldes in die Schmiede- und Wertform der Münze, deren handgreifliches Symbol der Ring des Nibelungen ist (SSD V, 227; Der Raub des Rheingoldes, 215 ff.). Darin liegt, was Wagner „das eigentliche Gift der Liebe“ nennt: Es „verdichtet sich [...] in dem der Natur entwendeten und gemißbrauchten golde, dem Nibelungen-Ringe“ (Brief an Röckel vom 25./26. 1. 1854). Zwar kann Alberich die Gegenliebe der Rheintöchter nicht wirklich „erzwingen“ (SSD V, 212). Auch ist er’s zufrieden, dass er – übrigens gerade wie der ehemüde Lichtalbe Wotan – seine Unfähigkeit zur „Liebe“ durch ‚listig erzwungene Lust‘ (oder, was dasselbe ist, ‚Macht‘-Ausübung) ausgleichen muss: „Von der Liebe doch/ mocht’ ich nicht lassen;/ in der Macht gehrt’ ich nach Minne“ (VI, 37). Sein begehrliches Auge hat Macht nur über den unwirklichen Schein, d. h. über die im Erglänzen symbolisierte Wertbeziehung, in welcher des Goldes

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Natur im Vorblick auf ein ihr äußerliches Interesse geschätzt wird. Immerhin verrät schon diese bloße Umwandlung die Geste der Gewalt: Alberich „reißt mit furchtbarer gewalt das gold aus dem riffe, und fährt damit hastig in die tiefe“ (Der Raub des Rheingoldes, 216; vgl. SSD V, 213). Der warme Glanz des Goldes erlischt nicht, aber er gefriert zu einem ‚kalten Funkeln‘, welches „grausam [blickt], blutdürstig, wie das rote Auge des Tigers“ (Tieck 1985, 204). „Nicht freiwillig“, erklärt Christian in Tiecks Runenberg, lassen die Steine ihren „Glanz“ sehen. „Noch“ bedarf es der auf sie ausgeübten „Gewalt“. Die Metaphorik ist über diesen Sachverhalt im Runenberg so unmissverständlich wie im Rheingold: „Wunderbare, unermeßliche Schätze“, sinnt Christian in Tiecks Runenberg, muß es noch in den Tiefen der Erde geben. Wer diese ergründen, heben und an sich reißen könnte! Wer die Erde so wie eine geliebte Braut an sich zu drücken vermöchte, daß sie ihm in Angst und Liebe gern ihr Kostbarstes gönnte (l. c., 205)!

„Noch“, heißt es bei Tieck, ist das ein bloßer Traum. Die Stofflichkeit des Naturobjektes entgleitet dem zupackenden Griff und muss sich, soll die Illusion nicht gänzlich zerstört werden, den verzauberten Augen in der supplementären Stofflichkeit eines Wertdings wiederherstellen: als magische oder als Lebenstafel (Der Runenberg [Tieck 1985, 192 f., 201 u., 204], Die Bergwerke zu Falun [SSD XI, 134]), als geprägte Münze, als Ring, als Fantasien erweckendes Zauberglas (in E. T. A. Hoffmanns Sandmann [Hoffmann 1985]) oder als entseelender Eissplitter (in Andersens Schneekönigin: Andersen 1975, 40 f.). Immer bewahrt der Repräsentant in dieser Beziehung den Liebeswert, der dem Repräsentat eignet. Beim Anblick der wunderbaren Metallblüten, die aus den Herzen der holden Kristalljungfrauen emporschießen, ergreift den Elis Fröbom in Wagner Opernentwurf Die Bergwerke zu Falun [1842]) ein Gefühl voll herzergreifender Wehmut und Wollust, die Ader gefunden zu haben, „nach der [er] gierig schon jahrelang sucht[e]“ – hinter ihr taucht endlich „eine schöne, kostbar geschmückte Frauengestalt auf“: die Bergkönigin (SSD XI, 131). Zwischen der imbrünstigen Liebe zum kalten Metall bzw. zum Mineral und der zur scheinbar beseelten Wertform beider, der in der Bergkönigin verkörperten Geldseele, findet dieselbe Vertauschung statt, von der Tiecks Runenberg, aber auch sein Tannenhäuser erzählt – und hier wie dort vernichtet die Spiegelliebe zum Wertfetisch die warme Liebe zu einer lebendigen Frau (Tieck 1985, 173 ff., 179 f.). Die Blendung, die vom Metall oder vom Kristall auf das Auge trifft, ist dann immer zugleich dessen Verblendung, wenn der Blick den Widerschein des Lichts mit dem materiellen Träger dieses Widerscheins (dem Metall, dem Mineral, dem Perspektiv in Hoffmanns Sandmann) identifiziert. In Hoffmanns und Wagners Bearbeitungen der Bergwerke zu Falun spielt eine wichtige Rolle jener „Almandin“, darauf „in krausen, aber doch verständlichen Zügen“ die „Lebenstafel“ der Liebenden „eingegraben“ ist (Hoffmann 2001, 236 f.; SSD XI, 134): Wessen Augen – durch eine Art innerer Erleuchtung – in die Mysterien des Unterreichs eingeweiht sind, der sieht in dem mineralischen Geäder der Schrift den Zug zweier ineinander verwobener Herzen. „Kirschrot“ ist ja

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der Stein, rot wie das in ihm erstarrte Herzblut. Dringt der Blick noch tiefer in die verschlungenen Charaktere ein, so geht ihm das ‚höchste Glück‘ auf, „wie es nur dem Menschen hier auf Erden beschieden“ (Hoffmann 2001, 236). Könnte der Stein ohne irgendeine geheimnisvolle Sympathie mit dem Herzen „ein Glück“ verheißen, „wie es selten Sterblichen zuteil wird“ (SSD XI, 134)? Ja, könnte diese Verheißung etwas anderes sein als der Reflex eines Glücksverlangens, der im sehnenden Menschenherzen – der Quelle allen Wertes – seinen Ursprung hat? So fragt Ulla, die in ihrer kindlichen Unbefangenheit für Augenblikke das Wahngewebe durchdringt, in dem die „übernächtig[e]“ Einbildung ihres Bräutigams verstrickt ist. „Elis, Elis“, ruft sie „in steigender Angst“, „was sprichst du doch. [...] Was bedarf es der Metalle und Steine zu unserem Glücke? Genügen unsre Herzen nicht?“ (l. c.) Nur Wagner, der sich sonst stark an Hoffmanns Vorlage hält, legt Ulla diese Frage in den Mund. Sie rührt an den neuralgischen Punkt des Wahnsystems, in dem sich Fröbom eingerichtet hat: Der Wert des wundervollen Minerals gründet im fleischernen Herzen der Liebenden – und nur in ihm. Das ist „ganz richtig“, muss Elis zerstreut gestehen. Und doch genügen die Herzen nicht: Sie sind aus verweslichem Material geschaffen, und die Liebe wäre verloren, wenn es nicht gelingt, ihr die Dauerbarkeit des Steins zu verleihen. „Höre mich, lieber Engel“, fährt Fröbom darum beschwörend fort, „wenn wir diesen kostbaren Stein haben, und in verbundener Liebe und klaren Auges da hinein schauen, da werden wir gewahren, wie unsre Herzen auf das innigste mit dem seltsamen Geäder dieses Steines verwachsen sind“ (l. c.). Mit diesen Worten windet er sich aus Ullas Armen – „es litte ihn nicht, er müsse den Stein haben“ – und verschwindet für immer im Schacht, der ins Bergwerk hinabführt. Hoffmann, wie gesagt, kennt Ullas tiefe Frage nicht. Statt dessen verfolgt er den Schriftzug des in Chlorit und Glimmer eingeschlossenen „kirschrot funkelnde[n] Almandin[s], auf den unsere Lebenstafel eingegraben“ (Hoffmann 2001, 236), bis hinab ins Geäder des Herzens der Bergkönigin selbst „Wenn wir“, spricht Elis zu seiner Braut, „in treuer Liebe verbunden hineinblicken in sein strahlendes Licht, können wir es deutlich erschauen, wie unser Inneres verwachsen ist mit dem wunderbaren Gezweige, das aus dem Herzen der Königin im Mittelpunkt der Erde emporkeimt“ (l. c.). Hier enthüllt sich also der Schriftzug der Tafel als das von Kristalladern durchblutete Steinherz der Bergkönigin (der sich bei Wagner, wie wir sahen, nur nähern darf, wer zuvor alle Liebe in sich ertötet hat). Was als der Königin lebendiger Leib angebetet wird, das ist in Wahrheit der Inbegriff unorganischen Seins. Das Blut, das durch ihre Haut scheint, ist nicht warm und flüssig, sondern erzen („ihrer Adern Gold“, sagt Arnim in seiner Bearbeitung derselben Geschichte [1962, 462]); die Bergwälder sind ihre Haare, ihre kalten Augen blitzen aus den Gebirgsbächen, als Felsenburgen schreiten ihre majestätischen Glieder aus (Der Runenberg [= Tieck 1985, 197]). Es sind tote Zeugen der Bahnungen, durch welche der Lebensgeist der beseelten Organismen seinen Weg sucht. Doch ist das Tote hier – konträr zum christlichen Weltbild – mit der Wahrheit im Bunde. Erscheint doch das leblose Gesetz jener Naturschrift (‚Lebenstafel‘), die das Felsenreich der Bergkönigin .

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durchherrscht, als die nur Eingeweihten offenbare Zauberchiffre, die den tiefsten Sinn alles Lebendigen in sich birgt. Hat man einmal (wie der kleine Kay in der Schneekönigin oder wie Nathanael im Sandmann) den Splitter aus dem teuflischen Spiegel oder das tot in lebendig verwandelnde Perspektiv im Auge, verzerrt sich die Wirklichkeit und unser Wertesystem. Auch den jeweiligen Besitzern des Nibelungen-Rings ist dies Schicksal aufbehalten (beim arg- und furchtlosen Siegfried muss freilich göttliche Bevormundung und Giebichungen-Intrige nachhelfen). Wagner hat der Herzensversteinerung und Herrschaftsgier eine ausdrücklich politische Deutung gegeben, die den eben zitierten Texten noch weitgehend fremd ist. Oder richtiger, Wagner hat sich der frühsozialistischen Metaphorik angeschlossen, die man zu Recht auch ‚romantisch‘ genannt hat (Evans 1948). ‚Eingeweiht‘ oder ‚verblendet‘ ist man nicht durch blindes Geschick; der verhexte Blick auf die Natur ist das Ergebnis einer historischen Tat, die Wagner mit Gewalt und Herrschgier assoziiert. Wie Tieck (im obigen Zitat aus dem Runenberg) hat er die kapitalistische Naturausbeutung immer wieder in Metaphern der Vergewaltigung beschrieben, so in dem Gedicht Die Not: „Die Notzucht treiben sie am Leibe/ der lebenden Natur,/ Notzucht am Mann, Notzucht am Weibe,/ an Berg und Tal und Flur,/ Notzucht an Gott, von dem sie lehren,/ der Armen Leid könn’ er nicht wehren, –/ denn wie’s nun sei, wär’s gut,/ d’rum ziem’ uns sanfter Mut“ (SSD XII, 362). Dutzende romantischer Texte, in deren Tradition Wagners Ring-Dichtung einrückt, erklären die Aufwertung des natürlichen Minerals als eine Hineinbildung des Wertes der Seele darein – und noch Marx ist im Kapital völlig im Banne dieser Metaphorik (vgl. Frank 2005, 469 ff.). Die Seele ist der „Wertspiegel“ des Naturdings (K I, 67), etwas diesem selbst Äußerliches: ihr Tauschwert 23 (Marx 1953, 63). Sowie die Seele – der Wertverleiher – dem Naturding anverwandelt ist, gewinnt dieser einen unwiderstehlichen Reiz für die Menschenherzen. Auch Fricka, die scheinheilig mit ihrem Ehemann über dessen NeubauVerschuldung rechtet, ist nicht frei von dieser Verführbarkeit („Taugte wohl auch/ des gold’nen Tandes/ gleißend Geschmeid/ Frauen zu schönem Schmuck?“ [SSD V, 227]); und schließlich war sie selbst es, die Wotan „um den Bau [...] bat“ (l. c., 215). In diesem Tausch wird des Menschen Seele umgewendet in Dinglichkeit. So hat die Wertabstraktion den traurigen Effekt der Herzensversteinerung. Sie führt – das sind des romantischen Sozialökonomen Adam Müllers eigene Worte – zur „metaphysischen Erkaltung der Seele“ (Müller 1908 II, 217). Der Romantiker Müller war es auch, der im Streben nach Gewinn und in der Fetischisierung des Privateigentums schon im ersten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts den Antrieb der kapitalistischen Produktionsweise als „reiner Plusmacherei“ erkannte. „In diesem rohen und seelenlosen Zustand“ – bedingt durch den „Uni23 „Alle Eigenschaften der Ware als Tauschwert erscheinen als ein von ihr verschiedener Gegenstand, eine von ihrer natürlichen Existenzform losgelöste, soziale Existenzform, im Geld“ (Marx 1953, 63).

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versal-Despotismus“ des Geldes und eine „treibhausartige Industrie“ – gebe es nicht nur keine Verbesserung für die soziale Lage der Armen: Der Egoismus der Geldwirtschaft zerstöre auch die gewachsene Umwelt, verschandle die Natur und schaffe nächst den „natürlichen Armen“ auch noch „künstlich Brotlose“ – eben das moderne Proletariat, das notgedrungen auf Umsturz aus sei (Müller 1931, 17-23, 60, 65). Marx spricht von der im Geldfetisch vollzogenen „Schätzung eines Menschen 24 in Geld" (StA, 251). Genau dies geschieht, wenn „Freias, der holden“, Leib, und zum Schluss gar der letzte Vorschein ihrer Subjektivität, ihr strahlendes Auge (das den verliebten Fasolt um ein Haar den Tausch bereuen macht), in Gold aufgewogen wird (Der Raub des Rheingoldes, 226 f.; SSD V, 256 ff.). Ein einziger Katalysator muss dem Prozess zugesetzt werden: die Verfluchung der Liebe, des warmen Herzens (Der Raub des Rheingoldes, 215 u.; SSD V, 228). Wagners Bilderwelt hält sich, wie gesagt, in enger Nähe zu der des französischen (‚romantischen‘) Frühsozialismus, dem er in seiner frühen, besonders in der Pariser Zeit tatsächlich nahe stand. Die Stein-Herz-Symbolik taucht fast genau gleichzeitig mit den Texten der literarischen Romantik auch in den Schriften der politischen Ökonomie auf, besonders wenn deren Autoren zur christlichen Ethik sich bekennen. Der Dictionnaire national et anecdotique des Pierre-Nicolas Chantreau – mit der interessanten Funktionsbeschreiben: „zur Sicherung des Verständnisses der Wörter, um die sich unsere Sprache seit der Revolution bereichtert hat“ – notiert bereits 1790 unter dem Schlagwort Capitaliste: „Dies Wort [...] bezeichnet ein Geldungeheuer (monstre de fortune), einen Menschen mit ehernem Herzen (au cœur d’airain), der nur metallische Gefühle kennt (qui n’a que des affections métalliques).“ Tertullians „illic cor habentes, ubi et thesaurum“ (skop. 3, anim. 57; vgl. Luk. 12, 34 und Matth. 6, 21) erwirbt hier buchstäbliche Bedeutsamkeit: Der Schatz sitzt, wo das Herz sitzt. Überdies klingt schon die Bildersprache des Runenberg an, in welcher der „verwüstende Hunger nach dem Metall“ angeklagt wird, des Menschen Herz in „kalte[s] Metall“ zu verzaubern, ja zur „Maschine“ zu entfremden (Tieck 1985, 201-203). Vom „reichen Kaufmann“ sagt Theodor in Tiecks Fortunat: „[(Sein] Athem klingt nach Münze, und man fühlt, / Daß die Gedanken nur von Silber sind“ (TS 8, 25). „Nur Gewinnsucht ist die Seele des Menschen“, klagt Machmud in der frühen Erzählung Die Brüder, „für Geld verkaufen sie Treue und Liebe, stoßen die schönsten Gefühle von sich weg, um das nichtwürdigere Metall zu besitzen“ (Schriften T 3, 251). Novalis, der „Gold und Silber [...] das Blut des Staats“ nannte, fügt warnend hinzu: „Häufung des Bluts am Herzen und im Kopfe verrathen Schwäche in beiden“ (NS II, 486, Nr. 10). – Gustave Beaumont charakterisiert „die bürgerliche Gesellschaft“ (am Beispiel der amerikanischen) in seinem damals viel – z. B. von Karl Marx – gelesenen Reisebericht Marie ou l'Esclavage: Tableau des mœurs américaines als nur von einem Begehren umgetrieben, dem nach Geld: „Die Be24 Aus den Exzerptheften: Die entfremdete und die unentfremdete Gesellschaft, Geld, Kredit und Menschlichkeit, XXVI.

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ziehungen der Menschen untereinander haben nur ein einziges Objekt, das Vermögen; ein einziges Interesse, dasjenige, sich zu bereichern. Die Leidenschaft für das Geld erwacht bei den Amerikanern mit dem Verstand und zieht die kalten Berechnungen und die Trockenheit der Ziffern nach sich: Sie wächst, entfaltet sich, setzt sich in der Seele fest und quält sie ohne Unterlass. [...] Das Geld ist der Gott der Vereinigten Staaten“ (Beaumont I, 63; von mir hervorg.) – Selbst Zarathustra steht nicht fern, der die „Herrschsucht“ „die Glüh-Geißel der härtesten Herzensharten“ nennt (Nietzsche 1988 4, 237). Und natürlich Bettines „guter Dämon“, der im Namen des verelendeten und entrechteten „Volkes“ dem „schlafenden König [...] das Erz in der Brust“ zum Schmelzen bringt (B. von Arnim 1963 III, 318). Kehren wir zu den Ökonomen zurück. Die Reden der St.-Simonisten sind voll von vergleichbaren Wendungen – und Wagner wird sie besser gekannt haben als wir Heutigen, die wir uns mit philologischen Mitteln Zugang zu ihnen bahnen müssen. Die St.-Simonistische Sozialethik instrumentiert immer aufs Neue den Urgegensatz zweier Werte, die in verschiedenen Zusammenstellungen durch je verschiedene Ausdrücke vertreten sind. Auf der einen Seite gibt es die Werte des sozialen Gefühls (sentiment, affection, sympathie, socialité, vie, amour, cœur, association universelle, ordre, religion usw.), auf der anderen den Gegenwert des Egoismus (individualisme, mort, âme faible, dureté du cœur, répression, antagonisme, concurrence, désordre, irréligion usw.). Man findet alle diese Beispiele in jeweils widersprechend einander gegenüber gestellten Paaren in den Reden beider Bände der Exposition de la Doctrine de St. Simon. Ein typisches Beispiel aus der 12. Sitzung: Bevor man zum Herzen gelangt ist, bevor man das Prinzip des Lebens, des InGemeinschaft-Seins erreicht und solange man noch nicht die Kette des Mitgefühls ergriffen hat, die den Menschen mit dem verbindet, was nicht er selbst ist [...] – so lange hat man nur ein lebloses Sein vor Augen, einen Kadaver, eine Tatsache OHNE MORALITÄT (Bouglé/Halévy 1924, 369 f. [meine Übersetzung]).

Wilhelm Weitling spricht 1838 von den „steinernen Herzen“ der Kreditgeber, Wucherer, Händler und Kapitalisten (Weitling 1895, 13). Und Pierre Leroux wirft (in einem Aufsatz mit dem bezeichnenden Titel L’économie politique et l’évangile) den politökonomischen Handlangern der Kapitalinteressen – er meint vor allem die Malthusianer – vor, „das Mittel gefunden [zu haben], des Menschen Herz zu diamantisieren, ja ihm ein härteres Herz als ein Herz von Stahl zu geben (de lui donner un cœur plus dur que le fer)“ (Leroux 1846, 69). – Wer sucht, wird in den Texten dieser und geistesverwandter Autoren weitere Beispiele finden. Eine eindrucksvolle Variation liefert der Abbé Felicité de Lammennais, wenn er in seinem Politischen Glaubensbekenntnis die „starken Vorurteile des Eigeninteresses in einer Gesellschaft [brandmarkt], in der der Egoismus jede Seele wie eine Münze mit seinem kalten Stempel geprägt hat“ (in: Kool/ Krause 1972, 265).

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Wagner mit Schelling Die Handlung des Ring scheint einfach, und so die Logik, die sie vorwärts treibt. Sie entspricht so auffällig einem Schema, das Schelling wenige Jahre vor Wagners Niederschrift als Struktur-Merkmal des mythologischen Prozesses überhaupt angegeben hatte, dass es schwer fällt, nur von einer Parallele zu sprechen, und nicht an einen direkten Einfluss zu glauben. „Auf einen von Geschlecht zu Geschlecht sich forterbenden Fluch ist das Reich der Götter gegründet“ (SW II/2, 347), schreibt Schelling und belastet allen voran Zeus, Wotans Homolog. Aufgrund durchaus ähnlicher Quellen, wie die es sind, die auch Wagner benutzte (nämlich Creuzers Symbolik und Mythologie und die Dramen des Aischylos, allen voran den Gefesselte[n] Prometheus), sieht er im Geschehen der Mythologie einen (allerdings unvermeidlichen) Menschheits-„Irrthum“ (z. B. SW II/2, 646). Obwohl im Bewusstsein (und nur im Bewusstsein) sich abspielend, sei er doch kein Werk der Freiheit, sondern etwas mit blinder Notwendigkeit ihm Auferlegtes (SW II/1, 119 ff., 192 f.; Schelling 1993, 211). So auch Wagner mit einem Lieblingsausdruck: Der Mythos sei „Darstellung des Unwillkürlichen“ (Brief an Röckel vom 25./26. Januar 1854). Das Unwillkürliche hat der mythische mit dem NaturProzess gemein: „denn es wirken dieselben welterzeugenden Potenzen, die in der Natur wirken, auch hier [nämlich in den mythologischen Vorstellungen]. Der Zusammenhang ist kein künstlicher, sondern ein natürlicher“ (Schelling 1993, 211,5; vgl. SW II/3 379 f.). Auch darin stimmen beide Autoren überein. Zunächst ist in Erinnerung zu bringen, wie Schelling die Ur-Schuld des Zeus und den Verhängnis-Charakter der Mythologie in Anschlag bringt. So wie Erda dem Wotan prophezeit „Ein düst’rer Tag dämmert den Göttern“, allen voran ihrem Stammvater Wotan (SSD V, 262), so weissagt der gefesselte Prometheus des Aischylos dem ihn knechtenden und an den Felsen schmiedenden Zeus: So sehr er trotzet, wird Kronion doch Sich schmiegen; die Vermählung, die er wünscht, Stürzt ihn, daß er vom Throne nichtig fällt. Erfüllt wird dann in vollem Maß der Fluch, Den Kronos ihm, sein Vater, einst geflucht, Als er gestürzt vom alten Throne sank. (Aischylos, Der gefesselte Prometheus, v. 909 ff.; 25 vgl. auch die Verse 939 ff. und 955 ff. [SW II/2, 346 f.])

Ähnliche Weissagung findet sich in einem Chorlied aus Senecas Tragödie Hercules auf Oeta: „Die himmlische Burg zusammenstürzend/ Wird allem Entstehen und Vergehen ein Ende machen,/ Und alle Götter wird gleichermaßen/ Ein Tod (mors aliqua) verderben und das Chaos.“ „So demnach wird das Chaos [die wilde, urständige Natur] ebenso das Ende der Götter, wie es bei Hesiod ihr Anfang war“ (SW II/2, 614).

25 In Schellings Übersetzung, nach der fünfzehnten Vorlesung der Philosophie der Mythologie.

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Die unbarmherzige Logik dieser Prophezeiung war ein Grundthema von Schellings weit ausgreifenden Münchener und Berliner Vorlesungen über die Philosophie der Mythologie (und Offenbarung). Obwohl Wagners Prima-facieQuellen Jacob und Wilhelm Grimms Lieder der alten Edda (1815), besonders der 26 Volsunga saga, der Lieder-Edda, mehrere Bearbeitungen des Nibelungenlieds, ferner Wilhelm Grimms Die Deutsche Heldensage (1829), Simrocks sechsbändige Übertragung des Heldenbuch[s] (1843-46) und Jacob Grimms Deutsche Mytholo27 gie (2 Bde., 1833, Wagner besaß die Zweite Ausgabe von 1844) waren, folgt Wagner Schellings Konzept secunda facie und viel signifikanter bis in Ein28 zelheiten. Die Dramen des Aischylos (wie wir sahen: eine Hauptquelle auch 26 Darin vor allem der Vololspá und der Snorra Edda. 27 Vgl. Wagner 1911 I, 407 f. Dort sind auch Droysens Didaskalien als Quelle seiner Aischylosund Tragödie-Studien angegeben. Die noch heute erhaltene Bibliothek, die nach Wagners Flucht in die Schweiz von seinem Schwager Heinrich Brockhaus als Pfand einbehalten wurde, enthält mit fast zwei Dutzend Titeln so ziemlich alles, was damals über Heldensage, Nibelungenlied und nordische Dichtung im Allgemeinen auf dem Markt war, darunter auch andere zeitgenössische Dichtungen und Spezialliteratur wie Snorri Sturluson’s Weltkreis (Heimskringla), übersetzt und erläutert von Ferdinand Wachter, Untersuchungen zur Geschichte der teutschen Heldensage von Franz Joseph Mone,Vaulu-Spá, das älteste Denkmal germanisch-nordischer Sprache von Ludwig Ettmüller und Die Walkyrien der skandinavisch-germanischen Götter- und Heldensage von Ludwig Frauer. (Die Titel aus Wagners Dresdener Bibliothek sind aufgeführt in: Richard Wagner 1976, 17 f.; weitere „germanische Quellentexte“ im Anhang von Herbert Hubers Ring-Kommentar [Huber 1988, 329 ff.] 28 Wie sehr Wagner aus direkter Lektüre schöpft, wäre noch zu zeigen und ein Gegenstand von besonderem Interesse. Wagner hat Schelling gekannt, erwähnt ihn aber selten (zweimal in Mein Leben, einmal im Brief an Röckel vom 5. 11. 1855 im Zusammenhang mit Schopenhauers Schmähreden gegen „den Fichte-Schelling-Hegelschen Unsinn und Charlatanismus“). Auszüge aus den von Schellings Sohn edierten Mythologie- und Offenbarungs-Vorlesungen erschienen erst 1857/58; gelesen hat er sie, wie Cosimas Tagebucheintragungen belegen, im Anschluss an Constantin Frantz’ Schelling-Schrift um die Jahreswende 1880/81. Aber die Vorlesungsnachschriften der 30er Jahre kursierten, hoch gehandelt und begehrt, teilweise sogar in Druckform, in ganz Deutschland und außerhalb, so z. B. Anfang der 30er Jahre die Mythologie-Nachschrift von Ed. Collow (vgl. Schelling 1993, 48 f.; zahlreiche weitere Zeugnisse in Tiellette, Spiegel. Eine weitere Nachschrift, nämlich die in Schelling (1993) wieder zugänglich gemachte so genannte PaulusNachschrift, war 1843 in unautorisiertem Druck erschienen und hatte – schon wegen des Urheberrechts-Prozesses, der sich daran anschloss – großes Aufsehen erregt. Wagner nennt, wie gesagt, Schelling in Mein Leben (Wagner 1911) nur zweimal, und beiläufig (I, 507 und II, 603, dort im Zusammenhang mit der Entdeckung Schopenhauers und der Arbeit am Rheingold). Das muss aber – bei der hohen Verbreitung Schelling’scher Gedanken, die ja ihrerseits an Wagner wohlbekannte Arbeiten von Fr. Creuzer, Joh. Arnold Kanne, Karl Otfried Müller und Gottfried Hermann anknüpfen – nicht gänzliche Unbekanntschaft bedeuten. Kannes System der indischen Mythe [...] (Kanne 1813) enthält übrigens einen Beitrag von Wagners geliebtem und verehrtem Onkel Adolph: Übersicht des mythischen Systems. Kannes Schrift und Wagners Anhang sind tief geprägt durch Schellings Identitätsphilosophie und sehen – wie Schelling – im mythologischen Prozess eine sukzessive Vorbereitung des ‚Gottmenschen‘ als des kommenden Gottes. Vgl. Fritz Strich (1970, Bd. 2, 324 f., im Kontext). Vgl. auch Carl Fr. Glasenapps Bericht über Adolph Wagners Studium bei Fichte und Schelling in Jena und seine dort geschlossene Freundschaft mit Kanne, übrigens auch schon mit Tieck (Glasenapp 1894-1911, bd. 1, 21 ff.). Über den prägenden, „ihm längere Zeit unbewußt gebliebenen Einfluß [s]eines Onkels Adolph Wagner, dessen Umgang nun für die eigentümliche Bildung des heranreifenden Jünglings von wichtiger Bedeutung ward“, berichtet Wagner selbst humorvoll in Mein Leben (Wagner 1911 I, 15 ff., 32 ff., 51,

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Schellings für seine apokalyptische Deutung des Götter-Endes) waren – in Droysens Deutung und Übersetzung – auch ein Grunddokument von Wagners Zür29 cher Mythologie-Studien. Nach Schelling ist die Mythologie das System des Polytheismus (der Welt der Götter im Plural). Es folgt einem Zustand des UrMonotheismus, in dem die weltbildenden Prinzipien (die Schelling ‚Potenzen‘ nennt) noch als undifferenziertes Eins zusammen bestehen. Das ist die Zeit des Chaos, der Urnatur (SW II/2, 596 ff., 608). Erst ihre Auflösung – ihr reales InSpannung-Treten – entfesselt eine Abfolge von Gestalten, in denen ein anfängliches Übergewicht des ‚realen‘ Prinzips schrittweise durch ein Zunehmen und schließlich Überwiegen des ‚ideellen‘ verdrängt wird (SW II/3, II/2, 350 f., 569 30 ff.; II/3, 382 ff.). Die Menschheit durchläuft diese Stadien insgesamt, doch hat ‚der theogonische Prozeß [...] seine Momente wie Rollen an die verschiedenen Völker verteilt‘ (PhO, 212). Darum spricht Wagner in diesem Sinn vom „große[n] Zusammenhang aller echten Mythen“ (SSD VI, 267). Ohne Bewusstsein ablaufend, strebt er – wie Ödipus’ Leben – nach Selbstaufklärung. Die aber bringt das Ende des Mythos. Schon in seinen Anfängen steckt mithin der Keim des Endes. Die Logik, die auf ihn hinarbeitet, ist der von Anaximander beschriebenen gleich: In jeder Individuation liegt eine abzutragende, ja eine „Blut heischende Schuld“ (SW II/2, 300). Auf den Gott, der aus der undifferenzierten Unendlichkeit des Beginns heraustritt und das ungeschiedene All der Möglichkeiten sich selbst unterwirft (Uranos: der Herr des Zeitalters der übermächtigen ersten Potenz, der bildlos verehrte, der ‚ausschließliche‘, der noch nicht individuierte Gott: SW II/2, 293), wartet schon die gewaltsame Ablösung durch seinen Nachfolger (Kronos/Saturnus/Jahwe: den Regenten des Zeitalters unter der Ägide der zweiten Potenz, der seinen Vater mit der Sichel entmannt [l. c., 292, 363]; übrigens des Gottes der Befreiung vom ‚tierähnlichen [Nomaden-] Leben‘ (jhriwdvV z²n), der Städtegründer und Stifter des bürgerlichen Verkehrs, damit auch des Eigentums und der Münzen: l. c., 361; II/3, 416 ff.; Schelling 1993, 229.) Und dieses Gottes „blutige[r] Herrpassim. Übrigens hat Curt von Westernhagen zuerst darauf hingewiesen, dass Nietzsche bei der Abfassung seiner Tragödie-Schrift auf die Werke von Otfried Müller, Friedrich Creuzer, Friedrich Gottlieb Welcker und anderen Autoren über griechische Literatur, Götterlehre und Mythologie „nicht etwa von Fachgenossen, sondern von Wagner selbst aufmerksam gemacht“ worden ist (von Westernhagen 1979, 388; vgl. auch Gregor-Dellin 1991, 652). Übrigens findet sich ein Grundgedanke von Nietzsches Schrift schon 1849 unter Wagners Notizen: „Geburt aus der Musik: Äschylos. / Décadence – Euripides“ (SSD XII, 280). Einen schlagenden Beleg für die unausgewiesene Benutzung von Grundgedanken der Schellingschen Dionysos- und Mysterien-Interpretation liefert Nietzsche in seiner Tragödien-Schrift (vgl Nietzsche 1988. I, 71 ff. mit SW II/3, 480 ff. und 422). Ich habe diese Abhängigkeit, die ans Plagiat grenzt, jeweils im Kontext nachgewiesen in Frank (1982, 313, 344 ff.) und Frank (1988, 55 ff.; dazu Wilson 1996, 155 ff.). 29 Wagner besaß Des Aischylos Werke in der 2bändigen Übersetzung von Johann Gustav Droysen ebenso wie Droysens 2bändige Geschichte des Hellenismus, Hamburg 1836-43; vgl. sein günstiges Urteil in Wagner (1911 I, 407 f.). 30 Vgl. K. F. A. Schellings „Kurze Darstellung der Mythologie“ im detaillierten Inhaltsverzeichnis des Bandes, S. XVII f.

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schaft“ (II/2, 349) wiederum ist die Stunde vorausbestimmt, da die von der Herrschaft ausgeschlossene dritte Potenz, die des Zeus, zur Macht drängen wird. Gewiss verschlingt Kronos seine Kinder, um gar nicht erst eine Sukzession aufkommen zu lassen. Und das lange Zeit geübte Opfer des Erstgeborenen begeht kultisch den Ausschluss nicht vom Sein, aber von der Gottheit, mit der Kronos sich gegen die Ablösung wehrt, indem er sie wider Willen doch zulässt (l. c., 300 ff.). Aber auch in Zeus (bzw. den ihm in den Parallelmythen anderer Völker entsprechenden Gottheiten) ist der Prozess nicht an sein Ende gekommen. Zwar schlägt Zeus den Vater in eben die Fesseln, die dieser vorher gegen den nachdrängenden Sohn gebraucht hatte (584; vgl. 330), streckt ihn schließlich durch den Blitz nieder (vgl. Hesiods Theogonie, v. 453 ff., 485 ff.). Aber ihm selbst ist schon ein besonderes Ende aufbewahrt, von dem Prometheus weiß. Im Unterschied zu den früheren ist es nicht mehr das Ende eines Vorgängers, der die Herrschaft an sich gerissen hatte, sondern des gesamten polytheistischen Systems selbst. Es ist die „große Götternacht“, von der die skandinavische Edda erzählt (SW II/3, 511). So hat innerhalb der Mythologie jede Vereinzelung die Mächte des Ganzen wider sich; und der gespannten Trias der griechischen Gottheiten widerspricht die wesentliche Einheit ihres Prinzips. So wächst auch dem Zeus – als realem, Macht ausübenden Gott – ein nicht mehr realer, sondern im Geist und in der Wahrheit anzubetender ‚kommender Gott‘ nach, den Schelling Dionysos nennt. ‚Dionysos‘ ist demnach ein Strukturtitel für jeden Nachfolger-Gott, der den die Macht vereinnahmenden obersten Gott an die Vorläufigkeit seiner Herrschaft erinnert. Darum konnte Schelling sagen: „So ist Alles Dionysos“ (Schelling 1993, 237). Als ‚kommender Gott‘ inkarniert er sich nicht nur – in den Übergangsund Scharnierstellen des Prozesses – charakteristisch in Frauen-Gestalten, als ‚Nachgiebigwerden des Starren‘: Persephone, Urania, Gaia, Astarte, Kybele, Demeter usw. (vgl. l. c., 212 f., 216 ff.). Sondern er gehört genealogisch in eine Reihe mit Halbgöttern wie dem phönizischen Melkarth, dem griechischen Herakles, dem jüdischn Gottesknecht (von dem Jesaja handelt), endlich Christus, aber auch Siegfried (SW II/2, 306 ff.; II/3, 394, 398). Sie alle sind vorderhand, sagt Schelling, nicht aus dem Sein, aber von der Gottesherrschaft abgedrängte menschenfreundlich handelnde Heroen: eben ‚Heilande‘ (swt®reV). Auch bei Wagner findet sich die – schon von Hölderlin bekannte – Verbrüderung der ‚Erlöser‘ Christus mit Herakles und Siegfried, so in Die Wibelungen (SSD II, 146) und in Heldentum und Christentum (z.B. SSD X, 277 ff.). Auch bei ihm ist des Heilandes dienende Stellung nur vorübergehend. Des kommenden Gottes Machtanbruch wird indes keine Evolutionsstufe mehr sein innerhalb des Prozesses der Mythologie. Mit ihm fährt die mythische Welt und das Gewimmel ihrer Götter (recht wörtlich) in den Orkus (SW II/2, 579 ff.; II/3, 407 f., 483 f.; Schelling 1993, 223 31 f., 238 f.). Die geistige Einheit, die den Zerfall der materiellen Vielheit überlebt, 31 Vgl. die Rolle, die Schelling dem Hades im Niedergang der griechischen Mythologie zudenkt. Schelling deutet ‚Hades aus 'A¡dhV (von ‚tò ÂeidéV’, (das Unsichtbare) und versteht ihn konsequent als den Gott, in dem das Gewimmel der olympischen Götter latent oder unsichtbar wird.

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mag das sein, worauf das Erlösungsmotiv am Ende der Götterdämmerung weist (SW II/3, 509). Dieses Vorauswissen der „großen Götternacht“, sagt Schelling, erklärt jenen tieftragische[n] Zug, der durch das ganze religiöse Leben der Griechen unverkennbar hindurchgeht, jenes Bewußtseyn, das sie in der ausgelassensten Lust nicht verläßt, daß / all dieser Glanz einst erlöschen, daß diese ganze schöne Welt des Scheins einst versinken und einer höheren, truglosen Klarheit weichen werde. Dieser Gedanke erklärt jene Schwermuth, die wie ein süßes Gift die trefflichsten Werke der Hellenen [...] durchzieht, in denen die höchste Anmuth und Lebendigkeit selbst vom Schmerz der unüberwindlichen Endlichkeit ihres Daseyns durchdrungen zu seyn und ihre eigene Vergänglichkeit still zu betrauern scheint (SW I/3, 511 f.).

Bei Schelling (bzw. Aischylos) ist es allein Prometheus, der das verborgen gehaltene (wörtlich: das in die Mysterien abgedrängte) Geheimnis des kommenden Götterendes vorausweiß. Ihm entspricht, wie Wagner aus Grimms Deutscher Mythologie wusste (Bd. 1, 204), in der germanischen Mythologie die Gestalt Loges. 32 Von Zeus/Wotan „eine kleine Weile“ nur bezähmt, wird der Feuerbringer (wörtlich: Lucifer) die Götterburg endlich in Schutt und Asche legen. Hier zeigt sich am deutlichsten Loges Elementarverwandtschaft mit den Rheintöchtern, deren Interessen sowie den unvergleichlichen Wert der Liebe er wiederholt vor Wotan verteidigt (SSD V, 225 f.; 268): Wohin im Schlusstableau dieses „Brandstifters“ Flammenglut nicht dringt (seine Physiognomie verschmilzt merkwürdig mit der des revolutionären „Oberfeuerwerkers [vom] Amt“ und „Weltenbrand“-Pro33 pheten Bakunin), dahin wälzt sich die schwellende Flutwoge der Rheintöchter, die zuletzt noch Hagen ertränkt (SSD VI, 256). Wie Prometheus, so weiß auch Loge als erster das Götterende voraus. Während, von Wotan angeführt, die Götter über Donners Regenbogenbrücke „schreiten“, ‚verharrt‘ er unschlüssig, „den Göttern nachblickend“, und spricht nachdenklich zu sich: Ihrem Ende eilen sie zu, die so stark im Bestehen sich wähnen. Fast schäm’ ich mich, mit ihnen zu schaffen; zur leckenden Lohe spür’ ich lockende Lust. Sie aufzuzehren, die einst mich gezähmt, 32 Der gefesselte Prometheus: „Ich frage weniger als nichts nach Zeus./ Er walt’, er herrsche diese kleine Zeit,/ Wie’s ihn gelüstet. Lang beherrscht er nicht/ Die Götter“ (v. 939 ff.). „Kurz herrscht ihr neuen Herrscher nur, und wähnt,/ Daß eure Burg nicht zu bezwingen sey./ Sah ich denn nicht schon zwei Beherrscher draus/ Vertrieben? Schmählicher und bald wird’ ich/ Auch diesen draus vertrieben seh’n“ (v. 956 ff.; Schellings Übersetzung). 33 So nennt ihn Wagner in Mein Leben (Wagner 1911 I, 455 ff.) im Zusammenhang mit den Phantasie vom großen „Weltenbrand“. Vgl. darüber auch die noch weniger von der Selbstzensur retuschierten Äußerungen im Brief an Theodor Uhlig vom 22. Oktober 1850 und Cosimas Tagebuch-Eintragung vom 17. Juni 1871: „Übrigens, daß die Kommunisten wirklich ganz Paris in Brand stecken wollten, ist der eine grandiose Zug [...].“

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statt mit den blinden blöd zu vergeh’n – und wären’s göttlichste Götter – nicht dumm dünkte mich das! Bedenken will ich’s: wer weiß, was ich tu’! (SSD V, 267)

Ein durch und durch Schelling’sches Szenerio. Spätestens hier muss man nun freilich die Frage stellen: Hat denn Wagner in der Konzeptionsphase des Rings Schellings Mythologie-Vorlesungen gekannt, da weder seine Dresdener noch die Wahnfried-Bibliothek ein Buch des Philosophen aufweist? Wo nicht (was noch zu prüfen wäre), so waren ihm jedenfalls sehr ähnliche Gedanken vertraut aus der Philosophie der Geschichte von Schellings altem Tübinger und Jenaer Freunde Hegel. Davon „imponierte [ihm] vieles“. Ja eine Weile schien es ihm, „als müßte ich auf diesem Wege in das Innere des Heiligthumes gelangen“. Indes: „Die Revolution kam dazwischen; die praktischen Tendenzen für eine neue Gestaltung der Gesellschaft führten mich ab“ und brachten ihn zu dem „,rechten und einzigen Philosophen der Neuzeit‘, Ludwig Feuerbach“ (Wagner 1911 I, 507 f.). Dessen Sinnlichkeits-Lehre war Wagner zugänglicher als das stahlharte ArgumentationsGehäuse der Schellingschen Spekulation. Gustav Schlesier, ein Freund Heinrich Laubes, Wagners Schulkamerad an der Dresdener Kreuzschule und mit ihm zur Leipziger Nikolaischule übergegangen, hatte offenbar früh versucht, Wagner (nicht nur für Creuzers Symbolik und Mythologie der alten Völker, sondern auch) für Schellings System des transzendentalen Idealismus zu erwärmen, umsonst: „[ich] zerbrach mir [...] vergebens den Kopf, bei der Lektüre der ersten Seiten davon etwas zu denken, und kehrte immer wieder zu meiner ‚neunten Symphonie‘ zu34 rück“ (l. c., 507). Dennoch bezeichnet ein so zuverlässiger Lebenszeuge wie Glasenapp Wagner als einen „durch seinen Bildungsgang rettungslos im dicksten Schellingianismus Befangenen“ (Glasenapp 1911, VI, 230), bevor ihm jedenfalls die Wahrheit Schopenhauers (und damit der Sinn des ständigen Schmälens auf Schelling) wie eine Offenbarung aufgegangen sei. Gleichwohl steht fest, dass Wagner Schellings „Mythologie- [und] Offenbarungs-Philosophie“ gekannt hat. Dass er sich erst spät zu ihr äußert, hat einen unschmeichelhaften und okkasionellen Anlass. Der großdeutsch-ständestaatliche „Föderalist“, radikale Antisemit und Gegner des liberalen Reichsgedankens Constantin Frantz (1817-1891), dem Wagner in aufrichtiger Sympathie die zweite Auflage von Oper und Drama ge35 widmet (SSD VIII, 195-199) hatte – eine Widmung, in der er sich reichlich servil mit Frantzens konservativ-revolutionärem Zuruf identifiziert: „Ihr [Wagners] Untergang des Staates ist die Gründung meines deutschen Reiches“ [196 f.]) –, – dieser Constantin Frantz hatte 1879/80 ein dreiteiliges Werk veröffentlicht über Schellings positive Philosophie, nach ihrem Inhalt wie nach ihrer Bedeutung für den 34 Vgl. dazu auch Wagners Brief an August Lewald vom 12. November 1838 (Wagner Briefe I, 354) und Carl Fr. Glasenapp (1894-1911 I, 161). 35 Cosimas Tagebuch-Eintrag vom 31. Juli 1879, II, 390.

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allgemeinen Umschwung der bis jetzt herrschenden Denkweise, für gebildete Leser dargestellt und es „Richard Wagner freundschaftlichst gewidmet“. In dem Werk wird, Wagners Rede vom ‚Reinmenschlichen‘ aufnehmend, Schellings „dem deutschen Genius [...] entsprechend auf das allgemein Menschliche gerichtete[r] Sinn“ gerühmt (III, 293). Wenn Wagner aber je ein Freund Schellings gewesen sein sollte, so hat er sich inzwischen völlig zu Schopenhauers Ressentiment gegen 36 „den Fichte-Schelling-Hegelschen Unsinn“ bekehrt. Constantin Frantzens Widmung scheint ihn jedenfalls so aufgebracht zu haben, dass er mit schlimmen Folgen für seine Laune und den Familienfrieden wieder in Schellings Philosophie der Mythologie und Offenbarung las und Cosima um die Wende der Jahre 80/81 mit Kostproben und Verwünschungen der Schelling’schen Charlatanerien und 37 Windbeuteleien nicht wenig genervt haben muss (Glasenapp, VI, 410 f.). Cosima beschwichtigt und fragt sanft an, ob Wagner nicht glaube, den Schelling38 Fan Frantz durch seinen Aufsatz Heldentum und Christentum (SSD X, 275–285) „von Schelling auf Schopenhauer“ leiten zu können (Tagebuch-Eintrag vom 4. Oktober 1881). Aber Wagner hat keine Hoffnung. „Er spricht mit immer zunehmender Empörung von Schelling’s Offenbarung und sagt, daß mit C. Frantz 39 nun auch kein Wort zu reden sei“ (Eintrag vom 16. Dezember 1880). 36 Brief an August Röckel vom 5. 11. 1855. 37 Jedenfalls künden das die wiederholten Eintragungen in den Tagebüchern. Neben der genannten sind das die vom 24. November, vom 1., 10., 16., 18. Dezember 1880 und die vom 2. August und 4. Oktober 1881. Am ausführlichsten berichtet uns Wagners Verstimmung im Zusammenhang mit Frantzens Widmung und Schellings Spätphilosophie Glasenapp. 38 Dies ist einer von Wagners verworrensten Texten, der Gobineaus These vom Menschheits‚Verfall durch Rassenvermischung‘ mit dem Erlösungs-Gedanken (Herakles und Siegfried als „arische“ Menschheits-Heilande, aber auch mit dem ‚semitischen‘, dem ‚am Kreuze leidenden Heiland‘) engführt: „Das Blut in den Adern des Erlösers dürfte so der äußersten Anstrengung des Erlösung wollenden Willens zur Rettung des in seinen edelsten Rassen erliegenden menschlichen Geschlechts, als göttliches Sublimat der Gattung selbst entflossen sein“ (282). „Während wir somit das Blut edelster Rassen durch Vermischung sich verderben sehen, dürfte den niedrigsten Rassen der Genuß des Blutes Jesu, wie er in dem einzigen echten Sakramente der christlichen Religion symbolisch vor sich geht, zu göttlichster Reinigung gedeihen. Dieses Antidot wäre demnach dem Verfalle der Rassen durch ihre Vermischung entgegengestellt, und vielleicht brachte dieser Erdball atmendes Leben nur hervor, um jener Heilsordnung zu dienen“ (283). Des Verfassers solcher Zeilen Zorn auf den Schellingschen ‚Offenbarungs-Unsinn‘ relativiert sich zu des letzteren Gunsten. Glasenapp (1894-1911 VI, 411) berichtet, dass Wagner „volle drei Wochen lang sich in dessen neues Buch [über Schelling] zu vertiefen“ geruht habe. „Aber das Ergebnis blieb immer das gleiche. Es bestand allein in dem tiefen Kummer, so gute und fähige Köpfe, wie Frantz, sich dermaßen in den Nebel der Konfusion verrennen zu sehen; es sei nun doch kein Wort mehr mit ihm zu reden.“ 39 Ob die schlecht gelaunten und von Schopenhauer übernommenen Injurien gegen die nachkantianischen ‚Charlatane und Windbeutel‘ – unter denen Schopenhauer Schelling immerhin „als [...] „entschieden den Begabtesten“ auszeichnet (im Anhang zur Skizze einer Geschichte der Lehre vom Idealen und Reale, in: Schopenhauer 1977 VII, 34) – etwas gegen Wagners Abhängigkeit von Schelling beweisen, ist so unsicher wie dies: ob die Nachwelt Schopenhauer für einen eigenständigen Philosophen und nicht vielmehr, wie gesagt wurde, für ‚einen etwas heruntergekommenen Schelling‘ halten werde. Schopenhauer schickte seinen Famulus Julius Frauenstädt immerhin in Schellings Berliner Kolleg über Philosophie der Offenbarung von 1841/42, um sich eine Nachschrift zu besorgen und daraus nach Gusto abzukupfern (vgl. Schelling 1993, 46 f.;

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Soweit zum Biographischen. Es trägt nicht weit. Der Aufweis innerer Übereinstimmungen (bei gleichen Quellen: Creuzer und Aischylos vor allem) musste die Annahme bewusster Anleihen ersetzen. Aber diese Quelle sahen wir umso ergiebiger fließen.

Naturalisierte Mythologie Für Schelling wie für Wagner ist Mythologie ein Fluch- und Verblendungszusammenhang, in dessen Bilderfolge das menschliche Bewusstsein unwillentlich und unaufgeklärt verstrickt ist. Er löst sich erst mit dem Ende der Mythologie selbst: mit der Bewusstsein ihrer (im Wortsinn) Unhaltbarkeit. Während aber Schelling den Prozess auf eine naturartige Notwendigkeit gründet, ja im mythologischen Prozess „dieselben welterzeugenden Potenzen [am Werk sieht], die in der Natur wirken“ (Schelling 1993, 221,5; vgl. SW II/3, 379 f.), redet Wagner von der Verhängnis-Ursache in moralischen Begriffen. Von ‚Schuld‘ und ‚Frevel‘ ist die Rede. Darum hat Carl Dahlhaus völlig recht, wenn er urteilt: „Der Mythos wurde also von Wagner weniger restauriert als destruiert, oder genauer: er wurde restauriert, um destruiert zu werden“ (Dahlhaus 1971, 111). Um „den ganzen mythos in seinem großartigen zusammenhang“ zu entwickeln, schreibt Wagner am 12. November 1851 an Theodor Uhlig, habe er die Notwendigkeit verspürt, das Drama (bisher bestehend aus Siegfrieds Tod und Der junge Siegfried ) zur Tetralogie zu erweitern: „Jene dichtung war nun der [...] versuch, eine hauptkatastrophe des mythos mit der andeutung jenes zusammenhanges zu geben.“ Der Mythos in seiner ganzen Ausdehnung, der Mythos selbst und als solcher, und nicht ein Handlungselement innerhalb seiner, erscheint hier als die KardinalKatastrophe: Zutiefst kompromittiert, unrettbar verloren, um alle Glaubwürdigkeit gebracht, keineswegs sentimental verherrlicht, danken die Götter – eigentlich die Rechtfertiger von Lebensverhältnissen aus obersten Glaubensgewissheiten – (schmählich) ab: Die Mythologie wird negativ in einem dramatischeren Sinne, als es dies Attribut im Blick auf Wieland den Schmied noch meinte. Weit entfernt, daseinsrechtfertigende Kraft zu verkörpern, wird er zum Spiegel der Katastrophe des Daseins. Die tröstenden und belebenden Hoffnungen der ‚Neuen Mythologie‘ haben sich verbraucht: bei Wagner wie beim späten Schelling, dem wir den ersten Ausdruck dieser utopischen Hoffnung verdanken. So geht es im Ring nicht um Remythologisierung oder Wiederverzauberung der Welt, sondern um den Aufweis, dass sich die Ressourcen, aus denen der mythische Gedanke schöpft, selbst diskrediert, ja völlig erschöpft haben. Sein Thema wäre die Abdankung des Mythos unter dem Schein der Mythologie. Auch in Schellings später Philosophie der Mythologie ist das optimistische Jugendprojekt der Stiftung einer neuen Religion widerrufen. Die Einheit jedoch, in 353 ff.), so wie er sich früher vergeblich gegen einen Plagiats-Vorwurf hinsichtlich des Schelling’schen Satzes „Wollen ist Urseyn“ zu wehren hatte (vgl. Einige Bemerkungen über meine eigene Philosophie, in: Schopenhauer 1977, VII, 150 f.; vgl. V, 30).

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die sich die Götterwelt des mythischen Zeitalters auflöst, ist eine höhere, geistige. Bei Wagner ist es die ‚ursprüngliche Natur‘ selbst. So dürfen wir von dem paradoxen Projekt einer naturalisierten Mythologie sprechen. Nach dem Untergang der kompromittierten Zwerge, Riesen, Götter und Menschen bleibt nur sie – in jenem nicht länger religiös oder spirituell überhöhten, sondern im Feuerbachischnaturalistischen Sinne – als Referenz für Wünsche nach normativer Wertsetzung. Verkörpert ist sie in den durch und durch zweideutigen Gestalten der Rheintöchter, auch im Elementargeist des Feuers (Loge). Die zeitgenössische Kritik hat im Blick auf die ersteren von einem „Huren-Aquarium“ gesprochen (Gregor40 Dellin 1991, 620) ; und als Prostituierte hat sie Patrice Chéreau dargestellt. In solchen Zuschreibungen enthüllen sich eher Männerphantasien: erst die des Alberich, später des – wie sich nicht erst dort zeigt – durchaus verführbaren Siegfried, der – wie Alberich – wenn nicht ‚Liebe‘, so doch ‚Lust‘ sich von den Nixen zu erpressen hofft (Rheingold [SSD V, 212]). Schellings Mythologie-Vorlesungen sehen den ‚Urzustand‘ dieser Frauengestalten in grundsätzlicher Zweideutigkeit (SW II/2, 152 ff.): als „Urmöglichkeit“, also ein So-aber-auch-anders-sein-Können, wie es sich im Bilde der Jungfräulichkeit versinnlicht: „Jungfräulichkeit ist nicht insbesondere Weiblichkeit (sie kann ja auch von dem männlichen Geschlechte prädicirt werden), sondern Geschlechtsunentschiedenheit“ (157). In diesem Sinn gehört auch Loge zu den prinzipiell zweideutigen UrsprungsFiguren, wieder auch hinsichtlich „der Geschlechtsdoppelheit“. Nach Grimms Deutscher Mythologie (Grimm 1835, Bd. 1, 199) ist er zwitterhaft genug, um nicht nur Kinder zu zeugen, sondern auch mit ihnen schwanger zu gehen. Aber selbst die Rheintöchter sind flüchtige, unbeständige Verbildlichungen der Vieldeutigkeit der Naturzustandes: beliebige Repräsentantinnen des Ewigweiblichen neben Freia, Erda, den Walküren/Wunschmädchen, den Nornen. Jacob Grimm (l. c., 346 ff.) gibt zahlreiche Illustrationen für den ständigen Rollentausch dieser Gestalten der Ur-Jungfräulichkeit (vgl. auch Donington 1976, 48). Schelling erinnert an die Schlange, die so oft in den Ursprungsmythen, nicht nur den althebräischen, sondern auch den griechischen und germanischen, als sollizitierendes oder verführendes Prinzip auftritt: Die Schlange, die in sich selbst zurückgekrümmt ein Bild der Ruhe, ja der Ewigkeit ist, wirkt verderbend, sobald sie sich entrollt, aufrichtet. Allgemein wurde daher die Schlange als Symbol jener zweideutigen Natur (jener natura anceps) betrachtet, durch welche, wenn sie sich von innen nach außen wendet, der Umsturz kommt (SW II/3, 384).

In diese Reihe gehört zweifellos auch Loge, der listig-unzuverlässige, der Erzeuger der Mitgartschlange, der Brandstifter und „Oberfeuerwerker“, der den Rheintöchtern als personifizierten Elementargeistern des Wassers und des Goldes dunkel verwandt ist, der ihre Interessen vor Wotan vertritt und den unvergleichlichen Wert der Liebe wortmächtig besingt (SSD V, 225 f.), ja der sich ‚fast schämt‘, mit 40 So der Redakteur des Münchner Vaterlands über die unglückselige Münchener Uraufführung des Rheingold am 22. September 1869.

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den Göttern „zu schaffen“ (267), Loge schließlich, der dem Rheingold sein feuriges, das Auge bestrickendes Leuchten verleiht (l. c., 209 f.) und darin im Wortsinne ein Lucifer, ein Lichtbringer, ist. Loge kooperiert ja auch mit den Wassernixen bei der Herbeiführung des Weltenendes, das als Bakuninscher Weltenbrand einseitig beschrieben wäre, da die Rheintöchter durch Anschwellenlassen der Wogen gewaltig mithelfen: „der Rhein ist vom Ufer her mächtig angeschwollen und wälzt seine Flut über die Brandstätte bis an die Schwelle der Halle“ (SSD VI, 256). Aber die Natur, deren Symbole die Mutter- und Frauengestalten, auch Loge sind, ist gerade keine mythische Referenz mehr; sie ist von Wagner (wie schon 41 von Schelling) durch und durch diesseitig aufgefasst. Aber die Konsequenzen aus dieser unscheinbaren Konvergenz sind grundstürzend für das Konzept einer ‚Neuen Mythologie‘. Sind die Mächte, die im Mythos wirken, Naturkräfte, so kann der Mythos nicht leisten, wozu ihn das frühere Konzept ausersehen hatte: Lebens- und Sozialverhältnisse zu rechtfertigen. ‚Mythisch‘ heißt vielmehr ein Schuld- und Verblendungszusammenhang, der mit unbarmherzig ihm eingewebter Logik auf seinen eigenen Untergang aus ist. Die Überwindung der Mythologie ist eine Befreiung vom ‚blinden Princip‘ der Unwillkürlichkeit; und sie selbst ist es, die auf ihre Abschaffung hinwirkt. Die in ihr arbeitende Logik ist ein Werk nicht der übersinnlichen Mächte (der Götter), sondern der von selbst ins Licht und zur Freiheit strebenden – Natur.

Die Natur als „Feindin ewiger Besitzungen" Die Konsequenz passt zu Wagners Anschluss an den Feuerbach’schen Naturalismus. Aber sie passt auch zu einer Grundüberzeugung der Frühromantik. Nicht ins Transzendente überhöhte normative Instanzen, sondern die Natur selbst duldet nicht die Gewalt, die in Wotans und Alberichs Schandtaten begangen wurde. Wagner hat durchgängig – es wäre aufwendig, das im Détail nachzuweisen – die Natur mit der Liebe und dem Unwillkürlichen, auch mit dem Grundgedanken des ‚Kommunismus‘, verknüpft. Dafür gab es eine mächtig nachwirkende frühromantische Vorläuferschaft, z. B. bei Novalis. „Die Natur“, sagt dieser, will nicht der ausschließliche Besitz eines Einzigen seyn. Als Eigenthum verwandelt sie sich in böses Gift, was die Ruhe verscheucht, und die verderbliche Lust, alles in den Kreis des Besitzers zu ziehen, mit einem Gefolge von unendlichen Sorgen und wilden Leidenschaften herbeylockt. So untergräbt sie heimlich den Grund des Eigenthümers [man denke an E. Th. A. Hoffmanns und Wagners Bergwerke zu Falun!], und begräbt ihn bald in den einbrechenden Abgrund, um [als Geldstück] aus Hand in Hand zu gehen, und so ihre Neigung, Allen anzugehören, allmählich zu befriedigen (NS I, 245).

41 „Mater und materia“, sagt Schelling, „sind im Grunde nur ein Wort, wie die Sache selbst im Begriff übereinstimmt“ (SW II/2, 193)..

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Es gibt eine ähnliche Äußerung in den Vermischten Bemerkungen (der Handschrift von Blüthenstaub): Die Natur ist Feindinn ewiger Besitzungen. Sie zerstört nach festen Gesetzen alle Zeichen des Eigenthums, vertilgt alle Merckmale der Formation [Münzform Ring!]. Allen Geschlechtern gehört die Erde – jeder hat Anspruch auf alles (NS II, 416, Nr. 14).

Richard Wagner variiert diese (ihm zweifellos bekannten) Zitate nur, wenn er im Revolutionsjahr 1849 schreibt: Was die Natur geschaffen, die Menschen bebaut und zu fruchttragenden Gärten umgewandelt, es gehört den Menschen, den Bedürftigen, und keiner darf kommen und sagen: „Mir / allein gehört dies alles, und ihr anderen alle seid nur Gäste, die ich dulde, so lange es mir gefällt und sie mir zinsen, und die ich verjage, sobald 42 mich die Lust treibt“ (SSD XII, 249 f.).

Auffällig ist, dass diese Belege weder mit sozialen noch mit sittlichen Erfordernissen argumentieren, sondern einen Willen der Natur einmahnen. Der „Mutter Erde“ selbst widerstrebt es, dass „unfromme Hände“ (wie es in Miltons großem Epos heißt), „ihre Eingeweide nach Schätzen durchwühlen, die besser verborgen blieben“ (Paradise Lost, Vs. 678 ff.). Das etwa tun die Nibelungen: „in unsteter, rastloser Regsamkeit durchwühlen sie (gleich Würmern in toten Körpern) die Eingeweide der Erde: sie glühen, läutern und schmieden die harten Metalle“ (SSD II, 156). Nicht einem sittlichem Imperativ, sondern der „solidairen Natur allen Eigenthums" widersetzt sich nach Franz Baaders Worten, wer die Schätze der Erde in privatem Besitz vereinzelt (Baader 1925, 410 f.). Wie eindrucksvoll – und auch: wie zwiespältig – ist diese romantische Vision! In ihrem Affekt gegen den Kapitalismus und die liberale Ökonomie kommen die Schriftsteller der Epoche durchaus mit dem Einspruch der Sozialisten überein. Im Gegensatz aber etwa zum St.-Simonismus, der die „Ausbeutung des Menschen durch den Menschen“ durch die universelle „Ausbeutung des Globus durch die Industrie“ ersetzen möchte (Bouglé/Halévy, 1924, I, 85), erfolgt ihr Protest weniger im Namen einer konkret-revolutionären Zukunft als in Treue gegen das „Erste und Älteste“, wie Friedrich Schlegel einmal sagt (KA III, 89). Gemeint ist nicht das Gestrige, sondern dasjenige, das, weil es nie begonnen hat, auch nie vergehen kann (KA II, 205 f.): „kein Ende hat nur, was keinen Anfang hat“ 42 Es lohnt sich fast, in Erinnerung zu bringen, dass dies ein Grundgedanke des Kommunismus ist. Während ich dies schreibe, lese ich in Le Monde vom 30. Okt. 1993, S. 1: La fin des kolkhozes): „C’est évidemment un symbole: soixante-seize ans, jour pour jour, le 28 octobre 1917, du mot d’ordre bolchévique ‚La terre aux paysans!‘, Boris Eltsine a rendu public son décret ouvrant la voie à une privatisation de l’ensemble des terres de la Fédération de Russie et démantèlement des fermes collectives. Après être parti à l’assaut – au propre et au figuré – des soviets, le président russe s’attaque maintenant à un autre fondement de la mythologie communiste: la propriété collective de la terre. L’article 11 de la Constitution brejnévienne, théoriquement encore en vigueur, ne stipule-t-il pas que ’la terre et ses ressources, l’eau, les plantes, les animaux sont la propriété perpétuelle et gratuite des peuples qui y vivent?’“

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(Wagner an Röckel am 25./26. 1. 1854), etwa so, wie das doppelsinnige ‚einst‘ den Zeitsinn in der Schwebe lässt. Trauer klingt mit im Protest der Romantiker: Trauer über die in der Wertabstraktion verhängte Zerstörung der Gebrauchswerte, deren Inbegriff die Natur ist. Die Natur nicht als Objekt der Wissenschaft, sondern als jener heimatliche „Verwahrsam“ (SW II/2, 157), in welchem das außermenschliche Sein und das menschliche Bedürfnis sich ineinander spiegeln und harmonisch vermitteln. Ist denn, aus dieser Perspektive, der Ring des Nibelungen nicht auch das Mahnmal jener Gewalttat, durch die eines Tages die Natur unter das Gesetz der Warenproduktion geriet, um fortan nur noch eine indirekte Beziehung zum humanen Bedürfnis zu unterhalten, das Wagner „Liebe“ nennt? Der „Jubel“ der Rheintöchter über den wieder „gewonnenen Ring“ (SSD VI, 256) stimmt jedenfalls vollkommen überein mit Wilhelm Weitlings (des von Wagner bewunderten christlichen Handwerker-Kommunisten) Begeisterung an der Vorstellung, „alle Geldstücke und überhaupt alles Gold und Silber würden einmal eingeschmolzen, um daraus Gegenstände für den allgemeinen Gebrauch zu verfertigen“ (Weitling 1895, 38). Und gilt es nicht – entsprechend –, den natürlichen Wert der „Liebe“, der „sel’gen Liebe“, gegen ihre tauschbare Form, die verselbstständigte „Lust“, zu retten? In der ursprünglichen Fassung der Götterdämmerung sollte Brünnhilde sterbend Worte aussprechen, deren Sinn (wie Wagner dann erklärt) „in der Wirkung des musikalischen Drama’s bereits mit höchster Bestimmtheit ausgesprochen“ sind: dass nämlich die Erlösung vom „tiefsten Leiden“ (vom Liebesfluch) nur „trauernder Liebe“ gelingen kann: einer Liebe, die trauernd ihrer unentfremdeten Wahrheit eingedenk bleibt und der zum Lohn für die Treue die Binde des „Wahns“ von den „Augen“ genommen wird (SSD VI, 255 f.). Auch Richard Wagner begründet seine Kritik des eigenmächtigen Besitzes mit dem Willen der Natur. Für „unrechtmäßig“ und „keiner wirklichen Rechtfertigung“ fähig erscheinen ihm Besitz und Eigentum. Beides sind Ausdrücke, deren intransitive Sageweise die Tat eines „willkürlichen Sichaneignens“ zu verhehlen suche. Niemand kann ein „wahrhaftes natürliches Recht auf diesen oder jenen Besitz usw. sich zusprechen“. Darum zwingt das „gefühlte und ängstigende Berechtigungsbedürfnis“ die Besitzenden dazu, „sich der Ausschweifung der Phantasie [zu] überlassen [...], die denn auch in unseren heutigen Staatsinstitutionen, so nüchtern sie aussehen, zum Hohn der gesunden Vernunft ihre Ausgeburten niedergelegt hat“ (SSD XII, 254 f.). In Wahrheit will die urkommunistisch gesinnte Natur allen Menschen ihre Schätze in gleichem Maße erschließen, sie bezweckt „Glück, Besitz oder Genuß Aller, wogegen der eigenmächtige Erwerb des einzelnen ein Raub an Allen ist“ (SSD II, 146). Selbst der Religion räume unser „staatsgesellschaftliches Gewissen“ eine geringere Heiligkeit ein als dem „Eigentum“: Als „Grundlage alles gesellschaftlichen Bestehens“ verlangt es den polizeilichen Schutz „der Besitzenden vor den Nichtbesitzenden“. So zeigt sich, „daß mit dem an sich so einfach dünkenden Begriffe des Eigentums, durch seine staatliche Verwertung, dem Leibe der Menschheit ein Pfahl eingetrieben worden ist, an dem sie in schmerzlicher Leidenskrankheit dahinsiechen muß“ (SSD X, 267).

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Und er erläutert, schon im Vorblick auf seine eigene Ring-Dichtung: „Möchte in der ältesten Vorstellung der Hort [der Nibelungen] als die durch das Tageslicht allen erschlossene Herrlichkeit der Erde erscheinen, so sehen wir ihn später in verdichteter Gestalt als die machtgebende Beute des Helden, der ihn als Lohn der kühnsten und erstaunlichsten Tat einem überwundenen grauenhaften Gegner abgewann“ (SSD II, 153). Die von Natur allen Menschen gleichermaßen zugedachte Macht, in „realen Besitz" vereinzelt, wird zum Instrument der „Herrschaft“ des einen über den anderen (l. c., 133). Und „über alles charakteristisch ist es, daß [der machtgebende Besitz] nie in träger Ruhe, durch bloßen Vertrag, sondern nur durch eine ähnliche Tat, wie die des ersten Gewinners es war, von Neuem errungen wird“, nämlich durch gewaltsame Aneignung, durch Verrat und Totschlag (l. c., 153). So ruht auf dem Genuss der ersten Tat der fortwirkende Bann (der „Fluch“ [SSD X, 266; vgl. V, 254 f.]) seines ersten Besitzers. (Andwari zu Loki – in der Edda –: „Fluch dem, der den Ring Andwaranaut, meinen Goldring besitzt! Verderben soll er und sterben, er sei ein Mensch oder ein Gott!“ Und Fafner zu Sigurd: „Das gellende Gold, der glutrote Schatz, die Ringe werden dich morden.“) Nach Wagners Ansicht dürfte „der verhängnisvolle Ring der Nibelungen, als Portefeuille [...], das schauerliche Bild des gespenstischen Weltbeherrschers 43 [Geld] zur Vollendung bringen“ (l. c., 268). Aber die apokalyptische Vision ist nicht unabwendbar. Die Verwertung des Erdgeists als Geld kann unter bestimmten Umständen der Befreiung dienen. Novalis etwa preist den „Handelsgeist“, der die Münze umtreibt, als den „Geist der Welt" (NS III, 464, Nr. 1059), weil er ein Mittel ist, die Menschen von der Unmittelbarkeit und aus den Fesseln ihrer natürlichen Lebensform zu erlösen und ihnen Mannigfaltigkeit und Reichtum des vollen Universums aufzuschließen. Nicht schon dies, dass es bloßes Mittel ist, macht das Geld zu etwas Bösem. Es ist nur nicht das, was sein soll, also nicht selbst Zweck. „Kein Mittel ist das, was eigentlich seyn soll; denn sonst wäre es Zweck, nicht Mittel. Darum ist aber Mittel an sich nicht böse“ (SW II/2, 111). Auf jeden Fall muss der letzte Zweck jeder Tauschoperation im Einklang mit der Natur stehen, die den privaten Besitz nicht duldet. Zwar wird ihre „Macht“, wie es in jenem „dunklen und unverständlichen Lied“ vom König Gold (in Novalis’ Heinrich von Ofterdingen) heißt, „je mehr [...] gedämmt“, je wilder das Metall „umher sich treibt auf Erden“. Doch taucht zum Schluss des Gedichtes hinter dem euphorischen Tableau der ‚Befreiung‘ die Kulisse einer Wagner’schen Götterdämmerung auf, in welcher die „Mutter“ des Goldes, die weißblütige „Flut“, mit sanfter Gewalt ihr Terrain zurückerobert und „uns“ (das sind wir Menschen) zurückträgt „in der Heymath Schoß“ (den wiederhergestellten Urzustand einer nicht von menschlichen Machttrieben „gemißbrauchten“ Natürlichkeit [NS I, 250]). Der Vergleich mit Wagner liegt nahe: In der Schlussszene der Götterdäm43 Freilich sind die Konnotationen des zitierten Textes, des berüchtigten Aufsatzes „Erkenne dich selbst", klar anti-jüdisch. Wagner identifiziert, wie viele zeitgenössische Sozialisten, das Zinswesen und den Kapitalismus einfach mit dem Judentum.

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merung streift Brünnhilde den Ring von Siegfrieds kalter Hand und gibt ihn, den „zum Unheil“ ihnen geraubten, den Rheintöchtern zurück: Das Feuer, das mich verbrennt, rein’ge den Ring vom Fluch: ihr in der Flut löset ihn auf, und lauter bewahrt das lichte Gold, den strahlenden Stern des Rhein’s, der zum Unheil euch geraubt. – (SSD VI, 253)

Liebesfluch, Raub, gewalttätige Umwandlung von Natur in Unnatur, Vertragsbruch, Herrschaftsausübung, Ermordung des Konkurrenten, Tod des letzten Besitzenden und Rückwandlung des Denaturierten zur Naturform: das sind die Stadien auf dem Schickalswege der Goldverwertung. Sie folgen „festen Gesetzen“, nicht erst in der naturphilosophischen Deutung, die die Romantiker dem Wandertrieb des fait social gewordenen Minerals haben zuteil werden lassen, sondern bereits in den emblematischen Vorstellungen von Fortunas Kugel oder Rad, deren Umtrieb Glück und Reichtum der Menschen zeitlich begrenzt. In Dantes Inferno ist Fortuna die „oberste Verwalterin [des] Herrn, des Weisheit alles übersteigt“. Ihre Bestimmung ist die Herstellung kosmischer Gerechtigkeit, damit, wenn’s Zeit ist, eitler Reichtum wandre von Volk zu Volk, von einem Stamm zum nächsten und keine Menschensatzung es verhindre. (Inferno, VII, 78-81).

4. HEILSVERFEHLUNG UND LIEBESVERBOT Richard Wagners Fliegender Holländer im Motiv-Kontext der endlosen Fahrt1 Moderne und antike Irrfahrten: Odysseus und der Holländer Die neuzeitliche Literatur kennt viele Weisen der Zielverfehlung und des Scheiterns. Wahrscheinlich lässt sie sich insgesamt durch diesen Zug charakterisieren. Er steht für einen schier unerschöpflichen Vorrat an Themen und Motiven, aus denen die Dichtung bis hinein in die jüngste Gegenwart, und mit steigender Intensität, sich inspiriert. Eminente Belege finden sich in den zahlreichen Bearbeitungen und Variationen der Sage vom Fliegenden Holländer von den Lusiaden des Luis de Camões bis hin zu Samuel Taylor Coleridge’s Rime of the Ancient Mariner, zum Bateau ivre Arthur Rimbauds, zum Jäger Gracchus Franz Kafkas. Ihr historischer Ursprung ist unschwer auszumachen: Die kollektive Phantasie vom ziellos irrenden Schiff – „blutrot die Segel, schwarz der Mast“ (SSD I, 271) – weist auf das Ereignis der neuzeitlichen Epochenwende zurück. Seither hat „le sinistre pirate/ De l’infini“, wie Victor Hugo ihn nennt, seinen Spuk auf den Meeren der modernen Innerlichkeit angetreten (Hugo 1950, 519). Die Katastrophe (und das meint ja, wörtlich übersetzt: die Um-wendung), die das neue Weltbild der mittelalterlichen Kosmo-Theologie zumutet, besteht u. a. darin, dass sie den Fixstern Erde aus dem Zentrum rückt und mit ihm auch den Menschen aus dem Schöpfungsmittelpunkt entfernt. Eine symbolschwangere Ent-stellung, die die prästabilisierte Harmonie zwischen der irrenden Seele und dem Ort, an welchem sie eigentlich zu Hause ist, durchschneidet. „Jetzt haben wir Mut gefaßt“, sagt Galilei, „und lassen die Gestirne im Freien schweben, ohne Halt und in großer Fahrt, gleich unseren Schiffen“ (Brecht 1988, 11 und 191). Der moderne Mensch hat Mut gefasst, seinen eigenen Erkenntniskräften mehr zu trauen als den Einflüsterungen einer fragwürdig gewordenen übersinnlichen Welt; er durchbricht das göttlich verhängte Tabu, die Grenzen der alten Welt zu überschreiten (auch im imperial-politischen Sinne); er durchschifft die unbekannten Meere und kolonisiert die wilden Kontinente. Er wird die Pole entdekken und den Mond erreichen. Nun ist es auffällig, dass sich die Dichter – von jeher gleichsam die Historiographen der Schicksale der menschlichen Seele – mit der vom Weltgeist ausgegebenen Parole eines hemmungslosen Fortschritts von Anfang an nicht recht befreunden können. In die Feier der Befreiung aus den Banden der von Gott geschaffenen und tyrannisch in Ordnung gehaltenen Welt mischen sich allmählich (und je weiter die Neuzeit voranschreitet, desto unüberhörbarer) Töne, die Zweifel an der Legitimität, ja nur an der Wünschbarkeit ei01 Zuerst veröffentlicht in: Programmbuch der Bayreuther Festspiele 2003, 22-35.

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ner völlig auf eigene Füße gestellten Weltneugier artikulieren. Einen eindrucksvollen Beleg für die Wendung aus der jubilatorischen Feier Galileis zur Verneinung des Wertes der Emanzipation liefert Nietzsches Parabel vom Tollen Menschen: „Wohin ist Gott?“ rief er, „Ich / will es euch sagen! W i r h a b e n i h n g e t ö d t e t – ihr und ich! Wir Alle sind seine Mörder! Aber wie haben wir diess gemacht? [...] Was thaten wir, als wir diese Erde von ihrer Sonne abketteten? Wohin bewegt sie sich nun? Wohin bewegen wir uns? Fort von allen Sonnen? Stürzen wir nicht fortwährend? [...] Irren wir nicht wie durch ein undendliches Nichts? Haucht uns nicht der leere Raum an? Ist es nicht kälter geworden? Kommt nicht immerfort die Nacht und mehr Nacht?“ (Nietzsche 1988 III, 480 f.)

Solche Vorbehalte sind kein spezifisch neuzeitliches Syndrom und entspringen nicht einer eigentümlichen Verbundenheit des dichterischen Worts mit der mittelalterlich-christlichen (von Kopernikus und Galilei untergrabenen) WerteOrdnung. Jeder Mythos und jede religiöse Weltanschauung – sei sie christlich oder nicht – schützt die oberste Wertüberzeugung, die den Konsensus ihrer Teilhaber fundiert, durch den Akt der sanctio: der Heiligung, die zugleich als Sanktion, als Ahndung der Tabuverletzung, funktioniert. Es ist naiv zu glauben, dass man die gemeinschaftsstiftende Kraft einer aus Wertüberzeugungen gerechtfertigten Weltansicht in eine von diesen Axiomen sich befreiende Gesellschaft hinüberretten könne. Ist es Zufall, dass die Meerstraße von Gibraltar den mythischen Namen der ‚Säulen des Herkules‘ trug und also mit dem Index der Sanktion versehen war (Apollodor II, 5, 10)? Es sind die ‚columnae fatales‘, die erst in apokalyptischer Endzeit offenstehen (wie es das Chorlied aus Senecas Medea verheißt) und vorderhand die Grenzen des erlaubten Wagemuts markieren (vgl. Pindars dritte Olympie, III, c): die Schwellen der bekannten Welt als des Geltungsbereichs der alten Götter. Wenn Odysseus sie in kühner Fahrt hinter sich lässt, bricht eine neue Zeit an. Es gibt andere loci fatales, in christlicher Zeit z. B. das (euphemistisch so genannte) Kap der Guten Hoffnung. Seitdem es umschifft ist, erblickt nämlich die kollektive Phantasie der Seefahrer das Gespenst des Fliegenden Holländers auf den Meeren der Neuen Welt: Ziellos, mit beschädigtem oder weggespültem Steuer, und zuweilen ohne lebende Besatzung, geistert es über die Fluten und verhängt über den, der es kreuzt, den Fluch der Ziel-, der Heimat- und Sinnlosigkeit. Dies Motiv unterscheidet sich wesentlich von seinen antiken Vorläufern. Um den dramatischen Funktionswandel zu illustrieren, will ich zunächst die moderne Epoche durch zwei möglichst weit auseinanderliegende Textbeispiele ausmessen: die Erzählung Der Jäger Gracchus (1916/17) und ein Stück aus Dantes Divina Commedia (1307-21). Beide differieren frappant von den antiken Irrfahrten à la Odyssee oder Aenesis. Kafkas Erzählung ist nicht in einem durchformulierten Text überliefert, sondern in allerlei Varianten und Notaten, die der erste Editor, Max Brod 1954 in zwei alternative Erzählstücke zusammengestückt hat (Kafka 2002 [Nachgelassene Schriften und Fragmente I], 305-310; die Notizen 310-313). Der Jäger Gracchus,

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dessen Namenszug gewissermaßen die Unterschrift seines Schöpfers trägt‚ ‚graculus‘ heißt wie ‚kavka‘ Dohle), ist bei der Gemsenjagd im Schwarzwald verunglückt. Fröhlich wie die Braut ins Hochzeitskleid schlüpft er ins Totenhemd und streckt sich auf der Bahre aus, die ihn ins Jenseits – die eigentliche Heimat des Menschen – tragen wird. Er liegt und wartet, doch „dann geschah das Unglück“: Die Totenbarke – unverkennbares mythologisches Requisit: Charons Boot, das Totenschiff Naglfar, das bretonische Seelenschiff, das Fegefeuer- oder Höllenschiff oder die Barke des (ägyptischen) Totengottes Sokar –, der schwimmende Sarg nimmt eine Zeitlang Kurs auf die himmlische Heimat, wird jedoch unversehens abgelenkt, d. h., verfehlt sein Ziel (wie es charakteristisch heißt) und muss fortan auf den „irdischen Gewässern“ rastlos und ohne die Aussicht auf Erlösung oder Vernichtung mit dem Wind fahren, „der in den untersten Regionen des Todes bläst“. Nur einige wesentliche Züge seien herausgehoben. Zunächst dieser, dass Kafkas Erzählung mit großem Geschick eine klassische Opposition zum Einsturz bringt: Im allgemeinen verwendet man den Ausdruck ‚Zeitlichkeit‘ in vielen Zusammenhängen gleichbedeutend mit ‚Endlichkeit‘ – beide Begriffe sind der ‚Ewigkeit‘ entgegengesetzt. Nun ist das Absurde an dem Sturz in die Zeitlichkeit, von dem Kafka erzählt, dass die Zeit gerade kein Ende bringt. Das Ende eines Lebens akzeptiert der Jäger als die „Ordnung“ der Dinge. Aber was in der Erzählung zu Ende geht, ist nichts Geringeres als das transzendente/übersinnliche Ziel der menschlichen Existenz selbst. Sein Verlust gestattet der réalité humaine keineswegs, sich im Diesseits heimatlich einzurichten: Unter dunklen Himmeln, die keine Hoffnung mehr gewähren, schwelt eine unbefriedigte Sehnsucht, die den Lebenskahn nicht zur Ruhe kommen lässt. Der Jäger stellt (und zwar gleich dreimal) die mythische Frage nach einer Urschuld. Zwar will er sie sich selbst nicht zuschreiben. Gleichwohl interpretiert er die Katastrophe der Ablenkung in einer religiösen Kategorie. Eigentlich war er zur Abwehr von Wölfen im Schwarzwald „aufgestellt“ – nicht zur Gemsjagd (Tiere, die im Schwarzwald übrigens nicht heimisch waren). ‚Aufstellen‘ könnte ihn nur ein Herr: Sollte der Herr gemeint sein? Die Jagd ist überdies in Kafkas Werk – und nicht nur in dem seinen – ein geläufiges Symbol weltneugieriger Zudringlichkeit, die sich das Seiende verfügbar machen möchte. Jedenfalls ahnt der Jäger den Zusammenhang zwischen seinem Tun und seinem Leiden. Wie könnte er sonst gegen eine Schuldzuschreibung protestieren und zugleich ein Anrecht auf die himmlische Heimat einfordern? Schließlich ist die Schuld das Komplement der Erlösung: Nur der kann sie ersehnen, für den das religiöse Schema noch Sinn hat. So auch der Jäger: Für ihn ist ausgemacht, dass es Schuld gibt, wenn es auch die Schuld eines anderen ist: des Bootsführers – unüberhörbare Anspielung an den „Steuermann Christus“, der in der Lyrik des Mittelalters und noch im Barock den Kahn der Lebensreise vor Fährnissen und dem Scheitern schützt und ins göttliche Verwahrsam zurückführt. Der Bootsführer hat den Jäger also – aus Unachtsamkeit? aus Anhänglichkeit an die geliebte Heimat, die natürlich ein Diesseits-Symbol ist? – vom Kurs aufs Ewige abgebracht. Dieses Ewige

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mag von dem Augenblick an, da der moderne Mensch der Natur gegenüber die Stellung des Jägers, des Forschers und Entdeckers bezogen hat, inexistent geworden sein: Es hat offensichtlich nicht aufgehört, als focus imaginarius das Selbstverständnis des Menschen zu leiten. Überspringen wir eine Reihe von Zügen, die Kafkas Erzählung ganz offenbar in die Tradition des Fliegenden Holländers und des Bateau ivre stellen (einige haben den Charakter von Zitaten), und konzentrieren wir uns auf das strukturale Gerüst des Motivs, das darin überdauert. Die metaphorische Tradition der Lebensreise, die Kafka mit charakteristischen Abweichungen beschwört, appelliert an eine Ökonomie des Heils. Ich verwende „Ökonomie“ im etymologischen Sinne des Wortes: Drei Phasen artikulieren die Bahn des endlichen Lebens: etwas ist Ursprung, Heimat, Ausgangspunkt (oîkos), etwas ist Ziel – und dazwischen dehnt sich eine Bewegung, die den einen Punkt mit dem anderen verbindet. Nicht sie, die das Menschenleben der zeitlichen Erstreckung nach erschöpft (denn der Ausgangspunkt ist immer schon verloren, und das Ziel wird nicht lebend erreicht) – nicht sie ist freilich das eigentlich Seinsollende, sondern nur das Mittel, den anfänglichen Verlust der Heimat im Vorlauf-auf-sein-Komplement wiedergutzumachen. Das geschieht, indem die Lebensreise ihre Abweichung vom heimatlichen Ort – vom oîkos, vom lieu propre – nach einem vorbestimmten Gesetz (nach einer oikonomía) korrigiert und das Einlaufen in den Hafen zu einer Rückkehr (ob, wie im Christentum, auf höherer Ebene oder geradezu) an den Ausgangspunkt werden lässt. In solchem Aufschub des Ziels oder des Sinns der Reise lauert freilich von Beginn eine Gefahr, an welche der Untertitel von John Bunyans Pilgerreise (1678; Bunyan 1993) erinnert: His [nämlich des christlichen Pilgers] Dangerous Journey [...] from this World, to that which is to Come. Es ist die Gefahr der Zielverfehlung oder – schlimmer – der Erkenntnis, dass es ein dem Menschen wesenhaft zubestimmtes, ein (wie Lukács sagt) ‚transzendentales Obdach‘, nicht gibt (Lukács 1963, 22 ff., 35). Ich wage eine schreckliche Vereinfachung und behaupte, dass in dem Abgrund, der sich zwischen diesen beiden Möglichkeiten höhlt, die wesentliche Differenz der antiken und der modernen Metaphorik des Lebensweges sich auftut, und erinnere an die Ökonomie der verzögerten Heimreise in einer der ältesten abendländischen Dichtungen, der Odyssee. Gleich der Eingang des Gedichts beschwört in einem großen syntaktischen Bogen sowohl die Potenzierungen des Aufschubs wie das endliche Gelingen der Heimkehr (nóstos, nóstimon hämar): Der Umweg, der das Ziel in die Ferne rückt, gefährdet nicht wirklich das Wohnrecht des Menschen in einem ihm zubestimmten Heim, an einem Ort, an welchem sein Selbst eigentlich zuhause ist. Odysseus erreicht – auf Umwegen – sein Ithaka. Die Idee der garantierten Heimkehr des irrenden Odysseus hat denn auch die Metaphorik der großen Systeme der abendländi2 schen Metaphysik inspiriert: so noch diejenigen Schellings und Hegels.

02 „[...] die Odyssee unseres Geistes [...], der, wunderbar getäuscht, sich selber suchend, sich selber flieht“ (SW I/3, 628). Hegel vergleicht die geschichtliche Selbstbegründungsarbeit des Geistes mit

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Anders ergeht es jenem Odysseus, von dem Dante in der Divina Commedia (1307-21) erzählt (Inferno, Canto XXVI). Ich halte die Erzählung für den Schwellentext, an dem sich der Funktionswandel von der antiken zur modernen Lebensreise am schlagendsten aufzeigen lässt. Ulyss steuert hier erstmals innerhalb der Motivgeschichte ins offene Meer hinaus und ermutigt in kühner Rede seine zögernden Gefährten, die Säulen des Hercules zu überschreiten und den „anderen Pol (altro polo“ [vs. 127]) der sonnenabgewandten Seite der Erde zu erforschen („di retro al sol, del mondo sanza gente“ [vs. 117]). Unfromme curiositas ist die Triebfeder seines contrapasso, seiner Verfehlung, und die Strafe folgt auf dem Fuße. Als die Mannschaft in der Ferne einen gigantischen Bergzug gewahrt, wird das Schiff von einem Wirbel ergriffen, der vom ersehnten Lande („del mondo esperto“ [vs. 98]) seinen Sog ausübt und ohne Zweifel den Prototyp all jener „whirlpools“ und „Maelströme“ vorformt, mit denen von Camoês über Coleridge, Edgar Allan Poe und T. S. Eliot die säku3 lare Weltneugier, der Geist der discovery, geahndet wird. – Das physische Scheitern hat sein Komplement im Scheitern am geistlichen Heil: Ulysses ist ins Inferno gebannt, den Ort der in Ewigkeit verweigerten Heimkehr – die Stätte der Ziel-, den Ort der Sinnlosigkeit. Schon diese Erzählung präsentiert das Schema vieler anderer, die seiner Struktur folgen: Stets bindet die Dichtung das Wagnis der Emanzipation von der Ökonomie des Heils an eine Art negativen Glaubens: Das verweigerte Heil, das zunächst als Fessel der Vernunfttätigkeit gefühlt wurde, wirkt vom Augenblick seiner Verleugnung an als Fluch: so in der Sage von Ahasverus, dem Ewigen Juden, der bald mit der Gestalt des Fliegenden Holländers verschmilzt.

„Der ewige Jude des Oceans“ und seine typologische Verwandte: Kundry, die ‚ewige Jüdin‘ Selbst wenn der Dante’schen Kosmo-Theologie die Integration ihrer kühnen Widersacher noch gelingt, wird man nicht leugnen, dass sie dafür den Preis einer gegenüber Homers Welt beträchtlichen Komplizierung des Schemas der Heimkehr bezahlt. Die Ökonomie des Heils erhält sich nur, indem sie mit Strafe und Verfemung belegt, was sich ihr widersetzt. Das ist, wie gesagt, grundsätzlich ein Strukturerfordernis aller religiösen Systeme; aber man wird nicht übersehen, dass es an der Grenze zur neuzeitlichen Rationalität ganz anders beansprucht wird als bei Gelegenheit des Feuerdiebstahls durch Prometheus/Phosphorus/Lucifer. Mit diesen Gestalten teilt Dantes Ulyss immerhin den negativen Bezug auf die Ökoder Mühsal des Aeneas, Rom zu gründen: „Tantae molis erat se ipsam cognoscere mentem“ (TWA 20, 455). 03 Auch das Schiff des Danteschen Ulyss wird an eben diesem Ort zerschmettert: „Tre volte il fé girar con tutte l’acque;/ a la quarta levar la poppa in suso/ e la prora ire in giú, con’ altrui piacque,/ infin che ,l mar fu sovra noi richiuso‘ (vs. 139-142).

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nomie des Heils; und das gilt in noch höherem Maße für eine andere Mythenfigur, die zwar aus mittelalterlicher Legendenbildung erwächst, doch aber erst in der Neuzeit ihre eigentliche Wirkungsgeschichte antritt. Ich meine die Gestalt des ‚wandering jew’, des ‚juif errant’, des ‚Ewigen Juden‘. Die Sage vom Ewigen Juden aktualisiert zweifellos ein Motiv, in dessen Wandlungen und Revisionen, aber vor allem: in dessen Kontinuität christlicheuropäisches Selbstverständnis sich von jeher symbolisiert glaubte. Es ist eine gleichsam häretische Variante christlichen Selbst- und Weltverständnisses, und sie taucht in schriftlich fixierter Form erst im frühen 17. Jahrhundert (1602) auf, nämlich in dem Volksbuch des fiktiven Verlegers (mit dem sprechenden Namen) „Christoff Creutzer zu Leyden“ (auch der Ortsname ist selbstverständlich sprechend). Möglicherweise geht es auf eine hundert Jahre ältere Quelle (die aber nicht mehr existiert) zurück. Erzählt wird dort, dass Ahasver, ein jüdischer Schuster, an dessen Hausschwelle Jesus bei seinem Gang ans Marterholz vorbeigeführt wurde, diesen höhnisch zu größerer Eile angetrieben habe, worauf sich Christus ihm zugewandt und gesagt habe: „Ich werde stehen und ruhen, du aber sollst gehen.“ In der Fiktion des Volksbuches kommt diese Nachricht aus dem Munde Ahasvers selbst. Denn den habe der glaubwürdige Bischof, von dem im Titel die Rede ist, einmal im Winter 1542, während seiner Studienzeit, und mit anderen Studenten zusammen in der Kirche während des Gottesdienstes gesehen und hernach gesprochen (und vom Bischof will es der Verfasser des Volksbuches haben). Dem Bischof sei schon während der Predigt die hohe Figur des Mannes aufgefallen, der, mit lang über die Schulter wallenden Haaren barfüßig der Kanzel gegenüberstehend, mit solcher Andacht dem Gottesdienst beigewohnt habe, dass man auch nicht eine unwillkürliche Bewegung an seinem Körper bemerken konnte; aber sooft Christi Name erwähnt worden sei, habe er sich verneigt, an seine Brust geschlagen und tief aufgeseufzt. Später habe er dem Bischof erzählt, was wir bereits wissen, und hinzugefügt, dass er, von Jesu Blick getroffen, nicht mehr nach Hause habe zurückkehren können, sondern fortan umhergeirrt und es nun seinerseits sehr wohl zufrieden sei, wenn Gott ihn aus diesem Jammertal „zur Ruhe abfordere“, welche Gnade er ihm indessen noch nicht habe gewähren wollen. Nach verbreiteter Ansicht (die aber von König [1907] mit guten Argumenten bestritten worden ist; dagegen Kappstein 1906, Anderson 1965) geht diese Sage auf eine Quelle des Chronisten Roger von Wendower – eines englischen Mönchs aus der Abtei St. Albans – zurück (aufs Jahr 1228), die auch sonst überliefert ist. Ich meine die Legende von Cartaphilus (auch: Buttadeus, ‚Schläger Gottes‘), dem Türhüter des Prätoriums. Ähnlich wie im Volksbuch sei ein Erzbischof aus Armenien im Verlauf einer größeren Wallfahrt auch nach England gekommen und habe folgenden Bericht gegeben: Als Christus nach seinem Verhör vor Pilatus aus dem Prätorium zur Kreuzigung geführt worden sei, habe ihm der Türhüter desselben, ein gewisser Cartaphilus, verächtlich mit der Faust in den Nacken geschlagen und höhnisch zugerufen: „Geh doch schneller, Jesus! Was zögerst du?“ Worauf Jesus ihn traurig angesehen und gesagt habe: „Ich gehe, und du wirst

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warten, bis ich komme.“ So wartet Cartaphilus nun gemäß jenem Wort des Herrn. Der Mann sei damals, als er Jesus geschlagen habe, ungefähr dreißig Jahre alt gewesen (also gleichaltrig mit Jesus); sooft er aber das hundertste Jahr erreiche, komme er wieder in das Lebensalter seiner Freveltat zurück. Später, nach der siegreichen Ausbreitung des Christentums, habe auch er die Taufe empfangen (auf den Namen Joseph), wohne meist in Armenien und anderen orientalischen Gebieten und sei als Mann von strengen Sitten und heiliger Rede bekannt. Der sprechende Name (Karta-philos: der sehr Geliebte) hat zu allerlei Spekulationen Anlass gegeben. Zum Beispiel hat man ihn unter das Wort gestellt, das Jesus seinem Lieblingsjünger auf den Weg gegeben haben soll: „So will ich, dass er bleibe, bis ich komme“ (Joh. 21, 23). Aber die Gestalt des Johannes scheint sehr schlecht geeignet, das schwierige Verhältnis des Cartaphilus oder des Ahasver zum Heiland zu charakterisieren. Was an der Sage sogleich auffällt, ist die Dialektik zwischen Heilserwartung und Heilsverneinung, die noch im Jäger Gracchus nachweisbar ist. Ähnlich dem Jäger muss Ahasver wirklich wandern – und zwar, weil er das von Christus angebotene Heil trotzig von sich gewiesen hat, in alle Ewigkeit. Wie wäre diese Konsequenz anders möglich als dadurch, dass er zwar nicht Jesu Welterlösung, wohl aber seinen Fluch anerkannt hätte? Denn man kann sich unmöglich einem Fluch ausgeliefert fühlen, an den man gar nicht glaubt – emanzipiert von superstitiösen Weltansichten. In der Tat ist Ahasverus in den poetischen Bearbeitungen des Motivs oft als revolutionärer oder emanzipatorischer Held gedeutet worden. Wilhelm Hauff, in dessen Memoiren des Satan der Ewige Jude auftritt, macht dazu eine eindrucksvolle Bemerkung, Es sei, so legt er einem fiktiven Bearbeiter des Ahasver-Motivs in den Mund, „in der Sage [...] eine tiefe Moral, denn der Verworfenste unter den Menschen sei offenbar immer der, welcher seinen Schmerz über getäuschte Hoffnung gerade an dem auslasse, der diese Hoffnung erregt habe. Besonders verworfen erscheint er, wenn zugleich der, welcher die Hoffnung erregte, noch unglücklicher erscheine als der, welcher sich täuschte“ (Hauff 1970 3, 60). Danach wäre Ahasver der negativ Gläubige par excellence. Er rächte sich an Jesus dafür, dass es ihm an Zuversicht in die überschwängliche Hoffnung gebricht, die er auf Christi Heilstat wirft, indem er den Gegenstand dieser Hoffnung umbringen hilft. Nun aber, da er den unwiederbringlichen Augenblick, da des erschienenen Messias Heil auch ihm angeboten war, trotzig ausgeschlagen hat, da beginnt es zu wirken: als Fluch, und der Spötter erfährt in der Leidensgeschichte, der fortan er selbst ausgesetzt sein wird, zu spät die Inbrunst seines eigenen Glaubens. Da der Glaube aufs Unendliche gerichtet war, ist es nun das Unendliche, die unendliche Irre, die ihn vom Erreichen des Ersehnten trennt. Die Logik dieser Freveltat wiederholt sich im Jäger Gracchus. Auch in Wagners Parsifal ist sie präsent. Kundry, „Höllenrose“ und „Gralsbotin“ in einer Person, „lebt ein unermeßliches Leben unter stets wechselnden Wiedergeburten, infolge einer uralten Verwünschung, die sie, ähnlich dem ‚ewigen Juden‘, dazu verdammt, in neuen Gestalten das Leiden der Liebesverführung über die Männer zu bringen“ (SSD XI, 404). Die Lust, die sie im Liebesrausch

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mit den verführten Gralsrittern (und allen voran: dem „sündigen“ Gralskönig Amfortas) büßt, steht freilich ihrem eigentlichen Begehren entgegen, welches auf die Erlösung von der Pein ewig ungestillter Liebessehnsucht gerichtet ist und ihr nur durch Verweigerung ihres Begehrens gewährt werden kann. („Die Labung, die dein Leiden endet, / beut nicht der Quell, aus dem es fließt“, sagt der Erlöser zu ihr [SSD X, 361].) Jede ihrer Verführungstaten wiederholt den prototypischen Zwiespalt ihrer Verhöhung des Heilands am Kreuz. „Oh! – / Kenntest du den Fluch“, sagt sie zu Parsifal, der sich ihrem Begehren verweigert, „der mich durch Schlaf und Wachen, / durch Tod und Leben, / Pein und Lachen, / zu neuem Leiden neu gestählt, / endlos durch das Dasein quält! – / Ich sah – Ihn – Ihn – / 4 und – lachte [...] / da traf mich sein Blick. – / Nun such’ ich ihn von Welt zu Welt, / ihm wieder zu begegnen: / in höchster Not – / wähn’ ich sein Auge schon nah’, / den Blick schon auf mir ruh’n: – / da kehrt mir das verfluchte Lachen wieder, ein Sünder sinkt mir in die Arme!“ (SSD X, 360). Ähnlich wie Ahasver, der sich an Christus für sein Unvermögen rächt, all seine Hoffnung auf ihn zu setzen, und der doch keine alternative Hoffnung kennt und also in Ewigkeit des verschmähten Heils harren muss, – ähnlich also wie Ahasver hat Kundry im Namen des Begehrens die Erlösung vom Begehren ausgeschlagen. Nun aber, da sie es getan hat, erfährt sie, dass ihre tiefste, ihre wahre Sehnsucht nicht auf die Lust, sondern auf die Erlösung vom fortdauernden Stachel der Lust gerichtet war, und sie dient in erniedrigter Gestalt den Repräsentanten des geistlichen Heils, das sie verneint hatte. Diese Unentschiedenheit verweist sie auf die Bahn eines ewigen „Irrens“ (l. c., 363): Stets verwechselt sie aufs Neue ihr Begehren nach dem „Heil“ mit ihrem Begehren nach dem Begehren. Indem sie „ihr Haupt über das seinige [Parsifals] neigt, und [...] ihre Lippen zu einem langen Kusse auf den Mund des Jünglings [heftet]“, spricht sie zwei völlig unvereinbare Wünsche aus: „Lass’ mich dich Göttlichen lieben, / Erlösung gabst du dann auch mir“ (l. c., 363) und: „Ich will keine Erlösung: ich will dich lieben“(SSD XI, 409; vgl. X, 361 f.). Was heißt das? Kundry wünscht sich die Erlösung von der „Wunde“ der nie befriedigten Lust ausgerechnet durch „eine Stunde“ der Lustgewährung: Sie hintertreibt also die Bedingung ihrer eigenen Erlösung. Als die in Parsifals Unverführbarkeit hell ihr aufleuchtet – als die Grenze, die jedes Begehren in der Weigerung des Anderen erfahren kann –, da vermag sie den Gegenstand ihres Sehnens erst voll zu ermessen, wenn sie sich auch über sein Ziel täuscht: „Wahnsinniges Liebesverlangen brennt nun in des Weibes Seele auf“ (SSD XI, 409). Kundry und Ahasver leiden an der Negativität ihrer Beziehung aufs „Heil“ – nicht anders als jener Junge in Kafkas Erzählung Ein Landarzt. An dessen Hüfte – dem Ort, an welchem Jakob, mit dem Heiligen ringend, verwundet wurde (l. Mose 32, 24 ff.) – klafft eine mit irdischer Arznei unheilbare Wunde, die „rosa“ ist, also den Namen der begehrenswerten „Rosa“ trägt, jenes Mädchens, das der abberufene Landarzt den wilden Trieben des Hausknechts überlassen musste 04 Während sie dies singt, ertönt im Orchester jenes Blödigkeits- oder Verstocktheitsmotiv, das zuerst erklang, als Parsifal sprachlos blieb angesichts des Leidens von Amfortas.

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(natürlich sind der Junge und der Knecht Allegorien des eigenen, verdrängten Selbst). Und diese als Pfahl dem Fleische eingetriebene Begehrenswunde ist es, die jeden Gedanken an „Rettung“ sinnlos macht (Kafka 2002 [= Drucke zu Lebzeiten], 258-260). Ebenso ist Kundry die Wunde im Fleische des dahinsie5 chenden Amfortas, der ihrer Verführung nicht widerstanden hat. Und zugefügt wird sie durch jenen Speer, der dem Leib des Gekreuzigten eingetrieben war: durch das Symbol der erlösenden Weltüberwindung. Kundry, Amfortas und der Landarzt leiden alle am Fehl des Heiligen, das sie gleichwohl als Verwundung in ihrem Fleische spüren und dem sie durch die abwehrende Geste gegen den Erlöser nicht entkommen sind: Wer das Heil negiert, bleibt negativ auf diesen Gedanken fixiert und muss die verweigerte Gegenwart des Rettenden als den Fluch endlosen Leidens und Irrens büßen. Diese negative Religiosität macht Wagners und Kafkas Figuren als typologische Variationen des Ahasver-Motivs erkennbar. Es ist seinerseits verwandt mit dem Kains-Motiv. Auch Kain, der Brudermörder mit dem Gottesmal auf der Stirn, ist ein Unsteter, ein Irrender, und auch ihn hat der Frevel gegen Gottes Gesetz von diesem Gesetz nicht etwa erlöst, sondern wie einen Ixion ans Feuerrad gebunden. Jahwe straft Kains Frevel in der alttestamentischen Erzählung durchs Verbot, Ackerbau zu treiben, und durch das Zurückstoßen ins präkulturelle Nomadendasein: „Unstet und flüchtig sollst du sein auf Erden“ (l. Mose 4, 12). Aber dieser Fluch ist nicht einfach der Ausschluss aus Gottes Ökonomie, wie Kain glaubt, wenn er den Herrn fragt: „So wird mich also totschlagen, wer mich trifft?“ (l. c., 14). Jahwe antwortet nämlich: „Nein, nicht so! Wer immer Kain totschlägt, an dem wird es siebenfältig gerächt. Und der Herr versah Kain mit einem Zeichen, dass keiner ihn erschlüge, der ihn anträfe“ (l. c. 15). – Das Geheimnis der Verfluchung offenbart sich an Kain besonders sinnenfällig: Es treibt den, den es trifft, nicht einfach hinaus aus dem Bereich der göttlichen Gewalt, sondern es unterstellt ihn dieser Gewalt negativ, so wie wir es an Ulyss in Dantes Inferno sahen. Was immer – und seien es verneinende – Beziehungen zum Heiligen unterhält, kann ihm nicht entkommen. Es ist an Gott gefesselt wie die Hegel’sche Negation an ihr Negat oder wie Judas der Verräter an Jesus seinen Lehrer. Kain und Judas sind nur Werkzeuge innerhalb der göttlichen Teleologie. Ein weiterer Zug des Ahasver-Motivs erscheint mir bedeutsam: Die imaginäre Präsenz des irrenden, auf peinvolle Weise unsterblichen Juden erinnert die religiöse Ökonomie der christlichen Lebensreise an ihre Schwachstelle: an jene „gefährliche“ Phase des Weges (Bunyan 1678, Titel), die das Menschenleben ausfüllt und doch nur als Moment verstanden wird. Dem Christen ist die Bestimmung des Terminus, an welchem die Zeitlichkeit endet, nicht minder peinvoll als dem Juden: Denn es ist der Zeitpunkt, an welchem Christus sein Reich endlich beziehen wird. Das „Warte, bis ich wiederkomme!“ ist auch dem Christen gesagt. Mit jedem Tag, den der Jude länger zu irren hat, ist auch der Tag aufgeschoben, auf 05 Das macht bereits die Verflechtung des Kundry-Motivs mit dem Motiv von Amfortas’ Wunde musikalisch deutlich.

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den der Christ seine Hoffnung setzt. Sollte Ahasver etwa ewig zu wandern verurteilt sein? So wäre ja auch für den Christen das Ausbleiben der Wiederkunft Christi ausgemacht, so vereinigten sich die Irrfahrten des Ahasverus und des christlichen Pilgers. Auch der Christ wäre auf „Matthäi am letzten“ vertröstet (wie es im umständlichen Titel des Volksbuches heißt). Kurz: die verzweifelte Ungläubigkeit dieses Juden erinnert den Christen an das konstitutive Fehl des Glaubens selbst, an den unendlichen Aufschub der Heimkehr in die Gottesstadt. Und weil die Hoffnung auf Erlösung nicht auf den morgigen oder übermorgigen Tag, sondern unendlich aufgeschoben ist, muss sie, so könnte man sagen, zu einer Hoffnung nicht mehr auf dieses oder jenes, sondern zu einer unendlichen Hoffnung oder zu einer Hoffnung aufs Unendliche werden. Sobald diese Konsequenz erkannt ist, wird Ahasverus zum Weggefährten des christlichen Pilgers, und in seine Träume schleicht sich die Aussicht einer steuerlosen und ziellosen Fahrt wie seine schlimmste Befürchtung ein.

06 Das sollte in Rechnung stellen, wer Wagners künstlerischem Werk Antisemitismus vorwirft (dazu differenzierend Scholz, 2000, bes. die Kap. IV und V). Die durch gewollte Zweideutigkeit widerliche Schlussempfehlung des Judentum[s] in der Musik („Aber bedenkt, dass nur eines eure [sc.: der Juden] Erlösung von dem auf euch lastenden Fluche sein kann: die Erlösung Ahasvers, – der U n t e r g a n g !“ [SSD V, 85]) relativiert sich im Blick auf die Beobachtung, dass Wagner den Ewigen Juden als symbolischen Träger des auf der Lebensirrfahrt des modernen Menschen überhaupt lastenden Fluchs betrachtet und dass er ihn dem Christen in diesem Aspekt völlig gleichstellt. Im Übrigen verstand sich Wagner nicht als Christen, sondern als Atheisten (siehe hier Text 6). Schließlich hat Wagners unangenehmes Wort von der Erlösung Ahasvers durch Untergang eine Parallele in einer minder verdächtigen Formulierung Karl Marxens aus seiner Bruno-Bauer-Rezension Zur Judenfrage. Dort wird die Emanzipation des Juden durch seine „Zurückführung [...] auf den Menschen selbst“ gefordert – ohne weitere ethnisch-nationale oder ständische Attribute. Das Schlusswort der Schrift ähnelt nicht wenig dem Wagner’schen: „Die gesellschaftliche Emanzipation des Juden ist die Emanzpation der Gesellschaft vom Judentum“ (MEW 1, 370, 377). Natürlich stand bei solchen Formulierungen des Apostels Paulus Forderung „Nicht Jude, nicht Grieche [ergänze: sondern einfach Mensch]!“ Pate. Friedrich Schlegel wäre mit dieser Reduktion des Juden auf einen emanzipierten Bürger nicht einverstanden gewesen, wenn ihm damit sein religiöser Sonderstatus genommen würde. Noch in seiner konservativen Phase hat er sich im Österreichischen Beobachter Nr. 61, vom 2. März 1815, einerseits nachdrücklich dafür eingesetzt, dass den Juden vollkommene Bürgerrechte erteilt werden, „daß die Israeliten von dem bisherigen Druck ganz freigesprochen und als wahre Staatsbürger hinfüro anerkannt und behandelt werden sollen“ (KA VII, 470). Er hat das Dekret zur rechtlichen Gleichstellung der Juden nach dem 16. Artikel der deutschen Bundesakte beschworen und „die willkürlichsten und grausamsten Beschlüsse“ einzelner Staaten – darunter Mecklenburg und Frankfurt–- zu ihrer Beeinträchtigung herb verurteilt (475). Auf der anderen Seite war Schlegel sensibel für folgende wichtige Diffenzierung, die wir bei Wagner und Marx vermissen: „Wenn der Staat und jede aufgeklärte Regierung übrigens wünschen muß, daß die Juden in dem bisherigen absondernden Sinne des Worts | (als Staats im Staate), so sehr als möglich aufhören möchten, Juden zu sein, so ist dieser doch keineswegs dahin auszudehnen, als könne der Staat wünschen, daß die Juden gleichgültig gegen ihre oder gegen alle Religion werden möchten. Dies wäre vielmehr für ein großes Übel zu halten, und jede wahrhaft aufgekärte Regierung wird die religiöse Erziehung aller Staatsmitglieder jederzeit als die erste Grundlage des bürgerlichen Vereins betrachten“ (l. c., 472 f.).

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Variationen der Sage vom Fliegenden Holländer Dieser Albtraum findet seinen ersten vollkommenen Ausdruck in der Sage vom Fliegenden Holländer, den Richard Wagner 1851 den Ewigen Juden des Welt7 meers nennt (SSD IV, 265). Vorläuferschaften in der Kontamination der Überlieferungen hatte es schon früher gegeben, z. B. bei Lord Byron: It is that settled, ceaseless gloom The fabled Hebrew wanderer bore; That will not look beyond the tomb, But cannot hope for rest before. What Exile from himself can flee? To zones through more and more remote, Still, still pursues, where’er I be, The blight of life – the demon Thought. (Child Harold’s Pilgrimage, canto I, LXXXIV, 5/6 [= Byron 1970, 193])

Das alte Motiv, dessen erste schriftliche Aufzeichnungen die romantische Zeit abwarten musste, tat gute Dienste, um – dicht nach der Ablösung der europäischen Aufklärung – das scheinbar gewonnene Verfahren um die Legitimität der auf eigene Füße gestellten Rationalität in die literarische Revision zu schicken. Das freilich hieß: das frühneuzeitliche Thema als ein dichterisches Motiv nur wieder aufzugreifen. Denn unter Anklage befand sich der Anspruch der curiosen Weltbemächtigung seit den Anfängen des so genannten Vernunftzeitalters. Zweifellos ist die Sage vom Fliegenden Holländer das Werk von „Seeleuten geringerer Klasse“, wie eine der frühesten Quellen (aus dem Jahre 1832) charakteri8 stisch vermutet (Jal 1932 II, 89 f.): Sie zeigt einen Konflikt an zwischen den Wertüberzeugungen der Mannschaft und dem heroischen Individuum des Führers oder Kapitäns, der – auf der Höhe des naturwissenschaftlichen knowing how seiner Epoche – sich aus den Fesseln einer theozentrisch beengten Weltordnung freimacht und diesen Frevel in exemplarischer Schuldverbüßung zu sühnen hat. Es wäre reizvoll, das philologische Material auszubreiten (es ist eine recht spannende, manchmal fast kriminalistische Recherche), wonach die Holländer-Sage

07 Ich entscheide mich für die Gattungszuweisung ‚Sage‘, weil die kollektive Phantasie des Fliegenden Holländers in einem realgeschichtlichen Ereignis gründet. Allerdings haben die Experten der Textsorten-Typologie die Unterscheidung von ‚Mythos‘ und ‚Sage‘ mit guten Gründen als impraktikabel verworfen. Wagner freilich spricht vom „Mythos des ‚Fliegenden Holländer‘“(SSD IV, 289). 08 Dazu: Rudolf Engert (1927, 9 ff.). Engert erklärt nicht nur den Ursprung der Sage des Fliegenden Holländers aus der portugiesischen Kolonialgeschichte, sondern verzeichnet auch eine große, freilich nicht erschöpfende Zahl von Quellen. Die meisten davon waren schon von Wolfgang Golther zusammengetragen worden (Golther 1911, 8 f.). Zwei wichtige Ergänzungen finden sich im ersten Teil der ethnologischen Arbeit von Helge Gerndt (1971).

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an die Kapumseglung der Portugiesen und also die kolonialistische Erzwingung des Seewegs nach Vorderindien anknüpft (Frank 1995, 77 ff.). Nicht nur der geographische Ort (das Kap) und seine besondere meteorologische Exposition sprechen dafür (diese Erinnerung geht mit der Zeit verloren: bei Heinrich Heine und Richard Wagner ist es nur noch ‚ein Kap‘, irgendeines also); sondern vor allem der Umstand, dass spätestens im 17. Jahrhundert – der großen Zeit des holländischen Kolonialismus – eine Quellenverschmelzung stattgefunden hat: In der Retrospektive wird nämlich dem Vasco da Gama, auf dessen Flotte ein verheerender Sturm und daraufhin eine schlimme Meuterei ausgebrochen, zugeschrieben, dass er Gott verflucht und damit das Schicksal seines physischen und geistlichen Scheiterns auf sich gezogen habe. Dies entspricht natürlich nicht der historischen Realität, die nach und nach poetisch und textuell umgestürzt wurde. Früh schon ist die Gestalt Vascos durch die des Bartolomeo Diaz überformt worden, der tatsächlich am Kap in Stürmen ums Leben kam; und dessen Name ist in holländischer Zeit durch allerlei Namen von Kapitänen abgelöst worden, die den alten Gott des Mittelalters im Namen der Autonomie neuzeitlicher Vernunft herausfordern: z. B. Van der Decken, Barend Fokke, Van Straten usw. In einigen Quellen (so in der von 1841) wird Barend Fokke als ein „unternehmender Seemann“ – also als kolonialer Unternehmer – charakterisiert, der „ob der Geschwindigkeit“, mit der er den Güterumschlag (den Kapitalverwertungsprozess) bewerkstelligt, „als ein mit dem Teufel im Bunde Stehender“ verdächtigt wird: Er fliegt gleichsam über die Meere (die Quelle: Ausland 1841, Nr. 237). Die frühkapitalistische Konnotation, die das Attribut in der Zusammenstellung „Fliegender Holländer“ prägt, ist hier unverkennbar: Denn nach der Auslastung der Arbeitskraft in Europa ist eine Steigerung des Gewinns für den Unternehmer nur noch durch die Steigerung der Geschwindigkeit denkbar, mit der europäische Waren an die Kolonien verschleißt/abgesetzt werden. Es gibt eine weitere Quelle, die diese Deutung ebenso nachhaltig, freilich noch düsterer ins Recht setzt. Es handelt sich um die älteste tradierte Form der Sage überhaupt (aus dem Jahr 1787); sie erzählt von einem grausamen Wettlauf zweier Handelsschiffe, deren eines den kaltherzig observierten Untergang des anderen dazu benutzt, eine Monopolstellung in Ostindien zu begründen (Gerndt 1971, 24 f.; die Quelle: Baron de Raigersfeld 1830). Die Aufzeichnung datiert aus der hohen Zeit des englischen Frühliberalismus, und ihre Analyse könnte nicht gründlicher ansetzen, als ihre Moral deutlich ist. Es sind der von Adam Smith gefeierte „spirit of trade“ und die invisible hand in der Gesinnung zur freien Konkurrenz, welche die feudalen Verbindlichkeiten der Treue und des Beistandes wie letzte Bastionen mittelalterlichen Aberglaubens schleifen. Aber nicht nur eine moralische, auch eine ökologische Grenze wird vom Fliegenden Holländer missachtet. Der erste relevante Beleg dafür ist der V. Gesang der Lusiaden von Luis de Camões (1572). Dort wird Vasco vom Geist des Kaps, der sich – wie Dantes Lucifer hinter einer finsteren Nebel- oder Wetterwand auftauchend, in furchtbarer Größe sich auftürmt – im Namen des mittelalterlichen

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Gottes und unter Androhung herber Strafen beschworen, seine Kolonialfahrt ab9 zubrechen (V, 42). Es hilft Vasco nichts, dass er seinerseits arglistig die „erhabenste Macht“ („Ó Potesdate [...] sublima“ [V, 38]) anruft als die Inspirationsquelle seiner Weltneugier (wie dies, ähnlich, auch der Binnenerzähler in Poe’s Maëlstrom-Geschichte tut): Der Sturm setzt ein, vernichtet nahezu die Flotte, und später tut ein mælstromartiger Wirbel das Seine, der Mannschaft den Fluch (der sich freilich erst auf lange Dauer, ich meine: besonders in unserer Gegenwart, zu erfüllen beginnt) in Erinnerung zu bringen. Hier schon findet sich also das Schema, das wir eingangs in Kafkas Jäger Gracchus nachweisen konnten. So viel Selbstvertrauen hat der moderne Wissenschaftler/Eroberer denn doch nicht, dass er gewisse mythisch verhängte „Widrigkeitskoeffizienten“ seiner Unternehmungen nicht in Rechnung stellte. Auch sind die von Camões eingesetzten Requisiten allgegenwärtig in der Literatur zwischen dem endenden 18. und dem frühen 20. Jahrhundert: von Coleridge über Poe, Rimbaud oder Jules Laforgue bis zu Georg Heym.

Des Holländers Erlösung vom Liebesverzicht Freilich: Camões gehört nicht zu den Verlierern der Lebensreise: Selbstherrlich steht er auf der Seite der Eroberer. Mit lachendem Auge berichtet er von kolonialistischen Barbareien, die auf dem Wege nach Indien und während der Rückkehr von den Europäern verübt werden. Die Stimme der Natur und der Sittlichkeit verweist er in die Einbildung des warnenden Geistes, der das Tor der terra incognita mit reaktionärer Drohung bewacht. Von einigen Racheakten abgesehen, die der Dichter, wie wir sahen, in Rechnung stellt, kann der Fluch des Geistes sich jedoch nicht durchsetzen. Alles folgt in den Lusiaden dem Schema des aufgeschobenen Ziels, das endlich doch erreicht und von dem her jede Gewalttat als aus dem Telos der vernunftgemäßen und im Plan der Zeiten vorgesehenen Landnahme durch ‚Gottes eigenes Volk‘ gerechtfertigt wird Dieses Schema erleidet in der Zwischenzeit, nämlich bis hin zu den ersten literarischen Bearbeitungen des eigentlichen Holländer-Motivs, Schaden. Die Säkularisation der Jenseitsorientierung lenkt den Blick auf die unentrinnbare Zeit, die freilich in zahlreichen Dichtungen des Barock schon beschworen, seit dem frühen 19. Jahrhundert jedoch mehr und mehr als die alternativelose conditio des 10 menschlichen Daseins begriffen wird. Auch das Denken über Zeit und Zeitlich09 „Pois vens ver os segredos escondidos/ Da natureza et do húmido elemento,/ A nenhum grande humano concedidos/ De nombre ou de imortal merecimento,/ Ouve os danos de mi que apercebidos/ Estão a teu sobejo strevimento,/ Por todo o largo mar e pola terra/ Que inda has-de sojugar com dura guerra“ (Camões 1572/1972, 522]). 10 Bernhard Blume zeigt, wie sich dieser Prozess in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts anbahnt (Blume 1967). Dem Rokoko- und Empfindsamkeitsidyll der „seelischen Binnenschiffahrt“ (l. c., 365) wird in einzelnen Gedichten Leopold von Stolbergs, bei Matthisson oder Salis-Sewis bereits

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keit trägt das Prägemal des neuzeitlichen Paradigmas: ganz sich selbst überlassen und Urheber seiner Entwürfe, weiß sich das Subjekt zugleich als nicht Grund seines Seins. Diese paradoxe Erfahrung verweist es in ein und derselben Bewegung an die Zeit und an die Ewigkeit, vor deren Fehl es sich ängstigt. An die Zeit: Denn seitdem das Subjekt seine Endlichkeit akzeptiert hat, vermag auch die cartesianische Gewissheit es nicht mehr zu verewigen; das Cogito entkommt nicht den Verflechtungen der empirischen Welt. Es hat den Grund seiner selbst immer schon verloren und trachtet danach, diesen Verlust durch einen zukünftigen Zweck zu ergänzen. Sein Wesen ist die Ekstase; sie zwingt das Subjekt, zwischen das, was es war und noch ist, und das, was es sogleich sein wird, einen Abstand einzulegen, d. h. sein Wesen nur aufgeschobenerweise sein zu können und allaugenblicklich aufs neue zu verlieren. Der Mensch ist, wie Heidegger sagt, „ein Wesen der Ferne“ (Heidegger 1965, 54). Immer entfernt er sich von dem, was er ist, und immer verheißt ihm die Ferne eine neue Weise zu sein, mit der er sich dennoch nicht identifizieren kann. Ein solches Selbstverständnis menschlicher Existenz muss im kollektiven Bewusstsein einer Epoche Wurzel gefasst haben, wenn ihre Dichtung den Fliegenden Holländer als den Repräsentanten des Menschen schlechthin entdeckt. Die zweitfrüheste journalistische Fixierung der Sage fällt ins Jahr 1821. Noch im sel11 ben Jahrzehnt gibt es eine Fülle von poetischen Bearbeitungen des Sujets. der Gedanke einer unaufhaltsamen Zeitflucht und Vergänglichkeit angekränkelt – Fährnisse also, die die Idylle im Kern bedrohen und das ersehnte Elysium zu einer Beschwörung werden lassen: „Ach! trüg uns die fährliche Flut/ Des Lebens so friedlich und leise!“ (Salis-Sewis 1807. 63 f.). – Gegen Ende der Epoche, etwa im Sturm und Drang und noch in Goethes früher Weimarer Zeit, erwachen prometheischere Töne, die ein neues Selbstvertrauen des Individuums verheißen, welches während der Lebensreise „männlich an dem Steuer“ steht, „herrschend“ auf die Elemente blickt „und [...] scheiternd oder landend / Seinen Göttern [vertrauet]“ (Goethe, Seefahrt): seinen Göttern, ohne Zweifel den Mächten der eignen Vernunft und des eigenen Herzens. Prometheus und Faust sind die kollektiven Phantasien des sich befreienden Bürgertums. Das Wiederauftauchen des Motivs von Ahasverus und vom Holländer zeigt freilich, dass dieser Traum von relativ kurzer Dauer war. Romantik und Symbolismus führen ihn nicht fort. 11 Nach Vorbildern von Thomas Moore (Verses Written on Passing Deadman’s Isle in the Gulf of St. Lawrence, late in the evening September 1804), Walter Scott (Rokeby, canto ii, Str. 11, vgl. die Anm. dazu im Kommentar, 1812 [in: Scott 1886]) und Washington Irving (The Storm Ship aus dem Jahre 1822, in: Irving 1997, 288 ff.) gibt es ein Gedicht von einem gewissen Heinrich Smidt, einem früheren Seemann, betitelt Der ewige Segler, aus dem Jahre 1822 (in: Smidt 1825, 95 ff.), zur Novelle umgearbeitet (Smidt 1828). Auf die Novellenfassung werde ich noch zu sprechen kommen. Was das Gedicht angeht – eine müde Weltschmerz-Allegorie –, so ist wichtig für unseren Zusammenhang die Anmerkung, die Smidt zur historischen Situierung des Sujets gibt: „Die Sage, worauf sich dieses Gedicht gründet, geht schon seit undenklichen Zeiten, wie ein Erbtheil von Mund zu Mund unter den Englischen und Holländischen Seeleuten gemeinerer Classe umher, und wird als eine unzubestreitende Zuverläßigkeit angenommen. Die Holländer erzählen: einer ihrer Landsleute (die Engländer geben ihn für den ihrigen aus), dessen Name aber im Strome der Zeit untergegangen ist, sey aus Ostindien zurückgekehrt, habe aber den Ort seiner Bestimmung, Amsterdam (bei den Engländern London), nicht erreichen können, weil ohne Aufhören ein contrairer Wind geweht habe. Nach zwanzigwöchentlichem Umhertreiben habe er sich und sein ganzes Schiff verflucht und der Hölle zugeeignet, und geschworen, er wolle sein ganzes Leben im Ocean zubringen. Plötzlich erhob sich ein Sausen und Brausen, es war die finstere Nacht; die Schiffsleute wurden den Augen des Schiffers entrückt, und durch die Vorsehung in

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Unter den bekannteren Autoren ist Heinrich Heine der erste, der in der Dritten Abteilung seiner Reisebilder aus Norderney (Die Nordsee) eine Version der Sage zitiert („die Geschichte vom fliegenden Holländer, den man im Sturm mit aufgespannten Segeln vorbeifahren sieht, und der zuweilen ein Boot aussetzt, um den begegnenden Schiffern allerlei Briefe mitzugeben, die man nachher nicht zu besorgen weiß, da sie an längst verstorbene Personen adressiert sind“) (Heine 1997 2, 223; vgl. Bd. 1, 528). Heine zeichnet die Sage, die er womöglich in Norderney als lebendige Seemannserzählung gehört, mit Sicherheit aber aus seiner gleichzeitigen Lektüre Hudtwalckers kennen gelernt hat, mit dem Kompliment aus, sie sei „die anziehendste“ unter allen Spukerzählungen der Seefahrer. Tatsächlich hat sie in seiner Phantasie weitergearbeitet, und wir begegnen ihr wieder im Auszug Aus den Memoiren des Herren von Schnabelewopski (in: Heine 1997 1, 503-556, die Holländer-Erzählung ebd., 527 f., 528-532), jener oft witzigen Folge von Szenen aus dem Leben holländischer Studenten mit einer für die Zeit bemerkenswert großzügigen Sexualmoral. Das Fragment der Erzählung, an der Heine in zwei Schaffensphasen gearbeitet hat (1822-26 und 1831-33), wurde 1834 im ersten Band des so genannten Salon gedruckt und ist gewiss schon an sich die Lektüre wert. Dennoch wird darauf meist wegen des VII. Kapitels verwiesen, in welchem über eine (offenbar fiktive) Aufführung des Theaterstücks vom Fliegenden Holländer in Amsterdam berichtet wird. Die Erzählung wird – zum Unmut vieler Zeitgenossen und Literaturwissenschaftler – an der spannendsten Stelle durch ein frivol-amouröses Abenteuer des Erzählers unterbrochen. Doch ist die Lücke, die der Phantasie des Lesers geschlagen wird, nicht nur überwindbar (Wagners Operntext, der ganz auf Heine basiert, hat sie auf seine Weise geschlossen). Sie hat, wie sich zeigen wird, ihrerseits eine unentbehrliche narrative Funktion für die Sage selbst. An Heines Erzählung fällt zunächst auf, dass sie die Entstehung der Sage zwar in frühere Jahrhunderte versetzt, aber die Datierung völlig unbestimmt lässt („seit undenklicher Zeit“ [528]). Ebenso vage ist die geographische Situierung des Geschehens; der Erzähler spricht von „irgendeinem Vorgebirge, dessen Name mir ihr Vaterland versetzt; nur er blieb zurück, ein ewiger Spielball der Elemente. Mit ihm ein großer weißer Pudel. Dieser sitzt immer aufrecht bei seinem Herrn am Steuerruder, ein Platz, den dieser nie verläßt. Unaufhaltsam treibt Sturm und Wetter ihn von Land zu Land, von Küste zu Küste; und wenn er landen will, führt ihn ein pfeilschneller Sturm von dannen. Eingehüllt in einem schwarzen Mantel und unbedeckten Hauptes starrt er in die dunkle Nacht hinaus: ‚So haben, bei schauriger Winde Weh'n / ihn oftmals die Söhne des Meeres gesehn‘ (l. c., 95 f.). – Ich übergehe die zahlreichen Varianten des Geisterschiffs von Hauff bis Marryat, da sie parasitäre Züge aufweisen und den Nerv der Holländersage durch konventionelle Requisiten aus dem Bereich des orientalischen Märchens oder der „gothic novel“ überlagern: Thomas Campbells Ballade vom Totenschiff, The Death-Boat of Helgoland (1825; in: Campbell 1853, 250 f.); Wilhelm Hauff, De Geschichte von dem Gespensterschiff (1825 [Hauff 1975, 25-34]); Coopers Romane The Pilot und The Red Rover (1839); Captain Frederick Marryat, The Phantom Ship (1839). – Die meisten dieser Versionen sind umständlich dokumentiert und nacherzählt in Kalff (1923). – Eine spätere, wohl nicht vor 1840 zu datierende Quelle, nämlich die Zauberposse mit Gesang Der fliegende Holländer von einem gewissen Anton Edmund Wollheim da Fonseca, hat Helmut Kirchmeyer (1994) charakterisiert.

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entfallen“ (l. c.). Ähnlich wie der Jäger Gracchus coupiert er nahezu alle kolonialistischen und frühneuzeitlichen Assoziationen und verschiebt das Geschick des Holländers (der übrigens nicht geradezu Gott verflucht, sondern – faustischer – bei allen Teufeln sich vermisst, wider den Sturm ein Kap zu umschiffen) ins „rein Menschliche“ (um einen Lieblingsausdruck Wagners zu benutzen). Der Holländer wird zum Repräsentanten des Menschen selbst, dessen unstet irrende Seele tiefe symbolische Beziehungen zum proteischen Element unterhält (Heine 1997 2, 224 f.). Sodann assoziiert Heine – wie schon sein Vorbild Byron– den Mythos vom Ewigen Juden in den Kontext der Holländerfabel (529). Dieser „ewige[...] Jude des Ozeans“ gleicht eher einem säkularisierten Christus als einem Tabuverletzer: Sein Leiden übertrifft jedes Maß der Buße. Ihm ist bestimmt, die unerhörtesten Leiden, offenbar: das Leiden der Menschheit stellvertretend, zu erdulden. Sein „Leib [ist] nichts anders als ein Sarg von Fleisch, worin seine Seele sich langweilt“ (l. c.); der Ozean speit ihn aus wie einen outcast, vor dem ihm ekelt und der doch auch vom Tode abgewiesen wird. Der Tod – das lehrt womöglich am drastischsten der Jäger Gracchus – hat seinen strengen Ort in der Ökonomie des Heils: Mit Freudigkeit und als gälte es der Hochzeitsvorbereitung legt sich der Jäger in seinen Sarg oder – mutatis mutandis – ins Totenschiff, das ihn hinübertragen soll. Nichts dergleichen bei Heine. Gleich einer leeren Tonne (bei Kafka ist es bald ein Floß, bald eine Barke, in Rimbauds Bateau ivre eine „planche folle“, eine „toll gewordene Planke“ [Rimbaud 1972, 68, Vs, 78) – „gleich einer leeren Tonne, die sich die Wellen einander zuwerfen und sich spottend einander zurückwerfen, so werde der arme Holländer zwischen Tod und Leben hin und her geschleudert, keins von beiden wolle ihn behalten; sein/ Schmerz sei tief wie das Meer, worauf er herumschwimmt, sein Schiff sei ohne Anker und sein Herz ohne Hoffnung“ (Heine 1997 2, 529 f.). Die Stimme des Mitleids ist neu in der Geschichte des Motivs. Von Reue freilich weiß sie nichts, denn die Schuldfrage tritt in den Hintergrund (Gottes Name wird nirgends angerufen, übrigens auch bei Wagner nicht, es sei denn in redens12 artlichen Wendungen wie: „Behüt’ es Gott“) (SSD I, 261, 272) . Stattdessen ist die Rede vom Todeshunger des Kapitäns und – das ist ebenfalls neu – vom Hunger nach Erlösung durch einen Menschen. Es scheint, als gehe der Prozess gegen die theoretische Neugierde hier erstmals in die Revision. Die Verfemtheit der Freveltat tritt in den Hintergrund und gibt dem Ecce homo der gepeinigten Kreatur Raum. Wer spricht es aus? Nicht Gott – sondern ‚ein Weib‘ (528 u.). Dem Holländer – dem exemplarisch Neugierigen, dem ermächtigten Subjekt und Jäger, dem neuzeitlichen Mann – ist die Erlösung in Aussicht gestellt. Alle sieben Jahre darf er an Land gehen, „[um] zu heuraten“; aber das Weib, das ihn 13 erlöst, muss ihm treu sein „bis in den Tod“ (528 f., 532). Diese Bedingung er12 Eine Ausnahme macht die Beschwörung von „Gottes Engel“, den die Entwicklung der Fabel freilich – weltlich – als „das Weib“ deutet. 13 Die Assoziation der Treulosigkeit und der unendlichen Fahrt findet sich auch sonst häufig in Heines Werk, z. B. in den folgenden Versen (aus den Neuen Gedichten): „Mit schwarzen Segeln segelt mein Schiff / Wohl über das wilde Meer, / Du weißt, wie sehr ich traurig bin / Und

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scheint dem Teufel akzeptabel, denn er kennt die Lockerung der zwischenmenschlichen Beziehungen im warenproduzierenden Zeitalter zu gut, „um an Weibertreue zu glauben“ (528). Darum sei der ‚ame Holländer‘ auch „oft froh genug[,] von der Ehe selbst wieder erlöst und seine Erlöserin los zu werden, und er begibt sich wieder an Bord“ (529 o.). Heines Männerstammtisch-Ironie gegenüber der Frau ist erzählstrategisch. Die bierheitere Verbrüderung des Lesers mit dem Erzähler, die sich bei einem Weibergespräch von Mann zu Mann näher kommen, ist gerade die Falle, die Heines Ironie aufstellt. Das zeigt die scheinbar unmotivierte Unterbrechung der Erzählung. Sie geschieht eben an jener Stelle, da der Holländer dem Weib begegnet, das ihn schon lange erwartet hat (in ihrer Stube hängt ein Konterfei des Unglücklichen: eine phantasmatische Vorwegnahme der wirklichen Liebesbegegnung). Ohne von seiner Frage überrascht zu sein, antwortet sie „entschlossen: Treu bis in den Tod“ (530). – Inzwischen fällt des Erzählers Blick auf eine apfel- oder vielmehr apfelsinenschälende „wunderschöne Eva“, die auf der Galerie sitzt und nach kurzer Verhandlung den „guten Gedanken“ begrüßt, mit dem galanten Mynheer ins Bett oder vielmehr auf ein Sofa zu steigen (530 f.). Schnabelewopski vergleicht die holländische Blondine „mit gefrorenem Champagner.[...] In der eisigen Hülle lauert der heißeste Extrakt“ (531), und der zehrendste Sinnenbrand lodere aus dem scheinbar kühlkeuschen Heiligenbilde. Natürlich lacht des Teufels Herz über diesen Zwischenfall, den Heine ja überdeutlich mit den Insignien der Sündenfallerzählung auszeichnet: Die säkularisierte Liebe ist zur bloßen Geschlechtsliebe geworden, und die Holländer-Geschichte konterkariert diesen Verfall auf ebenso ohnmächtige wie altfränkisch-sentimentale Weise. Dennoch behält in Schnabelewopskis Erzählung sie, und nicht das sexuelle Abenteuer, das letzte Wort: Die Braut hält dem Holländer die Treue nicht nur bis 14 zum Tod (so etwas kommt vor), sondern bis in den Tod (SSD I, 274) : Von einer Meeresklippe stürzt sie sich in den Ozean, während das Schiff ihres unglücklichen Gemahls, eben abfahrend, zu sehen ist (Heine, 1997 432). Die Erlösung des Holländers ist die phantastische Revokation des LiebesSündenfalls jenes Don Juan, auf den Heine unauffällig anspielt. Die Champagner-Parabel findet sich nämlich in Lord Byrons Don Juan (1819-24). Es ist die Allegorie einer kalten und selbstischen Sexualität, die in den einander nur scheinbar ausschließenden Extremen der Hitze und des Frostes nur zwei Weisen ‚gnadenloser‘ Missachtung und Instrumentalisierung des Liebespartners aufbietet. Dies jedenfalls ist Byrons Ansicht (die Heine übrigens auch sonst in seinem Werk gelegentlich beschwört, z. B. in Kalte Herzen): „Lust hardens all and petrifies the feeling.“ Die Wahrheit des „Sinnenbrandes“ der gefrorenen Blondine ist, dass er die „sin of self-love“, die Ursünde der modernen Männer- und Leistungsgesellkränkst mich doch so schwer. // Dein Herz ist treulos wie der Wind / Und flattert hin und her; / Mit schwarzen Segeln segelt mein Schiff / Wohl über das wilde Meer.“ 14 Darin besteht der ganze Unterschied zur bürgerlichen Gattenliebe, wie sie die kirchliche Trauformel und, in Wagners Fassung, Erik gelobt: „Mein Herz, voll Treue bis zum Sterben, [...].“

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schaft in phantasmatischer Projektion zum Ausdruck bringt. Was Heine – absichtsvoll – ausspart (und durch die Holländerfabel selbst ergänzt), ist die Tatsache, dass Byron diese aus Männerphantasien verkörperten Idole, „after all“, der riskanten Nordwestpassage zum Indien der warmen Herzen vergleicht. Sowenig Parrys Expedition und die Schifffahrten anderer „gentlemen“ den Pol bislang erreicht haben, so gering ist die Aussicht für andere gnadenlose Minnejäger, dem Packeis der Polarregion zu entkommen: Die frevelhafte Zudringlichkeit dieser Fliegenden Holländer eines instrumentell und unmenschlich gewordenen Begehrens endet, scheiternd, am Nordpol der Herzen – dem Leitmotiv der Byronschen Dichtung (Byron 1975, 813 [= Canto XIII, 36-39; vgl. VII, 2; X, 23; XIV, 101 f.; IX, 68, passim]). Heine verknüpft also nicht nur das Motiv des Holländers mit dem des Ewigen Juden. Er lässt das Porträt des Holländers auch merkwürdig mit dem des Don Juan verschwimmen. (Wagner beschwört gar Züge des Ritters Blaubart: Denn alle Frauen, die dem Holländer der Reihe nach die Treue nicht halten, sind mit 15 um ihr Seelenheil gebracht: SSD I, 290) . Das erklärt sein Abblenden der kolonialistischen Ursprünge der Sage: Im 19. Jahrhundert hat die instrumentelle Überwältigung und Bemächtigung des natürlich Seienden längst gesellschaftliche Dimensionen erreicht. In der Entfremdung des Menschen vom Menschen ist sie vertrauteste Alltagswirklichkeit geworden; es bedarf keiner archäologischen Erinnerung, um den „Sündenfall“ der wechselseitigen Liebeszuwendung unters Gesetz des vom Mann dominierten Besitz- und Konkurrenzverhältnisses sichtbar zu machen. Dafür freilich eignet sich die Gestalt des Don Juan in besonderer Weise (wie Byron fühlte). Hat der nicht schon bei Tirso de Molina und Molière von seinen so genannten Aventüren in der Sprache der ehrgeizigen Eroberungs- und Entdeckungsreisenden gesprochen? (Don Juan zu Sganarell: „Ist diese Festung einmal unser, so bleibt zu sagen und zu wünschen nichts mehr übrig: wir schlafen ein. Mann, auf diesem Gebiete habe ich den Ehrgeiz des Eroberers, der ewig von einem Sieg zum andern fliegt und seinen Wünschen keine Grenzen setzen läßt“ 16 [Brecht 1992, 204 f.]). Nicht starke Leidenschaft, sondern starke Ökonomisierung der Leidenschaft ist Don Juans Geheimnis: Er wird zum Buchhalter, ja zum Kapitalisten des eigenen Trieblebens; und da er weiß, dass Zeit Geld ist, muss sich für seine kalkulierende Höchstleistungsideologie der Genuss als eine Funktion der Zahl, d. h. durch die Menge der Liebesaffären bewähren, die ihm in maximal effizienter Zeitausnutzung gelingen. Don Juan hält sich selbst, zu Recht, für einen Rationalisten. „Woran ich glaube? [...] Daß zweimal zwei vier ist“ (l. c., 230). – Der Teufel in Heines Erzählung glaubt es auch, und darum glaubt er eben nicht an die Treue: die völlig unökonomische Verschwendung der Liebeszuwendung an den Anderen. Sie hat eben unter Bedingungen des universellen 15 Das Blaubart-Motiv hat ferner mit der Neugier, der curiositas, zu tun: Peter Berner straft die eigene Neugier, die er richtig für etwas Frevelhaftes erkennt, in verschobener Schuldzuweisung in der Neugier seiner sieben Weiber. Vgl. meinen Kommentar zu Tieck (1985, 1356 ff.). 16 Ich zitiere Brechts Bearbeitung von Molières Don Juan. Vgl. l.c., 213: „Schurke, ich bin 31 Jahre alt. Alexander starb mit 33. Er hatte 618 Städte erobert. Es ist klar, ich muß mich beeilen.“

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Tauschs und der allgemeinen Konkurrenz keinen gesellschaftlichen Ort mehr (das gibt ihr den sentimentalen Anstrich), d. h., sie ist im Wortsinne zur Utopie geworden. Heines glänzender Einfall, die Partie des erlösungssüchtigen Holländers mit dem Kontrapunkt des Don Juan zu untermalen, hat gewisse Vorbilder. Es ist freilich nicht sicher, in welchem Maße Heine sie kannte. Dies zu entscheiden ist auch nicht nötig, da Heine einer für die literarische Epoche typischen Tendenz folgt. Schon in der Fassung aus Blackwood’s Edinburgh Magazine – sie trägt den bezeichnenden Titel: „Vanderdecken’s Message Home; or, the Tenacity of Natural Affection“ (vol. 9, 1821, 127 ff.) – erscheint der verfluchte Kapitän in den Farben des Weltschmerzes, als eine nicht ganz unsympathische Gestalt, deren inständiges Heimweh nach dem holländischen Festland aufhorchen lässt lf he once were to come to Amsterdam, he would be rather changed into a stone post, well fixed into the ground, than leave it again (130).

Und wenige Jahre vor der Publikation des ersten Teils des Salon, wahrscheinlich 17 im Jahre 1829, war im Adelphi-Theatre zu London die Komödie eines fingerfertigen Stückeschreibers namens Edward Fitz-Ball, The Flying Dutchman; or, The Phantom Ship. A Nautical Drama, uraufgeführt worden. Eine Wiederholung in Amsterdam ist nicht nachgewiesen. Dennoch möchte man gerne glauben, dass Heine (und vor allem Richard Wagner) den Text gekannt haben, da sie eine Reihe von Zügen entlehnen. Es handelt sich um ein ‚gotisches‘ Schauerdrama mit Zügen der Intrigen- und Verwechslungskomödie, das zwar die Version der Vander-Decken-Sage zugrunde legt, aber einige wichtige Motive hinzuerfindet. Vanderdecken steht in der Gewalt der schrecklichen Meerhexe Rockalda, die seiner Sehnsucht, nach hundertjährigem Irren über die Gewässer ums Kap einmal wieder den Fuß auf holländisches (Kolonial-) Festland zu setzen, unter zwei Bedingungen stattgibt: Erstens darf Vanderdecken bis zu seiner Rückkehr nichts sprechen (eine Bedingung, die natürlich komödiantisch ausgeschlachtet wird); zweitens muss er sich eine Braut suchen, sie mit werbenden Liebesstimmen in den Devils Cave, eine Felsgrotte am Meer, entführen und so dem Verderben überantworten. Das Verderben besteht darin, dass die Unglückliche sich in ein magic book eintragen muss, das ihre Seele der Hexe überantwortet und sie zu deren Sklavin macht. Das erwählte Opfer ist Lestelle Vanhelm (Letty genannt), die Nichte eines bramarbasierenden und polternden Seekapitäns ‚alter Schule‘, der – wie könnte es anders sein – verfügt hat, dass Letty den Sohn eines wohlhabenden holländischen Freundes, einen verkrachten Juristen namens Peter von Bummel, zu heiraten haben wird. Sie selbst freilich wird leidenschaftlich geliebt von einem 17 Das Stück (dessen Acting Copy keine Jahreszahl trägt) datiert sich selbst eindeutig auf 1829, denn es fingiert, genau 100 Jahre nach dem letzten Anlegen des Holländers aufs Festland – im Jahre 1729 (vgl. S. 11) – zu spielen. Gleichwohl ist die Acting Copy in einigen Bibliotheken auf 1826 datiert (A. Nicoll [1955, 313] nennt als Datum der Erstveröffentlichung in einer Dramensammlung den 30.11.1826.) Die Uraufführung soll am 1. Januar 1827 im Adelphi Theatre stattgefunden haben, wo Heine – der 1827 in London weilte sie besucht haben könnte.

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jungen Leutnant namens Mowdrey – und liebt ihn wieder. Sie wagt sogar, in dieser Liebe „dem Diktat meiner eigenen Vernunft zu folgen“ (worauf der Onkel antwortet: „Whoever heard of a woman having any reason of her own?“ [13]). Diese Liebe wird sich zu bewähren haben, denn Letty hat eine gewisse schwärmerische Neigung für das Konterfei eines Mannes mit traurigen Gesichtszügen, das in ihrem Zimmer hängt und das (wie sie sehr gut weiß) den Fliegenden Holländer darstellt. Es hängt ein weiteres Porträt daneben, eine schöne Schäferin zeigend, die mit Letty eine gewisse Ähnlichkeit hat und bei der es sich um niemand andern als um das letzte Opfer des schlimmen Kapitäns handelt. Vor diesen Gemälden pflegt Letty eine Ballade zu singen, einen sentimentalen Schmachtfetzen, in welchem eine verlassene Frau sehnsüchtig um die Rückkehr des Entschwundenen fleht und ihm – wenn auch nicht in diesen Worten – ewige Treue gelobt: „Return, o my love, and we’ll never, never part, / While the moon her soft light shall shed: / I’ll hold thee fast to my virgin heart, / And my bosom shall pillow thy head“ (24, 37). Fitz-Ball ersinnt ein phantasievolles und stellenweise recht komisches Verwirrspiel mit Entführungsplänen, Verwechslungen, Missverständnissen und Verkleidungen, an dessen Ende freilich doch nicht verhindert werden kann, dass Vanderdecken Lestelle – die bei seiner Berührung von einem Kälteschauer überrieselt wird, der bis in ihren „Busen“ reicht (38) – entführt und in die Teufelsgrotte unter einem überhängenden Felsen im Kap schleppt. Dieser Ort verschwimmt atmosphärisch mit dem des Venusberges in der Tannhäuserfa18 bel (vgl. 42) : Der finster heimatlose Kapitän ist eine Weltschmerz-Phantasie, die die Gedanken junger Frauen heimsucht und einen unübersehbaren Index erotischer Faszination trägt. Warum muss Letty gerade im Augenblick ihrer Entführung, da alle ihre Gedanken auf Mowdrey gerichtet sein sollten, die HolländerBallade singen (37)? – Das Stück endet „happily“: Mowdrey kann seine Braut erlösen, und zum Überfluss bricht Vanderdecken, in seiner Mannes- und Heldenehre gepackt, sein Schweigegebot, so dass unter allgemeinem „Huzza“ der Vorhang fallen kann. Unleugbar gibt es hier ein paar dramaturgische Motive, die ähnlich bei Heine 19 und Wagner auftauchen. Vor allem den Einfall, dass die böse Macht, der der Holländer verfallen ist, ihn alle hundert Jahre ans Land schickt, um sich die Braut zu suchen – allerdings nicht mit der Aussicht, durch sie erlöst zu werden, sondern sie – mit Mitteln sexueller Verführung – zu verderben. Fitz-Ball ist also der Urheber der Idee, den Fliegenden Holländer mit der Gestalt des Frauenverführers 20 zu identifizieren. Die planmäßige und in bewusster Opposition gegen die reli18 Den Part der Venus übernimmt die Hexe Rockalda. Vanderdecken erlöst sich aus ihrer Gewalt, indem er ihr – wie Max dem Samiel – ‚neue Opfer bringt‘. 19 Wagners „dramatische Ballade“ teilt mit Fitz-Balls Version eben diesen Zug sowie das Motiv des konkurrierenden Liebhabers (Mowdrey bei Fitz-Ball, Erik bei Wagner). Dort wird Letty erlöst, weil Mowdrey sie mehr liebt als sein Leben; hier wird der Holländer erlöst, weil Senta ihm – trotz ihres impliziten Versprechens gegenüber Erik – in den Tod treu ist. 20 Die Frau taucht offenbar früher in Sagenfassungen des Holländers gar nicht auf, mit zwei – allerdings sprechenden – Ausnahmen: Das Stuttgarter Morgenblatt für gebildete Stände druckt 1824

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giöse Verbindlichkeit der Ehe betriebene Verführung ist vor allem eine Tat, in welcher die Wechselseitigkeit der Neigung aufgekündigt wird: Die Gegenliebe wird ertrotzt, erzwungen; die Geliebte ist eine „Eroberung“. Kein Wunder, dass auch die Faust-Sage mit der des Verführers sich vereinigte. Fausts geschäftsmäßiger Auftrag an Mephisto („Hör, du musst mir die Dirne schaffen!“) (Goethe 1977, Bd. 5, 223 [V. 2619]) verschiebt die Beziehung der Liebenden auf die Ebene der Tauschverhältnisse und der Gleichung von Erfolg (auch sexuellem) und monetärer Macht (Margarete: „Nach Golde drängt, / Am Golde hängt / Doch alles! Ach, wir Armen!“) (l. c., 229 [V. 2802-2804]). Gleichzeitig nimmt die Verführte Züge der heiligen Jungfrau an: sie wird zur Erlöserin des Verführ21 ten. Ansatzweise schon bei Mozart, der in da Pontes Libretto (Don Giovanni) durch den Zug eingriff, die Donna Elvira zur himmlischen (klösterlichen) Fürsprecherin ihres verruchten Gemahls werden zu lassen. Dann wieder in dem erfolgreichen Schauerroman des Charles Robert Maturin, Melmoth the Wanderer (1820), der seinen Helden mit Zügen des irrenden Ahasverus, des Faust und des Don Juan ausstattet und ihm die Erlösung aus Satans Klauen verheißt, wenn ein anderer Mensch für ihn in den Pakt eintritt: Es ist zu erwarten, dass er diesen Tausch am geschicktesten in der Rolle des Verführers und Erpressers von Frauen erreichen wird und um ein Haar Erfolg gehabt hätte. Edgar Quinets Ahasvirus (Un Mystère [1833]) findet immerhin zeitweise Erlösung in der Liebe von Rahel, einem Engel in Frauengestalt, der sich durch Mitleidstränen für den Ewigen Juden die Pforten der himmlischen Stadt verschlossen hat und nun, zur Magd erniedrigt, dem Tode dienstbar sein muss. Eine wirkliche Erlösung des Don Juan durch die Liebe einer Frau hat dann José Zorrilla y Moral in seinem noch heute berühmten Drama Don Juan Tenorio (1844) vorgeführt: Während der treulos Begehrende schon auf dem Höllenpfade entschwindet, erhebt er die Hand zum Himmel; die zur heiligen Jungfrau verklärte Doña Inés erlöst den Reuigen, und man sieht im Schlussbild die Seelen der Liebenden auf einem von Engeln bereiteten Blütenbett ruhen: Don Juan stirbt den Liebestod des Tristan. So auch der Fliegende Holländer in der Romantischen Oper Richard Wagners 22 (1841, Uraufführung 1843). Senta, dem „Schrecken aller Frommen“ treu bis in die Version einer Matrosensage („Van Evert, oder Ursprung der Matrosensage von dem fliegenden Holländer.“ Aus einer alten Handschrift übersetzt, N° 45, 21. Febr. 1824), der zufolge eine Frau es ist, die nach schrecklicher Misshandlung sterbend Kapitän und Mannschaft zu ewiger Irrfahrt verwünscht. In Hudtwalckers (schon erwähnten) Bruchstücken aus Karl Bertholds Tagebuch (Hudtwalcker 1826) – sonst eng an die Fassung des Blackwood’s Edinburgh Magazine angelehnt – wird erzählt, dass, während das Holländerschiff ein Boot mit Leuten aussetzt, um zwei Besatzungsmitglieder eines kreuzenden Schiffes „abzuholen“, ein Streit an Bord des Opferschiffes ausbricht – zwischen seinem Kapitän und einem Mitglied der Mannschaft –, in dessen Verlauf der von ihnen gemeinschaftlich verübte Mord an einer Frau ans Licht kommt. Das Schiff versinkt darauf mit den Mördern, der Rest der Crew kann sich retten (l. c., 330 ff.). – Auch als Transformation dieses Motivs lässt sich Wagners Fassung lesen. 21 Vgl. Gretchens Verherrlichung im IV. und V. Akt des II. Faust. 22 Wagner hat den Schluss der Holländer-Ouvertüre (und der Oper selbst) 1860, in der Tristan-Zeit und im Tristan-Stil, nachkomponiert.

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den Tod (SSD I, 291), „stürzt sich ins Meer; in demselben Augenblicke versinkt das Schiff des Holländers und verschwindet schnell in den Trümmern. – In weiter Ferne entsteigen dem Wasser der Holländer und Senta, beide in verklärter Gestalt; er hält sie umschlungen. Der Vorhang fällt“ (l. c.). Auch für dies Motiv in der Heine/Wagner’schen Sagenfassung hat sich übrigens ein Vorbild finden lassen: in der (schon erwähnten) novellistischen überarbeitung, die Heinrich 23 Smidt seinem Gedicht Der ewige Segler im Jahre 1828 hat widerfahren lassen. (abgedruckt in: Seegemälde, Leipzig 1828, 35 ff.). Ähnlich wie bei Fitz-Ball wird Elise, die Tochter des Schiffskommandanten Blackstone, wider Willen, ja durch Gewalt einem Ungeliebten verheiratet. Doch hat sie zuvor mit Milton, dem Freund ihres Herzens, vereinbart, dass sie, sollte sie ihn verlieren und ihr Unglück gewiss sein, „auf den höchsten Felsen von Dover klettern und mit einem langen Gebet zu Dir in die Tiefe hinabspringen“ will (l. c. 94 f.), während Milton für diesen Fall – ein wenig unmotiviert – schwört, „den Himmel und die Erde [zu] verlassen, um ewig umher[zu]irren im öden Gewässer des wilden Oceans“ (l. c.). Beides geschieht am Schluss der Novelle: Elisens „lichtweiße Figur entschwand plötzlich von der Höhe und stürzte in den Abgrund“, während der unglückliche Milton mit Pfeilesschnelle über die Wogen dahinfliegt, ‚ohne Rast, ohne Ruh‘ (l. c. 141, 144). Sieht man ab vom poetischen Unvermögen des Autors, so kann man nicht leugnen, dass erstmals hier mit gewisser Konsequenz ein gesellschaftlich verhängtes „Liebesverbot“ (1834 [SSD XI, 59-124]) zur Ursache des auf dem Fliegenden Holländer lastenden Fluchs gemacht wird: Die Irrfahrt wird zur Allegorie der Ortlosigkeit einer Liebe, die die Unbedingtheit ihres Schwurs verbindlicher findet als die kodifizierte (und der Vaterautorität anheimgegebene) Form der Ehe24 Schließung (mit „höchster Bestürzung“ [l. c. 85] reagiert denn auch die Öffentlichkeit). Gleichwohl bleibt die gesellschaftliche Gewalt siegreich: Ihr repressiver Code trennt die Liebenden, und zwar, wie man sieht, besonders gründlich. Es ist auch nicht davon die Rede, dass der ziemlich asymmetrische Liebestod den Fluch löst, oder gar davon, dass Elises Opfer eine nutzbringende Passion wäre, wie dies in Wagners Fassung der Fall sein wird. Das Motiv, das der Sequenz zugrunde liegt, erklingt am Schluss der Senta-Ballade: „Ich sei’s, die dich durch ihre Treu’ erlöse“ (SSD I, 272), wird aber in der nachkomponierten Version durch die Tristan-Chromatik, wie Carl Dahlhaus sagt, „bis zur Kenntlichkeit verändert [... und] spricht aus, was in Sentas Willen, Werkzeug der Erlösung des Holländers zu sein, immer schon verborgen war: Sehnsucht zum Tode“ (Dahlhaus 1971, 17). 23 Es ist erstmals systematisch erschlossen und für die Vorgeschichte des Wagner-Textes in seinen Implikationen gedeutet worden von Roswitha Kausch (1980). Vgl. schon Helmut Kirchmeyer (1972, 228-242). 24 Die Ehe hat Wagner auch später – als eine Form vertraglich geregelter (und damit entfremdeter, nämlich ‚unters Gesetz geknechter‘) Beziehung zwischen Menschen – anarchistisch abgelehnt, etwa in den Notaten zur Szene mit der Ehebrecherin aus Jesus von Nazareth (SSD XI, 287 ff.) oder, wenn er Brünnhilde den Nibelungenring mit einem Ehering verwechseln und nicht aus der Hand geben lässt, Szene „Felsenhöhle“ mit Waltraute, bes. SSD VI, 199 frf., bes. 204). Dazu hier Text 6 und Frank (2002).

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Wagners Operntext ist zu bekannt, um eines Referats zu bedürfen. Ich beschränke mich darauf, seine historische Innovation im Repertoire des Motivs zu unterstreichen, soweit wir es bislang verfolgt haben. Wagner war, soviel ich sehe, der erste, der ganz ausdrücklich die Holländerfabel mit der Geschichte der neuzeitlichen Rationalität assoziiert und in ihr eine Entstellung des auf Wechselseitigkeit gegründeten Liebesverhältnisses zuungunsten der Frau aufzuweisen versucht hat. Die Frau ist die Natur in exemplo, welcher der Weltbemächtigungsund Beherrschungs-Drang des Manns Gewalt antut. Längst – die traurige Gestalt des Holländers, dem all sein Reichtum, alles Raubgut aus den Kolonien, alle Früchte seines Handels und seiner Eroberungen kein „Glück“ mehr bereiten, beweist es –,– längst hat der Eroberer aufgehört, die Folgen seiner Tat zu genießen. Doch kann er ihnen nicht durch einsame Willensentscheidung entkommen: Das Werk der ersten Stunde ist seinem Urheber entglitten, es hat sich als soziales und ökonomisches Gesetz der geschichtlichen Realität eingeprägt und entfaltet gleichsam blind wirkend und selbständig seine desolidarisierende, den Menschen vom Menschen trennende und die Liebe zerstörende Gewalt. Wenn es Erlösung gibt, dann ist sie nurmehr vom „Weibe“ zu erhoffen; denn das Weib, so ist Wagners Gedanke, ist zwar das Opfer der Entstellung wahrer Liebe zu einem Besitzverhältnis; doch da es die Gewalt eher erleidet als ausübt, steht es nicht unter ihrem Bann. Im Leiden der Frau – so räsonniert Wagner in den Mitteilungen an meine Freunde (von 1851) – bleibt das „Bedürfnis der Liebe unter dem Drucke eben jenes lieblosen Formalismus“ erhalten, und wer es fühlt, „erkennt [eben damit] auch dasselbe Bedürfnis in anderen“: im Herzen des Mannes z. B. (SSD IV, 264). Und nur durch die dem entrechteten Teil der Menschheit erhaltene Fähigkeit, die Schale der im Formalismus des Tauschs entfremdeten Liebe zu durchdringen, vermag er das in den erfrorenen Herzen des anderen Teils ihm entgegenschlagende Bedürfnis zu fühlen. Der Mann – Ahasver, der Fliegende Holländer – seinerseits begreift sein Schmachten nach dem Tode als Sehnsucht nach dem Untergang des Verblendungszusammenhanges, in den er seit Jahrhunderten verstrickt ist und der ihn um das einzige hienieden gewährte Glück, die volle Liebeserfüllung, bringt; und diese Einsicht, so fährt Wagner fort, erregt ihm die Phantasie „eines Weibes, das sich ihm aus Liebe opfert: Die Sehnsucht nach dem Tode treibt ihn somit zum Aufsuchen dieses Weibes; dies Weib ist aber nicht mehr die heimatlich sorgende, vor Zeiten gefreite Penelope des Odysseus, sondern es ist das Weib überhaupt, aber das noch unvorhandene, ersehnte, geahnte, unendlich weibliche Weib, – sage ich es mit einem Worte heraus: das Weib der Zukunft“ (SSD IV, 266). Dies Opfer darf man sich freilich nicht einseitig vorstellen, wie die 1978er Bayreuther Inszenierung es nahelegte. Sentas Opfertat (die übrigens nach den Konventionen bürgerlicher Moralität Treulosigkeit gegen Erik, ihren Verlobten, voraussetzt) vollstreckt die Einsicht, dass „der Prozeß der Emanzipation des Weibes“ nicht vollendet sein wird, bevor Ahasver erlöst, d. h. bevor auch der Mann emanzipiert ist vom Fluch seiner Entfremdung. Das Ziel des Prozesses ist die Wieder-

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herstellung einer von Herrschaft befreiten, einer wahrhaft wechselseitigen Liebesbindung; seine „Tragik“ besteht darin, dass er „nur unter ekstatischen Zuckungen vor sich [geht]“, d. h. die liebesfeindliche Ermächtigung des einen Partners nur durch das freiwillige Opfer des anderen sühnen kann (SSD XII, 345. Diese Notiz 25 ist übrigens Wagners letzte schriftliche Aufzeichnung vor seinem Tode. Es ist – in der durchgängig symbolischen Handlung des Dramas – tatsächlich die Liebe, um derentwillen Senta sich opfert, nicht das persönliche Erbarmen mit diesem oder jenem leidenden Mann. Nur das legitimiert ihren Treubruch gegen Erik und befreit ihre Berufung aufs Gebot einer „hohen Pflicht“ (SSD I, 288) vom Schein der Ausflucht. Die Ballade, aus der thematisch und motivisch die ganze musikalische Handlung entwickelt ist, enthüllt den „Fliegenden Holländer“ gerade nicht als eine individuelle, sondern als eine kollektive Phantasie („Frau Mary“ ist’s, die den am Spinnrad arbeitenden Mädchen Text und Melodie beigebracht hat [SSD I, 270]). Diese Phantasie lässt nun freilich nur im Herzen des „Weibes der Zukunft“ den Willen zur entscheidenden Tat reifen: Wenn Daland mit dem Holländer zur Tür hereintritt, ist Senta nicht eigentlich überrascht (ihr Schrei bedeutet anderes). Sie begreift im Nu, dass sie der Wahrheit eines alten Traums ins Gesicht schaut. Ebenso ergeht es dem Holländer: Auch er erkennt sich als den exemplarisch Leidenden und Senta als das „Bild“ eines Traums, der ebenso exemplarisch den Sinn dieses Leidens enthüllt: Wie aus der Ferne längst vergang’ner Zeiten spricht dieses Mädchens Bild zu mir: wie ich’s geträumt seit bangen Ewigkeiten, vor meinen Augen seh’ ich’s hier. – Wohl hub auch ich voll Sehnsucht meine Blicke aus tiefer Nacht empor zu einem Weib: ein schlagend Herz ließ, ach! mir Satans Tücke, daß eingedenk ich meiner Qualen bleib’. Die düst’re Glut, die hier ich fühle brennen, sollt’ ich Unseliger sie Liebe nennen? Ach nein! Die Sehnsucht ist es nach dem Heil: würd’ es durch solchen Engel mir zuteil! (SSD I, 279)

25 Es gibt eine interessante Parallele zwischen Wagners Emanzipationsdrama und einem dramatischen Projekt von Sartre, zu dem er sich in einem Gespräch mit Kenneth Tynan geäußert hat: „Wenn ich ein weiteres Stück schreibe, wird es von den Beziehungen zwischen Mann und Frau handeln. An sich wäre das langweilig, deshalb werde ich den griechischen Mythos von Alkestis nehmen. Wenn Sie sich daran erinnern, kommt da der Tod zu König Admetos. Das gefällt diesem überhaupt nicht. ‚Ich habe zu tun‘, sagt er, ‚ich muss einen Krieg gewinnen.‘ Und seine Frau Alkestis, die sich für vollkommen überflüssig hält, bietet an, an seiner Stelle zu sterben. Der Tod akzeptiert den Handel; aber aus Mitleid mit ihr gibt er sie dem Leben zurück. Das ist die Handlung. Doch meine Version würde die ganze Geschichte der Frauenemanzipation einschließen: Die Frau wählt die Tragödie in einem Moment, wo ihr Gatte sich weigert, dem Tod ins Gesicht zu sehen. Und wenn sie zurückkommt, hat sie die Macht, denn der arme Admetos wird immer der Mann sein, von dem man sagen wird: ‚Er hat seine Frau für sich sterben lassen‘“ (Sartre 1979, 120).

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Nicht persönliche Zuneigung, sondern Sehnsucht nach dem Heil – d. h. nach der Erlösung von dem jahrhundertelangen Fluch der Lieblosigkeit – ist das Gefühl, das nicht Senta, sondern ihr „Bild“, d. h. die poetische, die universelle, die mythische Existenz der erlösenden Frau, der Frau der Zukunft, ihm erregt. So wie nur ein Tabubruch das Elend des Holländers begründen konnte, so wird ihn nur eine gesetzesaufhebende und -überschreitende Macht davon befreien: Die zwischenmenschlichen und zumal die erotischen Beziehungen, die ‚das Gesetz‘ gestiftet hat, sind Äußerlichkeitsbeziehungen, d. h. Beziehungen, die nicht durch Wahl und echte Wechselseitigkeit – durch volle Liebe –, sondern auf dem Umweg über institutionelle und nichtauthentische Maßgaben zustande gekommen sind. Senta setzt sich über das früher gegebene Einverständnis des Vaters und das Verlöbnis mit Erik hinweg (SSD I, 288 f.), einer „hohen Pflicht“ gehorsam, die 26 erst in Zukunft Verbindlichkeit erwerben kann (l. c.). Ihre Tat steht – die Dramaturgie von Smidts Novelle noch überbietend – außerhalb des Gesetzes der bürgerlichen Moralität; nur so begegnet sie dem Holländer, der – als exemplarischer Stifter und Büßer zumal – den Fluch dieses Gesetzes erleidet. Dass die Liebe kein Glück bringt, die nicht die Liebe des Anderen ist; und dass „kein einzelner frei sein kann, ehe nicht alle frei sind“ (SSD XI, 275): diese Dialektik – immer aufs neue durchdekliniert in den kunsttheoretischen Schriften der Dresdener und der Züricher Zeit – steht schon im Mittelpunkt des Fliegenden Holländer. So wie das Holländer-Motiv, mit dem die Ouvertüre einsetzt, in der Senta-Ballade wiederkehrt, ja dort seinen eigentliche Ort hat, so kommt umgekehrt das Erlösungsmotiv in der Ouvertüre vor: Es folgt dem Holländer-Thema Schlag auf Schlag. Die Männerphantasie (wenn man von einer solchen sprechen will) verschränkt sich organisch mit der Frauenphantasie und erzeugt die Vision einer integralen und unentfremdeten Liebes-Wechselseitigkeit. Auch wird die Melodie des Mädchenliedes in der Spinnstube – zu Beginn des II. Aufzuges – ganz organisch aus dem Matrosenchor und dem Holländer-Motiv entwickelt, so wie die Zwischenaktmusik zwischen dem II. und dem III. Aufzug Sentas Liebesgesang in das Festlied der Matrosen hinübervariiert: Diese beiden Motiv-Bereiche appellieren ständig aneinander, ihre Gegensätzlichkeit verhindert nicht ihre dialektische Einheit, ihr Zusammenklingen enthüllt die Reziprozität der Sehnsüchte der Liebespartner. Darum ist nicht nur der Holländer auf Sentas Treue angewiesen; auch Sentas Los wäre „ew’ge Verdammnis“, wenn sie an dieser Treue schuldig würde (SSD I, 290): „Zahlreiche Opfer fielen diesem Spruch / durch mich!“ (l. c.), ruft der (abermals sich betrogen glaubende) Holländer in der Schlussszene aus. Doch treffe das Verhängnis Senta nicht, da sie nur vor dem bürgerlichen Gesetz, noch nicht „vor dem Ewigen“, geschworen habe (l. c.). Das Ewige ist die Chiffre jener äußersten Verbindlichkeit, die es nur geben kann, wo der Einzelne dem Egoismus seiner Privatinteressen entsagt und das eigene „Heil“ als an die 26 Vgl. das Jesus-Wort aus dem gleichnamigen Tragödien-Entwurf vom revolutionären Frühjahr 1849, gesprochen aus Anlass der Vorführung der Ehebrecherin: „Die Ehe heiligt nicht die Liebe, – sondern die Liebe heiligt die Ehe“ (SSD XI, 296).

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Bedingung des Heils des Anderen gekettet begreift. Diese Verkettung bewährt sich dann freilich auch im Unheil: Die Aufkündigung des Bandes durch einen liefert auch den anderen der „Verdammnis“ aus. Auf diese Weise hört die ‚ziellose Fahrt ohne Rast, ohne Ruh’ (SSD I, 271) auf, das Geschick eines verfemten Einzelnen zu sein: Sie enthüllt ihre soziale, ihre gesellschaftliche Dimension. Sie wird zur Chiffre eines heillosen Fortschritts, der den Körper der Gesellschaft zersetzt.

5. „ROMANTISCHE IRONIE“ ALS MUSIKALISCHES VERFAHREN Am Beispiel von Tieck, Brahms, Wagner und Weber1

Wolfgang Iser zum 75.

Ein berühmtes Fragment des Novalis lautet: „Wir suchen überall das Unbedingte, und finden immer nur Dinge“ (NS II, 412, Nr. 1). Mit Recht hat man darin eine Charakterisierung der frühromantischen Grundhaltung überhaupt erkennen wollen. Sie hat Folgen für die Ästhetik, ja für die künstlerische Praxis im weitesten Sinn dieses Wortes. Darüber – mit einer Anwendung auf Lyrik und Musik – will ich im Folgenden handeln. Die frühromantische Ästhetik ist nämlich mit einem Problem konfrontiert, das – blickt man auf die Geschichte des ästhetischen Denkens seit den antiken Anfängen – ganz einzigartig, ja völlig neu ist. Der Kunst muss nämlich etwas gelingen, woran die Philosophie scheitert: uns eine Darstellung d[ies]es Unbedingten zu liefern. Das Unbedingte heißt im philosophischen Diskurs dieser Epoche auch ‚das Unendliche‘ oder ‚das Absolute‘; und entsprechend wird von der Welt der Dinge auch als vom Reich des Relativen oder des Endlichen gesprochen. Relativ (oder bedingt) ist eines, das kein unabhängiges Bestehen in sich selbst hat, sondern eines anderen zu seinem Sein bedarf. Diese Beziehung auf ein anderes ist aber das gerade Gegenteil von Absolutheit – denn absolut wäre (wörtlich übersetzt) ‚id, quod est omnibus relationibus absolutum‘. Wäre nun – so ist der Grundgedanke der romantischen Philosophen – das Relative das Letzte, zu dem unsere Orientierungsbedürfnisse gelangen können, so kämen wir nie zu einem Wissen. Denn Wissen ist (schon nach Platon) begründete wahre Meinung. So ist jedes Meinen von einer Bedingung (nämlich seiner Begründung durch ein anderes Meinen) abhängig – einer Begründung, die außerhalb seiner liegt und wiederum von einer Bedingung abhängt usw. Gäbe es nun nicht ein (im Wortsinne) Un-bedingtes, so verliefen sich die Begründungsversuche für Wissen im Unendlichen. Wir tauchten aus der Kette der endlosen Relativitäten niemals auf. Also muss es ein Meinen geben, das in sich selbst, und nicht in einem anderen begründet ist. Ein solches Meinen dürfte absolut heißen. Aber dieses Ziel ist uns (wie wir eben gehört haben) verwehrt. Das hängt mit der Struktur unseres Denkens zusammen. Denken ist urteilen. Und das Urteil (oder, wie wir heute sagen würden, der Aussagesatz) hat (so lehrte es Fichte im WS 1794/5) die Struktur eines ‚ursprünglichen Teilens‘ (GA II.4, 182). Es deutet etwas (ein Satzsubjekt) durch ein anderes (das Prädikat). So geraten die Glieder der Aussage in einen Gegensatz, der durch das ‚Verhältniswörtchen ist‘ (also die Copula) zwar vermittelt, aber nicht aufgehoben wird. Eines, das nur gilt kraft ei01 Zuerst veröffentlicht in: Athenäum 2003 (= Nr. 13), 163-190.

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„ROMANTISCHE IRONIE“ ALS MUSIKALISCHES VERFAHREN

nes anderen, welches ihm zur Bestimmtheit verhilft, ist durch dieses andere bedingt, also gerade kein Unbedingtes. So kann unser Denken das Absolute – den Inbegriff dessen, was zur ultimativen Fundierung unserer Überzeugungen not tut – nicht erreichen. Aber die Kunst kann gerade das. Friedrich Schlegel sagt: „[...] die Notwendigkeit der Poesie [gründet] sich auf das Bedürfnis. welches aus der Philosophie hervorgeht, das Unendliche darzustellen“ (aus einer Privatvorl. von 1807; zit nach Pohlheim 1966, 59; vgl. KA, II, 261, Nr. 48). Wir können nämlich, fügt Novalis hinzu, einsehen, dass, „wenn der Character eines gegebenen Problems Unauflöslichkeit ist, [...] wir dasselbe [lösen], wenn wir seine Unauflöslichkeit [als solche] darstellen“ (NS III, 376, Nr. 612). Und die Kunst ist genau dies: „Darstellung des Undarstellbaren“ (l. c., 685, Nr. 671). Was heißt das? Die Frühromantiker sind überzeugt, dass das Prinzip unseres Wissens – das Absolute – auf einem transzendenten Grunde ruht, der sich nicht in die Innerlichkeit unserer Vertrautheit mit uns selbst auflösen lässt. So wird der Grund von Selbstsein zu einem unausdeutbaren Rätsel. Dies Rätsel kann nicht mehr (allein) vom Denken bearbeitet werden. Darum vollendet sich die Philosophie in der und als Kunst. Denn in der Kunst ist uns ein Gebilde gegeben, dessen Sinnfülle von keinem möglichen Gedanken erschöpft wird. Darum kann der unausschöpfbare Gedankenreichtum, mit dem uns die Erfahrung des Kunstschönen konfrontiert, zum Symbol werden jenes in Reflexion uneinholbaren Einheitsgrundes, der der Fassungskraft des dualen Selbstbewusstseins aus strukturellen Gründen entgehen muss. (Auch Selbstbewusstsein hat ja die Struktur der ‚Ur-teilung‘: Ein Subjekt bezieht sich darin auf sich selbst als ein anderes: als Objekt.) Diesen Typ von symbolischer Repräsentation nennt die Frühromantik in polemischer Absetzung vom klassizistischen Wortgebrauch Allegorie. Die Allegorie – sagt Friedrich Schlegel – „deutet“ indirekt auf das, was sie direkt nicht aussprechen kann: das Unendliche (KA XVIII, 416, Nr. 1140). Das meint ja, wörtlich übersetzt, Âllhgoreîn etwas anderes meinen als das, was man sagt (Áll kaì ÁllwV Âgoreúein). „Alle Schönheit“, schreibt Schlegel, „ist Allegorie. Das Höchste kann man eben weil es unaussprechlich ist, nur allegorisch sagen“ (KA II, 324). Aber jedes einzelne Gedicht will das Ganze, „das überall Eine und zwar in seiner ungeteilten Einheit“ in sich darstellen; „das kann es nur durch Allegorie“ (l. c., 414). Allegorie ist eben nur „Andeutung des Unendlichen [...], Aussicht in dasselbe“ (l. c., 211; vgl. KA XI, 119). „Sie geht bis an die Pforte des Höchsten, und begnügt sich, das Unendliche, das [Absolute], was philosophisch sich nicht bezeichnen und erklären läßt, unbestimmt nur anzudeuten“ (l. c., 210). Der Allegorien-produzierende Künstler meint also das Unbedingte – und kann doch immer nur Dinge produzieren: Wörter, Bilder, Tonfolgen, die alle gegenständlich und durch andere bedingt sind. Er will ‚das Unendliche‘ darstellen, aber er produziert in alle Ewigkeit nur Endliches. Nun lässt sich rasch einsehen, dass dieser Widerspruch grundsätzlich ist. Schlegel sagt: „Das eigentlich Widersprechende in unserm Ich ist, daß wir uns zugleich endlich und unendlich fühlen“ (KA XII, 335). Wie anders sollten wir diesen Widerspruch lösen, als dass wir

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(und unvermeidlich) Endliches, Bestimmtes produzieren und zugleich beständig der Endlichkeit des Dargestellten widersprechen? Dieser Widerspruch kann aber nicht auf der Ebene des künstlerischen Inhalts liegen. Kein Inhalt ist von sich selbst her derart, dass er seine eigene Endlichkeit/Bestimmtheit dementieren könnte. Also muss er in der ‚Art, wie‘ ich produziere, liegen: in einem bestimmten Stilzug, dem der Ironie. Ironisch ist etwas gesagt (halten wir uns zunächst an die Dichtung), wenn durch die Art, wie ich es sage, seine Bestimmtheit auch wieder aufgehoben wird oder sich selbst zurücknimmt zugunsten der Unendlichkeit dessen, was an seiner Stelle ebenso gut hätte gesagt werden können. Wie erreicht dies der Dichter? Natürlich nicht in der Zusammenhanglosigkeit einer einfachen und isolierten Äußerung. Damit die ironische Rede sprechen und ihr Sprechen auch wieder aufheben kann, muss sie durch eine zeitliche, möglichst variable Abfolge schreiten. Je stärker die Variation, je schroffer die Gegensätze, die dem nachvollziehenden Verstand zugemutet werden, umso weniger kann sich das Gefühl einer (identitätsgesteuerten) Kontinuität bilden, umso mehr drängt sich dagegen das Gefühl eines unentwegten Flottierens des Sinns unter der Ausdruckskette auf. Tieck hat die hier geforderte Technik in einer frühen Studie (von 1793) genau untersucht. Sie trägt den Titel Über Shakespeare’s Behandlung des Wunderbaren und ist ebenso instruktiv für seine eigene poetische Verfahrensweise wie lichtvoll in der Analyse der Struktur poetischer Rede im Allgemeinen. Die Ausgangsfrage der Abhandlung lautet: Wie erreicht es Shakespeare in seinen Dramen, den Zuschauer zur Hinnahme des Wunderbaren bereit zu machen? Das Wunderbare – das ist die erste wichtige Beobachtung – ist, gerade wie die Ironie, kein semantisches Merkmal – es wird, mit anderen Worten, nicht dadurch eingeführt, dass von Hexen, Kobolden oder mythischen Figuren gehandelt wird. Das Wunderbare wird vorbereitet durch Stilzüge des poetischen Sprechens, nämlich eine so blitzschnelle Abfolge entgegengesetztester Gefühle, etwa des „Fürchterlichen und Lächerlichen“, daß der Zuschauer nie auf irgend einen Gegenstand einen festen und bleibenden Blick heftet, daß der Dichter die Aufmerksamkeit beständig zerstreut und die Phantasie in einer gewissen Verwirrung erhält, damit seine Phantome nicht zu viele körperliche Consistenz erhalten und dadurch unwahrscheinlich werden (Tieck, 1991, 702).

Auf die Weise wird die Urteilskraft, die sich in der Folge des Entgegengesetzten orientieren will, matt gesetzt und ergibt sich schließlich, verwirrt, einem blinden Sich-Schicken ins Inkommensurable. Wir verlieren, sagt Tieck, am Ende die Kennzeichen, nach denen wir sonst das Wahre beurteilen, wir finden nichts, worauf wir unser Auge fixieren könnten; die Seele wird in eine Art Schwindel versetzt, in welchem sie sich am Ende gezwungen der Täuschung überläßt, da sie alle Kennzeichen der Wahrheit oder des Irrtums verloren hat (l. c., 704).

Von solch einem Schwindel berichtet auch die berühmte Ironie-Definition Friedrich Schlegels:

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Sie [die Ironie] enthält und erregt ein Gefühl von dem unauflöslichen Widerstreit des Unbedingten und des Bedingten, der Unmöglichkeit und Notwendigkeit einer vollständigen Mitteilung. Sie ist die freieste aller Lizenzen, denn durch sie setzt man sich über sich selbst weg; und doch auch die gesetzlichste, denn sie ist unbedingt notwendig. Es ist ein sehr gutes Zeichen, wenn die harmonisch Platten gar nicht wissen, wie sie diese stete Selbstparodie zu nehmen haben, immer wieder von neuem glauben und mißglauben, bis sie schwindlicht werden, den Scherz gerade für Ernst, und den Ernst für Scherz halten (KA II, 160, Nr. 108).

Etwas von diesem Schwindel kann uns ein hintersinnig-leichtes Liedchen von Tieck vermitteln: Mit Leiden Und Freuden Gleich lieblich zu spielen Und Schmerzen Im Scherzen So leise zu fühlen, Ist wen’gen beschieden. Sie wählen zum Frieden Das eine von beiden, Sind nicht zu beneiden: Ach gar zu bescheiden Sind doch ihre Freuden Und kaum von Leiden Zu unterscheiden. (Tieck 1995, 394; TS 10, 96)

Die Freuden, näher besehen, verlieren ihr distinktives Merkmal und werden ihrem Gegenteil, den Leiden, ähnlich, für die wieder das gleiche gilt. Es gibt also durchaus Bestimmtheit und Unterschiedenheit; die werden aber poetisch so behandelt, dass sich ihre Setzung geheimnisvoll überdeterminiert durch die Aufhebung des Gesetzten: dessen Überschreitung auf das hin, was es nicht ist. Wir erkennen in Tiecks Gebrauchsanleitung zur Herstellung des Effekts des Wunderbaren leicht die Grundzüge der Schlegel’schen Ironie wieder: Zwei Gefühle, deren eines dem anderen geradezu entgegengesetzt ist (wie „das Grässliche“ und „das Lächerliche“, ‚das Ernste‘ und das ‚Scherzhafte‘), heften sich so rasch an denselben Gegenstand, dass die Urteilskraft, verzweifelt, hier zur Klarheit zu kommen, am Ende dem Film der Kontraste sich willig überlässt. Die Virtualisierung des Aussagegehaltes der Botschaft geschieht durch dessen Relativierung aufgrund einer zu rasch an ihre Stelle tretenden neuen, so dass der letztlich sich durchsetzende Eindruck genau der eines ‚so könnte es sein, aber ebenso gut auch anders‘ ist. Der gar seriöse (freilich mehr als nur konservative) Zürcher Germanist Emil Staiger hat Tiecks poetischer Verfahrungsweise verärgert vorgeworfen, jeder Zug in seinen Märchen-Erzählungen führe, isoliert, in die Irre, keine einzige einheitliche Interpretation lasse sich auf die Totalität aller Textmerkmale stützen – als sei nicht dies die zur Perfektion getriebene romantische Ironie, die man eben nicht in der Bedeutungssubstanz der Texte, auch nicht im Lachenerregenden, sondern in ihrer schwerelos-alldeutigen Faktur suchen muss (Staiger 1963). Zahl-

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reich sind die Texte Tiecks, vor allem lyrische, die uns diese Art von Schwindel erregen, und es sind oft seine anmutigsten. Denn das anmutige Sprechen hat gerade jenen „Aethergeist“, den Tieck der ‚höheren Ironie‘ zuerkannte und den er der ‚gemeinen Ironie‘ entgegensetzte, „wo das Schlechte gut, und das Gute schlecht genannt wird, wie [bei] Swift und andere[n]“. Jener Äthergeist der höheren Ironie, sagt er, „der, so sehr er das Werk bis in seine Tiefen hinab mit Liebe durchdr[ingt], [schwebt] doch befriedigt und unbefangen über dem Ganzen“ (TS 6, XXVII ff.). Schon Tiecks erster bedeutender Rezensent, August Wilhelm Schlegel, rühmt seiner Dichtung die Anmut nach: „Ich vergaß noch die Grazie“, schreibt er, „eine ihm [Tieck] so angeborene Eigenschaft, daß sie sich wie von selbst einstellt und daß er ihr nicht entsagen könnte, wenn er auch wollte“ (A, W. Schlegel 1846/47 11, 144) Dies schwerelos-ironische Sprechen hat freilich nicht nur Freunde gefunden. Es hat ihm die besondere Wut der Seriösen (von Schiller über Hegel bis Kierkegaard), ja bis hin zum Bierernst der Nazi-Germanistik eingetragen, die Tiecks Desengagement und Substanzlosigkeit, seine Ironie als zer2 setzende Intellektualität anprangerte. Tatsächlich meinte Tieck, eine Wahrheit und nicht eine Schwäche ins Werk zu setzen, wenn er durch seine Sprachbehandlung die Einsicht zu vermitteln suchte, dass unsere Seele schwerelos ist wie der Äther und transparent wie das Nichts. Tiecks Figuren sind von einer inneren Leere umgetrieben, sie wollen „das Ferne und das Nahe,/ Das Mögliche, was doch unmöglich ist“ (TS 2, 112), und halten die Stabilität der klassischen Charaktere für Lüge. Tiecks Freund Novalis hatte notiert: „Ein Gedicht muß ganz unerschöplich seyn, wie ein Mensch“ (NS III, 664, Nr. 603). Er hatte auch leidenschaftlich nach „Mannichfaltigkeit in der Darstellung von Menschen“ verlangt: „nur keine Puppen, keine sogenannten Charaktere – lebendige, bizarre, inkonsequente, bunte Welt. Je bunteres Leben, je besser“ (III, 558, Nr. 16). Tieck sagt es ironischer. In einem seiner wirrsten und von der Kritik am meisten zerzausten Romane findet sich folgender Dialog: Wenn Ihr es überlegt, daß im ganzen Menschenleben kein Zweck und kein Zusammenhang zu finden ist, so werdet Ihr es gern aufgeben, diese Dinge in meinen Lebenslauf hineinzubringen. Wahrhaftig, du hast Recht, sagte Bernard, und du bist wirklich verständiger, als ich dachte. Ich bin vielleicht klüger als Ihr, sagte Peter, ich lasse mir nur selten etwas merken. So wäre also, sagte Bernard tiefsinnig, das ganze große Menschendasein nichts Festes und Begründetes? Es führte vielleicht zu nichts und hätte nichts zu bedeuten, Thorheit wäre es, hier historischen Zusammenhang und eine große poetische Composition zu suchen, eine Bambocchiade oder ein Wouvermanns drückten es vielleicht am richtigsten aus (TS 9, 193).

Richtig ausgedrückt wäre das Menschendasein im möglichst schwerelosen und flüchtigen Stil, den Novalis an seinem Freund beneidete (vgl. NS II, 258, Nr. 02 Vgl. partes pro toto zwei Artikel im Zentralorgan der Nazi-Germanistik, der Zeitschrift für Deutschkunde: Veldtrup (1938) und Linden (1933). Dazu Klausnitzer (1999, bes. 115 ff., 401 ff.).

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504; III, 647, Nr. 557; III, 303, Nr. 345; 654, Nr. 580).Tieck hat nämlich das Rezept der ironischen Faktur in seiner Dichtung umgesetzt. Nehmen wir als Beispiel den Zyklus der Magelonen-Lieder (von 1796). Darin lösen die widersprechendsten Gefühle einander ab, in einer so wilden Flucht, dass oft selbst logisch strukturierende Konjunktionen fehlen (Asyndeta überwiegen). Heine hat – im Musikalischen Salon vom 25. April 1944 – Tiecks Dichtung mit der Feinheit der Mendelssohnschen Musik verglichen; auch sie, von der man meint, sie dringe zum einen Ohr hinein, um es durchs andere wieder zu verlassen, enthüllt ihren federleichten Zauber nur einem „Eidechsenohr“ (Heine 1997 5, 529 f.). Bei Mendelssohn haben wir beständig das Gefühl, die Musik sei zu zart, ja zu leise – aber das ist keine Sache zaghafter Orchestrierung oder geringer Lautstärke – ihr ist die Auflösung ironisch eingewebt. Und darin ist sie ganz romantisch. Aber nicht Felix, sondern seine Schwester Fanny hat einen Teil der Magelonen-Lieder vertont. Indessen ist Johannes Brahms’ mehr als ein halbes Jahrhundert später (nämlich zwischen 1861 und 1869) entstandene Vertonung so kongenial zu Tiecks Dichtung, dass wir die Unwirklichkeit des verführerischen Gedankens, Felix Mendelssohn-Bartholdy habe die Musik zu Tiecks Liedern geschrieben, nicht zu sehr bedauern müssen. Nachdem ich Sie so lange hingehalten habe, sind Sie nun gewiss begierig, ein paar Veranschaulichungen des ironischen Schreibens gereicht zu bekommen. Darauf bin ich gerüstet. Hören wir zunächst das 3. Lied des Magelonen-Zyklus: TEXT I Sind es Schmerzen, sind es Freuden, Die durch meinen Busen ziehn? Alle alten Wünsche scheiden, Tausend neue Blumen blühn. Durch die Dämmerung der Tränen Seh ich ferne Sonnen stehn, – Welches Schmachten! Welches Sehnen! Wag ichs? Soll ich näher gehn? Ach, und fällt die Träne nieder Ist es dunkel um mich her, Dennoch kömmt kein Wunsch mir wieder Zukunft ist von Hoffnung leer. So schlage denn, strebendes Herz, So fließet denn Tränen herab, Ach Lust ist nur tieferer Schmerz, Leben ist dunkeles Grab. – Ohne Verschulden Soll ich erdulden? Wie ist’s, daß mir im Traum Alle Gedanken Auf und nieder schwanken!

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Ich kenne mich noch kaum. O hört mich ihr gütigen Sterne, O höre mich, grünende Flur, Du, Liebe, den heiligen Schwur: Bleib ich ihr ferne, Sterb ich gerne. Ach! nur im Licht von ihrem Blick Wohnt Leben und Hoffnung und Glück! (Tieck 1985, 257 f.)

Auf Anhieb: nichts Spektakuläres in diesen gereimten Strophen, weder inhaltlich noch in der Form. Beim zweiten Hinhören wird man zumindest Folgendes bemerken: Das Metrum wechselt nach zweimaliger Wiederkehr eines einheitlichen Strophenschemas (vier alternierend gereimte Trochäen), um fortan – fast gleitend und unmerklich – zwar nicht auf den Reim, aber aufs Metrum zu verzichten. Einigen Zeilen fehlt das regelmäßige Metrum gänzlich, z. B. diesen: „Ach Lust ist nur tieferer Schmerz“ (u ú u u [ú] u u ú), wo nur zwei von acht Silben einen Akzent tragen, die erste und die letzte: Lust und Schmerz, oder: „Wie ists daß mir im Traum [...[„ (u ú u u u ú). Allgemein ist die Zeilenlänge ziemlich ungleich. Der längste Vers besteht aus acht Silben, der kürzeste aus vier. Dem entspricht die Zahl der Hebungen, die von zwei bis höchstens vier variiert. Wer das Gedicht zum ersten Mal mit lauter Stimme liest, wird beim Skandieren unerwartete Schwierigkeiten bekommen, vor allem wenn er sich auf ein Metrum einstellt, das den Versen ab der dritten Strophe fehlt. In der Tat, je weiter das Gedicht fortschreitet, um so weniger darf man sicher sein, Verspaare anzutreffen, deren Kadenz nach dem gleichen metrischen Schema gearbeitet ist. Diese Unbestimmtheit – die schon Carl Maria von Webers, erst recht Brahms’ Vertonung wunderbar respektiert, ja womöglich verstärkt hat – geht so weit, dass wir beim lauten Vortrag gewisser Zeilen weder vor- noch nachher zu entscheiden wüssten, in welchem Metrum es sich bewegt. Mehr noch: Das Versmaß, das wir einheitlich im Voraus nicht anzugeben vermöchten, scheint sich einer vorgängigen und recht willkürlichen Entscheidung des Lesers zu beugen. Grundsätzlich hindert zum Beispiel nichts, den vorletzten Vers als eine Folge von vier Jamben zu identifizieren: „Ach! núr im Lícht von íhrem Blíck.“ In Wahrheit begehrt aber alles in diesem Vers gegen eine so mechanische Betonung auf, und Brahms’ Vertonung hat der Zeile folgenden Rhythmus unterlegt (mit dem jedes Metrum verabschiedet ist): „Ách! nur im Lícht von ihrem Blíck.“ Viele andere Beispiele ließen sich hinzufügen, und sie haben alle die gleiche Tendenz. Allgemein beobachtet man – das gilt viel stärker noch für andere Magelonen-Lieder –, dass die einzige angebbare Regel die der maximal großen Variation der Versfüße und der unvermittelst aufeinander folgenden Kontraste ist. So gelingt es Tieck, uns für die Frage nach Form und Komposition noch vor der nach dem Inhalt des Gedichts zu interessieren; und das wäre ganz konform mit der Frage, die Rudolph im Roman Franz Sternbalds Wanderungen stellt: „Warum soll eben der Inhalt den Inhalt eines Gedichts ausmachen?“ (TS 16, 333)

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Wenn man indes dem Inhalt sich zuwendet, so wenig packend er auf den ersten Blick auch scheinen muss, so wird man Zeuge einer Unbeständigkeit, einer Wandelbarkeit, einer so auffälligen Häufung von Brüchen zwischen Stimmungen und Gefühlslagen, dass es keiner kleinen Anstrengung bedürfte, um darin so etwas wie einen roten Faden der Wahrscheinlichkeit oder eine psychologische Logik auszumachen. Ein solcher Versuch wäre sogar im Voraus zum Scheitern verurteilt. Das von Tieck angewandte Verfahren lenkt uns viel mehr auf die Inkonsequenz, auf die Diskontinuität, kurz: die Zeitlichkeit des Fließens der Gefühle, als auf ihre Konstanz, ihre Dauerbarkeit oder ihre Verlässlichkeit. Das Gedicht beginnt mit einem Zweifel oder vielmehr einer vollkommenen Ungewissheit: „Sind es Schmerzen, sind es Freuden, / Die durch meinen Busen ziehn?“ Die alten Wünsche scheiden, neue künden sich an. Aber gerade das Neue und Hoffnung Erregende lässt sich nur hinter einer „Dämmerung der Tränen“ ahnen. Die Figur des Oxymoron durchquert das Gedicht von einem Ende zum andern. Sie ist genau der Ausdruck der Unentscheidbarkeit der im Konflikt befindlichen Gefühle. Jedenfalls scheint doch das Scheiden der alten Wünsche, im Moment des Aufblühens tausender neuer, etwas Hoffnungsfrohes anzukündigen; zwar geschieht es durch Tränen, aber was sie vorandeuten, ist der Aufgang „ferner Sonnen“. Das stellt sich gleich als Täuschung heraus: „Ach, und fällt die Träne nieder / Ist es dunkel um mich her, / Dennoch kömmt kein Wunsch mir wieder / Zukunft ist von Hoffnung leer.“ Aber auch die damit beschworene Hoffnungslosigkeit behält nicht das letzte Wort. Nicht die Hoffnung, sondern der „heiligste Schwur“: lieber sterben als ihr fern bleiben. Aber das ist ein Sprechakt, der nichts affirmiert, ihm fehlt – würde Frege sagen – die „behauptende Kraft“. So bleibt alles unentschieden, selbst der Schluss. Hören Sie nun die Vertonung durch Brahms. Die Komposition könnte schwerlich sensibler sein für die Eigentümlichkeiten des Textes selbst, vor allem seine formalen. Beachten Sie vor allem, mit welcher Geschicklichkeit sich die musikalische Syntax, nach einmaliger identischer Wiederholung der EingangsStrophenform, in eine freie Ton-Folge ohne prädominantes Metrum oder melodische Figuren aufschwingt: in eine Melodie, die sich gleichsam nach Maßgabe jäher, unvorhersehbarer und vor allem stark unterschiedener Inspirationen spontan selbst erfindet. [CD Nr. 1, mit Dietrich Fischer-Dieskau, begleitet von Sviatoslav Richter; (= Orfeo, Life Recording 1970, Salzburger Festspiele: ORF C 490 981 B, geprägt 1998, KC 8175)] So hübsch das eben gehörte Lied sein mag – sowohl Tiecks Text als auch Brahms’ Vertonung –, es wäre sonderbar, wollten wir ihm eine avantgardistische Note zusprechen. Mir ist nicht darum zu tun, Tieck oder Brahms zu Zeitgenossen unseres Jahrhunderts zu machen – in vieler Hinsicht schnitten die beiden schlecht dabei ab; denn – weiß Gott – nicht alles hat sich in Deutschland in Politik und Kultur in die Richtung eines qualitativen Fortschritts hin bewegt, was sich von der Frühromantik entfernt hat. Immerhin können wir in Tiecks Lyrik einen radikalen Richtungswechsel feststellen, der, wie jeder Stilwandel, beschei-

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den beginnt, um bald die Dimensionen anzunehmen, die wir heute an ihm erkennen. Bevor ich die wesentlichen Etappen desselben zu bezeichnen versuchen will, möchte ich Ihnen zunächst ein weiteres Megalonen-Lied vorstellen: TEXT II Wie soll ich die Freude, Die Wonne denn tragen? Daß unter dem Schlagen Des Herzens die Seele nicht scheide? Und wenn nun die Stunden Der Liebe verschwunden, Wozu das Gelüste, In trauriger Wüste Noch weiter ein lustleeres Leben zu ziehn, Wenn nirgend dem Ufer mehr Blumen entblühn? Wie geht mit bleibehangnen Füßen Die Zeit bedächtig Schritt vor Schritt! Doch wenn ich werde scheiden müssen, Wie federleicht fliegt dann ihr Tritt! Schlage, sehnsüchtige Gewalt, In tiefer treuer Brust! Wie Lautenton vorüber hallt, Entflieht des Lebens schönste Lust. Ach, wie bald Bin ich der Wonne mir kaum noch bewußt. Rausche, rausche weiter fort, Tiefer Strom der Zeit, Wandelst bald aus Morgen Heut, Gehst von Ort zu Ort; Hast du mich bisher getragen, Lustig bald, dann still, Will es nun auch weiter wagen, Wie es werden will. Darf mich doch nicht elend achten, Da die Einzge winkt, Liebe läßt mich nicht verschmachten, Bis dies Leben sinkt; Nein, der Strom wird immer breiter, Himmel bleibt mit immer heiter, Fröhlichen Ruderschlags fahr ich hinab, Bring Liebe und Leben zugleich an das Grab. (Tieck 1985, 267 f.)

Dies Lied vollzieht einen weiteren Schritt in die vom erst-zitierten beschrittene Richtung. Zunächst darin, dass es in ihm gar keine ganz strenge und pünktliche Wiederholung eines strophischen Schemas mehr gibt. Der Rhythmus emanzipiert

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sich aus einem vorgegebenen Metrum, gemäß Tiecks Grundgedanken, dass ein Gedicht, statt sich äußerlich einem Schema zu fügen, sich seinen Rhythmus nach Maßgabe der abfolgenden Gefühle und ihres Gewichtes spontan zu erschaffen habe. Anders gesagt – das sind ungefähr Tiecks eigene Worte –, wenn es eine Regel im Versrhythmus gibt, so muss es die der „Empfindungsreihe“ sein, der wirklichen, von keinem Schema kommandierten Gefühlsabfolge, die sich in der mu3 sikalischen Natur der Töne unmittelbar realisiert findet (Tieck 1920, 117 f.). Jeder Ton als Träger einer Empfindung besitzt eine bestimmte Qualität und erfüllt durch sie allein ein gewisses Zeitmaß. Aufgrund dieser Zeitquanta, wenn ich sie so nennen darf, bilden sich die Versmaße; und da die keiner andern Regel folgen als der der sich spontan aussprechenden Empfindungen, kann man erst mit dem Verklingen des letzten Versfußes rückblickend das Metrum des Gedichts bestimmen, das dann nur für dieses eine gültig gewesen sein wird. Kurz, das Metrum dieses lyrischen Sprechens – dessen Erfinder Tieck war – entspringt nicht aus dem Gehorsam gegenüber einer vorgegebenen metrischen Regel, sondern erzeugt diese Regel spontan durch die Gewichte, die den wechselnden Empfindungen zukommen und die ihrerseits den Rhythmus des Gedichts determinieren. Um die erlebte Zeit angemessen darzustellen, muss sich die lyrische Sprache von aller „k o n v e n t i o n e l l e n Regelmäßigkeit“ befreien. Den „konventionelle[n] Regeln“ fehlt nämlich jener authentische Ausweis, den solche freie Rhythmen haben, welche „innere Regeln“ folgen, „die die Natur der Kunst erfordert“. Der echte Dichter kennt grundsätzlich nur eine Regel, „auf alles Rücksicht [zu] nehmen, was die Natur der Empfindungen erfordert“ (l. c., 300). Dazu gehört eben entschieden „diese Fähigkeit [...zum] schnelle[n] Wechseln der Empfindungen“ (l. c., 117). Die Abfolge der Gefühle in unserem Gedicht gehorcht als einziger Regel dem Imperativ maximaler Variation und engstem Aufeinanderprallen-Lassen konträrer Empfindungen. Dem Ausdruck jubilatorischer, fast exaltierter Freude folgt – ohne Anzeige einer psychologischen Logik – ein Sich-überlassen an die rückhaltloseste Niedergeschlagenheit, ja Todesverliebtheit. Die dritte Strophe reflektiert auf die Flüchtigkeit jeder Empfindung aufgrund ihrer Zeitlichkeit, die sie zwingt, alle Augenblicke wieder anders zu sein, ohne auf eine definitive und dauerbare Selbstidentität zuzutreiben. Alle Freude ist nur ein Augenblick, der rasch vergeht und dessen Zeitausdehnung so gering ist, dass das Bewusstsein, das von ihr besteht, sich in der bescheidensten Anmut wie folgt äußern muss: „Ach, wie bald / Bin ich der Wonne mir kaum noch bewußt.“ Gewiss, auch diese Empfindung behält nicht das letzte Wort. Wie im vorherigen Gedicht trägt die Hoffnung den Sieg über die Resignation davon. Aber wer hofft, ist ohne alle Sicherheit. Hoffen heißt: eben nicht wissen, „wie es werden wird“, des Wissens erman03 Was Tieck „Empfindungsreihe“ nennt, unterhält frappante Ähnlichkeiten zu dem, was Gerard Manley Hopkins „Gefühlsfolge“ und – ihr rhythmisch Rechnung tragend – „Sprungrhythmus“ nennt (Hopkins 1954, 620 f.; Hopkins 1973, 175 ff., 179 f.; dazu Frank 1990, 382; Frank 1995, 232 ff., 236 ff.).

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geln. Überdies ist das Hoffen eine ausgezeichnete Verhaltung der menschlichen Wirklichkeit: die, durch welche sie sich positiv auf die Zukunft entwirft. Und das kann nur ein Seiendes, das wesentlich mit sich selbst nicht identisch ist: Von einer Gegenwart, die ist, auf das sich entwerfen, was (noch) nicht ist, kann nur – wie es Novalis zuerst formuliert hat – ein Wesen, das in seinem Sein Mangel an Sein ist: Unvollkommenheit, Sehnsucht nach dem, was ihm fehlt: Kurz: der Blick auf die Zukunft, mit dem das sorglos komponierte Gedicht schließt, mindert keineswegs die Macht, die die Zeit über alle seine Gefühlsbekundungen hat, sondern steigert deren Gewicht noch. Brahms’ Umsetzung des Gedichts in Musik, die Zeitkunst par excellence, macht das wunderbar fühlbar. [CD Nr. 2] Ein drittes Lied aus dem Megalonen-Zyklus möchte ich Ihnen zu Gehör bringen. Es gehört zwar zu den Höhepunkten lyrischen Schaffens der Frühromantik, scheint aber zur Illustration unseres Frageinteresses weniger geeignet. Es besteht nämlich aus drei Strophen, deren metrisch-rhythmische Form allenfalls unmerklich variiert. Diesen winzigen Variationen müssen wir desto aufmerksamer nachforschen; es bedarf ja zum Hören Tieckscher Lyrik, wie wir wissen, eines Eidechsenohrs, und das wollen wir auf die feinen Nuancen richten, durch welche das Gedicht seine manifeste Semantik leise dementiert. Zunächst der Text: TEXT III Ruhe, Süßliebchen im Schatten Der grünen dämmernden Nacht, Es säuselt das Gras auf den Matten Es fächelt und kühlt dich der Schatten, Und treue Liebe wacht. Schlafe, schlaf ein, Leiser rauschet der Hain, – Ewig bin ich dein. Schweigt, ihr versteckten Gesänge, Und stört nicht die süßeste Ruh! Es lauscht der Vögel Gedränge, Es ruhen die lauten Gesänge, Schließ, Liebchen, dein Auge zu. Schlafe, schlaf ein, Im dämmernden Schein, – Ich will dein Wächter sein. Murmelt fort ihr Melodien, Rausche nur, du stiller Bach, Schöne Liebesphantasien Sprechen in den Melodien, Zarte Träume schwimmen nach. Durch den flüsternden Hain Schwärmen goldene Bienelein, Und sumsen zum Schlummer dich ein. (Tieck 1985, 277 f.)

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Ich vernachlässige alle anderen Aspekte, die unsere Aufmerksamkeit verdienen würden, und konzentriere mich auf die Art und Weise, in der das Gedicht (aber auch die geniale Vertonung durch Brahms) sich als Veranschaulichungen der romantischen Ironie verstehen lassen. In der Tat wird das ganze Gedicht durchquert von einer Spannung zwischen dem Gesagten und dem, was sich ungesagt nur durch seinen Rhythmus und seine Klangqualität offenbart – durch Elemente also, die man normalerweise nicht als sinnrelevant betrachtet. So bildet sich, im Gegenzug zur ausgedrückten Bedeutung, ein Gegenstrom verborgenen, ja verdrängten Sinns. Welcher? Um darauf zu antworten, müssen wir den unmittelbaren Kontext des Volksmärchens von der schönen Magelone aus Neapel und dem Grafen Peter aus der Provence einbeziehen. Das ist übrigens eine Eigentümlichkeit fast aller Tieckschen Gedichte, dass sie des dramatischen oder des ProsaKontextes, in den sie eingebettet sind, zu ihrer Interpretation bedürfen. Alles Reden, auch das lyrische, muss in Tiecks Augen situiert und individuiert geschehen, und diese Effekte erreicht es nur durch den Zusammenhang mit Reden, die seinen Rahmen übersteigen. Auch so enthüllt sich erneut das romantische Selbstverständnis vom fragmentarischen Charakter alles bestimmten Sagens, das sich durch Berührung mit unabsehbaren Kontexten in seiner Bedeutungssubstanz unerschöpflich anreichert und auflädt – als Glied eines „Infinitonomiums“ in den Worten des Novalis (NS III, 262, Nr. 113)). So ist es durchaus die Mannigfaltigkeit von lateralen Bezügen, die ein Gedicht mit dem All seiner wirklichen und möglichen Kontexte unterhält, die seinen Sinn prägt. So hatte es Tieck im Buch über Shakespeare von der „Empfindungsreihe“ gesagt: Jedes Gefühl tendiert dazu, sich mit vorigen und anderen anzureichern: „auf grössern Grad erwärmt, verbinden sich mehrere Gefühle mit dem vorigen, immer neue Ansichten eröffnen sich“ (Tieck 1920, 117). Und sprachlich reflektiert sich das durchs Aufsaugen der Semantik von Kontexten in das gesprochene Wort, das gleichsam funkelt und schillert wie ein verschiedene Lichter widerspiegelnder Kristall. Der Erzählzusammenhang ist rasch nachgetragen. Peter hat die schöne Magelone entführt, die ihn liebt und die anders Gefahr liefe, mit einem ungeliebten Ritter von Neapel verheiratet zu werden. Nach einem langen, anstrengenden nächtlichen Ritt fühlt Magelone eine große Müdigkeit. Sie lässt sich vom Pferd herabgleiten und bittet, sanft gelagert unter dem Blätterdach eines großen Baumes, ihren Liebsten, dem „harmonischen Gewirr“ der Waldesstimmen noch die eigene süße Stimme hinzuzufügen, „damit die schöne Musik vollständig sei“ (Tieck 1985, 277; vgl. den Kommentar 1316 und 1321 f.); „ich will versuchen ein wenig zu schlafen; aber wecke mich ja zur rechten Zeit, damit wir bald bei deinen lieben Eltern anlangen können“. Nun folgt das Schlaflied. Bevor wir es in der Brahms’schen Vertonung hören, bitte ich Sie, darauf zu achten, dass in den Worten der schönen Magelone kaum von Ruhe und Stille die Rede ist, der eine Schläferin gewöhnlich sich hinzugeben liebt. Im Gegenteil könnte das „harmonische Gewirr“ der Waldesstimmen, zu denen die Stimme des Sängers, endlich der laut rauschende, vorgeblich „stille Bach“ und die „sumsenden Bienelein“ hinzutreten, kaum ausgeprägter sein. So dementiert das Lied durch seine Form die

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erklärende Absicht, die Geliebte in Schlaf zu wiegen. In der parallelen VolksbuchVersion, die Tieck als Vorlage diente (vgl. l. c., 1321 f.), ist Peters erwachendes und wachsendes Begehren geradezu ausgesprochen. Tiecks Meisterschaft besteht darin, die unausgesprochene Intention (welche die ausgesprochene durchkreuzt) gleichsam musikalisch sich manifestieren zu lassen. Brahms’ Vertonung hat diesen Zug genial verstärkt: Statt einzuschläfern, wird der Gesang von Strophe zu Strophe, schritthaltend mit dem funkelnden Vokalismus und dem immer unruhiger werdenden Rhythmus der Verse, immer leidenschaftlicher und aufgeregter, durch die Form den Inhalt in Frage stellend. So ist das aufkommende Begehren beider Liebenden kunstvoll aus dem geradezu Ausgesprochenen des Volksbuchs ins Musikalische und Gestische verlegt, worin es sich nur manifestiert (man möchte mit Wittgenstein sagen: es „zeigt sich“ darin nur). In der dritten Strophe wird der „stille Bach“ geradezu aufgefordert, „fortzumurmeln“, „nur zu rauschen“ – und Brahms lässt den Sänger die Stimme gewaltig heben. So ist – ironisch im Sinne der Theorie – eine bestimmte Intention durch nicht-semantische Kunstmittel in eine Unbestimmtheit getaucht, die ihren Inhalt aufhebt oder in den Gegensinn verdreht, ohne dass der gewöhnlich mit der ironischen Rede assoziierte Effekt des Lächerlichen eintritt. Im Volksbuch, der von Tieck verfeinerten Basis seiner Umarbeitung, ist das erwachende Begehren der dramatische Wendepunkt der Erzählung. Er löst eine Kette von Unglücksfällen, Leiden und Prüfungen aus. Es „deuchte“ Peter nämlich, während die Geliebte eingeschläfert scheint, als wenn Magelone mit Bangigkeit Atem holte, er schnürte sie daher etwas auf, und ihr weißer Busen trat aus den verhüllten Gewändern hervor. Peter war über die unaussprechliche Schönheit entzückt, er glaubte im Himmel zu sein und alle seine Sinne wandten sich um; er konnte nicht aufhören, seine Augen zu weiden und sich an dem Glanze zu berauschen (Tieck 1985, 278).

Zwischen den Brüsten versteckt, bemerkt er endlich das kleine Behältnis, in welchem Magelone die drei Ringe verwahrt, die ihr Peter geschenkt hatte. Peter entfernt sie von ihrem Platz; es kommt, wie es kommen muss: Ein schwarzer, garstiger Rabe stürzt herab und trägt den Zindel im Schnabel davon, lässt ihn ins Meer fallen, Peter steigt in ein Boot, ihn herauszufischen, ein Sturm kommt auf und treibt ihn aufs offene Meer und in ein fernes Land. Dies alles gehört zur ausgesprochenen Semantik des Gedichts. Das Ironische an seiner Faktur aber lässt sich nur hören, denn da wird mit allen Registern der Sonorität der Silben und leicht wechselnden, extrem belebten Rhythmen gearbeitet, die der Intention, die Geliebte einzuschläfern, entgegenhandeln. Brahms hätte diese Spannung nicht geschickter vertonen können, als er’s getan hat. Hören Sie nun die Musik. [CD Nr. 3] In den Jahren, die der Niederschrift der Magelonen-Lieder folgten, hat Tieck weit kühnere lyrische Experimente gewagt. Ich würde Ihnen davon recht gerne Proben vorlegen – wenn ich damit nicht gegen die Verabredung dieses Abends

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verstieße. Diese völlig asymmetrischen, extrem dissonanten Gebilde, denen schon zeitgenössische Rezensenten Formlosigkeit und Misstönigkeit vorwarfen (z. B. dem Mondscheinlied aus dem Sternbald-Roman), sind nämlich nicht vertont worden – und das ist natürlich kein Zufall. So kühn-avangardistisch die romantische Musik-Theorie nämlich auch war (ich könnte Ihnen die erstaunlichten Forderungen, gerade im Werk des Novalis, vorlesen; so verlangt er eine „absichtliche [...] Zufallsproduktion“ [NS III, 451, Nr. 953] oder eine „allgemeine[...] n Sprache der Musik“ [l. c., 283 f., Nr. 245]: [d]enn das N Machen mit dem N Organ ist der Gegenstand dieser allgemeinen Kunstlehre und Kunst“ [l. c., 257, Nr. 926; ohnehin sagt Novalis, „die höchsten Kunstwerke [seien] schlechthin ungefällig – Es sind Ideale, die uns nur approximando gefallen können – und sollen – ä s t h e t i s c h e I m p e r a t i v e“ [l. c., 413, Nr. 745; vgl. Nr. 748]), – ich sage: so kühn die ästhetischen Phantasien der Frühromantiker, so konservativ war ihr musikalischer Geschmack, ja selbst – vergleichsweise – die musikalische Praxis. So müssen wir weit ins 19. Jahrhundert vorblicken, um einer Evolution der musikalischen Technik zu begegnen, die der Irregularität und Polytonalität der Tieckschen Lyrik angemessen ist – in der das lyrische Melos erstmals radikal gebrochen wird. Adorno hat die Auflösung der Unterscheidung von Themen und Variationen vor allem am Werk von Brahms nachgewiesen (und an der besonderen Bedeutung, die er für die Ausbildung von Schönbergs musikalischem Stil hatte) (Adorno 1958, 57) – und von hier fällt ein Licht auch auf das Interesse, das gerade Brahms an Tieck hat finden können. Auf andere – nicht minder zukunftsträchtige Weise – gilt das für Wagners „unendliche Melodie“. Man hat zwar mit Recht eingewendet, dass die einzige Stelle in Wagners Sämtlichen Schriften und Dichtungen (SSD VII, 130), an denen dieser Ausdruck begegnet, keinerlei Handhabe für die Interpretation bietet, Wagner habe damit eine Satztechnik, eine Kompositionsart bezeichnen wollen. Dennoch hat der Ausdruck wirkungsgeschichtlich gerade in diesem Sinne überdauert (Dahlhaus 1970, 81-103; bes. 93,99,103). Und das aus Gründen, die auf Wagners eigene Äußerungen verweisen. Zum einen legt er Wert darauf, in seinen Musikdramen die Differenz arioser und rezitativischer Partien durch „einen bisher nicht gekannten ununterbrochenen musikalischen Fluß“ aufgehoben und melodisch nivelliert zu haben (SSD IX, 211). Diese Kompositionstechnik erlaube es, die Handlung vollkommen zu befreien „von der Nöthigung zu einer Motivierung durch [äußerliche] Reflexion“ (l. c., 309). „Die Musik ist es nun, was uns, indem sie unablässig die Mitempfindung bringt, zugleich ermächtigt, eben diese Handlung in drastischer Bestimmtheit vorzuführen“ (l. c.). Hier gibt es endlich einen ununterbrochenen Fluss der Motivation, der eine äußerliche Differenzierung in thematische und durchführende Passagen unmöglich macht. Wagner bezeichnet jenes „ununterbrochene Hineinredenlassen des Orchesters in die Angelegenheiten der Sänger“ bekanntlich als „das Durch-Komponieren“ (SSD X, 171) des musikalisch-sprachlichen Kunstwerks, das seine Einsicht nicht in kleineren thematisch oder arios herausgehobenen Partien punktuell stifte, sondern „in ei-

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nem das ganze Kunstwerk durchziehende[n] Gewebe von Grundthemen“ realisiere (l. c., 185; vgl. IV, 322, 202). Diese Satzform trägt als einzige der Realität des menschlichen Selbst Rechnung, dessen Wesen die Zeitlichkeit, der Mangel an erfüllter Gegenwart, die unendliche Sehnsucht, kurz: die Transzendenz ist. Regt dieses Meer [der Tonkunst] aus seiner eigenen Tiefe sich selbst auf, gebiert es den Grund seiner Bewegung aus dem Urgrund seines eigenen Elementes, so ist auch seine Bewegung eine endlose, nie beruhigte, ewig ungestillt zu sich selbst zurückkehrende, ewig wiederverlangend von Neuem sich erregende (SSD III, 83).

Wenige Seiten später beschwört Wagner das romantische Grundthema des unendlich unbefriedigten Sehnens: Im Reiche der Harmonie ist [...] nicht Anfang und Ende, wie die gegenstandslose, sich selbst verzehrende Gemüthsinbrunst, unkundig ihres Quelles, nur sie selbst ist, Verlangen, Sehnen Stürmen, Schmachten, – Ersterben, d. h. Sterben ohne in einem Gegenstande sich befriedigt zu haben, also Sterben ohne zu sterben, somit immer wieder Zurückkehr zu sich selbst (SSD III, 86 f.).

Ich entnehme dem Zitat vor allem die Ansicht, dass partielle Einheiten aufgehört haben, dem Sehnenden für wesenhaft zu gelten. Er kann sich bei keinem einzelnen Ziel oder Gegenstand befriedigen. Und diese Unmöglichkeit verhindert das Komponieren nach der Technik etwa des Sonatensatzes mit seiner überdeutlichen Differenzierung des insistierenden Themas und einer zeitlich begrenzten subjektiven Reflexion, die in der Reprise wieder ins Thema zurückfließt und als dessen Durchführung nie seiner Kontrolle entgeht. Dergleichen Überlegungen scheinen uns von unserm Gegenstand abzuführen, da sie immer mehr aus dem Gebiet der Analogie von Musik und Lyrik ins eigentliche Gebiet der Tonkunst hinübergleiten. Das ist freilich nicht ganz der Fall. Wagners Musikdrama als Resultat einer Verschmelzung und Überschreitung der Grenzen verschiedener Kunstformen, darunter zunächst eben auch der Wortkunst – musste durch die phonische und rhythmische Struktur seiner Texte dafür sorgen, dass eine vom „Prokrustesbett“ stereotyper Ordnungsvorgaben befreite unendliche Melodie auf ihrer Basis sich entfalten konnte. Nun verführen zumal die metrische Gleichförmigkeit eines Gedichts und die Wiederkehr des Reims zum Festhalten an einem regulären Periodenschema und einer gleichförmigen musikalischen Syntax. Sollten diese restaurativen Züge aufgehoben werden, so musste der Versrhythmus der Textvorlage nicht nur irregulär gearbeitet, sondern auch um ständigen Wechsel der soeben gesetzten Taktart bemüht sein. Wenn 4 prinzipiell keine Silbe oder Tonfolge wiederholt werden durfte, war es sinnvoll,

04 Diese Selbstdisziplinierung der Melodie bildete ein Hauptärgernis der zeitgenössischen Wagnerkritik: „Keine Wiederholung auch nur einer Sylbe durch die ganze Oper, ununterbrochen lebendiger, rascher, feuriger, stürmischer Fortgang des Dramas“ (Besprechung des Lohengrin durch den Frhr. von Biedenfeld in Europa. Chronik der gebildeten Welt vom 19. l0. 1850). Vgl. Fr. D. in der Augsburger Allgemeinen Zeitung vom 4. 9. 1850: „Das geht ohne Absatz so fort, bis der Vorhang fällt kein Recitativ, kein Andante, kein Caberletta, auch kein Duett [...]; nirgends ein

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schon im Text die Wiederholung auch nur eines Takt-Typus zur Ausnahme werden zu lassen. Wagner schreibt dazu in seiner Mitteilung an meine Freunde: Überall, wo mich wiederum der Ausdruck der poetischen Rede so vorwiegend bestimmte, daß ich die Melodie vor meinem Gefühle nur aus ihr rechtfertigen konnte, mußte diese Melodie, sobald sie in keinem gewaltsamen Verhältnisse zum Vers stehen sollte, fast allen rhythmischen [meint hier wie bei A. W. Schlegel metrischen] Charakter verlieren; und bei diesem Verfahren war ich unendlich gewissenhafter und von meiner Aufgabe erfüllter, als wenn ich umgekehrt die Melodie durch willkürliche Rhythmik zu beleben suchte. [. . .] Die Einbuße meiner Melodie an rhythmischer Bestimmtheit, oder besser: Auffälligkeit, ersetzte ich nun aber durch eine harmonische Belebung des Ausdruckes, wie nur gerade i c h sie als Bedürfnis für die Melodie fühlen konnte (SSD IV, 327; vgl. 325, 328 und Oper und Drama, l. c., 191 f.).

Diese „neu zu gewinnende rhythmische Belebung der Melodie durch ihre Rechtfertigung aus dem Verse, aus der Sprache selbst“ (l. c., 328) habe ihn auf den Stabreim geführt, dessen metrische Irregularität und modulatorische Geschmeidigkeit ihn „zur unendlich mannigfaltigsten Kundgebung“ spontaner Empfindungen befähige. Die Prosaisierung der musikalischen Sprache – zur Kompositionstechnik erweitert – ist ein vor allem geeignetes Mittel, als tönender Ausdruck dessen zu dienen, was Tieck „Empfindungsreihe“ nennt. Die Empfindungen sind nicht regellos; aber sie schaffen sich ihren Rhythmus im Augenblick des Ausdrucks selbst, indem sie durch die Qualität der sukzedierenden „Töne“ das Maß der ganzen Reihe determinieren, nicht aber von einem metrischen Stereotyp äußerlich sich in die Reihe zwingen lassen. Dergleichen war unvermeidlich, solange das musikalische Periodenschema das Gerüst der Melodie bildete. Unter der Voraussetzung solcher musikalischer Gattungsvorschriften musste die Empfindungsreihe in ein metrisches Maß sich fügen; denn rhythmische Regelmäßigkeit – Schematik, um es pejorativ auszudrücken – ist, in Wechselwirkung mit der Harmonik und der Motivik, formbildend. Melodieteile von gleicher Länge tendieren dazu, sich zu ergänzen und sich, wenn Harmonik und Motivik den Konnex unterstützen oder mindestens nicht durchkreuzen, zu einer Gruppe zusammenzuschließen. Das quantitative Moment erfüllt eine qualitative, syntaktische Funktion. Und zwar ist die klassische musikalische Syntax hierarchisch: Zwei korrespondierende Takte bilden eine Phrase, zwei Phrasen einen Halbsatz, zwei Halbsätze – Vorder- und Nachsatz – eine Periode. Eine Viertaktgruppe kann zwar, ohne dass das Korrespondenzprinzip aufgehoben wäre, zu drei Takten schrumpfen oder sich zu fünf Takten ausdehnen; soll aber die Syntax verständlich bleiben, so setzt die Ausnahme, die Abweichung von der Norm des Gleichmaßes, voraus, daß sich die Regel dem musikalischen Gefühl fest eingeprägt hat (Dahlhaus 1996, 151).

In Wagners musikalischer Syntax – der unendlichen Melodie – ist diese Gattungs-Norm aufgehoben; und es ist (für unseren Zusammenhang) bedeutsam, Ruhepunkt, überall Bewegung, Hatz und Hast, eine wilde Kraft“ (in: Kirchmeyer 1972, Sp. 735 und 695).

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dass diese Aufhebung vom Rhythmus der Stabreim-Verse zugleich mit der Emanzipation der Dissonanz erzwungen wird. Dahlhaus hat an den ersten elf Versen von Waltrautes Erzählung aus der Götterdämmerung (Erster Aufzug, Szene „Die Felsenhöhle“, = SSD VI, 201 f. [= Text IV]): Höre mit Sinn, was ich dir sage! – Seit er von dir geschieden, zur Schlacht nicht mehr schickte uns Wotan; irr und ratlos ritten wir ängstlich zu Heer. Walhalls mutige Helden mied Walvater: einsam zu Roß ohne Ruh’ und Rast 5 durchschweift’ er als Wand’rer die Welt.

überzeugend dargetan, wie hier die Modulation der zur Prosa tendierenden Töne die Zersetzung des musikalischen Periodenschemas förmlich erzwingt und dass die zusammenschließende Wirkung des Stab- oder Endreims die auflösenden und dissonanten Effekte der sprachlichen und „musikalischen Prosa“ nicht aufzuhalten vermag (Dahlhaus 1996, 104 f., 135 f., 151 f.). Weder folgt die Sequenz der Takte einer Regel noch gibt es eine erkennbare Logik in der Fügung der Perioden: Die einzige Ordnung, die man nicht leugnen wird, ist die der „Empfindungsreihe“, die sich über das gesamte Drama als unendliches Gewebe – als Text – von Leitmotiven ausbreitet und an keiner Stelle durch eine traditionelle und äußerliche Gattungsökonomie kontrolliert wird, die eine Unterscheidung arioser und rezitativischer, thematischer und variierender Passagen erlaubte: 5 Die Fortsetzung des Textes: Jüngst kehrte er heim; in der Hand hielt er seines Speeres Splitter: die hatte ein Held ihm geschlagen. Mit stummem Wink Walhalls Starke wies er zum Forst, die Welt-Esche zu fällen; des Stammes Scheite hieß er sie schichten zum ragenden Hauf’ rings um der Seligen Saal. Der Götter Rat ließ es berufen; den Hochsitz nahm heilig er ein: ihm zu Seiten hieß er die bangen sich setzen, in Ring und Reih’ die Hall’ erfüllen die Helden. (Götterdämmerung, I. Aufzug, 2. Szene, Waltrautes Erzählung)

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In Wagners musikalischer Syntax ist die klassische Norm aufgehoben. Die Stabreim-Verse zu Anfang von Waltrautes Erzählung im ersten Akt der Götterdämmerung sind unregelmäßig aneinandergefügt; und es scheint, als sei der Stabreim von Wagner als Ausgleich und Rechtfertigung des irregulären Versrhythmus empfunden worden: Er wäre demnach, so gering seine manifeste musikalische Bedeutung ist, der dichterische Rechtfertigungsgrund für Wagners Emanzipation vom musikalischen Periodenschema, eine Tendenz, die ihn zum Verzicht auf das Gleichmaß der Hebungen trieb. [Folgt das Zitat der ersten l0 Zeilen von Waltrautes Erzählung.] Die Behauptung, dass Alliteration Ausdruck und klangliches Zeichen semantischer Zusammenhänge sei, dass also in der Regel Stabreime und Sinnakzente zusammenträfen, wäre eine Übertreibung aus apologetischem Eifer. Nicht selten bleibt entweder ein Hauptakzent außerhalb des Reims (2: dir, 9: einsam), oder der Reim verbindet ein akzentuiertes Wort (mied in 8) mit einem unwesentlichen (mutige statt Helden in 7). Ist demnach – und anderes ist gar nicht zu erwarten – die zusammenschließende Wirkung des Stabreims gering, so ist die auflösende des irregulären Versrhythmus, dessen Kehrseite die Alliteration darstellt, umso deutlicher. Die Länge der melodischen Phrasen, die den Textzeilen in Waltrautes Erzählung entsprechen, wechselt, ohne dass eine Regel erkennbar wäre [Dahlhaus zählt anders 1 1 als mein Zitat ab der zweiten Verszeile]: 1+ /2 + 1 + 1 + 1 + 2 + 1 /2 + 1 + 1 + 1 1 /2Takte. Man kann ohne Übertreibung von musikalischer Prosa sprechen. Und auch die Gruppen, die durch Zusammenfassung semantisch eng verbundener Zeilen entstehen, also die Zeilenkomplexe 2-4, 5-6, 7-8 und 9-l l, sind in ihrer Taktan1 1 1 zahl irregulär: 2 /2 + 2 + 3 /2 + 3 /2. Die Lücken im Taktgefüge, die durch Halbtaktanfänge oder -endungen der Vokalphrasen entstehen, werden durch Orchestermotive ausgefüllt. Aber auch die musikalische Syntax, die aus dem Ineinandergreifen von Vokal und Instrumentalmelodik resultiert, ist nichts weniger als regelmäßig. Denn erstens wechseln in der Orchestermelodie, wie Wagner sie nannte, Zwei- und Drei- und Viertaktgruppen miteinander (und die Viertaktgruppe am Schluss der zitierten Periode, das Unruhemotiv, besteht nicht aus 2 + 2, sondern aus 1 + 2 + 1 Takten). Zweitens sind Vokalphrasen und Instrumentalmotive nicht selten mitein1 ander verschränkt, statt analog gegliedert zu sein: Die erste Vokalphrase, die 2 /2 Takte umfasst, wird zwar durch das Orchester zur Dreitaktgruppe ergänzt; doch bildet der dritte Takt, der in der Vokalmelodie als Schlusstakt fungiert, in der Orchestermelodie einen Anfangstakt, den Beginn eines zweitaktigen Motivs. Drittens sind die Orchestermotive im Ring eher aneinandergereiht, als dass sie sich harmonisch und melodisch ergänzen und als Vorder- und Nachsatz zu einer Periode im Sinne der klassischen musikalischen Syntax zusammenschließen. Wagners syntaktische Grundform ist die Parataxe, nicht die Hypotaxe (Dahlhaus, 1996, 152 f.).

[CD Nr. 4, Pierre Boulez mit Gwendolyn Killebrew, 1976 ff., Orchester der Bayreuther Festspiele (= Philips Classic Production 1981, Nr. 434424-2)] Weniger avanciert haben wir mit ‚musikalischer Prosa‘ wie Dahlhaus sie im 6 Blick auf Wagners Ring nennt, dann und wann auch schon in den Opern Carl

06 Der Ausdruck ‚musikalische Prosa‘ ist tatsächlich von Wagner selbst (aus Oper und Drama [SSD IV, 114, 116]).

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Maria von Webers zu tun. Gewiss ist nur die Euryanthe wirklich durchkomponiert, Freischütz und Oberon sind eher Singspiele, von Gesprächs- ja Erzählpartien unterbrochen. Indessen bietet doch die so genannte Szene und Arie der Rezia eine eindrucksvolle Illustration der romantischen Tendenz zur Emanzipation prosaischer Irregularität in der Musik. Die 1826 in London [nicht ganz] vollendete Komposition macht im Grunde die Unterscheidung rezitativischer und arioser Teile hinfällig. Die Melodie lässt sich vom ziemlich unregelmäßigen Rhythmus des Prosaeinsatzes bestimmen, und das heißt, dass sie sich von der Regelmäßigkeit des klassischen Periodenschemas kaum weniger entschieden trennt als Wagners „unendliche Melodie“. Die Szene setzt ein mit folgenden Worten: Ozean, du Ungeheuer! Schlangen gleich hältst du umschlungen rund die ganze Welt! Dem Auge bist ein Anblick voll Größe du, wenn friedlich in des Morgens Licht du schläfst! Doch wenn in Wut du dich erhebst, o Meer, und schlingst den Knoten um dein Opfer her, zermalmend das mächtige Schiff, als wär’s ein Rohr, 7 dann, Ozean, stellst du ein Schreckbild dar.

Noch eindrucksvoller im englischen Original: Ocean! thou mighty monster! / That lies circled like a green serpent, round about the world! / To musing eye thou art an aweful sight, / When calmly sleeping in the morning light;/ But when thou risest in thy wrath,/ As now, and fling’st thy folds around some fated prow!/ Crushing the strong ribbed bark as if it were a reed!/ Then, Ocean, art thou terrible indeed.

Gewiss reicht die metrische Unregelmäßigkeit dieser Zeilen nicht an die von Tieckoder Wagner-Versen heran; auch ist Weber viel konventioneller in den Ausdrucksmitteln und weniger radikal als Wagner im Ausreizen der Grenzen der Tonalität. Er duldet die Wiederholung von Silben, ja (später auch) ganzer Zeilen oder die Verteilung einer Silbe auf mehrere Töne. Immer wieder rastet die Prosatendenz der Vorlage in blankversartige Passagen ein, die eine gewisse Regularität des Melodieverlaufs und eine ariose Singbarkeit gestatten. Weber beutet diesen Zug im Allgemeinen aber nicht aus, und außer im Jubel der Schlussverse meidet er gleichförmige Wiederholung musikalischer Syntagmen (wenn ich sie so nennen darf). Das Melodische entwickelt sich unmerklich aus dem Sprechgesang, in den es ebenso unmerklich zurückführt; und in den rhythmisch stärker gebundenen Verszeilen, die dem eben zitierten Passus folgen (siehe Fußnote), ist kompositorisch kaum ein Bruch zu bemerken gegenüber dem Eingangsrezitativ, das ja bereits stark melodische Partien aufwies. Es ist, als sei die Melodie ein willkommener, aber nicht gesuchter Gast, ein eher zufälliger Grenzfall innerhalb einer rhythmisch entfesselten Empfindungsreihe, die die Melodie zumindest nicht strukturell bevorrechtet, sondern das A-rhythmische, die Auflösung der musikalischen Syntax und die Anschmiegung des Melodieverlaufs an die Eigenschaften der unabsehbar wechselnden 07 Text nach der Übersetzung aus dem englischen Original des James Robinson Planché von Theodor Hell.

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Gefühle fordert. Metrisch gebundene Melodien haben eine Tendenz zur Starre, die Weberschen dagegen in ihrer Freibeweglichkeit und Unabsehlichkeit eine diesem Meister ganz eigentümliche Anmut, die sich auch durch die düsteren, dramatischen oder jubilatorischen Parteien durchhält, die ein Wagner mit mehr Erdenschwere und einem oft störenden Pathos ausgestattet hätte. Insofern ist Weber der leichtfüßigere und eben darin romantischere Komponist – ein Stilzug, der ihm regelmäßig Tadel und Geringschätzung eingetragen hat, ganz wie seinem dichterischen Freunde Ludwig Tieck, der in Dresden sein Hausnachbar und häufiger Gesprächspartner war, der seine Musik aber nur mit Vorbehalten schätzte. Hören Sie nun die Szene und Arie der Rezia aus dem Oberon (in der textlichen und dramaturgischen Neufassung von Walter Panofsky): 8 [TEXT V, CD, Nr. 5, mit Birgit Nilsson, Raffael Kubelik und dem Symphonie-Orchester des Bayerischen Rundfunks (Deutsche Grammophon 1971; als CD nachgedruckt)] 08

Ozean, du Ungeheuer! Schlangen gleich hältst du umschlungen rund die ganze Welt! Dem Auge bist ein Anblick voll Größe du, wenn friedlich in des Morgens Licht du schläfst! Doch wenn in Wut du dich erhebst, o Meer, und schlingst die Knoten um dein Opfer her, zermalmend das mächtige Schiff, als wär’s ein Rohr, dann, Ozean, stellst du ein Schreckbild dar. Noch seh’ ich die Wellen toben Durch die Nacht ihr Schäumen schleudern An der Brandung wild erhoben, Jede Lebenshoffnung scheitern! – Doch still! Seh’ ich nicht Licht dort schimmern? Ruhend auf der fernen Macht, Wie des Morgens blasses Flimmern Wenn vom Schlaf er erwacht? Heller nun empor es glühet In dem Sturm, dess’ Nebelzug Wie zerrissne Wimpel fliehet, Wie wilder Rosse Mähnenflug! – Und nun die Sonn’ erstrahlt! Die Winde lispeln leis; Gestillter Zorn wogt nur im Wellenkreis. Wolkenlos strahlt jetzt die Sonne Auf die Purpurwellen nieder, Wie ein Held nach Schlachtenwonne Siegreich eilt zur Heimat wieder. – Ach, vielleicht erblicket nimmer Weder dieses Aug’ ihr Licht! Lebe wohl, du Glanz, für immer! Denn für mich erstrahlst du nicht. – Doch was glänzt so schön und weiß, Hebt sich mit der Wellen Heben? ‚s ist die Möwe, sie schweift im Kreis, Wo die Flut raubt ein Leben!

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Wir erkennen in der Beschreibung, die Dahlhaus von Wagners Kompositionstechnik gegeben hat, Grundzüge der von Wilhelm Schlegel und (in seiner Nachfolge) Schelling so genannten Priorität der Modulation über den Rhythmus wieder (Frank 1990, 370 ff., 379 ff.). Die freie Subjektivität – und dass wir uns nur recht verstehen: ihre Freiheit ist gerade ihre Ungebundenheit an ein vorbestehendes Absolutum – sucht sich selbst ihre Melodie nach Maßgabe der wirklichen, nicht mehr von der musikalischen Syntax der klassischen Komposition oder vom metrischen Zwang der Tradition kommandierten Abfolge ihre Gefühle. Und da Gefühle nicht von sich aus sprachlich sind, müssen sie sich über Ausdrucksträger vermitteln, deren phonische Qualitäten dann den Rhythmus organisch aus sich hervorgehen lassen. Das ließe sich besonders gut an einem der aryhthmischsten Gedichte nachweisen, die Tieck geschrieben hat, dem Mondscheinlied (Tieck 1995, 99-101). Schwerfällige Silben – solche mit langen Vokalen, umrahmt von mehreren Konsonanten (z. B. Spätrot) – verlangsamen die Artikulation; andere, spitzer und leichter (z. B. wie rieseln die Quellen), akzelerieren die Aussprache des Syntagmas, zu dem sie gehören. Was Wilhelm Schlegels und Schelling ‚Modulation‘ genannt hatten, findet sich trefflich bewährt in der Art und Weise, wie Wagner diesen Gedanken aufgegriffen hat. Auch und gerade im Musikdrama lässt sich die Melodieführung wesentlich durch Prosodie und Klanglichkeit des vertonten Textes bestimmen. Nach Wagners Ansicht ist die Musik bloßes Begleitinstrument der zu Grunde liegenden Sprache und lässt sich mithin durch die Beschaffenheit derselben bis in ihre feinsten musikalischen Eigenschaften leiten. Letzten Endes zieht Wagners Musik – wie wir das, in viel geringerem Maßstab, als den Grundzug der Magelonen-Lieder herausgearbeitet haben – die Eigenschaften, die man ihr gewöhnlich zuspricht (Dissonanz, Ametrie, Variabilität, Aufhebung des Unterschieds zwischen Thema und Variation, Arie und Rezitativ usw.) aus der phonisch-rhythmischen Unregelmäßigkeit des Textes, dem sie sich anschmiegt. So also – und damit sind wir am Schluss – kann die romantische Ironie von einem Hauptgegenstand ästhetischer Theorie zu einem Stilzug der Kunst selbst werden. Keine Rede, keine Tonfolge findet sich notwendig abgefedert durch eine regelmäßige Wiederholung, die sie von ihrer isolierten Fragment-Natur erlöste – wie das der Fall des symbolisch-klassizistischen Sprechens und Komponierens war. Der unendliche Wechsel hat eher zur Folge, dass das Bruchstück sich relatiNein – kein Vogels ist’s – Es naht! Heil! Es ist ein Boot, ein Schiff! Und ruhig segelt’s seinen Pfad, Ungestört durch das Riff. – O Wonne! Mein Hüon! Zum Ufer herbei! Schnell! Schnell! Diesen Schleier! Er weht! O Gott, sende Rat! Sie sehn mich! Schon Antwort! Sie rudern mit Macht! Hüon! Hüon! Hüon! – Mein Hüon! Mein Gatte! Die Rettung, sie naht! Rettung naht! Rettung naht! Rettung naht!

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viert in Bezug auf alle anderen, aber so, dass über allen, wie Tieck es formuliert hatte, eine alles übersehende, alles vernichtende Heiterkeit – ein Äthergeist – schwebt, Er ergreift nicht Partei für ein einzelnes und gegen ein anderes, Es ist der Geist der romantischen Ironie. Obwohl er sich allem Einzelnen und Endlichen gegenüber vernichtend verhält, ist er doch wesentlich liberal: Schließlich korrigiert er lächelnd die falsche Wertschätzung einer partiellen Moral, die sich als allgemein geltend aufspreizt. Auch passt er in ein Zeitalter – es ist die Moderne, nicht die Postmoderne –, das seine Überzeugungen nicht länger aus einem ultimativen Versicherungsgrund beglaubigt weiß. Aber auch die ‚religiöse‘ Einstellung entmutigt die Ironie nicht von vornherein. Ist sie doch dadurch, dass sie „Misslaut“ und „Missverhältnis“ im Ganzen des „Lebens“ aufdeckt, ein „negativer [...] Beweis“ für die Hinfälligkeit alles Endlichen und ein positiver für den überlegenen Wert des Unendlichen (KA XVIII, 218, Nr. 293; vgl. l. c., 213, Nr. 207). Von ihm redet die Dichtung, vor allem die romantische, als von ihrem einzigen Gegenstand. Aber vergessen wir nicht das Wort des Novalis: „[...] wovon man spricht, das hat man nicht“ (NS II, 671). So bleibt es bei dem, wovon wir ausgegangen waren: Die Kunst ist ‚Sehnsucht nach dem Unendlichen‘ (KA XVIII, 418, Nr. 1168; 420, Nr. 1200) – wir suchen es überall, aber wir finden immer nur Endliches. Dem trägt die Musik Rechnung – als Darstellung der romantischen Ironie.

6. EIN WELTERLÖSER IN DER ROLLE DES ANARCHISTEN Zum 150. Entstehungsjahr von Richard Wagners Jesus von Nazareth1 2

Am Entwurf einer fünfaktigen „Tragödie“ Jesus von Nazareth, gedacht für „die ideale Bühne der Zukunft“, hat Wagner im Dresdener Frühjahr 1849 gearbeitet. Diese Datierung entspricht seiner eigenen Angabe in den Annalen (Wagner 1988, 114) und widerspricht der des Erstdrucks („1848“). Auch Schriftvergleiche zeigen, dass das Manuskript nicht vor dem Januar, am wahrscheinlichsten, aus der Spanne zwischen zwei Tagebuchaufzeichnungen Eduard Devrients zu schließen, zwischen dem 31. März und dem 16. April 1849 entstanden ist (WWV 338 f.). Auf der Rückseite eines ausgeschiedenen Blatts der Lohengrin-Partitur hat Wagner eine für den II. Akt bestimmte Phrase „Christus im Schiffe“ notiert. Da Wagner sich noch eine Weile mit der Absicht trug, eine für Paris bestimmte Oper, gar in französischer Sprache, zu komponieren, ist der Untertitel Ein dichterischer Ent3 wurf (SSD XI, 273) irreführend. Das Manuskript besteht aus zwei Hälften. Die I. skizziert die fünfaktige Handlung nach Schauplätzen gegliedert (I: Tiberias in Galiläa; II: Am See Genezareth; III: Jerusalem: Halle im Gerichtshause; [dann] Platz vor der großen Tempeltreppe; IV: Ein Zimmer mit dem zum Abendmahl zubereiteten Tisch; [dann] Der Garten auf dem Ölberg; V: Platz vor dem Palast des Pilatus). Die II. weit umfangreichere Manuskript-Hälfte häuft Zitate aus den evangelischen Texten und bettet sie ein in freie Raisonnements von oft sozialphilosophischem Charakter. Das Jesus-Projekt hat Wagner als eine Station auf seiner Suche nach dem idealen Repräsentanten seiner revolutionären Vorstellungen erwogen und wieder verworfen. Zu dieser Suche werde ich zunächst etwas sagen. Ich beleuchte dann charakteristische Züge des Dramen-Entwurfs und suche nach Gründen für seine merkwürdige Unentschiedenheit zwischen Diesseitigkeit und Weltflucht. Den Schluss macht ein Blick auf die wichtigsten Quellen und Vorbilder und darauf, was Wagner aus ihnen machte. Es zeigt sich, dass sein geistlich-weltlicher „Erlöser“ Züge eines Anarchisten aus dem Geiste Bakunins trägt. Gut 150 Jahre nach Wagners Beteiligung am Dresdener Mai-Aufstand ist dies eine Erinnerung wert.

01 Zuerst veröffentlicht in: [Programmbuch der] Bayreuther Festspiele 1999, 18-27. 02 So heißt der Entwurf in Mein Leben (Wagner 1911 I, 459. Vgl. auch Eduard Devrients Tagebuchaufzeichnung vom 16. April 1849: „Kapellmeister Wagner [...] sagte, er habe die Zeit an einer Tragödie ‚Christus‘ gearbeitet, das Unternehmen aber aufgegeben.“ (zit. nach WWV, 339). 03 Vgl. die Briefe an Theodor Uhlig vom 9. August 1849 (Wagner-Briefe III, Leipzig 1975, 109 f.), an Franz Liszt vom 14. Oktober 1849 (136 f.), an Ferdinand Heine vom 19. November 1849 (149 f.) und vom 4. Dezember 1849 (178 f.). Endlich, im Brief an Liszt vom 5. Dezember, wird der Plan als für Paris definitiv ungeeignet aufgegeben (187).

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Auf der Suche nach dem wahren Subjekt der Revolution Die revolutionäre Umgestaltung bedarf eines Subjekts. Um der allgemeinen Ver4 ständlichkeit willen muss es mythischer Natur sein (SSD IV, 31). Aber um handelnd in die Wirklichkeit eingreifen zu können, muss es aus dem vorgeschichtli5 chen Zustand heraus- und in das soziale und geschichtliche Leben eintreten. Um ein Individuum im eigentlichen Sinne darf sich’s nicht handeln: sonst entbehrte es der symbolischen Repräsentanz, die es zum Ausdruck ‚des Volkes‘ macht 6 (l. c.). Mehrere Kandidaten für ein solch mythisch-geschichtliches Hybrid hat Wagner der Reihe nach, zuweilen nebeneinander ins Auge gefasst. Es waren fast ausnahmslos große Herrschergestalten; denn (wie zahlreiche Romantiker vor und neben ihm) hinderte ihn sein republikanisches Engagement keineswegs an der Hoffnung auf ein reformiertes ‚Volks-Königtum‘, ja auf das Erscheinen eines „Mann[es] der Vorsehung“ (SSD XII, 220 ff., hier 227). 1841/43 dachte er an den Hohenstaufen und Lieblingssohn Friedrichs II. Manfred, von dem die Wiederaufrichtung des zerbrechenden Heiligen römischen Reichs deutscher Nation in alter Herrlichkeit erwartet wurde, gescheitert an Zufällen und Verblendung aus wahnwitziger Liebe (SSD XI, 230 ff.). („Liebeswahnsinn! Pleonasmus!/ Liebe ist ja schon ein Wahnsinn!“ [Heine 1997 4, 543, = Atta Troll, Caput XIX, 27. Str.].) Gleichzeitig und wenig später richtete Wagner seine Aufmerksamkeit auf Friedrich II. selbst, den „wundervolle[n] Kaiser [...] im trostlos vergeblichen Kampfe gegen die wüthende Beschränktheit seines Jahrhunderts, als de[n] höchste[n] Ausdruck des deutschen Ideals“ (Wagner 1911 I, 252 [f.]). Die Beschäftigung mit dieser Idee wich dem Interesse an Friedrich Barbarossa, dem „[Inb]egriff des Herrscher’s [...], in seiner kraftvollsten und ungeheuerlichsten 7 Bedeutung aufgefasst“ (l. c., 446 f.) , gescheitert auch er, doch in einem Scheinleben erhalten durch die mythischen Hoffnungen ‚seines Volkes‘, das seine dereinstige Wiederkehr als Bringer „einer besseren Zeit“ ersehne. Doch in Wagners unermüdlich arbeitender Phantasie wird der HohenstaufenStoff allmählich verdrängt durch die „mächtigere Anziehungskraft, welche die 04 „Niemand kann sich verständlich mitteilen als an die, welche die Erscheinungen in dem gleichen Maße mit ihm sehen [...].“ Ein (dramatisches) Kunstwerk kann diese Wirkung nur erzielen, wenn es sich des „M y t h o s“ als Stoffs bedient, d. h. eines von einem Volk schon vorgebildeten symbolischen Schatzes, der die allgemeine Mitteilbarkeit seiner Inhalte gewährleistet (SSD IV, 31). Vgl. III, 169 f.: „W e r also wird der K ü n s t l e r d e r Z u k u n f t sein? [...] sagen wir es kurz: d a s V o l k “ (vgl. 172). 05 Vgl. Schelling (SW II/2, 323). Vgl. Wagner selbst: SSD II, 123,1 (das Zitat nimmt freilich die gerade umgekehrte Blickrichtung vom Ungenügenden der „nackte[n] Geschichte“ auf den Mythos). 06 Der „Mythos erfasst die gemeinsame Dichtungskraft eines Volkes“, insofern in ihr Welt auf eine zwar eigentümliche, aber gleichwohl Mitteilung verbürgenden Weise schematisiert ist. 07 Wagner skizziert dort den aufgegebenen Plan eines fünfaktigen Dramas von Ende 1846: ebd., 446 f. Vgl. das Fragment aus dem Entwurf selbst: SSD XI, 270-72. Zu Wagners BarbarossaPlänen vgl. vor allem Walther (1997, 253 ff., bes. 258 ff.).

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mythische Behandlung des mir hierbei aufgehenden gleich gearteten Stoffes in der Nibelungen- und Siegfried-Sage auf mich ausübte“ (l. c., 447; vgl. SSD II, 115 ff., bes. 145 ff.). „Wann kommst du wieder, Friedrich, du herrlicher Siegfried! und schlägst den bösen nagenden Wurm der Menschheit?“ lässt Wagner das nach Erlösung vom Fluch des Hortes schmachtende Volk ausrufen – und vollzieht damit die Kontamination der Quellen. Doch die Antwort auf die Frage ist revolutionär: Sie appelliert an des Volkes Kraft zur Selbstbefreiung und bittet, den Kaiser ruhen zu lassen in seinem Götterberge (SSD XII, 229). Siegfried ist der Held und die Stimme dieses selbsttätigen Volkes, denn er ist frei von der 8 Götter Willen und entbunden aus ihrer Macht. Im Entwurf vom Sommer 1848 (Die Wibelungen. Weltgeschichte aus der Sage [SSD II, 115 ff]) hat Wagner in verwegener Manipulation von Sage und Geschichte und wilder Verbiegung von Namens-Etymologien vorgeführt, wie er sich das Band zwischen Siegfried- und Barbarossa-Sage und den Übergang von mythischem „Urkönigthum“ zu einem revolutionären und menschlichen Erlöser (Siegfried) vorstellt: Der Hort wird als die materialisierte Form der „ideellen Rechtfertigung“ von Herrschaft gedeutet (129 f., 134-137, 139, 141 ff., 145), sei aber mit dem Erlöschen dieses Anspruchs zum „realen Besitz“, zum privaten Eigentum entartet (153). Diese Wendung trete heute in den plutokratischen Systemen der kapitalistischen Staaten sinnenfällig vor Augen: Das „arme Volk" aber träume vom Anbruch einer gemeinschaftsstiftenden neuen Religion, die den Einzelnen von der Herrschaft durch die leblose Sache wieder befreit und „die hierauf sich gründende immer tiefere Entwertung des Menschen, gegen die immer steigende Hochschätzung des Besitzes“ rückgängig macht (154). Siegfried ist die entscheidende Gestalt dieses Übergangs. Mit der Überwindung der übersinnlichen Welt reicht sie zugleich den in ihr verkörperten Berechtigungsanspruch an eine säkularisierte Menschheit weiter. Insofern ist Siegfried ein ‚Erlöser‘, auch vom Erlösungsgedanken selbst (wie später Parsifal [SSD X, 375 u.]). 9 So hatte ihn schon Schellings Philosophie der Mythologie ausgezeichnet. Er denkt, dass die Epochen des mythologischen Prozesses „wie Rollen an die verschiedenen Völker verteilt“ (Schelling 1993, 212) sind. In der ‚altgermanischskandinavischen‘ stehe Siegfried für die gleiche Rolle, die der Gottesknecht (bzw. der Messias) in der hebräischen und Herakles in der griechischen Mythologie innehatte. Er ist Sohn (oder Enkel) des höchsten Gottes und einer irdischen Mutter: Von dort erklärt sich die Eifersucht Frickas bzw. Heras. Er büßt für fremde Schuld, er ist mit Mühsal und Schmerzen um anderer willen beladen, ja er befreit das Bewusstsein der Menschen von der ausschließlichen Hörigkeit gegen den ty08 „In den Menschen also suchen sie [die Götter] ihre Göttlichkeit überzutragen, [...], [so] daß er. zum Bewußtsein dieser Kraft gelangend, des göttlichen Schutzes selbst sich entschlägt, um nach eigenem freien Willen zu tun, was sein Sinn ihm eingibt“ (Der Nibelungen-Mythus [SSD II, 158; vgl. VI, 40 f.]). 09 Ich verweise zum ausführlichen Nachweis auf die drei Schlussvorlesungen meiner Vorlesungen über die ‚Neue Mythologie‘, die unter dem Titel Der kommende Gott erschienen sind (Frank 1982).

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rannischen Alleingott (Wotan, Jehova, Kronos). Vorerst muss er in Knechtsgestalt auftreten, um den Vater nicht zu erzürnen. Aber nach Qualen, zu denen ihn seine Wohltätigkeit gegenüber den Menschen verurteilt (und die mit seinem Tode enden), schafft er sich das Recht auf künftige Erhöhung. Er ist der Retter, der Heiland, der Wiederaufrichter des gefallenen ‚Reiches Gottes‘ unter nachmythologischen Bedingungen. Darin ist er (wie sein ‚Bruder‘ Dionysos) ein Vorläufer Christi. Das war auch Wagners Überzeugung. Ein Zug, den er seinem neuen Volksretter hinzufügt, war weniger, was man seinen ‚sozialrevolutionären‘ Charakter genannt hat (Gregor-Dellin 1991, 254; Krohn 1984, 94). Als sozialrevolutionär lässt sich eher die symbolische Handlung begreifen, die Wagner am Schluss von Das Kunstwerk der Zukunft entwarf: Wieland der Schmied, der geschickte Handwerker, von Neiding (dem Repräsentanten der Staatsmacht) grausam um die Früchte seiner Arbeit betrogen, besitzt als Arbeiter die wirkliche Macht und eignet sich deren Früchte (samt der Geliebten) am Schluss mit siegreicher Gewalt zu (SSD III, 175 f.; vgl. den Dramenentwurf l. c., 178 ff.). ‚Symbolisch‘ ist diese Handlung, denn Wieland steht für das Volk, das als der wirkliche Dichter der Fabel angesprochen wird: „du selbst bist dieser Wieland! Schmiede deine Flügel, 10 und schwinge dich auf!" (177 [im Orig. gesp.]; vgl. 50 ff.)

Jesus von Nazareth: ein „Sozialrevolutionär“? Gewiss hat auch Jesus von Nazareth vage Züge eines Revolutionärs, so den, dass er sich von der römischen Macht, verkörpert im Kaiser, allgemeiner: von „den Mächtigen und Reichen“, den Fürsten und Königen verfolgt sieht: „Die Könige der Erden treten zusammen, und die Fürsten versammeln sich zu Hause wider den Herrn und wider seinen Christ“ (SSD XI, 287,4; 322 [IV.]). Doch befindet er sich ebenso im Gegensatz zur jüdischen Orthodoxie, verkörpert im Hohenpriester, und erklärt sich zwar nicht für den weltlichen Herrn, wohl aber den „Erlöser aller Völker der Erde [...], nicht der Juden allein“ (279; vgl. 287,4). So bleibt seine Opposition unpolitisch (im Rückblick des Jahres 1851, in der Mitteilung an meine Freunde, ist die Rede nicht vom römischen Imperialismus, sondern der „ehrlose[n] hohle[n] und erbärmliche[n] Sinnlichkeit [...] der römischen Welt“ [SSD IV, 331]). Und die einen bewaffneten Aufstand gegen Rom planen, sind nicht er und seine Getreuen, sondern Judas Ischarioth und Barrabas (anfangs auch Maria von Magdala, die „ihr ganzes Eigen verkauft und den Gewinn Judas Ischarioth, dem Säckelführer der Gemeinde Jesus’ übergeben“ hat [XI, 275]). Dagegen weist Jesus den Wunsch des Volkes, sich als ‚König der Juden‘ zu bekennen und „zu Jerusalem das Amt des Messias feierlich an[zu]treten“, zurück (276): „Das entsetzte 10 Ich übergehe die Lohengrin-Dichtung, die natürlich vollkommen in den gegenwärtigen Kontext passt, der aber ebenfalls die spezifisch sozialen Züge mangeln; auch das Achilles-Projekt lasse ich beiseite.

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Volk [...] gerät [darüber] in höchste Verwirrung“ (279). Nur einmal, wenn er die Händler aus dem Tempel treibt, wird Jesu „Auftreten“ „gewaltsam“ genannt; das Volk, darin ein Signal des Aufstandes sehend, jubelt ihm gar zu (278): doch zu Unrecht, nicht die Besatzungsmacht, sondern die Rechtgläubigen und Gesetzestreuen waren Gegenstand von Jesu göttlichem Zorn. Nach dem ersten Verhör findet auch Pilatus den Vorwurf gegen Jesus, „mit Herodes im Einverständnis das Volk gegen die Römer aufgewiegelt zu haben“, unbegründet (282). Schon früher, in der Szene, die am See Genezareth spielt, hatte Jesus seiner Mutter und dann seinen Jüngern erklärt, dass er sich „nicht als Davids Abkomme“, nicht als Wiederhersteller des Reichs Davids, also nicht als den Messias betrachte (275 u., 276,2, 285 f.). Sein Reich sei gar nicht von dieser Welt (298), es sei „kein irdisches Machtreich“ (279), vielmehr sei „ein/ ärztliches Auftreten in Galiläa, sein Ziel“ (275 f., vgl. 296). Gerade diese Weigerung zur Übernahme politischer Macht erklärt ja die Opposition des Volkshelden Barrabas zu Jesus und die Intrige, die über Judas, den Verräter, läuft: Beide werden, wie es noch heute verbreitet geschieht, als politische Rebellen gegen die römische Unterdrückung gedeutet (und Judas insbesondere als der Jünger, der an Jesu eigenem Willen zum politischen Umsturz verzweifelte [vgl. 295, ff.]; Maria Magdalena, die am Abendmahlstisch geradezu fragt: „Herr, ist es dein Wille, was Judas sinnt?“, antwortet Jesus mit einer abweisenden Geste, worauf sie, die auf Judas ihre Hoffnung gesetzt hatte, aber Jesus liebt, in Tränen ausbricht [279]). Wagner stellt die merkwürdige Koalition aus Pharisäern, römischen Besatzungstruppen und dem Volk als eine Mischung weit auseinanderstrebender Motive dar: Die Pharisäer rächen sich an ihrer fortgesetzten Demütigung durch Jesus, den sie mangels Beweisen („gib uns 11 Zeichen!“ [278 u.]) als den Gesalbten, den Christus, nicht anerkennen, den das Volk aber dafür hält. Pharisäer und Älteste nahen sich der Treppe, auf welcher Jesus [nach seinem Einzug nach Jerusalem], dem Volke zugewandt, steht. „Wer ist der?“ V o l k : „Jesus, der Gesalbte des Herrn, der König“ usw. (278).

Wenn die Pharisäer am Schluss Pilatus’ Kreuzesüberschrift als Skandal empfinden, verstellen sie sich gar: „nicht so! er ist nicht der Juden König, – er gibt sich nur dafür!“ (283) Das Volk, das Jesus erst zugejubelt hatte, ist zunehmend enttäuscht, ja endlich tumultuarisch empört über seine Unbereitschaft, sich als den König zu erklären. „Das Volk fiel von ihm ab“ (286) ist noch eine schwache Formulierung. Barrabas und Judas (der hinterhältig mit den Pharisäern kollaboriert, ja sich schmieren lässt: 279) sehen den Plan ihres Volksaufstandes nach der ersten empfindlichen Niederlage gefährdet, zumal das Volk anfangs nicht Barrabas, 11 Das griechische Christós meint ja eben dies: der Gesalbte. Schelling bemerkt dazu: „Messias heißt der Gesalbte; als solcher ist er der von Anfang an zum König und Herrn alles Seyns Bestimmte, aber wie David von Samuel gesalbt, zum König bestimmt, aber noch nicht wirklich König ist, so erscheint auch der Messias des A. T. noch nicht als wirklicher Herrscher, und wird mit Verhüllung seiner Gottheit auch nur als K n e c h t Gottes dargestellt, wie in jenem, dem Jesaias zugeschriebenen Orakel“ (SW II/2, 316).

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sondern Jesus nachläuft („als dem wirklichen Messias, der das jüdische Volk zur Weltherrschaft führen solle“ [277]). Und die römische Besatzungsmacht muss, obwohl ihr Statthalter Jesu Beteuerung, keinen politischen Umsturz im Sinne zu haben, glaubhaft findet, den, der „des Kaisers Freund nicht [ist]“ (283), hinrichten. Am Ende jubelt das Volk erneut, aber nicht über den Erlöser, sondern über die Kreuzigung eines Volksbetrügers und die Freilassung seiner nächsten Hoffnung: des Zeloten Barrabas (283). Ironischerweise, freilich in unvergleichlicher Absicht, hatte sich Bakunin gerade einen solchen Schluss gewünscht. Wagner berichtet darüber amüsiert in Mein Leben: Bakunin bat mich, ihn mit der Bekanntmachung [mit meinem Jesus-Projekt] zu verschonen; da ich ihn durch einige mündliche Andeutungen meines Plans dafür zu gewinnen schien, wünschte er mir Glück, bat mich aber völlig inständig, Jesus jedenfalls als schwach erscheinen zu lassen. In betreff der Musik rieth er mir in allen Variationen die Composition nur eines Textes an: der Tenor solle singen: „köpfet ihn“, der Sopran: „hängt ihn“, und der Basso continuo: „Feuer, Feuer“ (Wagner 1991 I, 459).

Wagner hat im Großen und Ganzen die evangelischen Quellen, auch die Apokryphen verwendet. Ein Großteil seines Textes (vor allem der II. Teil) sind Zitatenkompilationen und daran geknüpfte Raisonnements allgemeinerer Natur. Wo Wagner Zitate verändert, tut er es (wie nach ihm Nietzsche im Zarathustra) selbst im Luther’schen Evangelienton. Die Abweichungen vom Wortlaut der neutestamentlichen Überlieferung sind nun signifikant – denn nur in ihnen lässt sich fassen, was Wagner selbst aus außerbiblischen Quellen übernommen hat oder wohin seine eigene Deutungsabsicht zielt. Da ist zunächst Jesu (der von Wagner fast nie ‚Christus‘ genannt wird) Weigerung, sich als den Messias zu erklären. Damit steht natürlich im Widerspruch der in Anführungszeichen gesetzte, aber von Wagner erfundene Ausspruch Jesu: „Ich bin der Messias und Gottes Sohn: ich sage euch das, damit ihr nie irre werdet und auf keinen anderen mehr wartet!“ (SSD XI, 295) Einen Widerspruch könnte auch Jesu Bekenntnis vor Pilatus darstellen, „er sei Gottes Sohn“, woraufhin „Kaiphas [...] sein priesterliches Gewand [zerreißt]“ (282). Entweder will Wagner damit andeuten, Kaiphas selbst vernachlässige oder misskenne – böswillig? – den Unterschied zwischen der Gottes-Sohnschaft und der David-Sohnschaft bzw. der Messianität (286); dann aber ist die Empörung des Volks unverständlich, die Jesus ja geradezu drängt, sich zu ihr zu bekennen. Oder – falls Wagner selbst den Unterschied vernachlässigt – macht er Jesu angelegentliche Weigerung zur Übernahme einer weltlichen Sendung unverständlich. Davon abgesehen, hätte das jüdische Synedrium den Anspruch der Messianität erst zu prüfen bzw. zu widerlegen gehabt – ein Todesurteil ist daraus nicht ableitbar. Anderseits unterscheidet Jesus im Gespräch mit Maria klar zwischen beiden Ansprüchen: „[E]r erfaßte sie [seine Aufgabe] nicht als Davids Abkomme, sondern als Gottes Sohn“ (275 u.). Danach hätten sich Kaiphas und Pilatus der zu Jesu Tod führenden Verwechslung schuldig gemacht. Jedenfalls belegen solche Spannungen die Unfertigkeit von Wagners Entwurf, der ja nicht ausgearbeitet wurde.

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Die damalige gelehrte Kritik der protestantischen Theologie war gespalten zwischen zwei Auffassungen. Nach der einen sei Jesu Messianismus spätere Zutat oder christlich-nachösterliche Fälschung; So bestreitet Schleiermacher, „daß sich Christus jemals für e i n e n s o l c h e n M e s s i a s [wie es das Volk dem 12 Pilatus anzeigt] ausgegeben habe“. Und wenn er, nach dem Zeugnis des Matthäus (17, 11-14), des Pilatus Frage „Bist du der König der Juden“ bejaht, so liege darin für den mit jüdischen Vorstellungen vertrauten Statthalter kein ausreichender Anklage-Grund; denn der musste aus ähnlichen Vorfällen wissen, dass mit ‚König‘ außer politischer Herrschaft auch gottesdienstliche Würde gemeint war (Schleiermacher 1864, 433). Nach der anderen Auffassung habe Jesus zwar in der Frühzeit seines Wirkens (besonders nach der Auskunft der früher datierten Evangelien) den Titel des Messias abgelehnt (Mark. 10, 17 f.: „Warum nennst du mich gut? Kein andrer neben Gott ist gut“; vgl. Matth. 19, 16 f.), ja seinen Jüngern verboten, ihn so in der Öffentlichkeit zu bezeichnen (bes. Markus, z. B. 7, 27-30; 8, 30; Matth. 16, 20). Später oder in anderen Kontexten habe er sich aber zu seiner Messianität bekannt: vor einzelnen und ohne Zeugen (wie gegenüber der Samaritanerin nach dem zweifelhaften Zeugnis des Johannes [4, 25 f.]); ausweichend und die Frage zur Selbstentscheidung zurückgebend an die Gesandten des Täufers Johannes (Matth. 11, 2-6; Luk. 7, 18-23) oder die Pharisäer (Joh. 10, 22-26); erfreut, wenn auch nicht geradezu bejahend gegenüber Simon Petrus (Matth. 16, 17; dagegen Mark. 7, 27-30); offen nur im Verhör (vgl. Mark. 14, 60-62; 15, 2; Luk. 22, 66 ff. [zitiert bei Wagner: SSD XI, 324]; Matth. 26, 59 ff., bes. 63 f.). Verschleierter ist das Bekenntnis bei Johannes (18, 19 ff.), wo Jesus sich gar nicht als den Messias erklärt, sondern im Blick auf die Öffentlichkeit seines Wirkens auf das leicht in Erfahrung zu bringende Zeugnis des Volkes verweist. Johannes ist auch der einzige, der von einer früheren Vorführung Jesu vor 12 In seinen (von David Friedrich Strauß besuchten) Vorlesungen von 1832 über Das Leben Jesu (Schleiermacher 1864, 432). Früher hatte Schleiermacher eine umständliche und wenig orthodoxe Erklärung der Art und Weise unternommen, wie Jesus dazu gekommen sei, „die messianische Idee auf sich zu beziehen“ „Nun ist zwar nicht zu leugnen, daß überwiegend die messianische Idee auch zu Lebzeiten Christi aufgefaßt wurde als die an die Nachkommen Davids sich knüpfende Hoffnung des Volks, und also als eine Erneuerung der jüdischen Theokratie. Dies nun ist meiner Ueberzeugung nach niemals und nirgends in dem Gedanken Christi/ gewesen, und es sind nur ganz leere Zwischeneinschiebungen[,] kraft deren mehrere neuere Darsteller die Sache so darstellen, als ob Christus davon ausgegangen sei und in der Folge gleichsam seinen Plan geändert habe. [...] Es war sein Bestreben, [...] eine Herrschaft des göttlichen Willens von seiner Person aus zu begründen; aber niemals ist sein Gedanke gewesen, daß diese zugleich sollte eine äußerliche Herrschaft sein, sondern er hat ihn selbst in seinem ganzen Leben verneint, wie bei seiner Aussage gegen Pilatus“ (138 f.). Ein Grund des Missverständnisses sei, dass Jesus sich wiederholt als den Sohn Gottes bezeichnet habe (125; vgl. z. B. Mark. 14, 62; Matth. 8, 20). Das konnte als Anspielung auf die Prophetie Daniels 7, 13 f. (die allerdings den Ausdruck selbst nicht kennt) verstanden werden, wonach der „König“ der Endzeit aus dem Stamm Davids als Engel und Menschensohn am Weltende erscheine. Aber nach Mark. 12, 35-37 verwahrt sich Jesus bei einer Diskussion im Tempel ausdrücklich gegen diese Verschleifung: „Wie können die Gesetzeslehrer behaupten, daß der Messias ein Sohn Davids sei? David sagte doch, vom heiligen Geist erleuchtet: ‚Gott sprach zu meinem Herrn: [...]‘. David selbst nennt ihn also ‚Herr‘ – wie kann er dann sein Sohn sein?“

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Hannas berichtet, der eine Zeugenvernehmung zugrunde gelegen habe, aus der aber kein Resultat hervorgegangen sei (nur eine Geringschätzung des Tempels – oder eher eine schwer verständliche Äußerung über seinen Wiederaufbau – wird 13 ihm zur Last gelegt) Ohnehin ist die Bedeutung von Jesu Bejahung umstritten: Das sþ légeiV kann auch verneinend, jedenfalls Antwort verweigernd gemeint sein: „Das hast du gesagt.“ Da Wagner die erste Auffassung übernimmt (die, wonach Jesus sich nach anfänglichem Zögern ausdrücklich nicht für den Messias erklärt habe [285 f.]), müssen wir diese philologischen Probleme nicht klären.

Wagners Umgang mit außerevangelischen Quellen Es ist gelegentlich vermutet worden, Wagner habe das damals skandalumwitterte Werk Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet von David Friedrich Strauß (1835/36), 14 für seine Jesus-Tragödie benützt (Gregor-Dellin 1991, 254); denn Feuerbachs Einfluss beginnt nach Wagners eigenem Zeugnis erst „[i]n der letzten Periode meines Dresdener Aufenthaltes“ und in Zürich (Wagner 1911 I, 507 f.). Für Straußens Einfluss gibt es aus der Zeit vor der Niederschrift des Entwurfs keinerlei Beleg. Auch vertritt Strauß ganz entschieden die zweite Auffassung, wonach es „als unbestreitbare Thatsache feststeh[e]“, daß „Jesus die Ueberzeugung, der Mes15 sias zu sein, gehabt und ausgesprochen“ (Strauß 1840 I, 495, § 62) habe. Angezogen konnte Wagner von Straußens Heterodoxie sein. Dessen Verfahren ist zweigleisig: Um das kirchliche Christusbild niederzureißen, vermenschlicht er Jesus und zeigt, dass ihm teils mythische Überzeugungen, teils unhaltbare und widersprechende Taten und Reden zugeschrieben werden. Doch behält er sich eine ‚spekulative‘ und mehr ‚dogmatische Christologie‘ vor. Deren „Schlüssel“ sei, dass die Prädikate, welche die Kirche einem einzigen Individuum (Christus) beigelegt habe, in welchem sie sich aber widersprechen, Eigenschaften und Funktionen einer ‚realen Idee‘ seien, nämlich der Menschengattung in ihrem ganzen Reichtum 13 Vgl. die genaue Rekonstruktion des Verhörs (Schleiermacher 1864, 425 ff.). 14 Cosima berichtet, dass Wagner am 19. Juli 1878 in Straußens Buch gelesen und es „im ganzen besser [gefunden habe], als er erwartet hatte“ (Cosima Wagner [1982 II, 141. Es fehlt nicht der folgende Zusatz: „nur daß sie unter Gott immer den jüdischen Weltschöpfer verstehen und nicht zugeben, daß das Göttliche sich hier offenbart hat“ (l. c.). Auch Renans Vie de Jésus, das insgesamt besser abschneidet als Straußens Werk („Er liebt Jesus, während Strauß es nicht tut“ [II, 522]) erregt später Wagners Zorn: „R. behauptet, er [Renan] müsse Jude sein, da das Ganze auf die Verherrlichung des Judentums ginge“ (II, 879). Ohnehin hat Wagner seine Strauß-Lektüre schon am 25. Juli eingestellt: „zu trocken und langweilig“ (145). Weitere Erwähnungen Straußens in den Tagebüchern beziehen sich auf jüngere Schriften des Autors oder Nietzsches Polemik gegen ihn. 15 Allerdings hätte Wagner der folgenden Feststellung zustimmen können: „Nirgends findet sich jedoch in unsern evangelischen Darstellungen eine Spur, daß Jesus politisch Partei zu machen gesucht hätte“ (Strauß 1840, 518, § 66). Das Messiasreich komme nicht metà parat®sewV (sichtbarerweise), sondern sei im Innern der Menschen zu suchen (Joh. 6, 15; Luk. 17, 20 f.) usw. So auch Wagners Jesus: SSD XI, 298 (V.) und 319 (XVII.).

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(Strauß 1840 II, § 151 709 f.). Damit radikalisiert Strauß eine Tendenz seines theologischen Lehrers Schleiermacher, der in Christus (wie er ihn nennt) einen ‚Vollender der menschlichen Natur‘ gesehen hatte, die in der bisherigen Schöpfung „nur in einem vorläufigen Zustand vorhanden gewesen“ sei (Schleiermacher 1960, II, § 92, 31; vgl. allerdings Straußens Einwand: 1840 II, 693.). In den Raisonnements, die Wagner seinem Jesus-Entwurf angefügt hat, nehmen den breitesten Raum Gedanken über die ‚Aufhebung des Einzellebens (oder des Egoismus) im Allgemeinen (oder Gesamtleben)‘ ein; Jesu Opfer-Tod wird – wie bei Strauß – damit in Verbindung gebracht (SSD IX, 299 ff.). Das „Wesen des Menschen selbst [sei] als das unmittelbare Gottsein [zu] setzen“ (297), der Weg dahin das „Aufgehen in die Allgemeinheit“ (300). Der Gedanke verbindet sich unmittelbar mit dem Güterkommunismus: Je deutlicher und / bestimmter ich nun das Gedeihen dieser größeren Genossenschaft dadurch verbürgt erkenne, daß der Egoismus des Einzelnen in dem Gemeinsein aller untergehe, erkenne ich zugleich auch, daß dieser Egoismus darin seine höhere, erweiterte Verteidigung finde [...] (301 f.).

Aber Wagner bezieht diesen Gedanken auch und besonders auf den Tod: „Das letzte Aufgehen des Einzellebens in das Gesamtleben ist der Tod, er ist die letzte und bestimmteste Aufhebung des Egoismus“ (299). Was Wagner sich dabei gedacht hat, ist nur vage erkennbar. Einerseits will er den entschieden weltlichen Standpunkt, unter dem er seinen Jesus als „persönlichen Menschen“ (SSD IV, 36) konzipiert, behaupten – und so bezieht er den Tod einerseits auf die „Geschlechtsliebe“ („sie ist ein Vonsichgeben der eigenen Lebenskraft“ [300 u.]), die „Vervielfältigung seiner selbst“ (301) (als Aufgehen in der Nachkommenschaft, aber auch [gut Schleiermacherisch] als „Mitteilung“ [303]), die „allgemeine[...] Menschenliebe“ als „vollständigste Aufhebung seiner selbst“ (301), den „Patriotismus, d. i. [die] Liebe für den Verein, in dem ich meine oder der Meinigen Befriedigung durch Gegenseitigkeit gesichert weiß“ (301 u.), schließlich den Gemeinschaftsgedanken des Kommunismus (passim) und Weltbürgertums (das „Gemeinsein aller“ [302 o.]). Andererseits flirtet Wagner mit der Todesmystik, in der die „Vernichtung dieses einzelnen Ichseins“, der „vollkommene[...] Abschluß 17 meines persönlichen Seins“ zu einem überirdischen Wert wird – wie im Liebestod des Holländer oder im Tristan. Einflüsse Straußens sind hier nicht auszuschließen. Denn auch er macht Jesus einerseits zu einem vollkommenen Menschen (im Wortsinne), bezieht dann aber, in einer spekulativ-dogmatischen Wendung, Jesu Opfertod auf den Gedanken einer (Hegelschen) ‚wesentlichen Göttlichkeit‘, auf ein ‚wahres geistiges Leben‘ des Menschen, das das ‚sinnlichempirische‘ aufhebe (§ 131). Mit Recht spottet darum Arnold Ruge in einer Tagebuchaufzeichnung von 1837: 16 Zum Begriff des Mythischen vgl. die Einleitung, bes. I, §§ 10-16 (Strauß 1840, 40 ff., 97-108). 17 Vgl. auch die Bemerkung in Oper und Drama über die „Verklärung“ des Sterbens und des Todes als des „einzig wahre[n] Inhalt[s] der aus dem christlichen Mythos hervorgegangenen Kunst“ (SSD IV, 36 f., vgl. 43).

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Straußens [Religions-]Kritik [durch die Befreyung des religiösen Prinzips vom Buchstaben] ruht aber auf speculativem Boden, auf einer Metaphysik, die das Verhältniß zwischen Gott und Welt als ein immanentes behauptet. Diese Weltanschauung ging ebenfalls von Schwaben: von Schelling und Hegel aus, sie ist ihrer Natur nach poetisch (Ruge 1886, 108).

Wie die in Aussicht genommene Aufhebung Jesu in eine wesentliche Göttlichkeit immanent und säkular aufzufassen sei, verrät Strauß so wenig wie Wagner, der ebenfalls den johanneischen ‚Geist‘ auf ein Hegel’sches „neue[s] Wesen des Geistes“ bezieht: „Wisset ihr nicht, daß [...] der Geist Gottes in euch wohnet?“ (SSD XI, 316 [im Orig. gesp.]). Wagner hat im Rückblick seiner Mitteilung an meine Freunde, resigniert über die Erfolglosigkeit der Revolution, den Jesus-Entwurf in noch weltschmerzlicheren Tönen romantisiert (und damit vollends entpolitisiert): Der Tod ist hier nur das Moment der Verzweiflung; er ist der Zerstörungsakt, den wir an uns ausüben, weil wir ihn – als Einzelne – nicht an den schlechten Zuständen der uns zwingenden Welt ausüben können. Der Akt der wirklichen Vernichtung der äußeren, wahrnehmbaren Bande jener ehrlosen Sinnlichkeit ist aber die u n s obliegende gesunde Kundgebung dieses, bisher auf die Selbstvernichtung gerichteten Dranges (SSD IV, 332).

Ein ähnlicher Zwiespalt herrscht zwischen der abwechselnden Geringschätzung und (frühsozialistischen) Rehabilitation des Fleisches und der Sinnlichkeit. Bald lehrt Jesus „das Wesen des Fleisches als Sünde erkennen“ (287; vgl. 317 o. und u.), bald schlägt er es auf die Seite der Natur und der Unschuld: Ihr stammt aus Gott: aus Gott aber kann nichts Unreines stammen. [...] Gerecht ist also auch des Menschen Fleisch und Blut, [...] alles Ärgernis und Sünde kommen durch das Gesetz, das wider den Menschen ist (291; vgl. 290 o., 310 f., 312,2).

Ein anderer möglicher Einfluss auf Wagners Jesus von Nazareth ist vermutet worden, der des religiösen Handwerker-Kommunisten Wilhelm Weitling (18081871) (Gregor-Dellin 1991, 254; ebenso die Herausgeber des II. Bandes der Wagner Briefe, 36, 65). Röckel war gut mit ihm vertraut, Bakunin schätzte ihn. Und genaue Parallelen zwischen Grundüberzeugungen des Evangelium[s] eines armen Sünders (1843, erschienen 1845) und Wagners Entwürfen eines JesusDramas, schon zum Vortrag vor Röckels Vaterlandsverein (vom 19. Juni 1848), die hohe Gewichtung der Liebe bei beiden (Weitling 1845, 15 ff., 58 ff., bei Wagner allgegenwärtig), die ähnliche Faktur des Manuskripts, bestehend wesentlich aus Raisonnements, die anknüpfen an eine vergleichbare Auswahl von Zitaten aus Evangelien, Apostelgeschichte und -briefen – all das macht es ganz unwahrscheinlich, dass Wagner nicht wenigstens in Röckels Kreise davon gehört haben sollte. Weitling hatte in seinen Garantien der Harmonie und Freiheit (1842) das Evangelium eines armen Sünders mit den Worten angekündigt, „daß die kühnsten Forderungen der freisinnigen Ideen ganz im Einklang mit dem Geist der Lehre Christi seien“ (Weitling 1955, XXXI). In diesem „Evangelium der Freiheit und Gerechtigkeit für a l l e Menschen“ (Weitling 1845, III, vgl. I) wird der „revolutionäre Zimmermann“ (l. c., 123, vgl. 21 ff.) als Herr und Mei-

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ster des Handwerker-Kommunismus beschworen. Belegt wird dies vor allem an Jesu Lehre von der „Abschaffung des Eigenthums“ (l. c., 61 ff.) (vgl. Wagners Jesus: SSD XI, 288 ff., 322: „Keiner sage von seinen Gütern, daß sie sein wären, sondern es ist euch alles gemein“ [im Orig. gesp.; vgl. Acta 2,44; 4,32]), „der Erbschaft“ (Weitling 1845, 65 ff.), „des Geldes“ (l. c., 71 ff.; SSD XI, 293 f. und XII, 223); seiner durchgängigen Respektlosigkeit vor dem „Eigenthum“ überhaupt (Weitling 1845, 126 ff.) und seinem Bekenntnis zum „Prinzip der Freiheit und Gleichheit“ (l. c., 83 ff, unter Berufung vor allem auf Matth. 20, 25-27 und Matth. 23.8 und 11 f.; vgl. Wagners Jesus: „Wo es Freie gibt nach dem Gesetz, da gibt es auch Knechte: im Sinne der Liebe aber seid ihr alle gleich und frei“ [SSD XI, 295]; noch in Die Kunst und die Revolution wird Jesus, „der für die Menschheit litt“ [im Orig. gesp.], als derjenige aufgerufen, der „gezeigt [hat], daß wir Menschen alle gleich und Brüder sind“ [SSD III, 41]); schließlich seiner Liebe zur Sünderin Maria Magdalena (Weitling 1845, 112 ff.). Schon in Weitlings Erstlingswerk (1838) war die Gütergemeinschaft in christlichen Wendungen als „Erlösungsmittel der Menschheit“ gepriesen worden; sie schaffe die Erde „zu einem Paradies um, indem sie die Pflichten in Rechte verwandelt und eine Menge Verbrechen aus der Wurzel tilgt“ (Weitling 1895, 47). Nun muss man sich vergegenwärtigen, dass die Berufung auf prophetische (z. B. Jesaja 5; 10; Amos 2,9-12; 4,1-3; 6,1-7; Micha 2,1-11; 3), auch evangelische Texte eine mächtige protestantische Tradition hatte, bevor Weitling und Wagner sie aufgriffen. Vor allem Thomas Münzer, Luthers ungeliebter Bruder in Christo, hatte 300 Jahre früher die Reichen und Mächtigen, die Bauernschinder und Wucherer als die wahre „Ursache des Aufruhrs“ angegriffen; er hatte als Prediger des Evangeliums die Gleichheit und Brüderlichkeit der Menschen auf Erden gepredigt und sich drastisch von Luthers „knechtischer“ Unterstützung der Fürsten abgesetzt. Heinrich Heine, dessen Französische Zustände (1832) Wagner gewiss gekannt hat, kommentiert (in der Beilage zu Artikel VI): Aber ein heiligeres Zeugnis, das aus dem Evangelium hervorblutet, widerspricht der knechtischen Ausdeutung und vernichtet die irrige Autorität; Christus, der für die Gleichheit und Brüderschaft der Menschen gestorben ist, hat sein Wort nicht als Werkzeug des Absolutismus offenbart, und Luther hatte Unrecht und Thomas Münzer hatte Recht (Heine 1997 3, 290).

Ganz unwahrscheinlich ist ferner, dass Wagner während seines Paris-Aufenthalts nicht auch von einem anderen religiösen Sozialisten gewusst haben sollte: von Pierre Leroux (1797-1871). Heine rühmt ihn in Lutetia als „unstreitig [...] [e]ine[n] der größten Philosophen der Franzosen“ (Heine 1997 5, 401 [Artikel 18 vom 2. Juni 1842]), Marx nennt ihn „genial“ (in: Schelling 1993, 566 ff., hier: 567; MEW 27, 420), in Deutschland kannte jeder politisch Gebildete den Erfin18 Brief an Ludwig Feuerbach vom 3. Oktober 1843 (im Kontext abgedruckt in: Schelling 1993, 566 ff., hier. 567). Friedrich Engels, der den Grundsatz „le Christianism,e c'est le Communisme“ scharf bekämpft, zählt Leroux 1843 immerhin zu den „hervorragenden Geistern Frankreichs“ (MEW 27 , 487).

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der des Wortes ‚Sozialismus‘, und sei’s nur über seine Parteinahme für Schelling 19 und gegen Hegel (Evans 1948; Frank 1993, 24 ff., 554 ff.). Leroux hatte in der von ihm herausgegebenen Revue Sociale (1846) scharf einen Priester (Lacordaire) angegriffen, der in der Kathedrale von Notre Dame die malthusianische Form des ökonomischen Liberalismus unter Berufung auf Christi Lehre verteidigt hatte. Sie verpflichte die Reichen aus Kapitalgewinn nur zu einer almosenartigen Barmherzigkeit den Armen gegenüber (als könne Barmherzigkeit eine Rechtsbasis haben [Leroux 1846, 68]), nicht zu einer Gleichverteilung des Eigentums. Für die letztere tritt Leroux ein: unter Benutzung nicht nur evangelischer, sondern auch alttestamentlicher Quellen: „Rien n’est plus contraire au Christianisme que la propriété telle qu’il la préconise“ (67). Die Eucharistie deutet er als rituelle Besieglung der Gleichheit und Brüderschaft aller Menschen (66, 78 f.), nennt Jesus den größten Ökonomen (67), erinnert an Gottes Identität mit der Nächsten-, nicht der Eigenliebe (66 f., 69, 74, 78), vergleicht Wucher, Erbrecht und soziale Benachteilung der fahrlässigen Tötung (66, 71 f.) und wirft den Malthusianern unter Verweis auf die pharaonische Furcht vor der Vermehrung des jüdischen Volkes, die Aussetzung Moses‘ (76 f.), den von Herodes angeordneten Kindermord (70, 76 f.), Jesu Kinderliebe (77) und die wunderbare Speisung (78) aggressiven Anti-Christianismus vor. Wie Wagner spricht er durchgängig von einem Gesetz der Natur neben einem solchen Gottes (oder des Geistes [z. B. 77]) und wirft den Handlangern der Kapitalinteressen vor, sie „haben das Mittel gefunden, des Menschen Herz zu diamantisieren, ja ihm ein härteres Herz als ein Herz von Stahl zu 20 geben“. Beide Quellen (Weitling und Leroux) kommen gut überein mit Wagners Rede von der „notwendigen Erlösung des Menschengeschlechts“ im recht verstandenen „Kommunismus“ als der „Erfüllung der reinen Christuslehre“ (SSD XII, 223 [im Orig. gesp.]), Für eine andere Grundüberzeugung des Autors von Jesus von Nazareth müssen wir nach einer weiteren Quelle suchen. Es ist die Überzeugung, dass erst das von Menschen geschaffene Gesetz die Übertretung, mit ihr die Sünde errege und dass der Zustand reiner Menschlichkeit in einer recht verstandenen Anarchie, einer natürlichen Gesetzlosigkeit, bestehe: [Jesus:] „[I]m Gesetz also war die Sünde; nun töte ich dies Gesetz und tilge damit die Sünde“ (Jesus, 288). „Wo kein Gesetz ist, ist auch keine Sünde“ (290; vgl. Röm. 7, 7 f. und 5, 13).

„Das Gesetz stehet statt der Allgemeinheit“, sagt Wagner (308 o.; vgl. 306), es behindert und verzerrt mein Aufgehen im wahren Allgemeinen. Für den anarchischen Zustand, der auch ‚Reinheit‘ oder ‚Unschuld‘ heißt (305,2), reserviert Wagner durchgängig den alle übergreifenden Ausdruck „Liebe“; ihr ist – wie dem 19 Über Leroux vgl. David Owen Evans (1948); Frank (in: Schelling 1993, 24 ff., 554 ff.); Frank 1982, 8. Vorl. 20 „[...] ils [sc.: les Jésuites] ont machinisé l'homme, comme on dit, les économistes ont trouvé le moyen de le diamantiser, de lui donner un cœur plus dur que le fer, et pour unique Dieu l'égoisme“ (Leroux 1846, 69).

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Siegfried, wie Einem, der auszog, das Fürchten zu lernen, Furchtlosigkeit eigen (291, 295, 312,7; vgl. 1. Joh. 4, 18: „Furcht ist nicht in der Liebe“). Zittern kann der Sündige nur vor dem Gesetz. ‚Liebe‘ ist der Inbegriff der Lehre Jesu, und ihr ist die Sorglosigkeit ums tägliche Überleben beigesellt (Cosima Wagner 1982, I, 87 [Eintrag vom 20. April 1869; hier wird Jesu Sorglosigkeit geradezu mit der „Siegfried-Sage und [...] dem kleinen Däumling“ in Verbindung gebracht.]). Die Liebe ist auf der Seite des „Gesetz[es] der Natur“ (SSD XI, 287), „des Lebens“ (288), „des Geistes“ (287; vgl. Röm. 8, 2). Dem stehen gegenüber (natürlich neben ‚Gesetz‘ im eingeschränkten Sinne): ‚Egoismus‘, ‚Besitz‘/,Eigentum‘, ‚Macht‘, ‚Herrschaft‘ (l. c., passim). Die einzige Funktion von „Macht, Herrschaft“ – verkörpert im Staat – ist „d e r S c h u t z d e s B e s i t z e s“ (288): „[...] Wer Schätze häufte, die die Diebe stehlen können, der brach zuerst das Gesetz, indem er seinem Nächsten nahm, was ihm nöthig ist. Wer ist nun der Dieb: der dem Nächsten nahm das, dessen er bedurfte, oder der dem Reichen nahm das, des er nicht bedurfte?“ (291).

Das ist eine These, die Wagner in seinen Revolutionsreden und -schriften durchgängig vertritt. Sie ist anarchistisch im Sinne Proudhons, mit dessen Thesen er durch Röckel bekannt wurde, den er aber erst im Sommer 1849 in Paris gelesen zu haben scheint (Wagner 1911 I, 443, 496; er las „namentlich“ De la propriété). Doch war es eigentlich Michail Bakunins (1814-1876) Einfluss, der sich in Wagners Gegnerschaft gegen Gesetz, Eid, Ehe, Zwang machtvoll durchsetzt. Das lässt sich illustrieren an der wahrscheinlich eindrucksvollsten Stellungnahme des Jesus von Nazareth. Sie betrifft die in Joh, 8, 1-11 überlieferte Episode um die Ehebrecherin (deren Konturen bei Wagner – wie schon bei Strauß [§ 90] – mit der Maria Magdalena verschwimmen). Jesus findet die Ehebrecherin nämlich nicht nur unschuldig – er ermutigt sie geradezu und beschuldigt die Gesetzeshüter. Freiheit – freier Wille, nicht Zwang – sind die Basis aller Verbindung : „Die Liebe ist frei“ (SSD XI, 292,5). Wer das Gesetz oder die Bindekraft des Eides (den Wagners Jesus mehrfach verdammt: 280 M., 286,4; 292 u.) über die freie Liebe erhebt, verwechselt Ehe mit Liebe und damit Zuneigung mit verbrieften Besitzansprüchen. Aber Mann und Frau sind keine wechselseitigen Eigentümer (288 f.). Das Recht des Ehevertrags erlischt, „1. wenn die Ehe ohne Liebe geschlossen ward [oder aktuell in Lieblosigkeit besteht], 2. wenn das Elternrecht in Zwang gegen die Kinder überging“ (289). Das Begehren einer Frau, die nur im Ehebruch ihre Befriedigung findet, ist darum Sünde nur nach dem Gesetz (dem zufolge sie Eigentum ihres Mannes ist), Recht nach dem der Natur, die keinen Eigentümer kennt 21 (l. c.): 21 Vgl. Die Revolution (SD XII, 249 f.): „Was die Natur geschaffen, die Menschen bebaut und zu fruchttragenden Gärten umgewandelt, es gehört den M e n s c h e n, den B e d ü r f t i g e n, und keiner darf kommen und sagen: ‚Mir / allein gehört dies alles, und ihr anderen alle seid nur Gäste, die ich dulde, so lange es mir gefällt und sie mir zinsen, und die ich verjage, sobald mich die Lust treibt.‘“ Auch dies ein anarchistischer Gedanke, der sich wiederholt bei Bakunin findet:: „Grund und Boden mit allem natürlichen Reichtum sind das Eigentum Aller, werden aber nur im Besitz derjenigen sein, die sie bebauen" (Bakunin 1972, 21).

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Die Sünde gegen das Eigentum entspringt daher einzig aus dem Gesetze des Eigentums: der Mensch, der durch den Drang der Natur sich dagegen zu sündigen genötigt fühlt, frevelt daher nur durch das Dasein des Gesetzes selbst, nicht an sich. – So befreit nun Jesus die menschliche Natur, indem er das Gesetz aufhebt. [...] [Jesus.] „Das Gebot sagt: du sollst nicht ehebrechen! ich aber sage euch: ihr sollt nicht freien ohne Liebe. Eine Ehe ohne Liebe ist gebrochen, als sie geschlossen ward, und wer freite ohne Liebe, der brach die Ehe“ (Jesus, 290). [Jesus:] „Die Ehe heiligt nicht die Liebe, – sondern die Liebe die Ehe“ (296).

Das ist ein Gedanke, den Wagner durchaus mit dem „Oberfeuerwerker“ der Revolution teilt. In Mein Leben zitiert er ihn reichlich zahm mit den Worten, „der einzige Genuß des Lebens [könne] menschenwürdig allein in der Liebe bestehen“ (Wagner 1911 I, 456, 460; vgl. Oper und Drama [SSD IV, 50, wo Bakunins Formulierung fast wörtlich wieder aufgegriffen wird]). Das entspricht Wagners Rede von der „individuelle[n] Natur“ des Menschen, „wie sie sich ihm als L e b e n s - u n d L i e b e s t r i e b“ mit dem Anspruch auf „f r e i e S e l b s t b e s t i m m u n g“ kundgebe (SSD IV, 73). Dabei erwähnt er nicht Bakunins leidenschaftliche Verteidigung der „freien Ehe", die (wie bei Wagner) frei ist darin, dass weder die Partner einer dem anderen noch auch die Kinder den Eltern gehören (Bakunin 1972, 21 f.). Bakunin war – politisch konkreter als Wagner, aber mit gleichgerichtetem Interesse – opponiert gegen alles, was nach Gesetz roch. So verlangte er die Abschaffung der in Europa gültigen Gesetzesbücher, des Erbrechts, der Banken und des Geldes, der Bürokratie, endlich der Staatspolizei (l. c., 15 ff., 5). Deren einzige Funktion sah er, wie Wagner, im Schutz des Eigentums in allen seinen Varietäten. Was Wagner in der gereinigten Fassung seines Lebensberichts verschweigt, spricht sein Jesus umso deutlicher aus. So macht er, wie Bakunin, einen Unterschied zwischen zwei Bedeutungen von Gerechtigkeit: Dem einen Sinne nach meint der Ausdruck den Zustand allgemeiner Freiheit und Gleichheit, in dem Menschen in urchristlicher Gütergemeinschaft leben und in dem „jeder einzig und allein der Sohn seiner Werke sei" (l. c., 15); davon ist unterschieden der Zustand, in dem der Staat seine eigentumsfreundliche Rechtsprechung durchsetzt. Es ist diese Gesetzes-Gerechtigkeit, von der in Wagners Utopie das Evangelium die Menschheit habe befreien wollen (SSD XI, 320,6). Noch in Oper und Drama wird Jesus als der Mensch gerühmt, „der durch seinen freiwilligen Tod [...] Gesetz und Staat [...] durch Erlösung in Gott aufhob“ (SSD IV, 36). Bakunin war freilich ein Verächter der Vorstellung „eines wirklichen, außerweltlichen, persönlichen Gottes"; der Gotteskult sei durch 22 die „Achtung und Liebe der Menschheit" zu ersetzen (Bakunin 1972, 3; vgl. 23). Ich denke, im Frühjahr 1849 (und noch später) hätte Wagner auch dem zugestimmt, selbst wenn er Jesus seine Selbstrechtfertigung aus dem Glauben an einen

22 Freilich gilt „absolute Gewissens- und Propagandafreiheit für jeden mit unbegrenzter Möglichkeit für jeden, seinen Göttern, welche immer es seien, so viel Tempel als er will, zu errichten“ (Bakunin 1972, 5).

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göttlichen Vater beziehen lässt und den Opfertod mystisch verklärt. Aber muss man darin mehr sehen als eine der zahlreichen Inkonsequenzen und Zweideutigkeiten, die als Stachel die Neugier des Interpreten wecken und dafür sorgen, dass ihm eine letzte Auskunft über Wagners Werk nicht gelingt?

23 Freilich nennt er Jesus noch später einen „gottbegnadete[n] Mensch[en]“, der unabhängig zu sehen sei von „de[m] alte[n] jüdische[n] Gott“; „nur durch Verdummung des Volkes“ sei das „Absterben der Religion“ bisher zu verhindern gewesen (Cosimas Tagebücher [Cosima Wagner 1992 I, 535, Eintrag vom 16. Juni 1872]). Unter Berufung auf Renan bestreitet er auch Jesu Wiederauferstehung: Die exaltierte Vision von Frauen, die die Grabstätte leer gefunden haben, habe das Christentum geschaffen (II, 330 [12. April 1879]). Vgl. schon die sehr negative Einschätzung ‚des‘ Christentums in Oper und Drama.

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7. SIGLENVERZEICHNIS

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StA: Karl Marx, Friedrich Engels, Studienausgabe in vier Bänden, hg. von Iring Fetscher, Bd. I („Philosophie“), 8. Aufl.; Bd. II („Politische Schriften“), 8. Aufl., Frankfurt/M.: Fischer: 1971 SW: Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Sämmtliche Werke, hg. Von K. F. A. Schelling, I. Abtheilung Bde. 1-10; II. Abtheilung Bde 1-4; Stuttgart: Cotta, 1856-1861 (die Ziffern hinter der Sigle verweisen auf Abteilung [römisch], Band und Seite [arabisch], also zum Beispiel: I/6, 195 f.) Tausendundeine Nacht: Die Erzählungen aus den tausendundeinen Nächten. Vollständige deutsche Ausgabe. Nach dem arabischen Urtext übertragen von Enno Littmann, Wiesbaden: Insel, 1953 (neu als Taschenbuchausgabe 1976; Frankfurt/M.: Insel [it 224]) Thesaurus linguae latinae: Thesaurus linguae latinae / editus auctoritate et consilio academiarum quinque Germanicarum: Berolinensis, Gottingensis, Lipsiensis, Monacensis, Vindobonensis. Lipsiae: Teubner, 1900 ff. TS: Ludwig Tieck’s Schriften [in 28 Bdn.], Berlin: Reimer, 1828-1854 (unveränderter photomechanischer Nachdruck Berlin: de Gruyter, 1966) TWA: Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Werke in zwanzig Bänden. Auf der Grundlage der Werke von 1832-1845 neu ediert von Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel (= Theorie-Werkausgabe), Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1969-1971 Wagner Briefe: Richard Wagner, Sämtliche Briefe [noch im Erscheinen begriffen: bisher 8 Bde. bis August 1857]. Bde. 1-6 hg. im Auftrage der Richard-Wagner-Stiftung Bayreuth von Gertrud Strobel und Werner Wolf; Bde 7-8 hg. von Hans-Joachim Bauer und Johannes Forner. (Zitiert wird in der Regel nach Adressat und Datum.) WWV: Richard Wagner, Werkverzeichnis. Verzeichnis der musikalischen Werke Richard Wagners und ihrer Quellen, erarbeitet im Rahmen der Richard-Wagner-Gesamtausgabe von John Deathridge, Martin Geck u. Egon Voss, Mainz [u. a.]: Schott’s Söhne, 1986

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