Mystikerinnen der Neuzeit und Gegenwart: Redaktion: Middelbeck-Varwick, Anja 9783653002188

Die Mystik kann als zentrale Form christlicher Frömmigkeit gelten. Doch welche spezifischen Kennzeichnungen besitzt sie

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Mystikerinnen der Neuzeit und Gegenwart: Redaktion: Middelbeck-Varwick, Anja
 9783653002188

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Inhaltsverzeichnis
Vorwort
Markus Thurau / Anja Middelbeck-Varwick 7
„Vor unerleuchteter Frömmigkeit bewahre uns Gott!“ Teresa von Avila (1515-1582) – eine Mystikerin am Beginn der Neuzeit
P. Michael Plattig 9
„Der Mystizismus ist ein Akt der Verzweiflung.“ Theologische Reflexionen zu mystischen Phänomenen des 19. Jahrhunderts
Markus Thurau 37
Eine Jüdin und ein Priester als neuer Adam und neue Eva im Heiligen Land. Die Mystik der Sophie (Franscisca) van Leer (1892-1953)
Marcel Poorthuis 75
„In den Flammen der Liebe entbrennen …“ Mystik bei Edith Stein
Katharina Westerhorstmann 109
„… eine Treue INS LEERE HINEIN.“ Annäherung an Simone Weil
Susanne Sandherr 141
„Alles ist nur die Rinde einer herrlichen Realität.“ Zur Mystik Madeleine Delbrêls (1904-1964)
Katja Boehme 175
„Offener für die Kraft …, die durch dich wirken will.“ Dorothee Sölle – Mystikerin der Moderne?
Helga Kuhlmann 193
Lernen als Akt der Mystik
Rainer Kampling 215
Verzeichnis der Autorinnen und Autoren 223

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APELIOTES

Studien zur Kulturgeschichte und Theologie

Anja Middelbeck-Varwick Markus Thurau (Hrsg.)

Mystikerinnen der Neuzeit und Gegenwart

PETER LANG Internationaler Verlag der Wissenschaften

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Mystikerinnen der Neuzeit und Gegenwart

Apeliotes

Studien zur Kulturgeschichte und Theologie Herausgegeben von Rainer Kampling

Band 6

PETER LANG

Frankfurt am Main·Berlin·Bern·Bruxelles·New York·Oxford·Wien

Anja Middelbeck-Varwick Markus Thurau (Hrsg.)

Mystikerinnen der Neuzeit und Gegenwart

PETER LANG

Internationaler Verlag der Wissenschaften

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Gedruckt auf alterungsbeständigem, säurefreiem Papier.

ISSN 1862-801X ISBN 978-3-653-00218-8 © Peter Lang GmbH Internationaler Verlag der Wissenschaften Frankfurt am Main 2009 Alle Rechte vorbehalten. Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. www.peterlang.de

Inhaltsverzeichnis

Vorwort Markus Thurau/Anja Middelbeck-Varwick

7

„Vor unerleuchteter Frömmigkeit bewahre uns Gott!“ Teresa von Avila (1515-1582) – eine Mystikerin am Beginn der Neuzeit P. Michael Plattig

9

„Der Mystizismus ist ein Akt der Verzweiflung.“ Theologische Reflexionen zu mystischen Phänomenen des 19. Jahrhunderts Markus Thurau

37

Eine Jüdin und ein Priester als neuer Adam und neue Eva im Heiligen Land. Die Mystik der Sophie (Franscisca) van Leer (1892-1953) Marcel Poorthuis

75

„In den Flammen der Liebe entbrennen …“ Mystik bei Edith Stein Katharina Westerhorstmann

109

„… eine Treue INS LEERE HINEIN.“ Annäherung an Simone Weil Susanne Sandherr

141

„Alles ist nur die Rinde einer herrlichen Realität.“ Zur Mystik Madeleine Delbrêls (1904-1964) Katja Boehme

175

„Offener für die Kraft …, die durch dich wirken will.“ Dorothee Sölle – Mystikerin der Moderne? Helga Kuhlmann

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Lernen als Akt der Mystik Rainer Kampling

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Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

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Vorwort Die vorliegende Publikation geht auf die Ringvorlesung „Gegenerfahrungen. Mystikerinnen der Neuzeit und Gegenwart“ zurück, die im Sommersemester 2008 vom Seminar für Katholische Theologie der Freien Universität Berlin veranstaltet wurde. Bereits ein Blick in die Geschichte der christlichen Mystik zeigt, wie vielgestaltig diese seit jeher ist, so dass sich der Begriff der Mystik von vornherein einheitlicher Definitionen zu verwehren scheint. Denn wenn heute auch weitgehend Konsens darin besteht, dass Mystik eine zentrale Form christlicher Spiritualität ist, so ist insbesondere die Frage nach der Spezifik mystischen Denkens in und seit der Neuzeit reichlich ungeklärt. Auch dieser Sammelband will hierauf keine letzten Antworten geben. Vielmehr soll der Fokus auf mystische Erfahrungen einzelner Frauen, wie z. B. Simone Weil oder Edith Stein gelegt werden und die jeweiligen Kennzeichnungen ihres Umgangs mit diesen Erfahrungen sollen vorgestellt werden. Exemplarisch kann die darin zum Ausdruck kommende Pluralität christlich-spirituellen Denkens und der ihm zugrunde liegenden religiösen Haltungen in der Moderne in den Blick genommen werden. Vor allem sei den Autorinnen und Autoren des Bandes herzlich für ihre Beiträge gedankt. Auch gilt unser Dank Frau Anna Gliszczynski und Herrn Reinhard Kober M.A. für die sorgfältigen Korrekturen, Herrn Michael Holldorf M.A. für die Erstellung der Druckvorlage sowie Herrn Dr. Benjamin Kloss vom Verlag Peter Lang für die gute Kooperation. Nicht zuletzt sei Herrn Prof. Dr. Rainer Kampling für die Aufnahme dieses Bandes in die Reihe „Apeliotes. Studien zur Kulturgeschichte und Theologie“ sehr herzlich gedankt. Berlin, Pfingsten 2009 Markus Thurau

Anja Middelbeck-Varwick

„Vor unerleuchteter Frömmigkeit bewahre uns Gott!“ Teresa von Avila (1515-1582) – eine Mystikerin am Beginn der Neuzeit P. Michael Plattig

1. Einleitung Die Datierung des Beginns der Neuzeit in der Einteilung historischer Epochen wird unterschiedlich festgelegt, die verschiedenen dafür benannten historischen Ereignisse (z.B. osmanische Eroberung Konstantinopels 1453, die Entdeckung Amerikas 1492, der Beginn der Reformation 1517) können jedoch mit großzügiger Auslegung um das Jahr 1500 angesiedelt werden. Dabei ist die Wende zur Neuzeit nicht als plötzlich auftretendes Phänomen, sondern als ein allmählicher Übergang zu verstehen, der sich im 15. und 16. Jahrhundert ereignete. Das Sozialgefüge der mittelalterlichen Gesellschaft verändert sich durch erste „frühkapitalistische“ Produktions- und Wirtschaftsformen, erste „Massenproduktionen“ durch Technisierung werden möglich. Ein Beispiel ist dafür die Erfindung des Buchdrucks mit beweglichen gegossenen Lettern durch Johannes Gutenberg († 1468) und die damit mögliche Herausgabe von Büchern in „hohen“ Auflagen. 1543 war Nikolaus Kopernikus’ Werk „De revolutionibus orbium coelestium“ erschienen und leitete die später so benannte „Kopernikanische Wende“ ein, d.h. den Übergang von der geozentrischen zur heliozentrischen Vorstellung des Kosmos. Die Erde war damit nicht mehr Mittelpunkt des Komos, sondern ein Planet unter vielen, ein Staubkorn im Weltall. Dies führte zu immer neueren Erkenntnissen über die „Welt“, aber auch zu einer Verunsicherung vieler Menschen und zur Suche nach Orientierung und Halt. Hinzu kamen die Missstände in Kirche und Klerus: „Die Verweltlichung vieler kirchlicher Amtsträger, die Vernachlässigung ihrer geistlichen Aufgaben und die Unfähigkeit der römischen Kurie, dringend notwendige Reformen der Kirche durchzuführen, lassen weithin ein Misstrauen gegen die Autorität und amtliche Füh-

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Teresa von Avila (1515-1582) – eine Mystikerin am Beginn der Neuzeit rung der Kirche aufkommen. Zugleich verursacht der Niedergang der Seelsorge eine erschreckende religiöse Unwissenheit; nicht selten ist die Praxis des Glaubens auf religiöses Brauchtum, Routine und Ritual abgesunken.“1

Diese umfassende Erschütterung der alten Ordnungen und bergenden Räume führt einerseits zu einem Aufblühen von Hexenglauben, Antichrist-Vorstellungen und apokalyptischen Erwartungen und andererseits zu Neuansätzen, wie sie sich in Humanismus und Renaissance zeigen, Bewegungen, die sich an der Schwelle eines neuen Zeitalters glauben und eine optimistische Zukunftsvision vertreten. „Dies ist zumal in Spanien der Fall, wo sich die Situation z.T. ein wenig anders als in den deutschen Ländern darstellt: Gegen Ende des 15. Jahrhunderts findet die Reconquista, die jahrhundertelange Rückeroberung des von Mauren besetzten spanischen Gebietes, mit der Einnahme Granadas ihr Ende. Um die gleiche Zeit entdeckt Christoph Columbus Amerika. Das beispiellose Anwachsen von Reichtum und Macht sowie die ungeheure Ausweitung geographischer und geistiger Perspektiven machen das 16. Jahrhundert für Spanien zu einem ,siglo de oro‘ (goldenen Zeitalter).“2

Mit diesem äußeren Umbruch geht auch ein innerer Umbruch einher. Der ORF gab einem Film über Teresa von Avila und Johannes vom Kreuz den bezeichnenden Titel: „Eroberung des inneren Amerikas“.3 Damit wird deutlich, dass in dieser Zeit vor allem auch der einzelne Mensch vor Gott in den Blick kommt und die Entdeckung seines inneren Reichtums und Lebens. Der Mensch sieht sich in einzigartiger Weise unmittelbar vor Gott gestellt und sucht diese Unmittelbarkeit im eigenen Inneren zu leben und zu erleben. Der Fokus etwa der Exerzitien des Hl. Ignatius von Loyola († 1556) richtet sich auf die Entdeckung und Wahrnehmung der inneren Bewegungen, „denn nicht das Vielwissen sättigt und befriedigt die Seele, sondern das Verspüren (sentir) und Verkosten (gustar) der Dinge von innen her (internamente).“4 (Geistliche Übungen 2) Ziel im Sinne der Unter1 2 3 4

G. Greshake/J. Weismayer (Hg.), Quellen geistlichen Lebens, Bd. III: Die Neuzeit, Mainz 1989, 10. G. Greshake/J. Weismayer (Hg.), Quellen geistlichen Lebens, 10. Erstausstrahlung im ORF am 26.12.1991. Anlass war der 400. Todestag des Johannes vom Kreuz. Ignatius von Loyola, Geistliche Übungen, Freiburg im Breisgau 1991, 15.

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scheidung der Geister ist es, „Auf irgendeine Weise die verschiedenen Bewegungen zu verspüren und zu erkennen, die in der Seele verursacht werden: Die guten, um sie aufzunehmen, die schlechten, um sie zu verwerfen.“5 (Geistliche Übungen 313) Diese Entwicklung war vom Humanismus des 14. und beginnenden 15. Jahrhunderts beeinflusst. Die Humanisten schrieben Wissen nicht dem Intellekt zu, sondern verstanden es als eine totale Erfahrung, die die Gefühle einschloss, das Herz durchdrang, den Willen formte und die gesamte Person zu einer aktiven Reaktion führte. Nach dieser Auffassung musste Wissen subjektiv angemessen sein, um, wie man vielleicht sagen kann, „echtes“ Wissen zu werden. Francesco Petrarca († 1374) empfahl gegen die seiner Meinung nach übermäßige Aufmerksamkeit, die die Scholastiker seiner Zeit der Natur widmeten, den Blick in unser Inneres zu richten und beim Nachdenken darüber, was wir dort finden, besonders ehrlich zu sein und ein strenges Urteil zu fällen.6 Auf diesem Hintergrund wird verständlich, warum die Mystik in der Neuzeit einen neuen Stellenwert bekommt, denn trotz aller Verschiedenheit vorfindlicher Definitionen von Mystik ist doch den meisten Versuchen gemeinsam, dass es um die Erfahrung des Einzelnen mit Gott geht. „Eben dies ist eine der großen Neuentdeckungen der neuzeitlichen Spiritualität, dass sie – in ganz unterschiedlicher Weise – auf breiter Basis eine wesentlich mystische, d.h. eine an der Gotteserfahrung des Einzelnen orientierte Spiritualität ist.“7 Das „Neue“ der Neuzeit ist dabei nicht die Erfahrung des einzelnen Menschen mit Gott, diese ist auch bereits in der mittelalterlichen Mystik prägend (z.B. in der Braut- und Leidensmystik). Das „Neue“ ist, dass auf „breiter Basis“ und als wesentliches Element die persönliche Gottesbeziehung und Gotteserfahrung des Menschen in den Mittelpunkt des Interesses rückt. Daraus ergibt sich eine ansteigende Zahl an Veröffentlichungen von Büchern und Texten, die Anweisungen und Hilfen dazu geben, die persönliche Gemeinschaft mit Gott in Gebet, Betrachtung, Meditation und

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Ignatius von Loyola, Geistliche Übungen, 104. Vgl. W.J. Bouwsma, Die Spiritualität des Renaissance-Humanismus, in: J. Raitt (Hg.), Geschichte der Spiritualität, Bd. 2: Hochmittelalter und Reformation, Würzburg 1995, 246-261, hier 248. G. Greshake/J. Weismayer (Hg.), Quellen geistlichen Lebens, 14.

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Teresa von Avila (1515-1582) – eine Mystikerin am Beginn der Neuzeit

Exerzitien zu leben und einzuüben. Sie wollen auch helfen, die inneren Erfahrungen mit Gott zu „entziffern“ und unterscheiden zu lernen. Hinzu kommen katechetische Elemente der Unterweisung im „rechten Glauben“. H. Bremond stellt für Frankreich fest, dass „die Zahl der gedruckten Gebete jegliche Vorstellungskraft übersteigt und ebenso die Zahl der Ausgaben, in denen man die liebsten Gebete gesammelt hatte.“8 Ähnliches konstatiert A. Schrott für die Entwicklung in Deutschland. Entscheidenden Anteil an dieser Entwicklung und an der Methodisierung der Gebetspraxis hatte der neu gegründete Orden der Jesuiten.9 Als erster ist hier Petrus Canisius zu nennen mit dem Gebetbuch: „Kurtze Erklärung der Fürnemsten Stuck des wahren Catholischen Glaubens. Auch rechte und Catholische Form zu beten“.10 Es erscheint erstmalig wahrscheinlich 1560 in Dillingen.11 Bereits der Titel weist auf eine Eigenart dieses Gebetbuches hin, die Verbindung von katechetischen Belehrungen, Hinweisen zu den Sakramenten (vor allem Beichte und Eucharistie) mit Gebeten in persönlichen Anliegen, zu bestimmten Tagzeiten oder beim Empfang der Sakramente etc., was das Gebetbuch in dieser Zeit zunehmend zu einem „Lehr- und Gebetbuch“ macht.12 Die Tagzeiten treten in vielen Gebetbüchern dieser Zeit ganz zurück, Marien- und Heiligengebete werden bedeutend eingeschränkt, man sucht, beeinflusst von Humanismus und Protestantismus, den Anschluss an die Schrift. Sorgfältig sammeln die Verfasser Gebete aus der Hl. Schrift oder verfassen selbst Gebete, die sich eng an die Hl. Schrift anschließen. Auch Vätergebete werden geschätzt. Gleichsam um die Echtheit seiner Gebetsformeln zu beweisen, zitiert der Verfasser, vielfach ge-

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H. Bremond, Histoire littéraire du sentiment religieux en France, Bd. X, Paris 1932, 227 (Übs. vom Vf.). Vgl. A. Schrott, Das Gebetbuch in der Zeit der katholischen Restauration, in: Zeitschrift für Katholische Theologie 61 (1937), 1-28 u. 211-257, hier 7 und Anm. 19. Vgl. A. Schrott, Das Gebetbuch, 211. Vgl. A. Schrott, Das Gebetbuch, 211 und Anm. 3. Vgl. A. Schrott, Die Reform des Trienter Konzils im Spiegel der nachfolgenden Andachtsliteratur, in: G. Schreiber (Hg.), Das Weltkonzil von Trient. Sein Werden und Wirken, Bd. I, Freiburg im Breigau 1951, 349-357, hier 350f.

P. Michael Plattig

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nau und mitten ins Gebet eingefügt, Buch, Kapitel und Vers der Schrift oder des Kirchenvaters.13 Damit ist bereits eine weitere Entwicklung angesprochen, die mit dem Humanismus einhergeht, nämlich die wachsende Bedeutung der Hl. Schrift und die Beschäftigung mit den Texten der Schrift als literarischen Produkten. Die humanistische Philologia verlangte, die Texte als die Werke einzelner Autoren zu behandeln. Im Hinblick auf die Evangelien bedeutete die humanistische Textauffassung, sie als je eigene Werke zu betrachten, anstatt sie, wie Johannes Gerson († 1429) es in seinem Monotesseron getan hatte, alle in eine fortlaufende Erzählung einzubinden. Im spätmittelalterlichen spirituellen Schrifttum lag der Schwerpunkt auf dem Leben Christi und nicht auf den Texten, durch die es vermittelt wird. Die Vita Christi Ludolphs des Kartäusers († um 1377) z.B. befasst sich mit bestimmten Ereignissen in einer Weise, die es gleichgültig erscheinen lässt, welches Evangelium zitiert wird. Im Gegensatz dazu sind etwa Jacques Lefèvre d'Étaples († 1536) Commentarii Initiatorit in Quattuor Evangelia (Einführende Kommentare in die vier Evangelien von 1527), wie der Titel bereits anzeigt, Kommentare zu den aufeinanderfolgenden Evangelien.14 Der Humanist Lorenzo Valla († 1457) erkannte, „dass es zum Verständnis eines Textes notwendig sei, die Kultur zu verstehen, aus der er stammt, und dass dies wiederum profunde Kenntnis der Sprache jener Kultur verlange. Er begriff, dass echte imitatio auf eruditio (Bildung) beruhen müsse. In dieser Erkenntnis lag ein Gespür für die Distanz zwischen Vergangenheit und Gegenwart und für die Einzigartigkeit historischer Augenblicke – was wir historische Perspektive nennen würden. Das Bewusstsein von Zeit und Veränderung in dieser Auffassung trug zu einem Verständnis des Geisteslebens als Prozess, Fortschritt oder Reise bei, und nicht bloß als Übereinstimmung mit einem statischen Ideal, und noch viel weniger als ein Bündel von Verteidigungsstrategien gegen die Vergiftung des Geistes durch die Welt.“15

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Vgl. A. Schrott, Das Gebetbuch, 17, 216 u. 250f. Vgl. J.D. Tracy, Ad Fontes – Zu den Quellen: Das humanistische Verständnis von der Heiligen Schrift als Nahrung für die Seele, in: J. Raitt (Hg,), Geschichte der Spiritualität, Bd. 2: Hochmittelalter und Reformation, Würzburg 1995, 261-276. W.J. Bouwsma, Die Spiritualität des Renaissance-Humanismus, 246-261, hier 249.

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Teresa von Avila (1515-1582) – eine Mystikerin am Beginn der Neuzeit

Dies hat auch Auswirkungen auf das Verständnis des geistlichen Lebens, dessen Frucht ein persönliches spirituelles Wachstum ist, das den Menschen und seine Beziehungen zu Welt und Gesellschaft ergreift und umformt. So gehört zur neuzeitlichen Mystik neben der Erfahrungsdimension des Glaubens auch die umformende Qualität (transformatio) des Lebens aus der Beziehung zu Gott. Teresa von Avila betont in der siebten Wohnung ihrer Inneren Burg, also im Zentrum der Begegnung mit Gott: „Ich sage noch einmal, dass es dazu notwendig ist, euer Fundament nicht nur mit Beten16 und Kontemplation zu legen, denn wenn ihr euch nicht um Tugenden bemüht und sie nicht immer wieder einübt, werdet ihr Zwerginnen bleiben. Und gebe Gott, dass es nur daran liegt, dass ihr nicht wachst, denn ihr wisst bereits, dass abnimmt, wer nicht zunimmt. Ich halte es jedenfalls für unmöglich, dass die Liebe, wo es sie denn gibt, sich damit begnügt, auf der Stelle zu treten.“17 (Wohnungen VII,4,9)

Teresa von Avila, geboren 1515 in Avila und gestorben 1582 in Alba de Tormes, lebte also in einer bewegten Zeit, nicht nur was Spanien anbelangte. Als Karmelitin erkannte sie nach und nach, dass in den überkommenen Strukturen und Formen, in dem von Adelsprivilegien und Ausnahmen geprägten Ordensalltag das geistliche Leben starr und festgefahren war. Ihr eigener Weg in diesen Strukturen und religiösen Vorstellungen, ein Weg geprägt von vielen Umwegen, Krankheiten und Leiden, von Unverständnis und Engstirnigkeit mancher Zeitgenossen, führte sie zu einer intensiven Gottesbeziehung, machte sie zu einer selbstbewussten Frau. So konnte sie die Reform des Karmel mit der ersten Klostergründung 1562 einleiten und erfolgreich durchführen. Fundament ihres Lebens und Kraft ihres Wirkens sind ihre Erfahrungen mit Gott, ihre vertraute Beziehung zu ihm. Das Leben und das Werk Teresas sind Beispiel für eine geerdete und in manchen Aspekten neuzeitlich geprägte Mystik. Dabei ist festzuhalten, dass es sich, wie oben schon angedeutet, nicht um eine völlige „Neuerfindung“ der Mystik in der Neuzeit handelt, sondern eine Fortentwicklung und Pointierung von Elementen,

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Teresa sagt an dieser Stelle „rezar“, nicht „oración“. Ersteres meint bei ihr das Verrichten von Gebeten, das zweite inneres Beten. U. Dobhan/E. Peeters (Hg.), Teresa von Avila. Wohnungen der Inneren Burg, Freiburg im Breisgau 2005, 364f.

P. Michael Plattig

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die sich auch schon in Altertum und Mittelalter finden. Das bei Teresa Bestechende ist ihre Überzeugung, dass jede und jeder eingeladen ist, den geistlichen Weg zu gehen, zur Begegnung mit Gott unterwegs zu sein, und dass sie dafür ihren Schwestern Weisungen und Hilfestellung geben will durch ihre Werke. Mystik ist für Teresa kein exklusiver Weg aufgrund besonderer Berufung, sondern die Grundberufung des Christen, der Christin zur Begegnung mit Gott. Der Weg dorthin ist der des inneren Betens und der Umformung (transformatio). Dabei ist und bleibt die Begegnung mit Gott Geschenk und Gnade, wofür sich der Mensch aber bereiten kann. Im Folgenden sollen einige Elemente und Entwicklungen neuzeitlicher Mystik bei Teresa von Avila ohne Anspruch auf Vollständigkeit aufgezeigt werden.

2. Gott, die Majestät, die zum Freund wird Für Teresa ist ohne Frage Gott der ganz andere, die Majestät, unendlich größer als alle irdischen Könige, Mächtigen und Majestäten: „O König der Herrlichkeit und Herr aller Könige! ... Wie wenig braucht man bei dir Mittelspersonen! Nur durch den Blick auf deine Person sieht man gleich, dass nur du es verdienst, dass man dich Herr nennt, so wie du deine Majestät kundtust. ... Du mein Herr und mein König! Wer könnte jetzt die Majestät darstellen, die du hast! Man kann gar nicht anders, als sehen, dass du in dir selbst ein großer Herrscher bist, denn es ist erstaunlich, diese Majestät zu betrachten. Aber noch mehr erstaunt es, zusammen mit ihr deine Demut zu sehen und die Liebe, die du so einer wie mir erweist. In allem kann man mit dir umgehen und sprechen, wie es uns gefällt, sobald man einmal das erste Erstaunen und die Furcht vor Eurer Majestät verloren hat, wobei freilich eine größere bleibt, dich nur ja nicht zu beleidigen – allerdings nicht aus Angst vor der Strafe, mein Herr, denn die bedeutet nichts verglichen mit der, dich zu verlieren.“18 (Leben 37,6)

Es ist dies die Anerkennung der Souveränität, der Andersartigkeit Gottes. Daraus wächst die Demut und die Gottesfurcht. Die Ehrfurcht wohlgemerkt, nicht die Angst. Teresa sagt es so: „Die Demut, so groß sie auch 18

U. Dobhan/E. Peeters (Hg.), Teresa von Avila. Das Buch meines Lebens, Freiburg im Breigau 2001, 556f.

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Teresa von Avila (1515-1582) – eine Mystikerin am Beginn der Neuzeit

sein mag, beunruhigt, verängstigt und verwirrt die Seele nicht, sondern bringt ihr Frieden, innere Freude und Ruhe.“19 (Weg/Vall. 39,3) Teresa ist gleichzeitig aber auch von der Würde des Menschen überzeugt, denn die Dreifaltigkeit hat in ihm Wohnung genommen:20 „Das ist nicht wie bei anderen Visionen, denn diese Schau hat ihre Kraft vom Glauben her; es ist von solcher Art, daß man nicht daran zweifeln kann, daß die Dreifaltigkeit als Gegenwart und durch ihre Kraft und ihrem Wesen nach in unseren Seelen ist. Es ist von ganz großem Nutzen, diese Wahrheit zu verstehen. Und wie ich so erstaunt war, eine so hohe Majestät in etwas so Niedrigem wie meiner Seele zu sehen, da verstand ich: Sie ist nicht niedrig, Tochter, denn sie ist nach meinem Bild gemacht.“21 (Geistl. Erfahrungsberichte 41)

Die Ehrfurcht, die Anerkennung der Größe Gottes macht den Menschen offen und weit für all das, was Gott ihm schenken will, sie verwischt nicht die Grenzen, sie lässt Gott Gott sein und streckt sich im Bewusstsein eigener Endlichkeit und Bedürftigkeit nach diesem Größeren aus. Die Angst dagegen vor dieser Größe Gottes macht eng und verschlossen, die Angst nimmt dem Menschen den Lebensatem und die Würde als Geschöpf und Ebenbild dieses Gottes. Teresa von Avila betont die Würde und Schönheit der Seele: „Denn wenn wir es recht betrachten, Schwestern, so ist die Seele des Gerechten nichts anderes als ein Paradies, in dem der Herr, wie er selbst sagt, seine Lust hat. ... Ich finde nichts, mit dem sich die große Schönheit einer Seele, ihre Weite und ihre hohe Befähigung vergleichen ließe. Und wahrlich, unsere Einsicht und Verstand – so scharfsinnig sie sein mögen – reichen schwerlich aus, sie zu begreifen, genauso wenig wie sie Gott sich auszudenken vermögen; denn er selbst sagt, dass er uns schuf nach seinem Bilde. Ist dies wirklich so – und es ist so –, dann brauchen wir uns nicht abzumühen in dem Verlan-

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Karmel St. Josef Hauenstein (Hg.), Teresa von Jesus. Weg der Vollkommenheit, Leutesdorf 1992, 195. Es handelt sich hier um die Übersetzung der Handschrift von Valladolid, einer kürzeren Fassung des Weges der Vollkommenheit (vgl. dazu das Kapitel „Entstehungsgeschichte“ in: U. Dobhan/E. Peeters (Hg.), Teresa von Avila. Weg der Vollkommenheit, Freiburg im Breisgau 2003, 15-25). Vgl. zum Motiv der „Einwohnung Gottes“: M. Plattig, „Gottes Tempel ist heilig, und der seid ihr“. Gottes Wohnung unter den Menschen, in: Meditation 29 (2003), 2-7. U. Dobhan/E. Peeters (Hg.), Teresa von Avila. Gedanken zum Hohenlied, Gedichte und kleinere Schriften, Freiburg im Breisgau 2004, 259.

P. Michael Plattig

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gen, die Schönheit dieser Burg zu erfassen. Obgleich zwischen ihr und Gott der Unterschied besteht, der den Schöpfer trennt vom Geschöpf – da sie ja etwas Erschaffenes ist –, so genügt doch das Wort Seiner Majestät, dass sie nach seinem Bilde geschaffen ist, um die große Würde und Schönheit der Seele uns als kaum fassbar erscheinen zu lassen.“22 (Wohnungen 1,1)

Gottes Wohnen im Menschen ist nicht statisch, nicht gleichsam verschlossen im Tabernakel des Herzens, sondern es ist ein dynamisches Geschehen, ein Wandel durch einen Garten, eine musevolle Einkehr, und es bereitet Gott und dem Menschen Gefallen und Lust. Gottes Wohnen beim Menschen ist erfüllend und lustvoll. Aufgrund eigener, schmerzlicher Erfahrung mahnt Teresa ihre Schwestern: „Hütet euch also, Töchter, vor manchen Demutsempfindungen, die euch der Böse in Form von großer Unruhe über die Schwere vergangener Sünden einflüstert: ‚Ob ich es wohl verdiene, mich dem Sakramente zu nähern?‘ ‚Ob ich mich wohl richtig vorbereitet habe?‘ ‚Ich tauge nicht, um unter guten Menschen zu leben‘ – so ähnliche Gedanken, die man durchaus schätzen soll, wenn sie mit innerer Ruhe und Wonne und dem guten Gefühl verbunden sind, die die Selbsterkenntnis mit sich bringt. Wenn sie aber mit Verwirrung und Unruhe und seelischer Bedrängnis und der Unfähigkeit zur Beruhigung der Gedanken verbunden sind, dann glaubt, dass es eine Versuchung ist,

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F. Vogelgsang (Hg.), Teresa von Avila. Die innere Burg, Zürich 1979, 21. Ausnahmsweise greife ich hier bewusst zu einer älteren Übersetzung und benutze nicht die bisher zitierte Reihe (U. Dobhan/E. Peeters (Hg.), Wohnungen), denn in dieser ist hier wieder nur allgemein von „Freude“ und nicht von „Lust“ die Rede, obwohl das im Spanischen verwendete Wort „deleites“ mit „Ergötzung, Wonne, Vergnügen, Wollust, Sinnenlust“ wiederzugeben ist. Leider teilt diese neue Übersetzung offensichtlich die häufig vorfindliche Scheu vor dem Gebrauch erotischer Sprache. Sie schließt sich damit der Einheitsübersetzung an, die Spr 8,31, darauf bezieht sich Teresa, übersetzt: „Ich spielte auf seinem Erdenrund, und meine Freude war es bei den Menschen zu sein.“ Im hebräischen Original steht allerdings auch hier ein Wort, das die Interlinearübersetzung mit „Wonne“ bzw. „Ergötzungen“ wiedergibt (vgl. M.R. Steurer, Das Alte Testament. Interlinearübersetzung Hebräisch-Deutsch und Transkription des hebräischen Grundtextes, Bd. 5, Holzgerlingen 2003, 44). Diese seltsam prüde Scheu der Übersetzer und Übersetzerinnen ist ärgerlich, weil sie auf Kosten der Lebendigkeit des Textes geht!

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Teresa von Avila (1515-1582) – eine Mystikerin am Beginn der Neuzeit und haltet euch nicht für demütig, denn das kommt nicht davon.“23 (Weg 67,5)

So rät Teresa ihren Schwestern: „Man lasse ab von gewissen Anwandlungen von Scheu, die manche Leute haben und für Demut halten. Jawohl, denn die Demut besteht nicht darin, eine Gnade, wenn der König sie einem erweist, nicht anzunehmen, sondern sie anzunehmen, im Bewusstsein, wie unverdient sie euch zuteil wird, und euch daran zu freuen. Eine saubere Demut wäre das, den Gebieter des Himmels und der Erde bei mir zu haben, dass er also zu mir ins Haus kommt, um mir Gnade zu erweisen und sich an mir zu freuen, ich aber aus Demut weder auf ihn eingehen noch bei ihm bleiben möchte, sondern ihn allein lasse, und dass ich, wenn er mir immer wieder sagt, ihn zu bitten, aus Demut bedürfnislos bleibe, und ihn sogar wieder gehen lasse, weil er sieht, dass ich mit meinen Entschlüssen zu nichts komme! Sorgt euch nicht um solche Demutserweise, Töchter, sondern sprecht mit ihm wie mit einem Vater, einem Bruder und einem Herrn, mal auf diese, dann auf jene Weise; er wird euch schon beibringen, was ihr zu tun habt, um ihm zu gefallen. Hört auf, euch dumm anzustellen. Nehmt ihn beim Wort, denn er ist euer Bräutigam, der euch dann auch entsprechend behandeln soll. Schaut, es liegt für euch viel daran, diese Wahrheit richtig begriffen zu haben: dass der Herr in unserem Innern weilt und wir da bei ihm sein sollen.“24 (Weg 46,3)

Teresa ermutigt ihre Schwestern zu einem familiären Umgang mit Gott besonders im Beten. Es bedarf keiner besonderen Worte, keiner außergewöhnlichen Haltung oder besonderer Verfasstheiten, um mit Gott in Kontakt zu treten, um mit ihm zu sprechen. Es ist also ein freies Gebet aus freiem Herzen gemeint, dessen Basis das Vertrauen (der Glaube) ist. Viele Männer der Zeit trauten dies gerade Frauen nicht zu oder hielten es für verdächtig, wenn Frauen so beteten. Francisco de Osuna († ca. 1541), dessen Drittes geistliches ABC für Teresa eine wichtige Lektüre darstellte, schreibt in seinem 1531 erschienenen Werk Norte de Estados: „Sobald du siehst, dass deine Frau hin- und herwallfahrtet und sich Andächteleien hingibt und sich einbildet, heilig zu sein, dann schließ deine Haustür ab. Und wenn das nicht reichen sollte, dann brich ihr das Bein, wenn sie noch jung ist, denn hinkend kann sie auch von ihrem Haus aus ins Paradies kommen, ohne verdächtigen Frömmig-

23 24

U. Dobhan/E. Peeters (Hg.), Weg der Vollkommenheit, 302. U. Dobhan/E. Peeters (Hg.), Weg der Vollkommenheit, 237f.

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keitsübungen nachzugehen. Für die Frau reicht es, eine Predigt zu hören, und ihr, wenn sie mehr will, ein Buch vorzulesen, wenn sie spinnt, und sich der Hand ihres Mannes zu unterstellen.“25

Auf diesem Hintergrund wird erst richtig deutlich, wie mutig und „revolutionär“ Teresas Reformbestrebungen waren.

3. Das innere Beten Teresa kommt zu dieser Überzeugung durch die Betrachtung der Menschheit Jesu, durch die Orientierung an der biblischen Botschaft und durch ihren inneren Dialog mit Gott, den sie folgendermaßen beschreibt: „Denn meiner Meinung nach ist inneres Beten nichts anderes als das Verweilen bei einem Freund, mit dem wir oft allein zusammenkommen, einfach um bei ihm zu sein, weil wir sicher wissen, dass er uns liebt.“26 (Leben 8,5) Diese Definition führt nun bei Teresa nicht zu einer abgehobenen Innerlichkeit, sondern sie unterstreicht, dass inneres Beten und Arbeiten, also innerliches und äußerliches Tun sich ergänzen und nicht gegeneinander ausgespielt werden dürfen: „Also, meine Töchter, auf! Den Kopf nicht hängen lassen! Wenn euch der Gehorsam Beschäftigung mit äußeren Dingen aufträgt, dann versteht, dass der Herr zwischen den Kochtöpfen weilt, falls es in der Küche ist, und euch innerlich und äußerlich hilft.“27 (Buch der Gründungen 5,8)

Ein Text, der schmunzeln lässt, der aber in einfacher Form deutlich macht, worum es Teresa geht. Für sie gibt es keine Trennung von Gottesdienst und Weltdienst, von heilig und profan, von Sonntag und Alltag in ihrer Gottesbeziehung, sondern diese Beziehung ist eine ganzheitlich totale, alles umfassende und alles verbindende, deshalb heil und ganz machende, liebende Beziehung zu einer Person, mit der sie in ständigem Kontakt und Dialog steht. 25 26 27

Zitiert nach: U. Dobhan, Gott-Mensch-Welt in der Sicht Teresas von Avila, Frankfurt am Main 1978, 53. U. Dobhan/E. Peeters (Hg.), Das Buch meines Lebens, 156f. U. Dobhan/E. Peeters (Hg.), Teresa von Avila. Das Buch der Gründungen, Freiburg im Breisgau 2007, 137.

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Teresa von Avila (1515-1582) – eine Mystikerin am Beginn der Neuzeit

Teresa praktiziert und lehrt eine „Christologie von unten“, die sich nicht in abstrakten Begriffen und philosophisch-theologischen Überlegungen verstrickt und dabei Gefahr läuft, das Eigentliche zu übersehen, sondern die den Menschen Jesus von Nazareth in die Mitte stellt. Teresas Betrachtung des biblischen Jesus wirkt sich aus. Im menschlichen Antlitz Jesu zeigt sich, wie Gott ist, sein Handeln macht Gottes Handeln sichtbar. Dabei geht es um den ganzen Jesus, der das menschlichste Antlitz als Leidender und Sterbender trägt, weil darin Gottes Hinwendung zum Menschen ihren tiefsten und überzeugendsten Punkt erreicht. So ist es keineswegs ein Zufall, dass die Begegnung mit dem leidenden Christus im Leben Teresas zu einem Wendepunkt wird: „Meine Seele lebte schon ganz müde dahin, aber die schlechten Gewohnheiten, die sie an sich hatte, ließen sie nicht in Ruhe, obwohl sie das wollte. Da geschah es mir, dass ich eines Tages beim Eintritt in den Gebetsraum ein Bild sah, das man zur Verehrung dorthin gebracht und für ein Fest, das im Haus gefeiert wurde, aufgestellt hatte. Es war das Bild eines ganz mit Wunden bedeckten Christus und so andachterweckend, dass es mich beim Anblick zuinnerst erschütterte, ihn so zu sehen, denn es stellte gut dar, was er für uns durchlitten hatte. Das, was ich empfand, weil ich mich für diese Wunden kaum dankbar gezeigt hatte, war so gewaltig, dass es mir war, als würde es mir das Herz zerreißen. Aufgelöst in Tränen warf ich mich vor ihm nieder und flehte ihn an, mir ein für allemal Kraft zu geben, ihn nicht mehr zu beleidigen.“28 (Leben 9,1)

Dieser Text macht deutlich, dass es sich bei der Betrachtung nicht um einen distanziert-intellektuellen Vorgang handelt, sondern dass sie ganzheitlich ist und deshalb Denken und Empfinden, Herz und Hirn, Verstand und Willen einschließt, so dass Teresa, durch das Bild angerührt, im Mitleiden Tränen vergießt. Aus dieser Betrachtung, aus diesem inneren, freundschaftlichen Gespräch lebt sie und erwächst ihr die Kraft zum Widerstand gegen die Widrigkeiten ihrer Zeit und zu ihrem Reformwerk. Für Teresa geschieht die Begegnung mit dem menschgewordenen Sohn Gottes Jesus Christus nicht nur in der Betrachtung der Hl. Schrift, 28

U. Dobhan/E. Peeters (Hg.), Das Buch meines Lebens, 163. Die hier geschilderte Episode, die die endgültige Bekehrung (sog. „Zweite Bekehrung”) Teresas markierte, dürfte während der Fastenzeit 1554 stattgefunden haben; sie war damals 39 Jahre alt.

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„sondern ganz real im Empfang der heiligen Kommunion. Die Gegenwart der Menschheit des Erlösers im Allerheiligsten Sakrament des Altares hatte für Teresa eine ganz entscheidende Bedeutung und wurde von ihr im Glauben real erfahren.“29 „Der Herr hatte ihr [Teresa] einen so lebendigen Glauben geschenkt, daß sie innerlich lächelte, wenn sie andere sagen hörte, sie hätten gern zu der Zeit gelebt, als Christus, unser höchstes Gut, auf Erden weilte; sie fragte sich, warum ihnen das wohl etwas ausmache, da wir ihn doch im Allerheiligsten Sakrament ebenso wirklich wie damals besitzen!“30 (Weg/Vall. 34,7)

Für Teresa, das wurde deutlich, ist die Gottesbeziehung so grundlegend und entscheidend für ihr Leben, dass für sie Beten, also die Pflege dieser Beziehung, ein Grundakkord ihres Lebens ist, ein Grundthema, das sich in tausendfacher Variation wiederholt und sie ständig beschäftigt. Sie steht damit in der alten Tradition des Karmel, dem „Wandel in der Gegenwart Gottes“ oder, nach dem Wort des Propheten Elija: „Gott lebt, vor dessen Angesicht ich stehe“31 (1 Kön 17,1), dem „Stehen vor Gott“. Dies meint, dass Gebet nicht eine gelegentliche Beschäftigung ist, sondern dass Beten eine das Leben prägende Grundhaltung des Menschen sein soll bzw. werden soll. Im Zentrum der Karmelregel steht die Mahnung „Jeder soll für sich in seiner Zelle oder in deren Nähe bleiben, Tag und Nacht über die Weisung des Herrn nachsinnend (meditantes) und im Gebete wachend, es sei denn, dass er durch andere, begründete Verrichtungen in Anspruch genommen ist.“32

Das Leben des Herrn betrachten, ihn immer neben sich haben, so sagt es Teresa: „Dieser unser Herr ist es, durch den uns alle Wohltaten zukommen ... Er wird Euch unterweisen. Wenn ihr sein Leben anschaut, ist er das beste Beispiel. Was wollen wir denn mehr von einem so guten Freund an der Seite, der uns in den Mühen und Bedrängnissen nicht 29 30 31 32

M.A. Sondermann, Teresa von Avila begegnen, Augsburg 2007, 144. Karmel St. Josef (Hg.), Teresa von Jesus. Weg der Vollkommenheit, Leutesdorf 1992, 174. Text in der Fassung der Vulgata. Vgl. K. Waaijman, Der mystische Raum des Karmel. Eine Erklärung der Karmelregel, Mainz 1997, 24f.

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Teresa von Avila (1515-1582) – eine Mystikerin am Beginn der Neuzeit im Stich lässt, wie es die von der Welt tun? Glückselig, wer ihn wirklich liebt und ihn immer neben sich hat.“33 (Leben 22,7)

Im Buch der Gründungen wird immer wieder deutlich, wie Teresa all ihr Tun, alles, was ihr begegnet in Beziehung zu Gott bringt, aus ihrer Beziehung zu Gott heraus sieht und beurteilt: „Nun, nachdem ich also die Erlaubnis besaß und mir das Haus zugesichert war, brach ich im Vertrauen auf das Erbarmen Gottes dorthin auf (denn dort gab es niemanden, der mir angesichts des vielen, das für das Herrichten des Hauses nötig war, mit etwas hätte helfen können) ...“34 (Buch der Gründungen 18,3) „Einmal kam mir der Gedanke, ob man mir wohl auftragen würde, ein bestimmtes Kloster zu reformieren und das verursachte mir Kummer. Da verstand ich: Wovor fürchtet ihr euch? Könnt ihr denn mehr verlieren als euer Leben, das ihr mir schon so oft angeboten habt? Ich werde euch schon helfen. Das geschah bei einem Gebet, und zwar derart, dass meine Seele eine große Zufriedenheit erfuhr.“35 (Geistl. Erfahrungsberichte 40)

Teresa gebraucht ein Bild: „O Größe Gottes! Wie zeigt sich deine Macht darin, einer Ameise Kühnheit einzuflößen!“36 (Buch der Gründungen 2,7) Teresa von Avila begnügt sich nicht mit der Weitergabe ihrer eigenen Erfahrungen an die Schwestern, sie geht auch konzeptionell neue Wege. In den Konstitutionen37 für die neu gegründeten Schwesternklöster versucht sie, die Bedeutung des inneren Betens auch in der Struktur des Tages, als Übung der Gemeinschaft zu verankern. Eine Stunde inneren Gebets am Morgen: „Im Sommer sollen sie um 5 Uhr aufstehen und bis um 6 Uhr im inneren Gebet verweilen. Im Winter38 sollen sie um 6 Uhr aufstehen und bis um 7 Uhr im inneren Gebet verweilen ...“39 (Konstitutionen 2)

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39

U. Dobhan/E. Peeters (Hg.), Das Buch meines Lebens, 326. U. Dobhan/E. Peeters (Hg.), Das Buch der Gründungen, 260. U. Dobhan/E. Peeters (Hg.), Gedanken zum Hohenlied, 258f. U. Dobhan/E. Peeters (Hg.), Das Buch der Gründungen, 107. Zur Entstehung der Konstitutionen vgl. U. Dobhan/E. Peeters (Hg.), Gedanken zum Hohenlied, 385-401. Die Einteilung in Sommer und Winter entspricht der Einteilung in NichtFastenzeit (von Ostern bis zum Fest Kreuzerhöhung, das am 14. September begangen wird) und Fastenzeit (von Kreuzerhöhung bis Ostern). U. Dobhan/E. Peeters (Hg.), Gedanken zum Hohenlied, 403.

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Etwa eine Stunde „geistliche Lesung“ nach der Vesper: „Um zwei Uhr werde die Vesper gebetet, außer in der Fastenzeit, in der sie um elf Uhr gebetet wird. Wenn sie um zwei Uhr gebetet wird, sollen die Schwestern nach Beendigung der Vesper eine Stunde lang geistliche Lesung halten; in der Fastenzeit ist diese Stunde geistliche Lesung um zwei Uhr.“40 (Konstitutionen 6)

Eine Stunde inneres Gebet am Abend: „Eine Stunde bevor sie die Matutin beten, werde zum inneren Beten geläutet. In dieser Stunde inneren Betens kann man geistliche Lesung halten, wenn ihnen in der Stunde nach der Vesper mehr danach zumute war, inneres Beten zu halten. Das sollen sie so machen, wie sie sehen, dass es ihnen hilft, sich zu sammeln.“41 (Konstitutionen 7) „Wenn Schwestern, die Ämter innehaben, eine Stunde, in der sie inneres Beten halten, entgehen sollte, dann sollen sie eine andere Stunde für sich nehmen, die dafür am freiesten ist.“42 (Konstitutionen 42)

Die Freiheit und Rücksichtnahme auf die persönliche Verfassung, die Aufgabe der einzelnen Schwester – statt einer rigorosen Festlegung, die ausnahmslos für alle zu gelten hat – ist in gewisser Weise typisch für den Stil der Konstitutionen Teresas. Zum inneren Gebet versammeln sich die Schwestern im Chor, wobei aber nicht ein gemeinsames Gebet gesprochen wird, sondern jede Schwestern betet, meditiert, betrachtet (u.U. liest) für sich. Es ist also ein persönliches Gebet in Gemeinschaft. Die geistliche Lesung ist Teresa wichtig, gerade im Hinblick auf die geistliche Bildung der Schwestern: „Die Priorin denke daran, daß gute Bücher da seien, insbesondere die Kartäuser, das Flos Sanctorum, der Contemptus mundi, das Oratorium der Ordensleute, die Bücher des P. Luis de Granada und des P. Pedro de Alcántara,43 denn in gewissem Sinn ist diese Nahrung für 40 41 42 43

U. Dobhan/E. Peeters (Hg.), Gedanken zum Hohenlied, 405f. U. Dobhan/E. Peeters (Hg.), Gedanken zum Hohenlied, 407. U. Dobhan/E. Peeters (Hg.), Gedanken zum Hohenlied, 427. Mit Kartäuser sind die Bände der Vita Christi des Kartäusers Ludolf von Sachsen gemeint, die von dem Franziskaner Ambrosio Montesinos übersetzt und 1502-1503 in vier Bänden in Alcalá herausgekommen sind. Mit Flos Sanctorum sind verschiedene Heiligenlegenden gemeint. Die von Martin de Lilio und Pedro de Vega besorgten kamen mehrere Male heraus. Mit Contemptus mundi ist die Nachfolge Christi gemeint, von der es seit 1491 spanische Übersetzungen

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Teresa von Avila (1515-1582) – eine Mystikerin am Beginn der Neuzeit die Seele ebenso notwendig wie die Speise für den Leib.“44 (Konstitutionen 8)

Die Auswahl zeigt, dass Teresa sowohl Werke der Tradition als auch zeitgenössische Autoren empfiehlt. Dies unterstreicht ihr Interesse, aufbauend auf der Tradition eine Antwort auf die geistlichen Herausforderungen ihrer Zeit zu geben. Für Teresa gehört zur Gemeinschaft nicht nur das Gespräch mit Gott, sondern auch das Gespräch miteinander, der Austausch der Schwestern. Sie hebt dafür an zwei Stellen des Tages das Schweigegebot auf bzw. rät der Priorin, dies zu tun: „Nach dem Mittagessen darf die Mutter Priorin alle Schwestern dispensieren,45 damit alle zusammen über das reden können, was ihnen am meisten zusagt, sofern es nicht Dinge außerhalb des Bereiches sind, worüber eine gute Schwester zu reden hat; dabei sollen alle ihre Spinnrocken dabei haben.“46 (Konstitutionen 26) „Nach der Komplet und dem inneren Beten kann die Mutter Priorin, wie oben angegeben, im Winter wie im Sommer dispensieren, so daß die Schwestern zusammen reden und dabei wieder ihre Arbeiten zur Hand haben, wie gesagt wurde; die Zeit sei so bemessen, wie es der Mutter Priorin gut scheint.“47 (Konstitutionen 28)

Der Austausch dient der Förderung der Gemeinschaft und der gegenseitigen Begleitung der Schwestern auf ihrem gemeinsamen Weg. Alle Schwestern sind dabei gleich zu behandeln, es gibt keine Unterschiede der Herkunft oder der Stellung.

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gab. Das Oratorium der Ordensleute (Oratorio de religiosos) des Franziskaners Antonio de Guevara kam zum ersten Mal 1542 in Valladolid heraus. Von Luis de Granada waren zu der Zeit, als Teresa die Konstitutionen schrieb, bereits mehrere Schriften herausgekommen, unter anderen der Libro de la oración y consideración (Buch des Gebets und der Betrachtung), Salamanca 1554, Guia de pecadores (Leitfaden für die Sünder), Lissabon 1556, Memorial de la vide cristiana (Denkschrift für das Leben als Christ), Lissabon 1565, und andere. Von Pedro de Alcántara kann nur sein Tratado de la oración y meditación (Traktat über das Beten und die Meditation) gemeint sein, der zuerst ohne Jahresangabe und 1556 in Lissabon in mehreren Schriften erschienen ist. U. Dobhan/E. Peeters (Hg.), Gedanken zum Hohenlied, 407. Gemeint ist in diesem Fall vom Schweigegebot. U. Dobhan/E. Peeters (Hg.), Gedanken zum Hohenlied, 420. U. Dobhan/E. Peeters (Hg.), Gedanken zum Hohenlied, 421.

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Bezüglich des Gesprächs über die Bedeutung der Familie einer Schwester stellt Teresa in ziemlich scharfem Ton klar: „Das kommt hier nicht in Frage, denn in diesem Haus soll es, gebe Gott, niemals eine Anspielung auf so etwas wie diese Dinge geben: Es wäre die Hölle! Vielmehr soll eine, die höher gestellt ist, ihren Vater seltener in den Mund nehmen; alle haben gleich zu sein. O Kollegium Christi! Dort hatte der heilige Petrus, obwohl er ein Fischer war, mehr zu sagen – und der Herr wollte das so – als der heilige Bartholomäus, der ein Königssohn war.48 Es wußte Seine Majestät, wie man darüber herziehen würde, wer aus besserem Lehm ist, was nichts anderes ist als sich darüber zu streiten, ob er zu Schlamm oder zu Luftziegeln taugt. Mein Gott, welch arge Verblendung! Gott befreie euch, Schwestern, von derartigem Geschwätz, und sei es auch nur zum Spaß, denn ich hoffe auf Seine Majestät, daß er das tut!“49 (Weg der Vollkommenheit 45,2)

4. Geerdete Mystik „Alles war mir nun Mittel, um Gott besser kennen und lieben zu lernen und zu sehen, was ich ihm schuldete, und zu bedauern, was ich für eine gewesen war.“50 (Leben 21,10) Die Grundbewegung der Gottesbeziehung Teresas ist die Liebe. Dabei bleibt sie durchaus realistisch und kritisch, sie lebt und lehrt keine abgehobene Mystik, sondern ihre Mystik ist geerdet und erweist sich in dieser Erdung als echt: „Das sicherste Zeichen, ob wir diese beiden Dinge halten, ist meines Erachtens die treue Einhaltung der Nächstenliebe, denn ob wir Gott lieben, kann man nie wissen (auch wenn es deutliche Anzeichen gibt, um zu erkennen, ob wir ihn lieben), die Liebe zum Nächsten erkennt man aber sehr wohl. Und seid sicher: Je mehr ihr euch da vorankommen seht, um so mehr tut ihr es in der Gottesliebe. Denn die Liebe, die Seine Majestät für uns hegt, ist so groß, dass er als Lohn für die Liebe, die wir dem Nächsten entgegenbringen, auch die zu

48 49 50

Diese Behauptung, die Teresa wohl in irgendeiner Fassung der Heiligenlegende fand, entbehrt jeder geschichtlichen Grundlage. U. Dobhan/E. Peeters (Hg.), Weg der Vollkommenheit, 234f. U. Dobhan/E. Peeters (Hg.), Das Buch meines Lebens, 317.

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Teresa von Avila (1515-1582) – eine Mystikerin am Beginn der Neuzeit Seiner Majestät tausendfach wachsen lässt; daran kann ich nicht zweifeln.“51 (Wohnungen V,3,8)

Dabei geht es nicht um eine „virtuelle“ Wirklichkeit, sondern um eine Realität: „Und diese Liebe, meine Töchter, darf nicht das Produkt unserer Einbildung, sondern muss durch Werke erprobt sein. Denkt aber nicht, dass er unserer Werke bedarf, wohl aber der Entschlossenheit unseres Willens.“52 (Wohnungen III,1,8) Und Teresa wird noch deutlicher: „Dazu ist das innere Beten da, meine Töchter, dazu dient diese geistliche Vermählung, dass ihr immerfort Werke entsprießen, Werke!“53 (Wohnungen VII,4,6) Klingt das nicht sehr nach der „Werkerei“, die die Reformatoren gerade zur Zeit Teresas der kirchlichen Lehre vorwarfen, geht es nicht wieder darum, sich den Himmel zu verdienen? Ganz im Gegenteil. Die Werke werden nicht geleistet zu irgendeinem Zweck oder um sich etwas zu verdienen, sondern die Werke entspringen der Gottesbeziehung. Weil der Mensch sich als so geliebt von Gott erfährt, kann er gar nicht anders als diese Liebe weiterzugeben in Übung der Tugenden und in Werken. Nicht umsonst sind die Zitate der siebten Wohnung der Inneren Burg Teresas entnommen, d.h. dem innersten Zentrum, in dem die Vereinigung mit Gott erfolgt. Wenn sich der Mensch wirklich von diesem allmächtigen Gott als geliebt erfährt, dann können alle „Gotteskomplexe“ wegfallen, dann braucht er nicht zu beweisen, dass er jemand ist, dass er etwas kann. Der Mensch hat dann zutiefst verstanden, dass der Himmel nicht verdient werden kann, dass er ihm aber von einem liebenden Gott geschenkt wird. Und aus dieser Überzeugung entsteht die Gelassenheit und die Freiheit der Kinder Gottes, die Freiheit zum unverkrampften Einsatz für die Menschen und zur absichtslosen, nicht ausbeuterischen Liebe des Nächsten.

5. Christus, Teresa und die Frauen Teresa von Jesus wagte als Frau Neues und Ungewöhnliches, daher war sie doppelt verdächtig. Doch sie lässt sich nicht einschüchtern, sie setzt 51 52 53

U. Dobhan/E. Peeters (Hg.), Wohnungen, 200. U. Dobhan/E. Peeters (Hg.), Wohnungen, 125. U. Dobhan/E. Peeters (Hg.), Wohnungen, 362.

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sich scharf mit der Inquisition auseinander, und sie tut dies im Gespräch mit Gott: „Du, Herr meiner Seele, dir hat vor den Frauen nicht gegraut, als du durch diese Welt zogst, im Gegenteil, du hast sie immer mit großem Mitgefühl bevorzugt und hast bei ihnen genauso viel Liebe und mehr Glauben gefunden als bei den Männern, denn es war da deine heiligste Mutter, durch deren Verdienste – und weil wir ihr Gewand tragen – wir das verdienen, was wir wegen unserer Schuld nicht verdient haben. Reicht es denn nicht, Herr, dass die Welt uns eingepfercht und für unfähig hält, in der Öffentlichkeit auch nur irgendetwas für dich zu tun, was etwas wert wäre, oder es nur zu wagen, ein paar Wahrheiten auszusprechen, über die wir im Verborgenen weinen, als dass du eine so gerechte Bitte von uns nicht erhörtest? Das glaube ich nicht, Herr, bei deiner Güte und Gerechtigkeit, denn du bist ein gerechter Richter, und nicht wie die Richter dieser Welt, für die, da sie Söhne Adams und schließlich lauter Männer sind, es keine Tugend einer Frau gibt, die sie nicht für verdächtig halten. O ja, mein König, einmal muss es doch den Tag geben, an dem man alle erkennt. Ich spreche nicht für mich, denn meine Erbärmlichkeit hat die Welt schon erkannt, und ich bin froh, dass sie bekannt ist, sondern weil ich die Zeiten so sehe, dass es keinen Grund gibt, mutige und starke Seelen zu übergehen, und seien es Frauen (nur weil es Frauen sind).“54 (Weg 4,1)

Kein Wunder, dass dieser Text der Zensur zum Opfer fiel und in der zweiten Fassung des Weges der Vollkommenheit (Handschrift von Valladolid) ganz fehlt. „Als ich einige Tage nach dem, was ich gerade sage, darüber nachdachte, ob die wohl Recht haben, denen es schlecht erscheint, dass ich zum Gründen hinausgehe, und ob es nicht besser sei, wenn ich mich immer dem Beten hingäbe, verstand ich: Solange man lebt, liegt der Gewinn nicht darin, sich mehr Genuss an mir zu verschaffen, sondern meinen Willen zu erfüllen. Mir schien dann, dass wohl das der Wille Gottes sei, was der hl. Paulus über die Zurückgezogenheit der Frauen sagt (Tit 2,5) – was man mir vor kurzem gesagt hatte und ich auch früher schon gehört hatte. Da sagte er mir: Sag ihnen, dass sie nicht nur auf einem Text der Schrift herumreiten, sondern auch andere anschauen sol-

54

U. Dobhan/E. Peeters (Hg.), Weg der Vollkommenheit, 90.

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Teresa von Avila (1515-1582) – eine Mystikerin am Beginn der Neuzeit len, und ob sie mir denn die Hände binden könnten.“55 (Geistl. Erfahrungsberichte 16)

Teresas Gründungstätigkeit gab jahrelang Anlass zu heftigem Widerspruch, da man darin einen Verstoß gegen die strengen Klausurgesetze des Konzils von Trient sah.56 Teresa ist klug genug, sich nicht auf eine sachliche Diskussion einzulassen – die sie als Frau verlieren müsste –, sondern sich mit dem Hinweis auf den Willen Gottes zu verteidigen. Mit dieser Antwort, die in einer sakralisierten Gesellschaft noch viel mehr Bedeutung und Gewicht hatte als heutzutage, sagt Christus (oder lässt Teresa Christus sagen), was sie als Frau nicht sagen darf, aber sehr wohl denkt.57

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U. Dobhan/E. Peeters (Hg.), Gedanken zum Hohenlied, 235. Der Ton des Textes ist scharf und autoritär, die Absicht des Konzils ist klar: „In Erneuerung der Konstitution Periculoso Bonifaz’ VIII. schreibt die heilige Synode den gesamten Bischöfen unter Beschwörung des göttlichen Gerichts und unter Androhung ewiger Verdammnis vor, in allen Klöstern, die ihnen unterstellt sind, kraft ordentlicher oder in anderen Klöstern kraft apostolischer Vollmacht mit aller Kraft dafür zu sorgen, dass die Klausur der Nonnen, wo sie verletzt wurde, gewissenhaft wiederhergestellt wird und dass sie dort, wo sie unverletzt ist, erhalten bleibt. Die Ungehorsamen und Widerspenstigen weisen sie durch kirchliche Zensuren und andere Strafen unter Ausschluss jeglicher Appellation und nötigenfalls sogar unter Zuhilfenahme des weltlichen Arms in die Schranken. Solche Hilfe zu gewähren, ermahnt die heilige Synode alle christlichen Fürsten und macht sie allen weltlichen Magistraten unter Strafe der Exkommunikation, der sie ipso facto verfallen, zur Auflage. Keiner Nonne ist es erlaubt, nach der Profess das Kloster auch nur für kurze Zeit – gleich unter welchem Vorwand – zu verlassen, außer aus einem rechtmäßigen, vom Bischof zu billigenden Grund, und zwar ungeachtet aller Indulte und Privilegien. Niemandem ist es erlaubt, ohne die schriftliche Vollmacht des Bischofs oder des Oberen einen Schritt hinter die Klostermauern zu tun, ganz gleich welcher Herkunft oder welchen Standes, welchen Geschlechts oder Alters, und zwar unter Strafe der Exkommunikation, die ipso facto eintritt. In notwendigen Fällen darf nur der Bischof oder der Obere diese Erlaubnis erteilen, und niemandem sonst steht dies in irgendeiner Weise zu, auch nicht kraft einer Erlaubnis oder eines Indults, die bisher gewährt wurden oder in Zukunft gewährt werden.“ (Konzil von Trient, 25. Sitzung [3.-4.12.1563], Durchsetzung der Nonnenklausur, in: J. Wohlmuth (Hg.), Dekrete der ökumenischen Konzilien, Bd. 3, Paderborn 2002, 777f.) Vgl. U. Dobhan/E. Peeters (Hg.), Gedanken zum Hohenlied, 235.

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Wie so oft macht Teresa aus einer Beschränkung einen Gewinn. Sie genoss es, endlich in der Klausur zu sein, d.h. nicht mehr von der Willkür der Bischöfe und Behörden abzuhängen. Die Klausur war für sie und die Schwestern auch ein Schutzraum vor zu viel Einfluss der Männer der Kirche und der Welt. Die Klausur ist für sie der Lebensraum, in dem sie zusammen mit ihren Schwestern ihr Leben nach ihren Vorstellungen gestalten kann, und nicht in erster Linie Trennung von der Welt: „Wer es nicht erlebt hat, wird es nicht glauben, welche Freude uns bei diesen Gründungen zuteil wird, wenn wir uns endlich in der Klausur erleben, wo keine weltliche Person hinein darf. So gern wir sie auch haben, so reicht es doch nicht aus, um von diesem großen Trost, unter uns zu sein, abzusehen. Es ist, glaube ich, wie wenn viele Fische mit einem Netz aus einem Fluss gezogen werden: Sie können nicht am Leben bleiben, wenn man sie nicht ins Wasser zurückwirft. Genauso ergeht es den Seelen, die es gewohnt sind, in den strömenden Wassern ihres Bräutigams zu verweilen: Sie leben nicht wirklich, sobald sie von dort herausgeholt werden und sich in den Netzen der Dinge dieser Welt befinden, bis sie nicht wieder dorthin zurückkehren.“58 (Buch der Gründungen 31,46)

Das Ordensleben sieht Teresa gerade für die Frauen als Freiraum, wenn sie über Schwestern schreibt, die sich zu sehr nach dem Leben außerhalb des Klosters sehnen: „Entweder sie haben diesen Lebensstand nicht allein seinetwegen [Christus] gewählt oder aber sie erkennen, nachdem sie ihn gewählt haben, die große Gunst nicht, die der Herr ihnen erwiesen hat, indem er sie für sich auserwählt und davon befreit hat, einem Mann unterworfen zu sein, der ihnen oftmals ihr Leben ruiniert und gebe Gott, nicht auch ihre Seele.“59 (Buch der Gründungen 31,46)

Damit spricht Teresa etwa drei Monate vor ihrem Tod ganz unverblümt und kritisch die wahre Situation der meisten Frauen im damaligen Spanien, ja der ganzen damals bekannten Welt an.60

58 59 60

U. Dobhan/E. Peeters (Hg.), Das Buch der Gründungen, 456f. U. Dobhan/E. Peeters (Hg.), Das Buch der Gründungen, 457. Vgl. U. Dobhan/E. Peeters (Hg.), Das Buch der Gründungen, 457.

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Teresa von Avila (1515-1582) – eine Mystikerin am Beginn der Neuzeit

6. Beichtväter und geistliche Begleitung Teresa ist der Überzeugung: „In allem braucht es Erfahrung und einen Lehrmeister, denn wenn eine Seele bis zu diesen Grenzen gelangt ist, werden ihr viele Dinge begegnen, über die sie sich mit jemandem besprechen sollte. Hat sie einen gesucht, aber nicht gefunden, wird ihr der Herr nicht fehlen, hat er doch auch mir nicht gefehlt, wo ich doch die bin, die ich bin. Ich glaube nämlich, daß es nur wenige gibt, die zur Erfahrung so großer Dinge gekommen sind; und wenn diese fehlt, ist es umsonst, Abhilfe zu geben, ohne zu beunruhigen und zu bedrängen. Aber das wird der Herr schon auch bedenken. Darum ist es besser (wie ich das schon andere Male gesagt habe, und vielleicht habe ich schon alles gesagt, was ich gerade sage, nur erinnere ich mich nicht mehr so gut, doch sehe ich, daß es sehr wichtig ist), vor allem wenn es sich um Frauen handelt, es mit dem Beichtvater zu besprechen, der aber ein solcher sein sollte. Und es gibt viel mehr Frauen als Männer, denen der Herr diese Gnaden erweist; das habe ich vom heiligen Fray Pedro de Alcántara gehört (und außerdem selbst beobachtet), denn er sagte, daß diese auf diesem Weg viel besser vorankämen als Männer. Dafür gab er auch ausgezeichnete Gründe an, alle zugunsten der Frauen, doch besteht kein Grund, sie hier zu nennen.“61 (Leben 40,8)

Bei aller Wertschätzung für die Erfahrung braucht es nach Teresa auch die kritische und kluge Reflexion der Erfahrung: „So ist es sehr wichtig, dass der Lehrmeister gescheit sei – ich meine, mit gutem Urteilsvermögen – und dass er Erfahrung habe. Wenn er dazu noch studiert ist, dann ist das ein glänzendes Geschäft. Wenn man aber diese drei Voraussetzungen nicht zusammen finden kann, sind die beiden ersten wichtiger, denn Studierte kann man sich immer noch holen, um sich mit ihnen auszutauschen, wenn man das brauchen sollte. Ich meine nur, dass an den Anfängen theologische Bildung wenig nützt, wenn sie kein inneres Beten halten. Ich will nicht sagen, daß sie sich mit Studierten nicht besprechen sollten, denn einen Geist, der sich nicht von Anfang an auf die Wahrheit stützt, hätte ich lieber ohne inneres Beten. Und es ist etwas Großes um die theologische Bildung, denn diese belehrt uns, die wir nicht viel wissen, und spendet uns Licht, und wenn wir dann zu den Wahrheiten der Heiligen Schrift gelangt sind, tun wir, was wir sol-

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U. Dobhan/E. Peeters (Hg.), Das Buch meines Lebens, 608f.

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len. Vor unerleuchteter Frömmigkeit bewahre uns Gott!“62 (Leben 13,16)

Teresa nimmt ausdrücklich Stellung zu der damals hochaktuellen Kontroverse zwischen den „espirituales“ (Menschen, die im Zuge des sehr heterogenen – teils orthodoxen, teils heterodoxen – spirituellen Aufbruchs der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts bewusst nach Gotteserfahrung strebten) und den „letrados“ (Theologen, Studierte). Erstere waren oftmals betont antiintellektuell, letztere neigten dazu, allem Streben nach geistlicher Erfahrung als häresieverdächtig zu misstrauen. Teresa versucht zu vermitteln und hebt sich damit von den meisten sonstigen Ordensreformatoren ihrer Zeit ab. Sie widersetzt sich allen antiintellektuellen Zügen und sucht geistliche Erfahrung mit einer guten theologischen Grundlage zu verbinden. „Und man soll sich nicht täuschen, indem man sagt, dass Studierte ohne inneres Beten nichts sind für den, der es hält. Ich habe mich mit vielen besprochen, denn seit einigen Jahren habe ich aufgrund meines größeren Bedürfnisses noch mehr das Gespräch mit ihnen gesucht, und immer bin ich eine Freundin von ihnen gewesen; selbst wenn manche von ihnen keine Erfahrung haben mögen, so weisen sie doch den Geist63 nicht zurück und sind seiner nicht unkundig. In der Heiligen Schrift, mit der sie umgehen, finden sie nämlich immer die Wahrheit des guten Geistes. Ich bin überzeugt, dass der Böse einen Menschen des Gebetes, der sich mit Studierten bespricht, nicht mit Wahnbildern täuschen wird, wenn er sich nicht selbst täuschen will, da ich glaube, dass sie sich vor theologischer Bildung, die mit Demut und Tugend einhergeht, sehr fürchten und wissen, dass sie entdeckt und nur mit Verlust davonkommen werden.“64 (Leben 13,18)

Teresa ist auch klug bezüglich ihrer Schriften, sie legt sich nicht eindeutig fest, um im Falle eines Verhörs durch die Inquisition einen „Interpretationsspielraum“ zu haben. Mit ironischem Unterton schreibt sie: „Immer, wenn es um schwierige Dinge geht, gebrauche ich die Wendung ‚mir scheint‘, obwohl ich den Eindruck habe, dass ich es weiß und die Wahrheit sage; denn falls ich im Irrtum sein sollte, bin ich jederzeit bereit, das zu glauben, was diejenigen sagen, die eine hohe 62 63 64

U. Dobhan/E. Peeters (Hg.), Das Buch meines Lebens, 214f. Im Sinne von „geistlicher Erfahrung“. U. Dobhan/E. Peeters (Hg.), Das Buch meines Lebens, 216.

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Teresa von Avila (1515-1582) – eine Mystikerin am Beginn der Neuzeit Gelehrsamkeit besitzen. Auch wenn sie diese Dinge nicht selber erlebt haben, so verfügen große Gelehrte doch über etwas Besonderes. Da Gott sie als Licht seiner Kirche aufgestellt hat, schenkt er ihnen, wenn es um die Wahrheit geht, die Einsicht, auf dass diese Wahrheit anerkannt werde. Und wenn sie sich nicht Zerstreuungen überlassen, sondern Diener Gottes sind, so werden sie nie erschrecken vor der Größe seiner Taten; denn sie wissen wohl, dass er noch viel, viel mehr vermag. ... Das habe ich sehr oft erlebt. Jedoch habe ich auch mit ängstlichen Halbgelehrten meine Erfahrungen gemacht, die mir sehr teuer zu stehen kamen. Ich glaube jedenfalls, dass der sich die Tür zu solchen Erfahrungen verschließt, der nicht daran glaubt, dass Gott noch viel mehr vermag, und daran zweifelt, dass er es für gut gehalten hat und für gut hält, sie zuweilen seinen Geschöpfen mitzuteilen.“65 (Innere Burg V,1,7f.)

Aufgrund ihrer Erfahrungen ordnet Teresa für ihre neu gegründeten Klöster an, dass jeder Konvent mehrere Beichtväter haben sollte: „Der P. Provinzial (Jeronimo Gratian) will nicht, dass die Nonnen immer nur bei einem Beichtvater beichten, und ich bin derselben Ansicht.“66 Teresa hat ein gesundes Misstrauen gegenüber dem Einfluss von Beichtvätern und ihrer Tendenz in Klöster hineinzuregieren: „Gott bewahre mich vor Beichtvätern, die dieses Amt schon zu viele Jahre versehen.“67 Auch hinsichtlich der Kompetenzen in geistlicher Begleitung ist Teresa skeptisch: „Es wäre für uns die größte Wohltat, wenn im Kapitel die Verordnung erlassen würde, dass die Beichtväter mit den Nonnen über nichts anderes zu verhandeln haben, als ihre Sünden anzuhören. Das Amt des Beichtvaters reicht hin, um die Zurückgezogenheit zu überwachen und dem Provinzial darüber Bericht zu erstatten.“68

65 66

67 68

U. Dobhan/E. Peeters (Hg.), Wohnungen, 85. Brief an Caspar de Villanueva, Juli 1577, zitiert nach: A. Alkofer (Hg.), Theresia von Jesu. Sämtliche Schriften. Briefe 1. Teil, Bd. 3, München 1936, 545. Wer das Verhältnis zwischen Gracian und Teresa kennt, der weiß, dass es eigentlich heißen müsste: „Ich möchte nicht ... und der P. Provinzial ist derselben Ansicht.“ Brief an Gracian, 26.10.1581, zitiert nach: A. Alkofer (Hg.), Theresia von Jesu. Sämtliche Schriften. Briefe 2. Teil, Bd. 4, München 1939, 434. Brief an Gracian, Februar 1581, zitiert nach: A. Alkofer (Hg.), Briefe 1. Teil, 346f.

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Amüsiert schreibt sie an einen Beichtvater, P. Ambrosius Mariano, am 21.10.1576: „Schmunzeln musste ich über Ihre Erklärung, Sie würden sich mit diesem Mädchen schon gleich nach dem ersten Blick auskennen. Denn bei uns Frauen kennt man sich nicht so leicht aus. Manche waren schon viele Jahre Beichtväter weiblicher Personen und haben sich nach dieser langen Zeit darüber entsetzt, dass sie sich so schlecht ausgekannt haben.“69

7. Teresa als geistliche Begleiterin Teresa warnt immer wieder vor Illusionen im geistlichen Leben und vor falschem Eifer. Manchmal helfen ganz pragmatische Anweisungen: „Schreiben Sie der Schwester ... vom heiligen Franziskus, dass sie, wenn die Fastenzeit vorüber ist, der Elisabeth vom heiligen Hieronymus Fleisch zu essen gebe und ihr nicht gestatte zu fasten. ... Bedenken sie, wie lästig den Schwestern dieses Weinen fallen muss und auch das beständige Aufzeichnen [ihrer Offenbarungen], das sie ansehen müssen ...“70

Die Gründerin von vielen neuen Gemeinschaften hat bei der Frage nach der Beurteilung von gewissen Phänomenen wie visionären Offenbarungen oder der „Gabe der Tränen“71 auch die Wirkung auf die Gemeinschaft im Blick. Teresa hat ein gewisses Misstrauen gegenüber häufig auftretenden „außerordentlichen Dingen“, obwohl sie selbst Erfahrungen damit hat und diese durchaus schätzt,72 jedoch mit kritischem Bewusstsein bezüglich der Versuchungen, die damit verbunden sind bzw. sein können: „Da 69 70 71 72

Zitiert nach: A. Alkofer (Hg.), Briefe 1. Teil, 344. Brief an Mutter Maria, 2.3.1577, zitiert nach: A. Alkofer (Hg.), Briefe 1. Teil, 509. Vgl. M. Plattig, Tränengabe: Lexikon für Theologie und Kirche Bd. 10, Freiburg im Breisgau 32001, 165. „Offenbar löst es bei manchen Menschen einen Schrecken aus, wenn sie von Visionen oder Offenbarungen auch nur reden hören. Ich verstehe weder den Grund, warum man das einen so gefährlichen Weg hält, wenn der Herr eine Seele so führt, noch wo diese Verkrampfung herkommt.“ (Buch der Gründungen 8,1) Zitiert nach: U. Dobhan/E. Peeters (Hg.), Das Buch der Gründungen, 172.

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Teresa von Avila (1515-1582) – eine Mystikerin am Beginn der Neuzeit

diese außerordentlichen Dinge so häufig zutage treten, so kommen sie mir verdächtig vor. Mögen auch einige davon echt sein, so halte ich es doch für klüger, nicht viel darauf zu geben.“73 Die Briefe Teresas geben Zeugnis von ihrem Einfühlungsvermögen, besonders wenn Schwestern psychische Probleme hatten: „Sehen Sie zuweilen darauf, sich unter freiem Himmel zu ergehen, wenn Sie gedrückter Stimmung sind; denn dies hindert nicht das Gebet, und wir müssen gegen unsere Schwäche in der Weise ankämpfen, dass die Natur nicht darunter erliegt. Auch dies ist ein Suchen Gottes; denn um seinetwillen nehmen wir ja zu solchen Mitteln unsere Zuflucht, und es ist nun einmal notwendig, dass wir unsere Seele sanft führen.“74

Teresa plädiert für eine sanfte Führung, was aber auch da und dort ein klares Wort und eine sichere Einschätzung verlangt: „Was Ihre Prüfungen betrifft, von denen Sie sprechen, so müssen Sie diese um so weniger achten, je mehr Sie davon zu leiden haben. Denn man sieht ja klar, dass sie von der Schwäche der Einbildungskraft und von krankhafter Körperbeschaffenheit herrühren. ... Hören Sie doch um Gottes Willen auf, weiter Medizin zu nehmen, und sehen Sie darauf, gut zu essen; hüten Sie sich, allein zu sein, und sinnen Sie über nichts nach! Zerstreuen Sie sich, soviel und so gut Sie können!“75

Teresa zeichnet sich aus durch Nüchternheit und Verständnis: „Ich halte sie indessen nicht für böswillig, sondern für eine Betrogene, für eine Person von schwacher Einbildungskraft, die für teuflische Vorspiegelungen empfänglich ist, wie wir es gesehen haben; denn der böse Feind versteht es gut, das Naturell und die geringe Einsicht einer Person zu seinem Vorteil auszunützen. Darum darf man dieser Nonne nicht so viel Schuld beimessen, sondern muss innigstes Mitleid mit ihr haben.“76 „Was die Schwester Elisabeth betrifft, so wird es notwendig sein, dass man sie einige Tage Fleisch essen lässt und ihr die Übung des

73 74 75 76

Brief an Mutter Maria, 4.6.1578, zitiert nach: A. Alkofer (Hg.), Briefe 2. Teil, 36f. Brief an Don Teutonio de Braganza, 3.7.1574, zitiert nach: A. Alkofer (Hg.), Briefe 1.Teil, 152. Brief an Maria Baptista, 2.11.1576, zitiert nach: A. Alkofer (Hg.), Briefe 1.Teil, 365. Brief an Mutter Elisabeth über Sr. Margareta, 3.5.1579, zitiert nach: A. Alkofer (Hg.), Briefe 2.Teil, 131f.

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innerlichen Gebets untersagt ... denn sie hat eine schwache Einbildungskraft; und was sie betrachtet, glaubt sie zu sehen oder zu hören. Indessen mag sie manchmal Gesichte und Ansprachen haben, und so war es auch schon in der Tat; denn sie ist eine sehr fromme Seele.“77

Teresas Kriterien der Unterscheidung der Geister stammen vor allem aus ihrer eigenen Erfahrung, angereichert mit den Ratschlägen und theologischen Kommentaren ihrer Beichtväter. Darin zeigt sich schon der wichtigste Grundsatz, nämlich dass das Erfahrene ins Gespräch gebracht wird. Die Unterscheidungen beziehen sich bei Teresa oft auf Visionen und Offenbarungen: „Nach allem, was ich sehe und aus Erfahrung weiß, ist nämlich nur glaubwürdig, dass es von Gott stammt, wenn es mit der Heiligen Schrift übereinstimmt, doch sobald es auch nur ein bisschen davon abweicht, dann hätte ich, glaube ich, eine unvergleichlich größere Gewissheit, dass es vom Bösen stammt, als ich sie jetzt habe, dass es von Gott stammt, wie groß ich diese auch haben mag. Dann braucht man nämlich nicht mehr nach Anzeichen zu suchen oder wessen Geist es ist, weil dies ein ganz klares Zeichen ist, um zu glauben, dass es vom Bösen stammt. Wenn mir dann die ganze Welt versicherte, dass es von Gott stammt, würde ich es nicht glauben. Es ist eine Tatsache, dass es so aussieht, als würden sich alle Güter verbergen und aus der Seele fliehen, wenn es vom Bösen ist, denn entsprechend lustlos und unstet und ohne jegliche Wirkung verbleibt sie. Denn auch wenn es scheint, dass er gute Wünsche eingibt, so sind diese doch nicht stark. Die Demut, die er zurücklässt, ist unecht, unstet, unempfindsam. Ich meine, dass das verstehen wird, der Erfahrung vom guten Geist hat.“78 (Leben 25,13)

Teresa ist und bleibt sich allerdings der wahren Machtverhältnisse bewusst. Christus ist und bleibt der Herr, der Teufel hat letztlich keine Chance: „Hier sieht man deutlich, mein Jesus, die geringe Macht aller bösen Geister verglichen mit der deinen, und wie einer, der dir zu Gefallen ist, die ganze Hölle mit Füßen treten kann.“79 (Leben 28,9)

77 78 79

Brief an P. Gracian, 23.10.1576, zitiert nach: A. Alkofer (Hg.), Briefe 1.Teil, 354f. U. Dobhan/E. Peeters (Hg.), Das Buch meines Lebens, 367f. U. Dobhan/E. Peeters (Hg.), Das Buch meines Lebens, 406.

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Teresa von Avila (1515-1582) – eine Mystikerin am Beginn der Neuzeit

8. Schlussbemerkung Teresa ist in mancher Hinsicht als Mystikerin der Neuzeit anzusehen. Neben den aufgezeigten Bezugspunkten bleibt ganz zentral ihr Verständnis von Glauben als individuelles und persönlich-personales Beziehungsgeschehen. Dieses Verständnis befreite Teresa nach und nach von aller Erfüllungsmentalität, die etwas tut, weil es Gebot oder Vorschrift und deshalb angstbesetzt ist. In einer freundschaftlichen Beziehung konnte Teresa die Herausforderungen und Zumutungen Gottes als Chancen wahrnehmen zu wachsen und zu reifen. Um dieser Freundschaft willen versuchte sie das weiterzugeben, was sie erfahren hatte. So wäre auch für heute von Teresa zu lernen, dass Weitergabe des Glaubens, Einführung ins Christentum vor allem heißt, die Beziehungsfähigkeit von Menschen auf allen Ebenen zu fördern und zu stärken. Es bedeutet, phantasievoll Räume zu öffnen zur Begegnung mit Gott und den Menschen, es heißt Chancen für Glaubenserfahrungen zu schaffen, die eine positive Gottesbeziehung ermöglichen und falsche Gottesbildprägungen korrigieren können. Dabei bleibt klar, dass Erfahrung nicht machbar ist, dass es immer nur eine Vorbereitung für einen Weg zur Erfahrung gibt, denn eine wirkliche Beziehung kommt nur zustande, wenn alle Beteiligten frei sind und frei bleiben. Für Teresa war Gott nicht ein Denkgebäude, nicht ein Energiefeld oder eine apersonale Macht, sondern ein in Jesus Christus ansichtig gewordenes, personales Gegenüber. Denn nur zu einer Person ist liebende und befreiende Beziehung möglich, nicht zu einer irgendwie gearteten Wirklichkeit. Das war Teresas entscheidende Glaubenserfahrung und gerade deshalb wuchs sie in und durch ihre Beziehung zu Gott in die Freiheit der Kinder Gottes hinein, konnte sie ihr großes Reformwerk mutig vorantreiben, Konventionen hinter sich lassen und für sich und ihre Schwestern über die normalen Möglichkeiten der Zeit hinaus Freiräume und Wachstumsfelder erschließen. Teresa macht am Beginn der Neuzeit eine Erfahrung, die schon sehr alt und in Psalm 18,30 festgehalten ist: „Mit dir erstürme ich Wälle, mit meinem Gott überspringe ich Mauern!“

Markus Thurau

„Der Mystizismus ist ein Akt der Verzweiflung.“ Theologische Reflexionen zu mystischen Phänomenen des 19. Jahrhunderts In der neueren geschichtswissenschaftlichen Forschung hat sich bezüglich des 19. Jahrhunderts, zumindest für den katholischen Bereich,1 die These von der „Feminisierung des Religiösen“ etabliert. Bei aller bestehenden Differenz, was den genauen Inhalt dieser These betrifft, lässt sich allgemein festhalten, dass mit dieser These zum Ausdruck gebracht werden soll, dass sich im Verlauf des 19. Jahrhunderts eine geschlechtsspezifisch unterschiedlich ausgeprägte Frömmigkeit und Religiosität entwickelte, in der „feminine“ Elemente eine besondere Rolle spielten und weiblicher Religiosität eine stärkere Bedeutung in religiösen Zusammenhängen beigemessen wurde.2 1

2

Gegen eine solche These im Protestantismus vgl.: U. Gause, „Friederike Fliedner und die Feminisierung des Religiösen im 19. Jahrhundert“, in: M. Friedrich (Hg.), Sozialer Protestantismus im Vormärz, Münster 2001, 123-132; dies., Kirchengeschichte und Genderforschung. Eine Einführung in protestantischer Perspektive, Tübingen 2006, 156-181. Ebenfalls kritisch: L. Hölscher, „Weibliche Religiosität“? Der Einfluß von Religion und Kirche auf die Religiosität von Frauen im 19. Jahrhundert, in: M. Kraul/C. Lüthi (Hg.), Erziehung der Menschen-Geschlechter. Studien zur Religion, Sozialisation und Bildung in Europa seit der Aufklärung, Weinheim 1996, 45-62. Zum deutschen Forschungsstand vgl.: I.G. von Olenhusen, Die Feminisierung von Religion und Kirche im 19. und 20. Jahrhundert. Forschungsstand und Forschungsperspektiven, in: Dies. (Hg.), Frauen unter dem Patriarchat der Kirchen. Katholikinnen und Protestantinnen im 19. und 20. Jahrhundert, Stuttgart 1995, 9-21; dies. (Hg.), Wunderbare Erscheinungen. Frauen und katholische Frömmigkeit im 19. und 20. Jahrhundert, Paderborn 1995; dies., Feminisierung von Religion und Kirche im 19. und 20. Jahrhundert, in: I. Lukatis/R. Sommer/C. Wolf (Hg.), Religion und Geschlechterverhältnis (Veröffentlichungen der Sektion „Religionssoziologie“ der Deutschen Gesellschaft für Soziologie 4) Opladen 2000, 37-47; B. Schneider, Feminisierung der Religion im 19. Jahrhundert. Perspektiven einer These im Kontext des deutschen Katholizismus, in: TThZ 111 (2002), 123-147. Feminisierung der Religion im 19. und 20. Jahrhundert. 21. Jahrestagung des Schwerter

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„Der Mystizismus ist ein Akt der Verzweiflung“

Die Gründe, die zu einer solchen Entwicklung führten, sind recht vielschichtig, nur die zentralen seien erwähnt: Komplexe und lang anhaltende Säkularisierungsprozesse, in die vor allem Männer involviert waren, haben die Kirchen einer prekären Lage ausgesetzt, in der sich Frauen als stärker traditionell gebunden und damit als systemstabilisierend erwiesen. Die napoleonische Säkularisation sowie die politische, religiöse und soziale Neuordnung im Zuge von Revolution und Krieg, die Aufklärung und ihre Religionskritik, der Positivismus der natur- und sozialwissenschaftlichen Forschung und die mit dem Schlagwort der „Entzauberung der Welt“ bezeichneten Prozesse,3 die kritischen Fragen der historischen Methode, wie sie etwa in der Leben-Jesu-Forschung virulent wurden, ebenso der Übergang zur bürgerlichen Gesellschaft und die damit einhergehende Privatisierung und Familiarisierung der Religion haben dazu beigetragen, dass alte Ordnungen und damit auch geschlechtsspezifische Zuordnungen obsolet wurden und neue Formen der Religiosität gefunden werden mussten. Anwendung fand diese These auch bei der Erklärung mystischer Phänomene des 19. Jahrhunderts, da sich gerade an diesen zeigte, dass trotz aller Popularität, die ihnen eignete, von wenigen Ausnahmen abgesehen die Träger dieser Phänomene durchweg Frauen waren, so dass die Frage nach genuin femininen Elementen sich innerhalb der wissenschaftlichen Erforschung dieser Phänomene zwangsläufig aufdrängte. Im Folgenden soll auf die Feminisierungsthese und die skizzierten Entwicklungen Rücksicht genommen werden. Hierbei soll aber von der anderen Seite her nach der Stichhaltigkeit dieser These gefragt werden: Die Reaktion der Theologen auf diese Phänomene soll im Mittelpunkt der folgenden Überlegungen stehen. Es sei im Zusammenhang damit daran erinnert, dass europaweit Frauen erst im 20. Jahrhundert zum

3

Arbeitskreises Katholizismusforschung vom 16.-18. November 2007, in: AHFInformation, Nr. 221 vom 20.12.2007 (Tagungsbericht). Vgl. hierzu: M. Weber, Wissenschaft als Beruf, in: Ders., Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, Tübingen 1985, 582-613. Wissenschaftlicher Fortschritt und Rationalisierung der Lebensbereiche sind nach Weber Intellektualisierungsprozesse, die den gläubigen Mensch dazu zwingen, das „Opfer des Intellekts“ zu bringen, um weiterhin gläubig zu sein. Ein wissenschaftlicher Zugang zur Welt müsse sich daher jeder Religiosität enthalten, denn Wissenschaftlichkeit und religiöses Heil stehen in einer unüberbrückbaren Spannung zueinander.

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Studium der Theologie zugelassen worden sind und erst seit jüngerer Zeit höhere akademische Titel innerhalb der Theologie erwerben können. Für das 19. Jahrhundert bedeutet dies, dass die gesamte institutionell-amtliche und die gesamte wissenschaftliche Auseinandersetzung und Beurteilung der Phänomene durch Männer erfolgte, die somit innerhalb der Amtskirche alleinige Deutehoheit über diese Phänomene hatten. Hieraus ergibt sich folgende Gliederung: Es sollen in einem ersten Schritt zwei für das 19. Jahrhundert charakteristische und die These von der Feminisierung des Religiösen typisierende Phänomene der Mystik vorgestellt werden. In einem zweiten Schritt sollen dann vier theologische Reflexionen beschrieben werden, die als Reflex auf diese Phänomene anzusehen sind. Auch wenn diese Positionen kaum repräsentativ für das lange 19. Jahrhundert stehen können, so charakterisieren sie doch einige zentrale Entwicklungen und Einstellungen katholischen Denkens jener Zeit. Außerdem können sie exemplarisch zeigen, wie die Theologen zu ihrem Urteil kamen. Der dritte Schritt stellt den Versuch dar, Phänomene und Reflexionen zusammenfassend zu beurteilen.

1.

Die Phänomene

Hinsichtlich der mystischen Phänomene des 19. Jahrhunderts ist zunächst hervorzuheben, dass sie vor allem der Erlebnismystik zuzuordnen sind, so dass auf die eine oder andere Weise sogenannte „außergewöhnliche Begleiterscheinungen“ dieser Mystik beigegeben waren. Die Mystikerinnen wiesen sich den Beschreibungen nach durch körperliche Besonderheiten wie etwa Stigmata, Levitation oder ein Leben ohne Nahrung aus. Sie wiesen in der Regel aber auch bestimmte psychische Besonderheiten auf, wie etwa die visionäre Begabung, die geradezu als zentrales Moment der mystischen Phänomene des 19. Jahrhunderts gewertet werden kann.4

4

Das gilt indirekt auch für den im 19. Jahrhundert große Erfolge feiernden Herz-Jesu-Kult, der sich wesentlich auf die Visionen der französischen Mystikerin Margareta Maria Alacoque (1647-1690) stützt. Die Entwicklung des Kultes im 19. Jahrhundert und seine Bedeutung für den Ultramontanismus hat Norbert Busch herausgearbeitet. Er konnte nachweisen, dass auch hier auf ei-

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„Der Mystizismus ist ein Akt der Verzweiflung“

1.1 Stigmatisierte Frauen Schaut man auf die Mystikerinnen des 19. Jahrhunderts, dann fällt auf, dass häufig ein Doppelphänomen auftrat: Es waren oft visionär begabte Frauen, die in Verbindung mit ihren mystischen Erfahrungen körperliche Begleiterscheinungen aufzeigten, was sich in den häufigsten Fällen in Stigmata, d.h. im Entstehen der Wundmale Christi, ausdrückte. Das wohl berühmteste Beispiel stellt die 1774 im Münsterland geborene Anna Katharina Emmerick dar. Mit 24 Jahren erschien ihr in einer Vision Jesus und bot ihr die Wahl zwischen einem Blumenstrauß und der Dornenkrone. Sie wählte die Dornenkrone, worauf sich zum ersten Mal Blutungen am Kopf zeigten. An diesem Beispiel wird deutlich, wie Vision und Stigma bei ihr zusammenwirkten. Auch kann bereits diese Vision im Gesamtkontext ihres Lebens gedeutet werden: Sie zeigt, dass sie bereit ist, alles Leiden anzunehmen, das sie vom Herrn empfängt. In Verbindung mit den körperlichen Begleiterscheinungen entwickelte sich hieraus eine spezifische Leidensmystik. Kurze Zeit nach der Aufhebung ihres Klosters erkrankte sie schwer und wurde bettlägerig. Ab 1812 traten blutende Wunden an Händen, Füßen und an ihrem Kopf auf. Auf ihrer Brust entstand ein blutendes Doppelkreuz. Frühzeitig wird der Fall sowohl von kirchlicher als auch von staatlicher Seite untersucht, die Echtheit der Wunden kann dabei nicht widerlegt werden. Neben den Stigmata und Visionen muss vor allem die Persönlichkeit der Emmerick in diesem Phänomenkomplex eine Rolle gespielt haben, da auch kritische Geister sich tief von ihr beeindruckt zeigten.5 Der Fall erregte eini-

5

ne geschlechtspezifische Differenz zu achten ist. Vgl. hierzu: N. Busch, Katholische Frömmigkeit und Moderne. Die Sozial- und Mentalitätsgeschichte des HerzJesu-Kultes in Deutschland zwischen Kulturkampf und Erstem Weltkrieg (Religiöse Kulturen der Moderne 6), Gütersloh 1997, insb.: 269-279. Zur Bedeutung der Visionen bei Mystikerinnen vgl.: M. Diers, Das lächelnde Lebendige. Frauen, Vision und Mystik, Innsbruck 1998. So kommt etwa der Theologe Johann Michael Sailer (1751-1832), den Emmerick von der Echtheit ihrer Wundmale überzeugen konnte, zu dem Schluss: „Das Beste an der Sache ist, daß Emmerich [sic!] so truglos und kindlich ist, so unschwärmerisch, so gar kein Gewicht auf sich und ihre Individualität legend als möglich, und man mag von den Zeichen an Händ’ und Füßen denken, was man wolle: die Wundmale Christi trägt sie geistig im Geiste – gewiß.“ Vgl.

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ges Aufsehen, Dülmen wurde sehr schnell zu einem Pilgerort, zu dem etliche Gläubige reisten, darunter hochrangige Persönlichkeiten aus Adel und Klerus, ebenso mehrere Schriftsteller. 1818 besuchte auch Clemens Brentano die Nonne und zeigte sich von ihr derart beeindruckt, dass er fünfeinhalb Jahre bei ihr blieb, bis zu ihrem Tod am 9. Februar 1824.6 Festzustellen, welche Visionen originär von Anna Katharina Emmerick stammten, ist deswegen schwer, weil sie selbst nichts aufgeschrieben hat und daher fast alles durch die umfangreiche religiöse Deutung, die Brentano und andere von ihr gaben, verschattet wird. Die Untersuchungsakten, vor allem die Aufzeichnungen des untersuchenden Arztes Franz Wilhelm Wesener (1782-1832), bieten einen Ansatzpunkt, obgleich auch Wesener nicht als objektiver Augenzeuge gelten kann, da auch er nicht frei von dem Wunsch ist, an dieses Phänomen zu glauben. Wesener beschreibt ihre Visionen vor allem als Visionen der biblischen Geschichte, die sie als Heilsgeschichte sieht und fühlt. So ist ihre Christus- und Kreuzesfrömmigkeit einerseits eine Vergegenwärtigung des realen Leidens, all des geflossenen Blutes, und gleichzeitig ist es eine Teilhabe am eucharistischen Geschehen, in dem sie des Grundes für dieses Geschehen inne wird. Dies alles geschieht für sie derart unmittelbar und konkret, dass es als eine körperliche Begleiterscheinung an ihr sichtbar wird. Man könnte es vielleicht als eine Körper und Geist zugleich erfassende Erfahrung bezeichnen: Wie sie im Nachvollzug der Leiden Christi die Wundmale fühlt und später auch empfängt, ebenso verspürt sie Linderung ihrer Schmerzen durch den Empfang der Eucharistie. Hierzu eine theologische Deutung, die versucht, die Mystik Emmericks nicht für sich zu vereinnahmen: „Das Heilige, die Welt Christi und der Sakramente waren für sie je länger je mehr nicht Gegenstände der anempfindenden Andacht, sondern Wirklichkeiten ihrer Ek-sistenz.“7 Dem eigenen Leid kann sie durch eine solche Leidens- und Christusmystik Sinn geben: Sie

6

7

hierzu: H. Schiel (Hg.), Johann Michael Sailer. Briefe, Bd. II, Regensburg 1952, 445f. Vgl. hierzu: C. Engling/H. Schleiner/B. Senger (Hg.), Emmerick und Brentano. Dokumentation eines Symposiums der Bischöflichen Kommission „Anna Katharina Emmerick“, Dülmen 1983. E. Salmann, Zentrale religiöse Topoi bei Anna Katharina Emmerick. Versuch einer theologischen Annäherung, in: C. Engling/H. Schleiner/B. Senger (Hg.), Emmerick und Brentano. Dokumentation eines Symposiums der Bischöflichen Kommission „Anna Katharina Emmerick“, Dülmen 1983, 44.

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„Der Mystizismus ist ein Akt der Verzweiflung“

leidet mit Christus für die Welt. In diesem Bewusstsein nimmt sie das Leiden an und will für alle leiden: für die Menschen, die auf Irrwegen sind, damit sie wieder zur Kirche finden; für Christus, damit sie ihn besser verstehen und ihm nachfolgen kann; für Gott, damit sie zu seiner Ehre beitrage. Das persönliche Leiden wird hier als christliches Mitleid gedeutet, als ein Leiden mit und in Christus.8 Diese Koinzidenz scheint sie mit einer Innigkeit geglaubt und gelebt zu haben, dass sie damit auch Skeptiker zu überzeugen verstand. 1.2 Marienerscheinungen Ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts häufen sich die Berichte über Marienerscheinungen in einem signifikanten Maß.9 Die bekannteste und typenbildende Marienerscheinung fand in Lourdes statt. Hier erschien 1858 der 14-jährigen Bernadette Soubirous (1844-1879) die Mutter Gottes mit der Botschaft, sie sei die unbefleckt Empfangene.10 Nach ähnlichem Muster lief auch die Marienerscheinung in Marpingen, einem kleinen Ort im Saarland, ab, der als das deutsche Lourdes bekannt wurde. Dort erschien 1876 drei 8-jährigen Mädchen die Gottesmutter.11

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Vgl. auch: J. Adam, Die Leidensmystik A. K. Emmericks, in: C. Engling/H. Festring/H. Flothkötter (Hg.), Anna Katharina Emmerick. Die Mystikerin des Münsterlandes. Symposium 1990 der Bischöflichen Kommission „Anna Katharina Emmerick“, Münster 1991, 149-157. Vgl. hierzu die Sammlung von: G. Hierzenberger/O. Nedomansky, Erscheinungen und Botschaften der Gottesmutter Maria. Vollständige Dokumentation durch zwei Jahrtausende, Augsburg 1993. Vgl. ebenso: B.C. Pope, Immaculate and Powerful: The Marian Revival in the Nineteenth Century, in: C.W. Atkinson/C.H. Buchanan/M.R. Miles (Hg.), Immaculate and Powerful. The Female in Sacred Image and Social Reality (Harvard Women’s Studies in Religion Series 1), Boston 1985, 173-200. Zu ihr: T. Taylor, Bernadette of Lourdes. Her life, death and visions, London 2003. Ausführlich und kritisch dokumentiert wurde der Fall in: D. Blackbourn, Wenn ihr sie wieder seht, fragt wer sie sei. Marienerscheinungen in Marpingen. Aufstieg und Niedergang des deutschen Lourdes, Reinbek 1997. Eine Zusammenfassung findet sich hier: Ders., „Die von der Gottheit überaus bevorzugten Mägdlein“ – Marienerscheinungen im Bismackreich, in: I.G. von Olenhusen (Hg.), Wunderbare Erscheinungen. Frauen und katholische Frömmigkeit im 19. und 20. Jahrhundert, Paderborn 1995, 171-201.

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Der Vergleich dieser und anderer Fälle zeigt, dass seit Lourdes ganz bestimmte Elemente der Marienerscheinung wiederkehren: Es sind meist dörfliche, d.h. von der großen Stadt und ihrem modernen Treiben entlegene Orte, an denen sich die Mutter Gottes zeigte. Es ist darüber hinaus meist eine Region oder eine Zeit, die durch instabile politische Verhältnisse oder kollektive Ängste gekennzeichnet ist. Hungersnöte, Revolutionen, Krieg oder die Industrialisierung sind es, die die Einwohner dieser Regionen bedrohen und verunsichern. Die Beschaffenheit der Natur, in der sich die Vision ereignet, spielt in der Regel auch eine Rolle, es sind besondere natürliche Orte; in Lourdes und anderswo ist es eine Grotte, in Marpingen eine Lichtung im Wald. Ebenfalls ist eine bestimmte Disposition der Personen für die Vision zu beobachten. Oft geht eine psychische Krise oder Konfliktsituation den Visionen voraus. Bei Bernadette ist es die Verarmung und der damit verbundene soziale Abstieg der Familie, bei Margareta Kunz (1868-1905) war fünf Monate zuvor der Vater gestorben, was ebenfalls schreckliche Folgen für die Familie hatte. Ein letzter Punkt, den es anzumerken gilt, ist die Kollektivität dieses Phänomens: Die Visionärinnen teilten ihre Erlebnisse anderen mit, die ihnen recht schnell Glauben schenkten. Erwachsene Menschen auch völlig unterschiedlicher sozialer Schichten schenkten den Visionen Glauben und suchten den Ort der Vision auf. In Marpingen den Wald, in Lourdes die Grotte. Innerhalb kürzester Zeit erhielten diese Orte eine überregionale Bekanntschaft und wurden gesellschaftlich diskutiert. Vor allem in Marpingen zeigte sich, welches politische Potential in diesem Phänomen lag, wie während des Kulturkampfes Politik damit getrieben wurde.12 Dass es sich bei den Marienerscheinungen um ein mystisches Phänomen handelt, das unter der Fragestellung einer Feminisierung der Religion abgehandelt werden kann, zeigt sich nicht nur daran, dass auch hier die Trägerinnen der Erscheinung primär Frauen waren, sondern auch daran, dass das Erscheinende selbst als feminin zu bezeichnen ist. So wird Maria und ihre Botschaft mit Attributen versehen, die sich als

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Zum Vergleich der Formen und Umstände von Marienerscheinungen siehe: P. Dondelinger, Die Visionen der Bernadette Soubirous und der Beginn der Wunderheilungen in Lourdes, Regensburg 2003, 68-78. Vgl. ebenso: D. Blackbourn, Wenn ihr sie wieder seht, 39-103.

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„Der Mystizismus ist ein Akt der Verzweiflung“

weiblich bezeichnen lassen: „barmherzig“, „liebevoll“, „fürsorglich“. Sie tritt auf als „die Königin“, „die Mutter“, „die liebe Frau“.13

2.

Die Reflexionen

2.1 Die Reserviertheit der Aufklärung Die erste Reflexion über die mystischen Phänomene des 19. Jahrhunderts soll am ausführlichsten beschrieben werden, nicht nur weil sie als erste große Position zu Beginn des Jahrhunderts bezeichnet werden kann, sondern auch deswegen, weil sie in deutlichem Kontrast zu den übrigen steht. Sie stammt von Ignaz Heinrich Freiherr von Wessenberg (17741860).14 Der Schüler der Aufklärungstheologen Patriz Benedikt Zimmer, Johann Michael Sailer und Joseph Weber nahm in seiner Eigenschaft als Generalvikar und später als Bistumsverweser tiefgreifende Reformen innerhalb des Bistums Konstanz vor. Theoretisch ein Verfechter des Staatskirchentums bemühte er sich praktisch um eine verbesserte Bildung der Geistlichen, die sich in Predigt und Katechese von wissenschaftlicher Theologie ebenso wie von einem „empfindelnden Mysticismus“15 fernhalten sollten. Daneben lag ihm vor allem die Reform von Katechese und Liturgie am Herzen.16 Seit Jahren aufgrund seiner Re13

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Vgl. hierzu die stark konfessionell geprägte, aber den Marienkult als anthropologische, genderbezogene Frage abhandelnde Studie von G. Miegge, Die Jungfrau Maria. Studie zur Geschichte der Marienlehre (Kirche und Konfession 2), Göttingen 1962, insb.: 201-212. Vgl ebenso: B.C. Pope, Immaculate and Powerful, 192-195. Zu den Attributen vgl.: G. Hierzenberger/O. Nedomansky, Erscheinungen und Botschaften, 548-552. Zu ihm: M. Weitlauff, Ignaz Heinrich von Wessenberg, in: E.L. Kuhn/E. Moser/R. Reinhardt/P. Sachs (Hg.), Die Bischöfe von Konstanz, Bd. 1, Friedrichshafen 1988; A. Holzem, Wessenberg, Ignanz Heinrich von: Theologische Realenzyklpädie 35, Berlin 2003, 662-667. I.H. v. Wessenberg, Autobiographische Aufzeichnungen, in: K. Aland (Hg.), Ignaz Heinrich von Wessenberg. Unveröffentlichte Manuskripte und Briefe, Bd. I/1, Freiburg im Breisgau 1968, 32. Zu seinen vielfältigen Reformbemühungen im Bistum Konstanz vgl.: M.E. Gründig, „Zur sittlichen Besserung und Veredelung des Volkes.“ Zur Modernisierung katholischer Mentalitäts- und Frömmigkeitsstile im frühen 19. Jahrhundert am Beispiel des Bistums Konstanz unter Ignaz H. von Wessenberg, Stuttgart 1997.

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formbemühungen im Konflikt mit Rom stehend, zog sich Wessenberg mit der Auflösung des Bistums Konstanz 1827 ins Privatleben zurück, in welchem er eine reiche literarische Tätigkeit entfaltete und auch zu zeitkritischen Themen Stellung nahm. In diese Zeit als Privatier fällt auch die in drei Heften in Heilbronn erschienene Schrift Über Schwärmerei. Historisch-politische Betrachtungen mit Rücksicht auf die jetzige Zeit (1833f.). Auf wen sich Wessenberg in diesem umfangreichen Werk bezieht, ist nicht immer auszumachen, da für ihn die Schwärmerei alle Bewegungen umfasst, die irrational agieren. So zählt er zwar einige Beispiele von visionär begabten Frauen auf, allerdings sind sie nur Beispiele für das religiöse Schwärmertum insgesamt.17 Die Romantik, in der Wessenberg sich bei der Abfassung des Buches bereits vorfindet, zählt von seinem Standpunkt als aufgeklärter Theologe her mit zu dem kritisierten Schwärmertum. Zwar nennt er auch hier keine Namen, aber dieser neue Umgang mit den irrationalen, gefühlsbetonten Elementen der christlichen Religion ist ihm deutlich Anlass zur Kritik. Der Grundgedanke, von dem Wessenbergs Argumentation ausgeht, besteht in der Überzeugung, dass es in Religionssachen ebenso gefährlich sei, „die Vernunft auszuschließen, als nur die Vernunft zuzulassen. ... Die Vernunft begreift zwar das Göttliche nicht; sie zeigt aber, was unmöglich göttlich seyn könne.“18 Jede Einseitigkeit ist daher verderblich: Wenn nur auf die Vernunft geschaut wird, so Wessenberg, entstehen geradezu notwendig Unglaube, Skeptizismus und allzu große Leichtfertigkeit in Glaubensdingen. Die entgegengesetzte Richtung aber sei der Mystizismus, der in seinem Schaden für die Religion kein geringerer

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Wessenberg nennt bekannte und weniger bekannte Fälle der Kirchengeschichte, verzichtet aber nicht auf die Schilderung der neuesten Fälle gefährlich religiösen Schwärmertums. Hier zählt er vor allem die Protagonisten der Erweckungsbewegungen seiner Zeit auf. So beruft er sich auf den Fall der pietistischen Visionärin Barbara Juliane von Krüdener (1764-1824), der Kreuzigung des visionär und prophetisch begabten Mädchens Margarethe Peter in Wildensbuch (1823), des katholischen Priesters Thomas Pöschel (1769-1837), der die Offenbarungen der bei ihm in Beichte gehenden Magdalena Sickinger verbreitete, mit mystischen Ideen verband und eine breite Anhängerschaft fand. Ebenso kritisiert er Johannes Goßner (1773-1858) und, wenn auch mit mehr Verständnis, den katholischen Priester Martin Boos (1762-1825), der als treibende Kraft der Allgäuer Erweckungsbewegung gilt. I.H. v. Wessenberg, Über Schwärmerei, 142ff.

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Aberglaube sei. Heute, so Wessenberg, neigt man sich wieder in Theologie und Philosophie der Mystik zu: Von den Verirrungen der Vernunft aufgeregt, sucht man Wahrheit auf dem Gebiet der Mystik. Hierüber gilt es mit einigen Begriffsklärungen Klarheit zu schaffen: „Das Wort Mystik stammt von Mysterium (Geheimniß), wodurch das bezeichnet wird, was blos ein Gegenstand des Glaubens, des Ahnens oder der Sehnsucht ist, ohne von den Sinnen oder dem Verstand aufgefasst werden zu können. Die man aber Mystiker nennt, sind solche, die einzig nur dem Geheimnißvollen Werth beilegen und dieses (die Gegenstände des bloßen Glaubens, Ahnens und Sehnens) im Gefühl anschauen und ergründen zu können meinen. Mysticismus ist demnach die Stimmung eines Gemüths, das nach einer Besitzergreifung des Göttlichen, mittelst des bloßen inneren Gefühles ohne Beiziehung der Vernunft strebt, oder eine solche Besitzergreifung voraussetzt. Das Ergebniß der Bestrebungen seines inneren Gefühles nennt der Mystiker innere Anschauung des Göttlichen.“19

An diesen Begriffsklärungen wird das Problem, das Wessenberg in der Mystik sieht, bereits deutlich: Der Mystiker gibt als Erkenntnisquelle sittlicher und religiöser Wahrheiten seine eigenen subjektiven Gefühle und Empfindungen an, eine nur ihm zugängliche Empfänglichkeit für diese Wahrheiten. Der Mystiker vertraut allein diesen und ist nicht mehr in der Lage, Gründe für diese getätigten Glaubensaussagen anzugeben. Er verbreitet damit Anschauungen, die dem Verstand entzogen sind. Zwar ist es Wessenberg verständlich, dass der Mensch nach dem Göttlichen strebe, aber wenn es keine Vernunft mehr gibt, die dieses Streben beurteilt, dann sind diese gemachten Erfahrungen alles Mögliche. Auch wenn dem Gefühl bei Wessenberg Berechtigung gegeben wird, indem z.B. nur das Gefühl Gottesgewissheit ermöglichen und zu einem tugendhaften Leben anspornen kann, so kann dennoch nur die kritische Instanz der Vernunft vor Verblendung und Selbsttäuschung bewahren.20 Es ist daher nach Wessenberg die Pflicht eines jeden, seine Überzeugun19 20

I.H. v. Wessenberg, Über Schwärmerei, 225f. „Die Erfahrungen des Gemüths müssen, woferne sie wahr sind, auf das Erkenntniß-Vermögen (Verstand und Vernunft) sich stützen, und dieses Vermögen und das Gemüth, im Einklang ausgebildet, machen erst den wahrhaft vollkommenen und edlen Menschen. Erst das lebendige Gefühl bewegt den Menschen, das, was die Vernunft billigt oder vorschreibt, zu thun. Wo sein Einfluß fehlt, folgt der Mensch nur zu oft dem Bösen, obgleich ihm die Vernunft das Gute vorhält.“ (I.H. v. Wessenberg, Über Schwärmerei, 432).

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gen und seine Gefühle kritisch zu prüfen.21 Begeisterung, ein Enthusiasmus für große Ideen, für das Wahre, Rechte und Schöne ist notwendig, aber nur die Vernunft kann davor bewahren, dass dieser Enthusiasmus nicht auf Abwege führt. Ein weiteres Zitat Wessenbergs illustriert diese Ansicht: „Je tiefer der Mystiker in Gott sich zu versenken meint, desto mehr läuft er Gefahr, unvermerkt sein liebes Selbst zu vergöttern. Während der gewöhnliche Selbstsüchtling nur die Güter der Welt begehrt, strebt der Mystiker sein Selbst, sein Ich zu Gott zu erweitern, nicht beachtend, daß zwischen dem Endlichen und dem Unendlichen eine Kluft besteht, die nie ganz ausgefüllt werden kann. Gottverähnlichung läßt sich nur als Annäherung zum Unendlichen denken. Nur geheime Selbstsucht treibt den Mystiker an, sich damit nicht genügen zu lassen; nur sie macht ihn glauben, er könne durch eine Geistesanstrengung die Schranken der Endlichkeit überfliegen und schon hier schauen, wovon ihm nur eine Ahnung und Erwartung vergönnt ist. Dieser Glaube gewährt dem Mystiker einen ganz eigenen Genuß, aber es ist kein solcher, der befriedigt, sondern der stets noch heftigeren Durst erweckt. Er will kein Tropfen, er will das Meer selbst sein.“22

Hier wie an anderen Stellen kritisiert Wessenberg vor allem zweierlei: Erstens kritisiert er den Anspruch des Mystikers, das Unvernünftige, weil Unmögliche zu wollen.23 Zweitens die übertriebene Sinnlichkeit des religiösen Erlebens des Mystikers. Diese Kritik ergibt sich direkt aus der ersten, da Wessenberg dem Mystiker unterstellt, er wisse, dass er das Göttliche nicht erreichen könne, so dass er in seinem Tun eigentlich etwas anderes als Gott erstrebe. Für Wessenberg sind die Anstrengungen der Mystiker daher mehr ein Schwelgen im Selbstgefühl denn Ausdruck echter Religiosität. Mystiker sind Menschen, die ihrer Leidenschaften nicht Herr sind, so dass neben geistiger Krankheit vor allem die Genusssucht den Menschen zum religiösen Schwärmer werden lässt. Für Wessenberg versteckt sich dahinter aber auch ein eitles Streben nach Gewissheit. Die propagierte Selbstvernichtung des Mystikers ist für 21 22 23

I.H. v. Wessenberg, Über Schwärmerei, 94. I.H. v. Wessenberg, Über Schwärmerei, 251f. Auf die erkenntnistheoretischen Prämissen kann hier nicht eingegangen werden. Es sei aber angemerkt, dass genau diese Sätze das Problem benennen, vor dem die philosophische Mystikforschung bei der Beurteilung ihres Gegenstandes steht.

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ihn daher Selbstsucht, das Gegenteil eines echt religiösen Lebens. Denn, so Wessenbergs subtile Frage an die Selbstvernichtungsphantasien der Mystiker: Wie können wir anderen etwas Gutes tun, wie könnten wir anderen etwas sein, wenn wir uns selbst nichts wären? Gerade diese Forderung nach Auflösung der eigenen Persönlichkeit in die Gottheit zeige, dass die Mystik dem biblischen Menschenbild widerspreche und der Mystiker sich in der Regel nicht mit dem Glauben der Bibel und der Kirche zufrieden gebe. Hierzu Wessenberg: „Der Mysticismus ist ein Akt der Verzweiflung. Kopfunter stürzt sich der menschliche Geist im Gefühle seiner Kraftlosigkeit in einen Abgrund dunkler Vorstellungen. Keineswegs begnügt sich der Mystiker, nach der klaren Vorschrift des Evangeliums in der gelassenen Tragung der Beschwerden, welche Gott Jedem auflegt, und in der steten Ausübung unbegrenzter Liebe sein Heil zu suchen, alles übrige aber mit vollem Vertrauen der Fügung des ewigen Vaters anheim zu stellen.“24

Ein weiterer Grund, weshalb Wessenberg so energisch gegen den Mystizismus früherer Zeiten und seiner eigenen anschreibt, verdankt sich seiner Katholizität: Die Mystik sei deswegen zu verurteilen, weil sie in sich auf Spaltung von der allgemeinen Kirche abziele. Die Schwärmerei, so Wessenberg, ist die „Mutter der Sekten“.25 Auch hier verfolgt Wessenberg den Weg einer gemäßigten Mitte: „Indem die Mystik durch Separatismus, durch Trennung von der Kirche, sich kund gibt, die alle Darstellungen des Religiösen im Äußeren umfaßt und zusammenhält, löst sich das Band, wodurch der religiöse Mensch mit allen Gleichgesinnten zusammenhängt, und so geht der Haltungspunkt verloren, der die Subjektivität des Einzelnen zügeln muß, wenn sie nicht einerseits in die Abgründe der Schwärmerei und anderseits in die leeren Räume klügelnden Unglaubens sich verlieren soll.“26

Auch in diesem harten Urteil macht sich Wessenbergs Verweis auf die notwendige Ausgeglichenheit von Vernunft und Gefühl geltend. Wessenberg weiß aber nicht nur zu kritisieren, sondern kennt auch Mittel und Wege den verderblichen Einfluss zurückzudrängen, die sich seinen reformerischen Ansichten verdanken. Nach Auffassung Wessen24 25 26

I.H. v. Wessenberg, Über Schwärmerei, 437. I.H. v. Wessenberg, Über Schwärmerei, 21. I.H. v. Wessenberg, Über Schwärmerei, 177.

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bergs verbreite sich die schwärmerische Ansteckung am schnellsten unter einfältigen und ungebildeten Menschen, „bei denen das Bedürfniß starker Gemüthsaufregung und die Neigung zum Wunderglauben“ stärker ausgeprägt ist.27 Dagegen hilft vor allem Bildung, d.h. eine gute Unterweisung im christlichen Glauben. Da Schwärmerei, so Wessenberg an einer anderen Stelle, in „Privatversammlungen“ entsteht, hilft auch eine Stärkung der Kirchlichkeit und Moralität der Gläubigen.28 Trotz dieser heftigen Kritik, die Wessenberg an der Mystik übt, ist der Begriff der Mystik bei ihm nicht durchweg negativ besetzt. So gibt es für ihn eine echte Mystik, die sich der Notwendigkeit der Ausgewogenheit von Vernunft und Gefühl bewusst ist: Eine solche Mystik fördert das Leben in Christus, indem sie zu den christlichen Tugenden animiert und der einzigartigen Heilstat Christi eingedenk macht. Dabei wird sie aber immer der Vernunft einen Platz als kritisches Korrektiv einräumen. Eine solche Mystik ist daher „das seltene Ergebniß einer gleich gemüthlichen und geistigen Bildung, also nur die Gabe von Wenigen.“29 Das Buch Wessenbergs stellt eine dezidierte Kritik religiöser Schwärmerei und mystischer Strömungen durch ein an der Aufklärung geschultes theologisches Denken dar. Schlichtheit legt er dem religiösen Menschen auf, indem er an biblische Frömmigkeit und Vernunfteinsicht appelliert. Ob er damit einen zu hohen Anspruch an die Gläubigen hatte, muss dahingestellt bleiben. Fest steht, dass er den Bedürfnissen der Gläubigen gerecht zu werden suchte, so dass ihm kein kalter Rationalismus vorgeworfen werden kann. Es lässt sich zeigen, dass die Sorge um die Kirche seiner Zeit ihn zu dieser Kritik führte.

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29

I.H. v. Wessenberg, Über Schwärmerei, 114. Mit dem Letztgenannten zeigt Wessenberg, dass er im Mystizismus eine prinzipielle Gefahr für das Christentum sah. Denn über Wahrheit und Wert des Christentums, so Wessenberg, entscheide die Praxis, d.h. das religiöse Leben des Christen (I.H. v. Wessenberg, Über Schwärmerei, 435). I.H. v. Wessenberg, Über Schwärmerei, 246. Wessenberg geht in diesem Zusammenhang auch auf Heilige ein, die als Mystiker galten und die Verzückungen und Visionen hatten. Prominentes Beispiel ist hier Teresa von Avila. Hier hebt Wessenberg ihre kritische Urteilskraft in diesen Dingen hervor und betont entschieden, dass Teresa von Avila nicht wegen ihrer Visionen, sondern wegen ihres frommen Lebenswandels heilig gesprochen wurde. Sein Fazit: Mögen auch die Bilder, die den Heiligen zuteil wurden, echt sein, heller sehen können wir anderen deswegen nicht.

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2.2 Die Faszination der Romantik Alle religiösen Bewegungen und visionär begabten Frauen des frühen 19. Jahrhunderts, die Wessenberg mit aufrichtiger Betroffenheit beschreibt, kennt und beschreibt auch Clemens Brentano Mitte der 1820er Jahre.30 Allerdings kommt er zu einem anderen Urteil hierüber: Brentano gibt der Katholischen Aufklärung, wie sie von Theologen wie Wessenberg betrieben wurde, die Schuld für die schwärmerischen Bewegungen und ihr Sektierertum. So schreibt er in einem Brief an seinen Bruder Christian Brentano (1784-1851): Weil die Priester sich nicht mehr der übernatürlichen Kräfte bewusst gewesen seien, die sie durch Christus verliehen bekommen haben, weil sie den Exorzismus ebenso wie Reliquien und Gnadenbilder vernachlässigt hätten, weil die Theologen den Wunderglauben zu gering und die Wissenschaft zu hoch geschätzt hätten, wandten sich die Menschen von der Kirche ab und suchten die übernatürlichen Wunder außerhalb der Kirche. Ausgangspunkt dieser Überlegungen zu den religiösen Bewegungen seiner Gegenwart ist folgendes Bild: „Es scheint nach schweren, historischen Leiden eine exstatische, hellsehende, prophetische, im Kreis des bloß körperlichen Heils und Unheils so genannte magnetische Affection über Europa ausgegossen worden zu sein, die wie alles Licht und Wasser, das der Erde gegeben wird, sich nach ihren localen Atmosphären und Flussbetten verschieden trübet, färbet und mischet.“31

Rein und ungetrübt kann diese Bewegung nur innerhalb der katholischen Kirche verlaufen. Da diese sie nicht wahrgenommen hat, vermischte sie sich mit anderem. In dieser Deutung kann Brentano auch noch die wildesten Ströme, wie etwa die Kreuzigung in Wildensbuch, die Wessenberg mit Abscheu schildert und die auch für Brentano „schauderhaft und wahnwitzig“ ist, „als Zeugnisse für die selbst natürliche Wahrheit der Katholischen Lehre“ bezeichnen.32

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C. Brentano, Gesammelte Briefe, Bd. II, in: Clemens Brentano’s Gesammelte Schriften, Bd. IX, Frankfurt am Main 1855, 86-92; 125-130. C. Brentano, Gesammelte Briefe, 86. C. Brentano, Gesammelte Briefe, 92. Zur Schilderung des Falles siehe: C. Pestalozzi, Wildenspucher Kreuzigung: Realenzyklopädie für protestantische Theologie und Kirche 21, Leipzig 1908, 283-289.

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Als Wessenberg seine Schrift über die Schwärmerei verfasste, war er kirchenpolitisch bereits gescheitert. Aber auch diese Gedanken zu Mystik und Frömmigkeit passten nicht zu der kirchlichen Erneuerung seiner Zeit. Ein erklärter Gegner seiner Kirchenpolitik,33 der katholische Publizist und Laientheologe Johann Joseph von Görres (1776-1848),34 schlägt auch auf dem Gebiet der Mystik einen deutlich anderen Ton an. Zu Beginn seines fünfbändigen Werkes Die christliche Mystik (1836-1842) entwirft er in prophetisch-apokalyptischen Bildern ein stilisiertes Bild seiner Zeit, deren Krisis darin bestehe, dass dämonische Kräfte Kirche und Gesellschaft bedrohen. Es ist eine implizite Kritik an der Aufklärung und eine recht explizite an der Mythenkritik der neuesten Exegese, wie sie David Friedrich Strauss (1808-1874) in seinem ein Jahr zuvor erschienenen Werk Das Leben Jesu (1835) betrieb. Das Werk von Görres ist damit deutlicher Ausdruck seiner geistigen Epoche: Wie die Katholische Romantik insgesamt eine bewusste Abkehr von der Ideenwelt der Aufklärung darstellt, so stellt sich auch das Buch bewusst gegen die Wunderund Mythenkritik der Aufklärung: Die gesamte Geschichte der Heiligen, der Mystiker und freilich auch Mystikerinnen beweise die Wahrheit des Christentums, indem ihre nicht zu leugnenden Wundertaten die Wunder Jesu und damit die Offenbarung Gottes in Jesus Christus bestätigten. Sein Werk stellt mit diesem Anspruch eine große Apologie der katholischen Kirche dar, der sich in der Folgezeit häufig bedient wurde. Vermittelt durch die Erlebnisse Brentanos in Dülmen, unternahm auch der Münchener Kreis der Romantiker, zu dem Görres gehörte, Pilgerfahrten zu stigmatisierten Frauen.35 Und es scheint, dass gerade diese Phänomene den Ausschlag für sein umfangreiches Werk zur Christlichen Mystik gegeben haben. So widmet er sich umfassend im zweiten Band

33 34 35

R. Bäumer, Görres und Wessenberg. Zur Kritik von Görres an den kirchenpolitischen Vorstellungen Wessenbergs, in: HJ 96 (1976), 123-147. Zu ihm: G. Schwaiger, Görres, Joseph von: Theologische Realenzyklopädie 13, Berlin 1984, 550-552. So fahren Görres und Brentano gemeinsam zu der stigmatisierten Apolonia Filzinger nach Lothringen. Vgl. hierzu: C. Brentano, Gesammelte Briefe, 114-118. Wie sehr die Prominenz des katholischen Milieus von diesen Frauen begeistert war, beschreibt: O. Weiß, Seherinnen und Stigmatisierte, in: I.G. von Olenhusen (Hg.), Wunderbare Erscheinungen. Frauen und katholische Frömmigkeit im 19. und 20. Jahrhundert, Paderborn 1995, 51-82.

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des Werkes der Erleuchtung durch Ekstase und kommt ausführlich auf Visionen und Stigmata zu sprechen. Über Emmericks Visionen schreibt er, sie seien „ein gewaltiges, religiöses Weltepos ... ein weltumkreisender Ocean, der aus verborgener Quelle hinströmt, an der Oberfläche die Pracht seiner Ufer und den ausgelegten Reichtum der Zeiten spiegelt; der innen aber durchsichtig bis zum Grunde den Blick in die Wunderwelt der Tiefe, und den inneren verborgenen Zusammenhang der Dinge öffnet. Die Visionen seien im Ganzen das wunderbarste, reichste, umfassendste, tiefsinnigste und ergreifendste Gesicht, das sich irgend je in dieser Art mystischer Auffassungsweise gebildet, vor dem anschauenden Sinne heraufführt.“36

Noch eindringlicher beschwört Görres die Bedeutung der Tirolerin Maria von Mörl (1812-1868),37 die er mehrfach besucht hat. Nachdem er ihre Stigmata und Ekstasen sehr detailgenau beschrieben hat, kommt er zu dem Schluss: „So [wie eben beschrieben, M.T.] ist es um diese Maria von Mörl beschaffen, der, wie es scheint, in unseren Tagen die Sorge für die ewige Lampe übertragen worden, die im Heiligthume brennt, damit ihr Licht durch Versäumnis nicht erlösche, und der Faden, der sich durch die Zeiten schlingt, nicht abreiße.“

Zwar könne man ein definitives Urteil über eine Person erst nach dem Tod fällen, „[a]ber eine solche Atmosphäre von Wahrheit liegt um diese her, daß man leicht vertrauend sich hingibt und, keine Täuschung fürchtend, gern und sicher in ihrer Nähe weilt. Das ist es eben auch gewesen, was ihre Wirkung auf das Volk begründet und es möglich gemacht, daß sie schon durch ihr bloßes stilles Dasein und ihre rührende Erscheinung jenen mächtigen Einfluß auf dasselbe ausgeübt.“38

Diese Zeilen zeigen zur Genüge, wie sehr Görres von diesen Frauen fasziniert war, so dass nach ihrer Bedeutung im Gesamtkontext des Werkes gefragt werden muss. Das programmatische Vorwort des ersten Bandes 36 37

38

J. Görres, Die christliche Mystik, Bd. II, Regensburg 1837, 349. Ihre Stigmata beschreibt er in demselben Band: Ebd., 453-456. Zu ihr: N. Priesching, Maria von Mörl (1812-1868). Leben und Bedeutung einer „stigmatisierten Jungfrau“ aus Tirol im Kontext ultramontaner Frömmigkeit, Brixen 2004. J. Görres, Mystik II, 510.

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mag hier weiterhelfen: Nach Görres ist die Mystik in der Lage, die Wahrheit der Kirche aufzuzeigen und ein einigendes Band durch alle Zeiten der Kirchengeschichte zu knüpfen. Sie zeige die Fortdauer des Wunderbaren von der biblischen Zeit bis auf unsere Tage: „Gebt die Mystik auf, und die Heiligen schwinden euch dahin; die Wolke von Zeugen, die ihre wunderbaren Wirkungen bezeugt, zieht wie ein Rauch davon, alle Wahrheit der kirchlichen Tradition untergrabend; aller historisch gesicherte Grund ist euch dann unter den Füßen weggezogen.“39

Dieser Mahnung folgend, versucht Görres mit seinem Werk, die Kontinuität und daraus resultierende Gegenwärtigkeit des Wunders zu zeigen. In gleichem Zug wird von ihm Wunder und Weissagung in Geschichte und Gegenwart des Christentums als apologetisches Beweismittel rehabilitiert.40 Damit liefert er einen nicht zu unterschätzenden Beitrag zur Überwindung der von der Aufklärung und ihrer Religionskritik ausgelösten Infragestellung der Beweiskraft von Wundern und Weissagungen. Die Prämisse des von Lessing diagnostizierten „garstig breiten Grabens“ zwischen zufälligen Geschichtswahrheiten und notwendigen Vernunftwahrheiten besteht darin, dass nach Ansicht Lessings im 18. Jahrhundert keine Wunder und Weissagungen mehr geschehen und damit die (historischen) Wunder Jesu etwas anderes sind als Wunder, die jetzt passierten und von jedem Menschen daher geprüft werden könnten. Noch weniger können solche erzählten Wunder, die nur das historisch Vergangene erzählen, Beweis für die Wahrheit des Christentums sein.41 Die Geschichte der Mystik ist für Görres eine Brücke: eine Art historischer Beweis für die Wahrheit des Christentums, eine Art Garant für die Kontinuität der biblischen Zeit mit der heutigen. Die Tatsächlichkeit der Weissagungen und Wunder Jesu erstrahlt in einem neuen Licht, indem sich beide ununterbrochen in der Geschichte der Mystik zeigen. Damals wie heute gibt es sie. Dies ist auch der Grund, weshalb Görres die Stig-

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J. Görres, Die christliche Mystik, Bd. I, Regensburg 1836, XIV. Vgl. hierzu: B. Wacker, Revolution und Offenbarung. Das Spätwerk (1824-48) von Joseph Görres – eine politische Theologie (TTS 34), Mainz 1990, 138-178. G.E. Lessing, Über den Beweis des Geistes und der Kraft, in: H.G. Göpfert (Hg.), G.E. Lessing. Werke, Bd. VIII, Theologiekritische Schriften III, Philosophische Schriften, München 1979, 9-14.

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matisierten und Visionärinnen besucht hat und weshalb Maria von Mörl bei Görres noch Vorrang vor der Emmerick hat, denn Maria von Mörl liefert, da sie noch lebt, den Beweis dafür, dass sich noch heute, für alle nachprüfbar, Wunder in der Welt ereignen.42 Dieses Wunderverständnis war von großer Attraktivität und konnte sich innerhalb der Apologetik durchsetzen, so dass es auch zur Erhellung der Faszination für Lourdes beitragen kann. Fünfzig Jahre nach den ersten Visionen und auf dem Höhepunkt der Pilgerfahrten schreibt man ganz im Geist des Antimodernismus, dass durch die Wunderheilungen von Lourdes alle Modernen und Skeptiker Lügen gestraft werden. Denn: „Es handelt sich hier nicht mehr um Wunder aus alten Zeiten; es sind Tatsachen der Gegenwart. Die Augenzeugen leben noch, man kann sie befragen; die geheilten Personen sind da, man kann sie untersuchen; die Ärzte, die sie in Behandlung hatten, sind zur Stelle, sie können es bezeugen. Da gibt es für Freidenker und Skeptiker, wenn sie ehrlich sein wollen, keinen Ausweg mehr.“43

2.3 Ein wissenschaftlicher Antwortversuch Eine Reflexion, die sich der breiten Rezeption verdankt, die das Buch von Görres in der katholischen Theologie seit der Mitte des 19. Jahrhundert fand, bilden die Arbeiten des Tübinger Theologen Moritz Aberle (1819-1875).44 Aberle war geprägt vom Ultramontanismus seiner Zeit, zeigte aber in seinen spärlichen Veröffentlichungen und in seinen Vorlesungen, dass dies weder die theologische Auseinandersetzung mit den neuesten wissenschaftlichen Ergebnissen seiner Zeit noch die teils positive Rezeption dieser Ergebnisse ausschloss. So beachtete er in der Moraltheologie Erkenntnisse der Psychologie und Sozialwissenschaften, in der neutestamentlichen Exegese solche der Philologie und Geschichtswissenschaften. An seinen Vorlesungsmanuskripten und an mehreren

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Bereits Wacker hat darauf hingewiesen, dass Lessing sich dieser Argumentation hätte stellen müssen, da er versichert, dass, wenn heute noch Wunder geschähen, er ihre Beweiskraft anerkennen müsste. Vgl.: B. Wacker, Revolution und Offenbarung, 158f. G. Bertrin, Lourdes. Historisch-kritische Darstellung der Erscheinungen und Heilungen, Straßburg 1908, 103. (Franz. Ausg.: Ders., Histoire critique des évènements de Lourdes. Apparitions et Guérisons, Paris 1904.) Zu ihm: J. Lauchert, Aberle: ADB 45, München 1900, 682-684.

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Artikeln, die Aberle für die erste Auflage des Kirchenlexikons von Wetzer und Welte geschrieben hat, zeigt sich, dass Aberle, auf die Psychologie und philosophische Anthropologie rekurrierend, sich auch mit sogenannten „außerordentlichen Seelenzuständen“ beschäftigt hat. Ausführlich klassifiziert er diese Zustände in seinem Artikel Verzückung (ecstasis) von 1854.45 Es geht in dem Artikel um Klassifizierbarkeit, Erkennbarkeit und theologische Bedeutung dieser Zustände. Aberle unterscheidet in „natürliche“, „übernatürliche“ und „dämonische“ Ekstase. Während die letzte der Besessenheit zuzurechnen ist und daher weniger im Interesse Aberles steht, geht er äußerst genau auf die natürliche und übernatürliche Verzückung ein. Die Formen der natürlichen Ekstase beschreibt Aberle sehr genau,46 die der übernatürlichen hat nach seiner Meinung Görres hinreichend und maßgebend in der Christlichen Mystik beschrieben. Eingedenk der Tatsache, dass die übernatürliche Verzückung, deren Existenz aufgrund des Zeugnisses der Schrift und der Kirche angenommen werden muss, äußerst schwer zu bestimmen sei, da phänomenologisch kaum zwischen natürlicher und übernatürlicher Ekstase unterschieden werden kann,47 versucht Aberle eine theologische Begriffsbestimmung: Die übernatürliche (gottgewirkte) Verzückung ist ein freies Gnadengeschenk Gottes, das für den Gläubigen aufbauend sein kann. Gleiches gilt für die übernatürliche Stigmatisation: Sie muss auf eine 45 46

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M. Aberle, Verzückung (ecstasis): Wetzer-Welte XI, Freiburg im Breisgau 1854, 648-664. Sie treten auf als: a) Somnambulismus (in diesem Zusammenhang behandelt Aberle auch die neueren Theorien: Magnetismus und Mesmerismus); b) ekstatischer Krampf (Epilepsie). Ferner zählen auch die durch Drogenkonsum und Krankheiten wie Fieber hervorgerufen Zustände zu den natürlichen Ekstasen. Aberle beschränkt sich aber nicht auf eine Schilderung, sondern untersucht auch die damit im Zusammenhang stehenden religiösen Symptome und versucht zu zeigen, dass auch sie natürlich zustande gekommen sind: Wenn z.B. die Betroffenen im Zustand der Somnambulie lateinische Phrasen vorbrachten, ohne Latein zu können, dann lag dies wohl daran, dass sie diese vom lateinischen Gottesdienst her kannten. Ebenfalls zur natürlichen Ekstase zählt Aberle das künstliche Herstellen eines ekstatischen Krampfes durch bewusste Beeinflussung, wie es z.B. bei den Campmeetings der Methodisten praktiziert wurde. Dass es unterscheidbar ist, konstatiert Aberle mit dem Satz, dass es ein bloßes „Verwirrtsein der Seele“ im Unterschied zum „Außersichsein der Seele“ gibt.

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unmittelbare Einwirkung Gottes zurückgeführt werden und wird von ihm als „Mittel zur Erbauung“ verliehen.48 Den näheren Zweck der Verzückung charakterisiert Aberle folgendermaßen: „Die Verzückung ... soll für den, dem sie zu Theil wird, ein Mittel sein, seinen Glauben, seine Hoffnung und Liebe zu befestigen, ein Ansporn, die sittliche Losschälung von allem Irdischen zu vollenden, und eine Tröstung auf dem dornenvollen Pfade zur Vollkommenheit. Dieß ist der nächste Zweck der Verzückung; der entferntere ist, Zeugniß von dem realen Bande der Einheit zu geben, das die triumphierende Kirche mit der streitenden verknüpft.“49

Wie hieran ersichtlich wird, versucht Aberle mittels der Gnadentheologie eine theologische Deutung zu geben. Da es sich um einen Gnadenerweis Gottes handelt, ergibt sich auch die weitere Bestimmbarkeit des Phänomens. Wenn es den Christen nicht in seinem Glauben und seinem moralischen Denken und Handeln stärkt, dann kann es sich auch nicht um eine übernatürliche Ekstase handeln. Wenn die Phänomene zu Hochmut, Selbstüberschätzung oder Glaubenszweifeln führen, dann handelt es sich lediglich um natürliche Zustände. Ebenfalls wird an dem Zitat deutlich, dass sich für Aberle die Ekstatiker ganz im Rahmen der kirchlichen Orthodoxie bewegen. Unterstrichen wird dies durch Aberles Verweis auf eine moralische Disposition für solche Zustände. Zwar bezeichnet er die Ekstase als ein freies und unverdientes Gnadengeschenk Gottes, das somit jedem zuteil werden könnte, allerdings zeigt die Erfahrung, dass für das Erreichen solcher Zustände moralische Integrität und ein fortgeschrittenes spirituelles Leben geradezu notwendig sind. Aufgrund dieser proklamierten Rechtschaffenheit der Träger dieser Phänomene kann Aberle auch den genannten weiteren Zweck anführen, dass sie nämlich Zeugnis von der Kirche ablegen.50 Ein weiterer Punkt, der von Aberle behandelt wird, betrifft die Echtheit der Phänomene. Diejenigen, die die Ekstase zu beurteilen haben, 48 49 50

M. Aberle, Stigmatisation: Wetzer-Welte XII, Freiburg im Breisgau 1856, 11581162, hier: 1160. M. Aberle, Verzückung (ecstasis), 659. Dies scheint auch der Grund zu sein, weshalb nach Aberle jeder echte Ekstatiker der Gewalt des kirchlichen Gehorsams unterliegt: Echte Verzückung, so Aberle, wird den Rahmen des kirchlich Erlaubten niemals überschreiten. Die kirchlichen Oberen können jederzeit die Ekstase beenden. (M. Aberle, Verzückung (ecstasis) 659.)

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müssen nicht nur zwischen dämonischer, natürlicher und übernatürlicher Verzückung unterscheiden, sondern auch zwischen echter und simulierter. An dieser Stelle macht Aberle einen geschlechtsspezifischen Unterschied geltend: „Am meisten geneigt zu Simulirung der übernatürlichen Ecstase ist das weibliche Geschlecht wegen des ihm eigenthümlichen Triebes nach äußerer Geltung, und es wird darin durch seine natürliche Fertigkeit in der Verstellungskunst unterstützt. Wenn daher bei Prüfung angeblich ecstatischer Zustände überhaupt große Vorsicht in der Richtung nothwendig ist, um sich vor Betrug zu schützen, so ist solche Vorsicht weiblichen Personen gegenüber in doppeltem Maße anzuwenden und zwar um so mehr, je mehr sie durch Lectüre ascetischer Schriften die Anforderungen kennen gelernt, die für ein Leben in der Vollkommenheit gestellt werden.“51

Einerseits bestätigt dieses Zitat deutlich, dass Phänomen und Beurteilung einseitig verlaufen. Der männliche Theologe beurteilt die Frauen und ihre religiösen Zustände und rät dem Prüfer große Vorsicht ihnen gegenüber. Dennoch wird hier auch deutlich, wie kritisch Aberle mit den Phänomenen umging. Es ist ihm ernst mit der Frage, ob sich eine Person nicht vielleicht selbst in einen solchen Zustand versetzt hat, ob hier nicht ein Fall von Selbstinszenierung vorliegt. Wenn sie aus ihren Zuständen Gewinn zieht, so Aberle weiter, wenn sie vielleicht ein müßiges Leben führt oder ihren Beichtvater belehren will, dann kann davon ausgegangen werden, dass hier nur eine simulierte Ekstase vorliegt. Selbst Stigmatisation und enorm langes Fasten sind keine geeigneten Mittel, die Echtheit der Ekstase zu beurteilen, da auch hier betrogen werden kann. Daher kommt der Stigmatisation, wie Aberle in einem eigenständigen Artikel betont, eine andere Funktion zu. Aberle, der sich erneut von Görres beeinflusst zeigt, teilt auch die Stigmatisation in „dämonisch“, „natürlich“ und „übernatürlich“ ein. Ist er hier noch skeptischer bezüglich der Echtheit dieses Phänomens, bemüht er sich aber auch hier um eine gnadentheologische Deutung. Die Stigmatisation wird von ihm analog zu den Gnadengaben (gratiae gratis datae) gesehen und in diesem Sinn von Gott als Mittel der Erbauung verliehen.52 Auch wenn er für eine genauere Bestimmung zur Vorsicht mahnt, kommt er zu dem Schluss:

51 52

M. Aberle, Verzückung (ecstasis), 662. M. Aberle, Stigmatisation, 1160.

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„Der Mystizismus ist ein Akt der Verzweiflung“ „Der unmittelbare Eindruck, den die [übernatürliche, M.T.] Stigmatisation auf den Beobachter hervorbringt, wird wohl immer der des Wunderbaren sein. Daher erklärt sich auch jene komische Scheu bei gewissen Personen, Stigmatisierte zu sehen und jene dummdreiste Tölpelei, die sich dieser Erscheinung gegenüber mit einfacher Läugnung behilft: man will eben nichts Wunderbares.“

Das von Aberle beobachtete gehäufte Auftreten der übernatürlichen bzw. wunderbaren Stigmatisation im 19. Jahrhundert wird von ihm daher in Zusammenhang mit seiner Zeit gedeutet. In einer „religiös erkalteten Gegenwart“ können diese Fälle von Stigmatisation behilflich sein, neu die Liebe des gekreuzigten Christus zu entfachen: „In der That lehrt auch die Erfahrung in Bezug auf die Stigmatisirten der Gegenwart, daß sie in weiten Kreisen ein mächtiges Erweckungsmittel geworden und in vielen Gemüthern das dem Erlöschen nahe Flämmchen des Glaubens zum hellen Feuer angefacht.“53 Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Aberle anhand von begrifflichen Unterscheidungen die mystischen Phänomene seiner Zeit in Wissenschaft und Theologie zu verankern versucht. Hält er auch klar an der Unterscheidbarkeit zwischen „dämonisch“, „natürlich“ und „übernatürlich“ fest, so mahnt er dennoch immer wieder zur Vorsicht. Seine Überlegungen stellen den Versuch dar, die bunte Vielfalt der Görreschen Mystik für die wissenschaftliche Theologie zu erschließen. Rät Aberle auch zu Vorsicht, die von kirchlicher Seite gegenüber diesen Phänomenen bestehn sollte, denkt er sie dennoch im Rahmen der Katholischen Dogmatik und verweist auf die apologetische Verwertbarkeit dieser Phänomene. 2.4 Die Instrumentalisierung durch den extremen Ultramontanismus Ein weiterer Aspekt, der sich schon in der Behandlung der eben vorgestellten Theologen andeutete, soll hier als abschließende Reflexion zur Sprache kommen. Es ist die Rede von der kirchenpolitischen Dimension, die diese Phänomene katholischer Frömmigkeit seit der Romantik zweifelsohne hatten.

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M. Aberle, Stigmatisation, 1161.

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Hierzu zwei Beispiele: Der Theologe Karl Erhard Schmöger (1819-1883)54 durchlief den typischen Bildungsweg der Priesteramtskandidaten der Diözese Rottenburg, studierte zusammen mit Aberle in Tübingen und wurde mit ihm 1842 zum Priester geweiht.55 1850 trat er in den Orden der Redemptoristen ein. Wissenschaftlich aufgearbeitet worden ist sein Fall durch die Studie des Historikers Otto Weiß zu den Bayrischen Redemptoristen.56 Weiß kann darin auch dessen plötzlichen Ordenseintritt erklären: Schmöger war bereits während seiner Studienzeit mit Görres Christlicher Mystik bekannt geworden und zeigte sich von dem Werk tief beeindruckt,57 ebenso von Brentanos Schriften über Emmerick. Als er von der Visionärin und Stigmatisierten Louise Beck (1822-1879) hörte, die im Altöttinger Redemptoristenkloster wohnte, stand sein Entschluss fest, dem Orden beizutreten und für sie das zu werden, was Brentano für Emmerick war. Mit einer geradezu fanatischen Versessenheit gelingt ihm dieser Schritt auch, und er entwickelt als Provinzial des Ordens einen Kult um diese Frau, der alle Züge religiösen Sekten- und Schwärmertums aufweist, vor denen Wessenberg gewarnt hat: Es gibt eine kleine Gruppe Eingeweihter, die sogenannten „Kinder der Mutter“, die sich um ihn und um Louise Beck scharen, die in spiritistischer Manier als Medium die verstorbene Frau eines der Patres, die sogenannte „Mutter“, zu allen möglichen Themen befragte.58 Man könnte es als Kuriosität abtun, wären die Ausmaße nicht so erschreckend: So wurde auf Personen, die aus diesem Kult aussteigen wollten, heftigster Druck ausgeübt, auch zeigten sich alle, die an Beck glaubten, schwer psychisch abhängig von ihr. Dies traf auch auf hochrangige Vertreter zu, die durch ihre Abhängigkeit die Machenschaften Schmögers schützten, wie z.B. der Münchner Erzbischof und Kardinal Karl August Graf von Reisach (1800-1869), sein

54 55 56 57 58

Zu ihm: O. Weiß, Schmöger, Carl Erhard: Biographisch-bibliographisches Kirchenlexikon 9, Nordhausen 1995, 502-504. S. J. Neher, Personalkatalog der seit 1813 ordinirten und in der Seelsorge verwendeten Geistlichen des Bisthums Rottenburg, Schwäbisch Gmünd 1894, 85-88. O. Weiß, Die Redemptoristen in Bayern (1790-1909). Ein Beitrag zur Geschichte des Ultramontanismus (MThS.H 22), St. Ottilien 1983. O. Weiß, Die Redemptoristen in Bayern, 460. O. Weiß, Die Redemptoristen in Bayern, 550-671. Als dieser Kult zu anrüchig und zu deutlich spiritistisch wurde, wurde die befragte Frau unter Schmögers Einfluss zur Mutter Maria umgedeutet.

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Generalvikar Friedrich Windischmann (1811-1861) oder der Regensburger Bischof Ignatius von Senestréy (1818-1906). War Schmöger in Bezug auf Louise Beck vor allem damit beschäftigt, den Kult zu etablieren und weiter auszubauen, so tat er sich auch durch Publikationen zu Anna Katharina Emmerick hervor. An ihnen mag die Bedeutung, die er den stigmatisierten und visionär begabten Frauen zumaß, deutlich werden. Schmöger hatte die Emmerick-Handschriften Brentanos, insgesamt ca. 16000 Folioseiten, in seinen Besitz gebracht und veröffentlichte diese nun nach seiner Überarbeitung.59 So veröffentlichte er ein vierbändiges Werk mit den Visionen der Emmerick und eine zweibändige Biographie, die auf den Brentano-Schriften fußt.60 In dem Vorwort zu den Visionen der Emmerick schreibt er, dass es hier nicht um „einfache Belehrungen“ gehe, sondern um „ein treues Spiegelbild“ der biblischen Geschichte. Die Visionen illustrieren diese Geschichte und bestätigen damit die Heilsgeschichte, wie sie die Katholische Kirche lehrt. Die Faszination, die für Schmöger von diesen Visionen ausgeht, das theologische Programm, wie er es im Vorwort entwirft, scheint darin zu bestehen, dass die wissenschaftliche Kritik vor diesen Phänomenen verstummen muss. Eine solche Theologie entzieht sich jedweden historischen und literarkritischen Einwandes. Ist dies bereits die Intention Brentanos gewesen,61 versucht Schmöger hieran anzuknüpfen und Brentano noch zu überbieten. Dass es sich um verschiedene Visionen handelte, wird weiter verschleiert, damit der Eindruck eines um59

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61

Zum Umgang Schmögers mit den Handschriften vgl.: B. Gajek (Hg.), Clemens Brentano. Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 27/2, Stuttgart 1995, 72-92, und ebd., Bd. 28/2, 68-80. K.E. Schmöger, Das Leben unseres Herrn und Heilands Jesu Christi. Nach den Gesichten der gottseligen Anna Katharina Emmerich, aufgeschrieben von Clemens Brentano, 3 Bde., Regensburg 1858-60; ders., Das Leben unseres Herrn und Heilandes Jesu Christi. Nach den Gesichten der gottseligen Anna Katharina Emmerich. Im Auszuge bearbeitet, Regensburg 1864; ders., Das Leben der gottseligen Anna Katharina Emmerich, 2 Bde., Freiburg im Breisgau 1867/70; ders., Das arme Leben und bittere Leiden unseres Herrn Jesu Christi und seiner heiligsten Mutter Maria, nebst den Geheimnissen des Alten Bundes, nach den Gesichten der gottseligen Anna Katharina Emmerich, aus den Tagebüchern des Clemens Brentano herausgegeben, Regensburg 1881f./1892. Es sei darauf hingewiesen, dass diese Schriften Bestseller und in mehrere Sprachen übersetzt werden. Es sei noch einmal daran erinnert, dass sein Jesusbuch nahezu zeitgleich mit dem von Strauß erschienen ist.

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fassenden und kohärenten Bildes entsteht. Obgleich Schmöger es immer noch bedauert, dass das von Emmerick entworfene Bild unvollkommen sei und noch einige Teile fehlten, ist er dennoch deutlich darum bemüht, ein stimmiges Ganzes zu entwerfen. Deutlich wird dies etwa an seinen ausufernden Erörterungen und Zitaten zur Mariologie, die er in den Visionen Emmericks und anderer Frauen bestätigt findet.62 Mit geradezu abstoßender Impertinenz versucht Schmöger, das gesamte Leben Mariens zu erzählen und alle Geheimnisse, die das Leben Mariens und ihr Verhältnis zu Jesus ausmachen, durch die Visionen zu beleuchten und sie so zu verifizieren. Dass der Glaube an Maria durch diese zwanghaft pseudohistorischen Beschreibungen desavouiert wird, erkennt Schmöger nicht. Er scheint von dieser Möglichkeit Theologie zu treiben, ohne sich der wissenschaftlichen Kritik aussetzen zu müssen, derart fasziniert zu sein, dass er jeden Anstand verliert. Einige Beispiele: Emmerick ist eine erklärte Gegnerin deutscher Kirchengebete, denn das lateinische Kirchengebet ist ihr tiefsinniger und verständlicher; in einer Vision schaut sie das Wesen des Rationalismus als „hässliche Hure“, vor der sich die Kirche schützen muss; sie betet und erhofft die Bekehrung der Juden und der Protestanten. Ihre Visionen vom Leben der Heiligen bilden diese nach den bekannten Heiligenviten ab. So sieht sie z.B. Dionysius Areopagita, wie er bekehrt wird und mit Paulus umherzieht, wie Papst Clemens ihn nach Paris schickt, wo er das Martyrium findet und wie er während dieser Zeit viele Bücher schreibt.63 Was in der historischen Forschung bereits längst widerlegt wurde, nämlich die Identität der drei Personen, die sich hinter dem Namen Dionysius Areopagita verbergen, kann hier übergangen werden. Die Vision lässt sie wieder zu einer Person verschmelzen. Dass solch ein Verfahren nicht nur frommen Zwecken diente, sondern auch als theologisches Wissen missbraucht wurde, zeigt Friedrich von Kerz (1768-1849), der von einer Historizität der Visionen ausging. Kerz, der Stolbergs Geschichte der Religion Jesu Christi fortsetzte, beruft sich bei der historisch strittigen Frage, ob der Apostel Jakobus in Spanien gewesen sei, auf eine Vision Emmericks, die zwar „aus einer 62 63

So führt er lange Zitate aus den Visionen der Birgitta von Schweden und der Maria von Agreda auf. Bilder der heiligen Martyrer geschaut in der Vision von der gottseligen Anna Katharina Emmerich. Aus dem von P. Schmöger verfaßten Leben der Begnadigten genommen und zusammengestellt von einem ihrer Verehrer, Paderborn 1874, 77f.

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höheren Welt“ komme und „den unverkennbaren Stempel einer höheren Offenbarung“ trage, aber als eine historische Vision auch für die Geschichtsschreibung Geltung besitze. Da die Vision von der Tätigkeit des Jakobus in Spanien handelt, folgert er: „Für wen die Visionen der von Gott so hoch begnadigten Augustinerin das Gepräge göttlicher Wahrheit tragen, für diesen muß auch die bisherige Streitfrage ... und zwar in höchster Instanz und ohne alle Möglichkeit irgend eines noch weitern Apells vollkommen entschieden seyn.“64

Zwar könne man sich bei Fragen und Zweifeln, so Kerz weiter, auch an das „Tribunal der historischen Kritik“ wenden,65 allerdings bezweifle er, dass man dadurch mehr erfahre bzw. eine größere Sicherheit erhalte. Allgemein lässt sich sagen, dass es sich bei diesen Fällen um eine Instrumentalisierung der Emmerick handelt, die auf die eine oder andere Weise die Wahrheit des katholischen Glaubens beweisen soll. Es ist bezeichnend, wie sehr in der Lebensbeschreibung, die Schmöger verfasste, von der Emmerick gerade die Charakteristika katholischen Glaubenslebens mystisch erlebt werden: Der firmende Bischof erscheint in einem göttlichen Licht; Hostien, Taufwasser und Reliquien verschaffen ihr Freude und Linderung der Schmerzen; die blutenden Wunden reagieren auf katholische Feiertage; bei all ihren Tätigkeiten richtete sie sich unwillkürlich mit ihrem Körper nach dem Heiligen Altarsakrament der Kirche ihres Ortes aus; sie führt Schwankende und Konversionsbereite der Katholischen Kirche zu. Bereits im Vorwort zu seiner Emmerick-Biographie verweist Schmöger auf eine heilsgeschichtliche Bedeutung der Emmerick: „Drei Hauptübeln, welche mit furchtbarer Gewalt die Kirche ihrer Zeit bedrohten: der Entweihung alles Heiligen, den Irrlehren und der Sittenlosigkeit, wurde sie von Gott entgegen gestellt, auf daß sie durch Gebet, Sühnung und Kampf ohne Unterlaß dagegen ringe und die wie schutzlos diesen Feinden preisgegebene Kirche vertheidige.“66

64 65 66

F.L. Graf zu Stolberg, Geschichte der Religion Jesu Christi, Bd. XXV, Mainz 1834, 427. F.L. Graf zu Stolberg, Geschichte der Religion Jesu Christi, 428. K.E. Schmöger, Leben der Emmerich I, XI.

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Wie dieser Satz verstanden wurde, zeigt der zweite hier vorgestellte ultramontane Theologe. Joseph Rebbert (1837-1897),67 der vor allem durch seine Hetzschriften gegen Juden als Beispiel eines frühen katholischen Antisemitismus der Forschung in Erinnerung geblieben ist, soll hier als Vertreter eines extremen Ultramontanismus zur Sprache kommen,68 der die von Schmöger entfalteten theologischen Anstöße aufnahm und systematisch weiterentwickelte. Rebbert, der mehrfach zu der Stigmatisierten Louise Lateau (1850-1883) reiste, zeigte sich nachhaltig von Schmögers Werk beeinflusst, indem er sie, ganz nach dem Vorbild der Emmerick, mitgebrachte Reliquien erkennen ließ und sie die „Katharina Emmerich der Gegenwart“ nannte.69 Er maß beiden eine bedeutende Zeugnisfunktion für die Wahrheit der Katholischen Kirche bei, die er in folgenden Punkten analysierte. (1) Zunächst ist es ihm wichtig festzuhalten, dass es sich um Privatoffenbarungen handele, die von der biblischen Offenbarung verschieden seien und dem Glauben nichts Neues hinzufügen können. Umso wichtiger ist es ihm, im Anschluss an diese Feststellung darzulegen, dass ihr Wert darin bestehe, Zeugnis für die Offenbarung und die Wahrheit der Kirche zu geben. In einer glaubenskalten und rationalistischen Zeit, so Rebbert, frischte Christus an Emmerick seine blutenden Wunden auf, „um der erkalteten Welt den wirklichen Ernst seines Leidens und der Nothwendigkeit der Buße zum Bewußtsein zu bringen.“70 Rebbert zitiert mehrfach die Worte des Konvertiten Stolberg über Emmerick: „In Tagen des Unglaubens hat Gott (ihr) die Male der Wunden eingedrückt, durch die wir alle heil werden können.“71 Gleiches weiß Rebbert über Lateau zu sagen. Rebbert versucht nicht, die Stigmatisation gnadentheologisch 67 68

69

70 71

Zu ihm: G. Anger, Rebbert, Joseph: Biographisch-bibliographisches Kirchenlexikon 29, Nordhausen 2008, 1133-1137. Dies geht bei ihm so weit, dass man nur diejenigen als katholisch bezeichnen könne, die mit gleicher Entschiedenheit ultramontan seien. Katholisch sein ist nach seiner Ansicht identisch mit ultramontan sein. Vgl. hierzu: J. Rebbert, Papst und Papsttum. Festgabe zum 50-jähr. Priesterjubiläum Leos XIII. Ein Büchlein für Katholiken und christgläubige Protestanten, Paderborn 1887, hier: 40. J. Rebbert, Anna Katharina Emmerich und Louise Lateau. Ein doppeltes Zeugniß für die Wahrheit der katholischen Kirche. Ein Trostbüchlein für das kathol. Volk, Paderborn 1878. J. Rebbert, Anna Katharina Emmerich und Louise Lateau, 43. J. Rebbert, Anna Katharina Emmerich und Louise Lateau, 77.

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zu denken, ebenso wenig steht der Nutzen der Vision in historischen Fragen im Mittelpunkt. Es geht ihm primär um ihre Bedeutung für eine demonstratio catholica. Diese Frauen haben einen nicht zu unterschätzenden Zeugniswert für die Wahrheit der Katholischen Kirche. (2) Hieraus ergibt sich eine Folgerung, die für Schmöger und Rebbert bedeutsam ist. Diese Stigmatisierten und Seherinnen dienen als Beispiel eines stellvertretenden Sühneleidens für die gegenwärtige Lage der Welt und ihrer Menschen. Gerade dieser Gedanke wurde auch von kritischeren Theologen anerkannt. So etwa von dem Moraltheologen Magnus Jocham (1808-1893), der zwei ausführliche Rezensionen zu Schmögers Werk verfasst hat.72 Zwar weiß er deutliche Kritik an diesem Werk zu üben und vor einem möglichen Missbrauch zu warnen, aber gerade für den von Schmöger und Rebbert betonten Aspekt des stellvertretenden Leidens macht er sich stark, indem er ihn zum „oberste[n] Grundsatz der gesammten Offenbarungslehre von der Erlösung des Menschengeschlechtes“73 erhebt. Denn das stellvertretende Leiden, so Jocham, ist nicht mit dem Tod Jesu abgeschlossen, sondern bestehe weiter in der Nachahmung des kreuztragenden und am Kreuze sterbenden Heilandes. Die Begründung, die er für einen solchen Satz angibt, ist denkbar einfach: Da die Kirche, „der mystische Leib Christi, als Fortsetzung des gottmenschlichen Lebens und Leidens Christi ohne Aufhören ihre Charwoche und ihren Charfreitag feiere, sei es nicht verwunderlich, dass einzelne ihrer Glieder an diesem ihrem Leiden-Leben in ausgezeichneter Weise Theil nehmen.“ Dass diese auserwählten Werkzeuge Gottes, so Jocham weiter, „ganz besonders an den Schäden der Kirche ihrer Zeit zu leiden und zu büßen haben, wird nicht beanstandet werden können, wenn man die Kirche als den lebendigen Leib Christi und diese auserlesenen Werkzeuge als lebendige Glieder dieses Leibes zu fassen vermag. Jede solche Persönlichkeit erscheint nun als eine lebendige Copie des Originales, der Kirche, und was von dieser gilt, das kann auch ver-

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73

M. Jocham, Rezension zu: C.E. Schmöger, Das Leben der gottseligen Anna Katharina Emmerich, Bd. I, Freiburg im Breisgau 1867, in: ThLBl(B) 3 (1868), 107-111; ders., Rezension zu C.E. Schmöger, Das Leben der gottseligen Anna Katharina Emmerich, Bd. II, Freiburg im Breisgau 1870, in: ThLBl(B) 6 (1871), 633-638. M. Jocham, Rezension zu: Das Leben der gottseligen Anna Katharina Emmerich, Bd. I, 110.

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gleichungs- und beziehungsweise von diesem lebendigen und auserwählten Gliede gesagt werden.“74

Allerdings besteht ein deutlicher Unterschied im Verständnis des stellvertretenden Leidens: Während Jocham hierbei die Kirche als eine organische Einheit zu denken versucht, in der alle an Christus teilhaben, nur auf unterschiedliche Weise,75 betonen Rebbert und Schmöger die herausgehobene Stellung der Stigmatisierten und ihre besondere Zeugnisfunktion für die institutionell verfasste Römisch-Katholische Kirche.76 Es geht ihnen weniger um eine Ekklesiologie als vielmehr um eine Apologie der Kirche, die Gefahr läuft, das Wesen der Kirche zu zerstören. So zeigt Jochams Kritik an Schmögers Emmerick-Deutung, dass der Gedanke der Stellvertretung derart groß gemacht wurde, dass die Bedeutung Jesu Christi dahinter zu verschwinden droht. „[U]nd es wäre von da nicht mehr weit“, schlussfolgert Jocham, „bis zu den schauderhaften Verirrungen der Leute in Wiltisbuch [sic!], welche die Margarethe gekreuzigt haben, damit sie ein besonderes Sühnopfer hätten.“77 (3) Besonders breit lässt sich Rebbert über die Fähigkeit der Reliquienerkenntnis und der Wertschätzung und Erkenntnis geweihter Gegenstände wie Andachtsbilder und Rosenkränze aus. Rebbert berichtet, dass Lateau in der Ekstase zwischen einem benedizierten und einem nicht benedizierten Rosenkranz unterscheiden konnte.78 Ebenso bizarr muten 74 75

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77 78

M. Jocham, Rezension zu: Das Leben der gottseligen Anna Katharina Emmerich, Bd. I, 110. So kritisiert Jocham an Schmöger bezüglich des Gedankens des Sühneleidens die Konzentration auf eine Person. Nach Jocham solle man auch die „Leidensarbeit“ derjenigen Mönche und Nonnen aus der Zeit von Anna Katharina Emmerick schätzen, die in besonderer Weise unter der Aufhebung ihrer Klöster litten. Jocham selbst ließe sich der hier vorgestellten dritten Reflexion zuordnen. Sein wissenschaftliches Werk zeigt sich beeinflusst von der kritischen Auseinandersetzung mit Aufklärung, Erweckungsbewegung und Romantik. Es stellt einen Versuch dar, Mystik moraltheologisch und ekklesiologisch zu verankern. Vgl. hierzu: H. Borok, „Sein und Leben für Gott in Christo“. Begründung, Verfaßtheit und Vollzug des christlichen Lebens. Das organische Moralprinzip des Magnus Jocham (1808-1893) (Moraltheologische Studien. Systematische Abteilung 18), St. Ottilien 1993, insb: 119-128. M. Jocham, Rezension zu: Das Leben der gottseligen Anna Katharina Emmerich, Bd. II, 637. J. Rebbert, Emmerich und Lateau, 81.

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seine Versuche mit konsekrierten und nicht konsekrierten Hostien, die sie auf einige Entfernung ebenfalls auseinander halten konnte, an. Auch die Beschreibungen der Reliquienversuche, die scheinbar ständig an ihr und an Emmerick vorgenommen wurden, sind mehr als fragwürdig. (4) Ein weiteres Merkmal ist für Rebbert der stete Gehorsam dieser Frauen gegenüber den kirchlichen Autoritäten. So können Priester Lateau und Emmerick jederzeit aus ihren Ekstasen holen, da sie sich immer demütig deren Willen fügen. Auch hierin drückt sich ein sehr spezielles, ganz auf Gehorsam und Autorität ausgerichtetes, Kirchenbild aus: „Ueber den Gehorsam Louisens’s während der Ekstase für den Befehl eines jeden, der mit kirchlicher Jurisdictionsgewalt über die Ekstatische ausgerüstet ist, haben wir schon genügend berichtet. Hier könnten jene kirchlichen oder besser unkirchlichen Revolutionäre, die ihren rechtmäßig bestellten kirchlichen Oberen den Gehorsam frech aufzukündigen wagen, lernen, was es mit der kirchlichen Jurisdiction zu bedeuten habe.“79

Jeder Priester, so Rebbert, könne hier Gehorsam lernen und gezeigt bekommen, was päpstliche Autorität meint. Die Lateau gerät bei Rebbert in höchste Ekstase, wenn der Name des Papstes fällt, denn sie erkennt in der Ekstase stets, dass er „die oberste Stufe der kirchlichen Hierarchie innehält.“80 (5) Ein letzter Punkt, den Rebbert aufführt, ist die Konversion von Ungläubigen und Protestanten, die durch die Begegnung mit den stigmatisierten Frauen zur Umkehr in den Schoß der Katholischen Kirche gebracht wurden. So schreibt Rebbert: Die Beispiele aus dem Leben der Emmerick „sind lauter Zeugnisse für die Wahrheit der kathol. Kirche, sehr geeignet, den katholischen Christen zum Danke anzueifern für das unaussprechliche Glück, der hl. katholischen Kirche anzugehören, aber auch nicht minder geeignet, den von der Kirche losgerissenen irrenden Bruder zum ernsten Nachdenken zu veranlassen. Viele Wege führen ... zur hl. römisch-katholischen Kirche, und ein deutlich zu erkennender Weg nach Rom geht auch über Dülmen.“81

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J. Rebbert, Emmerich und Lateau, 88. J. Rebbert, Emmerich und Lateau, 92. J. Rebbert, Emmerich und Lateau, 60.

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Das Augenmerk lag im Vorangegangenen auf Stigmatisation, es ließe sich aber zeigen, dass ganz ähnliche Motive auch in der Deutung der Marienerscheinungen vorliegen.82 So hat Rebbert auch eine Apologie über die Vorkommnisse in Marpingen verfasst, nachdem er den Ort und die Kinder besucht hatte.83 Die Quintessenz lässt sich nach dem oben ausgiebig Erörtertem auf einen Satz bringen: Nach Rebbert solle die moderne Welt nach Marpingen gehen, um an den Marienerscheinungen und Wundern, die von der Wahrheit und Einzigkeit der Katholischen Kirche künden, zu genesen. David Blackbourn hat in mehreren Studien gezeigt, dass die spezifisch katholischen Frömmigkeitsformen des Katholizismus des 19. Jahrhunderts, allen voran die Marienerscheinungen, eine Reaktion auf den Kulturkampf und den damit in Zusammenhang stehenden politischen Liberalismus waren.84 Nach der Romantik und dem Siegeszug der exakten Wissenschaften bilden diese Frömmigkeitsformen einen bewussten Kontrapunkt, sowohl mentalitätsgeschichtlich als auch kirchenpolitisch: In einer Zeit, in der das katholische Milieu durch Industrialisierung und Kulturkampf bedroht wird, wie in Marpingen der Fall, wird der Kampf der Kirche gleichsam durch höhere Mächte sanktioniert. Die wundersamen Phänomene werden hierbei auch zu einem politischen Kampfmittel für die Wahrheit der Katholischen Kirche und ihrer nach Auffassung der Protagonisten berechtigten Forderungen.

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Ein erster theologischer Versuch, Marpingen zu verteidigen, stammt aus der Germania, Nr. 170 vom 29.07. 1876. Hier wird zunächst auf Görres verwiesen, der dem Verfasser ein „Riesengeist“ ist. Dann heißt es: „Wer immer als gläubiger Christ ... an die Wunder glaubt, welche uns in den h. Schriften berichtet werden, der muß zugeben, daß der allmächtige Gott, der heute noch der souveräne Herr der sichtbaren und unsichtbaren Schöpfung ist, auf ebenso spontane Weise in den Gang der nach ihm gegebenen Gesetzen wandelnden natürlichen Welt auf übernatürliche Weise eingreifen kann wie er es schon vor Jahrtausenden konnte.“ (Ebd., 1). J. Rebbert, Marpingen und seine Gegner. Apologetische Zugabe zu den Schriften und Berichten über Marpingen, Mettenbuch und Dittrichswalde. Ein Schutz- und Trutzbüchlein für das katholische Volk, Paderborn 1877. D. Blackbourn, Volksfrömmigkeit und Fortschrittsglaube im Kulturkampf (Institut für Europäische Geschichte Mainz. Vorträge 81), Stuttgart 1988.

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3.

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Ergebnisse

(1) Die These von der Feminisierung der Religion muss hinsichtlich der mystischen Phänomene des 19. Jahrhunderts kritisch gesehen werden. Auch wenn ihr ein wichtiger Erkenntniswert zukommt, da mit ihr nach bestehenden geschlechtsspezifischen Unterschieden, d.h. nach genuin weiblichen Phänomenen gefragt werden kann, so wurde doch die Beurteilung und Kommunizierbarkeit dieser Phänomene durch Männer vorgenommen, die alle gesellschaftlich und theologisch relevanten Instanzen des Katholizismus besetzten. Das dahinter liegende, oft auch echt religiöse Bedürfnis dieser Frauen bzw. deren reale Lebenssituation kam, wie der Beitrag zeigen sollte, nicht in den Blick. So zeigt bereits die Geschichte der Emmerick, dass ihre gelebte Leidensmystik sehr schnell instrumentalisiert wurde. Ob dieses Leiden auch eine Art Bewältigung der eigenen Krankheit war, unter der sie litt, kommt nicht in den Blick. Auch Brentanos Umgang mit Emmerick weist in diese Richtung. Vielfach wurde bereits untersucht, wie er seine Lebenskrise in Dülmen zu überwinden sucht, wie er sein Leben und sein Werk an der Emmerick reformiert und den Visionen bewusst seine eigene Deutung gibt.85 Gleiches gilt für den fehlenden Blick der Theologen auf die psychischen oder sozialen Krisensituationen, in der sich fast alle Personen befanden, die zu Trägern von Stigmata wurden oder die eine Marienerscheinung hatten. Dass einige von ihnen genötigt waren, den Weg in das Kloster zu gehen, obwohl sie dafür teils keine Berufung verspürten,86 weist ebenfalls auf das Desinteresse hin, das den Personen jenseits ihrer mystischen Erfahrungen entgegengebracht wurde. Die Marienerscheinungen oder die Stigmatisierungen als feminine Phänomene zu bezeichnen, ist daher fraglich, da über die Echtheit dieser Phänomene ebenso

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J. Adam, Clemens Brentanos Emmerick-Erlebnis. Bindung und Abenteuer, Freiburg im Breisgau 1956; W. Frühwald, Die Emmerick-Schriften Clemens Brentanos. Ein Versuch zur Bestimmung von Anlaß und literarischer Intention, in: C. Engling/H. Schleiner/B. Senger (Hg.), Emmerick und Brentano. Dokumentation eines Symposiums der Bischöflichen Kommission „Anna Katharina Emmerick“, Dülmen 1983 13-33; L. Benzi, Resakralisierung und Allegorie im Spätwerk Clemens Brentanos. Das „Märchen von Gockel, Hinkel und Gackeleia“ (1838) und „Das Bittere Leiden unseres Jesu Christi“ (1833), Bern 2002, passim. Vgl. hierzu etwa: T. Taylor, Bernadette of Lourdes, insb.: 152-159; 167-182.

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wie über ihren Wert und ihre Bedeutung im Glaubensleben allein Männer entschieden. Dass es genderspezifische Unterschiede gab, kann nicht bestritten werden, und sie herauszuarbeiten wird eine Aufgabe der Geschichtswissenschaft bleiben, aber die hier untersuchten Theologen legten wenig Wert auf diese Unterschiede. Die untersuchten Theologen zeigen, dass es ihnen kaum um die femininen Elemente in der Mystik gegangen ist, sondern vielmehr darum, die irrationalen Momente, die sich in dieser Form christlicher Spiritualität ausdrückten, in ihrer Bedeutung für die Theologie herauszuarbeiten. Dies gilt sowohl für Wessenbergs Kritik am Mystizismus der Erweckungsbewegungen als auch für den offensiven Obskurantismus, wie er vom extremen Ultramontanismus betrieben wurde. (2) Neben die Frauenspezifik dieser religiösen Phänomene treten daher weitere Beobachtungen: Zu den Visionärinnen, Stigmatisierten und Marienorten reiste nicht nur das gemeine Volk, sondern auch die Elite des katholischen Milieus, so dass diese Phänomene sich nicht als reine Volksfrömmigkeit abtun lassen. Neben hohen Würdenträgern des Klerus finden sich auch etliche Adlige, ebenso Intellektuelle, Maler und Schriftsteller an den Betten der stigmatisierten Frauen ebenso wie an den Orten der Marienerscheinungen ein. Die große Faszination, die diese Frauen auch auf Gebildete ausübten, zeigt, dass ihnen eine bedeutende Funktion innerhalb der katholischen Frömmigkeit des 19. Jahrhunderts zukommt.87 Darüber hinaus zeigen die Forschungen deutlich, dass es auch außerhalb des katholischen Milieus ein Bedürfnis nach solchen Phänomenen gab. So gab es vereinzelte Fälle von Stigmatisation auch im Protestantismus, und der Pietismus kennt mehrere Fälle von visionär begabten Frauen, von denen die bekannteste Friedericke Hauffe (1801-1829) ist.88 87

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Hervorragend wurde dies am Beispiel der Maria von Mörl nachgewiesen bei: N. Priesching, Maria von Mörl, 278-419. Priesching liefert eine detaillierte Beschreibung der berühmten Besucher der Mörl und eine Analyse von deren Motiven. Sie zeigt, dass diesen Frauen eine wesentliche Bedeutung in der Frömmigkeit jener Zeit zukommt. Vgl. ebenso: Dies., Grundzüge ultramontaner Frömmigkeit am Beispiel der „stigmatisierten Jungrau“ Maria von Mörl, in: G. Fleckenstein/J. Schmiedl (Hg.), Ultramontanismus. Tendenzen der Forschung (Einblicke 8), Paderborn 2005, 77-92. Zu ihr: B. Gruber, Die Seherin von Prevorst. Romantischer Okkultismus als Religion, Wissenschaft und Literatur, Paderborn 2000.

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Selbst der protestantische Philosoph Immanuel Hermann Fichte (17961879) zeigt Verständnis für diese Phänomene. Der Sohn von Johann Gottlieb Fichte hat Görres Mystikwerk gelesen und hält die darin beschriebenen körperlichen Begleiterscheinungen der Mystik, näherhin Stigmatisation, für möglich.89 Die Wirkungen, die diese Phänomene auch im außerkatholischen Raum haben konnten, dürfen daher nicht unterschätzt werden. Diethard Sawicki macht in seiner Dissertation deutlich, dass es bei den mystischen Phänomenen des 19. Jahrhunderts vielfach Überschneidungen mit dem Spiritismus gab und dass von den verschiedenen Erscheinungsformen des Spiritismus, der quasiwissenschaftlichen Charakter beanspruchen konnte, weite Teile der Bevölkerung begeistert waren.90 (3) Von Bedeutung ist ebenfalls der gesellschaftliche Status, den diese Frauen erreichen konnten, wenn ihren Visionen und Stigmata religiöse Bedeutung zugemessen wurde. Auch wenn hier keine psychiatrische Erklärung gegeben werden kann, so dass die mögliche Unterscheidung zwischen spirituellen Erfahrungen und pathologischen Erlebnissen nicht berücksichtigt wurde,91 so verweist Aberles Unterscheidung in „übernatürliche“ und „natürliche“ Ekstase doch in diese Richtung. Denn diese Unterscheidung hat zur Folge, dass die Person, die die beschriebenen mystischen Phänomene aufweist, entweder angesehen ist, da ihr ein gottgewirktes Gnadengeschenk zuteil wird oder sie ihr Ansehen verliert und als verrückt oder krank eingestuft wird. Während Ersteres, zumindest im katholischen Milieu, als gesellschaftlich anerkannt gelten kann, drängte das andere an den äußersten Rand der Gesellschaft. Hierzu die Historikerin Doris von der Brelie-Lewin, die diese Phänomene unter dem psychologischen Begriff der „Hysterie“ untersucht hat:

89

90 91

Vgl. hierzu: I.H. Fichte, Anthropologie. Die Lehre von der menschlichen Seele. Neubegründet auf naturwissenschaftlichem Wege für Naturforscher, Seelenärzte und wissenschaftlich Gebildete überhaupt, Leipzig 1860, 468. D. Sawicki, Leben mit den Toten. Geisterglauben und die Entstehung des Spiritismus in Deutschland. 1770-1900, Paderborn 2002. Vgl. hierzu: J. Sudbrack, Religiöse Erfahrung und menschliche Psyche. Religion und Psychologie. Heiligkeit und Krankheit. Gott und Satan, Mainz 1998. N.B. Kohls, Außergewöhnliche Erfahrungen – Blinder Fleck der Psychologie? Eine Auseinandersetzung mit außergewöhnlichen Erfahrungen und ihrem Zusammenhang mit geistiger Gesundheit (Psychologie des Bewusstseins 2), Münster 2004.

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„In starkem Kontrast zu Fällen, die Pilgerfahrten und philosophische Erörterungen auslösten, steht das Schicksal jener Frauen ... die in ihren religiösen Verzückungen und Trancezuständen keine außerordentlichen Fähigkeiten entwickelten, sondern als ‚normal verrückt‘ galten. Als nicht Arbeitsfähige wurden sie – wie Kranke und Kriminelle auch – in eigens geschaffenen Asylen gesellschaftlich ausgegliedert.“92

Waren die Frauen, deren Verhalten religiös gedeutet wurde, auch dem Willfahren ihrer Ärzte und Seelsorger unterworfen, so erlangten sie doch eine gewisse Eigenständigkeit. Dass seit dem 19. Jahrhundert auch zunehmend medizinische Erklärungen gegeben wurden, die sich als solche ungünstig auf die gesellschaftliche Akzeptanz der Zustände dieser Frauen auswirkten und die Einfluss auf die theologischen Deutungen der Zustände hatten, hat Peter Dinzelbacher in einem historischen Abriss über die vielfältigen Formen der Erlebnismystik und ihrer möglichen medizinischen Erklärung gezeigt.93 (4) Ebenso ist festzuhalten, dass diese Phänomene nicht losgelöst von der kirchlichen Restauration beurteilt werden können, wie sie in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ihren Anfang nahm. Die rationale Durchdringung religiösen Glaubens durch die Aufklärung, damit einhergehend die Kritik an Wundern und Prophezeiungen, die zunehmende Säkularisierung weiter Teile des gesellschaftlichen Lebens, führten im Gegenzug zu einem gesteigerten Drang nach Sicherheit innerhalb des eigenen religiösen Bezugsystems, der sich im Beharren und Insistieren auf der Tatsächlichkeit von Wundern und Weissagungen, in der Sehnsucht nach der Möglichkeit der Erfahrung des Numinosen in dieser Welt äußerte. Der fortschreitenden Entzauberung der Welt, wie sie von Max Weber treffend analysiert wurde, stellte sich so der bewusste Versuch einer Neu-Verzauberung dieser Welt entgegen. In der gezielten Formierung der Frömmigkeit durch ultramontane Theologen verkörperten die Frauen „das Wunderbare, das Gefühl und

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93

D. von der Brelie-Lewien, Die Erlösung des Menschengeschlechts. Prophetinnen, Besessene, Hysterikerinnen (1690-1890), in: Geschichte als Möglichkeit. Über die Chancen von Demokratie (FS H. Grebing), Essen 1995, 478-506, hier: 497. P. Dinzelbacher, Krankheit und Mystik: Enzyklopädie Medizingeschichte, Berlin 2005, 1020-1022; ders., Ekstase: Enzyklopädie Medizingeschichte, Berlin 2005, 341.

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die vorgebliche Überwindung der Aufklärung“,94 wodurch ihnen theologische Bedeutung gegeben werden konnte. In einem Aufsatz zu Katholizismus und weiblicher Frömmigkeit im 19. Jahrhundert kommt Rudolf Schlögl zu dem Schluss: „Der gegenwärtige Forschungsstand läßt eine bündige Erklärung noch kaum zu für die Welle des Mystizismus, der Schwärmerei und des religiösen Wahns, die den Aufstieg des Ultramontanismus begleitete.“95 In den hier vorgestellten Reflexionen deutet sich eine Antwort hierauf an. Anhand des theologischen Umgangs mit mystischen Phänomenen konnte gezeigt werden, dass von der Ablehnung des Programms einer Katholischen Aufklärung über die Romantik ein Weg in den Ultramontanismus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts führt. Das Scheitern der Reformversuche Wessenbergs, die auch ein Scheitern einer zeitgemäßen Frömmigkeit sind, und die Besinnung auf die Mystik und das Wunderbare als das der Rationalität der Moderne Widerstrebende belegen den restaurativen Zug dieser Erneuerungsbewegung. Die Instrumentalisierung der mystischen Phänomene für kirchenpolitische Zwecke, näherhin ihre Funktion in einer Ultramontanisierung des Katholizismus, kann daher nicht unterschätzt werden. Damit ist nicht gesagt, dass diese Mystik keine religiösen, spirituellen Bedürfnisse befriedigte, aber sie befriedigte auch das Bedürfnis nach einer Gegenwelt, die sich, wenn nicht durch Realitätsflucht, so doch durch eine bewusste Abkehr von den Problemen und Aufgaben der Gegenwart auszeichnete. Der Versuchung, diese Phänomene als apologetische Mittel einer demonstratio catholica zu missbrauchen, konnten Vertreter eines extremen Ultramontanismus nicht widerstehen. Mag man bereits bei den konvertierten Romantikern eine konfessionelle und apologetische Deutung der stigmatisierten Frauen feststellen können,96 so wird hier vollends auf 94 95

96

I.G. v. Olenhusen, Feminisierung von Religion und Kirche, 13. R. Schlögl, Sünderin, Heilige oder Hausfrau? Katholische Kirche und weibliche Frömmigkeit um 1800, in: I.G. von Olenhusen, Wunderbare Erscheinungen. Frauen und katholische Frömmigkeit im 19. und 20. Jahrhundert, Paderborn 1995, 13-50, hier: 49. So schreibt Jocham über Brentanos Emmerick-Erlebnis: „Cl. Brentano war nahezu ein Heide, ein Ungläubiger geworden, und für diese und nicht für die Gläubigen sind die Zeichen und Wunder. Für ihn aber war alles an der Begnadigten lauter Wunder.“ (M. Jocham, Rezension zu: Das Leben der gottseligen Anna Katharina Emmerich, Bd. I, 111). So sieht Jocham, der Schmögers Werk als Erbauungsbuch bezeichnet, in Brentanos Begegnung mit Emmerick eine indi-

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diese Deutung gesetzt: Die Wunder, wie sie sich durch Stigmata, Ekstasen, Marienerscheinungen ereignen, sind ein lebendes Zeugnis für die Wahrheit der Katholischen Kirche. Dass sich solche außergewöhnlichen Dinge in ihr ereignen, an ihren Gliedern, ist der Ausweis ihrer Wahrheit. Waren Görres und die Romantik davon fasziniert, in der Gegenwart das Heilswirken Gottes aufzuzeigen, gingen die ultramontanen Theologen einen Schritt weiter, indem sie mit den Wundern die Heilsgewissheit für die Katholische Kirche beweisen wollten. Die Bedeutung, die sie den Frauen und ihrer Mystik gaben, weist darauf hin, dass sie bei ihnen eine Gewissheit suchten, die ihnen abhanden gekommen war. Ein gezielter Antirationalismus, der sich im Bekenntnis zu diesen Wundern der Gegenwart ausdrückte, sollte der verlorenen Sicherheit trotzen. Die Wunder, wie sie sich an den mystischen Phänomenen von Frauen des 19. Jahrhunderts zeigten, konnten aufgrund ihres emotionalen und teils irrationalen Gehaltes gut gegen den proklamierten Unglauben einer rationalistischen Moderne instrumentalisiert werden. In dieser Weise dienten auch die Wunderheilungen von Lourdes der antimodernistischen Propaganda: Bei Georges Bertrin steht Lourdes für alles, was der modernen Gesellschaft fehlt. Lourdes ist nicht nur eine Schule christlicher Tugenden, an denen der moderne Mensch gesunden kann, sondern ebenso ein „neuer Abschnitt in der christlichen Apologetik“, der die Wahrheit der Katholischen Kirche bestätigt.97

97

viduelle Bekehrung, wie er auch den Sinn religiöser Ekstase nicht bei dem ekstatischen Menschen sucht, sondern ihn als Antrieb für andere zu einem höheren Leben deutet (M. Jocham, Moraltheologie, oder die Lehre vom christl. Leben nach den Grundsätzen der kath. Kirche, Bd. II, Sulzbach 1853, 288). Werden diese Argumente in der Apologetik des 19. Jahrhunderts, in der den Zeichen und Wundern Beweiskraft für die Offenbarung Gottes in Geschichte und Gegenwart zukommt, auch für die demonstratio christiana verwendet, ist hier der Weg zu einer demonstratio catholica zumindest freigelegt. G. Bertrin, Lourdes, 12. Nach Bertrin bestätigen die Wunder von Lourdes die dogmatischen Lehrentscheidungen des Papstamtes hinsichtlich Maria. Gleichzeitig wird damit die Autorität des Papstes durch Gott anerkannt. Vgl. hierzu auch die Ausführungen zur religiösen Bedeutung Lourdes für die Gegenwart (ebd., 91-104). Bertrin wurde für sein Werk der Apostolische Segen Pius’ X. zuteil, der die apologetische Tendenz des Werkes richtig einschätzte, wenn er es als „mächtige Waffe zur Verteidigung und Verherrlichung unserer Religion, deren Lehren in demselben eine gründliche und wahrhaft wunderbare Bestätigung erfahren“ bezeichnete. (Ebd., 8).

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In gleichem Tenor schließt auch Rebbert sein sogenanntes „Trostbüchlein“ mit dem Wissen: „Derartige Wunderwirkungen Gottes sind ein Siegel, das Gott immerfort von neuem unter die Stiftungsurkunde der hl. katholischen Kirche drückt, verständlich für jeden, der sehen und denken will. Wäre unsere hl. katholische Kirche nicht die echte wahre Kirche, so würde Gott sie nicht durch solche Wunder verherrlichen können.“98

Hat Konrad Martin (1812-1879), der Bischof von Paderborn, der wegen seiner ultramontanen Haltung während des Kulturkampfs kurzzeitig inhaftiert wurde, diese apologetische Tendenz auch nicht explizit reflektiert, so tritt diese in der Gesamtheit seiner Biographie umso stärker zutage. In einem autobiographischen Werk aus der Zeit des Kulturkampfes hat er Louise Lateau, die er während seines Exils in Belgien besucht hat, ein eigenes Kapitel gewidmet. Hier im Exil, so der Tenor, wird er durch sie der Gnade Gottes teilhaftig.99 Diesen Aspekt haben auch andere Kulturkämpfer in dieser Zeit herausgearbeitet: Die stigmatisierten Frauen des 19. Jahrhunderts, allen voran Louise Lateau, zeigen, dass Gott siegreich auf Seiten der Katholiken kämpft.100 Wessenbergs strikte Einfachheit des Glaubens, die in der Ausgeglichenheit von Vernunft und Gefühl christliche Spiritualität zu entwickeln versuchte, mag kein ausreichendes Verständnis für die Bedürfnisse nach mystischer Erfahrung gehabt haben, aber wie mit diesen Bedürfnissen vielfach umgegangen wurde, wie bestimmte Absurditäten mystischer Erfahrung wahren Glauben beweisen sollten, zeigt ebenso wenig ein Verständnis. Wenn man Mystik als menschliche Begegnung mit Gott versteht, dann müssen auch die verschiedenen mystischen Phänomene, wie sie an den Frauen des 19. Jahrhunderts sichtbar wurden, auf diese Begegnung hin befragt werden.

98 99 100

J. Rebbert, Emmerich und Lateau, 98. K. Martin, Drei Jahre aus meinem Leben, Mainz 1877. A. Rohling, Louise Lateau. Die Stigmatisierte von Bois d’Haine. Nach authentischen medicinischen und theologischen Documenten für Juden und Christen aller Bekenntnisse, Paderborn 1874; P. Majunke, Louise Lateau, ihr Wunderleben und ihre Bedeutung im deutschen Kirchenconflicte, Berlin 1874, insb.: 105-116.

Marcel Poorthuis

Eine Jüdin und ein Priester als neuer Adam und neue Eva im Heiligen Land. Die Mystik der Sophie (Franscisca) van Leer (1892-1953) Sophie van Leer (1892-1953) gehört zu den Menschen, deren wichtigste schöpferische Leistung nicht in ihren Werken, sondern in ihrem Leben liegt. Sie bewegte sich im Umfeld expressionistischer Künstler, namentlich in der Galerie Der Sturm von Herwarth Walden; danach lebte sie als Asketin, lief barfuß durch die Straßen, dem Verhungern nah. Während der Revolution in München wurde sie verhaftet und zum Tode verurteilt. In derselben Nacht legte sie das Gelübde ab, katholisch zu werden, falls sie lebendig davonkäme. Am nächsten Morgen wurde sie freigelassen. Sie ließ sich taufen und nahm den Namen Francisca Maria an. Nach einigen misslungenen Versuchen, ein klösterliches Leben zu führen, durchlief sie eine recht merkwürdige Karriere in der Katholischen Kirche, an der Kardinäle (wie Faulhaber aus München und der Holländer van Rossum) beteiligt waren. Ihr Leben nach der Konversion unterschied sich so stark von ihrem früheren künstlerischen Leben, dass ein Historiker mich gefragt hat, ob Sophie und Francisca vielleicht Verwandte seien? Indessen beschränken sich auch die neueren Veröffentlichungen über Sophie van Leer im deutschen Sprachraum auf die Jahre ihrer künstlerischen Beziehungen, also die Jahre bis 1920. Wir werden zeigen, dass ihr späteres Leben einerseits eine völlig andere Richtung genommen hat, aber andererseits zutiefst mit spirituellen Tendenzen aus ihrer Zeit vor der Konversion verbunden blieb. 1926 war sie die Initiatorin der Amici Israel, der Freunde Israels, einer katholischen Gesellschaft mit tausenden von Priestern als Mitgliedern. Für Historiker ist schon die Stiftung dieser Gesellschaft erstaunlich, noch erstaunlicher aber ist die Aufhebung der Gesellschaft 1928 durch den Vatikan. Trotzdem wird dieser Priesterbund der Amici Israel noch immer als ein Vorläufer der Wende in den Beziehungen der Katholischen Kirche zum Judentum betrachtet, wie sie sich in der Erklärung des Zweiten Vatikanischen Konzils Nostra Aetate (1965) dokumentiert hat.

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Die Mystik der Sophie van Leer (1892-1953)

In diesem Aufsatz werde ich die biographischen Fakten nur nebenbei andeuten und stattdessen versuchen, die spirituelle Biographie der Sophie zu skizzieren. Es ist ohnehin klar, dass diese Frau eine Neigung zu Extremen zeigte, wobei Pathologie und religiöse Inspiration sich nicht immer trennen lassen. Zudem hat sie die Beziehungen zwischen Judentum und Katholizismus in einer Weise betont, die von jüdischer Seite oft als peinlich empfunden wird. Über den zum Katholizismus Konvertierten liegt im jüdisch-christlichen Dialog so etwas wie ein Tabu: Von ihnen sollte eigentlich besser geschwiegen werden. Als extremstes Beispiel hierfür hat Sophie van Leer niemanden ihresgleichen.

1.

Jugend

Sophie wurde 1892 in einer jüdischen Familie geboren. Sie hatte drei Schwestern und vier Brüder und war das siebte von acht Kindern. Schon vor einigen Generationen war die Familie aus Deutschland in die Niederlande gezogen, um dort ihren Geschäften nachzugehen. Sophies Mutter war orthodox und ein Prototyp der jüdischen Mutter der damaligen Zeit.1 Sie überwachte die religiöse Erziehung der Kinder, unterrichtete die Töchter in der Führung einer koscheren Küche und widmete sich der Armenpflege. Der Vater dagegen war begeistert vom messianischen Gedanken des Sozialismus. Obwohl die meisten sozialistischen Denker sich gegen die Religion wandten, bewahrte Vater Willem van Leer die Hoffnung, dass unterschwellige Kräfte des Judentums imstande sein würden, die prophetischen Verheißungen zu erfüllen. Er erblickte in einer aus jüdischer Sicht völlig unorthoxen Weise auch in Johannes dem Täufer und Jesus Mitglieder einer geheimen Bruderschaft der Essenen, die die prophetische Botschaft des Judentums voranbringen könnten. Diese Geheimlehre der Essener sei von den Freimaurern tradiert worden und könne ganz gut außerhalb der kirchlichen dogmatischen Ansichten von Christus erfahren werden, vielleicht sogar besser. Der utopische Sozialismus von der Gleichheit aller Menschen in tiefer Solidarität stand für Willem van Leer ganz und gar im Einklang mit den Lehren dieser Essener. Der Spinozismus war zusammen mit dem Pantheismusstreit in der 1

Vgl. M. Herweg, Die jüdische Mutter. Das verborgene Matriarchat, Darmstadt 1995.

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Mitte des 19. Jahrhunderts von Deutschland aus nach Holland getragen worden. Spinoza war sowohl für eine Spielart des mystischen Pantheismus als auch für die Freigeisterei ein führender Denker, der für Juden und Christen als Alternative zur institutionellen Religion galt. Der Vater der Sophie van Leer war also ein Beispiel dafür, wie – zumindest in den Niederlanden – das Judentum am Ende des 19. Jahrhundert zwischen Orthodoxie und Sozialismus, zwischen traditioneller Religiosität und Spinozismus zerrissen war. Was den Sozialimus anbelangt, so hatten die holländischen Rabbiner fast ausnahmslos die liberale Politik unterstützt, während die jüdischen Arbeiter, die teilweise in tiefster Armut lebten, ihre Hoffnung auf den Sozialismus setzten. Vater Willem war außerdem noch zionistisch. Auch in dieser Hinsicht war die jüdische Gemeinschaft zerrissen; fast alle Rabbiner in den Niederlanden waren Opponenten der zionistischen Bewegung des Theodor Herzl.2 Es scheint vielleicht einseitig, das Leben der Sophie van Leer ganz und gar im Lichte der sozialen Lage des Judentums um 1900 zu betrachten. Doch sollte man bedenken, dass es das Zeitalter war, als jüdische Frauen zum ersten Mal neue Rollen jenseits der der Mutter anstrebten. Bertha Pappenheim (1859-1936) ist eine der bekanntesten jüdischen Frauen, die sich sowohl für jüdische Bildung als auch für die Frauenemanzipation einsetzten.3 Sophies jüngste Schwester Clara van Leer (geboren 1895) war eine der ersten zionistischen Frauen in den Niederlanden, die 1920 in Palästina einwanderte – also schon wenige Jahre nach dem Ersten Weltkrieg.4 Der Zionismus nach 1900 ermöglichte Frauen eine Karriere statt nur die Mutterschaft. Beide Schwestern haben also eine neue Bestimmung in ihrem Leben gesucht, wobei Clara die Entscheidung Sophies für den Katholizimus aus tiefstem Herzen verabscheute.

2

3 4

Ausnahme war Rabbiner Joseph Dünner, der ein Bekannter des Mozes Hess war. Mozes Hess war einer der Begründer des Zionismus, der 1862 sein Buch Rom und Jerusalem verfasste. Wie bekannt, ist sie ebenfalls Freuds Patientin, Anna O. In Holland betraf es bis 1930 weniger als hundert holländische Juden, wozu noch die Juden gezählt werden müssen, die aus Osteuropa wegen Pogromen nach Holland ausgewandert waren.

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Aus der Jugend Sophies hören wir, dass sie gern ein Junge gewesen wäre.5 Vor allem ihre inbrünstige Andacht in der Synagoge war bemerkenswert, auch im Vergleich zu ihren Brüdern, die Romane in ihren Gebetbüchern versteckten. Ihre Mutter sagte einmal, ohne das Revolutionäre ihrer Aussage zu bemerken: „Schade, dass du kein Junge bist. Du wärst ein guter Rabbiner.“ Gerade zwischen der jüdischen traditionellen Mutter und den Töchtern war damals im Judentum der Widerstreit am größten.

2.

Der Bildhauer Fritz Huf

Obwohl der Vater über eine große künstlerische Begabung verfügte und die Töchter dazu auch noch musizierten, spielte für die Familie die damalige moderne Kunst keine wichtige Rolle. Die Familie war inzwischen von Nimwegen nach Luzern übergesiedelt. So war es denn auch ein gewaltiger Schock, als Sophie auf einmal mit einem Bildhauer namens Fritz Huf aus Luzern zusammenleben wollte. Dieser Huf war ein ziemlich bekannter Künstler, der im Stil Gustave Rodins arbeitete.6 Zweifellos hat er die junge Sophie, die damals schon nach Gegenständen für ihre Verehrung suchte, stark beeindruckt. Die Mutter verbot ihr, das elterliche Haus wieder zu betreten, und der Vater konnte die Beziehungen zu seiner Tochter nur im Geheimen fortführen. Sophie selber scheint die Konsequenzen ihrer Entscheidung, bei Fritz Huf zu wohnen, damals kaum abgesehen zu haben; die sexuelle Beziehung zu Fritz Huf bedauerte sie jedoch ihr ganzes übriges Leben lang. Die Anziehung des Zölibats scheint für sie immer auch mit der Freiheit von Männern verbunden gewesen zu sein, während sie sich stattdessen nach einer mystischen Zweiheit sehnte, die kaum die erotische Dimension bezwingen konnte – wovon noch die Rede sein wird Sie war in diesen Jahren von Wagner fasziniert und auch von der Matthäuspassion in der Interpretation des holländischen Dirigenten Meng-

5

6

Biographische Daten aus der Jugend sind der Biographie: M. Poorthuis/T. Salemink, Op zoek naar de blauwe ruiter [Auf der Suche nach dem blauen Reiter]. Het leven van Sophie/Francisca van Leer 1892-1953, Nijmegen 2000, entnommen. Künstler-Lexikon der Schweiz. XX. Jahrhundert, Frauenfeld 1958-1961; vgl. auch: M. Poorthuis/T. Salemink, Op zoek naar de blauwe ruiter, 46-48.

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elberg, der damals in Frankfurt arbeitete. Sophie ist ein Musterbeispiel für die Faszination, die von Wagner und von der deutschen Kultur überhaupt auf Juden ausging. Sigismund war der Name ihres ältesten Bruders; Siegfried war damals ein gängiger Name für einen jüdischen Jungen. Der Erste Weltkrieg prägte auch die Aktivitäten von Sophie und Fritz: Sie arbeiteten in einem Lazarett als Freiwillige. Sophie wurde fanatisch patriotisch: Ihre Liebe für das deutsche Volk war grenzenlos geworden. Aber die Beziehung zu Huf hatte kein Fundament. Als das Zusammenleben mit Huf schließlich auf eine schreckliche Enttäuschung hinauslief, geschah etwas Merkwürdiges: Im Sanatorium, in dem sie arbeitete, begegnete sie einem jungen Industriellen, der zugleich einer der ersten Sammler expressionistischer Gemälde war: Franz Kluxen. Er fragte sie: „Kommst du mit?” Am nächsten Morgen verließ Sophie den Bildhauer Fritz Huf und folgte dem Kunstsammler Franz Kluxen, der in der Einsamkeit auf der Insel Föhr wohnte. Tag und Nacht waren innerhalb des Hauses schwer zu unterscheiden, und halbe Nächte wurden mit Klavierspiel gefüllt, vor allem mit Wagner, aber auch mit Beethoven. In ihrer Autobiographie aus dem Jahre 1919 schreibt Sophie: „Ein dunkles, unergründliches Schicksal hielt uns aneinander gekettet, und keiner von uns wagte, diese geheimnisvollen Bande zu brechen, wenn sie sich nicht von selbst lösten.”7

3.

Der Traum

Dann, in einer Nacht im Dezember 1914, träumt Sophie. Hat sie diesen Traum, den sie 1919 in ihrer Autobiographie erzählt, nach ihrem Übertritt zur Katholischen Kirche „redigiert”?8 Ich meine, dass das nicht der Fall ist: Der Traum hat sowohl in den Kreisen des Expresionismus als

7

8

F. van Leer, Autobiographie, Nijmegen o.J., 26. Vgl. auch: J. Enklaar, Sophie van Leer (1892-1953): „Und gleich einem Blitz ist eines Tages die Erkenntnis in mein Hirn geschlagen”, in: J. Enklaar/H. Ester (Hg.), Im Schatten der Literaturgeschichte (Duitse Kroniek 54), Amsterdam 2005, 313. Dieser Meinung ist P. Vock, „Ich bleibe mir selbst keine fünf Minuten treu." Zwischen Literatur, Politik und Religion: Sophie van Leer im Sturm-Kreis, in: L. Bluhm/A. Meier (Hg.), Else Lasker-Schüler-Jahrbuch 3, Trier 2007, 54.

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auch später im religiösen Bereich Bedeutung. Es ist ein Traum über einen blauen Reiter auf einem weißen Pferd. Eines Nachts hatte ich einen merkwürdigen Traum. Er beschäftigte mich sehr, und ich erzählte ihn meinem Meister [Kluxen; M.P.], der sich mit Traumdeuten abgab. Der Inhalt war dieser: Ich befand mich zu Füßen eines Thrones, auf dem ein alter Mann saß. Er gab mir eine geschlossene Pergamentrolle mit dem Befehl, diese Rolle geschlossen seinem Sohn zu bringen, der fortgeritten sei. Wenn ich ihm diese Rolle gegeben haben werde, solle ich sein Pferd beim Zügel fassen und es führen, jedoch nach der entgegengesetzten Seite, denn jetzt ritte er in die falsche Richtung. Ich nahm die Rolle und eilte fort. Ich kam in eine Wüste und sah von weitem einen Reiter in einem blauen Mantel. Ein weisses Pferd trug ihn. Atemlos eilte ich ihm nach und reichte ihm die Rolle. Er las sie und schüttelte den Kopf und sagte „Ich will nicht”. Doch ohne ein Wort zu erwidern, nahm ich das Pferd beim Zügel und leitete es, nach der Richtung, die der König mir befohlen hatte. Als ich dann aufwachte, sah ich vor mir die weite Wüste, das Perd mit dem blauen Reiter am Zügel, mit der anderen Hand wies ich geradeaus nach dem Horizont, wo die Sonne aufging. Mein Freund gab mir eine merkwuerdige Erklärung dieses Traumes, die mich jedoch nicht befriedigte. Denn seit jener Nacht konnte ich den blauen Prinzen auf dem weissen Pferde nicht mehr vergessen.Ich musste ihn suchen gehen. Und ich beschloss, ihn suchen zu gehen.9

Dieser Traum hat natürlich mit dem expressionistischen Klima dieser Jahre zu tun. Die beiden Maler Wassily Kandinsky und Franz Marc hatten nur einige Jahre vorher die künstlerische Bewegung Der Blaue Reiter begründet, und die Gemälde Kandinskys zeigen mehrmals einen blauen Reiter mit weißem Mantel. Kandinsky hat 1911 für die erste Lieferung des Almanachs einen Umschlag entworfen, auf dem der blaue Reiter in den Himmel springt.10 Wir dürfen durchaus annehmen, dass der Kunstsammler Kluxen 1914 diesen Almanach besaß, da auch mehrere Gemälde von Kandinsky und Marc an seiner Wand hingen. Der Traum scheint also den expressionistischen Künstler zu symbolisieren, der auserkoren ist, der Menschheit die göttliche Botschaft der Kunst zu übermitteln. Jat9 10

F. van Leer, Autobiographie, 26. Information über “Der blaue Reiter” und Kandinsky in: A. u. L. Vezin, Kandinsky and Der Blaue Reiter, Paris 1992. Vgl. auch: J. Winter, Sites of Memory, Sites of Mourning. The Great War in European Cultural History, Cambridge 1995.

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tie Enklaar hat gezeigt, dass Kandinsky die Aufgabe des Künstlers mit der mythischen Reise vergleicht, die den Schamanen zu Pferd von der Erde weg ins Himmlische führt. Je tiefer das Blau wird, desto mehr ruft es den Menschen in das Unendliche, weckt in ihm die Sehnsucht nach Reinem und schließlich Übersinnlichem. Es ist die Farbe des Himmels.11

Für den Traum gibt es aber noch mehr Deutungsmöglichkeiten. Es könnte auch sein, dass die Kunst, der Blaue Reiter, einen Irrweg eingeschlagen hat, und dass Sophie ihr in Gottes Auftrag den rechten Weg zeigen muss. Sie nimmt das Pferd bei den Zügeln, obwohl der Reiter es nicht will. Wir werden sehen, dass die Spannung zwischen Kunst und Religion genau das ist, was Sophie in den nächsten Jahren tiefgehend beschäftigen wird. Auch persönliche Motive können das ihre zu dem Traum beigetragen haben: Sophie war eifersüchtig auf die Dichterin Else Lasker-Schüler, die mit Fritz Huf bekannt war. Sie hatte zu Fritz gesagt, er liefe nur in Kleidern der Arbeiter, um Sophie zu behagen. Kluxen hatte Sophie an die Esoterik herangeführt, die Mazdaznanlehre (mit der auch schon Fritz Huf bekannt war) und die Magie. Der Ottoman Zar-Adusht Hanisch (1844-1936), geboren in Teheran, verbreitete seine Mazdaznanlehre um 1900 in Chicago und kam 1907 nach Deutschland, um seine Lehre auch dort zu predigen. Die Mazdaznanlehre ist eine Mischung aus Esoterik, Theosophie, Rassenlehre und Atemübungen, die es erlauben sollen, den Geist Gottes einzuatmen, und hat später das Bauhaus tiefgehend beeinflusst, vor allem den Künstler Johannes Itten.12 Der holländische Künstler Paul Citroen war in einem ironischen Rückblick nachträglich weniger beeindruckt.13 Später wird Sophie erkennen, dass Kluxen das eigentlich Religiöse, das Göttliche besser versteht als Herwarth Walden, der Führer des expressionistischen Kreises Der Sturm. Aber noch ist sie nicht so weit. Hinzu kam, dass gerade Kluxen, wie Sophie meint, die tiefere Botschaft des 11 12 13

W. Kandinsky, Über das Geistige in der Kunst, Bern 1952, 92ff. Vgl. J. Enklaar, Sophie van Leer, 314. Vgl. auch: M. Tuchman (Hg.), The spiritual in Art: abstract painting 1890-1985, New York 1987, 210-213. P. Citroen, Mazdaznan am Bauhaus, in: E. Neumann (Hg.), Bauhaus und Bauhäusler. Erinnerungen und Bekenntnisse, Köln 1985, 86-95; M. Poorthuis/T. Salemink, Op zoek naar de blauwe ruiter, 64.

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Die Mystik der Sophie van Leer (1892-1953)

Traumes nicht zu würdigen wusste. Sie verließ Franz Kluxen, obwohl sie sich auch später seinem Einfluss nicht entziehen konnte. Im Februar 1915 ging Sophie zur Galerie Der Sturm in Berlin, von der sie bei Kluxen viel gehört haben muss. Sie meldete sich dort, um an der Kasse zu arbeiten. Später stellte sich heraus, dass sie selbst Gedichte und kurze Geschichten schrieb, die auf Herwarth Waldens Gutachten hin in dem Blatt Der Sturm veröffentlicht wurden. In einem Brief vom 29. Mai 1915, den ich im Berliner Bauhausarchiv gefunden habe, zeigt sich, wie sehr Sophie Herwarth Walden, der mehr Leiter der expressionistischen Bewegung Der Sturm als selbst ein aktiv schöpferischer Künstler war, anbetete. Walden war für sie wie eine belagerte Stadt, die sie verteidigen musste. Sie konnte das ihrer Ansicht nach besser als seine Frau Nell Walden, da Herwarth und sie (Sophie) beide jüdisch waren. Nell Walden, die Sophies Brief später kurz zitiert hat, betonte Waldens Erhabenheit, aber ignorierte diese „Liebeserklärung“.14 Die Rivalität ist spürbar – wobei der Tadel auch noch Waldens erste Frau, Else Lasker-Schüler, wegen ihrer Kritik an ihrem Ex-Mann trifft. Nie wird Sophie den Sturm verlassen, heißt es in dem Brief, der als Brief an Georg Muche begonnen worden war, inzwischen aber zum Liebesbrief an Walden geworden ist. Die Verlobung mit Georg Muche wird in diesem Brief nebenbei noch erwähnt: „Gehe, Liebster, und denke nun nicht an mich.“

4.

Der Sturm

Sophie van Leers Gedichte wurden als sanft und musikalisch geschätzt.15 Sie sind im expressionistischen Idiom gehalten: Tod, Blut, Sterne, kurze Zeilen. Wer genauer hinschaut und hier und da biographische Daten einbezieht, wundert sich bisweilen. Aus dem ersten Gedicht, Kinderland,16 spricht das Verlangen, in die Zeit der Unschuld zurückzukehren.

14 15 16

N. Walden, Herwarth Walden. Ein Lebensbild, Berlin 1965, 113-115. Vgl. auch P. Vock, "Ich bleibe mir selbst keine fünf Minuten treu." 49-74; J. Enklaar, Sophie van Leer, 319-324. In: Der Sturm. Halbmonatsschrift für Kultur und die Künste 8 (1915), 52. Die Gedichte und Geschichten sind auch gesammelt worden von: A.H. Huussen, Sophie van Leer. Een expressionistische dichteres, Haren 1997, 133-178.

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Mädie, komm Und spiel mit mir Mädie, hör Die Postkutsche ist da Dein Papa ist angekommen

Aber dann scheint alles öde und gebrochen zu sein: Und der Brunnen muss gesäubert werden Er ist ausgetrocknet Und Sand und Steine darin … Mädie, dein Puppenhaus ist leer Und die Fensterchen zerbrochen ...

Das Ende ist gerade für eine jüdische Frau sonderbar: Oben auf dem Bettchen Liegt dein hübsches, weißes Kleid Das sollst du morgen anziehen Morgen ist es Sonntag

Sollte sich hier schon das Verlangen nach einem neuen Anfang herauskristallisieren, das Verlangen danach, katholisch zu werden? „Morgen ist es Sonntag…“: Vielleicht keine besondere Ausdrucksweise, aber wer jüdisch-orthodox aufgewachsen ist, wird dieses Gedichtende kaum neutral wahrnehmen können. Schuld ist eine zentrale Thematik. Sophie hatte eine tiefe Verehrung für Wagner, die viel weiter reichte als eine rein ästhetische Würdigung. Sie sah in den Opern einen Erlösungsmythos und glaubte, dass deren Geschichten ihr eigenes Leben genau widerspiegelten. Sie glaubte, dass so wie Parzival von Kundry verraten wurde, auch Christus von ihr, als Jüdin, verraten wurde. In dem folgenden Gedicht ist sie einerseits Maria, die ihren Sohn pflegt, andererseits die Schuldige. Gedicht17 Ich kniee In grauen Kapellen Und vor den Nischen

17

In: Der Sturm 10 (1915), 81.

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Die Mystik der Sophie van Leer (1892-1953) In schützenden Felsen Wo vor deinem Bildnis, Maria, Ein Öllicht brennt In rotem Glas; Wo Kränze welken Herzen aus Wachs Und bunte Bilder Ich beichte in düstren Domen Und küsse, Gekreuzigter, Deine Pein Ich bette Dein totes Haupt In meinen weinenden Schoss

Das Gedicht scheint pantheistisch zu enden, gerade dort, wo auch der Verrat genannt wird: Ich bin, der die heiligen Bücher schrieb Ich bin der Leidensweg Und die weinenden Frauen Ich bin der Freund Der Richter Der Verräter Ich bin Für den er am Kreuze lebt.

Die letzte Zeile drückt aus, dass Christus gerade am Kreuz Leben spendet. Die kurze Geschichte Die Geschwister18 scheint Autobiographisches aus der Jugend und der Gegenwart zu vermischen. Zwei Kinder, Bruder und Schwester, sind gleichzeitig Verliebte. Man kann hierbei an Wagners Siegmund und Sieglinde denken. Sie glaubt, dass sie nicht das Kind ihrer Eltern ist. Sie geht beichten, und da der Junge neugierig ist, verabreden sie, dass er die Beichte belauschen soll. Sie beichtet: „Ich habe den Eltern Böses gewünscht. Ich wollte von zu Hause fortlaufen. Ich habe sündige Gedanken gehabt.“

18

In: Der Sturm 1 (1916), 112.

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Danach ist die Rede davon, dass der Junge seinen toten Bruder auf den Schultern getragen und in den See gestürzt habe. Die drückende Atmosphäre wird noch gesteigert, als das Mädchen vorschlägt, zusammen ins Kloster zu gehen: „Und später werde ich alles beichten.“ Schuld, Liebe und Beichte scheinen hier unentwirrbar verknüpft zu sein. Merkwürdig ist, dass spätere Vorgänge im Leben Sophies eine gewisse Ähnlichkeit mit dieser Geschichte zeigen.

5.

Willhelm Runge

Über das Leben des expressionistischen Dichters Wilhelm Runge (18941918), der als 24-Jähriger im Ersten Weltkrieg an der Front gefallen war, war bis vor einigen Jahren wenig bekannt.19 Zwischen 1915 und 1918 veröffentlichte er achtzehn Gedichte in Der Sturm, und posthum erschien der Gedichtband Das Denken träumt. Gedichte im Sturm Verlag (Berlin 1918). Im Jahre 1990 erschien an der Universität Siegen in der Reihe „Vergessene Autoren der Moderne“ (hgg. von Marcel Beyer und Karl Riha) ein Bändchen: Die Sonne wintert – Ausgewählte Gedichte, mit einem Nachwort von Wilfried Ihrig. Georg Muche, der später mit dem Bauhaus verbundene Maler und Freund Runges, widmete diesem einige Gemälde.20 Dieser Wilhelm Runge spielte für Sophie eine wichtige Rolle. Sie ist ihm wenige Tage nach ihrem Eintritt in der Galerie begegnet. Auch der junge Maler Georg Muche war der Galerie Der Sturm verbunden und wurde Sophies Verlobter in den Jahren ihrer Arbeit für Der Sturm. Georg Muche war wohl der erste abstrakte Maler in Deutschland und hat sich nicht wie Kandinsky und Mondriaan vom Konkreten zum Abstrakten entwickelt. Der Briefwechsel zwischen Sophie und Georg Muche ist kunsthistorisch in einem Buch über Georg Muche verarbeitet und wird darin als eine der wichtigsten Auseinandersetzungen über Kunst und Religion bezeichnet.21 Der Briefwechsel zwischen Wilhelm Runge und

19 20 21

W. Ihrig (Hg.), Wilhelm Runge (1894-1918). Die Sonne wintert, Siegen 1990, 26; P. Raabe, Die Autoren und Bücher des Expressionismus, Stuttgart 1985, 398f. M. Droste (Hg.), Georg Muche. Das künstlerische Werk 1912-1927, Berlin 1980, 83; 98. L. Busch, Georg Muche. Dokumentation zum malerischen Werk der Jahre 1915 bis 1920, Tübingen 1984.

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Sophie galt als verloren.22 Mein Kollege Theo Salemink und ich haben diesen Briefwechsel in einem umfangreichen Privatarchiv zu Sophie van Leer, bestehend aus Briefen, Tagebüchern usw. wiedergefunden.23 Im Laufe des Jahres werden wir zusammen mit Jattie Enklaar diesen „Briefwechsel aus den Niederlanden“ in deutscher Sprache veröffentlichen.24 Der Satz: „Über das Leben des Wilhelm Runge ist leider nichts bekannt“, wie ein Sammelband über den Expressionismus die Lage kennzeichnete, kann dann endgültig korrigiert werden.25 Anfang 1915 also waren Georg Muche, Sophie van Leer und Wilhelm Runge befreundet und alle drei hatten Beziehungen zu Herwarth Walden und zur Galerie Der Sturm. Wilhelm war Soldat und die Kommunikation verlief in Briefen, bisweilen mehreren in einer Woche und manche von ihnen mehrere Seiten lang. Der Krieg beherrschte natürlich die Gedanken beider. „Auf springt der Tod und zügelt starr die Augen“, so fängt ein Gedicht Wilhelm Runges aus dem Jahre 1917 an. Das Ende lautet: Blut stöhnt die Welt Blut lässt sie lässig fallen Wirft nach die Sterne in den trägen Staub Hoch reckt das Herz vielsommerstarke Himmel Gewissenlos brückt Überstern die Hand Und greift das totzerzauste Kinderlächeln Haschend neckt Seele Sterben Spiel durch Spiel Sinnen küßt Muterbeten in der Ferne Sorglos streicht Tränen aus der klaren Stirn Und lehnt das Haupt dem grauenhaften Tag Gelassen in den todesschwangeern Schoß26

22 23 24 25

26

A.H. Huussen, Sophie van Leer, 28; W. Ihrig (Hg.), Wilhelm Runge, 28. Es handelt sich um das Archiv des Historikers Andries Münnichs, der auch beim Verfassen der Biographie der Sophie van Leer eine große Hilfe war. J. Enklaar/M. Poorthuis/T. Salemink (Hg.), Wilhelm Runge/Sophie van Leer. Briefe aus einer holländischen Kollektion, Würzburg 2009. Auch in M. Poorthuis/T. Salemink, Op zoek naar de blauwe ruiter, ist vieles über Runge mitgeteilt. N. Pestova, Wilhelm Runge: „Das Denken träumt", in: J. Enklaar/H. Ester (Hg), Im Schatten der Literaturgeschichte (Duitse Kroniek 54), Amsterdam 2005, 299-306, ist noch immer der Ansicht, dass nichts über Runge bekannt ist. In: Der Sturm 7 (1917), 12; 143.

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Trotzdem ist das wichtigste Thema der Briefe Gott. Es ist geradezu sonderbar, wie sich jemand an der Front so frei über Gefahr und Erschöpfung hinwegsetzen und in die spirituellen Fundamente seiner Existenz vertiefen kann.

6. Der Briefwechsel zwischen Sophie van Leer und Willhelm Runge Koitz, 10.6.16. Hochverehrtes Frl. v. Leer, Die Sprache ist doch nur der Weg und das Mittel – das Ziel und der Zweck ist das, was wir nicht kennen, das, was dahinter steht, was wir nur leise ahnen, aber noch nicht nennen können. Wie dürfen wir sagen: „Gott!“ oder „Liebe!“ „Gott“ ist eine Gotteslästerung. Das Wort „Gott“ ist eine Überhebung der Sprache, die im Munde des Volkes zu leicht ihre Demut verliert. Demut ist allerhöchste Kraft. Sie schreiben:27 „Ein Disput in höheren Dingen führt zu nichts, denn man darf einen Anderen nicht überzeugen wollen. Damit greift man ,den Gott in ihm‘ an und das ist Sünde. Ich sagte Ihnen schon: ,Ich kann niemand lehren und niemand kann mein Lehrer sein.‘ …“ Gott wird lächeln über alle Ethik und Moral, über alle „Religion“. Unser Stammeln ist allerhöchster Gottesdienst. Gott leuchtet heller im Stammeln als im Schweigen: in der Entzückung der Seele als in der Ruhe, die „das Sammeln zur Entzückung“ ist. Wenn der Geist noch stammelt, wie kann da der Leib schon handeln wollen. Nein, es ist sicher: „Gott“ heute leben wollen, ist unmöglich und dies Tasten des Leibes nach Gottes Atem ist allzufern von allem Ursprung. Leben kann man heute nur nach dem Intellekt, diesem zarten Kind des Instinktes, des Geistes. Stramm also weiter als Kluxen!! ... Jeder Mensch, den wir verehren (sei es nun Walden, Stramm, Christus, Kluxen, Muche usw.) ... hat von irgend einer Seite der Gottheit (des Sinns, der Vollendung) oder auch von der Gottheit als Ganzem eine höhere Vorstellung als wir. Er bekehrt uns also, ob wir wollen oder nicht – ob er will oder nicht! …

27

Brief der Sophie van Leer, 8.6.1916, in: Staatsbibliothek zu Berlin/Preußischer Kulturbesitz/Handschriftenabteilung, Nachlass Muche; Wilhelm Runge, o.O u. J.

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Die Mystik der Sophie van Leer (1892-1953) Sie sagen: „Es gibt Wichtigeres, als dass wir leben. Es ist natürlich, dass wir hier im Leben etwas zu tun haben.“ Dagegen ich: Wer kann das so sagen. Wahrscheinlich gibt es nichts Wichtigeres, als dass wir leben. Nur kommt es darauf an, dass wir wirklich leben und nicht das Herz tot ist, wenn der Kopf lebt und wenn das Hirn lebt, das Blut in Fesseln liegt. Alles Leben lechzt nach der Wiedergeburt des Instinktes. Die einzige Möglichkeit, es weiter zu führen. Mit unserer Bewusstheit können wir uns begraben lassen (wörtlich) und tun es auch (dieser Krieg) ... unsere Unbewusstheit, die wir für gar nichts achteten, ist die Brücke in die Zukunft. Man darf drum auch noch nicht sagen: es ist natürlich, dass wir im Leben etwas zu tun haben. Das wäre ein Wissen. Es muss aber erst das Nichtwissen in Qual und Schmerzen geboren werden. … Ich weiss, dass ihre Seele kindhaft ist, und deshalb spreche ich so gern mit ihr durch das Gewirr der Zeiten.

Sophie drückt in diesem Brief eine Sehnsucht nach einer Bedeutung jenseits reiner Ästhetik aus. Runge sieht in den Künstlern, seien es Stramm, Kluxen, Walden oder Muche, Menschen, die Gott näher sind als durchschnittliche Menschen. Sophie hat aber schon erkannt, dass Herwarth Walden und die Galerie Der Sturm die Kunst zu sehr als Ersatz für die Religion betrachten, und dabei den Idealismus eines Tolstois oder der Bergpredigt nicht verstehen. Kluxen ist mit seiner esoterischen Orientierung schon weiter als Walden. 14.10.16 Hochverehrtes Fräulein van Leer, Wir „liegen noch in den Windeln“, wir „dürfen nicht versanden“, wir „müssen weiter“. – Ja, ja, tausendmal ja, und wir werfen unsere Seele hinaus weit in die Nacht, springen auf die schwindligsten, leichtesten Brücken, lassen alles Andere hinter uns zurück, dringen ein in das unbekannte Dunkel und schaffen einen Weg durch das Chaos für unsere Sehnsucht. Das allein verstehe ich unter Sturm; so meine ich ihn. Selbstverständlich sind gesellige Zusammenkünfte der Sturmanhänger nett aber völlig nebensächlich und ohne Wert für die eigene Seele, die stets auf dem Sprunge steht heraus aus dem ganzen Getrieben. Wohl dürfen wir nicht „ausruhen auf den Lorbeeren Stramms und Chagalls“ ... müssen „unsern eigenen Weg, allein gehen“. Ja, wir können ihn nur gehen und er führt weit über alles Gewesene hinaus in eine neue Welt. Der Sturm kann wieder ein Sturm werden: Kluxen muss rein, während andere überflüssig sind. So meine ich: Schreiben Sie, bitte!

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Ihnen und Herrn Muche herzl. Gruss! In tiefster Ehrerbietung W. Runge

Man sieht, wie unerschütterlich Sophie das Religiöse höher schätzt als die Kunst. Sie scheint die Kunst nur als Spiel zu betrachten, wohingegen sich Willhelm Runge – mehr wirklicher Künstler – heftig sträubt. Aber allmählich scheint auch Runge das Göttliche gerade als das Zentrum aller Poesie zu betrachten. Im nächsten Brief entfaltet Sophie ihre Gedanken über das Göttliche weiter. Berlin, 25.10.191628 Lieber Herr Runge, Herzlichen Dank für das Gedicht und Ihren schönen Brief. Ich bin froh, uns einig zu wissen in dem einen Punkt: dass wir beide vorwärts wollen und ich will heute versuchen, Ihnen zu antworten auf die heisse Frage: Warum ist dieser Weg der Gottnähere, warum der andere weniger. Was ich Ihnen heute sage, ist das Heiligste, was ich habe, und wir mussten erst uns so nahe gekommen sein, bis ich mich entschloss zu Ihnen zu sprechen. Sie haben wohl zwischenzeitlich auch meinen anderen, milderen Brief bekommen, in dem ich Ihnen sagte, dass mir Vieles noch unklar ist, d.h. der Weg. Das Ziel sehe ich wohl, aber wenn ich es Ihnen sage, werden nicht Wolken sich Ihnen dazwischen schieben und Sie nur das Unklare sehen lassen? Das Christusproblem ist die Fleischwerdung Gottes. Das heisst: Gott gab seinen Sohn hin, Mensch zu sein, und die Menschen müssen danach streben wieder Gott zu werden. Sie sollen nicht gestalten, indem sie aussprechen (gestalten wie es der Sturm meint), sondern sich selbst zur Vollkommenheit gestalten. Ich fragte einmal Kluxen, warum der Künstler niemals mit seinem Werk zufrieden ist. Da antwortete er: „Die Künstler sind unzufrieden mit ihrer Arbeit, nicht weil das Werk die Vision nicht ganz enthält (das kann ein Werk vielleicht überhaupt nicht). Der wahre Grund ist der: dass der Künstler im Werk die Vision eher realisieren wollte, als in seinem Leben. Das Erscheinen der Vision (des Heilandes) auf Erden: im Werk (des Wortes im Fleisch) ist nur in Menschengestalt möglich. Aber s i e möch28

Dieser Brief stammt nicht aus der holländischen Sammlung, sondern aus dem Nachlass Muche; Wilhelm Runge, o.O u. J., Staatsbibliothek zu Berlin/Preußischer Kulturbesitz/Handschriftenabteilung. Wir danken für die freundliche Gestattung der Benutzung. Dieser Brief wird auch vollständig in unserer Publikation zum Briefwechsel abgedruckt werden.

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Die Mystik der Sophie van Leer (1892-1953) ten sich damit begnügen, die Vision auf Leinen in Ölfarbe spuken zu lassen, d.h. durch Beschwörung zu zitieren. Die Vision schwebt über dem Chaos der Materie. Auf den weissen Leinen im Keilrahmen spiegelt sie sich gelegentlich, mehr oder weniger trübe. In seltenen Fällen spiegelt sie sich darauf wie die Sonne auf dem Meere. Aber die Vision ist nicht eitel. Es kommt ihr nicht darauf an, sich zu spiegeln. Sie will vielmehr sich inkarnieren. So sehr liebt Gott die Welt, dass er seinen Sohn hingab, Mensch zu sein. Zu diesem Zweck muss aber umgekehrt der Mensch die Vision werden, nicht mehr aus Dreck plus Feuer (getrennt) bestehen, sondern feuriger Dreck, selbstleuchtender Planet, d.h. Sonne, inkarniertes Feuer werden." Sehen Sie, d a s glaube ich. Wir selbst sollen die Gestalt der Vision werden. Und nicht die Vision durch Ausdrucksmittel (wie das Wort, die Farbe, den Ton) sichtbar werden lassen wollen. …

In demselben Brief kommt nun auch die zentrale Thematik des Verhältnisses von Kunst und Religion zur Sprache. Sophie hatte inzwischen auch ihren Verlobten Georg Muche fast davon überzeugt, dass die Malerei nicht das Wesentliche sei, und dass Walden eine Vergötterung der Kunst befürwortete, die man ablehnen sollte. Muche wird sich später, wenn er im Bauhaus ist, sogar fragen, ob er nicht ins Kloster gehen soll. Ein weiser Mönch aus dem Beuroner Kloster, selber Künstler, hat ihm dann geraten, Gott mit der Kunst zu dienen. „Gott hat die Künstler auf die Erde geworfen, weil er nicht weiss, was er im Himmel mit ihnen anfangen soll.“29 Den Anstoß zu dieser Krise hatte Sophie gegeben, auch wenn Muche sie in dieser Hinsicht rückblickend nicht nennt. Auch Runge geht es um die Fragen von Kunst und Gott. Und freilich ist Runge, an der Front dem Tod und der Gewalt ausgesetzt, immer mehr mit Sophie einverstanden. Sophie führt weiter aus: Es gab eine Zeit, da ich es herrlich und berauschend fand, diese Gedanken nun weiter zu spinnen, mich darüber zu unterhalten. Aber da ... kam ich in den Sturm. Und lernte die Waldensche These des „Gestalten“. Also ich sprach mein Wissen nicht nur aus, sondern ich suchte für meine Gefühle, für die Liebe der Menschen unter sich und zu Gott (meine letzten Gedichte) einen neuen, eigenen Ausdruck. Aber, nun ich so weit gekommen bin, dass ich bloss immer so weiter

29

G. Muche, Blickpunkt Sturm Dada Bauhaus Gegenwart, München 1961, 149. Der Monch ist der Künstler Willibrord Verkade, der selber eine Autobiographie geschrieben hat.

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im Tal des Dichtens spazieren gehen kann, nun ich w e i s s, worauf es in der Kunst ankommt, nun ich mich zur Ruhe setzen und pensionieren lassen kann, nun werde ich unzufrieden und fühle mein HierSein als einen Stillstand, folglich als eine Hemmung in meiner Entwicklung. Und niemand kann mir raten. Weder praktisch noch logisch, noch irgendwie sonst. Was Sie mir sagen in Ihrer süssen Blumensprache, was mir Herr Muche sagt mit seinen farbenwundervollen Bildern, die ich liebe, alles was Dichter, Maler, Gläubige je gesagt haben, bestätigt mir nur, was ich Ihnen hier schrieb. Und ich muss vorwärts. Und wer mich aufhalten will durch Diskussion, der ist mein Widersacher, denn das Reich Gottes, das ich suche, kann nur durch Frieden und Schweigen gefunden werden. (Man muss in sich hinein lauschen.) Denken Sie nicht, dass ich hiermit der Kunst die Daseinsberechtigung abspreche. Ich liebe sie nach wie vor, nur nicht mehr ausschliesslich und nicht mehr als mein Ziel, sondern als Blume an meinem Wege, den ich in Ihren Augen (sicherlich) steiler und dornenvoller mache, als nötig. Aber ich folge nur meiner inneren Stimme, ich klammere mich auch nicht an die Lehren anderer. Denn ich bin nun schon seit zwei Jahren von Kluxen und seinen Ideen getrennt, habe neue Ideen und Menschen kennen gelernt, und hätte Zeit gehabt alles Gewesene zu vergessen. Aber dass es in mir lebt, auch ohne dass ich mich darum kümmerte, zeigt mir meine Unruhe, mit der ich meine Tage im Sturm zähle. Ein Versuch, mit Herrn Walden darüber ins Klare zu kommen, scheiterte an der Theorie von Walden, dass „der Mensch keine Nerven haben darf. Das liegt nur an Unterernährung. Sie müssen mehr essen“, etc. etc. Ich werde also, so leid es mir tut, früher oder später wohl nicht friedlich vom Sturm wegkommen können, denn heiliger als die Theorien von Herrn Walden, den ich persönlich und künstlerisch ausserordentlich hochschätze, ist mir das, was Sie meinen Glauben nennen werden.

Dann führt Sophie in autobiographischer Sicht eine Art Selbstanalyse durch: Ich bin bisher in meinem ganzen Leben rastlos gewesen, habe viel Unfrieden genossen, weil ich mich jeder Sache, die in meinen Weg kam und die ich anerkannte, bedingungslos mit grosser Begeisterung ergab, und dadurch vieles Andere beiseite stiess, das mich dann als Feind betrachtete, obwohl ich es nicht war. Und an nichts in meinem ganzen Leben ohne Dankbarkeit zurückdenke. Jemand sagte mir kürzlich: „Sie müssen sich doch anderen Menschen gegenüber uralt vorkommen.“ Es ist möglich, dass Je-

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Die Mystik der Sophie van Leer (1892-1953) mand mit meinen Erfahrungen und Ansichten lang genug gelebt hat, und sich nun (wenn er Das als das Höchste betrachtete) begraben lassen kann. Aber für mich fängt das Leben erst an; nachdem ich zur „Anschauung“ vorgedrungen bin, dass ich mein Leben gestalten kann. Und das fängt erst an. Sie schreiben: „Wie süss, dies Brennen um das Wissen Gottes.“ So sagt der Künstler. Aber, wem es um Gott selbst und nicht um das Wissen Gottes zu tun ist, für den ist dies Brennen das Leid, denn es ist das Bewusstsein der Unvollkommenheit. … Schreiben Sie mir, Herr Runge, ob Sie glauben, zu verstehen, was ich meine. Ich will Sie nicht überzeugen, nur Ihnen mitteilen, wo ich heute zu stehen glaube. Aber hier erst fängt mein Weg an. Mit den herzlichsten Grüssen Ihre Sophie van Leer

Am Ende des Jahres 1916 traf Sophie die Entscheidung, die Galerie zu verlassen. Die Kunst sah sie als Götzendienst und Herwarth Walden erst als Prophet geehrt, aber auch schon von Kluxens esoterischen Gedanken überholt, war für sie nun ein leerer Mensch, der nicht sah, dass Kunst nur ein Weg zu Gott, aber nicht Gott selbst ist.

7.

Die Kriegsdienstverweigerung

Die folgenden Briefe Wilhelm Runges an seine Eltern und an Sophie enthalten die ersten Anspielungen auf die Verweigerung des Militärdienstes. In einem Prozess religiöser Radikalisierung wurde Runge klar, dass er „aus dem Kreise der Menschen heraustreten soll. … Nun aber lebe ich mich selbst, d.h. meinen Gott, d.h. Gott; denn er ist doch das Allerpersönlichste und Allergemeinste.“ Die erste Folgerung war: „Ich kann nicht länger Soldat bleiben, denn das ist nicht Gott. Gott aber wird in uns geboren“ (Brief an Sophie, 11.12.1917). Die Folgen dieses Schritts – Gefängnis, Internierung in einem Haus für geistig Kranke oder Exekution – sind dramatisch, hinzu kämen die Gefühle der von Runge tief geliebten Eltern. Wilhelm Runge nahm sich das zu Herzen. Aus Lens schrieb er über seine Eltern an Sophie: „Ihre Seelen schrieen zu mir in Verzweiflung: ,Mein Sohn, mein Sohn, wie könntest Du uns das antun. Wir könnten ja keinem Menschen mehr gerade in die Augen sehen, wenn Du es tätest!‘“ (30.1.1918)

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Wilhelm hoffte, dass er im Krieg erschossen würde: „Da löst sich vielleicht der ganze Konflikt auf eine einfache und naheliegende Weise. Denn es ist sehr wahrscheinlich, dass wir dabei starke Verluste haben werden und vielleicht auch ich diesen törichten Tod sterbe, der nicht mein Tod ist.“ (29.1.1918) Zugleich stand Wilhelms Beförderung zum Leutnant bevor, ein Zeitpunkt, den er noch abwarten wollte. Sophie schien inzwischen ungeduldig zu werden. Wilhelm glaubte, dass er sterben würde, da die Verweigerung des Kriegsdienstes mit dem Tode bestraft wurde. Die Frage ist nun, welche Verabredungen er vorher getroffen hatte und mit wem. Sophies Verlobter, Georg Muche, einer der ersten abstrakten Maler im Expressionismus – später wird er sich dem Bauhaus zuwenden –, hat in seiner Autobiographie Blickpunkt Sturm Dada Bauhaus Gegenwart seine eigene Version der Geschichte erzählt. Es ist merkwürdig, dass er Sophie in diesem Buch kaum erwähnt, obwohl er Hunderte von Briefen mit ihr gewechselt hat und sie seine Verlobte nennt. Er erzählt nur von ihrer Ankunft beim Sturm und ihrer Arbeit als Sekretärin Waldens.30 Am Ende zitiert er aus seinem Briefwechsel mit Sophie, worin auch Runge zur Sprache kommt. Ab 25. Februar 1917 war Muche selbst im Kriegsdienst. Über seine eigene Rolle bei der Kriegsdienstverweigerung erzählt er im Kapitel Entweder – Oder! die folgende kryptische Geschichte: Es war Februar 1918 in einem kleinen Dorf nahe bei Valenciennes, als ich eine Feldpostkarte enthielt und die Worte las: „Die Sonne wintert. ER wartet!“ Das war das Zeichen meines Freundes Wilhelm Runge, der irgendwo an der Front eine Entscheidung suchte, die wir beim Abschied in meinem Atelier verabredet hatten, weil wir fürchteten, allein den Mut zu verlieren. Wir wollten uns gegenseitig binden und den Kriegsdienst verweigern. … Ich hätte mich weigern müssen, denn ich wusste dass ich nicht töten dürfte. Ich wollte im Sinne der Bergpredigt leben oder sterben. Das hatten wir uns in Berlin versprochen, weil wir wussten, dass keine Macht der Welt das Recht hat, einem Mensch die Verantwortung zu nehmen für Seine Schuld am Tode. … Das Regiment hat schwere Verluste. Es wurde in rückwärtige Stellungen verlegt und schliesslich aus der Front gezogen. In der Umgebung von Valenciennes bezog es Ruhestellungen in den Dörfen ringsum. Da hatte mich die Feldpostkarte erreicht: „Die Sonne wintert. ER wartet.“ Wilhelm Runge hielt sein Versprechen. Mich quälte mei30

G. Muche, Blickpunkt, 192.

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Die Mystik der Sophie van Leer (1892-1953) ne Schuld. Nun würde auch ich den Dienst verweigern. Ich durfte nicht wieder an die Front zurück. Immer vor dem Einschlafen sagte ich mir: Morgen muss es sein … und wenn ich aufwachte, waren meine erste Gedanken: Heute muss ich es tun … und wenn der Abend kam, war nichts geschehen.31

Muche schließt lapidar, dass er nicht „den Mut zur Feigheit“ besaß, und erwähnt ein wechselseitiges Gelübde zwischen Runge und sich selbst mit dem Kodewort: „Die Sonne wintert. ER wartet.“ Das war der Text der letzten Karte, die Sophie von Runge empfangen hat. Sophie hat offensichtlich bei beiden Männern eine katalysierende Rolle gespielt, wobei Runge sich in einer religiösen Radikalisierung für die Kriegsdienstverweigerung entschieden hat. Sie hat dabei Runge bestimmt nicht zurückgehalten, im Gegenteil, sie zeigt sich in den Briefen sogar hier und da ungeduldig mit seinem Zögern.32 Auch hat Georg Muche seine eigene Rolle nicht nachträglich inszeniert, wenn er die Briefkarte Runges mit dem Codewort „Die Sonne wintert. ER wartet“ gesehen hat.33 Das scheint uns unmöglich: Die Kriegsdienstverweigerung auch Muches war in dieser Zeit bestimmt ein Thema in dem Briefwechsel zwischen Sophie und Muche.34 Muche hatte nach seinen eigenen Worten gerade von Wilhelm Runge die Briefkarte mit den Worten: „Die Sonne wintert. ER wartet“ empfangen (G. Muche, Blickpunkt, 205) und war dann fest entschlossen, dasselbe zu tun. Muche schreibt an Sophie: Eines bedenke! Das Leben stellt uns hier draussen tatsächlich vor die Wahl: entweder zu sündigen oder der Entwicklung zum Guten treu zu leben. Und unsere Entschlüsse bringen uns naturgemäß in Konf-

31 32

33 34

G. Muche, Blickpunkt, 207. Vgl. P.J. Vock, „Der Sturm muss brausen in dieser toten Welt”. Herwarth Waldens „Sturm” und die Lyriker des „Sturm”-Kreises in der Zeit des Ersten Weltkriegs. Kunstprogrammatik und Kriegslyrik einer expressionistischen Zeitschrift im Kontext, Trier 2006, 419, Anm. 144, unter Verweis auf den Brief Runges an Sophie, 22.12.1918. Das meint P.J. Vock, „Der Sturm muss brausen in dieser toten Welt”, 411f., die von einer “Legende” spricht. Vgl. den Brief der Sophie an Muche, 24.2.1918, im Original halb verwischt (nachträglich zensiert?) aber in G. Muche, Blickpunkt, 210, bewahrt geblieben.

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likte mit staatlichen Einrichtungen. Die Folgen, die mein Entschluss haben kann, sind unberechenbar. Ich bin auf alles gefasst.35

Am 3. März 1918 fragt Sophie Muche: „Hast du schon mit deinem Kompanieführer gesprochen?“ Es geht ihr dabei um das Verweigern des Kriegsdienstes, das auch Muche erwähnt. Als Muche letztendlich seine Behörde zu sprechen bekommt, bittet er im letzten Moment um zwei Tage Urlaub. Die Mitteilung der Entscheidung, den Dienst zu verweigern, kommt ihm nicht über die Lippen. Die Bedeutung von Sophie für diesen Gewissensstreit Muches war größer, als er selbst später einräumt. Muche hat die Entscheidung getroffen, in seinem Rückblick die Rolle Sophies zu verkleinern. Auch die späteren Pläne, das Bauhaus zu verlassen und ins Kloster zu gehen – wobei ein Gespräch mit einem weisen Mönch ihn von diesem Gedanken befreit–36 war eine direkte Folge des Einflusses von Sophie, ohne dass Muche dies erwähnt.37 Die Verbindung zwischen Runge und Muche bei der Verabredung zur Dienstverweigerung stellte dann auch Sophie van Leer dar. Muche hat seinen eigenen Anteil an diesem Drama nicht nachträglich erfunden, selbst wenn die beide Männer einander beim Abschied im Atelier in Berlin nicht begegnet sein können.38 Ich meine, dass Muche tatsächlich die Zeilen von Runge: „Die Sonne wintert. ER wartet“, empfangen hat und dass er den festen Vorsatz hatte, auch selbst den Kriegsdienst zu verweigern. Von einer nachträglichen, legendären Geschichte kann nicht die Rede sein. Sophies zahlreiche Briefe an die beiden Männern zeugen von einer Gewissenkrise bei beiden, bei der Sophie katalysierend gewirkt hat. Muche wusste nicht, ob er den Weg ins Kloster wählen oder sich dem Bauhaus anschließen sollte. In einem unveröffentlichten, aber sicherlich autobiographischen Roman schildert Sophie, wie Muche 1917 schrieb, ihre Abneigung gegen die leibliche Liebe sei ihm damals unverständlich 35 36

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Zitiert von Sophie in ihrem Brief vom 24.2.1918. Wir zitieren das Original. G. Muche, Blickpunkt, 148-149. Aus etwas späterer Zeit (1921) stammt auch ein Gemälde Muches: Der Mönch. Siehe L. Busch, Georg Muche: Dokumentation zum malerischen Werk der Jahre 1915 bis 1920, Tübingen 1984, 93. Sophie wollte unter dem Einfluss Tolstois zukünftig mit Muche im Zölibat leben. L. Busch, Georg Muche, hat die zentrale Rolle der Sophie im Leben Muches beleuchtet. P.J. Vock, „Der Sturm muss brausen in dieser toten Welt”, 411f. Es könnte sich auch um eine frühere Verabredung handeln.

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gewesen. Er habe sie für die Scham eines Mädchens gehalten und nicht begriffen, warum Sophie die Ehe immer radikal abgewiesen habe. Die Beziehung Sophies zu Kluxen konnte Muche ebenso wenig verstehen (wie man sich denken kann). Er dankte Sophie für ihre Freundschaft, aber bat sie: „Leg den Verlobungsring ab!“ Er wünschte ihr das Glück, das er ihr nicht geben konnte.39 Die Verlobung wurde erst 1919, nachdem Sophie katholisch geworden war, endgültig gelöst. Inzwischen erlebte Runge das letzte Jahr des Krieges. Sophie spornte ihn an, den Kriegsdienst zu verweigern, hatte aber schon seit einigen Wochen nichts mehr gehört. Sie schrieb weiter an Runge, weil sie selbst in München war: München, 18. 3. 191840 Lieber Freund, Wo sind Sie? Wo stehen Sie? Ich zweifle nicht, aber – die Versuchung ist groß! Warum schreiben Sie nicht? Nicht einmal eine Karte. Ich würde jede, auch noch so leise Andeutung verstehen! Bitte, lassen Sie mich endlich wissen, ob Sie immer noch Der sind, der jene Briefe und Aufzeichnungen schrieb, die mir das Gleiche, nein mehr, als Tolstoj bedeuten, weil ich den Menschen kenne, der das schrieb und seinen Kampf in seinen Worten toben, sein Blut rauschen höre in seinem Aufschrei nach Erlösung. Wer sind Sie jetzt?

Sie schreibt weiter, über Parzival und Amfortas, über Buddha und über Christus – das Leiden, das Erlösung bringt für die Wunde in der Seite der Menschheit. Dann empfängt sie eine Briefkarte, die schon drei Wochen vorher abgeschickt worden war: 20.3.1918 [Empfangen: 9.4.1918] L[iebe] Fr[eundin] Nur ganz kurz einen herzlichen Gruß! Und dies: der konzentrierteste innere Ertrag meines Lebens ist in meinen Briefen an Sie enthalten. Die Sonne wintert. Und „Er“ wartet. Ihr Runge 39 40

Unveröffentlichter Roman, Das gelbe Haus, um 1943 geschrieben. Archive Franziska van Leer, Katholisches Dokumentationszentrum Nimwegen. Mit Bleistift später gestrichen. Durch Sophie van Leer?

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Die Briefkarte wurde am 20. März abgeschickt. Zwei Tage später starb Wilhelm Runge durch eine französische Kugel. Die letzten Briefe Sophies haben ihn gar nicht mehr erreicht. Sophie war überzeugt, dass Runge freiwillig dem feindlichen Feuer entgegen gelaufen war. Die Eltern von Wilhelm Runge wussten nichts von Sophies Existenz und waren aufs heftigste erschrocken, als sie ihre Ansichten zu hören bekamen. Sophie selbst geriet in eine geistige Krise.

8.

Spirituelle Suche

Ihre geistliche Unruhe trieb Sophie van Leer auf neue Wege. Sie las Zarathustra, Buddha, das Neue Testament, Wagner, Astrologie, Tolstoi und Ibsen. Sie sah, dass nicht die Kunst, sondern die Ethik die neue Vision der Menschheit sein sollte. Vor allem der russische Schriftsteller Tolstoi mit seinem Christentum der Bergpredigt faszinierte sie.41 In der Galerie Der Sturm hatte die ethische Orientierung gefehlt, und auch bei Kluxen hatte sie zwar religiöse Wertungen gefunden, aber nicht die universale Menschenliebe. Sie beteiligte sich an der Revolution in München und blieb gleichzeitig a-politisch, da sie meinte, Frieden stiften zu können, ohne die politische Situation ganz zu verstehen. Schließlich wurde sie festgenommen und zum Tode verurteilt. Das Militär wusste aber, dass sie auch kleine Kindergeschichten schrieb, und verstand allmählich, dass sie nicht zu einer gewalttätigen Revolution aufrief, sondern lediglich der Bergpredigt als politischem Programm folgte. Sophie legte ein Gelübde ab, dass sie katholisch werden würde, falls sie am Leben bleiben sollte. Am nächsten Morgen wurde sie entlassen. Sophie befand sich in einer schweren geistigen Krise und hungerte sich fast zu Tode. Sie meinte zu sehen, wie Jesus am Kreuz sie bat, die Menschheit zu retten und Frieden zu stiften. Sie schrieb an Präsident Wilson und sprach mit dem Politiker Walter Rathenau über Frieden und über einen Bund der Völker um eine Leerstelle: Gott. Rathenau war ge-

41

P.J. Vock, „Der Sturm muss brausen”, 405ff., zeichnet die Rolle Tolstois in den damaligen artistischen Kreisen nach.

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rührt von dem naiven Idealismus, gab ihr etwas Geld für Essen und sagte: „Predige dein Evangelium des Friedens!“42 Sophie spielte für sich selbst auf dem Klavier die Matthäuspassion, vor allem: „O Haupt voll Blut und Wunden“. Sie lief barfuß durch die Straßen von München und wohnte in einer Hütte in Moosach. Dann besuchte sie eine Franziskanerkirche und sah, wie alle dort „das Weiße“ empfingen. Obwohl sie gar nicht wusste, worum es sich handelte, war sie überzeugt, dass das Weiße das endgültige Glück bedeutete. Wie in Trance ging sie nach vorn und empfing die Eucharistie, ohne getauft zu sein. Später erhielt sie Taufunterricht und ließ sich katholisch auf den Namen Francisca Maria taufen. Für ihre jüdische Familie, vor allem für ihre Mutter, kam die Taufe dem Tode gleich. Für die Familie war Sophie die verlorene Tochter. Merkwürdigerweise erwachte ihre jüdische Identität gleichzeitig mit der Konversion zum Katholizismus. Sie betrachtete Jesus als Zwillingsbruder und verstand nun besser, was sie tun sollte. Sie machte noch in München Bekanntschaft mit Kardinal Faulhaber und überzeugte ihn von der Grundlosigkeit der antizionistischen Haltung des Vatikans (vor allem in der Person des Kardinal Merry del Val). Sie träumte von Palästina und kombinierte die jüdische Sehnsucht nach diesem Land mit katholischer, sakramentaler Mystik. Wieder in Holland trat sie einer Frauenkongregation bei, die großes Gewicht auf künstlerisch-religiöse Aktivitäten legte. Sie konnte sich aber nicht einordnen und hegte Träume von Zionismus und Katholizismus. Der Dichter Eliahu Rappoport, ein Freund Martin Bubers und der Schwester Sophies, Clara, lud Francisca ein, nach Palästina zu kommen. Er war davon überzeugt, dass sie das erdverbundene und sinnliche jüdische Leben lieben und bald alles Katholische vergessen würde. Nur zwei Monate später wurde Sophie von dem niederländischen Franziskaner Laetus Himmelreich (1886-1957) in München getauft und nahm den Namen Francisca an. Ende Oktober 1924 reiste sie nach Rom, wo sie durch Vermittlung des Franziskaners Himmelreich, der inzwischen innerhalb seines Ordens in Rom tätig war, Kardinal van Rossum begegnete, der ihr Geld und Referenzen für ihre Reise nach Palästina verschaffte. 1924 beschloss sie, zu ihrer Schwester

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Clara in den Kibbuz Beth Alfa zu gehen. Dem katholischen Patriarchen in Jerusalem, Luigi Barlasina, der den Zionisten äußerst kritisch gegenüber stand, ging sie aus dem Weg. Im Einverständnis mit dem holländischen Kardinal van Rossum lebte sie vom 28. November 1924 bis zum 25. Februar 1925 im sozialistischen Kibbuz Beth Alfa. Wie sie dem Kardinal berichtete, wollte sie Juden, insbesondere Zionisten, bekehren – darunter auch ihre zionistische Schwester Clara – und gleichzeitig dem Zionismus ein besseres Image in der katholischen Welt verschaffen. Dazu wollte sie den Zionismus von innen heraus untersuchen. Sie selbst sympathisierte mit dem Zionismus. Als die Zionisten entdeckten, dass sie trotz ihres gegenteiligen Versprechens versuchte, Kibbuzbewohner zu bekehren, warfen sie Francisca hinaus. Nach ihrer Ankunft in Venedig versuchte sie am 24. März Kardinal van Rossum mit einem Brief für einen neuen Plan zu gewinnen, der sie bis zu ihrem Tod im Jahre 1953 nicht mehr loslassen sollte: die Gründung eines Kibbuz für katholische Juden. Sie fuhr wieder zu Kardinal Faulhaber und reiste durch Europa. Auch Kardinal van Rossum, Präfekt der Kongregation für die Propaganda Fidei war nun entschieden auf ihrer Seite. Allmählich entstand bei ihr der Gedanke, eine weltweite katholische Bewegung zu stiften, die sich für bessere Beziehungen zu Israel einsetzte, in Kombination mit Bekehrungsaktivitäten aus großer Liebe zu den Juden.

9. Die Gründung der Amici Israel 1926 und die Aufhebung 1928 Der Zufall wollte es, dass der deutsche Kirchenhistoriker Hubert Wolf, übrigens auf der Grundlage unserer Veröffentlichungen von 2000, einige Jahre später die internen Archive des Heiligen Offiziums einsehen durfte. Er hat die Ergebnisse seiner Analyse in der Historischen Zeitschrift 279 (2004), 611-659, veröffentlicht. Uns waren die Archive des Heiligen Offiziums im Jahr 2000 noch nicht zugänglich. So ist es jetzt möglich, sowohl die persönlichen, externen Archive als auch die internen Vatikanischen Archive miteinander zu vergleichen. Wolf verschafft uns einen faszinierenden Einblick in die internen Diskussionen im Vatikan. Er macht deutlich, dass es im Vatikan einen heftigen Streit über die Amici Israel gege-

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ben hat. Doch trägt er, wie ich meine, den theologischen Hintergründen, den zionistischen Sympathien der Bewegung und der genderspezifischen Rolle einer Frau zu wenig Rechnung. Seine Analyse aus dem Jahr 2004 bestätigt im Übrigen unsere aus dem Jahr 2000.

10. Die Geschichte der Bewegung Amici Israel Ausgehend von einer kleinen Gruppe niederländischer Katholiken entwickelte sich seit 1926 in Rom, im Zentrum der Katholischen Kirche, eine bemerkenswerte Initiative. Obwohl der Verein nur für Priester offen war, stand, so wissen wir nun, Francisca van Leer (1892-1953) an seinem Ursprung. Ende 1925 lernte Francisca van Leer durch Vermittlung von Laetus Himmelreich in Rom den Kreuzherrn Anton van Asseldonk (1892-1973) kennen, der sich ebenfalls aktiv am „Werk für Israel“ beteiligen wollte. Van Asseldonk wurde – mit Unterstützung seines Freundes van Rossum – im Dezember 1920 zum Generalprokurator seines Ordens berufen. Bereits bei der ersten Begegnung erkannten van Asseldonk und van Leer eine gemeinsame Berufung und entwickelten in der Folge eine starke, sehr persönliche, intime Beziehung. Zusammen mit Himmelreich bildeten sie einen kleinen aktiven Stoßtrupp, der sich zum Ziel setzte, innerhalb der Katholischen Kirche das Verständnis und die Liebe für die Juden und das Judentum zu vergrößern. Am 24. Februar 1926 gründeten sie die Bewegung Amici Israel, ein „Werk“ (Opus), das sich als Priestervereinigung (Opus sacerdotale amicorum Israel) auf das Gebet und die Liebe für die Bekehrung Israels ausrichteten sollte. Diese neue Bewegung war nicht nur eine Bekehrungsoffensive oder Gebetsvereinigung, sondern stellte zugleich eine Initiative dar, die den katholischen Antisemitismus bekämpfen, die Liturgie verändern und eine reale Unterstützung für die Juden und das Judentum – und sogar für den Zionismus – erreichen wollte. Allerdings führte gerade diese „Radikalisierung“ schließlich zum Untergang der Bewegung. Doch am Ende des ersten Jahres konnten die Amici Israel nicht weniger als 18 Kardinäle, 200 (Erz-)Bischöfe und an die 2000 Priester zu ihren Mitgliedern zählen. Die Rolle der Francisca van Leer war nur Eingeweihten bekannt; später bezeichnete sie sich als „Mutter“ der Bewegung. Am 25. März 1928 – einem Karfreitag – hob das Heilige Offizium die Amici

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Israel überraschend auf. Kardinal Merry del Val und Papst Pius XI. spielten dabei eine wichtige Rolle. Kurz zuvor hatte die Bewegung bereits die Unterstützung des Kardinals van Rossum verloren. Die Amici Israel versuchten die Karfreitagsliturgie zu ändern. Damit wurde eine am 2. Februar 1925 geäußerte Bitte von Francisca van Leer aktualisiert. Damals hatte sie in einem persönlichen Brief Kardinal van Rossum darum gebeten, diese Änderung beim Vatikan durchzusetzen. Doch hatte diese Bitte 1925 noch nicht gefruchtet. 1928 gelang es Francisca van Leer, diese Bitte erneut vorzubringen. Die Amici Israel, insbesondere Laetus Himmelreich, verfassten ein Promemoria für die Ritenkongregation. Der Vatikan lehnte diesen Vorschlag ab. Warum wurden die Amici Israel aufgehoben? Weil im Aufhebungsdekret des Heiligen Offiziums vor Antisemitismus gewarnt wird, wird dieses Dokument oft als erster öffentlicher Protest der Römisch-Katholischen Kirche gegen den modernen Antisemitismus interpretiert. Die Bewegung wollte auch das Gebet für die Juden, pro perfidis Iudaeis, aufheben, was bekanntlich erst Ende der fünfziger Jahre geschah. Zudem stand die Bewegung dem Zionismus wohlwollend gegenüber, was im Vatikan auf heftigen Widerstand vor allem bei Kardinal Merry del Val stieß. Trotzdem wäre es verfehlt, die Amici Israel nur als progressive Dialoginstanz zu betrachten, die später ihre Absichten bestätigt sah, wie Hubert Wolf meint.43 Einiges weist darauf hin, dass sich dahinter eine recht sonderbare Theologie verbarg. Erstens vertraten die Amici Israel, dass katholische Gläubige sich vergegenwärtigen sollten, dass sie bei der Eucharistie jüdisches Fleisch und Blut kosteten.44 Es ist nicht verwunderlich, dass der Vatikan diese Formulierung zurückwies.

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H. Wolf, „Pro perfidis Judaeis”. Die „Amici Israel” und ihr Antrag auf eine Reform der Karfreitagsfürbitte für die Juden (1928), in: Historische Zeitschrift 279/3 (2004), 611-659. Vgl. die kritische Auseinandersetzung durch meinen Kollegen T. Salemink, „Katholische Identität und das Bild der jüdischen ‘Anderen’. Die Bewegung Amici Israel und ihre Aufhebung durch das Heilige Offizium im Jahre 1928”, in: theologie.geschichte 1 (2006), Internetzeitschrift: http://aps.sulb.unisaarland.de/theologie.geschichte/inhalt/2006/08.html, Download vom 5. März 2009. Vgl. auch den Biographen des Leon Bloy, Stanislas Fumet, über seine Erinnerungen an Francisca van Leer in: S. Fumet. Histoire de Dieu dans ma vie, Paris 1978, 297f..

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Dazu kam die merkwürdige Faszination der Francisca für Palästina, die weit über ein gewisses Verständnis für die Zionisten hinaus ging. Das erschließt sich nur, wenn man die Tagebücher studiert. Offensichtlich war Francisca zu der Überzeugung gelangt, der Sündenfall bestehe darin, dass Mann und Frau einander als sexuelle Wesen betrachteten. Die reine Ehe existierte schon im Paradies, meinte sie.45 Die Schleier, die das Geheimnis der Frau schützen sollten, habe Adam mit Gewalt zerrissen. Natürlich ist hierbei auch ihre persönliche Erfahrung, vermischt mit christlicher Mystik und Tolstoiismus und sogar Frauenemanzipation im Spiel. Es kommt noch etwas weiteres hinzu: Der Traum vom blauen Reiter hatte sich allmählich so kristallisiert, dass Francisca als jüdische Frau dasjenige tun sollte, was Jesus als jüdischer Mann begonnen hatte, aber als Mann nicht vollenden konnte. Francisca war so etwas wie die Zwillingsschwester Jesu: Beide sind jüdisch, nur ist sie weiblich, Jesus männlich. Der Gedanke ist nun, dass die Erlösung herbeigeführt werden kann, wenn auf dem heiligen Boden Palästinas die reine Beziehung zwischen Adam und Eva wieder hergestellt wird. Es handelt sich hier um eine messianische Sehnsucht, nicht in einer einzelnen Person konkretisiert, sondern im Paar, in heiliger, keuscher Ehe. Diese Sehnsucht nach dem Paradies der Unschuld verknüpft sich also mit dem katholischen Zölibat – aber nicht weniger mit dem Zionismus! Offenbar spielte wie bei vielen jüdischen Konvertiten das Judentum erst nur eine untergeordnete Rolle, wurde aber gerade nach der Konversion immer stärker. „Ich habe das wahre Judentum gefunden, in Christus“, lautet die Erklärung Franciscas. In ihrem Fall ist die messianische Perspektive des Zionismus mit einem Gedanken verbunden, der auch bereits im frühen Christentum auftaucht: die Verbindung zwischen einer Magd und einem Mönch, die sogenannten Virgines subintroductae. Man denke an Paulus und Thekla und sogar an die Traditionen von der Beziehung zwischen Jesus und Maria Magdalena, die natürlich rein spirituell gewesen sein soll und nicht sexuell, wie Dan Brown und seine Leser es wollen. Die Askese gestattet den Frauen eine intime Beziehung zum Mönch oder Heiligen. Außerdem hat Francisca, wie wir gesehen haben, die größte spirituelle Ekstase immer mit der Eucharistie erlebt. Der Hebräerbrief mit seiner jüdischen Orientierung auf Kult und Opfer hatte sie

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So auch über Francisca: S. Fumet, Histoire de Dieu dans ma vie, Paris 1978, 297.

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ständig angeregt. Der einzige Mann, der im Stande war, zusammen mit der jüdischen Frau Francisca die Unschuld des Adam und der Eva wieder herzuherstellen, war also ein katholischer Priester. Bestimmt hatte der Vatikan von allen diesen mystischen Gedanken keine Kenntnis. Aber als die Amici Israel aufgehoben wurden, bat der Priester van Asseldonk bei den Kreuzherrn um einen Reisealtar, den man auf Schiffen usw. verwenden konnte, ohne ausführlich zu erklären, wozu er ihn brauchte. Danach waren auf einmal sowohl Francisca als auch Van Asseldonk verschwunden. Ein riesiger Skandal drohte!

11. Chiliastische Theologie Hinzu kam ein weiterer Gesichtspunkt. Die drei Begründer der Bewegung Amici Israel, vor allem Francisca van Leer, entwickelten eine häretische, chiliastische Theologie über die Endzeit und das tausendjährige Reich. Die aktuelle Rückkehr der Juden nach Palästina, die zionistische Einwanderung kurz nach dem Ersten Weltkrieg, wurde als Zeichen der Endzeit gedeutet. Die messianische Zeit würde in Kürze anbrechen. Darum stellten die Amici Israel sogar die Notwendigkeit der individuellen Judenbekehrung infrage; es gehe vielmehr um eine Rückkehr des ganzen Volkes nach Palästina! Diese Ablehnung der individuellen Bekehrung sowie die chiliastische Sympathie für den Zionismus – vergleichbar mit dem Chiliasmus auf protestantischer Seite – gingen dem Vatikan zu weit. Die Intervention des Vatikans zeitigte sofortige Wirkung, und die Gruppe um Francisca van Leer wurde marginalisiert. Um sich aus seiner eigenen geistlichen Verwirrung nach dem Drama rund um die Amici Israel zu befreien, fing Laetus Himmelreich Ende 1928 in aller Stille mit einer umfangreichen exegetischen Studie zu Chiliasmus und Zionismus an. Die Arbeit, von der auch eine deutsche Version mit dem Titel Das Reich des Christus-König und die Bedeutung der Juden darin existiert, wurde nie veröffentlicht. Sie befindet sich heute im Nachlass Himmelreichs. Während des Zweiten Weltkrieges, in den Jahren 1941 und 1944, verurteilte das Heilige Offizium den katholischen Chiliasmus, wenn auch in gemäßigter Form, erneut, nachdem er in diesen Jahren in Südamerika eine Renaissance erlebt hatte.

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Nicht lange nach der Gründung der Amici Israel im Jahre 1926 liefen bei Kardinal van Rossum Beschwerden über „diese Frau van Leer“ ein. Sie habe eine intime Beziehung zu dem Priester Anton van Asseldonk. Als van Asseldonk sich 1927 auf einer Reise nach Palästina befand, ließ van Rossum, damals Kardinalprotektor der Kreuzherren, dessen Büro durchsuchen. Das Ergebnis dieser Durchsuchung war derart, dass van Rossum dem General der Kreuzherren befahl, van Asseldonk den Umgang mit Francisca van Leer zu untersagen.

12. Wiederherstellung des Paradieses Nach dem Verbot der Amici Israel 1928 unterwarf sich van Asseldonk nicht wie gefordert dem Papst und dem General der Kreuzherren, sondern ging heimlich wie erwähnt mit Francisca van Leer nach Haifa, wo sie gemeinsam in einem Haus lebten. Ob sie auch eine sexuelle Beziehung miteinander hatten, ist anhand der Quellen nicht mit Sicherheit feststellbar, aber ihre Beziehung war mit Sicherheit messianisch, mystisch und erotisch zugleich. Zur Beruhigung kann ich mitteilen, dass sich zwischen ihren beiden Schlafzimmern die Hauskapelle befand. Francisca war der Ansicht, dass, wenn sie als Priester und als Jüdin im Heiligen Land gemeinsam die Eucharistie empfingen, dies das Paradies von Adam und Eva wiederherstellen könne und den Beginn einer messianischen Zeit in Palästina markiere. Wenn die beiden in die heilige Grabeskirche zur Eucharistie gingen, brachen sie die Hostie in zwei Teile und kommunizierten auf diese Weise zusammen. Nach einigen Monaten entdeckte Kardinal van Rossum ihre geheime Zufluchtsstätte in Tel Aviv. Auf Druck des Vatikans, des Patriarchen von Jerusalem und des Generals der Kreuzherren unterwarf sich schließlich der Priester van Asseldonk und kehrte nach Holland zurück, während Francisca van Leer nach Deutschland zu Kardinal Faulhaber, den sie duzte, ging. Es gelang ihr, Faulhaber von ihrer Unschuld zu überzeugen, aber Faulhaber wollte mit van Asseldonk in keinerlei Beziehungen mehr stehen. Als ihre Mutter Ende 1928 schwer erkrankte, besuchte Francisca sie wieder. Es gelang ihr, die Mutter, die bewusstlos auf dem Bett lag, zu taufen, in jedweder katholischen Perspektive eine unerhörte, zwanghafte Tat. Später erzählte sie dies alles Kardinal Faulhaber, der eine Messe für die Mutter las.

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In den dreißiger Jahren wurde die Lage der Juden in Deutschland immer bedrohlicher. Francisca hatte ihre eigene Sicht, in der sich ein prinzipieller Anti-Nazismus mit jüdischem Selbsthass verband. Das Resultat ist durchaus erschreckend: Deine Schuld ist riesig, Israel. Flüsse voller Tränen und Meere voll Blut sind nicht imstande die zu sühnen. Nur eines der eigenen Kinder Israels kann wissen, wie groß die Schuld ist. Aller Judenhass in der Welt ist nur eine schwache Bestrafung im Vergleich mit dem, was du verdienst.46

1935 floh Francisca vor den Nazis nach Holland und überlebte den Krieg, weil sie mit einem deutschen Arbeiter, den sie bei der Jugend um Kardinal Faulhaber kennen gelernt hatte, verheiratet war. Die Ehe war, wie man sich denken kann, nicht sehr glücklich. Ihr war der Gedanke fast unerträglich, dass sie ihr Leben einem Deutschen zu verdanken hatte. Sie sehnte sich nach dem Tode und hätte gern das Los der Edith Stein geteilt. Während des Krieges wurde sie in die holländische Schouwburg gebracht, den Amsterdamer Sammelplatz, von dem aus Juden nach Westerbork und dann weiter in die Konzentrationslager verschleppt wurden. Aber einen Tag später wurde sie wegen ihrer Ehe mit einem NichtJuden, noch dazu einem Deutschen, wieder entlassen. Obwohl feststeht, dass ihr Mann keine Sympathien für den Nationalsozialismus hegte, war diese Beziehung für sie wertlos. Inzwischen hatte sie einen neuen geistigen Freund gefunden, Tinus Wijnhoven, der selber ultra-katholisch, esoterisch und mystisch war. Er war vor dem Krieg sogar Mitglied einer pro-deutschen, faschistischen Bewegung, Verdinaso, gewesen. Unter dem Einfluss der Francisca wandelte er sich zu einem prinzipiellen Freund Israels. Er trug sogar den gelben Stern, der für Juden vorgeschrieben war. Es ist immerhin erstaunlich, dass die Auseinandersetzung mit der Mystik mitten im Krieg weiterging, als ob in der Welt nichts geschah. Unter dem Einfluss des Tinus Wijnhoven machte Francisca Bekanntschaft mit den Schriften der Anna Katharina Emmerick. Sie scheint eine Wahlverwandtschaft zu dieser stigmatisierten Frau entdeckt zu haben, die durch Veröffentlichungen von Clemens von Brentano bekannt geworden war.

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Die Schlange ist hier nun offensichtlich nichts anderes als das männliche Geschlechtsorgan, obwohl sie so groß ist wie ein zehnjähriges Kind. Adam hat, so meint Francisca, Eva gerade verschlossen und nicht geöffnet. Er hat eine Mauer zwischen beiden errichtet. Ist das Pathologie oder radikaler Feminismus? Francisca entlehnte Anna Katharina auch die Geschichte, dass in den Tagen des Propheten Elija eine kleine Wolke von Licht vom Meer am Berg Karmel aufstieg. Dieser Keim der göttlichen Fortpflanzung ohne Sexualität war noch im Paradies aus dem Leib Adams genommen und wurde von Geschlecht zu Geschlecht weiter gegeben. Mit dem Sarg Josephs wurde dieser Keim aus Ägypten mitgeführt und später im Heiligsten der Heiligen, im Tempel, aufbewahrt. Joachim, der Vater der Maria, brachte es aus dem Tempel in einen geheimen Durchgang unter dem Goldenen Tor und gab es in inniger Umarmung weiter an Anna, die Mutter von Maria. Francisca sah sich selbst vor dem Paradies stehen und den Engel mit dem feurigem Schwert darum bitten, sie zusammen mit Tinus Wijnhoven einzulassen. Eine neue Zeit fängt an, worin Menschen nicht länger vergewaltigt werden. Inzwischen hatte ihr Bruder Bernard van Leer ein industrielles Imperium aufgebaut. Die Kriegsindustrie Deutschlands brauchte Ölgefäße und Bernard van Leer lieferte sie. Später während des Krieges, 1941, reiste er mit einem Zirkus von Pferden ab und fuhr nach Amerika. Er gründete eine Stiftung, die bis heute in Jerusalem existiert und Kinder auf der ganzen Welt unterstützt. Nach dem Krieg musste er sich gegen den Vorwurf der Kollaboration verteidigen. Sein Rechtsanwalt, der jüdische Schriftsteller Abel Herzberg, fragte den Richter, ob man als Jude vielleicht nur unschuldig ist, wenn man getötet wurde. Damit war die Sache erledigt.

13. Die ungeschaffene Weisheit Als wir die Tagebücher studierten, waren wir erstaunt, eine Notiz von 1944 zu finden, in der Francisca eine wichtige Wahrheit enthüllt: Sie sei, schreibt sie an Wijnhoven, „die ungeschaffene Weisheit“. 47 Sie fühlte sich immer, schon als Kind, als ob sie auf die Erde geworfen war, und 47

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hegte sogar Zweifel daran, ob ihr Übertritt zum Katholizismus nicht ein Fehler gewesen war. Brauchen Juden die Taufe, wenn sie selbst schon die Zwillinge Christi sind?48 Wir haben zunächst versucht, den Gedanken der ungeschaffenen Weisheit gnostisch oder esoterisch zu erklären, aber das war viel zu kompliziert gedacht. Es ist einfach so: Das alte Messbuch feiert am 8. Dezember das Fest der Conceptio Immaculata Mariae. In der Liturgie wird dabei aus dem Buch der Sprüche Salomos gelesen und zwar aus dem achten Kapitel, wo über die Weisheit erzählt wird, wie sie bei Gott ist. Der Herr besitzt mich am Anfang seiner Wege. (8,22)

Obwohl kein Theologe erklären kann, wieso Maria schon vor der Schöpfung bei Gott war, weiß die Liturgie mehr um dieses Geheimnis. Francisca ist als Tochter Sions eigentlich keine andere als Maria. Tu gloria Jerusalem, Tu laetitia Israel, Tu honorificentia populi nostri. Alleluia.

Nach dem Krieg haben sich einige ihrer Ideale erfüllt. Die Katholische Kirche in den Niederlanden stiftete 1951 den Katholischen Rat für Beziehungen mit Israel. Francisca wurde nicht eingeladen, da ihr Name noch immer mit kirchlichem Skandal, ekstatischer Religiosität und sogar Ketzerei verbunden war. Aber sie war die Tante einer weiteren jüdischen Frau, die katholisch wurde: Irmgard, später Miriam van Leer. Diese Miriam hatte einen großen Einfluss auf Monseigneur Ramselaar, der später während des Zweiten Vatikanischen Konzils eine wichtige Rolle spielte, wenn auch nicht für die Beziehungen zum Judentum. Sie überzeugte diesen Monseigneur Ramselaar, dass die Katholische Kirche durch den Juden Jesus, die Jüdin Maria und die jüdischen Schüler Jesu eine wichtige Verwandtschaft zum Judentum besäße. Der Anti-Judaismus verdunkele gerade diese Verwandtschaft. Die Liturgie und der Hebräerbrief, so meinte Miriam in Anklang an ihre Tante Francisca, feiern die jüdischen Wurzeln der Kirche.

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Dies ist die zentrale Thematik in dem postum veröffentlichten Roman: F. van Leer, Mijn volk roept [Mein Volk ruft], Bilthoven 1955.

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So wurde Francisca noch zu Lebzeiten Zeugin davon, wie die Katholische Kirche den ersten Schritt zu einem neuen Verhältnis zum Judentum tat. Sie starb 1953. Die Tragik der konvertierten Juden ist, dass sie für ein neues Verständnis zwischen Judentum und Kirche wichtig waren, dass ihre Überzeugungen aber allmählich nicht mehr in den Dialog hineinpassten. Francisca war für jüdische Gesprächspartner ein absolutes Schreckbild, und katholische Gläubige konnten in ihr nur das Pathologische und Übertriebene erkennen, wie in so vielen Konvertiten. Und schließlich war sie sogar für eine Konvertitin außergewöhnlich.

Katharina Westerhorstmann

„In den Flammen der Liebe entbrennen …“ – Mystik bei Edith Stein 1. Einführung Als in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 an vielen Orten Deutschlands die Synagogen brannten, zerstörten Flammen des Hasses die Orte der Gottesbegegnung der Juden. Im gleichen Jahr, am 21. April 1938, hatte Edith Stein als Schwester Teresia Benedicta a Cruce ihre Ewigen Gelübde im Karmel in Köln-Lindenthal abgelegt und sich zu einem alternativen Lebensprogramm entschieden. Auf dem Erinnerungsbildchen von dem besonderen Tag ist zu lesen: „Mein Beruf ist fortan nurmehr lieben.“1 Der gebürtigen Jüdin stehen in den kommenden Monaten die Gefahren des wachsenden Nationalismus immer deutlicher vor Augen. So schreibt sie in geistlichen Texten kurz nach Beginn des Zweiten Weltkriegs davon, dass nicht nur Deutschland, sondern die Welt „in Flammen stehe“. Viele Menschen werden hineingezogen in die Flammen des Bösen, die Hass, Verfolgung und Zerstörung mit sich bringen. Zugleich wird gerade im Werk und im Beispiel des Lebens der deutschen Philosophin und Mystikerin Edith Stein deutlich, dass sich die Wirklichkeit nicht vordergründig nach Siegern und Verlierern der Geschichte einteilen lässt. Aufgewachsen in Breslau, studiert Edith Stein später Philosophie, dabei insbesondere Phänomenologie bei dem Begründer der phänomenologischen Methode Edmund Husserl in Göttingen und Freiburg. Nach der Promotion wird Edith Stein die weitere Universitätslaufbahn verwehrt, zunächst weil sie Frau ist und die Erlaubnis der Habilitation den Frauen erst 1919 eröffnet worden war. Später ist es ihr dann als Jüdin

1

Vgl. Text nach einem Wort des Heiligen Johannes vom Kreuz aus dessen Geistlichem Gesang auf dem Gedenkbild von der Ewigen Profess und dem Schleierfest Edith Steins in: M.A. Neyer, Edith Stein. Ihr Leben in Dokumenten und Bildern, Würzburg 1988, 64.

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nicht mehr möglich. 1933 sieht sie sich wegen des wachsenden Antisemitismus in Deutschland gezwungen, ihre Dozententätigkeit am Deutschen Institut für Wissenschaftliche Pädagogik in Münster aufzugeben. Obgleich es den schmerzlichen Verlust der beruflichen Wirksamkeit bedeutete, war dieser Schritt für Edith Stein zugleich die Gelegenheit, nun endlich dem folgen zu können, was sie seit vielen Jahren für sich erkannt hatte: ihre Berufung als Ordensschwester im Karmel. Dieser radikalen Entscheidung lag zum einen ihre Konversion zum Christentum zugrunde, und darin vor allem die Begegnung mit der Person, von der so sehr ergriffen war, dass ihr gesamtes Leben fortan davon geprägt sein sollte. Der christliche Glaube und in ihm Jesus Christus selbst und dessen Kreuz eröffnen der gebürtigen Jüdin und Wissenschaftlerin die Tür zu einer Tiefendimension des Daseins. Bereits in ihrer philosophischen Dissertation über die Einfühlung aus dem Jahr 1916 hatte sie die Gottesfrage berührt, ohne jedoch zu diesem Zeitpunkt schon die persönliche Gewissheit über die Existenz Gottes gewinnen zu können.2 Die eigentliche Beschäftigung mit dem christlichen Glauben begann durch die Begegnung mit Menschen, an deren Leben sie die verändernde Kraft des lebendigen Glaubens ablesen konnte. Hinzu kam die Lektüre religiöser Schriften z.B. von Kierkegaard, Ignatius von Loyola und schließlich die Lebensbeschreibung Teresas von Avila, die ihr letztlich die Tür zu ihrer eigenen Konversion öffnete. Wie es jedoch letztlich dazu kam, dass Edith Stein, die sich sonst in der Philosophie als dem Gebiet strengster Sachlichkeit bewegte, den Glauben für sich annahm und als Wahrheit erkannte, lässt sich nur erahnen. Über innere Erlebnisse im Glauben oder auch mystische Gotteserfahrungen sprach sie kaum. Dies gehörte zu dem Bereich ihres Innern, den sie seit frühester Kindheit vor anderen Menschen verborgen hielt.3 In der Bear2

3

So schreibt Stein über den Einfühlungsakt: „So gewinne ich einfühlend den Typ des ,homo religiosus‘, der mir wesensfremd ist, und ich verstehe ihn, obwohl das, was mir dort neu entgegentritt, immer unerfüllt bleiben wird.“ E. Stein, Zum Problem der Einfühlung, München 1980, 129. „Ich führte von frühester Kindheit an ein merkwürdiges Doppelleben und machte für den äußeren Betrachter unbegreifliche, sprunghafte Umwandlungen durch. In den ersten Lebensjahren war ich von einer quecksilbrigen Lebhaftigkeit, immer in Bewegung, übersprudelnd von drolligen Einfällen, keck und naseweis, dabei unbezähmbar eigenwillig und zornig, wenn etwas gegen meinen Willen ging. ... Das war es, was meine Angehörigen für gewöhnlich

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beitung der Schriften des Heiligen Dionysius beschreibt sie jedoch jene Erfahrung, die, so lässt sich begründet annehmen, ihrer eigenen entsprach: „Denken wir uns aber den Übergang von der natürlichen Gotteserkenntnis zur übernatürlichen Gotteserfahrung ohne Vermittlung durch den Glauben, d.h. als Begnadung eines zuvor Ungläubigen, und wird diese Erfahrung ,angenommen‘, so werden sich die verschiedenen Arten der Erfüllung darin verbinden, und das Ganze wird viel stärker den Charakter einer inneren Erschütterung und Umwandlung haben.“4

Bereits seit ihrer Konversion besteht bei Edith Stein eine innere Affinität zum Ordensleben, die mit den Jahren mehr und mehr Gestalt gewinnt, sodass ihr Alltagsleben bereits in Speyer während ihrer Tätigkeit als Lehrerin erkennbar vom Glauben und einer geistlichen Lebensweise durchformt wird. Nicht allein Frömmigkeit wird ihr zueigen, sondern ein lebendiges Gespür für die Alltagstauglichkeit und Relevanz des Glaubens und ihrer persönlichen Beziehung zu Gott. Diesem religiösen Leben entspringt so zunächst eine Alltagsmystik, um Glauben und Berufsleben miteinander in Einklang zu bringen. Jene Form gelebter Gottverbundenheit wird sie später im Orden noch intensivieren, sodass sie dort den „Alltag“ zu heiligen versucht. Mit der Zeit gewinnt dann der Gedanke der Liebe zu Gott und zum Nächsten in ihrem Leben und Arbeiten immer mehr Raum. Daraus entwickelt sich eine Liebesmystik, in der sie aus der geistlichen Literatur des Christentums schöpft. Die wichtigsten Quellen Edith Steins für ihre mystischen Schriften sind, neben der Heiligen Schrift, insbesondere die großen christlichen Mystiker Dionysius Areopagita, Teresa von Avila und vor allem Johannes vom Kreuz. Die Schriften des Heiligen Johannes über den geistlichen Weg des Auf-

4

äußerlich an mir beobachten konnten. Aber in meinem Innern gab es noch eine verborgene Welt. Was ich am Tage sah und hörte, das wurde dort verarbeitet. ... Von all diesen Dingen, an denen ich heimlich litt, sagte ich niemandem je ein Wort. Es kam mir gar nicht in den Sinn, dass man über so etwas sprechen könnte.“ E. Stein, Aus dem Leben einer jüdischen Familie und weitere autobiographische Beiträge (Edith-Stein-Gesamtausgabe 1), Freiburg im Breisgau 2002, 47. Vgl. auch ebd., 51. (Die Edith-Stein-Gesamtausgabe wird im Folgenden mit ESGA abgekürzt.) E. Stein, Wege der Gotteserkenntnis. Studie zu Dionysius Areopagita und Übersetzung seiner Werke (ESGA 17), Freiburg im Breisgau 2003, 48.

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stiegs zur Vollkommenheit und Heiligung, der durch oder genauer in die dunkle Nacht führt, werden für Edith Stein zu einer Offenbarung im Hinblick auf das Geheimnis des Kreuzes. Das Kreuz als Zeichen des Leidens und des Todes wird für sie zum Siegeszeichen und zum Ort der Erlösung in der Gemeinschaft mit Christus, da plötzlich dem Leiden ein Sinn eingefügt wird. Am Kreuz hat Edith Stein das Antlitz Gottes gesehen, und der Gekreuzigte wurde nicht nur ihr Erlöser und Herr, sondern wurde ihr zum Freund, Berater, ja Geliebten, dem sie nachfolgen wollte. Darum bedeutet über „Mystik im Werk Edith Steins“ zu schreiben zugleich auch über ihre eigene mystische Existenz zu handeln. Ihr Leben wurde zum authentischen „Ort der Mystik“ im 20. Jahrhundert. Dies ist gerade in der Biographie Edith Steins interessant, weil ihre hohe wissenschaftliche Bildung offenbar dem mystischen Erleben nicht im Wege stand. Die folgenden Überlegungen sollen keine chronologische Auflistung der mystischen Schriften Edith Steins anführen oder diese im Einzelnen erörtern, vielmehr soll im Folgenden anhand einiger Grundgedanken versucht werden, ihr Denken von drei Perspektiven aus systematisch zu erschließen: Mystik des Alltags, Liebesmystik und schließlich die Kreuzesmystik.5

2. Alltagsmystik Wenn von Edith Steins Mystik die Rede ist, so wird deutlich, dass sich diese nicht zuerst aus außerordentlichen oder außergewöhnlichen Erfahrungen der göttlichen Gegenwart und Nähe speist. Vielmehr ist es eine Mystik als Lebensweise, die das ganze Dasein, und so auch den Alltag umfasst.6 Der Alltag in der Familie, im Beruf oder als Ordenschrist kann 5

6

Das große Thema der „Seelenburg“ wie auch die detaillierte Beschreibung des Prozesses des Aufstiegs der Seele zur Vereinigung mit Gott soll hier nicht im Einzelnen erörtert werden, da es sicher im Rahmen des Beitrags über Teresa von Avila in diesem Band Erwähnung finden wird. Vgl. zum Thema: Teresa von Avila, Die innere Burg, Zürich 1979; vgl. dazu: E. Stein, Die Seelenburg, in: Dies., Endliches und ewiges Sein. Versuch eines Aufstiegs zum Sinn des Seins (ESGA 11/12), Freiburg im Breisgau 2006, 501-525. Vgl. dazu: H. Ott, Edith Stein und ihre Bedeutung für die Spiritualität des Alltags, in: Internationales Edith-Stein-Institut Würzburg (Hg.), Edith-Stein-Jahrbuch

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und soll geheiligt werden durch die Begegnung mit Gott und die Verbundenheit mit ihm während des Tages. In ihrer Speyrer Zeit Ende der zwanziger, Anfang der dreißiger Jahre, als Edith Stein am Lehrerinnenseminar der Dominikanerinnen arbeitete, versuchte sie, das Leben in der Gegenwart Gottes in ihren Alltag zu integrieren. Aber auch später, in der Zeit, da sie bereits im Karmel ist, bemerkt sie die Notwendigkeit, sich beständig um die persönliche Beziehung zu Gott kümmern zu müssen, da diese ansonsten verflachen und keine sichtbaren Wirkungen mehr im Leben hinterlassen würde. 2.1 Beten und Arbeiten Als Lehrerin bemüht sie sich um ein treues und hingegebenes Leben mit Gott, das sich bereits in ihrer Tagesplanung ausdrückt: An jedem Morgen nimmt sie sich vor der Arbeit mindestens eine Stunde Zeit, um mit Gott im Gebet zu sprechen und ihm alles, was der Tag bringen wird, schon jetzt zu übergeben. So äußert sie sich in einem Nachtrag zum Vortrag Grundlagen der Frauenbildung: „Wenn wir morgens erwachen, wollen sich schon die Pflichten und Sorgen des Tages um uns drängen … Da steigt die unruhige Frage auf: Wie soll das alles in einem Tag untergebracht werden? Wann werde ich dies, wann jenes tun? Und wie soll ich dies und das in Angriff nehmen? Man möchte wie gehetzt auffahren und losstürmen. Da heißt es, die Zügel in die Hand nehmen und sagen: Gemach! Von alledem darf jetzt nichts an mich heran. Meine erste Morgenstunde gehört dem Herrn. Das Tagewerk, das Er mir aufträgt, das will ich in Angriff nehmen, und Er wird mir die Kraft geben, es zu vollbringen.“7

Eine solche geistliche Lebensweise in der Welt empfiehlt sie auch anderen, die um ihren Rat bei der Bewältigung ihres Alltags gefragt haben.8

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2004, Bd. 10, Würzburg 2004, 118-129. „Das schöne und selbstverständliche Antreffen Gottes in den heimatlichen Zeichen seiner Schöpfung, allgegenwärtig im Guten jedes All-Tags.“ H.-B. Gerl-Falkovitz, „Im Dunkel wohl geborgen“. Edith Steins mystische Theorie der „Kreuzeswissenschaft“ (1942), in: Internationale katholische Zeitschrift „Communio“ (IKaZ) 5 (2007), 463-477, 465. E. Stein, Die Frau. Fragestellungen und Reflexionen (ESGA 13), Freiburg im Breisgau 2000, 43. E. Stein, Brief an Callista Kopf v. 12.02.1928, in: Dies., Selbstbildnis in Briefen I: 1916-1933 (ESGA 2), Freiburg im Breisgau 2000, 86. Vgl. ebenfalls E. Stein,

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Wenn der Tag auf diese Art begonnen würde, könne es dem offenen Menschen gelingen, dass er am Morgen von Gott „seine besondere Mission ... bekommt, am besten auch für den ganzen Tag, und nichts selbst wählt“.9 Dadurch werde der Einzelne mit dem Nötigen ausgerüstet, um in den alltäglichen Arbeiten letztlich als Gottes Werkzeug zu wirken und sich in allem der begleitenden Gegenwart Gottes gewärtig zu sein. Eigentlich sei es dann sogar „Gott in uns“,10 der unsere „Kräfte“ gebrauche. Dabei geht Edith Stein davon aus, dass Gott diejenigen Begabungen und „Kräfte“ in dieser Zeit besonders schule, die der Mensch für seine jeweiligen beruflichen und sonstigen Tagesarbeiten benötige. Sollte diese vertraute Begegnung am Morgen in Gebet, Meditation und im Lesen der Heiligen Schrift aus irgendwelchen Gründen nicht möglich sein, z.B. „wenn unabweisliche Pflichten eine stille Stunde verbieten“, bestehe zwischendurch die Chance zu einem kurzen inneren Atemholen der Seele durch die Zufluchtnahme zum Herrn: „Er ist ja da und kann uns in einem einzigen Augenblick geben, was wir brauchen.“11 Nach ihrer Konversion hatte sie zunächst gemeint, aus Gründen der Hingabebereitschaft an Gott, die Wissenschaft und den Beruf völlig aufgeben zu müssen, denn sie glaubte, „ein religiöses Leben führen hieße, alles Irdische aufgeben und nur im Gedanken an göttliche Dinge leben.“ Dann erkannte sie jedoch, „daß in dieser Welt anderes von uns verlangt wird und daß selbst im beschaulichsten Leben die Verbindung mit der Welt nicht durchschnitten werden darf … um das göttliche Leben in sie

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Frauenbildung (1932), in: Dies., Die Frau. Fragestellungen und Reflexionen (ESGA 13), Freiburg im Breisgau 2000, 43. „Man hat für so viele nutzlose Dinge Zeit: allerhand unnützes Zeug aus Büchern, Zeitschriften und Zeitungen zusammenzulesen, in Cafés herumzusitzen und auf der Straße Viertel- und halbe Stunden zu verschwatzen: alles ,Zerstreuungen‘, in denen man Zeit und Kraft splitterweise verschleudert. Sollte es wirklich nicht möglich sein, eine Morgenstunde herauszusparen, in der man sich nicht zerstreut, sondern sammelt, in der man sich nicht verbraucht, sondern Kraft gewinnt, um den ganzen Tag damit zu bestreiten?“ E. Stein, Das Weihnachtsgeheimnis. Menschwerdung und Menschheit, in: Dies., Ganzheitliches Leben (Edith-Steins-Werke XII), Freiburg im Breisgau 1990, 196-207, 205. (Die Edith-Steins-Werke werden im Folgenden mit ESW abgekürzt.) E. Stein, Brief an Callista Kopf v. 12.02.1928, 86. E. Stein, Brief an Callista Kopf v. 12.02.1928, 86. E. Stein, Ergänzungen zur Frauenbildung (1932), in: Dies., Die Frau. Fragestellungen und Reflexionen (ESGA 13), Freiburg im Breisgau 2000, 44.

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hineinzutragen.“12 Letztlich gehe es eben darum, „das ganze Leben für ihn zu leben.“13 Dieser Hinweis wird künftig zu ihrem zentralen Gedanken für das geistliche Leben. Es ist „nur eine kleine Wahrheit, die ich zu sagen habe: wie man es anfangen soll, an der Hand des Herrn zu leben.“14 Dabei ist Edith Stein bewusst, dass es sich bei dieser Art Leben für viele tatsächlich um einen „weite[n] Weg“ handle, der gar nicht so einfach umzusetzen sei: „von der Selbstzufriedenheit eines ,guten Katholiken‘, der ,seine Pflichten erfüllt‘, eine ,gute Zeitung‘ liest, ,richtig wählt‘ usw., im übrigen aber tut, was ihm beliebt, bis zu einem Leben an Gottes Hand und aus Gottes Hand, in der Einfalt des Kindes und der Demut des Zöllners.“15 Zum Ausruhen als Quelle neuer Kraft für alle Aufgaben und Arbeiten wie auch als Zeit der Begegnung zwischen Schöpfer und Geschöpf gilt Edith Stein insbesondere der Sonntag. Er müsse „wie ... ein großes Tor sein … durch das himmlisches Leben in den Alltag und Kraft für die Arbeit der ganzen Woche einziehen könnte.“ So seien alle Festzeiten, vor allem die kirchlichen Feiertage, Hinweise und Vorgeschmack auf die „ewige Sabbathruhe“ im Himmel, der der Mensch unaufhörlich entgegengehe.16 Das Wort von der ewigen Sabbathruhe lässt uns in diesem Zusammenhang fragen, inwieweit bei Edith Stein in ihrem Ansatz eines geistlichen Lebens oder auch in ihrer Auffassung vom Glauben noch Anklänge an ihre jüdischen Wurzeln erkennbar sind und wirksam werden.17 In der Lektüre der Darstellung einer gläubigen Existenz bei Martin Buber, lässt sich tatsächlich eine geistige Verwandtschaft erkennen: „Man kann ,glauben, daß Gott ist‘, und in seinem Rücken leben; wer ihm vertraut, 12 13 14 15 16 17

E. Stein, Brief an Callista Kopf v. 12.02.1928, 86. E. Stein, Eucharistische Erziehung (1930), in: Dies., Bildung und Entfaltung der Individualität (ESGA 16), Freiburg im Breisgau 2001, 67. E. Stein, Brief an Adelgundis Jaegerschmid v. 28.04.1931, in: Dies., Selbstbildnis in Briefen I: 1916-1933 (ESGA 2), Freiburg im Breisgau 2000, 165. E. Stein, Weihnachtsgeheimnis, 206. E. Stein, Ergänzungen zur Frauenbildung (1932), in: Dies., Die Frau. Fragestellungen und Reflexionen (ESGA 13), Freiburg im Breisgau 2000, 45. Vgl. dazu die kleine Abhandlung Edith Steins, in der sie die katholische Messliturgie und ihre Wurzeln in der jüdischen Tradition darstellt: E. Stein, Das Gebet der Kirche, Karmel Köln, 1965.

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lebt in seinem Angesicht.“18 So entsprach ein formelhaftes Hersagen von Glaubensformeln ohne innere Anteilnahme für Edith Stein gerade nicht dem, was sie mit dem augustinischen credere in Deum als einem Glauben „zu Gott hin“ versteht, da der wirkliche Glauben „ein Ergreifen Gottes“ sei.19 Unabhängig davon, in welchem Stand der Einzelne lebt, hat er die Möglichkeit, in enger Verbundenheit mit Gott zu leben, und dies geschieht nach Edith Stein im Heiligen Geist, der das ganze Leben zu durchwirken vermag. So solle der Christ „in gläubigem Vertrauen“ seine „Seele dem Walten des Heiligen Geistes überlassen“,20 da ihm darin eine neue Dimension des Lebens eröffnet werde.21 „Das ist nach Edith Stein die geschichtliche Grundsituation des Menschen: Stets müssen wir handeln, ohne alle Gründe zu kennen. ... Dennoch liefern wir uns im Han-

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M. Buber, Zwei Glaubensweisen, Gerlingen 1994, 43. Ob diese Übereinstimmung zwischen Stein und Buber dem gemeinsamen jüdischen Erbe entspringt oder dem, was Judentum und Christentum an Wissen um das Leben mit Gott einander verbindet, kann hier indes nicht abschließend geklärt werden. Vgl. E. Stein, Endliches und ewiges Sein. Versuch eines Aufstiegs zum Sinn des Seins (ESGA 11/12), Freiburg im Breisgau 2006, 35. Ihren eigenen jahrelangen Unglauben wird sie im Karmel später als schwere Sünde bezeichnen, die ihr während einer Gewissenserforschung offenbar lebendig vor Augen steht: „Zustand meiner Seele vor der Konversion: Sünde des radikalen Unglaubens. Rettung rein durch die Barmherzigkeit Gottes und ohne eigenes Verdienst. Dies oft erwägen, um demütig zu werden.“ E. Stein, Exerzitien von P. Hirschmann S.J. (3.IX-11.IX.1941), in: Dies., Geistliche Texte II (ESGA 20), Freiburg im Breisgau 2007, 84. E. Stein, Verborgenes Leben und Epiphanie, in: Dies., Geistliche Texte II (ESGA 20), Freiburg im Breisgau 2007, 126f. Angewandt auf ihre eigene Tätigkeit als Lehrerin hebt Edith Stein diese Bereicherung für den Alltag hervor: „Man findet es vielfach schwer oder gar nicht möglich, Chorgebet und Lehrtätigkeit miteinander zu vereinen, und bedenkt nicht, welche Kräfte man sich aus dem Gebet für die tägliche Arbeit in der Schule holen kann.“ E. Stein, Die Mitwirkung der klösterlichen Anstalten an der religiösen Bildung der Jugend (1929), in: Dies., Bildung und Entfaltung der Individualität (ESGA 16), Freiburg im Breisgau 2001, 50-62, 61. Andererseits hebt sie hervor, wie fruchtbar z.B. das Verständnis der „Arbeit als Gottesdienst“ für das menschliche Wirken ist. Vgl. E. Stein, Beruf des Mannes und der Frau (1931), in: Dies., Die Frau. Fragestellungen und Reflexionen (ESGA 13), Freiburg im Breisgau 2000, 76. Vgl. dazu auch: E. Stein, Brief an Callista Kopf v. 12.02.1928, 85.

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deln stets an die anderen und das andere unserer selbst aus, in der stillen Hoffnung, es möge doch gelingen.“22 Wenn so zum menschlichen Tun der Heilige Geist, der in der Seele des Gläubigen wohnt, Gnade wirkend hinzukommt, wird sie „befähigt ... zu Leistungen, denen sie ihrer Natur nach nicht gewachsen wäre, und er weist zugleich ihrem Tun die Richtung.“23 Dies führt dazu, dass es dem Menschen auch in seinem Alltag gegeben sein kann, den Willen Gottes für sein Leben zu unterscheiden und auch in den Alltagsangelegenheiten Gott wohlgefällig zu leben. 2.2 Alltag im Kloster Die Verbindung von Gebet und Arbeit bestimmte indes nicht nur ihr Leben vor dem Eintritt in den Orden, vielmehr wollte sich Edith Stein in das Leben des Karmel, in das sie sich gerufen wusste, mit ihrem ganzen Sein einfügen. Nach kurzer Zeit jedoch wurde ihr bereits nahegelegt, ihre wissenschaftliche Arbeit wiederaufzunehmen. Grundsätzlich erkannte sie mit der Zeit, dass auch das Ordensleben durch „Alltäglichkeit“ nicht nur gekennzeichnet, sondern in gewisser Hinsicht auch gefährdet ist. So müsse die ständige Nähe Gottes und die Anbetung als Ausdruck des ganzen Lebens im Innern lebendig gehalten werden, „weil Gott die Wahrheit ist und weil er sich finden lassen will von denen, die ihn von ganzem Herzen suchen.“24 Der Alltag im Orden und die Beziehung zwischen der Seele und ihrem göttlichen Bräutigam bleibe darin lebendig. So müssten „das bräutliche Glück der gottgeweihten Seele und ihre Treue … sich bewähren in offenen und verborgenen Kämpfen“, vor denen auch der „Alltag des Ordenslebens“ nicht verschont bleibe.25 Das erste Finden geschieht, indem der Mensch Gott kennenlernt. Danach erfährt der Gläubige sich von Neuem persönlich und auf vertiefte Weise angesprochen: „Wir kannten Gott, aber wir fühlten, dass er von uns auf eine neue Art gesucht und gefunden werden wollte.“26 In einer Berufung, die erkannt und angenommen werde, könne der Mensch sei22 23 24 25 26

A.-U. Müller/M.A. Neyer, Edith Stein. Das Leben einer ungewöhnlichen Frau, Zürich 1998, 131. E. Stein, Endliches und ewiges Sein, 375. E. Stein, Verborgenes Leben und Epiphanie, 123-127, 125. Vgl. Jer 29,13f. E. Stein, Hochzeit des Lammes, 14. September 1940, in: Dies., Geistliche Texte II (ESGA 20), Freiburg im Breisgau 2007, 135-142, 138f. E. Stein, Verborgenes Leben und Epiphanie, 126.

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nen Gott nun zum zweiten Mal finden. Und selbst dabei bleibe es nicht. Auch der Alltag des Ordenslebens müsse Ausdruck der immerwährenden intensiven und aufrichtigen Gottsuche sein.27 „Gott lässt sich suchen, um sich finden zu lassen. Er lässt sich finden, um wiederum gesucht zu werden.“28 2.3 Eucharistische Frömmigkeit Die Feier der Eucharistie ist für Edith Stein schon in der Zeit als Lehrerin Höhepunkt des Tages, der dadurch immer zu einem besonderen Tag werde. Sie besucht täglich die Heilige Messe und ist darin nicht nur Hörende, sondern erfährt sich herausgefordert zur persönlichen inneren Teilnahme am liturgischen Geschehen. In der Eucharistie geschieht die Teilhabe am göttlichen Hingabegeschehen dadurch, dass der Mensch sich selbst und all sein Dasein Betreffendes einzubringen und zu den Opfergaben auf den Altar zu legen bereit ist, dann „werden [wir] dahin gedrängt, in seinem Opfer uns mitzuopfern.“29 Gleichzeitig geschehe in den Zeichen Gottes Handeln am Menschen. Dann könne sich ereignen, dass „wir völlig aus der Enge unseres Daseins hinausgehoben [werden; Gottes] … Gesinnung wird unsere Gesinnung, seine Angelegenheiten die unsern.“30 In ihren Studien über die Frau leitet Edith Stein für berufstätige Frauen daraus den Hinweis ab, dass die Liturgie, genauer die Mitfeier der Eucharistie, es ihr ermögliche, beispielsweise übermäßige Arbeitslast, eine „lieblose, evtl. gemeine Umgebung, Spott“31 wie auch die Erfahrung der Einsamkeit als persönliche (Opfer-)Gabe in das eucharistische Geschehen einzubringen und so ihr Leben und Arbeiten in die Begegnung mit Gott hineinzunehmen.32

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Vgl. E. Stein, Verborgenes Leben und Epiphanie, 126. A. Augustinus, De libero arbitrio, libri tres, cap.2 (PL 32, col 1243). Zitiert auch bei: E. Stein, Verborgenes Leben und Epiphanie, 126. E. Stein, Eucharistische Erziehung (1930), 67. Vgl. auch E. Stein, Frauenbildung (1932), 43. E. Stein, Eucharistische Erziehung (1930), 67. E. Stein, Eucharistische Erziehung (1930), 68. „Er nimmt alle Lasten entgegen, die wir zur Besuchung mitbringen, er weiß für alles Rat, und er macht sie uns dadurch leicht. Nichts ist ihm zu geringfügig, was uns angeht.“ E. Stein, Eucharistische Erziehung (1930), 67.

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Die eucharistische Begegnung mit Christus in der Kommunion ist auch Thema einer Vielzahl von Gedichten und Gebeten Edith Steins aus ihrer Zeit im Karmel. Jesus in der Hostie wird für sie zum bleibenden Antlitz Gottes auf der Erde. In der Eucharistie erfülle Jesus sein Versprechen an die Jünger vor seiner Himmelfahrt: „Ich bin bei euch alle Tage bis zum Ende der Welt“ (Mt 28,20).33 Auch ihre persönliche mystische Erfahrung der lebendigen Gegenwart des Herrn im Altarsakrament kommt in einem ihrer Gedichte zum Ausdruck: Du senkst voll Liebe deinen Blick in meinen Und neigst Dein Ohr zu meinen leisen Worten Und füllst mit Frieden tief das Herz.34

Im Zwiegespräch mit Gott in der Eucharistie erhält der Mensch schon Anteil an der Liebe Gottes. Jedoch bleibt diese Einigung zwischen Gott und Mensch in der Anbetung noch in gewisser Weise unvollkommen. Die wirkliche Einheit geschieht erst im Moment der Kommunion, wenn der Christ den Leib des Herrn empfängt und darin ebenfalls sich selbst verwandelt zurückerhält, da er sich auch mit ihm dargebracht hat. Und so geschehe dann Verwandlung im Herz-zu-Herz zwischen Mensch und Jesus in der eucharistischen communio: Ich bin nicht mehr, was einst ich war. Du kommst und gehst, doch bleibt zurück die Saat, die Du gesät zu künftger Herrlichkeit, Verborgen in dem Leib von Staub.35

2.4 Weibliche Mystik Der Hinweis auf die weibliche Mystik oder auch eine Spiritualität des Weiblichen kann hier nicht ausführlich dargestellt werden, soll aber doch Erwähnung finden, da die geschlechtsspezifischen Fragen auch im Hinblick auf Religion, spirituelles Leben und Liturgie durchaus Aktualität behalten haben. Tatsächlich erkennt Edith Stein in der Frau eine spezifische Fähigkeit sich dem Religiösen zu öffnen und sich in der Hingabe

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Vgl. E. Stein, „Ich bleibe bei Euch …“, 16. Juni 1938, in: Dies., Geistliche Texte II (ESGA 20), Freiburg im Breisgau 2007, 179-182. E. Stein, „Ich bleibe bei Euch …“, 181. E. Stein, „Ich bleibe bei Euch …“, 181.

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ganz dem göttlichen Du zu überlassen. Diese besondere Begabung sei dem weiblichen Wesen zuzuordnen, da es durch seine Ausrichtung auf den Anderen hin dem anderen Menschen oder Gott natürlicherweise stärker zugewandt sei. Obwohl dem Mann ein in gewisser Hinsicht anderer Zugang zur spirituellen Dimension des Lebens eigne, bleibe die geschlechtsspezifische Unterscheidung in der Gottesbeziehung indes vorläufig. „Je höher man aufsteigt zur Verähnlichung mit Christus, desto mehr werden Mann und Frau gleich“, die Einseitigkeiten und Schwächen des Geschlechts treten zurück, so dass „die Beherrschung durch das Geschlecht vom Geistigen her aufgehoben“36 und „die Vorzüge der männlichen und weiblichen Natur vereint“37 seien in der Gott zugewandten Person. In einer Hinsicht jedoch bleibe die Bevorzugung einer Frau bestehen, die für den Menschen jedoch nicht zum Hindernis, sondern vielmehr zur Brücke werde. Maria ist nach Edith Stein die mystische Frau, die dem Christen nicht nur als Vorbild vorgestellt sei, das von einem Nimbus der Unerreichbarkeit umgeben werde, sondern als Mutter und somit als Hilfe. Die Mutter Jesu könne vor allem der Frau, die sich ihr als Kind anvertraue, ermöglichen, das Bild der rein entfalteten Frauenidentität immer mehr in ihr zum Vorschein kommen zu lassen. Denn Maria werde diejenigen, die sich „ganz unter ihre Leitung“ begeben und „ihr angehören, ... nach ihrem Bilde formen.“38 Ihre himmlische Mutterschaft könne sie nach Edith Stein indes nur dann vollkommen entfalten, wenn der Mensch, Mann oder Frau, sich ihr frei überlasse in einem „vollkräftigen Akt der Übergabe“.39 Dann werde Maria für jeden zur wahren Mutter, zum Ort des Friedens in der Ambivalenz des Alltags sowie zur Lehrerin der Eucharistiefrömmigkeit und Reinheit. Wenn Maria nun das Urbild der idealen Frau überhaupt sei, könne dementsprechend die angemessene Haltung einer Frau ihr gegenüber nur die „Marien-Nachfolge“ sein. 36

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E. Stein, Diskussion zum Vortrag „Grundlagen der Frauenbildung“, in: Dies., Die Frau. Fragestellungen und Reflexionen (ESGA 13), Freiburg im Breisgau 2000, 246. E. Stein, Beruf des Mannes und der Frau, 78. E. Stein, Probleme der neueren Mädchenbildung (1932), in: Dies., Die Frau. Fragestellungen und Reflexionen (ESGA 13), Freiburg im Breisgau 2000, 212. Edith Stein beschreibt diese Zugehörigkeit zu Maria an anderer Stelle als „Marienkindschaft“. Ebd., 213. E. Stein, Mädchenbildung, 219.

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Als Weg zur sicheren „Christus-Nachfolge“ stehe er indessen allen Christen offen.40

3. Liebesmystik Grundsätzlich besteht in der Mystik zumeist eine große Schwierigkeit darin, dass sie sich mit Hilfe der Sprache nur sehr bedingt ausdrücken lässt. Zwar kann die menschliche Sprache einen Eindruck von dem vermitteln, was dem Einzelnen in der mystischen Erfahrung zuteil wurde, jedoch bleibt der letzte Sinn und die Kenntnis des Mystischen denjenigen vorbehalten, die selbst jene unaussprechliche Erfahrung des Göttlichen machen dürfen.41 So lässt sich die Zurückhaltung vieler Mystiker erklären, über das Ergriffenwerden von der göttlichen Gnade angemessen Auskunft zu geben.42 Die karmelitische Mystik, aus deren Quellen Edith Stein für ihr eigenes mystisches Werk schöpft, war immer vor allem einem Ziel verschrieben: der liebenden Vereinigung Gottes mit der Seele, d.h. dass der Mensch darauf hoffen darf, dass sich am Ende seines geistlichen Weges die Einheit mit Gott und somit aller menschlichen Sehnsucht erfüllt. So besteht in den Worten Edith Steins die „vollkommene Liebesvereinigung“ darin, „vollständig vom göttlichen Sein durchdrungen zu werden.“43 Edith Stein gelangt hier zu einer Definition jener vollkommenen Gottesliebe, die als menschlicher Ausdruck die innertrinitarische Beziehung in Gott zwischen Vater, Sohn und Heiligem Geist abbildet. Die Liebe in Gott offenbart die „Liebe in ihrer höchsten Erfüllung… das

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„Marien-Nachfolge schließt Christus-Nachfolge ein, weil Maria die erste Christus-Nachfolgerin und das erste und vollkommenste Christus-Nachbild ist.“ E. Stein, Mädchenbildung, 179. Vgl. E. Stein, Einfühlung, 129. So auch Johannes vom Kreuz, den Edith Stein in der Kreuzeswissenschaft zitiert: „Ich will mich auch nicht darüber aussprechen, damit man nicht meine, dies ginge nicht über alles hinaus, was sich mit Worten sagen läßt.“ E. Stein, Kreuzeswissenschaft. Studie über Johannes vom Kreuz (ESGA 18), Freiburg im Breisgau 2007, 168. E. Stein, Kreuzeswissenschaft, 147.

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Einssein in freier wechselseitiger Hingabe“.44 Daran kann der Mensch Anteil erhalten. Je mehr er sich von den Dingen der Welt löst, desto freier und hingegebener kann er für Gott leben. Zu dieser Erfüllung kann der Weg des Menschen ihn führen, wenn die Suche nach Gott ihr Ziel erreicht in dem, was Dionysius Areopagita die „mystische Theologie“ nennt. Dies meint dann kein Reden mehr über Gott, sondern eher den Ansatz einer „negativen Theologie“, die versucht, sich Gott dadurch zu nähern, dass sie zuerst sagt, wie Gott nicht ist. Letztlich ist die Erfahrung Gottes in der mystischen Theologie beides zugleich: Offenbarung und Verborgenheit, Entschleierung und bleibendes Geheimnis.45 Wenn der Mensch sich so sehr Gott zugewendet hat, geschieht es auch, dass Gott zu ihm kommt und in ihm lebt. So breitet sich das göttliche Leben im Menschen aus und zwar je nach dem Maß, in dem er frei wird von sich selbst und auf Gott hin bzw. in Gott hinein lebt und liebt. Und dies meint nicht die Begegnung zwischen Gott und Mensch in der Ewigkeit, wenn alles Trennende überwunden und der Mensch in der visio beatifica (der seligen Anschauung) Gottes teilhaftig geworden ist. Vielmehr handelt es sich hierbei um jenen intensivsten Vorgeschmack auf das Kommende, das Noch-Nicht des Himmels. Für Edith Stein erfüllt sich damit, was für sie in der Phänomenologie begann: Das ungehinderte Schauen des Wesenhaften findet sein letztes Ziel im Erkennen Gottes, das mit der Vereinigung von Gott und Seele einhergeht. Jedoch ist diese Einung vorübergehend, da in statu viae die Gemeinschaft mit Gott unvollkommen, dem Menschen unverfügbar und somit noch nicht über den Augenblick hinaus dauerhaft bestehen bleibt. Um Gott in dieser Nähe überhaupt auf diese Weise zu begegnen, ist es nach Johannes vom Kreuz notwendig, dass zuvor „die Seele gelöst“ ist von der Bindung an jegliches andere „Sein“.46 Wenn dann Gott sich

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E. Stein, Kreuzeswissenschaft, 147. Johannes vom Kreuz zitiert an vielen Stellen das „Hohelied“ des Alten Testaments und bezieht sich auch in diesem Zusammenhang darauf: „Mein Geliebter ist mein und ich bin sein.“ (Hld 2,16) Vgl. E. Stein, Kreuzeswissenschaft, 170. Vgl. E. Stein, Wege der Gotteserkenntnis, 29. Vgl. E. Stein, Kreuzeswissenschaft, 147. „Je näher man Gott kommt, desto stärker lösen sich die natürlichen Bindungen, und wenn man auch in einem tieferen Sinn neu mit den Menschen verbunden wird, so bleibt man doch selbst soweit natürlicher Mensch, um die Trennung im Menschlichen zu spüren.“ E.

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der Seele nähert, geschieht eine mystische Begegnung: „Gott berührt mit seinem Wesen das Innerste der Seele“.47 Dieses Innerste der Seele nennt Edith Stein, indem sie Johannes vom Kreuz folgt, das „Wesen der Seele“. Es handelt sich demnach um den innersten Kern der Person, d.h. das Innerste des Innerlichen.48 Hier geschieht die Berührung Gottes, die die menschliche Seele empfängt. Und diese „Berührung von Person zu Person ist nur im Innersten möglich; durch eine solche Berührung gibt eine Person der anderen ihre Gegenwart kund.“49 Hierin vollzieht sich noch nicht die Vereinigung beider Wesen, sondern zunächst ein In-Fühlung-Gehen beider Personen. Für den Menschen bedeutet dieses Wissen um sein Innerstes, dass er sich selbst zugleich nicht bis ins Tiefste kennt. Nur Gott, der den Menschen von innen her kennt, weiß um alles in seiner Seele.50 So schreibt Edith Stein in einem Pfingsthymnus: „Du, näher mir als ich mir selbst – und innerlicher als mein Innerstes … Heiliger Geist – Ewige Liebe.“51 Der Heilige Geist ist es auch, der im menschlichen Herzen die liebende Antwort auf die göttliche Liebe hervorbringt, die so nur den im geistlichen Leben Fortgeschrittenen, ja den „Vollkommenen“ gewährt ist: „Dieses süße und wonnevolle Entbrennen der Liebe bewirkt der Heilige Geist kraft der Vereinigung, in der sie [die Vollkommenen] mit Gott verbunden sind.“52 Der Mensch selbst jedoch, unabhängig vom Grad seiner Gottverbundenheit, ist „dazu berufen, in seinem Innersten zu leben und sich selbst

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Stein, Brief an Elly Dursy (1930), in: Dies., Selbstbildnis in Briefen I: 1916-1933 (ESGA 2), Freiburg im Breisgau 2000, 145. E. Stein, Kreuzeswissenschaft, 149. „Das Innerste der Seele aber ist der Ort, wo Gott ‚ganz allein‘ wohnt, solange die Seele nicht zur vollkommenen Liebesvereinigung gelangt ist.“ E. Stein, Kreuzeswissenschaft, 135. „Gott ist im Innersten der Seele, und nichts, was in ihr ist, ist vor ihm verborgen.“ Ebd. 128. Vgl. auch ebd., 131. E. Stein, Kreuzeswissenschaft, 149. Hier finden sich sprachliche Parallelen zu Martin Bubers Schrift Ich und Du, in der er den eigentlich Sinn und das Wesen menschlicher Begegnung und Beziehung hervorhebt: „Durch die Berührung jedes Du rührt ein Hauch des ewigen Lebens uns an.“ M. Buber, Ich und Du, in: Ders., Das dialogische Prinzip, Gütersloh 1986, 65. Vgl. E. Stein, Kreuzeswissenschaft, 131. 128. E. Stein, Pfingst-Novene 1937, in: Dies., Geistliche Texte II (ESGA 20), Freiburg im Breisgau 2007, 39-42, 40. E. Stein, Kreuzeswissenschaft, 119.

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so in die Hand zu nehmen, wie es nur von hier aus möglich ist.“53 Das bedeutet, dass der Mensch seinen Blick in sein Herz richten muss, wie es Augustinus formuliert hat: „Noli foras ire in teipsum redi; in interiore homine habitat veritas.“ (vera rel. 39,72) Also: „Gehe nicht nach draußen, sondern kehre in Dich selbst zurück, im inneren Menschen wohnt die Wahrheit.“ Wenn der Mensch sich darauf einlässt, sich immer mehr unabhängig von den äußeren Dingen zu machen und aus seinem Inneren heraus zu leben und sich leiten zu lassen, dann kann er auch seine Berufung, seinen besonderen „Platz in der Welt finden“.54 Nur derjenige Mensch, der die Geschehnisse der Welt von innen her versteht und deutet, kann dem rein oberflächlichen Sein entkommen und zur Wirklichkeit und Wahrhaftigkeit seines Menschendaseins gelangen. Edith Stein erläutert weiterhin zur Gotteserfahrung, dass die Berührung, die Gott einem Menschen innerlich zuteil werden lasse, völlig unabhängig von seinem Glauben geschehen könne. Auch dem nicht getauften, ungläubigen Menschen könne diese innere Fühlungnahme durch Gott in seinem Wesen widerfahren, und zumeist werde dadurch der Glaube in ihm erst erweckt sowie alle weiteren Gnadenwirkungen vorbereitet.55 Dies ist für eine Zeit, in der viele Menschen unabhängig

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E. Stein, Kreuzeswissenschaft, 133. Dies erfüllt sich im Leben Edith Steins auf erschütternde Weise, wie in einem ihrer letzten Briefe auf dem Weg nach Auschwitz aus dem Lager Westerbork zu lesen und bezeugt ist: „Nun kommen wir ein bisschen dazu zu erfahren, wie man nur von innen her leben kann.“ E. Stein, Brief an Antonia Engelmann v. 04.08.1942, in: Dies., Selbstbildnis in Briefen II: 1933-1942 (ESGA 3), Freiburg im Breisgau 2000, 582. Vgl. dazu auch: R. Körner, Edith Stein – eine Lehrerin des spirituellen Lebens, in: U. Dobhan/R. Körner (Hg.), Lebensweisheit für unsere Zeit. Edith Stein als Lehrerin der Spiritualität, Leipzig 2001, 8-26, 10ff. E. Stein, Kreuzeswissenschaft, 133. Vgl. E. Stein, Kreuzeswissenschaft, 149. Wenn Gott einmal einer menschlichen Seele diese innere Berührung geschenkt hat, dann kann sie „in nichts mehr Ruhe finden, was nicht Gott ist“. E. Stein, Kreuzeswissenschaft, 198. Die Berührung Gottes ereilt den Menschen nicht nur ohne sein Zutun, sondern auch unerwartet, sodass die Begegnung mit dem Göttlichen zu einer „Verwundung“ des Herzens führt, da dieses das Ewige erfahren durfte und nun doch in der Welt bleiben muss. So beschreibt Stein es auch in einem ihrer Gedichte: „Aus Himmelshöhen zuckt’ ein Strahl hernieder, Er trat in meines Herzens tiefsten Grund, Die Seele ward von ew’ger Liebe wund, Wie Feuer fuhr es mir

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von ihrer eigenen konfessionellen Zugehörigkeit oder NichtZugehörigkeit eine Sehnsucht nach religiöser Erfahrung äußern, von besonderer Bedeutung. Nach Edith Stein sind mystische Erfahrungen mit dem lebendigen Gott somit nicht nur denjenigen vorbehalten, die ihn sowieso schon kennen. Auch dem nicht-gläubigen Menschen kann jene besondere Erfahrung der Nähe Gottes und seiner Liebe zuteil werden. „Man fühlt sich im Innersten von Ihm, dem Gegenwärtigen, berührt. Das ist es, was wir Gotteserfahrung im eigentlichsten Sinn nennen. Sie ist Kern alles mystischen Erlebens, die Begegnung mit Gott von Person zu Person.“56 In dieser Begegnung von Gott und Mensch kann es auch geschehen, „in den Flammen der Liebe [zu] entbrennen“,57 genauer, sich entzünden zu lassen, denn die göttliche, die „ewige Liebe“ ist ein „verzehrendes Feuer“.58 Gott schenkt darin seinem menschlichen Gegenüber liebende Geborgenheit, und der Mensch kann erst wahrhaft zu dem werden, wozu er erschaffen wurde: sich selbst zu verwirklichen in der Liebe.59 Bislang war nur von der Liebe als Liebe zu Gott die Rede, durch die sich der Mensch von der Bindung an die irdischen Dinge lösen sollte. Dennoch steht nach Edith Stein der Gottesliebe die liebende Hingabe an andere gerade nicht im Wege.60 So ist die Liebe zum Nächsten nicht nur

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durch alle Glieder.“ E. Stein, Herzensverwundung, in: Dies., Geistliche Texte II (ESGA 20), Freiburg im Breisgau 2007, 198. E. Stein, Wege der Gotteserkenntnis, 45f. E. Stein, Kreuzeswissenschaft, 199. E. Stein, Kreuzeswissenschaft, 154. „Denn unser Gott ist verzehrendes Feuer.“ (Hebr 12,29) Das Feuer des Herrn steht biblisch nicht nur für die Liebe und Nähe Gottes, sondern auch für seinen Zorn; vgl. Num 11,1-3. „Was ein Mensch tut, das ist die Verwirklichung dessen, was er kann; und was er kann, ist Ausdruck dessen, was er ist; indem sich seine Fähigkeiten in seinem Tun verwirklichen, kommt sein Wesen zur höchsten Seinsentfaltung.“ E. Stein, Endliches und ewiges Sein, 45f. Für die Berufung zur Liebe wird Maria zum Vorbild: „Durch ihre restlose Hingabe ist Maria wie kein anderes Geschöpf aufnahmefähig für die göttliche Liebe“. E. Stein, Durch Maria zu Jesus, II.IV., in: Dies., Geistliche Texte II (ESGA 20), Freiburg im Breisgau 2007, 55. „Stein löst diese Spannung von Selbstbesitz und Selbsthingabe auf, indem sie Liebe definiert als das Freieste, das es gibt. Das bedeutet: Nur in der Beziehung zum Anderen, in der Hingabe an ihn, verwirklichen sich personales Selbstsein und echte Freiheit; nur in der Selbsttranszendenz ereignet sich

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legitime, sondern durchaus natürliche Frucht jener Begnadung durch Gott, die der Mensch erfährt. Er soll andere Menschen daran teilhaben lassen in der Liebe, die er ihnen erweist.61 In ihrem letzten Werk Kreuzeswissenschaft, einer Studie über Johannes vom Kreuz, unternimmt Edith Stein einen Versuch, „Liebe“ zu definieren. Dabei bedient sie sich der klassischen Unterscheidung von amor und caritas: Amor bezeichnet danach die aufsteigende, begehrende Liebe, die nicht nur den zwischenmenschlichen Bereich betrifft, sondern auch in der Beziehung zu Gott eine Rolle spielt. Sie ist aus auf die „Erfüllung“ ihrer Liebessehnsucht im Anderen, hier also in Gott und im Ergriffenwerden von ihm. Caritas, griech. αγἁπη, meint die „barmherzig sich herabneigende Liebe Gottes zu den Geschöpfen“62 sowie die fürsorgende Liebe zum Nächsten. Jene amor-caritas-Unterscheidung ist auch Ausgangspunkt der Gedanken in der ersten Enzyklika von Papst Benedikt XVI. Deus caritas est.63 Entscheidend ist beiden Autoren, dass beide Liebesarten, amor und caritas, zusammenwirken und einander „begegnen“ müssen, um die Liebe in ihren verschiedenen Facetten als Einheit darzustellen.64

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Selbstverwirklichung.“ A. Tapken, Der notwendige Andere. Eine interdisziplinäre Studie im Dialog mit Heinz Kohut und Edith Stein, Mainz 2003, 279. Bereits vor ihrer Konversion lebt Edith Stein die Nächstenliebe, die zu diesem Zeitpunkt jedoch noch nicht bewusst der Liebe zu Gott entspringt. Während des Ersten Weltkriegs meldet sie sich freiwillig zum Krankendienst im Seuchenlazarett Mährisch-Weißkirchen und schreibt später rückblickend dazu: „Ich habe jetzt kein eigenes Leben mehr, sagte ich mir.“ E. Stein, Aus dem Leben einer jüdischen Familie, 265. Damals war wohl das Gefühl der Verantwortung für den Anderen und die Gemeinschaft ausschlaggebend. E. Stein, Kreuzeswissenschaft, 147. Benedikt XVI., Enzyklika Deus caritas est (Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls 171), Nr. 2, Bonn 2006, 7f. „Im Letzten ist ,Liebe‘ eine einzige Wirklichkeit, aber sie hat verschiedene Dimensionen.“ Benedikt XVI., Deus caritas est, Nr. 8, 15. „Beide Liebesarten ergänzen und brauchen somit einander: die aufsteigende und die absteigende Liebe, die erotisch-begeisterte und die sich-an-andere-hingebende Nächstenliebe.“ K. Westerhorstmann, Über die Einheit der Liebe. Freundschaft in der Ehe anhand der aristotelischen Freundschaftslehre, in: ThGl 97 (2007), 170-187, 171. Zu den beiden Liebesarten und ihrer wechselseitigen Verbindung vgl. auch: M. Buber, Zwiesprache, in: Ders., Das dialogische Prinzip, Gütersloh 2006, 139-196, 181.

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Obwohl sich nach Edith Stein bei Johannes vom Kreuz nur wenig über die Beziehung der Menschen untereinander finden lasse,65 deute auch er die Nächstenliebe als unmittelbare Folge der Erfahrung der Gottesliebe: „Je mehr die Liebe zunimmt … steigert sich mit der Gottesliebe auch die Liebe zum Nächsten.“66 So werde deutlich, dass die Lehre von der Liebe, als „Wissenschaft der Liebe“, dann auch geeignet wäre, den ganzen Menschen zu umfassen und sein Leben vollständig zu durchdringen. Davon wird auch der kontingente, zunächst zumeist als dunkel empfundene Bereich des menschlichen Lebens nicht nur in der Lehre, sondern auch in der Biographie Edith Steins nicht ausgenommen sein, wie nun im letzten Teil deutlich werden soll.67

4. Kreuzesmystik Die höchste Stufe der Liebesmystik besteht nach Edith Stein und dem Zeugnis zahlloser christlicher Mystiker durch die Jahrhunderte hindurch in der Kreuzesmystik. Das Besondere an dieser Art Mystik ist wiederum, dass es sich zumeist nicht um ein rein meditatives oder gar spekulatives Geschehen handelt, sondern um imitatio – Nachahmung. Auch Nachfolge ist hier gemeint. Um ein „alter Christus“ (ein „anderer Christus“) zu werden, bedarf es der Nachfolge zum einen im geistlichen Leben durch die Verbindung von persönlicher Spiritualität und guten Werken. Zu65 66

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Vgl. E. Stein, Kreuzeswissenschaft, 128. Vgl. dazu auch die einschränkende Anmerkung zum Text: E. Stein, Kreuzeswissenschaft, 149. E. Stein, Kreuzeswissenschaft, 79. Vgl. dazu E. Stein, Kreuzeswissenschaft, 147; 143. „Gegenüber allem Spiel der Neigungen und Abneigungen richtet sich das Gebot des Herrn auf: Du sollst Deinen Nächsten lieben wie Dich selbst. Das gilt ohne Bedingungen und Abstriche. Der ,Nächste‘ ist nicht der, den ich ,mag‘. Es ist ein jeder, der mir nahekommt, ohne Ausnahme. Und wieder heißt es: Du kannst, denn du sollst. Es ist der Herr, der es verlangt, und … er macht möglich, was natürlicherweise nicht möglich wäre.“ E. Stein, Endliches und ewiges Sein, 376. So kann Edith Stein mehrfach in der Kreuzeswissenschaft jenes Wort des Hl. Johannes v. Kreuz wiederholen: „Im Dunkel wohl geborgen“. E. Stein, Kreuzeswissenschaft, 115. Vgl. ebenfalls E. Stein, Kreuzeswissenschaft, 113. Das „Dunkel“ meint hier indes keine äußere Anfechtung oder Erschwernis des Lebens, vielmehr ist es „das Dunkel, das zu Gott hinführt“ und das ist „der Glaube“. E. Stein, Kreuzeswissenschaft, 53.

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gleich zeichnet sich die besondere Hingabe an Gott, der in Christus sein Leben am Kreuz gegeben hat, in der Liebe zum Kreuz ab. Diese Liebe äußert sich nach Edith Stein nicht nur in der frommen Betrachtung des Leidens Jesu und der Vergegenwärtigung erlittener Qualen des Gottmenschen, sondern vor allem im Mitleid, das zu originärem Mit-Leiden werden könne.68 Das konkrete Mitleiden in der eigenen Existenz wird jedoch nur dann zu einer Erfahrung des Anteils am Kreuz Christi, wenn das Leiden weder selbst verschuldet noch als Selbstzweck gesucht wurde.69 Es kann so für den Christen trotz seiner Anstößigkeit sogar zu einem Zeichen der besonderen Nähe zu Christus, eben am Kreuz, werden.70 Darin geschieht dann nicht nur das Zeichen der besonderen Auserwählung des Einzelnen, sondern zugleich wird wirklich, was das Neue Testament über das Leiden sagt: „So ergänze ich an meinem Leib, was an den Leiden Christi noch fehlt.“ (Kol 1,24)71 Dieser Gedanke ist für moderne Gesellschaften, in denen das Leiden wenn nicht vollständig eliminiert, so doch verborgen werden soll, nicht nur nicht alltäglich, sondern wird zum Teil sogar als anstößig empfunden.

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„Das freiwillige Sühneleiden ist das, was wahrhaft und wirklich am tiefsten mit dem Herrn verbindet.“ E. Stein, Kreuzesliebe. Einige Gedanken zum Fest des hl. Vaters Johannes vom Kreuz. 24. November 1933, in: Dies., Geistliche Texte II (ESGA 20), Freiburg im Breisgau 2007, 110-113, 112f. (kursiv im Original). Edith Stein weist ein Streben nach dem Leiden selbst deutlich als illegitim und unnatürlich zurück: „Denn der natürliche Mensch flieht vor dem Leiden. Und die Sucht nach Leiden um einer perversen Lust am Schmerz willen ist von dem Verlangen nach Sühneleiden durchaus verschieden.“ E. Stein, Kreuzesliebe, 113. Vgl. dazu den Brief Steins an den schwer erkrankten Peter Wust, in dem Edith Stein sein Krebsleiden als Ruf „zu einer besonderen Sühneleistung“ würdigt und diesen „Ruf“ wiederum als „außerordentliche Gnade“ Gottes versteht. E. Stein, Brief an Peter Wust v. 28.08.1939, in: Dies., Selbstbildnis in Briefen II: 1933-1942 (ESGA 3), Freiburg im Breisgau 2000, 410. „Es gibt eine Berufung zum Leiden mit Christus und dadurch zum Mitwirken an seinem Erlösungswerk. Wenn wir mit dem Herrn verbunden sind, so sind wir Glieder am mystischen Leib Christi; Christus lebt in seinen Gliedern fort und leidet mit ihnen fort; und das in Vereinigung mit dem Herrn getragene Leiden ist Sein Leiden, eingestellt in das große Erlösungswerk und darin fruchtbar.“ E. Stein, Brief an Anneliese Lichtenberger v. 26.12.1932, in: Dies., Selbstbildnis in Briefen I: 1916-1933 (ESGA 2), Freiburg im Breisgau 2000, 254.

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Das Mitleiden im eigenen Leben und die darin gewonnene Erfahrung des Leidens als Teilhabe am Kreuz werden bei Edith Stein mithin zur Teilhabe am Erlösungswerk. Dieser Ansatz kann möglicherweise zu Missverständnissen führen: Nicht, dass das Erlösungsleiden Jesu nicht „ausreichend“ gewesen wäre, vielmehr werden Menschen in der Nachfolge Jesu zuweilen genötigt – sehr häufig findet sich in der spirituellen Tradition des Christentums dazu der Ausdruck „gewürdigt“ –, sich am Leiden Jesu mittragend zu beteiligen und so trotz ihrer menschlichen Begrenztheit an der Erlösung mitzuwirken.72 Dies gelingt dann, wenn der Christ sein Leiden als Teil des Kreuzes Christi versteht und es zudem im Sinne Jesu annimmt. Hier geschieht Verähnlichung mit Christus, von der Edith Stein wiederum, gegen alle pelagianischen Missdeutungen, sagt, dass sie allein Gottes Werk sei, in das der Mensch sich lediglich hineinbegebe. Im Hinblick auf die Gottgeweihten macht Stein deutlich, dass diese ihre Treue und bräutliche Liebe zu ihrem Herrn nur dann im Alltag leben und sich so bewähren könnten, wenn sie bereit seien, sich sogar „an Sein Kreuz heften lassen“.73 Dies geschehe sinnbildlich in den sogenannten evangelischen Räten: Armut,74 Keuschheit75 und Gehorsam.76 Nach Edith Stein stehen diese „drei Gelübde“ sinnbildlich für

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Eine solche Auffassung der Partnerschaft von Gott und Mensch im Erlösungsgeschehen geht davon aus, dass sich Gott und Mensch weder wie zwei Widersacher gegenüberstehen, noch auf gleicher Stufe miteinander konkurrieren. In diesem Gott-Mensch-Verhältnis wirken beide gemeinsam. Gleichwohl wird darin das Handeln Gottes auf keine Weise eingeschränkt. E. Stein, Hochzeit des Lammes, 139. „Das Gelübde der Armut öffnet die Hände, damit sie alles fahren lasse, was sie festhielten. Es heftet sie fest, damit sie sich nicht mehr ausstrecken können nach den Dingen dieser Welt.“ E. Stein, Hochzeit des Lammes, 139. „Das Gelübde der Keuschheit will den Menschen herauslösen aus allen Bindungen des natürlichen Gemeinschaftslebens, ihn hoch über diesem ganzen Getriebe an das Kreuz heften und sein Herz frei machen für die Vereinigung mit dem Gekreuzigten.“ E. Stein, Hochzeit des Lammes, 140. „Keusch ist, wer sein eigenes Wesen von jeder Beschmutzung und Verfälschung frei bewahrt.“ E. Stein, Gelübdeerneuerung 1942 (orig. niederl.: Vernieuwing der Geloften, 6. Januar 1942), in: Dies., Geistliche Texte II (ESGA 20), Freiburg im Breisgau 2007, 158-161, 159. „Der heilige Gehorsam fesselt unsere Füße, damit sie nicht mehr ihre eigenen Wege gehen, sondern Gottes Wege.“ E. Stein, Hochzeit des Lammes, 140.

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„die Nägel“, mit denen der Einzelne an das Kreuz Jesu geheftet werde.77 Das lässt sich so verstehen, dass durch den Verzicht auf Erfüllung der zutiefst menschlichen Strebungen nach Besitz und Reichtum, menschlicher Gemeinschaft, auch in der Sexualität, sowie Macht und Selbstbestimmung der gotthingegebene Mensch sich an Jesus binden lasse, ihm dadurch ähnlicher werde und dessen Lebensweise nachahme.78 Sodann spiegele sich das Antlitz Christi auf dem menschlichen Gesicht wider. Im Verzicht auf irdische Genüsse und die Geborgenheit rein menschlicher Beziehungen und in der ungeteilten Bindung an den göttlichen Bräutigam überlasse der Mensch sich ganz Gott, von dem er die innerste Erfüllung seines Herzens erhoffe. Diese Lebensweise bleibe jedoch auch im Kloster nicht unangefochten. So müsse der Einzelne bleibend um die Verwirklichung seiner Versprechen ringen, um nicht im Ordensleben von weltlichen Bedürfnissen getrieben zu werden. 4.1 Was ist das Kreuz? Gleich zweimal fragt Edith Stein in einem von ihr verfassten Gedicht mit dem Titel Signum Crucis,79 Zeichen des Kreuzes, von 1937: „Was ist das Kreuz?“ Ihre erste Antwort lautet: „Das Zeichen der tiefsten Schmach.“80 Das Kreuz lässt keinen Zweifel aufkommen. Nie war es ein romantisches Zeichen oder ein liebliches Bild, das den Betrachter über die Brutalität dieses Mordwerkzeugs im Unklaren ließ. Edith Stein geht noch weiter in ihrer Beschreibung des Kreuzes und des damit verbundenen Schicksals: „Wer es berührt, ist ausgestoßen aus der Menschen Reihen.“81 Dies ist offenbar nicht nur in Bezug auf das Kreuz Christi gemeint, sondern als Hinweis für jeden Menschen, sich über die möglichen Konsequenzen,

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E. Stein, Hochzeit des Lammes, 139. „Je bereitwilliger sie [die gottgeweihte Frau] sich auf dem Kreuz ausstreckt und die Hammerschläge erduldet, desto tiefer wird sie die Wirklichkeit des Verbundenseins mit dem Gekreuzigten erfahren. So wird ihr das Gekreuzigtwerden selbst zur Hochzeitsfeier.“ Ebd., 139. Zu den evangelischen Räten im Leben Jesu vgl. E. Stein, Kreuzerhöhung, 14. September 1941, in: Dies., Geistliche Texte II (ESGA 20), Freiburg im Breisgau 2007, 147-151, bes. 148-150. E. Stein, Signum Crucis. 16.XI.37, in: Dies., Geistliche Texte II (ESGA 20), Freiburg im Breisgau 2007, 47-49. E. Stein, Signum Crucis, 48. E. Stein, Signum Crucis, 48.

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Jesus nachfolgen zu wollen, bewusst zu werden. So warnt Edith Stein den Gläubigen in einem Text von 1939, als Deutschland bereits unter der Herrschaft der Nazis stand: „Überlege es wohl! Die Welt steht in Flammen … Wenn du dich für Christus entscheidest, so kann es dein Leben kosten.“82 Wie es Jesus in der schweren Stunde seiner Verurteilung geschah, könne es auch dem Christen geschehen, der sich auf die Nachfolge Jesu einlasse und mit ihm ausharre: „Sie wenden scheu sich ab und kennen ihn nicht mehr.“83 Unmissverständlich wird hier deutlich, was es mit dem Geheimnis des Kreuzes in Wahrheit auf sich hat: Es bedeutet Einsamkeit, Leere, Verlassenheit, Enttäuschung. Häufig erfahren Menschen diese Seite des menschlichen Lebens als Kreuz, wenn sie Anteil am Leiden bekommen, z.B. durch eine schwere Krankheit. Menschen aus der gewohnten Umgebung wenden sich ab, scheuen sich, ernsthaft mit Krankheit in Berührung zu kommen, da sie das Leben in Frage zu stellen und das eigene Glück zu bedrohen scheint. Die Antwort auf die so erlittene Ablehnung kann jedoch nicht die anklagende Verurteilung derer sein, die die Begegnung mit dem Leiden scheuen oder sogar fürchten. Vielmehr konnte das Kreuz gerade durch Christus und seine gelebte Annahme zum Zeichen der Liebe werden, das sogar die Einsamkeit zu ertragen vermag, um so allen Einsamen solidarisch und nahe zu sein. Damit werde nach Edith Stein Jesu „Verlassenheit am Kreuz“ nicht nur zum Sinnbild menschlicher Isolation und Vereinsamung, sondern darin auf geheimnisvolle Weise zugleich „unsere Stärke“.84 Als Edith Stein ein weiteres Mal die Frage „Was ist das Kreuz?“ wiederholt, fällt die Antwort weit hoffnungsvoller aus: „Das Zeichen, das zum Himmel weist.“85 Das Todeszeichen wird zum Hinweis auf das neue Leben. So liest es sich wie eine Einladung:

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E. Stein, Kreuzerhöhung. Ave Crux, Spes unica! 14. September 1939 in: Dies., Geistliche Texte II (ESGA 20), Freiburg im Breisgau 2007, 118-122, 119f. „Die Welt steht in Flammen. Der Brand kann auch unser Haus ergreifen. Aber hoch über allen Flammen ragt das Kreuz.“ Ebd., 121. E. Stein, Signum Crucis, 48. E. Stein, Eucharistie u. Kreuz (P. Swidbert), in: Dies., Geistliche Texte II (ESGA 20), Freiburg im Breisgau 2007, 56f, 56. E. Stein, Signum Crucis, 49.

132 „In den Flammen der Liebe entbrennen“ – Mystik bei Edith Stein (1891-1942) Schau auf zum Kreuz: Es breitet seine Balken, Wie einer seine Arme öffnet, Als wollt’ er alle Welt umfassen: Kommt her, ihr alle, Mühsel’ge und Belad’ne, Auch ihr, die ihr mir rieft: ans Kreuz mit ihm.86

Das Kreuz als Siegeszeichen, dass die Macht des Todes gebrochen ist und sogar diejenigen mit Liebe umfangen hat, die vor dem Kreuz geflohen sind, ja es selbst aufgerichtet haben. Schemenhaft wird hier erkennbar, was das Kreuz für Jesus, aber auch für jene Menschen bedeuten kann, deren er sich am Kreuz angenommen hat. Für alle gibt es nun den einen Ort des Trostes, an dem alles Leiden sichtbar geworden ist, was zumeist schamhaft versteckt wird und so verborgen bleibt. In der Sichtbarkeit des Leidens hat Christus zugleich das Leben neu aufgerichtet. 4.2 Das „Kreuz“ als Lebenswirklichkeit Zu Beginn des Jahres 2005 wurde die Weltöffentlichkeit herausgefordert, sich einem sichtbaren Leiden zu stellen. Das Krankheitsleiden in den letzten Wochen und Tagen des Lebens von Papst Johannes Paul II. war anstößig und anziehend zugleich. Bei aller Verzweiflung, die bei den letzten öffentlichen Bildern auf dem von Schmerz gekennzeichneten Gesicht des Papstes zu lesen war, wurde indes gleichzeitig deutlich, was zunächst so unbegreiflich erscheint. Für Edith Stein ist es offenbar Gewissheit: „Trägst du dein Kreuz, so trägt es dich.“87 Die Last des Kreuzesleidens wird hier eindeutig nicht auf Christus bezogen, sondern auf den Menschen. Daraus wird ersichtlich, dass es nach Edith Stein auch im Leben der Menschen jenes „Kreuz“ geben kann. Das Kreuz wird zum Synonym für das Leiden schlechthin und zugleich wird es hier sogar 86

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E. Stein, Signum Crucis, 49. Der „Gekreuzigte[] hat die Arme weit ausgespannt, um alle an sich zu ziehen, die mühselig und beladen sind.“ E. Stein, Lebensgestaltung im Geist der Heiligen Elisabeth, in: Dies., Verborgenes Leben. Hagiographische Essays, Meditationen, Geistliche Texte (ESW XI), Druten 1987, 27-39, 31. E. Stein, Signum Crucis, 49; Die Herausgeber weisen an dieser Stelle auf das nicht nur in den Ordensgemeinschaften verbreitete Buch Nachfolge Christi hin: „Trägst du das Kreuz gern, dann trägt es dich und wird dich zum ersehnten Ziel führen, dorthin, wo das Leiden ein Ende hat.“ Thomas von Kempen, Die Nachfolge Christi, Kevelaer 1995, II,12,3, 147.

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„zur Seligkeit“.88 Nur das angenommene Leiden könne diese Wirkung enrfalten, nur das getragene Kreuz entlasse aus sich jene besondere Art von „Segen“. Als Vorbild der Annahme von Kreuz und Leiden stellt uns die Mystikerin Edith Stein erneut Maria vor Augen, die Mutter Jesu: „Juxta crucem tecum stare“89 – „Mit dir [Maria] unterm Kreuz zu stehen“, heißt es in der bekannten Übersetzung des alten Marien-Hymnus „Stabat Mater“. Weil sich das Kreuz so schwer auf ihre Schulter und zugleich auf ihre Seele gelegt hat (vgl. Lk 2,35b), sei Maria selbst zum Inbegriff der Kreuzesnachfolge geworden.90 Vor diesem Hintergrund hat Edith Stein auch ihren eigenen Lebensweg schon früh verstanden.91 In einem Gebet wendet sie sich an Maria: „Im irdischen Leben hast Du das Kreuz mitgetragen, auch das Kreuz der Trennung, der Verlassenheit. … Er hat seine Hand auf Dich gelegt … So hat er auch auf mich die Hand gelegt und Du hast Deine Hand auf mich gelegt, dass ich mit Euch das Kreuz trage und durch das Kreuz zu seligem Auferstehungsleben gelange.“92

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Vgl. E. Stein, Signum Crucis, 49. Vgl. dazu auch das Karfreitags-Gedicht von E. Stein, Juxta crucem tecum stare (15.IV.), in: Dies., Geistliche Texte II (ESGA 20), Freiburg im Breisgau 2007, 58f. „Maria ist unter dem Kreuz unsere Mutter geworden. Sie liebt die Seelen, die dem Herrn bis unter das Kreuz folgen.“ E. Stein, Eucharistie u. Kreuz, 56. „Der Heiland ist auf dem Kreuzweg nicht allein … um Ihn … [sind] auch Menschen, die Ihm beistehen: als Urbild der Kreuzesnachfolger aller Zeiten die Gottesmutter.“ E. Stein, Kreuzesliebe, 112. Für Gerl-Falkovitz liegt darin die eigentliche Leistung Edith Steins, das ihr Widerfahrene im christlichen Sinn gedeutet und so in innerer Umformung dem Leiden jenen unerwarteten Sinn abgerungen zu haben: „Man muss es deswegen eine Leistung nennen, weil es um ein so sinnloses Leiden ging, dass es schwerlich von menschlicher Sicht aus auch nur mit dem ungefährsten Sinn belegt werden konnte. Edith Stein erzieht sich aber jahrelang zur Annahme des Kommenden, in welcher Gestalt immer.“ H.-B. Gerl-Falkovitz, „Im Dunkel wohl geborgen“, 474. E. Stein, Ostersonntag: Resurrexi et adhuc tecum sum!, in: Dies., Geistliche Texte II (ESGA 20), Freiburg im Breisgau 2007, 60-62, 61. Im Zusammenhang der Wandlung in der Heiligen Messe wird Maria nach Edith Stein durch ihre Kreuzesnachfolge zur Miterlöserin: „Maria unter dem Kreuz, das Opfer und das Fiat vollendend: die Miterlöserin. Unter dem Kreuz hat sie uns geboren.“ Vgl. E. Stein, Notizen zu: P. Heinrich Keller, Erneuerung des Geisteslebens durch die Hl. Eucharistie, Echt, 28.X.-01.XI.1940, in: Dies., Geistliche Texte II (ESGA 20), Freiburg im Breisgau 2007, 72.

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In einem anderen Gedicht von 1937 verdeutlicht Edith Stein die Leidensgemeinschaft von Christus und denen, die ihm nachfolgen, nochmals, indem sie ihn wie in einem vertrauten Gespräch anredet: „Wen Du auf ewig Dir verbindest, dem wirfst Du den geheimnisvollen Schleier über: Er leidet Dein Leiden mit und leidet wie Du verborgen, still und tief in Frieden.“93 Mit dem Schleier ist hier wohl der Schleier der Ordensschwestern gemeint. So wird der Gedanke verfolgt, dass, wenn Christus jenen Schleier auflegt, das Ordensleben immer auch Leiden beinhalte und Christus den Schwestern so zugleich Anteil gebe an seinem Leiden. Das würde bedeuten, dass die Ordensschwester als Braut Christi immer zugleich hineingenommen würde in die Entbehrung des Kreuzes und dass offenbar das Mitleiden prinzipiell von Edith Stein als Teil jener besonderen Berufung zum Ordensleben verstanden wird.94 Die geistlichen Schriften Mutter Teresas von Kalkutta, die 2007 erstmals veröffentlicht wurden, enthalten jenen Gedanken des Mitleidens, das die Entscheidung für das Ordensleben auch heute mit sich bringe.95 Die Ordensgründerin der „Missionarinnen der Nächstenliebe“ knüpft die Berufung zum Mitleiden mit dem Nächsten und in ihm vor allem mit Christus selbst an die Brautschaft. So erinnert sie beispielsweise eine junge Mitschwester, die ernstlich erkrankt war, in einem Brief an die Worte, die sie, wie jede Schwester, bei ihrer Ewigen Profess gesprochen habe: „Ich begehre die Braut des gekreuzigten Jesus zu werden“ und fügt erläuternd hinzu: „Es ist also nicht der glorreiche Jesus oder der in der Krippe, sondern es ist Jesus am Kreuz – allein – nackt – blutend – leidend – sterbend – am Kreuz.“96 Mutter Teresa hat auch ihre eigene Dunkelheit im Glauben als eben jenen Anteil und privilegierten „Weg zum Mysterium des Kreuzes Christi“ verstanden, da ihr das Leiden als

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E. Stein, Das heilige Antlitz, in: Dies., Geistliche Texte II (ESGA 20), Freiburg im Breisgau 2007, 49-51. „Es ist ein Grundgedanke alles Ordenslebens, vor allem aber des Karmellebens, durch freiwilliges und freudiges Leiden für die Sünder einzutreten und an der Erlösung mitzuarbeiten.“ E. Stein, Brief an Anneliese Lichtenberger v. 26.12.1932, in: Dies., Selbstbildnis in Briefen I: 1916-1933 (ESGA 2), Freiburg im Breisgau 2000, 254. Vgl. B. Kolodiejchuk (Hg.), Mutter Teresa. Komm, sei mein Licht. Die geheimen Aufzeichnungen der Heiligen von Kalkutta, München 2007. B. Kolodiejchuk (Hg.), Komm, sei mein Licht, 185.

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integraler Bestandteil der Berufung einer Missionarin der Nächstenliebe aufgegangen war.97 4.3. Edith Steins gelebte „Kreuzeswissenschaft“ Die Hinwendung Edith Steins zum Kreuz als dem Heilsmysterium überhaupt geschieht nicht erst in den letzten Jahren ihres Lebens, sondern zeigt sich bereits zu Beginn ihrer Zeit im Karmel. Bei ihrer Einkleidung erhält sie auf ihren eigenen Wunsch hin den Ordensnamen Teresia Benedicta a Cruce. Teresia in Erinnerung an Teresa von Avila, durch deren Schriften Edith Stein die Wahrheit des christlichen Glaubens erkannte und so im Sommer 1921 einen entscheidenden Impuls zur Konversion erhielt. Benedicta a Cruce – Gesegnete vom Kreuz. Dazu erklärt sie am 14.12.1934 in einem Brief an Petra Brüning, dass der Ordnensname zumeist eine je persönliche Berufung dessen bezeuge, der ihn trage.98 1938, als die Situation für Juden in Deutschland immer unerträglicher geworden war und Edith Stein selbst wegen vermehrter antisemitischer Übergriffe kurz vor ihrer Ausreise nach Holland stand, schreibt sie in einem Brief zur Wahl ihres Namens noch ein wenig mehr: „Ich muss Ihnen sagen, dass ich meinen Ordensnamen schon als Postulantin mit ins Haus brachte. Ich erhielt ihn genau so, wie ich ihn erbat. Unter dem Kreuz verstand ich das Schicksal des Volkes Gottes, das sich schon damals anzukündigen begann. … Gewiß weiß ich heute mehr davon, was es heißt, dem Herrn im Zeichen des Kreuzes vermählt zu sein. Begreifen wird man es nie, weil es ein Geheimnis ist.“99

Nicht nur in ihren Werken und poetisch-geistlichen Schriften beschäftigt sich Edith Stein demnach mit dem Kreuz und seiner Wirklichkeit – es wird zum Teil ihres Lebens.100 97 98 99 100

Vgl. B. Kolodiejchuk (Hg.), Komm, sei mein Licht, 185. Vgl. E. Stein, Brief an Petra Brüning v. 14.XII.1934, in: Dies., Selbstbildnis in Briefen II: 1933-1942 (ESGA 3), Freiburg im Breisgau 2000, 89. E. Stein, Brief an Petra Brüning v. 9.XII.1938, in: Dies., Selbstbildnis in Briefen II: 1933-1942 (ESGA 3), Freiburg im Breisgau 2000, 338. Noch im November 1940, als die Bedrohung von Leib und Leben für sie immer realer wurde, schreibt Edith Stein: „Befreiung vom Kreuz kann man ja nicht wünschen, wenn man den Adel ,vom Kreuz‘ hat.“ E. Stein, Brief an Johanna van Weersth, 17.11.1940, in: Dies., Selbstbildnis in Briefen II: 1933-1942 (ESGA 3), Freiburg im Breisgau 2000, 465.

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Edith Stein deutet ihre Bereitschaft zur Kreuzesnachfolge zugleich als Aufgabe und Verantwortung für ihre eigene Familie.101 Für sie und jeden, der ihr angehört, will sie bereit sein, stellvertretend und unterstützend ihr Kreuz zu tragen.102 So beinhaltet die Kreuzesnachfolge einen überpersönlichen Sinn, da er nicht nur der eigenen Heiligung dient, sondern auch stellvertretend anderen zugute kommen soll. Der Gedanke der Stellvertretung ist dabei Ausdruck der inneren Verbindung zum einen der Menschen untereinander, sodass der eine für den anderen eintreten kann. Zum anderen korrespondiert der Gedanke des stellvertretenden Leidens mit der Vorstellung von „Sühne“. Stellvertretung wird im Hinblick auf das Leiden zur Sühne hin erweitert. Jedoch ist auch hierbei die Verbindung mit Christus konstitutiv, denn „nur aus der Vereinigung mit dem göttlichen Haupt bekommt menschliches Leiden sühnende Kraft.“103 Sühne ist grundsätzlich überhaupt nur dann möglich und denkbar, wenn der Mensch nicht als isoliertes Subjekt, sondern in seiner Geschöpflichkeit als wesenhaft mit Gott und dem Anderen verbunden verstanden wird. So stellt die Stellvertretung einen zentralen Aspekt des Denkens und Lebens von Edith Stein dar und kann angemessen unter dem Begriff „Pro-Existenz“ zusammengefasst werden.104 In Gedichten und vor allem in ihrem Werk über Johannes vom Kreuz, Kreuzeswissenschaft, hat Edith Stein somit über diese Dimension des geistlichen Lebens nicht nur als spirituell begabte Autorin geschrieben. Ihr Wissen, das sie aus den mystischen Schriften ihres Ordensvaters erlangt hatte, wurde zum Wissen des gelebten Lebens. Und dies ist wohl auch einer der Gründe, warum ihre Lebensgeschichte und auch ihr Werk für Menschen unterschiedlichster Herkunft bis heute oftmals Orientierung und Wegweisung bedeuten. So war es ihr in der Beschäftigung mit der Kreuzeswirklichkeit bewusst, dass es ihr Leben nicht unberührt las101

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E. Stein, Testament, in: Dies., Aus dem Leben einer jüdischen Familie und weitere autobiographische Beiträge (ESGA 1), Freiburg im Breisgau 2002, 374f. Vgl. auch H.-B. Gerl-Falkovitz, „Im Dunkel wohl geborgen“, 475. E. Stein, Resurrexi et adhuc tecum sum!, 61. E. Stein, Kreuzesliebe, 113. Zur Sühne im Denken und Leben Edith Steins vgl.: H.-B. Gerl-Falkovitz, Auschwitz und kein Ende? Zur »Stellvertretung« durch Edith Stein, in: Internationales Edith-Stein-Institut Würzburg (Hg.), Edith-SteinJahrbuch 2008, Bd. 14, Würzburg 2008, 99-109, 102ff. Vgl. K. Westerhorstmann, Selbstverwirklichung und Pro-Existenz. Frausein in Arbeit und Beruf bei Edith Stein, Paderborn 2004.

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sen und ihr selbst nicht rein äußerlich bleiben würde: „Eine ,Scientia crucis‘ kann man nur gewinnen, wenn man das Kreuz gründlich zu spüren bekommt. Davon war ich vom ersten Augenblick an überzeugt und habe von Herzen: ,Ave Crux, spes unica‘ gesagt.“105 Diesen Willkommensgruß für das Kreuz Christi, an dem sie tatsächlich Anteil bekommen sollte, hat Edith Stein nie mehr zurückgenommen. In der Haltung der inneren Bereitschaft, alles Schwere anzunehmen, das sie als das Kreuz ihres Herrn erkannte, erträgt Edith Stein sogar die Verfolgung und letztlich die Deportation in das Konzentrationslager in Auschwitz. Im Begriff der „Kreuzeswissenschaft“ verbirgt sich nach Edith Stein immer jene zweifache Dimension: zum einen eine „Theologie des Kreuzes“ und zum anderen eine „Kreuzesschule, d.h. Leben im Wahrzeichen des Kreuzes.“106 Sie kann so selbst das Leiden als „Geschenk Jesu“ an den Menschen verstehen. Noch in den schwersten Stunden, auf dem Weg nach Auschwitz, im Lager Westerbork, beschreiben Mithäftlinge sie als hilfsbereit, zwar ernsthaft aber doch im Frieden.107 So hat sich an ihr letztlich erfüllt, was sie zuvor bereits in der Kreuzeswissenschaft erarbeitet und durchdacht hatte. Ihr Wissen wurde schließlich durch ihr eigenes Leben gewissermaßen beglaubigt. Ihre Kreuzeswissenschaft beendet Edith Stein mit ihrer eigenen Hingabe an das Kreuz ihres Herrn. Die Nazis zerstörten zwar ihr irdisches Dasein. Letztlich konnten sie ihr das Leben, das ihr verheißen war, nicht mehr nehmen. Schon in der Fastenzeit 1938 hatte sie Maria in einem Gebet, das sie in ein liniertes Schulheft eingetragen hat, gebeten:

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[Sei gegrüßt, Kreuz, einzige Hoffnung.] E. Stein, Brief an Antonia Engelmann [undatiert], in: Dies., Selbstbildnis in Briefen II: 1933-1942 (ESGA 3), Freiburg im Breisgau 2000, 511. Romaneus Leuven [der Herausgeber der ersten Ausgabe der „Kreuzeswissenschaft“, in seinem Geleitwort über den Ansatz Edith Steins], in: E. Stein, Kreuzeswissenschaft. Studie über Johannes a Cruce (ESW I), Freiburg im Breisgau 1954, VII. „Daß am leergeräumten Boden ihres Daseins ein Antlitz erschien, das der vollständigen Auslieferung einen Sinn gab, ist an ihrer Gestalt, die auch in der letzten Woche Ruhe und Ausstrahlung nicht verlor, ablesbar. Edith Stein hat ein doppeltes Zeugnis vorgelegt: sie hat Gott als den Lebenssteigernden erfahren, sie hat ihn auch als den Lebensfordernden erfahren.“ H.-B. GerlFalkovitz, „Im Dunkel wohl geborgen“, 475.

138 „In den Flammen der Liebe entbrennen“ – Mystik bei Edith Stein (1891-1942) Schenke mich Deinem lieben Sohn Und bitte Ihn, Daß Er das Opfer meines Lebens in Sein Kreuzesopfer Hineinnehme Zur Verherrlichung des Vaters Und zum Heil der Seelen.108

Ob Edith Stein hier bereits prophetisch über ihren leiblichen Tod spricht oder zu diesem Zeitpunkt sich selbst in geistlicher Hingabe ganz Jesus übereignen möchte, lässt sich nicht mit Sicherheit sagen. Eines konnte sie sich indessen gewiss sein, dass sie in der Hingabe ihres Lebens ihr Leben eigentlich gefunden haben wird. Im Sterben Edith Steins wird der zuvor bedachte Gedanke der Stellvertretung plötzlich Wirklichkeit, die eine Wirksamkeit in sich birgt.109 Dies lässt das Neue Testament erahnen, wenn Jesus bei Matthäus denjenigen, die ihr Kreuz auf sich nehmen und ihm nachfolgen, verheißt: „Wer sein Leben gewinnen will, wird es verlieren, wer aber sein Leben verliert, wird es gewinnen.“110 1939 vollendet Edith Stein dann schließlich den bewussten geistigen Akt ihrer Aufopferung in einem Testament: „Schon jetzt nehme ich den Tod, den Gott mir zugedacht hat, in vollkommener Unterwerfung unter seinen heiligsten Willen mit Freuden entgegen. Ich bitte den Herrn, dass er mein Leben und Sterben annehmen möchte zu Seiner Ehre und Verherrlichung … für die Rettung Deutschlands und den Frieden der Welt.“111 In den Flammen der Liebe war Edith Stein zu Christus entbrannt und in den Flammen des Hasses fand sie den schrecklichen Tod in Auschwitz.112 Dennoch hat der Tod nach Edith Stein niemals, auch nicht in ihrem eigenen Sterben, das letzte Wort.113 Die Liebe hat den Tod nicht

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E. Stein, Quadragesima 1938, in: Dies., Geistliche Texte II (ESGA 20), Freiburg im Breisgau 2007, 53. „Ihr zerstörtes Leben geht letztlich in eine kaum auszuleuchtende Stellvertretung über.“ H.-B. Gerl-Falkovitz, „Im Dunkel wohl geborgen“, 475. Mt 10,39 (vgl. auch Lk 17,33). Stein, Testament, 375. Vgl. dazu E. Stein, Kreuzerhöhung, 119; 121 Dieses Vertrauen findet Edith Stein im Wort Gottes, aus dem sie das folgende Bekenntnis, als Teil eines Gedichtes, entlehnt: „O keines Menschen Herz vermag’s zu fassen, Was Du denen bereitet, die Dich lieben. Nun hab’ ich Dich und lass Dich nimmermehr. Wo immer meines Lebens Straße geht, Bist Du bei mir, Nichts kann von Deiner Liebe je mich scheiden.“ E. Stein, Heilige Nacht

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nur einmal, sondern ein für allemal besiegt. Eine Aussage Edith Steins zeigt die tiefe Erkenntnis der Dinge, die nicht beim Vordergründigen stehenbleibt, sondern der es gelingt, kurz vor dem gewaltsamen Tod in Auschwitz die Wirklichkeit aus dem Glauben heraus zu deuten: „Die Welt besteht aus Gegensätzen. … Letzten Endes wird nichts von diesen ,Kontrasten‘ übrigbleiben. Nur die große Liebe wird bestehen bleiben. Wie könnte es auch anders sein.“114

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6.XII.37, in: Dies., Geistliche Texte II (ESGA 20), Freiburg im Breisgau 2007, 5153, 53. Laut Zeugenbericht 1942 von H. Wielek [Pseudonym von W. Kweksilber]: Doden die leven, in: Die Linie, 9. Juni 1962. Zitiert nach: F. Schandl, Stein des Anstoßes oder Prüfstein der Dialogkultur, in: Internationales Edith-Stein-Institut Würzburg (Hg.), Edith-Stein-Jahrbuch 2007, Bd. 13, Würzburg 2007, 125-202, 132.

140 „In den Flammen der Liebe entbrennen“ – Mystik bei Edith Stein (1891-1942)

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„… eine Treue INS LEERE HINEIN.“ Annäherung an Simone Weil Götzendienst und seine Kritik, das ist in der gegenwärtigen theologischen Diskussion noch kein Modethema, findet aber verstärkt Beachtung. Dazu hat, nach der beinahe schon vergessenen Diagnose einer kapitalistischen Götzenverehrung in der Theologie der Befreiung1 und den Hinweisen feministischer Theologie auf die idolatrische Vermischung von Männlichem und Göttlichem, in jüngster Zeit die Streitschrift des Dortmunder Fundamentaltheologen Thomas Ruster Der verwechselbare Gott beigetragen.2 Die Tatsache, dass die dritte Auflage des Lexikons für Theologie und Kirche das Stichwort „Ido(lo)latrie“3 als Nachtrag im 2001 erschienenen Registerband berücksichtigt, spricht für die gewachsene Aufmerksamkeit. Im Zeitalter der wirtschaftlichen Globalisierung und nach dem Zusammenbruch des real existierenden Sozialismus trifft das Benjamin’sche Stichwort „Kapitalismus als Religion“ nach 80 Jahren offenbar wieder einen Nerv.4 Der französische Philosoph Gabriel Marcel 1

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3 4

Vgl. etwa R.J. Blank, Der Aufstand des domestizierten Gottes, Münster 1988; F.J. Hinkelammert, Der Glaube Abrahams und der Ödipus des Westens, Münster 1989; H. Assmann/F.J. Hinkelammert, Götze Markt, Düsseldorf 1992. T. Ruster, Der verwechselbare Gott. Theologie nach der Entflechtung von Christentum und Religion (QD 181), Freiburg im Breigau 2000. Ruster verknüpft seine Wiederentdeckung der Götzenkritik mit einer grundsätzlichen Infragestellung der Korrelationsdidaktik. Über diese Frage hinaus müssen in der Tat Katechese und Unterricht neu in den Blick kommen, wo es um die Kultivierung jener Aufmerksamkeit geht, die zur Götzenkritik erst fähig macht. Vgl. hierzu Weils „Betrachtungen über den rechten Gebrauch des Schulunterrichts und des Studiums im Hinblick auf die Gottesliebe“, in: F. Kemp (Hg.), Simone Weil. Zeugnis für das Gute. Traktate, Briefe, Aufzeichnungen, München 1990, 45-53, im Folgenden abgekürzt mit ZG. Erwin Dirscherl, Ido(lo)latrie: Lexikon für Theologie und Kirche XI, Freiburg im Breisgau 31995, 134-135. Vgl. Walter Benjamins aus dem Jahre 1921 stammendes Fragment „Kapitalismus als Religion“, in: R. Tiedemann/H. Schweppenhäuser (Hg.), Walter Benjamin. Gesammelte Schriften, Bd. VI, Frankfurt am Main 1985, 100-103.

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„…eine Treue ins Leere hinein.“ Annäherung an Simone Weil (1909-1943)

(1889-1973) hat Simone Weil (1909-1943) eine „Zeugin des Absoluten“ und so „vor allem eine Tochter Israels“ genannt. Weils Zeugenschaft für „das Absolute“ verwirklicht sich in der durchgehaltenen Weigerung, „das Falsche als Gott anzurufen, das Endliche als das Unendliche, die Lüge als Wahrheit.“5 Idolatriekritik verbindet sich im Denken Simone Weils aufs Engste mit der Frage nach der Grenze sich entgrenzender Macht. Die Unterscheidung von Götzen- und Gottesdienst steht im Hintergrund ihrer im Wortsinne kritischen Fragen an die Katholische Kirche und prägt Weils bis zuletzt von Nähe und Distanz zugleich gekennzeichnete Haltung der Kirche gegenüber.6 Weil hegt ein Fundamentalmisstrauen gegenüber der Macht des Kollektiven, des Gesellschaftlichen, das sie mit Platons „Politeia“ und der „Offenbarung des Johannes“ „großes Tier“ oder „Tier“ nennt. Das biblische Israel und die römische Kirche sind in Weils Augen zwei vergleichbar machtvolle historische Ausformungen der Vergötzung eines Kollektivs; die politischen Totalitarismen ihrer Zeit sieht sie in der Nachfolge eines spätestens mit der Konstantinischen Wende eroberungssüchtig gewordenen Christentums. Nicht weniger als Simone Weils Schriften provoziert und fasziniert das eigensinnig gehorsame Leben, das sie durchscheinen lassen. Die Unbedingtheit des politischen und sozialen Engagements, die diagnostische und prognostische Kraft der geschichts- und gesellschaftstheoretischen Analysen, die Unerschrockenheit, mit der Weil den christlichen Glauben gerade da zum Sprechen bringt, wo er sich undurchdringlich zeigt, lassen sich weder in einer These allein bündeln noch auf den Nenner einer einzigen Frage bringen. Dennoch kann die Unterscheidung von Gottesdienst und Götzendienst als Motiv – Beweggrund, Gegenstand, Paradigma – dieses Lebenswerks gelten.

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M. Horkheimer/T.W. Adorno, Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente (1944), Frankfurt am Main 1981, 30.

6

Die Lektüre von Weils skizzenhafter „autobiographie spirituelle“, abgedruckt in: S. Weil, Attente de Dieu, Paris 1998, 75, im Folgenden abgekürzt mit AD, eines umfangreichen Schreibens vom 15. Mai 1942 an den befreundeten Dominikaner JosephMarie Perrin (ZG 87-104), bildet den Ausgangspunkt der folgenden Ausführungen; weitere Schriften und Briefe Weils werden ergänzend zurate gezogen.

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1. Bio- und bibliographische Stützpunkte Simone Weil, geboren am 3. Februar 1909 in Paris, gestorben am 24. August 1943 in Ashford/England, wuchs in einem intellektuell und ethisch ebenso anspruchsvollen wie anregenden familiären Umfeld auf. Liberalaufklärerischen Geistes, hielten die Eltern Distanz zur väterlicherseits in der Großelterngeneration noch streng praktizierten jüdischen Religion.7 Hochbegabt und von einem ungewöhnlichen Wissensdurst, oder präziser Wahrheitshunger, erfüllt, der sie zur produktiven Auseinandersetzung mit philosophischen, politischen, geschichtlichen, mathematischen, naturwissenschaftlichen und religiösen Fragen führte, unterrichtete Simone Weil nach dem mit der Agrégation abgeschlossenen Philosophiestudium Philosophie. Als aktive Links-Syndikalistin8 ebenso wie in politischer Reflexion wendet sie sich sozialen Missständen, Fragen von Krieg und Frieden und dem Problem des Kolonialismus9 zu und untersucht die Mechanismen, die zum Aufstieg Hitlers führten.10 Die Aus7

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10

Die Frage von Weils Verhältnis zum Judentum ist schon auf biographischer Ebene äußerst komplex; zur Herkunft vgl. S. Pétrement, La vie de Simone Weil, Paris 1997, 13-46. Auf die Problematik eines Weil’schen Antibiblismus bzw. Antijudaismus ist hier nur pauschal hinzuweisen; im Rahmen dieses Beitrags kann sie nicht angemessen thematisiert, geschweige einer Lösung zugeführt werden. Dass Weils Denken eine andere Lesart als die antijüdische erlaubt, habe ich im Blick auf Weils Machtkritik darzulegen versucht (S. Sandherr, Ius talionis? Simone Weils biblische Kritik der Macht, in: FZPhTh 47 (2000), 402-437; dort auch weitere Literatur). Genannt sei auch die Dissertation von S. Karwath, Jüdin durch Geburt – Christin aus Überzeugung. Eine Grundkategorie der Religion bei Simone Weil: Die Schwelle, Frankfurt am Main 2001, die allerdings durch das gewählte Deutungsmuster „Jüdin durch Geburt – Christin aus Überzeugung“ eine m.E. fragwürdige Fährte legt. Theoretische Erträge dieses Engagements finden sich in: A.A. Devaux/F. de Lussy (Hg.), S. Weil. Œuvres complètes, Tome II: Écrits historiques et politiques, Volume 1: L’engagement syndical (1927-juillet 1934), Paris 1988, im Folgenden abgekürzt mit OC II.1. Vgl. die Artikel und Entwürfe in: A.A. Devaux/F. de Lussy (Hg.), S. Weil. Œuvres complètes, Tome II: Écrits historiques et politiques, Volume 3: Vers la guerre (1937-1940), Paris 1989, 121-155; im Folgenden abgekürzt mit OC II.3; vgl. auch S. Weil, Die Einwurzelung. Einführung in die Pflichten dem menschlichen Wesen gegenüber, München 1956, 151-272, im Folgenden abgekürzt mit E. Vgl. OC II.1, 108-195; OC II.3, 168-219.

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„…eine Treue ins Leere hinein.“ Annäherung an Simone Weil (1909-1943)

einandersetzung mit dem Marxismus zieht sich wie ein roter Faden durch ihr Werk.11 Weil nimmt Urlaub „für persönliche Studien“ und arbeitet von Dezember 1934 bis August 1935 als Hilfsarbeiterin und Fräserin, um das Leben der Industriearbeiter zu teilen und um Einsicht in das Fabriksystem zu gewinnen. Wenig später erlebt sie die erste von drei „Berührungen mit dem Katholizismus, die wahrhaft zählten“ (ZG 91). Im August 1936 nimmt die Pazifistin in den Reihen der Anarcho-Syndikalisten am Spanischen Bürgerkrieg teil. Eine erste mystische Christusbegegnung (vgl. ZG 93) ist auf den November oder Dezember 1938 zu datieren. Simone Weil verlässt im Mai 1942 Europa; nach einem kurzen Aufenthalt in New York ist sie von November 1942 bis April 1943 in London als Redakteurin für „La France libre“ tätig. Universale Bereitschaft zum Mitleid und die Leidenschaft für Gerechtigkeit bestimmen den Weg der politischen Analytikerin und Aktivistin. Ihr Wille zum Einsatz für andere ist zugleich ein Wille zum Ausgesetztsein. Dieses prima vista inkonsistent wirkende Leben ist gerade nicht „gleichsam aus zwei Hälften – einer revolutionären und einer religiösen – zusammengesetzt“, wie Heinz Abosch unterstellt.12 Jahre vor Sartre praktizierte sie das ‚Engagement‘, schrieb theoretische Abhandlungen und politische Manifeste, lehrte Philosophie und kämpfte als Revolutionärin, meditierte [Ergänzung: S. Sandherr] und arbeitete in Metallfabriken. Endlich gab sie das rationale Denken preis, verzweifelt und beglückt zugleich suchte und fand sie den Tod.

Hier handelt es sich eher um ein Problem der Interpreten, die entweder den Akzent auf die spirituelle Suche legen und das gesellschaftliche Engagement als vorläufig oder uneigentlich abwerten oder aber umgekehrt Weils lebensgeschichtlich sich intensivierenden bzw. explizierenden religiösen Diskurs als Verfallsprozess einstufen. Politisches Engagement bedeutete für Simone Weil von jeher Idolatriekritik. In ihren letzten Lebensjahren zeigt sie sich einem mystisch erfahrenen und intellektuell unbestechlichen Christentum nahe, das sich nicht auf die Seite der Macht

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Mit Weils Arbeit „Reflexionen über die Ursachen der Freiheit und sozialen Unterdrückung“ liegt 1934 eine erste Summe dieses Klärungsprozesses vor; vgl. S. Weil, Unterdrückung und Freiheit. Politische Schriften, München 1975, 151240, im Folgenden abgekürzt mit UF. H. Abosch, Simone Weil zur Einführung, Hamburg 1990, 9.

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schlägt, sondern bei den Ohnmächtigen steht. Sie bekennt sich zu einem wahrhaft universalen Katholizismus.

2. Fokus Götzendienstvermeidung: Kritik der Macht Die Frage des Götzendienstes führt bei Weil auf eine zunächst überraschende anthropologische Einsicht, auf die Unmöglichkeit des Egoismus. Man kann nur zwischen Gott und dem Götzendienst wählen. Es gibt keine andere Möglichkeit. Denn die Fähigkeit der Verehrung ist in uns, und sie ist irgendwohin gerichtet, in diese oder in die andere Welt.13 (C 4, 128)

Der Mensch verlagert stets seinen Mittelpunkt aus sich heraus in Akten der Übertragung und des Verlangens.14 Dass er gerne egoistisch wäre und es nicht sein kann, ist Weil zufolge nicht nur das auffallendste Merkmal seines Elends, sondern zugleich die Quelle seiner Größe: „Man ist niemals man selbst. Man ist immer etwas anderes. Es gibt keinen Egoismus. Aber dieses andere muss Gott sein. Man ist nur auf diese Weise man selbst.“ (C 3, 166; Übersetzung leicht verändert.) Woran der Mensch sein Herz hängt, das wird ihm zum absoluten Gut. Weil unterscheidet hingegen: „Die wahrnehmbaren Dinge sind wirklich als wahrnehmbare Dinge, aber unwirklich als etwas Gutes.“ (C 3, 181) Eine nicht idolatrische Nachahmung Gottes bestünde darin, die begrenzten Dinge und Wesen mit ganzer Seele als begrenzt zu erkennen und ihnen zugleich eine unbegrenzte Liebe entgegenzubringen: „Gott liebt unendlich die endlichen Dinge als endliche.“ (C 3, 167) Bei der Wahl zwischen Gott und Götze steht uns allein die via negationis offen. Das Verlangen, das zeitlebens im Menschen ist, muss daran gehindert werden, „sich auf irgendetwas zu richten, sich einem Gegenstand unterzuordnen, der nur ganz schwach etwas Gutes ist.“ (C 3, 178) Es handelt sich nicht darum, Gott zu suchen und ihm zu dienen, sondern

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E. Edl/W. Matz (Hg.), Simone Weil. Cahiers. Aufzeichnungen, Bd. 1-4, München 1991-1998, im Folgenden abgekürzt mit C1-C4. Übersetzung leicht verändert. Weil kommt zu dem Schluss: „Existieren kann nur dann als Ziel betrachtet werden, wenn man vor einer Mauer steht und das Erschießungskommando gegenüber anlegt. Doch wenn nichts das Leben bedroht, ist die Existenz etwas Selbstverständliches und das Ziel liegt anderswo.“ (C 3, 181; Übersetzung leicht verändert.)

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darum Götzendienst zu vermeiden.15 Wie aber unterscheidet man Gott von den Götzen? Die wenig anziehende Antwort für den Zweifelsfall lautet: „Man muss sich für die wirkliche Hölle anstatt für das imaginäre Paradies entscheiden.“ (C 2, 271) Sie zielt, hierin vielleicht Mt 16,25 nahe, polemisch auf ein vorgefertigtes, vorgestelltes Heil, auf die imaginären „‚Tröstungen‘, die man oft in der Religion sucht.“ (C 2, 14) Der Götzendienst ist eine Folge menschlicher Ungeduld. Die im Buch Genesis erzählte Geschichte hätte anders ausgehen können. Gibt man der Aufmerksamkeit16 Zeit zu wachsen, so findet man „irgendwann wie durch Zufall Amrta,17 den Baum des Lebens. Das ist gewiss, denn der Garten ist nicht grenzenlos. Es genügt, die falsche Gottheit zurückzuweisen, und mit Sicherheit wird man eines Tages von der wahren getroffen werden.“ (C 3, 105f.) Die Unterscheidung von Gott und Götze ist keine Privatsache, sondern eminent politisch. „Ich glaube nicht“, notiert Weil 1939, „dass man klare Gedanken über die menschlichen Beziehungen fassen kann, solange man nicht den Begriff der Macht in den Mittelpunkt gestellt hat.“ (OC II.3, 223) Der Tendenz zur Machtausübung und -erweiterung komme eine Art Naturgesetzlichkeit zu. Der Verzicht darauf, „überall zu befehlen, wo er die Macht dazu hatte“, ist hingegen Kennzeichen Gottes (C 3, 388). Weils Machtkritik zielt auf die innere Tendenz der Macht zur Unbegrenztheit.18 Wenn Menschen die Endlichkeit ihrer Macht verkennen und andere Menschen dazu bringen, als Mittäter oder Opfer Macht 15

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„Alles ist für den Dienst am Tier [am gesellschaftlichen Kollektiv] erlaubt. Alles ist auch für den Dienst an Gott erlaubt. Bloß kann man Gott nicht dienen, denn er ist anderswo, im Himmel.“ (C 3, 192) Die Transzendenz Gottes, die hier in äußerster Zuspitzung ausgesagt wird, wird in Weils Denken durch die Inkarnation nicht gemindert, sondern verschärft. „Aufmerksamkeit“ ist für Weil ein geistig-geistliches Schlüsselwort. Eine strenge Korrelation besteht zwischen der Verehrung des wahren Gottes und der Fähigkeit zur Aufmerksamkeit. „Mit der Fülle der Aufmerksamkeit kann man einzig an Gott denken. Umgekehrt kann man an Gott einzig mit der Fülle der Aufmerksamkeit denken.“ (C 3, 206) Aufmerksamkeit ist konzentriertes Sich-Offenhalten, Warten ohne Erwartetes, Warten ins Leere. Die Haltung der Aufmerksamkeit „besteht darin, das Denken auszusetzen, den Geist verfügbar, leer und für den Gegenstand offen zu halten.“ (ZG 50) Ein aus dem Sanskrit stammender Begriff, der aus dem Wortstamm MR (sterben) und der Negationspartikel a besteht: Unsterblichkeit, Ambrosia. Vgl. S. Sandherr, Ius talionis?, 402-437.

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zu vergötzen, versäumen diese wie jene, dem Kaiser zu geben, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist. Von dem gemarterten Christus am Kreuz sagt Weil dagegen: „Am Kreuz gab er Cäsar, was Cäsar gehörte, und Gott, was Gott gehörte.“ (C 4, 135) Die Macht-Mischung von Endlichem und Unendlichem, die Mächtige und Ohnmächtige betäubt, gilt es zu entmischen. Kritik der Macht bedeutet Entlarvung falscher Göttlichkeit. Doch die Verkehrung von Mitteln in – absolute – Ziele, das Grundübel der gegenwärtigen Gesellschaft, scheint im Falle der Macht wie im Falle des Geldes fast unvermeidlich. Weil erkennt hier die „folie fondamentale“ der gegenwärtigen Gesellschaft19 (OC II.2, 58). Ein unbegreiflich scheinendes Gesetz verlangt, „dass jeder, in sich und im anderen, das menschliche Leben Dingen opfert, die nur Mittel sind, um besser zu leben.“ (UF 183) Als reine Mittel können Macht und Geld die höchsten Qualitäten an sich ziehen; ihre leere Allgemeinheit befähigt sie, das absolute Ziel zu ersetzen. Dass Idolatriekritik heute eine Kritik des Geldes und seiner Rolle in der gegenwärtigen Gesellschaft sein muss, auch diese Einsicht verbindet Weils Überlegungen mit der aktuellen Debatte. Die heute wiederentdeckte Janusköpfigkeit des abstrakt-medialen Charakters des Geldes wird von Weil bereits scharf gesehen (vgl. C 4, 338.346). Was die Menschen zu stärken scheint, die unbegrenzte Ausdehnung ihrer Macht, um „sicut dei“ zu sein, schwächt sie. Nicht in der Ausdehnung, sondern in der Begrenzung seiner Macht ahmt der Mensch den wahren Gott nach. Sie erst lässt ihn nicht „sicut dei“, sondern „sicut deus“ (C 2, 147) werden.20

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A.A. Devaux/F. de Lussy (Hg.), S. Weil. Œuvres complètes, Tome II: Écrits historiques et politiques, Volume 2: L’expérience ouvrière et l’adieu à la révolution (juillet 1934-juin 1937), Paris 1991, im Folgenden abgekürzt mit OC II.2. „,Ihr werdet sein wie die Götter.‘ Die Sünde liegt darin, auf andere Weise als durch die Teilhabe an der Göttlichkeit Gottes, wie Götter sein zu wollen.“ (C 2, 121)

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3. „... dass das Gottesproblem ein Problem ist, dessen Voraussetzungen uns hier unten fehlen“ In ihrem Schreiben an Joseph-Marie Perrin bekennt sich Simone Weil zur Epoché in der Gottesfrage: Seit meiner Jugend war ich der Ansicht, dass das Gottesproblem ein Problem ist, dessen Voraussetzungen [données, AD 36] uns hier unten fehlen, und dass die einzige sichere Methode, eine falsche Lösung zu vermeiden (was mir als das größtmögliche Übel erschien), darin besteht, es nicht zu stellen. Also stellte ich es nicht. (ZG 88; Übersetzung leicht verändert.)

Sache des Menschen, „da wir nun einmal in dieser Welt sind“,21 ist es nicht, Gott zu suchen, sondern gegenüber den Problemen dieser Welt die beste Haltung einzunehmen. Davon bleibt Weil überzeugt. Zugleich betont sie, dass, „während selbst der Name Gottes in meinen Gedanken keinen Teil hatte“ (ZG 88), ihr Weltverhältnis von jeher fraglos christlich gewesen sei.22 Agnostisch erzogen und geblieben, braucht Simone Weil doch nicht erst Christin zu werden, sie ist es von frühester Kindheit an. Ihr Christentum ist implizit, aber nicht unbewusst. „Darum ist es mir niemals in den Sinn gekommen, ich könnte in das Christentum eintreten. Ich hatte den Eindruck, darin geboren zu sein.“ (ZG 91) Ihr äußerst strikter Begriff des Gehorsams sowie der intellektuellen Redlichkeit habe sie jedoch davon abgehalten, die Frage nach der Wahrheit des christlichen Dogmas 21

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„… étant en ce monde …“ (ZG 37) Weil formuliert nicht „... dans ...“, sondern gebraucht die Präposition „en“. Das französische „dans“ leitet sich aus dem populärlateinischen „de intus“ ab. Die johanneische Differenz zwischen „in der Welt“ und „von der Welt“, auf die Weil hier offensichtlich anspielt (Joh 17,9-19), wäre durch ein „de intus“, d.h. durch die Doppelpräposition „dans“ ausgelöscht. Simone Weil hat erfahren, dass die Welt in der Welt „de chez Dieu“ (AD 80) geliebt werden kann. Weil zählt das Verständnis des Todes als Norm und Ziel des Lebens auf, den Begriff der Berufung und des Gehorsams, die Überzeugung von der zwingenden Kraft des Begehrens, wenn es sich auf die Wahrheit, das Gute, die Tugend und die Schönheit richtet, die Begriffe der Armut und der Nächstenliebe, die sie „Gerechtigkeit“ nennt, vor allem aber den stoischen amor fati, d.h. die Verpflichtung zur Annahme des Gotteswillens, und den Begriff der Reinheit (vgl. ZG 88-90).

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auch nur zu stellen (vgl. ZG 91). In der Folge dieser bewussten Enthaltung hinderte sie stets eine Art Scham oder Scheu daran, „die Kirchen zu betreten, wo ich doch so gerne verweilte.“23 (ZG 91) An Weils geistlichem Weg habe Pater Perrin Anteil (vgl. ZG 96f.108f.), aber keinen entscheidenden. „Sie haben mir weder den christlichen Geist noch Christus gebracht; denn als ich Ihnen begegnete, war dies nicht mehr zu leisten [faire; AD 36], es war bereits geschehen [fait; AD 36], ohne die Vermittlung irgendeines menschlichen Wesens.“ (ZG 87; Übersetzung leicht verändert.) Sie sei „im christlichen Geist geboren, aufgewachsen und immer darin verblieben“ (ZG 88). Ihre „inspiration chrétienne“ (AD 36) ist Belebung, Beseelung durch Gottes Geist von Anbeginn: „Denn was die geistliche Leitung meiner Seele betrifft, so denke ich, dass Gott selber sie von Anfang an in die Hand genommen hat und behält.“ (ZG 96; Übersetzung leicht verändert.) In einem vollständigen Agnostizismus aufgewachsen, könne sie doch, so erklärt Weil, „seit meiner Geburt sozusagen, für keines meiner Vergehen, für keine meiner Unvollkommenheiten, die Entschuldigung der Unwissenheit anführen.“ (ZG 110; zum Motiv der geistbegabten/-begabenden Geburt vgl. auch ZG 99) Alles Entscheidende hat vor der Begegnung mit Perrin stattgefunden – fait accompli. „Wenn dem nicht so gewesen wäre, wenn ich nicht schon, und zwar nicht nur implizit, sondern bewusst, ergriffen worden wäre, so hätten Sie mir nichts gegeben, denn ich hätte nichts von Ihnen empfangen“ (ZG 87f.; Übersetzung leicht verändert), da sie menschlichen Einfluss im Bereich der göttlichen Dinge als Quelle von Irrtum und Illusion gefürchtet hätte.24 Ohne die von Geburt an gegebene, aufgegebene und 23

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„… j’étais empêchée par une sorte de pudeur d’aller dans les églises, où pourtant j’aimais me trouver.“ (AD 41) Durch das Verbenpaar „aller“ – „trouver“ wird die Scheu angedeutet, eigenmächtig, ohne klare Weisung, ungebeten, jene Orte aufzusuchen, an denen sich Simone Weil doch so gerne, unwillkürlich, ohne eigenes Zutun, befand, vorfand, fand. „Die kostbarsten Güter soll man nicht suchen, sondern erwarten“ (ZG 50). Der Mensch kann sich das Kostbarste nicht verschaffen. Will er es erzwingen, so findet er nur falsche Güter – falsche Götter. „... si je n’avais pas déjà été prise, non seulement implicitement, mais consciemment ...“ (AD 36) Das Ich hat das Geschehnis nicht herbeigeführt, es ist daran nicht aktiv, sondern passiv beteiligt. Dass aber die Adverbien „non implicitement“ und „consciemment“ nicht, wie zu erwarten, die Aktivität des

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als Lebensauffassung entgegengenommene Gabe des christlichen Geistes, vor allem aber ohne das bewusst angenommene Ergriffenwordensein durch Christus hätte Perrin ihr nichts geben können. Durch göttliches Geben und Nehmen sind die fehlenden Voraussetzungen des „Gottesproblems“ für Simone Weil im Wortsinne und Vollsinne zu „données“ geworden.

4. „Dennoch hatte ich mit dem Katholizismus drei Berührungen, die wahrhaft zählten.“ 4.1 „... dass das Christentum vorzüglich die Religion der Sklaven ist ...“ Drei Berührungen mit dem Katholizismus, Kontakte mit katholischem Kultus und katholischer Kultur, sind in Weils „geistlicher Autobiographie“ (ZG 109) in wenigen Worten angedeutet (vgl. ZG 91-93). Weil spricht zunächst das Erlebnis einer Lichterprozession von Frauen und ihrer Gesänge beim Patrozinium eines kleinen portugiesischen Fischerdorfs im August/September 1935 an. Die zerreißende Traurigkeit der Lieder gibt ihr „plötzlich die Gewissheit, dass das Christentum vorzüglich die Religion der Sklaven ist und dass die Sklaven nicht anders können als ihm anhängen, und ich unter den übrigen.“ (ZG 92) Die Verfassung der durch das Jahr der Fabrikarbeit an Leib und Seele wie in Stücke gebrochenen Besucherin und der Zustand des Dorfes entsprechen sich. Weil kennzeichnet beide mit dem Wort „misérable“ (AD 42). Nimmt man das Wort beim Wort, so besagt das französische „misérable“ etwas, was das deutsche Adjektiv „erbärmlich“ getreuer als „elend“ (ZG 92) ausdrückt. Weil sieht, und sie hört im Gesang der Frauen einen Zustand unverhüllten Elends. Doch nur, was untröstlich ist, steht dem Trost, was erbärmlich, dem Erbarmen offen. Das Elend ohne vorstellbaren Trost aber ist fürchterlich wie der Tod und wird gemieden Handelnden, sondern die Passivität des Subjekts des Passivsatzes qualifizieren, scheint auszudrücken, dass jenes Widerfahrnis, das Weil hier für einen anderen Menschen sprachlich fassen möchte, die Vorstellungskreise von Aktivität und Passivität aufsprengt. In diese Richtung weist auch die Betonung der Bewusstheit ihrer Erfahrung. Weils Ergriffenwerden ist Widerfahrnis schlechthin, der Initiative des Ich entzogen, dabei aber nicht dunkel, unbewusst, anonym, sondern bewusst und explizit bejaht.

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wie die Pest: „Die Menschen arbeiten mit der Einbildungskraft, um die Löcher zu stopfen, durch die die Gnade dringen würde.“ (C 1, 357) Das Christentum ist Sklavenreligion „par excellence“ (AD 43), wie Weil hier mit und gegen Nietzsche sagt, denn in seinem Zentrum steht das – übernommene – Unglück, das Kreuz – Christi;25 das Unglück aber „bemächtigt sich der Seele und prägt ihr bis ins Innerste ein Mal auf, das allein ihm vorbehalten ist: das Mal der Sklaverei.“ (ZG 13; Übersetzung leicht verändert.) Das tiefste Übel der Sklaverei besteht darin, dass sie Götzendienst ist. Im römischen Kaiserkult ist die Institution der Sklaverei vergöttlicht worden. „Millionen von Sklaven erwiesen ihrem Besitzer einen götzendienerischen Kult.“ (E 400) Die Staatsreligion Christentum wurde vom römischen Götzendienst angesteckt. „Götzendienst darum, weil es die Art der Anbetung ist, und nicht der Name, der ihrem Gegenstand beigelegt wird, was den Götzendienst von der Religion unterscheidet.“ (E 403) Die Gleichnisworte aus dem Bereich der Sklaverei sind im Munde Jesu hingegen eine List der Liebe. „Die Sklaven sind die Menschen, die sich Gott aus ganzem Herzen als Sklaven schenken wollten.“ (E 402; Übersetzung leicht verändert.) Diese Gabe wird den Menschen ein für alle Mal gegeben, und doch bitten sie Gott unablässig um seine Zustimmung, sie in der Sklaverei zu halten. Denn indem Gott den Menschen schafft, entlässt er ihn in die Freiheit. Weil konstatiert: „Wir sind außerhalb seines Reiches.“ (E 402) Die mystische Tradition ist für Simone Weil die eigentliche Gegenkraft zur römischen Auffassung Gottes als des unendlichen Äquivalents eines Sklavenhalters; schon eine Spur dieses Gottesbegriffs mache die liebende Einigung unmöglich (vgl. E 404). „Wären wir Gottes Eigentum, wie könnten wir uns ihm als Sklaven geben?“ (E 402) Weil preist hier folglich weder die Sklaverei noch das physisch und psychisch quälende, sozial erniedrigende Elend, das sie Unglück nennt, als Vorhof der Seligkeit; zumeist ist es nichts als ein Mechanismus zur grausamen Vernichtung von Menschen. Die zermalmende Wirkung des Unglücks wird hier nicht verschwiegen, sondern beim Namen genannt. Der Unglückliche wird durch ein „Missgeschick seiner Menschlichkeit entleert.“ (ZG 35) Das Unglück macht den Menschen zu einer Sache; es ist „kein seelischer Zustand. Es ist eine Vernichtung der Seele durch die 25

Zu Weils Verständnis des „Unglücks“ vgl. vertiefend „Die Gottesliebe und das Unglück“, in: ZG 13-44.

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mechanische Gewalt der Umstände.“ (ZG 38) Ein mythologisches Bild drückt die zweifache Wirkung des Unglücks aus: „Ate läuft mit den Fußspitzen auf den Köpfen der Menschen von Kopf zu Kopf – bis ein Mensch sie aufhält; dann dringt sie in ihn ein. ... Über die gewöhnlichen Wesen (das heißt diejenigen, die keine Erlöser sind) geht das Unglück hinweg, ohne sie zu durchbohren. Und dennoch verwandelt es sie. Es zerbricht sie.“ (C 3, 371f.) Weil unterscheidet einen Gehorsam aus bejahter Notwendigkeit vom Gehorsam einem bloßen Zwang gegenüber. Von außen betrachtet gibt es keinen Unterschied. Doch der erste Gehorsam beruht auf einer Zustimmung und ist erlösend, der zweite ist eine Wirkung der Schwerkraft und nichts als zerstörerisch. „Man wäre oft versucht, blutige Tränen zu weinen bei dem Gedanken, wie viele Unglückliche das Unglück zermalmt, die außerstande sind, Gebrauch von ihm zu machen.“ (ZG 43) Man kann also vom Unglück Gebrauch machen, oder man kann es vielmehr nicht, es sei denn kraft der Liebe Gottes selbst. Obgleich sie davon wie besessen gewesen sei, habe sie doch, so urteilt Simone Weil, vor dem Fabrikjahr keine Erfahrung [expérience; AD 41] des Unglücks, keinen längeren Kontakt [contact prolongué; AD 41] mit dem Unglück in seiner Vollgestalt gehabt. Erst als sie in der Fabrik „in den Augen aller und in meinen eigenen mit der anonymen Masse ununterscheidbar verschmolzen [confondue; AD 42] war“, sei ihr „das Unglück der anderen in Fleisch und Seele eingedrungen [entré; AD 42].“ (ZG 91) Weil verwendet hier Termini, die sich in der Schilderung ihrer mystischen Christusbegegnung wiederfinden: „expérience“, „contact“, „entrer“, „confondre“. Eine Verschmelzungs- oder Vereinigungsmystik ist diese Mystik nur in einem spezifischen Sinn. Das Verb „confondre“ bezeichnet nicht schlechthin die Begegnung der Seele mit Christus, sondern genauer das Resultat des Prozesses, den die menschliche Liebe durchläuft, wenn sie sich in der Begegnung mit der Gottesliebe dieser angleicht und ihre perspektivische Begrenzung verliert. Dann verschmilzt sie mit der schöpferischen Liebe Gottes. Sie liebt die Welt „de chez Dieu“ (AD 80) und senkt sich, wie die unparteiische Liebe Gottes, gleichermaßen auf alles, was ist (vgl. ZG 112). Die terminologische Übereinstimmung im Blick auf die erfahrene Christusnähe und die Teilhabe am Los der Sklavenmenschen in der Fabrik unterstreicht nicht nur die innere Einheit dieses Lebens, sondern lässt

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die Herkunft von Weils Mystik aus dem Erbarmen und ihre Ausrichtung auf das Erbarmen zutage treten. Erbarmen im emphatischen Sinne des Wortes, das Mitleid mit einem Unglücklichen, ist etwas Unmögliches, etwas Göttliches, denn das „wirkliche Mitleid ist eine willentliche, auf Zustimmung beruhende Entsprechung zum Unglück“ (C 4, 182; Übersetzung leicht verändert). Der Anblick eines Unglücklichen schlägt jedoch die menschliche Aufmerksamkeit unweigerlich in die Flucht. Nur die Fülle der Aufmerksamkeit, die aus der Berührung mit Gott hervorgeht, vermag den Unglücklichen wahrzunehmen. Wesentliche Einheit von Gottes Liebe, Gottes- und Nächstenliebe: einzig jene vollkommene, von Gott kommende Aufmerksamkeit, derer es bedarf, um Gott zu erkennen, ist genug, um in dem unberührbaren und unsichtbaren Anderen einen geschlagenen, gebrandmarkten Menschen zu erkennen, „der uns genau gleicht“ (ZG 53; Übersetzung leicht verändert). Vielleicht sollte man Weils mystische Gotteserfahrung mit Ex 33,20 lesen: Der Anblick des Unglücklichen ist eine tödliche Gefahr. Wer dem Unglück ins Gesicht sieht, wer dem Unglücklichen Ansehen verleiht, sieht Gottes Angesicht. Die Übereinstimmung der Worte, mit denen Weil ihre Christusbegegnung und ihre prägende Erfahrung mit dem „Unglück der anderen“ während des Fabrikjahres ausdrückt, ist wie eine Illustration von Mt 25,31-46.26 Wenn Simone Weil schließlich ihre eigene Brandmarkung durch die Torturen der Fabrikarbeit erwähnt (vgl. ZG 92), so steht der mystischen Stigmatisation mit den fünf Wunden Jesu hier, wiederum in nächster Nähe zu Mt 25,31-40 und in der Logik der Einheit von Gottesund Nächstenliebe, die soziale Stigmatisierung (vgl. ZG 92) der Hilfsarbeiterin gegenüber, der das Leiden der Sklaven unter die Haut gegangen ist und die es an Leib und Seele verletzt hat. Was Simone Weil auf dem Patrozinium erlebt und hört, ist wahrhaft katholisch; es berührt, weil es vom Unglück der anonymen Masse berührt ist. 4.2 „... diesem unvergleichlichen Wunder an Reinheit ...“ Zu ihren Begegnungen mit dem Katholizismus zählt Weil eine Erfahrung im Mai oder Juni 1938 in der romanischen Kirche Santa Maria degli Angeli in Assisi, „diesem unvergleichlichen Wunder an Reinheit“. Et26

Vgl. C 2, 212.215.223.316; C 3, 104; C 4, 136.164.

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was, so schreibt sie, „das stärker war als ich selbst, zwang mich [m’a obligée; AD 43], zum erstenmal in meinem Leben, niederzuknien.“ (ZG 92; Übersetzung leicht verändert.) Der Begriff der Reinheit mit all seinen christlichen Implikationen war ihr bei der Betrachtung einer Gebirgslandschaft aufgegangen (vgl. ZG 90). Dies klingt nach konventioneller, wenn nicht angestaubter Naturromantik. Tatsächlich steht eine präzise Beobachtung im Bereich des Naturschönen und des Kunstschönen im Hintergrund. „Das Schöne am Meer wie an den Bergen, in der Bildhauerei, in der Architektur, ist die Schwerkraft“, notiert Weil (C 2, 65). Die Wirkung der Schwerkraft, des Inbilds aller Zwänge (vgl. C 1, 230), kommt hier ungetrübt zur Anschauung. Das bewegte Meer und das ruhende Gebirge verkörpern die reine Fügsamkeit der Materie gegenüber der Notwendigkeit, die ihrerseits Gottes Willen entspricht. Dass es dies rein zur Anschauung bringt, macht die Schönheit des Naturschönen aus. Die Schönheit der griechischen Statuen, überlegt Weil weiter, resultiert aus der Einheit gegensätzlicher Kräfte, reiner Schwerkraft, wie sie in der fließenden Ausbreitung des Fleisches und in der Faltung der Gewandstoffe erscheint, und aus aufstrebender Kraft; das verborgene symmetrische Zentrum der Skulpturen sei eine vollkommen senkrechte Linie. Diese dem Kunstschönen abgelesene Einheit, nicht etwa Mischung des Entgegengesetzten, ist in der schweren Faltung eines aufragenden Gebirgsmassivs zu erkennen. Das „unvermischt und ungetrennt“ von Schwerkraft und aufsteigender Kraft findet Weil schließlich in dem zur „Waage des Kreuzes“ vereinten Gegensatz von Schwerkraft und Sonnenlicht. Wenn man einen Gegenstand (insbesondere einen Gemarterten) am Ast eines Baumes aufhängt (und das gilt genauso für eine Frucht), dann zieht die Schwerkraft daran, doch es ist die im Baum kristallisierte Sonnenenergie, die ihn über dem Boden hält und erlaubt, dass die Schwerkraft an ihm zieht. Kombination, Gleichgewicht von absteigender Kraft und aufsteigender Kraft. Die Waage des Kreuzes. (C 3, 246)

Gehorcht, wie Simone Weil sagt, innerhalb der Schöpfung ausnahmslos alles der Schwerkraft, dann besitzt der Mensch keinerlei Fähigkeit, aus eigener Kraft aufzusteigen. Doch ihm steht der Weg der Demut, der

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geistlichen Armut,27 offen, die freie Annahme der conditio humana, das Ablegen der falschen Göttlichkeit. Eben dieses Geschehen setzt die Kirche in der Taufe in Szene, wo sie durch Untertauchen gespendet wird. Im gänzlichen Untertauchen erkennt der Täufling an, ein Teil des trägen Stoffes zu sein, aus dem die Schöpfung besteht. „Er kam nur wieder zum Vorschein unter dem Antrieb einer Aufwärtsbewegung, die stärker war als die Schwerkraft“ (ZG 34). Simone Weil sieht darin ein Symbol der Gottesliebe im Menschen. Der vom Menschen verlangten Annahme seiner Geschöpflichkeit entspricht die reine Fügsamkeit der Materie gegenüber der Notwendigkeit, wie sie sich in der Schönheit von Meer und Berg zeigt. „Sich erniedrigen bedeutet, im Hinblick auf die moralische Schwerkraft aufzusteigen.“ (C 2, 128) Im Gespräch mit Platons Phaidros (246d) entwickelt Weil die Vorstellung eines Absteigens nicht durch Schwerkraft, sondern durch Liebe, „durch Flügel der zweiten Potenz“ (C 2, 273). Phil 2,6-8 zeichnet in poetischer und theologischer Verdichtung die Inkarnation des göttlichen Wortes als Weg der Kenosis nach, die sich in der Passion Jesu vollendet (vgl. ED 45).28 Wenn im Menschen die Natur, abgeschnitten von jedem fleischlichen Trieb, blind und jeglichen übernatürlichen Lichtes beraubt, Handlungen ausführt, die dem entsprechen, was das übernatürliche Licht, falls es gegenwärtig wäre, verlangen würde, dann handelt es sich um die Fülle der Reinheit. Das ist der Mittelpunkt der Passion. Die Erlösung tritt ein, die Natur hat ihre Vollkommenheit empfangen. (C 3, 19)

Die menschliche Natur bleibt im Kreuzesleiden des Gott-Menschen, was sie ist, geschaffene, blinde, empfindende Natur, und doch handelt sie, als sei ihr das Göttliche gegenwärtig. Der Abstieg des göttlichen Geistes führt nicht zur Vermischung von Natur und Geist, sondern zu einem heiligen Tausch. „Der Geist, dem einzig Vollkommenheit zukommt, hat sich zu Natur gemacht, damit die Natur Vollkommenheit empfange.“ (C 3, 19) Die Schönheit des Naturschönen und des Kunstschönen bringt

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28

Der Gedanke der Armut (vgl. ZG 90) hat in Weils Denken hier seinen Ort. Auch von ihm her erschließt sich nun Weils Erlebnis in der franziskanischen Geist atmenden Kirche: Armut ist für Weil ein Schlüsselbegriff der Inkarnation (vgl. C 3, 108). S. Weil, Entscheidung zur Distanz. Fragen an die Kirche, München 1988, im Folgenden abgekürzt mit ED.

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diesen Tausch zum Vorschein. „Das Schöne ist der experimentelle Beweis dafür, dass die Inkarnation möglich ist.“ (C 3, 109) Reinheit ist für Simone Weil ein genuin theologischer Begriff, und jede Erfahrung von Reinheit hat für sie einen christologischen Kern. Um eine bezwingende Erfahrung von Reinheit und Armut mag es sich in dieser Franziskuskirche gehandelt haben. Doch noch ist es nicht jemand, sondern etwas, das sie „nicht durch die Schwerkraft ... sondern durch die Liebe“ (C 2, 273) zu Boden zieht. 4.3 „... die göttliche Liebe durch das Unglück hindurch zu lieben ...“ Zwischen Palmsonntag und Osterdienstag 1938 nimmt Simone Weil in der Abtei Solesmes an allen Gottesdiensten teil. Ich hatte bohrende Kopfschmerzen, jeder Ton schmerzte mich wie ein Schlag; und da erlaubte mir eine äußerste Anstrengung der Aufmerksamkeit, aus diesem elenden Fleisch herauszutreten, es in seinen Winkel hingekauert allein leiden zu lassen und in der unerhörten Schönheit der Gesänge und Worte eine reine und vollkommene Freude zu finden. Diese Erfahrung hat mich auch durch Analogie besser verstehen lassen, wie es möglich sei, die göttliche Liebe durch das Unglück hindurch zu lieben. Ich brauche nicht eigens hinzuzufügen, dass im Verlauf dieser Gottesdienste der Gedanke an die Passion Christi ein für allemal in mich Eingang fand [est entrée en moi; AD 43]. (ZG 92)

Dass eine „äußerste Anstrengung der Aufmerksamkeit“29 durch quälende Schmerzen hindurch zu einer reinen und vollkommenen Freude zu führen vermag, erschließt Weil „durch Analogie“ die Möglichkeit, durch das äußerste Unglück hindurch Gottes Liebe in reiner Weise zu lieben. Dem Leiden Jesu am Kreuz und besonders dem Verlassenheitsschrei liest Weil die Ausmaße der Inkarnation und die Reichweite des Un-

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Die Anstrengung der Aufmerksamkeit werde oft mit der verbissenen Anspannung irgendwelcher, und sei es geistiger, Muskeln verwechselt. Aufmerksamkeit ist jedoch nichts Willentliches, keine Aktivität des Ich, sondern eine gesammelte Passivität. „Und vor allem soll der Geist leer sein, wartend, nichts suchend, aber bereit, den Gegenstand, der in ihn eingehen wird, in seiner nackten Wahrheit aufzunehmen.“ (ZG 50)

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glücks ab, das im Leiden des Gott-Menschen als menschliche Macht über Menschen in Erscheinung tritt.30 Das Unendliche im Menschen ist einem kleinen Stück Eisen preisgegeben; das ist die condition humaine; Raum und Zeit sind die Ursache davon. ... Der ganze Mensch wird für einen Augenblick davon ergriffen; es bleibt dabei kein Platz für Gott, selbst bei Christus nicht, bei dem der Gedanke an Gott nur noch der einer Beraubung ist. (C 1, 186)

Der am Kreuz leidende Jesus bleibt liebend auf Gott ausgerichtet. Doch er weiß davon nichts, sondern spürt nur den vollständigen Entzug, die Beraubung; denn die Liebe ist „eine Richtung und nicht ein Zustand der Seele“ (ZG 27). Der Schrei am Kreuz ist ein Verzweiflungsschrei.31 Er ist Schrei der finstersten Gottverlassenheit, während der Gekreuzigte doch nicht aufhört, Gott mit jenem Anteil seiner Seele zu lieben, der der übernatürlichen Liebe fähig ist. Der einzige Teil unserer Seele, der nicht dem Unglück unterworfen werden dürfte, ist derjenige, der in der anderen Welt liegt. Das Unglück hat keine Macht über ihn – denn vielleicht ist er, wie Meister Eckhart sagte, unerschaffen –, aber es hat die Macht, ihn gewaltsam von dem zeitlichen Teil der Seele zu trennen, so dass, obwohl die übernatürliche Liebe in der Seele wohnt, deren Süße nicht gespürt wird. Dann erhebt sich der Schrei: „Mein Gott, warum hast du mich verlassen.“ (C 4, 125)

Der Mensch ist der blinden „force“, dem Unglück, so weit unterworfen, wie er der Materie unterworfen ist – also an Leib und Seele ganz und gar. Mit Ausnahme, so fügt Weil hinzu, der ungeschaffenen Fähigkeit, genau diesem Sachverhalt, der Unterwerfung unter die Notwendigkeit, der Aussetzung an das Unglück, liebend zuzustimmen.

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Auf keine andere Bibelstelle nimmt Weil so häufig Bezug wie auf den markinisch-matthäischen Kreuzesschrei; vgl. C 1, 186.187.208.236; C 2, 13.110.131. 168.181.187.193.296.297; C 3, 31.61.94.351.394.399; C 4, 67.68.102.124.125.126. 152.274.320.346; OC II.3, 251; ZG 15.16.20.21.42.43.44.48.105.172. Vgl. auch S. Weil, Intuitions pré-chrétiennes, Paris 2000, 20f.85.103.131.168.169, im Folgenden abgekürzt mit IP, und dies., Pensées sans ordre concernant l’amour de Dieu, Paris 1962, 61, im Folgenden abgekürzt mit PSO. „Bis dahin muss man gelangen, damit es zur Inkarnation kommt.“ (C1, 186; Übersetzung leicht verändert.)

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5. „So I did sit and eat.“ Beim Sprechen eines mystischen Barockgedichts, des Gedichts „Love“ des englischen Dichters George Herbert (1593-1632), auf den sie in der Benediktinerabtei Solesmes aufmerksam gemacht wurde, erlebt Weil eine wirkliche Berührung mit Gott, „von Person zu Person“ (ZG 93). Love bade me welcome; yet my soul drew back, Guiltie of dust and sin. But quick-ey’d Love, observing me grow slack From my first entrance in Drew nearer to me, sweetly questioning, If I lack’d any thing. A guest, I answer’d, worthy to be here, Love said, You shall be he. I, the unkinde, ungratful? Ah, my deare, I cannot look on thee. Love took my hand, and smiling did reply: Who made the eyes but I? Truth, Lord: but I have marr’d them; let my shame Go where id doth deserve. And know you not, says Love, who bore the blame? My deare, then I will serve. You must sit down, says Love, and taste my meat. So I did sit and eat. (Vgl. ZG 234)

Simone Weil hatte das Gedicht auswendiggelernt; sie rezitiert es, wenn ihre Kopfschmerzattacken auf dem Höhepunkt sind, indem ich meine ganze Aufmerksamkeit darauf versammelte und von ganzer Seele der Zärtlichkeit zustimmte, die es in sich schließt. Ich glaubte, nur ein schönes Gedicht zu sprechen, aber dieses Sprechen hatte, ohne dass ich es wusste, die Kraft eines Gebetes. Einmal, während ich es sprach, ist, wie ich Ihnen schon geschrieben habe, Christus selbst herabgestiegen und hat mich ergriffen. (ZG 93)

Die im Gedicht evozierte Szene lässt an das Abendmahl Jesu, an die Eucharistie denken (Mt 26,26-29; Mk 14,22-25; Lk 22,19f.; 1 Kor 11,23-25) und verweist auf biblische Gleichnisse, die Gott als unkonventionellen Gastgeber zeigen (Mt 22,2-10; Lk 14,15-24). Offensichtlich sind die Bezüge zu Jesu Tischgemeinschaft mit Zöllnern und Sündern (Mt 9,10-13; Mk 2,1-17; Lk 5,29-32) und zum Gleichnis vom verlorenen Sohn (Lk

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15,20-32). Fruchtbar scheint es, die Brücke von Lk 17,7-10 zu Lk 12,36f. zu schlagen, da „Love“, Lk 12,36f. überbietend, eine Umkehrung der herrschenden Ordnung inszeniert, die Lk 17,7-10 bestätigt:32 Der Herr bittet den unnützen Sklaven zu Tisch, um ihm selbst – mit sich selbst – aufzuwarten. Ein Ich spricht, ein Mensch, der sich schuldig bekennt, undankbar und unrein. Ihn kann nur ein Tribunal erwarten, kein Gastmahl. Doch die Vorladung erweist sich als großzügige Einladung. Die oberste göttliche Gerichtsbarkeit entpuppt sich als Gastlichkeit, die dem Ich mütterlich-weiblich entgegenkommt. Es ist legitim, hier die Züge der „präödipalen Mutter“ zu erkennen. Doch eine freudianische Interpretation wird das Gewicht dieses Gedichts wohl nicht in jeder Hinsicht ermessen. Es lohnt sich, der Spur der schöpferischen und gastfreundlichen Weisheit aus Spr 8.9,1-6 (vgl. Joh 7,37f.) zu folgen. Das Buch der Sprichwörter schildert eine weibliche Gestalt in und von Gottes nächster Nähe. Sie verbindet lebensrettende Weisung (Spr 8,34-36; 9,6) mit überlegener Klugheit (Spr 8,1; 12) und universaler Gerechtigkeit (Spr 8,6-8.13-15.20). In der Öffentlichkeit lehrt Frau Weisheit und spricht sie Recht (Spr 8,2). Ihrer Liebe zum Menschen (Spr 8,4.31-36) kommt nur ihre Gottesnähe gleich (Spr 8,22-31). Sie ist Schöpfungsmittlerin (Spr 8,22-32) und leitet die Mächtigen an (Spr 8,14-16). So großzügig wie unternehmend, baut sie sich ein Haus, um Freunde und Schüler beherbergen und bewirten zu können. Sie bereitet den Tisch, schlachtet das Vieh, mischt den Wein und weist die Dienstboten an. Öffentlich lädt sie die Unwissenden ein, sich auf dem Fest der Weisheit stärken zu lassen (Spr 9,1-6). Gewiss spielt Herberts Gedicht auf die göttliche Gestalt der Weisheit nur an. Doch sie bildet seinen leuchtenden und anziehenden biblischen Hintergrund. Unbestreitbar gehört zu „Love“ ein Moment der Subversion, der Unterminierung eines machtförmigen Gottesbildes.33 In Herberts 32 33

Vgl. Weils mystagogische Deutung beider Gleichnisse in: PSO 142-145; vgl. auch ZG 51. Der Gottesname „der Herr“ besitzt in Judentum und Christentum großes Gewicht. Die Septuaginta gibt den Gottesnamen JHWH mit kyrios wieder. Hierin folgt ihr die Vulgata (dominus), aber auch Luther (der Herr). Die rabbinische Tradition wählt die Formel „mein Herr“, um das unaussprechliche Tetragramm verlauten zu lassen. Weil bedient sich einerseits mit Selbstverständlichkeit männlicher Gottesnamen der biblischen, jüdischen und christlichen Tradition, ohne andererseits mythologische Bilder zu vermeiden, die die menschli-

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Gedicht zeigt sich Gott weder als unerbittlicher Richter34 noch als pater omnipotens. Weil betont, dass Gott unser Vater „in den Himmeln“ ist (ZG 54). Jeder Versuch, ihn in einer irdischen Wirklichkeit – einer Vaterfigur oder väterlichen Instanz, in einem beeindruckenden Vermögen, einer stützenden Institution oder tragenden Überzeugung – dingfest zu machen, ist Götzendienst. Aus der Einsicht, dass Gott Ursprung ist, folgt eine strenge Kritik all dessen, was sich innerweltlich als Ursprungsmacht oder letzte Instanz ausgibt oder ersehnt wird. „Wenn wir hier unten einen Vater zu haben glauben, dann ist nicht er es, dann ist es ein falscher Gott.“ (ZG 54; Übersetzung leicht verändert.) Auf je andere Weise gibt sich in den Mahlgleichnissen Jesu und in der Eucharistie der wahre Gott als wirklichste Wirklichkeit zu erkennen, während der falsche Gott so unwirklich wird, wie er in Wirklichkeit ist. Auch die Verse des mystischen Barockdichters untergraben die menschlichen Bestrebungen, Gott nach dem Bilde des Menschen/des Mannes zu schaffen, und sie untersagen in eins damit eine eindimensionale und verkleinernde Lesart des Menschen.35 „Love“ öffnet eine verborgene oder vergessene Tür. Gott, aller Herren Herr, bittet einen erbärmlichen Menschen, Geschmack an ihm zu finden – Aufblitzen einer Gottesnähe, die der Mensch nicht herstellen, sondern nur genießen kann, und in deren Licht seine Götzenbilder verbrennen.

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che Seele männlich und Gott weiblich vorstellen, und ohne davor zurückzuschrecken, Personen der christlichen Trinität mit weiblichen Namen aus der griechischen Mythologie zu belegen. Verurteilt wird der biblische Gottesname JHWH Zebaot, Herr der Heerscharen/Armeen (vgl. PSO 50; vgl. dazu kritisch: E. Lévinas, Difficile liberté, Paris 1982, 192f.) „Love“ predigt weder einen harmlos-lieben Gott, noch versichert es beruhigend: „Ich bin okay, du bist okay.“ Durch eine befremdliche Umkehrung, so gesteht Simone Weil, rufe der Gedanke an den Zorn Gottes in ihr nichts als Liebe hervor. „Es ist vielmehr der Gedanke an die mögliche Gnade Gottes, an seine Barmherzigkeit, der mir eine gewisse Furcht einflößt, die mich zittern lässt.“ (ZG 115; Übersetzung leicht verändert.) Vgl. Dazu S. Sandherr, Simone Weil, une philosphie de la force ou Pour une seconde lecture de la condition féminine, in: M. Calle/E. Gruber (Hg.), Simone Weil. La passion de la raison, Paris 2003, 137-155.

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6. „Während dieses ganzen geistlichen Fortschreitens habe ich niemals gebetet.“ Das Gebet, so erklärt Simone Weil Pater Perrin, habe sie als Quelle einer Autosuggestion stets gemieden. „Hin und wieder kam es wohl vor, dass ich mir das ‚Salve Regina‘ aufsagte, aber nur als ein schönes Gedicht.“ (ZG 95) Die Formulierung „ ... il m’était arrivé“ (AD 47) bringt vielleicht weniger die Beiläufigkeit des Sprechens zum Ausdruck als seine Unwillkürlichkeit. Bei allen Unterschieden zwischen dem „Salve Regina“ und „Love“ besteht eine Verwandtschaft zwischen der zugleich als hoheitliche „Regina“ und „mater misericordiae“ gegrüßten „virgo Maria“, deren lebenspendende „dulcedo“ hervorgehoben wird, und der durch Erhabenheit, Reinheit, Transzendenz und zärtlichste Zuneigung zum elenden und schuldbeladenen Ich charakterisierten weiblichen Gestalt der „Liebe“ in Herberts Gedicht. Und wird nicht das eine schöne Gedicht von der Bitte beschlossen, die sich für Simone Weil beim Sprechen des anderen erfüllte: „Et Jesum, benedictum fructum ventris tui, nobis post hoc exsilium ostende“? Eine Nicht-Beterin war Weil nur im konventionellen Sinne, denn sie begriff und lebte ihr Leben als eine Schule der Aufmerksamkeit. Ein Gebet sollte für Simone Weil schließlich größte Bedeutung erlangen: das Vaterunser.36 Im Herbst 1941 verabredete sie mit einem Freund, es auswendig zu lernen. „Da hat die unendliche Süßigkeit dieses griechischen Textes mich derart ergriffen, dass ich einige Tage nicht umhin konnte, ihn mir unaufhörlich zu wiederholen.“ (ZG 95) Ein perspektivloser Raum jenseits des Raums eröffnet sich, ein Schweigen jenseits des Schweigens umfängt sie. Manchmal ist während des Sprechens „Christus in Person anwesend, jedoch mit einer unendlich viel wirklicheren, durchdringenderen, klareren und liebevolleren Gegenwart als jenes erste Mal, als er mich ergriffen hat.“ (ZG 96) Weils geistig-geistliche Erfahrung mit dem Vaterunsergebet hebt die oft unzureichend gestellte Frage nach ihrer Taufe oder Nicht-Taufe auf

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Das Vaterunser „ist als Gebet, was Christus als Mensch ist“, schreibt Weil zum Ende des Vaterunserkommentars, in dem sich ihr Denken und Erfahren wie in einem Prisma bündelt (vgl. Weils „Betrachtungen über das Vaterunser“, in: ZG 54-63, 62).

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eine neue Ebene. Seit den Zeiten der alten Kirche wird die Übergabe des Vaterunsers an die Katechumenen in einer eigenen liturgischen Feier begangen. In der kirchlichem Tradition dieser „traditio“ scheint auch Simone Weil zu stehen. Auch sie hat sich das Herrengebet nicht genommen, sondern als Gabe Christi empfangen. Wie die Kirche Tradentin, Jesus Christus aber Geber dieser Gabe ist, so ist die christliche Taufe nicht zuerst und zuletzt Eingliederung in eine menschengemachte Gemeinschaft, sondern Neugeburt der Getauften aus Wasser und Geist zu Söhnen und Töchtern Gottes. In der Taufe geschieht Stellvertretung (vgl. Gal 2,20): „Christus tritt in die Seele und setzt sich an ihre Stelle.“37 (C 4, 209)

7. „Ich bleibe auf Seiten aller Dinge, die nicht in die Kirche eintreten können ...“ Da das Christentum nur de jure, nicht aber de facto katholisch sei, betrachtet Simone Weil sich als berechtigt, „der Kirche als ein Mitglied de jure und nicht de facto anzugehören“ (ZG 98).38 Die derzeit dringlichste, verbindlichste Pflicht bestehe darin, der Öffentlichkeit die Möglichkeit eines wahrhaft inkarnierten Christentums vor Augen zu führen (vgl. ZG 99). Aber, und hier schließt sich der Kreis, das Christentum kann nur dann wahrhaft inkarniert sein, wenn es wahrhaft katholisch ist. Wie könnte es seinen Kreislauf durch das ganze Fleisch der europäischen Nationen vollbringen, wenn es in sich selber nicht alles, unbedingt alles enthält? Selbstverständlich mit Ausnahme der Lüge. Aber in allem, was ist, ist meist mehr Wahrheit als Lüge. (ZG 99)

Verließe Weil die Stelle, „an der ich mich seit meiner Geburt befinde, an jenem Schnittpunkt des Christentums mit allem, was es nicht ist“ (ZG 99), so verriete sie die Wahrheit, d.h. den ihr zugänglichen Wahrheitsaspekt. Die Aufgabe, ein inkarniertes Christentum zur Erscheinung zu

37 38

„Le Christ entre dans l’âme et se substitue à elle.“ S. Weil, La connaissance surnaturelle, Paris 1950, 182, im Folgenden abgekürzt mit CS. Vgl. dazu, unter dem Aspekt der innerchristlichen Ökumene, H.R. Schlette, Kirche „DE FACTO“ und „DE IURE“. Bemerkungen zu Ökumene, Katholizität und Simone Weil, in: Auf Wegen der Versöhnung. Beiträge zum ökumenischen Gespräch (FS H. Fries), Frankfurt am Main 1982, 95-111.

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bringen, verpflichtet Simone Weil zu einer Schwellenexistenz,39 die kein Zeichen mangelnder Klarheit oder Entschlusskraft ist, sondern Bewährung und Bewahrheitung einer Berufung. Die Treue zum katholischen Christentum verwirklicht sich für sie als Treue zum unwirtlichen und unwirklichen Niemandsland einer Schwelle, von der man jederzeit vertrieben werden kann: Treue in eine Leere hinein,40 deren gastliche Fülle und wirklichste Wirklichkeit Simone Weil in einem Warten ohne Erwartetes, in einem Widerfahrnis wider alle Erfahrung erfuhr. Immer bin ich an genau dieser Stelle geblieben auf der Schwelle der Kirche, ohne mich zu rühren, unbeweglich, ἐν ὑπομονή (ein wieviel schöneres Wort als patientia!); nur dass nunmehr mein Herz, wie ich hoffe für immer, in das Heilige Sakrament versetzt [transporté; AD 54] worden ist, das auf dem Altar ausgesetzt ist. (ZG 99; Übersetzung leicht verändert.)

In wirklich wichtigen Fragen, so erfährt es Simone Weil, überwindet man die Hindernisse nicht (vgl. ZG 84). Vor ihnen harrt man aus; eines Tages wird man, im Innersten, über die Schwelle getragen.

8. „Die Situation der Vernunfteinsicht ist der Prüfstein ...“ „Kollektive denken nicht.“ (UF 213) Im Bereich des Denkens ist nach Weils Überzeugung der Einzelne der Gemeinschaft unendlich überlegen. Denken heißt differenzieren, unterscheidend in Beziehung setzen. Idolatriekritisch ist es als verbindliches Auseinanderhalten von Endlichem und Unendlichem. Denken setzt Innehalten voraus, es bricht Totalität auf. Der bleibenden Versuchung des Kollektivs, der Absolutsetzung seiner selbst, vermag ein Denken zu begegnen, das dem Wirklichen als einem Gewebe von Verhältnissen verpflichtet bleibt. Ein gravierendes Dilemma erkennt Weil darin, dass ein Kollektiv, die Kirche, über das Dogma wacht, während dieses Gegenstand der Betrachtung für drei strikt individuelle Vermögen sei, nämlich Liebe, Glaube und Vernunfteinsicht (vgl. ZG 101). Für die Beziehung zwischen Indivi39 40

Vgl. zu Weils Verständnis der Schwelle auch S. Karwath, Jüdin durch Geburt. Die Leere ist, wie Weil energisch betont, wirklich eine Leere und nicht der zweite Schritt in einem Hegel‘schen Dreischritt. „Wer die Leere einen Augenblick lang erträgt, empfängt entweder das übernatürliche Brot, oder er fällt.“ (C 2, 24)

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duum und Kollektiv in der Kirche müsse eine harmonische Lösung im Sinne des Gleichgewichts der Gegensätze gefunden werden; Prüfstein ist das Denken. Diese Harmonie besteht überall dort, wo die Vernunfteinsicht [intelligence; AD 56] an ihrer Stelle bleibend, sich ungehindert betätigt und die Fülle ihrer Funktionen ausübt. Was der heilige Thomas so bewundernswert von allen Teilen der Seele Christi, hinsichtlich seiner Empfindlichkeit für den Schmerz während der Kreuzigung, darlegt. (ZG 100)

Mit Hilfe einer christologischen Regel41 wird dem Denken Raum gegeben und einem Übergriff auf das Denken wie vonseiten des Denkens gewehrt. Ohne dadurch zur alles bestimmenden Größe zu werden, erhält die Vernunfterkenntnis in ihrem Bereich völlige Freiheit und volles Einspruchsrecht.42

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42

Vgl. Thomas von Aquin, Summa theologica III, q. 46, a.6, eine Stelle, auf die sich Weil in unterschiedlichen Kontexten zustimmend bezieht (vgl. C 1, 274.287f.305; C 2, 194.223.276; C 3, 16.118). Thomas übernimmt die entscheidende Formulierung von Johannes von Damaskus: „unicuique enim virium ‚permisit agere quod est sibi proprium‘ sicut Damascenus dicit“ (III,XV). Eine verwandte Formulierung enthält auch der sog. Tomus Leonis, ein Schreiben Papst Leos des Großen, das zu den Texten gehört, die den Horos des Konzils von Chalkedon (451) vorbereiteten: „Agit enim utraque forma cum alterius communione quod proprium est, verbo scilicet operante quod verbi est, et carne exequente quod carnis est.“ (Josef Wohlmuth (Hg.), Dekrete der ökumenischen Konzilien, Bd. 1, Paderborn 1998, 79.) Auch wenn Johannes eine Logoshegemonie zum Ausdruck zu bringen scheint, wenn er das „agere“ vom „permisit“ des Logos abhängig macht, so entsprechen doch beide Aussagen der chalkedonischen Regel der Nichtmischung und Nichttrennung des Göttlichen und Menschlichen in Jesus Christus. Auf das Glaubensmysterium selbst hat das Denken keinen Zugriff, doch es ist unverzichtbar zur Kontrolle der Hin- und Rückwege. Weil betont, dass das Denken seiner eigenen Begrenzung zuzustimmen vermag. Indem der Verstand [l’intelligence; CS 80] „die Existenz einer höheren Fähigkeit in der Seele, die das Denken über sich hinausführt, anerkennt, bleibt er sich selber vollkommen treu.“ (C 4, 119) Das vom Denken ohne Selbstentfremdung anerkannte höhere Seelenvermögen ist die übernatürliche Liebe. Immer gilt die Faustregel: „Die natürliche Vernunft, die auf die Mysterien des Glaubens angewandt wird, erzeugt die Ketzerei. Die Mysterien des Glaubens, die von jeder Vernunft abgetrennt werden, sind keine Mysterien mehr, sondern Absurditäten.“ (C 4, 88; vgl. auch C 2, 288; C 3, 339f.; C 4, 19; ED 48f.)

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Ein ähnlicher Konflikt betrifft das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft auf sprachlichem Feld. Das Amt der Kirche als Bewahrerin des Dogmas ist Weil zufolge nicht nur legitim, sondern indispensabel, doch die Kirche überschreite ihre Machtbefugnis, wenn sie die Sprache des sozialen Kollektivs zur allseits verbindlichen Norm macht.43 Die Vollmacht dazu komme keinesfalls von Gott, sondern aus der natürlichen Neigung des Kollektivs, Macht zu missbrauchen. Wenn authentische Freunde Gottes – und ein solcher war meinem Gefühl nach Meister Eckhart – dergleichen Worte wiederholen, die sie im Verborgenen, im Schweigen, während der liebenden Einigung vernommen haben, und diese Worte dann mit der Lehre der Kirche nicht übereinstimmen, so liegt das nur daran, dass die Sprache des Marktes nicht die des Brautgemachs ist. (ZG 101)

Ein vertrauliches Gespräch sei nur zu zweien oder dreien möglich, danach herrsche die Kollektivsprache vor. Es sei widersinnig, das Jesuswort: „Wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind ...“, auf die Kirche anzuwenden. „Christus hat nicht gesagt: zweihundert, oder fünfzig, oder zehn.“44 (ZG 102)

9. „... wie kläglich die Christen von außen kommenden Einflüssen erliegen.“ In der Bedeutung, die das Bild der Kirche als mystischer Leib Christi heute erlangt hat, erkennt Weil ein bedenkliches In-die-Knie-Gehen vor dem Zeitgeist und ein alarmierendes Zeichen dafür, „wie kläglich die Christen von außen kommenden Einflüssen erliegen.“ (ZG 102) Die wahre Würde der Christen bestehe nicht darin, Teile eines Leibes zu sein. 43 44

Die eine wie die andere kann Weil zufolge Sprache des Heiligen Geistes sein; es geht darum, die Legitimität beider zu erkennen und anzuerkennen. Bereits Johannes Chrysostomos begründet die Autorität der fides Nicaena und der Kanones des Konzils mit einem Überbietungstopos von Mt 18,20: „Wenn aber, wo zwei oder drei sind, Christus in ihrer Mitte ist (Mt 18,20), um wie viel mehr war er gegenwärtig und hat alles bestimmt und verordnet, wo dreihundert und noch viel mehr zugegen waren!“ (Johannes Chrysostomos, In Judaeos III, 3 PG 48, 865; zit. nach H.J. Sieben, Die Konzilsidee der Alten Kirche, Paderborn 1979, 221.)

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„…eine Treue ins Leere hinein.“ Annäherung an Simone Weil (1909-1943) Sie besteht darin, dass im Stande der Vollkommenheit, zu welchem jeder von uns berufen ist, nicht mehr wir in uns selber leben, sondern Christus in uns lebt; derart, dass durch diesen Stand Christus in seiner Ganzheit, in seiner unteilbaren Einheit in einem gewissen Sinne jeder einzelne von uns wird, wie er der ganze Christus in jeder Hostie ist. Die Hostien sind keine Teile seines Leibes. (ZG 102)

Ein Blick auf die zeitgenössischen Ideologien und Totalitarismen zeige heute manchen mystischen Leib, dessen Haupt zwar nicht Christus sei, der seine Glieder jedoch zu begeistern und zu eindrucksvollen Taten zu bewegen vermöge. Gerade weil die Kollektivgefühle heute Konjunktur und Macht hätten, den Menschen heroisch zu machen im Leiden und Sterben, erachte sie selbst es für gut, „wenn einige Schafe außerhalb des Stalles bleiben, um zu bezeugen, dass die Liebe zu Christus wesentlich etwas ganz anderes ist.“ (ZG 103) Todesmut und Opferbereitschaft sind keine hinlänglichen Kriterien zur Unterscheidung der Geister. Die Frage ist, aus welcher Quelle sie hervorgehen.45 Die Jünger Jesu, notiert Simone Weil, waren jedenfalls keine Helden. Es war schwer, Christus die Treue zu halten. Es war eine Treue INS LEERE HINEIN. Da war es schon viel leichter, Napoleon bis in den Tod treu zu bleiben. Viel leichter auch später dann für die Märtyrer, treu zu sein; denn da gab es schon die Kirche, eine Kraft, die zeitliche Versprechungen machen konnte. Man stirbt für etwas Starkes, nicht für etwas Schwaches; oder zumindest für etwas, das eine Aura der Stärke behält, auch wenn es vorübergehend schwach ist. Die Treue zu Napoleon auf Sankt Helena war keine Treue ins Leere hinein. Für etwas Starkes sterben nimmt dem Tod seine Bitternis. Und gleichzeitig seinen ganzen Wert. (C 2, 13)

Eine Treue ins Leere hinein ist Treue nicht zu etwas Starkem, das mich stärken, sondern zu etwas Schwachem, das mich schwächen wird, von dem ich nichts zu erhoffen und zu erwarten habe; sie ist Treue, die einem ohnmächtigen Unglücklichen, einem schlechthin Verächtlichen ge-

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In ihrem „Projet d’une formation d’infirmières de première ligne“ (S. Weil, Écrits de Londres et dernières lettres, Paris 1980, 187-195, im Folgenden abgekürzt mit EL) will Weil die Differenz zwischen den Quellen, aus denen die Eliteeinheiten Hitlers ihren Heroismus schöpfen, und jenen, die Hitlers Gegner inspirieren, d.h. hier aber nicht weniger als die Differenz von Gottesdienst und Götzendienst, realsymbolisch zur Erscheinung bringen – „unser Mut geht aus einer ganz anderen Inspiration hervor.“ (EL 192)

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halten wird.46 Für Gott zu sterben, notiert Weil, ist kein Gottesdienst. Das Sterben für einen ungerecht behandelten, abstoßenden und unbekannten Vorbestraften bezeugt hingegen den Glauben an Gott. „Doch wer denkt heute an Christus als an einen verurteilten Kriminellen, außer seine Feinde? Man verehrt die historische Größe der Kirche.“ (C 4, 136) Die Liebe, die Jesus in seinem Leiden Gott entgegenbrachte, war, wie der Verlassenheitsschrei zeigt, eine Treue ins Leere hinein. Die Passion war kein Martyrium, der Gott Jesu Christi kein Götze und Jesus kein Götzenanbeter. Die unvergleichliche Bedeutung des Verlassenheitsschreis im Denken Simone Weils hat hier ihren Ort. In Weil’scher Zuspitzung: „Θεέ μου θεέ μου, ἰνατί με εγκατέλιπες. / Darin liegt der wahre Beweis dafür, dass das Christentum etwas Göttliches ist.“ (C 2, 187) Auch hinter den Bedenken gegenüber der Metapher des mystischen Leibes Christi zeichnet sich also das Motiv der Götzenkritik als Kritik gesellschaftlicher Macht ab. Gerade in einer durch die Gemeinschaftsideologien von Nationalsozialismus, Faschismus und Kommunismus sowie durch eine Übermacht des Kollektivs über den Einzelnen geprägten Epoche47 sollte die Kirche ihr idolatriekritisches Zeugnis nicht verdunkeln. „Es wäre der richtige Augenblick, den Unterschied zwischen kollektiver Seele und Gott ins Licht zu stellen.“ (C 4, 199)

10. „Ein Heiliger sein, das ist heute noch gar nichts ...“ Jener dünne Faden, der den gefangenen Vogel ebenso wirksam an die Erde fesselt wie eine schwere Eisenkette, ist, so diagnostiziert Weil, für Pater Perrin seine Partei-Anhänglichkeit an die Kirche (ZG 111). Er ist am schwersten zu durchtrennen, „denn wenn er einmal durchgeschnitten ist, muss man davonfliegen, und davor fürchtet man sich.“ 46

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Das Unglück ist abscheulich und hässlich. „Alle Verachtung, allen Abscheu, allen Hass, die unsere Vernunft mit dem Verbrechen verbindet, verbindet unser Empfindungsvermögen mit dem Unglück.“ (ZG 16) Wie ein Jahrzehnt nach ihr Max Horkheimer und Theodor W. Adorno erkennt Weil die Folgen einer Dialektik der Aufklärung. Durch die Übermacht, welche die Gesellschaft im Prozesse anwachsender Naturbeherrschung dem Einzelnen gegenüber gewinnt, wird sie, auch darin Nachfolgerin der äußeren Natur, zum Gegenstand religiöser Verehrung.

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(ZG 111) Der Schnitt sei aber gerade heute eine strenge Pflicht. Die Heiligen, derer die Zeit bedarf, sind weder katholische Patrioten noch Parteigänger, sondern unparteiisch und darum einzig im Niemandsland der Schwelle zu Hause. Die Kinder Gottes sollen hier unten kein anderes Vaterland haben als das Universum selbst, mit der Gesamtheit aller vernunftbegabten Geschöpfe, die es enthalten hat, enthält und enthalten wird. Das ist die Geburtsstadt, die ein Anrecht auf unsere Liebe hat. (ZG 111f.; Übersetzung leicht verändert.)

Die Universalität, die früher einmal implizit sein konnte, muss heute völlig explizit sein, da die größte Bedrohung der Zeit die fehlende Inkarnation des Christlichen ist. Ein Heiliger zu sein, genüge heute nicht (vgl. ZG 113); der präzedenzlose Typus der neuen Gottesfreundschaft zeichnet sich aus durch die idolatrieempfindliche48 Scheidung der Dinge, die zur Liebe verpflichten, d.h. Gott und das Universum, von all denen, die enger sind als das Universum. Sie können weitreichende Verpflichtungen, nicht aber die Verpflichtung zur Liebe auferlegen. Simone Weils Vision einer neuen Kultur der Aufmerksamkeit49 mündet in das Bild einer unparteiischen, d.h. universalen Liebe, die Maß nimmt an der Vollkommenheit des himmlischen Vaters, der seine Sonne aufgehen lässt über Bösen und Guten und es regnen lässt über Gerechten und Ungerechten.50 Wenn die Liebe sich einzig auf Gott und das Universum richten darf, ist dann nicht das Gebot der Nächstenliebe außer Kraft gesetzt? Keinesfalls, wenn man nur den Begriff der Nächstenliebe recht versteht. Simone Weil erinnert daran, dass im Gleichnis vom Barmherzigen Samariter

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Auch hinsichtlich der Kirchenbindung bedarf es einer Quellenscheidung. „Ich muss annehmen“, schreibt Weil an Perrin, „dass Sie ... von etwas sehr Mächtigem verblendet worden sind. Dieses Etwas ist die Kirche als gesellschaftliche Einrichtung.“ (ZG 82; Übersetzung leicht verändert.) In der Macht eines Kollektivs aber verehre man „eine schlechte Nachahmung des Göttlichen, einen ‚Ersatz‘ des Göttlichen.“ (ZG 82) „Nur das Universale ist wahr, und der Mensch kann seine Aufmerksamkeit nur auf das Besondere richten. Diese Schwierigkeit ist der Ursprung des Götzendienstes.“ (C 4, 253) Weils Bemerkung zielt auf die unmögliche Möglichkeit einer Universalität, die nicht herrschaftliche Verallgemeinerung eines Partikularen wäre und der sie den Namen „Katholizität“ gibt. Zu Weils Rezeption von Mt 5,44-48 vgl. C 1, 304; C 2, 73.105.113.128.144.146. 194.208.224.235; C 3, 71; C 4, 72.116.123.148.322.323; E 381f.; IP 54.138.150.

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„der Nächste ein nacktes und blutiges Wesen [ist], das bewusstlos am Wege zusammengebrochen ist und von dem man nichts weiß. Es handelt sich um eine völlig anonyme und eben deshalb völlig universale Liebe.“ (ZG 113) Als Liebe zu diesem Nächsten bewährt sich die universale Liebe der neuen Heiligkeit.

11. „... wie eine aufdringliche Frau ...“ Die neue Heiligkeit führt nicht zu Weltverwerfung und Weltflucht, sondern zur Entdeckung der Welt. Gott allein ist es wert, dass man sich für ihn interessiert, und absolut nichts anderes. Was muss man daraus im Hinblick auf die Vielzahl der Dinge folgern, die interessant sind und nicht von Gott sprechen? Muss man folgern, dass es sich um Einflüsterungen des Teufels handelt? Nein, nein, nein. Man muss folgern, dass sie von Gott sprechen. Es ist heute dringend, das zu zeigen. Genau darin besteht die Pflicht, die eherne Schlange aufzurichten, damit man sie sieht und jeder, der sie anschaut, gerettet ist. (C 4, 112f.)

Die herrschende Spaltung zwischen Profanem und Religiösem hat das Christentum in den Augen Simone Weils durch die Unterdrückung des freien Denkens selbst verursacht. Sie ist ein zwar hartnäckiger, aber falscher Schein. Die weltliche Welt schweigt nicht von Gott. Gelingt es, dies zu zeigen, dann kommt Gottes rettende Gegenwart zu allen, die nach ihr verlangen.51 Weils via negationis vermeidet Götzendienst nicht im Nein, sondern in einem neuen Ja zur Welt, in einer herausfordernd neuen Lesart der Welt. Alle Ereignisse des Lebens, ganz gleich welche, alle ohne Ausnahme sind durch Übereinkunft Zeichen der Liebe Gottes, auf die gleiche Weise, wie das Brot der Eucharistie Christi Fleisch ist.

51

Vgl. Num 21,8; vgl. Joh 3,14. Dass die Kirche hingegen den Zugang zur Kommunion an Bedingungen knüpft, ist für Weil kein Zeichen des Glaubens, sondern des Unglaubens (vgl. C 4, 305).

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„…eine Treue ins Leere hinein.“ Annäherung an Simone Weil (1909-1943) Aber eine Übereinkunft mit Gott ist wirklicher als alle Wirklichkeit. Gott legt mit seinen Freunden durch Übereinkunft eine Sprache fest. Jedes Ereignis des Lebens ist ein Wort dieser Sprache. Alle diese Worte sind synonym, aber wie es in den schönen Sprachen vorkommt, hat jedes seine ganz eigentümliche Nuance, jedes ist unübersetzbar. Der Sinn, den alle diese Worte gemeinsam haben, ist: „Ich liebe dich“. Er trinkt ein Glas Wasser. Das Wasser ist das „ich liebe dich“ Gottes. Er bleibt zwei Tage in der Wüste, ohne irgendetwas zum Trinken zu finden. Die Trockenheit der Kehle ist das „ich liebe dich“ Gottes. Gott ist wie eine aufdringliche Frau, die sich an ihren Geliebten klammert und ihm stundenlang, ohne Unterbrechung ins Ohr flüstert: „Ich liebe dich ... ich liebe dich ... ich liebe dich ... ich liebe dich ...“ Anfänger in dieser Sprache glauben, dass nur einige dieser Worte „ich liebe dich ...“ bedeuten. Die die Sprache kennen, wissen, dass es nur eine Bedeutung in ihr gibt. (C 4, 115; Übersetzung leicht verändert.)

Dieser Gott des Bundes erscheint im Bild einer Frau. Das hier gewählte weibliche Bild oder Bild des Weiblichen könnte man, faute de mieux, patriarchal nennen. Die hier geschilderte Frau ist lästig. Sie hängt an ihrem Liebhaber. Sie hat nur Augen für ihn. Sie ist eine Klette. Sie ist monoton, todlangweilig. Aber gerade dieses, sei es anrührende, sei es peinliche Bild weiblicher Anhänglichkeit und Abhängigkeit wird Weil zum wahren Bild dessen, der alle Bilder übersteigt und sprengt. Eine sehr verliebte und darum sehr einfältige Frau wird, wie es der Kolosserbrief sagt, „ει̉κὼν του̃̃ θεου̃ του̃ α̉οράτου“, „Bildnis des unsichtbaren Gottes“ (Kol 1,15). Der theologische Gehalt dieses Abschnitts ist keine leichte Kost. Ist die Deutung all dessen, was geschieht, als göttliches Liebeswort nicht blasphemisch und menschenverachtend angesichts der Gräuel in Geschichte und Gegenwart, der Gewalttaten und Kriege? Schöpfung bedeutet für Weil: Gott, der alles in allem ist, hat sich aus schöpferischer Liebe zurückgezogen, damit eine Wirklichkeit außerhalb seiner sei. Geht man mit Weil ferner davon aus, dass Gott die Folgen dieses Machtverzichts erkennt und will, dann wird man zugestehen, dass in diesem Sin-

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ne alles, was geschieht, mit dem Wissen und nach dem Willen Gottes geschieht. Damit ist es nicht schon das Gute. Gott, der auf seine Allmacht zugunsten der Schöpfung verzichtet hat, steht dem Lauf der Welt ohnmächtig gegenüber. Aus Liebe zur Schöpfung hat er sich durch die Notwendigkeit gefesselt. Ohne die Mitwirkung des Menschen kann er das Gute nicht wirken. „Gott ist gut, bevor er mächtig ist.“ (ED 11) Das unbedingte Ja des Menschen zu allem, was in der Welt geschieht – Gottes Liebeswort – und seine unbedingte Verantwortung für das, was in der Welt geschieht, schließen sich in Simone Weils herausfordernder Deutung nicht aus, sondern bedingen einander. Was auf den ersten Blick quietistisch und resignativ erscheint, lässt tatsächlich die Verantwortung des Menschen für diese Welt unendlich wachsen: „Dieser Unglückliche liegt auf der Straße, halbtot vor Hunger. Gott hat Erbarmen mit ihm, kann ihm aber kein Brot schicken. Ich aber, der ich da bin, bin glücklicherweise nicht Gott; ich kann ihm ein Stück Brot geben. Das ist meine einzige Überlegenheit gegenüber Gott.“ (C 4, 164) „Anfänger“ können nicht recht glauben, dass ausnahmslos alles, was geschieht, Gottes Liebeswort sei. Tatsächlich handelt es sich um eine bloße Konvention. „Aber eine Übereinkunft mit Gott ist wirklicher als alle Wirklichkeit.“ Auf sein, auf ihr gegebenes Liebeswort gibt es nur eine Antwort. „Man muss katholisch sein, d.h. durch keinen Faden an irgendetwas Geschaffenes gebunden sein, außer an die Gesamtheit der Schöpfung.“ (ZG 112)

12. „... zum Beispiel eine Eselin ...“ Weil zeichnet ihren Abschiedsbrief52 an Pater Perrin mit einer unauffälligen, aber kraftvollen Signatur. Auch wenn es undankbar erscheine, schreibt Simone Weil, sie wage doch nicht, ihm ihre harte Kritik vorzuenthalten. Denn es „ist wohlbekannt, dass jedes beliebige Ding, zum Beispiel eine Eselin, unterschiedslos als Vermittler dienen kann.“ (ZG 109) Der Vergleich mit der Eselin ist mehr als ein weiblicher Bescheidenheitstopos. Offenbar ist hier die biblische Bileamerzählung

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Brief vom 26.5.1942, verfasst in Casablanca (vgl. ZG 105-115).

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(Num 22,22-35) im Blick.53 Weils Vergleich liefert eine bemerkenswert weitgehende theologische Deutung ihrer Berufung, den Weg zu verweigern, der ihr doch offen zu stehen und zu dem sie bestimmt zu sein scheint. Um dem, was sie gesehen hat, den Umrissen einer neuen Heiligkeit und eines inkarnierten, wahrhaft katholischen Christentums, treu zu bleiben, darf Simone Weil, wie Bileams Eselin, eine bestimmte Schwelle nicht überschreiten. Sie ist die prophetische Eselin, die vor dem Hindernis verharrt und damit Gott mehr gehorcht als den Menschen. Mit ihrer unbegreiflich eigensinnigen Weigerung weiterzugehen reagiert sie, wie die störrische Eselin, auf Gottes Gegenwart und auf eine drohende Katastrophe, entspricht sie göttlicher Weisung und dem Gebot der Stunde. Wie die Eselin, die zu sprechen beginnt, um dem Seher die Augen zu öffnen, will Simone Weil mit den Gedanken, die sie Pater Perrin zumutet und anvertraut (vgl. ZG 114), seine Verblendung lösen und ihrer Zeit den Star stechen. Dass es eine vernunftlose Kreatur ist, die sich im 22. Kapitel des Buches Numeri als rettende Offenbarungsträgerin erweist, bestätigt nicht nur das gänzlich Überraschende, den Gabecharakter von Weils eigener Gottesbegegnung, sondern unterstreicht auch ihre prophetische Vision von einer Gott-Rede der ganzen Schöpfung. Im vernehmlichen Vorwurf und stummen Starrsinn einer Eselin, die manchmal mehr sieht als ein Mensch, sprudelt die Quelle von Gottes Offenbarung weiter.54 53

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Bileam, der mesopotamische Traumdeuter und Prophet, wird von Balak, dem König von Moab, gerufen, um das Volk Israel zu verfluchen, das zum Krieg gegen ihn rüstete. Gott missbilligt diesen Auftrag, schließlich lässt er Bileam ziehen: „Aber du darfst nur das tun, was ich dir sage.“ (Num 22,20c) Unterwegs versperrt ein Engel Gottes Bileam den Weg, doch Bileam sieht ihn nicht. Anders seine Eselin, die sich weigert, weiterzugehen. Nachdem Bileam sie erzürnt drei Mal geschlagen hat, „öffnete der Herr der Eselin den Mund“ (Num 22,28), und sie hält Bileam seine Verblendung vor. Die über Israel schwebende Gefahr der Verfluchung kann schließlich abgewandt werden; sie wandelt sich in Segen für Israel (Num 23.24,1-13). Eben dieser Gedanke begegnet auch in der jüdischen Tradition, in einem Text des Rabbi Zadok Hacohen aus Lublin, eines Meisters des Chassidismus vom Ende des 19. Jahrhunderts. Auch von befremdlichen Boten, schreibt Hacohen, könne man „etwas über den Dienst Gottes lernen“, auch sie könnten „verstehen helfen, welchen Weg du wählen sollst“. Auch eine sprechende Eselin könne eine „himmlische Stimme“ sein. „In alle Wesen sind die Worte der Tora

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gebannt ... darum kann selbst der Mund einer Eselin ein Quell göttlicher Worte sein, anders gesagt (im eigentlichen Sinne des Wortes), Quell der mündlichen Tora.“ (R.Z. Hacohen, Pri Zadik, Bd. IV, Lublin 1932, 163; zit. nach: S. Mosès, Eros und Gesetz. Zehn Lektüren der Bibel, München 2004, 95.)

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„Alles ist nur die Rinde einer herrlichen Realität.“ Zur Mystik Madeleine Delbrêls (1904-1964) „Gott ist tot – es lebe der Tod!“1 – „Weil das wahr ist, muss man auch ehrlich genug sein, nicht mehr so zu leben, als ob er lebte. Man hat die Frage für ihn geregelt: Nun heißt es, sie auch für sich selbst zu regeln.“2 Welche Konsequenzen ergäben sich aus dieser Aussage? Und welche Wirkung hätte für uns, für unsere Gesellschaft, der Beweis, dass es Gott nicht gäbe? Genau diesen Fragen ist Madeleine Delbrêl nachgegangen: „Gott ist tot – es lebe der Tod“. Diesen Titel trägt ein – geradezu an Nietzsche erinnernder – Text, den sie mit 17 Jahren schrieb: „O nein, sie ist nicht erledigt, die Nachfolge Gottes. Überall hat er Vermutungen von Ewigkeit, von Macht, von Seele hinterlassen … Und wer ist der Erbe? Der Tod … Gott dauerte, jetzt dauert allein der Tod; er war allmächtig, jetzt wird der Tod mit allem und allen fertig. … Jetzt ist der Tod allgegenwärtig, unsichtbar, wirksam; er versetzt einen winzigen Schlag und tack: die Liebe hört auf zu lieben, der Gedanke zu denken, ein Säugling zu lächeln … Und nichts ist mehr da.“3

Mit existentialistischer Scharfsinnigkeit geht Madeleine Delbrêl dem Gedanken des neuzeitlichen Atheismus bis in die letzten, ja allerletzten Konsequenzen nach. Wenn es Gott nicht mehr gibt und nur noch der Tod regiert, dann sind die Pazifisten – so führt Madeleine Delbrêl aus – sicherlich sympathische Menschen, aber „wäre es ihnen 1914 gelungen, den Krieg zu knebeln, so wären 1918 doch alle, die der Krieg nicht umgebracht hätte, endgültig auf ihrem persönlichen Friedhof untergebracht.“4

1 2 3 4

M. Delbrêl, Wir Nachbarn der Kommunisten. Diagnosen, Einsiedeln 1975, 42. M. Delbrêl, Wir Nachbarn, 42. M. Delbrêl, Wir Nachbarn, 43. M. Delbrêl, Wir Nachbarn, 42.

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Zur Mystik Madeleine Delbrêls (1904-1962)

Madeleine Delbrêl bewundert zwar die Ärzte und Mediziner, weil sie sich für die Gesundheit der Menschen einsetzen. Aber sie seien doch „eher kindlich: sie meinen immer, den Tod töten zu können, dabei töten sie nur gewisse Arten des Sterbens: Tollwut, Pocken. Dem Tod geht es dabei gut …“5 Und die Verliebten? Diese seien „radikal unlogisch und kaum belehrbar: ,Ich liebe dich auf ewig …‘ Sie wollen nicht davon Kenntnis nehmen, dass sie zwangsläufig untreu sein werden und dass diese Untreue tagtäglich näher rückt. … Ganz zu schweigen vom Alter, diesem tropfenweisen Tod. Ich möchte nicht bei einem Mann bleiben, den ich geliebt habe und der jetzt meine Zähne ausfallen [und] mein Kinn herabhängen sieht … Wenn ich einmal liebe, dann wird es wie ein Schnappschuss sein, wie befristet, in Eile.“6

Und die Mütter? „Wohl gibt es jene, die kein Kanonenfutter herstellen wollen, aber versucht ihnen einmal beizubringen, dass sie immerhin Futter für den Tod herstellen …“7 Sogar die Sprache sei durch den Glauben an Gott verfälscht worden: „Kann man [heute] einem Sterbenden ohne Mangel an Takt noch ,Guten Tag‘ oder ,Guten Abend‘ sagen? ... So sagt man ihm halt: ,Auf Wiedersehen‘ oder ,Adieu‘. … solange man noch nicht auszudrücken gelernt hat: ,Auf Nirgendwo‘, ,Auf rein gar nichts‘.“8 Was aber hat diese überzeugte Atheistin, die sie in ihrer Jugend war, dazu bewogen, später zu sagen: „Alles ist nur die Rinde einer herrlichen Realität, der Begegnung der Seele mit Gott in jeder erneuten Minute, die an Gnade zunimmt, immer schöner wird für ihren Gott …“?9 Um diese Frage beantworten zu können, müssen wir uns zunächst ihren biographischen Daten zuwenden.

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M. Delbrêl, Wir Nachbarn, 42. M. Delbrêl, Wir Nachbarn, 43. M. Delbrêl, Wir Nachbarn, 43. M. Delbrêl, Wir Nachbarn, 44. M. Delbrêl, Wir Nachbarn, 53.

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Biographischer Abriss Am 24. Oktober 1904 wurde Madeleine Delbrêl in Mussidan (Dordogne) geboren.10 Weil ihr Vater Eisenbahnbeamter war und ihm die Familie an die Orte seiner häufigen Versetzungen folgte, erhielt Madeleine Privatunterricht, der ihr genügend Raum für ihre musikalischen und künstlerischen Fähigkeiten gab. In Châteauroux und Montluçon begegnete sie Priestern, die in ihr – vor allem während der Vorbereitung auf ihre Erste Heilige Kommunion – einen einfachen und tiefen Glauben weckten. In Paris jedoch, wohin die Familie 1916 zog, begannen andere Persönlichkeiten aus dem atheistischen Literaturkreis ihres Vaters auf die künstlerisch hochbegabte Madeleine Einfluss zu nehmen. Die erst Sechzehnjährige belegte an der Sorbonne Vorlesungen in Philosophie und Geschichte und studierte Kunst an einer Hochschule in Montparnasse. Zu dieser Zeit erhielt, wie sie rückblickend schildert, „die ,Intelligenz‘ (großgeschrieben) den ersten Platz auf meiner Stufenleiter der Werte. ... Mit fünfzehn war ich strikt atheistisch und fand die Welt täglich absurder.“11 Doch ihr intellektueller Atheismus geriet durch mehrere Faktoren ins Wanken: Zunächst war es die Begegnung mit christlichen Kommilitonen, für die „Gott so unverzichtbar wie die Luft“ und Christus eine solche Realität war, „dass sie für ihn einen Stuhl gerückt haben könnten, er wäre dadurch nicht noch lebendiger gewesen.“12 Diese jungen Christen haben dazu beigetragen, dass Madeleine die Existenz Gottes im 20. Jahrhundert nicht mehr von vornherein als unzeitgemäß ablehnte: Als ihr Freund Jean Maydieu, mit dem sie schon so gut wie verlobt gewesen sein soll, sich überraschend von ihr trennte, um ein Jahr später in den Dominikanerorden einzutreten, drängte sich ihr die Frage nach Gott endgültig auf. Ein Wort von Teresa von Avila, man solle jeden Tag fünf Minuten still an Gott denken, gab ihr den entscheidenden Anstoß auf dem ersten Weg zur Kontemplation: Lesend und nachdenkend habe ich Gott gefunden, aber indem ich betete, habe ich geglaubt, dass er mich findet und dass er die lebendi-

10 11 12

Zur ausführlichen Biographie K. Boehme, Madeleine Delbrêl. Die andere Heilige, Freiburg im Breisgau 2005. M. Delbrêl, Wir Nachbarn, 263. M. Delbrêl, Auftrag des Christen in einer Welt ohne Gott. Einsiedeln 20002, 193.

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Zur Mystik Madeleine Delbrêls (1904-1962) ge Wahrheit ist und dass man ihn lieben kann, wie man eine Person liebt.13

Über das eigentliche Bekehrungserlebnis von 1924 sprach sich Madeleine kaum und nur mit tastenden Worten aus. Denn sie gehörte nicht zu denjenigen, die – etwa wie Léon Bloy (1867), Paul Claudel (1886), Jacques Maritain (1906) oder Charles Péguy (1907) – eine „literarische Zurschaustellung der Bekehrung“14 nötig hatten, obwohl sie Kontakte zum Literatursalon Claudels unterhielt und im Alter von 22 Jahren einen Gedichtband veröffentlichte, für den sie einen bekannten französischen Literaturpreis erhielt.15 Um ihrer mystischen Erfahrung Ausdruck zu verleihen, lehnte sie sich vielmehr an eine Sprache an, die an die Mystik des Johannes vom Kreuz erinnert. Gott umschreibt sie als „das schwarze Licht“, weil sie Bekehrung als das „blendende Hingerissensein unseres ganzen Ich zu Gott“16 erfuhr. Die Begegnung mit der karmelitischen Mystiktradition in den Schriften der Teresa von Avila und die Beschäftigung mit Johannes vom Kreuz wird nicht unerheblich dazu beigetragen haben, dass sich Madeleine nach ihrer Bekehrung mit dem Gedanken trug, in den Karmel einzutreten. Doch führten äußere Umstände, vor allem die erschwerte Familiensituation durch die Erblindung ihres Vaters, Madeleine zu dem Entschluss, ein Leben nach den evangelischen Räten inmitten der Welt zu leben. Sie gab ihre Studien auf, engagierte sich als Leiterin einer Pfadfindergruppe in ihrer Gemeinde und begann eine Ausbildung als Sozialarbeiterin. Als sie sich 1933 zusammen mit zwei weiteren Frauen dazu entschied, sich in dem sozial schwachen Arbeitervorort Ivry niederzulassen, wählten die Frauen für den Beginn ihrer Equipe nicht von ungefähr den 15. Oktober, den Festtag der großen Karmelheiligen, der heiligen Teresa von Avila.17 Trotz des aufreibenden Alltags, den die drei Frauen (eine 13 14 15

16 17

M. Delbrêl, Auftrag des Christen in einer Welt ohne Gott, Freiburg im Breisgau 2006, 194. So eine Aussage von Emmanuel Mounier. Vgl. K. Boehme, Gott aussäen. Zur Theologie der weltoffenen Spiritualität bei Madeleine Delbrêl (Studien zur systematischen und spirituellen Theologie 19), Würzburg 1999, 19. M. Delbrêl, Wir Nachbarn, 268. Am selben Tag, am 15. Oktober 1933, trat Edith Stein in den Kölner Karmel ein.

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Krankenschwester, eine Kindergärtnerin und Madeleine als Sozialarbeiterin) nun erlebten, bezeichnete Madeleine ihre Equipe als „karmelitisch“ geprägt. Diese Einflüsse karmelitischer Frömmigkeit auf die Equipe Madeleine Delbrêls sind auch im Rahmen der Verehrung Therese von Lisieux’ zu betrachten, die im Jahre 1925 heiliggesprochen wurde. Diese Verehrung veranlasste Kardinal Suhard bekanntlich dazu, 1941 das erste Priesterseminar der Mission de France am Ort der „Patronin aller Missionare“ in Lisieux zu errichten.18 Auf den Aufbau dieses neuartigen überdiözesanen Priesterseminars, aus dem viele Arbeiterpriester hervorgingen, nahm Madeleine Delbrêl einen nicht unwesentlichen Einfluss. Sie war eine der ersten – und man beachte: das als Frau und als Laie! –, die vor den Priesteramtskandidaten, die aus allen Diözesen Frankreichs zusammengekommen waren, Vorträge über ihre Erfahrungen hielt, die sie inzwischen während der zehn Jahre im kommunistischen Arbeitermilieu von Ivry gesammelt hatte.19 Als nach anwachsenden Spannungen das Experiment der Arbeiterpriester 1954 von Rom untersagt wurde, schlug sich Madeleine Delbrêl weder auf die eine, noch auf die andere Seite, sondern versuchte vermittelnd auf beiden Seiten Verständnis zu wecken. Die Lösung dieser Frage, welche die ganze französische Kirche betraf und belastete, sah sie in einem verstärkten Gebet. Ihre „Blitzwallfahrt“, die sie 1952 unternahm, um nur einen Tag lang für dieses Anliegen am Petrusgrab zu beten, gibt Zeugnis von ihrer Haltung zur Kirche, deren Einheit sie um jeden Preis gewahrt wissen wollte. Zugleich ging ihr soziales Engagement weit über die engen Grenzen der Arbeitervorstadt Ivry hinaus. Während der Kriegsjahre war sie auf dem kommunistischen Rathaus für den städtischen Sozialdienst verant18

19

Zum Verhältnis Madeleine Delbrêls zur Mission de France vgl. K. Boehme, Die andere Heilige, 73-89, und M. Heimbach-Steins, Unterscheidung der Geister – Strukturmoment christlicher Sozialethik. Dargestellt am Werk Madeleine Delbrêls (Schriften des Instituts für Christliche Sozialwissenschaften der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster 31), Münster 2006, 130-169. Auch hier gibt es übrigens eine Parallele zu einer weiteren im vorliegenden Sammelband thematisierten Mystikerin: Zur selben Zeit wie Madeleine Delbrêl in Lisieux prägte Simone Weil die angehenden Priester im Dominikanerkloster in Marseille durch ihre Berichte aus dem Arbeitermilieu.

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wortlich und machte Ivry durch die verschiedenen Einrichtungen, die sie ins Leben rief, zu einem beispielgebenden Ort sozialer Hilfsorganisationen (man bot ihr sogar den Verdienstorden der Resistance an, den sie aber ablehnte). Für den zu Unrecht verurteilten spanischen Widerstandskämpfer Juan-Miguel Grant legte sie sogar beim Präsidenten der Republik, Vincent Auriol, erfolgreich Fürsprache ein (1949). Nennenswert ist unter vielen anderen Aktionen auch ihr Engagement für das 1953 in den USA zu Tode verurteilte Ehepaar Rosenberg, für das sie sogar eine Petition an Papst Pius XII. mitverfasste.20 Als Madeleine Delbrêl am 13. Oktober 1964 an einem Schlaganfall überraschend starb, war sie über den Kreis ihrer Freunde hinaus nur wenigen bekannt. Heute sind ihre Schriften in mehr als acht Sprachen verbreitet. Was aber Madeleine Delbrêl zu einer Frau werden ließ, die als „Mystikerin der Straße“ bezeichnet wurde, soll im Folgenden an den Schwerpunkten (1) ihrer Bekehrung als Fundament der Gottesbeziehung, (2) ihres weltoffenen Lebensstils, (3) ihrer Alltagsmystik in Gebet und Einsamkeit, (4) ihres Gedankens der Inkarnation des Evangeliums und (5) ihres kirchlichen Selbstverständnisses aufgezeigt werden.

1. Bekehrung als Fundament der Gottesbeziehung Das Fundament der Mystik Madeleine Delbrêls liegt in einem lebendigen, alle Bereiche ihrer Existenz umfassenden Glauben begründet, dem die Erfahrung einer Bekehrung vorausgeht. Die Thematik der Bekehrung durchzieht ihre Schriften wie ein tragendes Leitthema. „Ich bin von Gott begeistert worden, und bin es immer noch“, bekennt sie noch in ihrem letzten Vortrag kurz vor ihrem überraschenden Tod. 21 20

21

Zur theologischen Fundierung ihres Engagements vgl. die Biographie von C. de Boismarmin, Madeleine Delbrêl. Rues des villes chemins de Dieu 1904-1964, Paris 1985 (dt.: Mystikerin der Straße, München 1996); K. Boehme, Gott aussäen, 9-89, und die ausführlichen Beiträge von M. Heimbach-Steins, Unterscheidung der Geister. Vgl. zu den folgenden Zitaten ihren letzten Vortrag, den sie vor einem Kreis von Studenten am 16. September 1964 in Bagneux hielt: M. Delbrêl, Atheistische Umwelt als günstige Voraussetzung für unsere eigene Bekehrung, in: Dies., Wir Nachbarn der Kommunisten. Diagnosen, Einsiedeln 1975, 261-274.

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Für die Kunst, in einem atheistischen Milieu glauben zu können, fordert sie eine immerwährende Bekehrung, das von Gott „Geblendetsein, um von Ihm gelenkt zu werden“, als grundlegende und unverzichtbare Haltung des Christseins ein: Bekehrung ist ein entscheidender Augenblick, der uns abkehrt von dem, was wir über unser Leben wissen, damit wir, Aug in Auge mit Gott, von Gott erfahren, was er davon hält und daraus machen will. In diesem Augenblick wird Gott für uns zum Allerwichtigsten; wichtiger als jedes andere Ding, wichtiger als jedes Leben, selbst und vor allem das unsrige. Ohne diesen höchsten, überwältigenden Primat des lebendigen Gottes, der uns einfordert, seinen Willen unserem Herzen vorstellt, damit es in Freiheit Ja oder Nein antworte, gibt es keinen lebendigen Glauben.22

Der Vorrang Gottes im Leben von Christinnen und Christen bedeutet für Madeleine Delbrêl, dass es zwischen Christen und der Welt zu einem Widerspruch kommen muss. Sie fordert, mit der Welt zu „brechen“, denn „nur durch einen solchen Bruch werden wir fähig, am Werk der Erlösung teilzunehmen.“ Aber auch wenn es für sie eine unabdingbare Notwendigkeit ist, „dass christliches Dasein brechen muss, um christlich zu sein“, und sie sich mit dieser Auffassung an eine streng monastische Tradition mit biblischen Wurzeln vor allem aus dem Johannesevangelium anlehnt, begründet sie die Notwendigkeit des Bruchs mit der Welt nicht mit einem Auszug aus ihr (wie es bei einem Eintritt in ein Kloster notwendig wäre). Sondern die Notwendigkeit des Bruchs mit der Welt liegt nach ihr in der Taufe begründet: „Wir müssen uns diese Notwendigkeit vor Augen führen: dass christliches Dasein brechen muss, um christlich zu sein, einfach aufgrund der Taufe.“23 Spätestens hier lässt sich fragen, ob Madeleine Delbrêl ein negatives Weltbild hat – und das wäre gerade angesichts ihrer weltoffenen Spiritualität höchst erstaunlich. Denn trotz der Weltnähe ihrer Spiritualität hat Madeleine Delbrêl gerade nicht die Einheit des Menschen mit der Welt im Auge. So stellt sich hier die Frage nach der Begründung ihres weltoffenen Lebensstils.

22 23

M. Delbrêl, Wir Nachbarn, 268. M. Delbrêl, Frei für Gott. Über Laien-Gemeinschaften in der Welt (Der neue Weg 4), Einsiedeln 1991, 28.

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2. Weltoffener Lebensstil – und seine christliche Dialektik Warum zog sie sich nicht aus der von ihr als Gott fern gekennzeichneten Welt zurück, sondernbezeichnete gerade „diese Welt, auf die uns Gott gesetzt hat“, als „Ort unserer Heiligkeit“? Wenn sie sagt: „… alles ist nur die Rinde einer herrlichen Realität, der Begegnung der Seele mit Gott in jeder erneuten Minute, die an Gnade zunimmt, immer schöner wird für ihren Gott …“, dann hat ihr Weltbegriff entgegen den Akzentuierungen der vorhergegangenen Darstellung doch offensichtlich eine positive Konnotation. Wie ist das zusammenzubringen?24 Schon 1944 äußerte Madeleine Delbrêl vor den Priesteramtskandidaten der Mission de France eine Einstellung, die sie ebenso in ihrem letzten Vortrag 1964 zum Ausdruck brachte: Gerade der Atheismus, dem sie im militanten marxistischen Milieu in Ivry begegnete, vor dem von kirchlicher Seite immer wieder als „Versuchung“ gewarnt wurde, die der Christ lieber meiden solle, bezeichnete sie „als günstige Voraussetzung für unsere eigene Bekehrung“, die zu einem lebendigen Glauben provoziert. Die radikal-menschliche Umgebung, die ungläubige nämlich, in der wir leben, muss in uns einen unauslöschlichen Durst nach dem Übernatürlichen wecken.25 Sie findet gerade „in einer ungläubigen Umgebung Bedingungen für eine weitere Konversion“, denn diese Kontakte mit dem Atheismus führen „durch eine Art Rückprall zu einer Überprüfung unserer eigenen Hoffnung“ und versetzen den Christen somit in den „Seelenzustand des Neugetauften“. Die Begegnung mit der Gott leugnenden Umgebung führt somit antithetisch zu ihrem Gegenteil. Der Christ revidiert durch die „Herausforderung“ des Atheismus sein christliches Dasein und Denken und findet angesichts dieser Erschütterung zu einer Umkehr, die bedeutet, „neu zu glauben, besser zu glauben.“26 Während der bloße „Schein des Glaubens, der zu schwach wäre, um den Kontakt mit einem Atheismus zu ertragen, ... zerstört werden“

24 25 26

Vgl. zum Folgenden K. Boehme, Gott aussäen, 164-176. M. Delbrêl, Frei für Gott, 15. Vgl. M. Delbrêl, Wir Nachbarn, 192-227.

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muss, hält wahrer Glaube ihr zufolge nicht nur der atheistischen Umgebung stand, sondern entwickelt sich sogar in ihr, weil er „durch Anfechtung echt bleibt“. So deutet Madeleine Delbrêl die von bestimmten kirchlichen Kreisen als gefährlich eingeschätzte Konfrontation als „Provokation“, die sie nicht als „Versuchung“ des Bösen, sondern als gottgewollte „Erprobung“ und als „Reflexhandlung zur Anbetung“ verstanden wissen will, die zu einem wahrhaftigeren und tieferen Glauben führt.27 Damit kann nach ihr das Verhältnis des Christen zu der Gott abgewandten Welt nicht im Rückzug, sondern muss in der Hinwendung bestehen. Die Versuchung, die durch den Atheismus an die Christen herantritt, stimuliert sie weder zur Flucht in die Innerlichkeit, noch zu einer noch ausstehenden Vertröstung, sondern zu einer starken Weltbezogenheit. Die Parallelen ihres Denkens zur dialektischen Philosophie ihrer marxistischen Umgebung sind hier unübersehbar. Wenn für diese der große dialektische Dreischritt ist: Kapitalismus (Thesis) – Diktatur des Proletariats (Antithesis) – Klassenlose Gesellschaft und gleiches Glück für alle (Synthesis), so entspricht das methodisch dem dialektischen Dreischritt, der sich nach Madeleine Delbrêl im Christen vollzieht: Der Atheismus (These) provoziert den Glauben (Antithese) zur Synthese einer innigeren Gottesbeziehung, welche mit allumfassender Gottes- und Nächstenliebe auch die Sendung zu den gottfernen Atheisten umgreift und damit universale Bedeutung erhält. „Heute realistisch glauben“, sagt sie, „heißt rasch glauben, fähig sein, den Glauben im beschleunigten Tempo der Verhältnisse anzuwenden.“28 Wie sehr ihr Glaube dieser von ihr geforderten Dynamik entspricht, beweist ihre Flexibilität, selbst aus ihrer atheistisch-marxistischen Umgebung fremdprophetische Anstöße für ihre christliche Weltoffenheit aufzugreifen.

3. Gebet und Einsamkeit Nicht nur die eben genannte dialektische Bewegung zwischen einer tiefen Glaubenserfahrung, der Begegnung mit Gott, die dann unweigerlich 27 28

Vgl. M. Delbrêl, Wir Nachbarn, 261-274. M. Delbrêl, Auftrag des Christen, 194.

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zur Sendung in das Dunkel des Atheismus führt, verhindert, dass sich Madeleine Delbrêl als Christin von der gottfernen Welt zurückzieht. Auch weil sie die Opposition von Gott und Welt im Christen selbst ansiedelt, entgeht sie der Gefahr einer dualistischen Weltsicht, die zur Folge hätte, dass sich der Christ von der Welt trennt. Für sie ist die Konfrontation von Christentum und Welt zuallererst ein sich im Inneren des einzelnen Christen vollziehender Prozess.29 Dies nicht anzuerkennen, dass jeder Christ zunächst selbst von diesem Widerspruch durchdrungen ist, käme einer Projektion der eigenen unausgetragenen Spannungen auf die Außenwelt gleich. Daraus entstünde die Gefahr, sich gegenüber einer vermeintlich feindlichen Außenwelt abzuschirmen und sich in einen privat-religiösen Binnenraum zu flüchten, weil die Berührungsängste mit der Welt nicht durch eine entschiedene Bekehrung überwunden wurden. Stattdessen macht Madeleine Delbrêl deutlich, dass sich die Auseinandersetzung zwischen Glaube und Unglaube nicht nur in der Gegenüberstellung von Christentum und atheistisch eingestellter Welt abspielt, sondern zunächst in jedem einzelnen Christen selbst zu suchen und dort auszufechten ist. Ein solcher spiritueller Ansatz fordert die Christen zu einer der jeweiligen Situation entsprechenden Überprüfung und neuen Bestimmung ihres Standortes heraus. Diese von Madeleine Delbrêl geforderte immer wieder neue Revision und Konversion macht die Christen dazu fähig, inmitten einer pluralistischen Welt den unterschiedlichen Anforderungen eines anspruchsvollen Alltags flexibel zu begegnen. Solches Christsein kann weitestgehend auf strukturelle Vorgaben und äußere Formen verzichten, da sich das Kriterium ihres christlichen Lebens nicht an der Einhaltung von bestimmten Verhaltensregeln, sondern an der Wahrhaftigkeit der persönlichen Gottesbeziehung misst. Weil Madeleine Delbrêl die Konfrontation zwischen Gott und Welt – die sie realistisch als „Kampf“ bezeichnet – in den Christen hineinverlegt, ist die Verwirklichung von Christsein unabhängig vom Ort: „Alle Straßen sind uns begehbar, in jeder Untergrundbahn kann man sitzen, alle Treppen steigen, den Herrn überallhin tragen.“30 Die Verbundenheit mit Gott ist nicht nur unabhängig vom Ort, sondern auch von der Zeit. Madeleine Delbrêl macht das in einem Vergleich 29 30

Vgl. zu diesem Prozess K. Boehme, Gott aussäen, 280ff. M. Delbrêl, Wir Nachbarn, 55.

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an dem geregelten Gebet des Ordensleben deutlich:31 Denn dieses ist „so geordnet, dass das Gebet darin ... seine bestimmten Stunden hat. Bei den Kontemplativen ist alles auf ein Maximum aktiven Gebets ausgerichtet. Um ,das Feuer zu unterhalten‘ ist der Aufwand an Zeit so beträchtlich, dass dazu sozusagen ganze Wälder abgeholzt werden müssen.“32 Während also früher die Spiritualität der Orden darin bestand, dass sie ganze Wälder an Zeit für das Gebet abholzten, müssen die Christen heute mit weniger Zeitaufwand ebenso intensiv das Feuer des Glaubens und der Liebe entfachen. Ebenso wie heutzutage kaum noch Holz oder Kohle zum Heizen verwendet wird, sondern mit Öl geheizt wird, muss sich auch das Gebet den heutigen Erfordernissen anpassen. Um aber „eine Öl-Schicht zu erreichen“, so führt Madeleine Delbrêl aus, „spielt die Ausdehnung keinerlei Rolle. Man braucht nicht Tausende Quadratkilometer abzuholzen, auch kein System unterirdischer Galerien anzulegen. Man bohrt senkrecht ein Loch, dessen Öffnung lächerlich klein ist, das aber so tief reicht, dass es die Ölschicht erreicht.“33

Heutiges Beten kann also nicht mehr über die großen Zeit-Räume und Zeit-Flächen verfügen – wie es noch die kontemplativen Orden können –, sondern speist sich aus einem winzigen, aber umso tieferen Zeit-Loch. Aus diesem winzigen Zeit-Loch also soll das Brennmaterial gewonnen werden, mit dem das Feuer des Glaubens unterhalten werden kann. Denn in unserem heutigen „städtischen Leben ist das Gebet nur [noch] durch Bohrungen möglich, wobei Intensität die Dauer ersetzt. Solch kräftiges und unsichtbares Hinabstoßen gelangt in der Tiefe zu Gott hin, in konzentrierten Momenten des Glaubens, der Hoffnung und der Liebe.“34 Kurze Gebetsbohrungen ermöglichen es Madeleine Delbrêl, selbst in einem noch so unruhigen Alltag mit Gott verbunden zu leben. Selbst noch so kurze Momente des alltäglichen Lebens, „während die Suppe langsam aufkocht, während wir beim Telefon auf den Anschluss warten, während wir an der Haltestelle nach dem Bus Ausschau halten, während

31 32 33 34

Vgl. K. Boehme, „Durch die Wüste der Massen“. Gebet in einem weltlichen Leben, in: Entschluss 49 (1994), 30-35. M. Delbrêl, Gebet in einem weltlichen Leben (Beten heute 4), Einsiedeln 1993, 81ff. M. Delbrêl, Gebet in einem weltlichen Leben, 81ff. M. Delbrêl, Gebet in einem weltlichen Leben, 81ff.

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wir eine Treppe hinaufsteigen, während wir im Garten für den Salat ein wenig Petersilie holen“,35 können zu ganz kurzen, aber deswegen um so intensiveren Momenten werden, in denen sich die Seele zu Gott erhebt. Auf diese Weise betont sie: Gebet „heißt nicht, Ihm ein, zwei oder drei Stunden Gebet zu geben. Sondern Beten bedeutet etwas Lebensnotwendiges wie Essen, Schlafen und Arbeiten.“ Eine Trennung von Kontemplation und Aktion kennt Madeleine Delbrêl daher nicht: Ja, es gilt immer zu beten, wie man nicht aufhört zu atmen, wie unser Atem sich unserer Beschäftigung anpaßt. Ein wahrer Konflikt zwischen Tätigkeit und Gebet existiert nicht; was uns zu ersticken droht, ist nur die Geschäftigkeit, weil sie uns „außer Atem“ bringt.36

Um so beten zu können, ist nach Madeleine Delbrêl die Bereitschaft vorausgesetzt, die Einsamkeit auszuhalten, die für eine Gottesbegegnung unbedingte Voraussetzung ist. Will der Gläubige also Gott begegnen, so zuallererst dort, wo er einsam ist. Denn „seine großen Begegnungen mit Gott hat der Mensch allein.“37 Daher besteht ein weiteres Kriterium der Mystik Madeleine Delbrêls darin, in einem ganz normalen Alltag die Zurückgezogenheit zu finden, die man für eine Gottesbegegnung benötigt. Sie vergleicht diese Alltagsmystik mit der Spiritualität der Wüstenväter: Nach Madeleine Delbrêl braucht die Gott suchende Seele nicht zu meinen, dass die Wüstenväter von damals dem Menschen von heute etwas an Gottesnähe voraus hatten: „Denn unsere winzigen Einsamkeiten sind gleich groß, gleich erregend und heilig wie alle Wüsten der Welt, derselbe Gott bewohnt sie, er, der die Einsamkeit heiligt.“ Aber sie gibt zu bedenken: Weil nur die Dichte einer Tür, nur die Kürze einer Viertelstunde den Zwischenhalt einer Einsamkeit von uns trennt, verweigern wir ihm seinen Ewigkeitswert, nehmen ihn nicht ernst, betreten ihn nicht wie eine einmalige Landschaft, in der Wesentliches uns offenbart werden kann.38

35 36 37 38

M. Delbrêl, Der kleine Mönch. Ein geistliches Notizbüchlein, Freiburg im Breisgau 1995, 92. M. Delbrêl, Frei für Gott, 44. M. Delbrêl, Die Liebe ist unteilbar, Freiburg im Breisgau 2000, 91. M. Delbrêl, Wir Nachbarn, 63.

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Für sie war selbst eine Menschenmenge, die zur Stoßzeit auf die Untergrundbahn wartet, eine in diesem Sinne „einmalige Landschaft“. Diese Menschenmenge bezeichnet sie als „Wüste der Massen“, in die man „wie in den weißen Sand“ eintaucht. Wie ein Eremit über die weite, weiße Fläche der Sandwüste blickt, so schauen die Christen heute oben an der großen Treppe zur Untergrundbahn ... zur Stoßzeit über eine Fläche von Menschenköpfen hin, ihre bebende Fläche von ... Mützen, Hüten, Haare jeglicher Farbe. Köpfe zu Hunderten: Seelen zu Hunderten. Wir ganz oben. Weiter oben und überall: Gott.39

Hier wird deutlich, dass Madeleine Delbrêl die Spiritualität der Wüstenväter auf die Situation des Christen im 20. Jahrhundert überträgt, denn sie sagt, dass „kein merklicher Unterschied besteht zwischen der Unabsehbarkeit von Sandkörnern und der Unabsehbarkeit versammelter menschlicher Leben.“40 Gerade die anonyme Menschenmasse, in der die eigene Einsamkeit oft so deutlich bewusst wird, ist für Madeleine Delbrêl der Ort, um Gott zu begegnen: „Durch die Wüsten der Massen macht der Christ sich auf, um seinem Gott zu begegnen.“41 Einsamkeit ist somit Ausdruck der Non-Konformität des Christen mit seiner säkularisierten Umgebung. Zugleich ist Einsamkeit die Vorbedingung dafür, stellvertretend für die Menschen des eigenen Umfelds vor Gott einzutreten. Sie gewährt dem Christen, eine Mittlerrolle zwischen Gott und der Welt einzunehmen. „Die Einsamkeit, der sich Gott so oft bedient, um sich großzügig dem Gläubigen zu schenken, scheint mir eine Art Sakrament für die Welt zu sein. Sie ist einer der tiefsten Risse, die dem Herrn und seiner Erlösung erlauben, durch uns hindurch in die Welt einzudringen.“42

4. Inkarnation des Evangeliums Die Kontaktfähigkeit der Christen mit der Welt fordert einen Maßstab, der die glaubwürdige Einheit der Christen garantiert. Dieser Maßstab ist

39 40 41 42

M. Delbrêl, Wir Nachbarn, 54. M. Delbrêl, Gebet, 115. M. Delbrêl, Auftrag des Christen, 167. M. Delbrêl, Die Liebe ist unteilbar, 91.

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das Evangelium. Christliche Begegnung mit der Welt darf kein unreflektiertes Geschehen sein, sondern hat sich immer wieder am Evangelium auszurichten. Die Art der Weltbegegnung, wie sie das Evangelium meint, steht ausdrücklich unter einem Anspruch; und zwar unter dem Anspruch der Sendung, das Reich Gottes zu verkünden (vgl. Mt 28,19). Weil Madeleine Delbrêl ihren sozialen Einsatz und ihr politisches Engagement immer wieder neu an dieser Forderung des Evangeliums maß, konnte sie sich sogar gemeinsam mit militanten Kommunisten für humane Ziele einsetzen, ohne deren Ideologie zu unterstützen oder ihr gar zu verfallen. Obwohl ihre Nächstenliebe bis zum Äußersten ging, wurde ihr Engagement nie zum Selbstzweck. Sie verstand ihren Einsatz als eine Handlung, die verdeutlichen sollte, was die Realität zugleich übersteigt und ihr innewohnt: das Reich Gottes. Weltbegegnung bedeutet daher, dass in jeder konkreten Handlung der einzelnen Christen die gesamte Botschaft des Evangeliums mit seinem universalen Anspruch sichtbar werden muss. Es verwundert daher nicht, dass sich Madeleine Delbrêl gegen partikuläre „Methoden“ in der Evangelisierung wendet. Ihre Mystik ist von dem johannäischen Gedanken geprägt, die umfassende Realität des Wortes Gottes „in sich Fleisch werden zu lassen“ (vgl. Joh 1,14). Dieser Begriff der Inkarnation war auch unter den Arbeiterpriestern verbreitet, um ihre priesterliche Präsenz an den Fließbändern von Renault inmitten des Arbeitermilieus zu umschreiben. Anders als viele Arbeiterpriester, die den Begriff der Inkarnation eng mit ihrem Priesterbild verknüpften, nimmt Madeleine Delbrêl den Inkarnationsbegriff auch für das allgemeine Priestertum in Anspruch.43 Im Unterschied zu einigen Arbeiterpriestern geht Madeleine Delbrêl nicht von der Priesterweihe aus, mittels derer der Priester befähigt ist, „sich“ in der Welt zu „inkarnieren“. Vielmehr überträgt sie den Begriff der „Inkarnation“ auf jeden getauften Christen und meint damit nicht das missionarische Verhalten des Priesters in der Welt, sondern das Verhalten des Evangeliums im Christen, also die „Fleischwerdung des Wortes Gottes in uns“, welche dann unweigerlich zu einem missionarischen Verhalten der Christen führt. Daher mahnt sie: 43

Vgl. zum Folgenden K. Boehme, Die Kirche als lebendiger Organismus. Zur geistlichen Berufung des Priesters und des Laien nach Madeleine Delbrêl, in: Geist und Leben 71 (1998), 179-193.

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Wenn wir unser Evangelium in den Händen halten, sollten wir bedenken, dass das Wort darin wohnt, das in uns Fleisch werden will, uns ergreifen möchte, damit wir – sein Herz auf das unsere gepfropft, sein Geist dem unsern eingesenkt – an einem neuen Ort, zu einer neuen Zeit, in einer neuen menschlichen Umgebung sein Leben aufs neue beginnen.44

Mit diesem mystischen Schriftverständnis kann sich der objektive Anspruch des Evangeliums in den subjektiven und weltlichen Rahmenbedingungen der einzelnen Christinnen und Christen verwirklichen, ohne an Sprengkraft zu verlieren. Das aktuelle Leben eines jeden Christen lässt die Aktualität der Frohen Botschaft lebendig bleiben. Weltoffenheit und Evangelium gelangen so im Leben der Christen in einen dynamischen Prozess, in dem sich Welt und Evangelium wechselseitig herausfordern. Dieser Herausforderung, die Madeleine Delbrêl als „einen normalen Gewaltzustand“ bezeichnet, müssen sich die Christen täglich neu stellen.45

5. Kirchliche Existenz Aber auch wenn das Evangelium der allgemeingültige Maßstab der Begegnung der Christen mit der Welt ist, so darf es nicht der Gefahr einer willkürlichen Auslegung durch den Einzelnen ausgesetzt werden. Dies wäre umso eher der Fall, je mehr der einzelne Christ sich auf seine ganz persönliche Beziehung zu Gott beschränkt. Madeleine Delbrêl hebt nachdrücklich hervor, dass der Christ nicht in der Nachfolge des Evangeliums stehen kann, ohne sich zugleich in Verbindung mit der nicht nur pneumatisch verstandenen, sondern sichtbaren Kirche zu wissen: „Evangelium, Leben der Kirche und Lehre können nicht ohne einander auskommen.“ 46 Ihre bewusste kirchliche Identität schränkte ihre Flexibilität und Weltoffenheit aber keineswegs ein. Aus der Befürchtung heraus, dass eine zu starke institutionelle Anbindung die missionarische Beweglichkeit ihrer Frauenequipe einschränken könnte, wollte sie explizit nur den 44 45 46

M. Delbrêl, Gebet, 18. Zum Apostolat als „normaler Gewaltzustand“ vgl. M. Heimbach-Steins, Unterscheidung der Geister, 93. K. Boehme, Gott aussäen, 284.

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Auftrag der Taufe leben. Eine weitere kirchliche Anerkennung – etwa als Säkularinstitut – lehnte sie ab. Gerade die kirchliche Identität der einzelnen Getauften war ihr folglich besonders wichtig. Denn die Laienchristen verwirklichen kirchliche Existenz gerade dadurch, dass die Kirche durch sie hindurch in einer Umgebung präsent wird, zu der die Kirche sonst keinen Zugang mehr hätte. Daher hebt sie immer wieder hervor, wie sehr die Kirche „der Anstrengung eines jeden [und einer jeden bedarf], damit ihr Gewand verrät, wer sie ist. Aber wenn sie sichtbar sein soll, so muss sie zuallererst sein, und sie ist durch jeden von uns.“47 Schon ihre Sprache verrät, dass Madeleine Delbrêl die Kirche nicht auf die eingeschränkte Sichtweise ihrer bloß institutionellen Strukturen beschränkt, sondern sich mit ihrer universalen Ausdehnung vernetzt weiß. (Aus diesem Grund hatte sie übrigens immer eine Weltkarte und einen Stadtplan von Rom auf ihrem Schreibtisch liegen.) Wo Individualisierung und Vereinzelung Identitätskrisen der Christen vorprogrammieren, weiß sie um die verbindende Dynamik der Kirche. Das macht sie in der Gleichsetzung der Kirche mit einem Stromnetz anschaulich: Die Christen sind in der Welt wie eine „elektrische Leitung“. Sie leiten das weiter, was die Welt weder in sich selbst trägt, noch aus sich selbst hervorbringen kann.48

Von daher wird auch verständlich, warum Madeleine Delbrêl sich mit aller Kraft für die Einheit in der Kirche einsetzt und sich in der Auseinandersetzung um das Verbot der Arbeiterpriester mit Briefen, Besuchen und Appellen an alle kirchlich zerstrittenen Parteien wendet, um jeweils Verständnis für die gegenteilige Position zu wecken. Denn die Einheit ist ihr unverzichtbar für den Auftrag der Kirche, Zeugnis von dem höchsten Glück der Menschen, Gott, zu geben. Vielleicht können die Solidarität und die Mystik Madeleine Delbrêls, die sich aus einer lebendigen Gottesbeziehung speisten, die sie beide im Sinne der inkarnatorischen Sendung mitten in der Welt des Alltags verwirklichte, und die sich im Gebet und in der Einsamkeit ihrer Wurzeln vergewisserten, um das Evangelium in sich selber Fleisch werden zu lassen und sich darin mit anderen Christinnen und Christen im Stromnetz

47 48

M. Delbrêl, Wir Nachbarn, 187. M. Delbrêl, Die Liebe ist unteilbar, 19.

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der Kirche verbunden zu wissen, einen Einblick in eine Mystik des Alltags geben, die auch Impulse für das Christsein im 21. Jahrhundert bereit hält. Denn: „… alles ist nur die Rinde einer herrlichen Realität, der Begegnung der Seele mit Gott in jeder erneuten Minute, die an Gnade zunimmt, immer schöner wird für ihren Gott…“49

49

Vgl. Anm. 9.

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Helga Kuhlmann

„Offener für die Kraft …, die durch dich wirken will.“ Dorothee Sölle – Mystikerin der Moderne? Das wichtigste und liebste unter ihren Büchern war für Dorothee Sölle Mystik und Widerstand; das teilt uns ihr Mann Fulbert Steffensky mit.1 Dorothee Sölle (30.9.1929-26.4.2003) war 67 Jahre alt, als es 1997 erschien. Wenige Jahre später, 2001, beginnt sie mit der Arbeit am Kapitel über die „Mystik des Todes“, das sie ins Buch nicht mehr hatte aufnehmen können. Die Fragmente dieses Buches sind posthum erschienen. Fulbert Steffensky charakterisiert die „Mystik des Todes“ als ihre Sterbevorbereitung, als ihre Auseinandersetzung mit der Endlichkeit und mit dem Tod.2 Geschrieben über Mystik, über das Leben und über die Liebe, die stärker sind als der Tod, hatte sie schon viele Jahre früher. Diese Themen ziehen sich durch ihr ganzes Werk. Neben dem Mystikbuch setzt sie sich in zwei Büchern, Die Hinreise, erschienen 1975, und Leiden, erschienen 1973, sowie in zahlreichen kleineren Texten mit diesen Fragen auseinander. Viele Motive, die im Mystikbuch begegnen, finden sich in weit älteren Veröffentlichungen. Es trifft also nicht zu, dass Dorothee Sölle die Mystik erst im Alter entdeckt hat. Simone Weil zählt sie neben Kierkegaard und Pascal zu denen, die ihr früh ermöglicht haben, sich von einem „angepaßten Christentum“ zu befreien und die Möglichkeit zu finden, eine bewusste „Theologie nach Auschwitz“ zu entwickeln.3 Die Gedanken Simone Weils und Thomas Müntzers, das Beten, das Reisen, das „aus dir selbst Herausgehen“ und das „sunder warumbe“, spezifisches 1

2 3

D. Sölle, Du stilles Geschrei. Wege der Mystik, in: U. Baltz-Otto/F. Steffensky (Hg.), Dorothee Sölle. Gesammelte Werke, Bd. 6, Stuttgart 2007, 383. Im Fortlauf des Textes werden in Klammern die Seitenzahlen dieses Bandes angegeben. F. Steffensky, Vorwort, in: U. Baltz-Otto/F. Steffensky (Hg.), Dorothee Sölle. Gesammelte Werke, Bd. 6, Stuttgart 2007, 383. „Ich (hatte) mir … seit dreißig Jahren Mühe gegeben, keinen theologischen Satz zu sagen, der Auschwitz außer Betracht gelassen hätte.“ D. Sölle, Sympathie. Theologisch-politische Traktate, Stuttgart 1978, 13.

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Dorothee Sölle – Mystikerin der Moderne?

Wahrnehmen und spezifisches Sprechen prägen das Mystikbuch und nehmen zugleich Ideen früherer Texte auf.

1. Methode des mittleren Weges Mit ihrem Mystikbuch überschreitet Dorothee Sölle eine konfessionelle Schranke. Im Protestantismus wurde und wird Mystik weitgehend noch immer allenfalls theologiegeschichtlich betrachtet und dann häufig ausschließlich in der vorreformatorischen Zeit und in der reformatorischen Täuferbewegung verortet. Erst in der Gegenwart ändert sich dies.4 Der Göttinger Theologe Albrecht Ritschl (1822-1889) hatte die Mystik in seiner „Geschichte des Pietismus“ als irrationale katholische Frömmigkeit verworfen. Sein Schüler Adolf von Harnack (1851-1930) folgte ihm darin; beide konnten sich dabei auf manche Äußerungen Martin Luthers berufen. Als evangelische Theologin schreibt Dorothee Sölle über Mystik in Sympathie mit mystischen Anliegen sowie mit Personen, die sie als Mystikerinnen und Mystiker würdigt. Sie dokumentiert Wege der Mystik, so der Untertitel ihres Buches, sie präsentiert und interpretiert mystisches Denken und mystisches Leben. Statt dass sie selbst zu mystischer Praxis anleitet und direkte Wegweisungen für die mystische Reise gibt, verbleibt sie auf einer Metaebene. Sie denkt über mystisches Denken, mystische Praxis und über die Biographien kleiner und großer Mystikerinnen und Mystiker nach. Dabei setzt sie sich zum einen direkt mit Mystiktheorien auseinander.5 Zum anderen nähert sie sich den von ihr vorgestellten Figuren und Texten mystischen Lebens dialogartig. Manche Inhalte der kommentierten und zitierten Texte hebt sie hervor, indem sie ihren Respekt oder ihre Bewunderung ausdrückt; an manchen zeigt sie, was sie von ihnen gelernt hat; andere befragt sie; manche veranschaulichen ihre eigenen Überlegungen. Überraschenderweise führt sie niemanden vor, um ihn zu kritisieren, sondern, wenn ich es recht sehe, tritt sie tatsächlich allen wohlwollend gegenüber. Sie sucht danach, was die

4

5

Neben der hier dokumentierten Ringvorlesung über Mystikerinnen der Neuzeit und Gegenwart an der FU Berlin im Sommer 2008 zeigen dies zahlreiche neue Veröffentlichungen. Vor allem im 3. Kapitel des Buches.

Helga Kuhlmann

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Texte auch dann, wenn sie zunächst fremd klingen, auch gegenwärtig noch Tragfähiges zu sagen haben. Ihre Methode versteht sie als mittleren Weg. Als ihre Lehrer für diesen Weg nennt sie den Religionswissenschaftler William James (37)6 und den Schriftsteller Aldous Huxley (34).7 Huxley unterscheidet drei Tore, die in die Mystik Einlass verschaffen können: den Weg von unten über praktische körperliche Übungen, den Weg von oben über abstrakte Spekulationen des Geheimnisses, und den mittleren Weg, in dem sich Geistiges und Physisches, Denken und Handeln begegnen und wechselseitig befruchten (34).

2. Inhalte der Mystik Dorothee Sölles Das Mystik-Konzept Dorothee Sölles möchte ich in sieben Punkten vorstellen: 1. Bedürftigkeiten als Ausgangspunkte mystischer Empfindlichkeit, 2. Leiblich-psychische Denk- und Gestaltungsformen, 3. Sprechen und Schweigen, 4. Praxis gemeinschaftlichen Lebens, 5. Zusammengehörigkeit von Beten und Tun, Mystik und Widerstand, 6. Selbstvergessenheit, 7. Ars moriendi als ars vivendi. Abschließend werde ich das Besondere ihres Konzepts aus meiner Sicht akzentuieren. 2.1 Psychische, soziale, spirituelle und leibliche Bedürftigkeiten als Ausgangspunkt mystischer Empfindlichkeit Mystik zeigt sich für Dorothee Sölle vor allem darin, eine Sehnsucht zu fühlen und zu teilen, und zwar leidenschaftliche Gottessehnsucht und Gottesliebe. Die als engagierte Kämpferin für Gerechtigkeit, Frieden und Befreiung von Unterdrückten bekannte Autorin, Rednerin, Theologin und Dichterin beschreibt am Ende des 20. Jahrhunderts die Relation zwischen den Menschen und Gott als Liebesverhältnis, in dem die Menschen Gottesliebe und Gottessehnsucht verspüren. Sölle ist der Auffassung, dass sich Menschen im Tiefsten ihres Herzens nach Gott sehnen, Gottes Nähe und Liebe suchen und daran leiden, wenn sie diese nicht 6

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Sölle zitiert ihn nach P. Mommaers, Was ist Mystik?, Frankfurt am Main 1979, 20, in: D. Sölle, Du stilles Geschrei, U. Baltz-Otto/F. Steffensky (Hg.), Dorothee Sölle. Gesammelte Werke, Bd. 6, Stuttgart 2007, 37. A. Huxley, The perennial philosophy, New York 1970.

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wahrnehmen können. Sie betont, dass Menschen dieser Liebesbeziehung fähig sind. Mit der Mystik erklärt sie sie für „gottfähig“ (68). Dass dies eine Gegenwartsanalyse bestimmen könnte und zudem eine protestantische, bleibt auch zwölf Jahre nach dem Erscheinen der Erstauflage des Mystikbuches anstößig, irritierend und aktuell. Zur Gottesliebe gehört, das fügt Dorothee Sölle immer schnell hinzu, weil sie Gott als menschenliebenden versteht, leidenschaftliche Menschenliebe. Gottes- und Menschenliebe stehen im Zentrum mystischen Lebens. Daher schließt für Sölle Mystik immer Leiden ein, mitfühlendes Leiden mit dem Leiden anderer Menschen. Eine mystische Perspektive nimmt die Situation so wahr, dass Leiden und Not erkannt und benannt werden. Sie kann daran nicht vorbeisehen. „Mystische Lebenswahrnehmung, mystische Schau ist … die unerbittliche Wahrnehmung der Zersplitterung des Lebens. Leiden an der Zersplitterung und sie unerträglich finden, das gehört zur Mystik.“ (16) Im Mitleiden spürt Sölle die Schmerzen der Leidenden: „Das Leiden macht empfindlicher für den Schmerz in der Welt.“8 In ihren frühen Texten begründet Sölle dieses Mit-Leiden christologisch, als Mitleiden am gegenwärtigen Weitersterben Jesu, das Christen aufgetragen ist, wenn sie die Passion Jesu ernst nehmen. Das „Gedächtnis des Todes Jesu“ sieht sie erst „erfüllt …, wo es im Weitersterben der Opfer erkannt wird.“9 In Spannung dazu, dass sie ihre theologische Entwicklung noch im Buch der Mystik des Todes so deutet, dass die Christologie bei ihr zurückgetreten sei (417), erläutert sie noch in diesem späten Text Compassion als Haltung mystischer Frömmigkeit christologisch. „Compassio bedeutet zunächst Mitleiden mit dem gekreuzigten Christus. … Ohne Compassio keine Auferstehung. Eine mystische absichtsfreie Bejahung der Liebe schließt die Annahme des Leidens ein.“10 Weil Liebe durch das Leiden der Geliebten schmerzlich berührt wird, schließt Lieben das Mit-Leiden ein. Dies denkt sie für menschliche wie für göttliche Liebe. In vielen ihrer Texte erwähnt Dorothee Sölle elementare Bedürfnisse der Menschen, die ihr begegnen. Dafür benutzt sie häufig die biblischen Bilder vom Hunger, vom Durst und vom Schreien und verwendet sie im 8 9 10

D. Sölle, Leiden, Stuttgart 1973, 154. D. Sölle, Leiden, 172. D. Sölle, Leiden, 185f.

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metaphorischen und zugleich im nicht-metaphorischen physischen Sinn. „In der ersten Welt (haben) wir sogar den Durst nach Gerechtigkeit vergessen“, so 1980 in Wählt das Leben.11 Den Brief eines Studenten in Die Hinreise deutet sie als „Schrei nach Gott“.12 Obwohl sie die Wohlhabenden wiederholt auffordert, Hungernde zu sättigen, bedenkt sie zugleich, dass Brot allein nicht sättigt. Die Not, kein Brot zu haben, spielt sie nicht gegen die Not aus, an der die an Brot Satten leiden. Beide Nöte benennt sie als Hunger, auf beide richtet sie ihre Aufmerksamkeit. Im Zentrum biblischer Texte steht ihrer Deutung nach der Tod, „vor dem sie (die Bibel, H.K.) Angst hat und der Angst macht, nicht der Exitus, an den wir meistens denken,“ sondern „der Tod, der ein sinnloses und leeres Leben bedeutet, der Tod in Beziehungslosigkeit, in der Angst, in der Sprachlosigkeit, in der Verlassenheit.“13 Daher verwundert es nicht, dass Sölle die der Mystik entsprechende Hermeneutik als „Hermeneutik des Hungers“ (73) entfaltet. Sie grenzt sie gegenüber einer in erster Linie kritisch fokussierten Hermeneutik des Verdachts ab, die auf Paul Ricoeur zurückgeht und die vor allem feministische Theologien weiter entwickelt haben. Weder beschränkt sich die Hermeneutik des Hungers auf die kritische Analyse von unberechtigten patriarchalen Herrschaftsansprüchen in den Texten noch reicht ihr – hier nimmt Sölle eine weitere Abgrenzung vor – eine ästhetische Hermeneutik, die auf die Wahrnehmung und Gestaltung von Phänomenen konzentriert ist. Im Unterschied zu einer nur ästhetisierenden Sehnsucht sucht die mystische Frömmigkeit essbares mystisches Brot (74). Dieses Brot sättigt die Armen, es befreit Unterdrückte, es heilt Kranke, es würdigt Entwürdigte, es schafft Rechtlosen Recht; zugleich stillt es die spirituelle Suche derer, die in der spirituellen Hungerkatastrophe der Ersten Welt dieses Brot notwendig zum Leben brauchen (73). Obwohl der Hunger im physischen und im spirituellen Sinn das bezeichnet, was Menschen dringend brauchen, deutet Sölle dieses Bedürfnis mit Kierkegaard nicht als Erweis eines Mangels oder eines Fehlers, sondern als Zeichen eines Potentials. „Gottes zu bedürfen“, so folgt sie Kierkegaard, bleibe des Menschen „höchste Vollkommenheit“ (69). 11 12 13

D. Sölle, Wählt das Leben, Stuttgart 1980, 9. D. Sölle, Die Hinreise. Zur religiösen Erfahrung. Texte und Überlegungen, Stuttgart 1975, 130. D. Sölle, Die Hinreise, 9.

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2.2 Psychisch-physische Gestaltungen als Ausdruck mystisch gedeuteten Lebens Sölle beschreibt Mystik als Theologie, die der Gotteserfahrung Ausdruck gibt und die tief in sie hineinführt. Daher stimmt sie der scholastischen Definition der Mystik als „Cognitio Dei experimentalis“ zu. Sie übersetzt dies als „Gotteserkenntnis aus der Erfahrung“ und kommentiert die Doppeldeutigkeit des „experimentalis“. Mystik geht den experimentellen Weg im doppelten Sinn. Sie basiert auf eigener oder imitierter „nachgefühlter“ Erfahrung, außerdem probiert sie Neues. Sie beschreitet unbekannte Wege, die nicht institutionell fixiert und abgesichert sind (69). Dabei betont Sölle vor allem die Seite der Glaubenserfahrung und der Glaubenspraxis und unterscheidet diese von nur reflexivem theologischem Denken,14 so dass man stellenweise den Eindruck gewinnt, sie schätze die Praxis höher als die Reflexion. Für die Gesamtheit ihrer Texte und auch für das Mystikbuch als Ganzes trifft dieser Schluss nicht zu.15 Ihre Kritik gegenüber Theorie und Reflexion ohne eine Verbindung zu Praxis und Erfahrung zielt vielmehr auf eine wechselseitige Angewiesenheit von Denken und Tun, Reflexion und Emotion, von Theorie und Praxis. In ihrer Konzentration auf die menschliche Gottesliebe gibt die Mystik in besonderer Weise den Gefühlen der Gottesliebe und ihren leiblichen Ausdrucksformen Raum. Sölle widmet in ihrem Mystikbuch auf der dunklen Seite dem Leiden, auf der hellen Seite der Erotik und der Freude eigene Kapitel, in die Mystik des Todes nimmt sie ein Kapitel über das durch Gottesliebe überwindbare Gefühl der Angst auf. Leiden und Mitleiden in der Form des Mitfühlens, der Compassion, wurden schon erläutert, Sölles Verständnis der Freude ist noch zu entfalten. Sölle verweist darauf, dass der Gewissheit mystischer Gottesbegegnung die Empfindung großer Freude entspricht. Daher bekommen ihre leiblichen Ausdrucksformen Jubel, Ekstase, Springen, Singen und Tanzen schon in der traditionellen Mystik zumindest als Bewegungen der Seele großen Raum. Sölle erinnert daran, dass schon die Mystikerinnen des Mittelalters diese Bewegungen nicht nur in ihrer Seele vollzogen haben. Sie präsentiert Lehrer aus dem Buddhismus, die das Gefühl der 14 15

Z.B. in ihrer Beurteilung des islamischen Mystikers Mansur al Halladj (60). Eines ihrer Bücher trägt den Titel „Gott denken. Einführung in die Theologie“, erschienen 1992 in Stuttgart.

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Freude in ihren Texten literarisch entfalten und die es in ihren psychischen und in ihren Körperhaltungen und -bewegungen zeigen. Voraussetzung und Kern der Freude ist die Achtsamkeit oder die Aufmerksamkeit, wie sie beispielsweise der buddhistische Vertreter der Friedensbewegung Thich Nhat Hanh präsentiert hat. Sölle versteht sie als wache Präsenz und „Einwurzelung im Hier und Jetzt“. Meditation und Atmen fördern diese Fähigkeit zur Präsenz (228). Sölle hat in ihrer eigenen Geschichte gelernt, dass es darum geht, diese Haltung vor allem im Alltäglichen, im Trivialen zu praktizieren. „Östliche Meditationspraxis … lässt uns in jedem Augenblick lebendig sein und nicht nur in einigen wenigen.“ Sie zitiert Thich Nhat Hanh: „Das Wunder ist nicht, auf dem Wasser zu wandeln, sondern auf der Erde zu gehen.“16 Freude verändert die Zeitwahrnehmung. Der Augenblick wird in seiner Kostbarkeit wahrgenommen und relativiert die Gegengefühle und -einstellungen, die Menschen beherrschen. Diese Achtsamkeit und Freude können als Kraft eines Trostes erfahren werden, der von Ängsten und Depression frei macht. Sölle verweist auf Franz von Assisi, der dies als Überwindung seiner Traurigkeit erfahren hat (239). In Aufnahme des Motivs aus 2 Kor 7,10 interpretiert sie die Traurigkeit der Welt als Angst und Depression, an die sich Menschen aber gewöhnt haben und in der sie am liebsten bequem verharren. In der Hinreise hält sie als Gegenwartsdiagnose fest: „Wir haben Angst davor, getröstet zu werden.“17 Neben diesen Gefühlen wendet Sölle sich bestimmten leiblichen und leibbezogenen Denkformen mystischen Lebens besonders zu. Alle beschreiben Körperhaltungen oder Bewegungen: das Reisen, das Tanzen, das Knien und das Stehen. Die mystische Reise als Denkform des Weges der Seele zu Gott und zu den Menschen hat sie in vielen Variationen reflektiert. Die mystische Reise der Moderne beginnt nicht im Negativen, im Mangel, sondern eigentlicher Ausgangspunkt ist das Staunen. Darin schließt sie Erschrecken ein. Es geht Sölle aber darum, dass die Sehnsucht, das Motiv zur Reise aufzubrechen, nicht stark genug ist, wenn es nicht schon erfüllt ist vom Wissen der Schönheit, der Güte des Wunderbaren, des Göttlichen.

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Thich Nhat Hanh, The Miracle of Mindfulness. A Manual on Meditation, London 1992, 12. D. Sölle, Die Hinreise, 37.

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Tanzen und Springen zeigen, dass die Freude in den Menschen wohnt, dass diese nicht nur die Stimmung der Freude über Gottes Nähe empfinden. Beide Bewegungsformen bringen ohne Worte Freude in Gott zum Ausdruck, die in der Nicht-Verbalität neben unbewegte Haltungen der wachen Aufmerksamkeit und der schweigenden Stille treten (235). Im Mystikbuch erinnert Sölle an den Tanz der mystischen Tradition zwischen der liebenden Seele und dem Bräutigam Jesus sowie an den gemeinschaftlichen Tanz der Gottliebenden (245). 2.3 Sprechen und Schweigen Für Dorothee Sölle gehört zur Mystik eine „neue“ Sprache (87), die auch das Unaussprechliche ausspricht. Schon diese Formulierung benennt das Paradoxon, dem diese Sprache gerecht werden will. Sölle hält diesen hohen Anspruch für gegeben und für unaufgebbar. In der Mystik werden Gottesbegegnungen und auch Gottesvereinigungen beschrieben, die trotz der sogar leiblich gefühlten Intensität immer davon wissen, dass Gott Geheimnis bleibt. „Die mystische Grundvorstellung von dem, was Sprache kann – nicht genug kann, aber unter keinen Umständen aufgeben kann –, orientiert sich am reinen Loben.“ (90) Dieses Loben besitzt Sölle zufolge die Qualität, das „ohne Warum“, das „sunder warumbe“ der Mystik Meister Eckharts und anderer darzustellen. Sie unterscheidet dies noch vom Danken, mit dem das Loben in der Liturgie oft vermischt ist, das aber bereits einen Zweck verfolgt (90). Loben spricht das freudige oder auch das erschrockene Staunen über das Wahrgenommene aus.18 Die Sprache der Mystik müsse absichtsfrei sein, sie dürfe die Worte, die sie ausspricht, nicht im Wort verobjektivieren, sie zu Gegenständen machen. Vermutlich hätte die Liebhaberin vieler Lieder des Gesangbuches nichts gegen den Gedanken einzuwenden, die Worte dieser Sprache vorzugsweise zu singen. Die Sprache der Mystik dient nicht dazu, sich die Welt anzueignen, sondern dazu, sich im Jetzt und Hier zu versammeln (225). Weil die menschliche Sprache prinzipiell zu beschränkt ist, die Gottesbegegnung zu kommunizieren, was ihre Aufgabe wäre, wählt die mystische Sprache Sprachformen der Poesie, rhetorische Formen der

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Während mir Zweifel darüber angebracht scheinen, ob im Loben nicht prinzipiell schon Dank enthalten ist, sieht Sölle hier eine Differenz.

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Negation und des Paradoxon oder aber noch radikalere Formen des Schweigens. Wenn es ein Verb für Mystik gäbe, wäre es beten, so Sölle (368). Dies differenziert sie dahingehend, dass sie als Formen mystischen Betens neben das Lobgebet das Dank- und das Fürbittgebet sowie die Klage und das Weinen stellt, während sie in der Mystik das Bittgebet modifiziert sieht (369). Statt eines Herrschaftsverhältnisses zwischen Gott und dem Menschen wird hier ein Liebesverhältnis vorausgesetzt. Mystisch zu beten, bedeutet im Einverständnis mit Gott zu beten. „Es gibt eine Selbstauslieferung des Menschen an die Gnade, die frei macht. Die geschieht im Sprechen zu Gott, in dem Anklagen gegen Gott und im Weinen in Gott, das zugleich Lob Gottes ist – trotz alledem.“ (370) Die Modifikation des Bittgebetes verstehe ich nicht als dessen Aufgabe, sondern als eine inhaltliche Ausrichtung des Betens auf den göttlichen Willen hin. Die dritte Bitte des Vaterunsers könnte dieser Haltung entsprechen. Im Gebet erkennt Sölle eine notwendige und unverzichtbare Artikulation der Gottesliebe, bei der bereits die Form des Betens Eigenes leistet. Auch ein Gebet ohne Worte, ohne Inhalt kann ein intensives Gebet sein. Im Schweigen sieht Sölle mit der Mystik eine wichtige Voraussetzung dafür, dass die göttliche Kraft in die betende Person eintreten kann. Die Wolke des Vergessens hilft, in die Wolke des Nichtwissens einzutauchen und berührt zu werden (220). 3.4 Mystik als Praxis gemeinschaftlichen Lebens Der Theologe und Soziologe Ernst Troeltsch unterscheidet in seinen Soziallehren drei Grundgestalten christlichen Lebens, die Kirche, die Sekte und die Mystik. Als Kirche bezeichnet er institutionell verfasstes Christsein für alle, dem eine Lebenspraxis entspricht, die nicht besonders rigide ist, die in den Alltag des Lebens hineinpasst, ohne Menschen in Konflikte aus Gründen der religiösen Überzeugung zu stürzen. Sektenchristentum meint die besonders engagierten Christinnen und Christen, die großen Wert darauf legen, ihr Christsein nach außen zu zeigen, sich von den lauen Christen zu unterscheiden, und ihr tägliches Leben durch ihr Christsein bestimmen lassen. Als mystisches Christsein bezeichnet er eine individuelle Form der Frömmigkeit, die auch vorbei an den institutionellen Formen des Kircheseins in der persönlichen Gottesbeziehung Erfüllung findet. „Die Mystik ist die Verinnerlichung und Unmittelbar-

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machung der in Kult und Lehre verfestigten Ideenwelt zu einem rein persönlich-innerlichen Gemütsbesitz, wobei nur fließende und ganz persönliche Gruppenbildungen sich sammeln können, im übrigen Kultur, Dogma und Geschichtsbeziehung zur Verflüssigung neigen.“19 Troeltsch hält ausschließlich die Kirche zur „großen Massenwirkung“ befähigt. Die Mystik bezeichnet er als „gern gepflegte Ergänzung von Kirchen und Sekten.“20 Er charakterisiert die Mystik so, dass in ihr das Gottesreich ausschließlich als innere Erfahrung des göttlichen Geistes präsent wird. Er geht davon aus, dass sich die drei Typen in allen Konfessionen historisch vermischen und nie rein auftreten. Die verfasste katholische Kirche kommt dem Kirchentypus am nächsten, die moderne Bildungsreligion der Mystik, die Sekte versteht er als Gemeinschaftsform der „Unterschicht“ und sieht sie gekennzeichnet durch eine rigide Ethik und durch die Überordnung des Gesetzes über die Gnade.21 Dorothee Sölle nimmt auf diese Unterscheidung Troeltschs nicht direkt Bezug, aber ihr Buch zeigt, dass auch sie Mystik so fasst, dass für ihre wesentlichen Gehalte institutionalisierte Formen der Kirche nicht notwendig sind. Sie geht auf zahlreiche Gestalten mystischen Lebens außerhalb und innerhalb der christlichen Religion ein. Sie findet Mystik in vielen christlichen Konfessionen und Gemeinschaften. Verfasste Kirchlichkeit und Mystik widersprechen sich bei Troeltsch und bei Soelle in vielen Aspekten. Für Soelle sind vor allem solche Gestaltungen mystischen Lebens interessant, die die solidarische Gemeinschaftlichkeit, wie Troeltsch sie eher der Sekte zuschreibt, und die individuelle Gottesbeziehung der Mystik verbinden. Sölle sieht Gemeinschaftlichkeit als Element mystischen Lebens. In diesem Anliegen weiß sie Troeltsch an ihrer Seite. In einer Passage ihres Mystikbuches grenzt sie sich u.a. mittels eines Verweises auf Troeltsch von Martin Bubers Auffassung der Mystik ab. Buber beschränkt Mystik auf die individuelle Gottesbeziehung.22 Sölle

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E. Troeltsch, Soziallehren, Bd. 2, Tübingen 1912, 967. Diese letzte Form christlichen Lebens, die schon Troeltsch in wissenschaftlich gebildeten Schichten ausmachte, hat der Münchener Theologie Trutz Rendtorff weiterentwickelt zum Gedanken eines Christseins außerhalb der Kirche. E. Troeltsch, Soziallehren, 967. E. Troeltsch, Soziallehren, 967. M. Buber, Ekstatische Konfessionen, Leipzig 1921, 6.

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meint demgegenüber, Mystik strebe von innen zur Gemeinschaft. Wenn Gott selbst „das Allermitteilsamste“ sei, wie sie Gott mit einem Ausdruck von Meister Eckhart beschreibt, könne die Einzelseele in ihrem Gotterleben nicht allein bleiben, sondern verlange nach Ausdruck, nach Mitteilung der Gewissheit, von Gott erfüllt zu sein (205). Die mystischen Frauengruppen, die sozialen Bewegungen des Mittelalters und die Erneuerungsbewegung osteuropäischer chassidischer Mystik haben diese Gemeinschaft intensiv gelebt. Diese Gruppen verstanden alltägliche Handlungen als Chance, die heiligen Funken zu entfachen, die in allen Dingen der Welt und in allen Menschen als verborgene Bestimmung wahrgenommen wurden. In diesen Gruppen war jede Person wichtig. Als ein Bild ihrer Gemeinschaft sahen sie die Leiter an, auf der jede Person eine Sprosse bildete und die zugleich jede Person hinaufgeht. Diese Gruppen sehen sich selbst als Lerngemeinschaften. In chassidischen Gruppen, in Beginengruppen und bei den Quäkern findet Sölle Elemente demokratischer Praxis. Alle sind hier gleichgestellt. Die Quäker, die Sölle als Bewegung moderner Mystik qualifiziert, stellen Frauen und Männer in der Predigt gleich; Quäker weigern sich auch im zivilen Alltag, sich Höhergestellten unterzuordnen (223). Wenn sich Soelle auch nicht explizit mit Troeltschs Unterscheidung von Kirche, Sekte und Mystik beschäftigt, so geht sie auf die Inhalte dieser Unterschiede in Aufnahme einer Unterscheidung Friedrich von Hügels zwischen Institutionalität, Intellektualität und Mystik ein. Für Soelle prägen alle drei Elemente Religionen einschließlich der christlichen. In der Tradition werden sie mit den Namen Petrus, Paulus und Johannes verbunden, die den historisch-institutionellen Katholizismus, den analytisch-spekulativen Protestantismus und die intuitiv-emotionale Mystik symbolisieren (17; 75). Für sie lässt sich eine von ihr als „wahre“ Mystik und als „Mystik des Lebens“ anerkannte Mystik daran erkennen, dass sie mit institutionellen Formen der Gemeinschaft verbunden ist und dass sie nicht nur auf Erlebnisse und Gefühle von einzelnen oder von Gruppen bezogen ist, sondern intellektuelle Klarheit anstrebt (76). Den Kern wahrer Mystik bestimmt Sölle als die „wirkliche Frömmigkeit“, die alle religiösen und konfessionellen Grenzen übersteigt. Sie stellt sich die Weltreligionen so vor, dass sie um ein Zentrum kreisen, das „Geheimnis der Welt“, die „Gottheit“ (77).

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2.5 Programm der Zusammengehörigkeit von Beten und Tun, von Mystik und Politik/ Widerstand Im Buch Leiden versteht Sölle das Sprechen noch als Vorstufe zum Handeln, und zwar als eine notwendige;23 im Mystik-Buch betont sie die Zusammengehörigkeit. Beten und Tun werden nun nebeneinander gestellt. Ich meine, dass ich nicht zu weit gehe, wenn ich im zweiten Mystik-Buch eine Umkehrung der Reihenfolge sehe. „Protest und Fügung, Rebellion und Bejahung, Aufruhr und Demut – ich brauche dieses altmodische Wort gern – gehören zusammen, sie können, so merkwürdig das klingt, Geschwister werden. Was die Demut ohne Aufruhr anrichtet, haben wir seit der Aufklärung gelernt. Ich denke, es ist jetzt an der Zeit zu lernen, was Aufruhr ohne Demut anrichtet.“ (28) Zumindest darin, was Sölle aktuell empfiehlt, gibt sie hier dem Beten den Vorrang. Wahre und falsche Mystik erkennt sie daran, ob die mystische Konzeption überhaupt eine Ethik ausprägt sowie an den Inhalten dieser Ethik. Wahre Mystik darf die Universalität Gottes nicht einschränken. Ob Mystik dies tut, zeigt ihre Wahrheit oder ihre Verfälschung. Der Nationalsozialismus konnte mystische Traditionen missbrauchen und die Ethik auf „Rassen“ begrenzen. Demgegenüber hält Sölle das Empowerment, die Befähigung aller und die Ausübung der eigenen Macht für wichtiger als die Selbsterkenntnis der Ohnmacht. Letztere führt in die Verzweiflung über die erkannte Ohnmacht, ersteres in das Selbst-Sprechen, in die Aktivität, in den Widerstand, auch in die Kommunikation, in die Gemeinschaft derjenigen, die aktiv werden, in die Gemeinschaft zwischen denen, die sich für andere einsetzen, mit denen, für die sie sich einsetzen. Sölle interpretiert das Aktivwerden der Menschen als Selbst-Aneignung ihrer Kräfte (259). Der Beginn, sich für etwas sichtbar einzusetzen, stärkt einerseits die Menschen, die dies tun. Zugleich zieht das Engagement andere an und strahlt aus, so dass sich die Gruppe erweitert. Sölle benennt einen Bruch, der in dieser Aktivität allerdings unausweichlich wird, den „Bruch mit der Gewalt, die so in mir lebt, dass ich mich ihr widerstandslos unterwerfe.“ In Entsprechung dazu, dass sie das Heraustreten aus der Ohnmacht als Prozess der Aneignung dessen hervorhebt, was in einer Person bereits verborgen da ist und was in einem schöpferischen Akt ans Licht 23

D. Sölle, Leiden, 94.

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gebracht wird, lenkt sie den Blick auch darauf, was im Inneren einer Person negativ geschieht, wenn sie die Kraft wachsen lässt. Sie trennt sich von einer Macht, die in ihr ist und der sie bisher gefolgt ist. „Der Schritt … schließt die Konfrontation mit der lebensfeindlichen Macht ein, er kostet etwas, er entzweit und verbündet neu.“ Darüber hinaus benennt sie einen weiteren Bruch, und zwar den mit dem Besitz. Ihrer Auffassung nach ist es nicht erforderlich, alle Verrücktheiten der Mystik nachzuvollziehen. Diese Verrücktheiten zeigen aber etwas, was für Sölle im christlichen Leben konstitutiv ist, dass sich das Wesentliche nicht kaufen und nicht besitzen lässt, sondern dass alle vor Gott und damit in ihren Augen in dem, worauf es im Leben und im Sterben ankommt, „nackt“ sind. Sie lässt Formen des Divestment ebenso gelten wie gerechtere Formen des Investment. Darüber hinaus erinnert sie an die notwendige Differenzierung zwischen denen, die arm sein wollen, und denen, die arm sein müssen (297). 2.6 Selbstvergessenheit, aber keine Selbstopferung „Das Ich zu vergessen ist notwendig“ (265). Davon ist Sölle überzeugt. Dies teilt sie mit der Mystik, hier scheint mir der Singular angemessen. Dorothee Sölle sieht die mystische Energie darauf konzentriert, das Eigene zu vergessen. Ebenso wenig wie die Mystik bleibt Sölle aber dabei stehen. Die Verbindung von „Gott-Gedenken und Ich-Vergessen“ begründet in ihren Augen den Erfolg der Mystik. Denn das Schauen auf etwas Anderes ermöglicht das Freiwerden von Fesseln, durch die das eigene Ich die Person einengt. Sölle sucht eine verstehende Interpretation, die ermöglicht, Ichlosigkeit nicht als abstrakte Forderung zu deuten. Sie meint, Ichlosigkeit sei keine Aufgabe, sondern „zuerst Glück“ (269). Freiheit ist ihrer Auffassung nach nicht zu gewinnen, ohne sich selbst von zerstörerischen und einengenden Bindungen zu lösen. Die schon seit dem Vater vieler Mystiker, Dionysius Areopagita (5. Jahrhundert), immer wieder beschriebene und erfahrene „Wolke des Vergessens“ bildet auch für Sölle eine Hilfe, sich selbst zu vergessen. Diese Wolke lassen Menschen zwischen sich und allem wachsen, was sie von Gott trennt, Gedanken, Gefühle, Besitz, Bindungen. Auf diese Weise können sie in die „Wolke des Nichtwissens“ eintauchen, die zwischen Gott und dem Menschen steht. In ihr geben sich Menschen ihrer Gottes-

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sehnsucht hin, in ihr können sie Ahnungen des göttlichen Geheimnisses erfahren (85f.). Eine andere Annäherung an eine positive Bewertung der Ichlosigkeit scheint ihr möglich, wenn sie als Chance gesehen wird, die Realerfahrung zu relativieren, dass Menschen gegenüber bestimmten herrschenden Mächten nichts sind (274). Juan de la Cruz fordert auf, dorthin zu gehen, „wo du nichts bist.“ Sölle sieht in der bewusst gesuchten Erfahrung der Nichtigkeit die Möglichkeit, sich des eigenen Nichts nicht zu schämen, sondern sich in dieser Erfahrung für das Nichts zu öffnen, „das alles werden will“ (275) Sie setzt aber auch Grenzen, benennt, wie sie sagt, ihr „Nein“ und ihr „Ja“ zur Forderung radikaler Askese (276). Mit manchen, aber durchaus nicht mit allen Freundinnen und Freunden der Mystik kritisiert sie bestimmte Formen intendierten Selbstverlusts und verweigert programmatischen Forderungen der Selbstverwerfung die Anerkennung und das Prädikat guten und gottgemäßen Lebens. In diesem Zusammenhang erinnert sie besonders an die lebensfeindliche Selbstaufopferung von Frauen. Als große Chance der Ichlosigkeit erkennt sie die Möglichkeit, offener zu werden für die Kraft, die durch dich wirken will (292). 2.7 Ars moriendi als ars vivendi Martin Luthers Schrift über die Bereitung zum Sterben24 setzt voraus, dass es Menschen möglich ist, sich auf das Sterben vorzubereiten. Die Mystik geht davon aus; die lange Tradition der ars moriendi in der Philosophie und in der Theologie nimmt hier eine Chance humanen Lebens wahr. Fulbert Steffensky nennt das Fragment zur „Mystik des Todes“ die Sterbevorbereitung Dorothee Sölles. Es ist müßig darüber zu spekulieren, ob er das auch gesagt hätte, wenn sie länger gelebt hätte, ebenso müßig, ob sie es selbst so gedeutet hätte. Sie hat in diesem Buch dem bevorstehenden Sterben ins Auge geschaut, ohne zu wissen, wann dies eintreten würde. Mir erscheinen die Mystik insgesamt und auch das erste Mystikbuch Dorothee Sölles sowie ihre früheren Beschäftigungen mit Fragen der

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M. Luther, Ein Sermon von der Bereitung zum Sterben (1519), in: K. Bornkamm/G. Ebeling (Hg.), Martin Luther. Ausgewählte Schriften, Bd. 2, Frankfurt am Main 1982, 15-34.

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Mystik als Anregungen, sich in die Kunst einzuüben, zu bedenken, „dass wir sterben müssen“ (Ps 90,12). Ich würde das steigern: Christliches Leben ist das Leben von Getauften, die sich in paulinischer Perspektive als Teilhabende am Sterben, am Tod und am neuen ewigen Leben Jesu, noch körperlicher als Glieder an diesem Leib verstehen. Mir ist klar, dass es nicht attraktiv ist, sich dies bewusst zu halten, dass das den meisten täglich auch nicht möglich ist und dass dies Lebensfreude verdunkeln kann. Dennoch meine ich, dass christliche Existenz in der Tiefe als ars moriendi und darin zugleich als ars vivendi zu begreifen ist. Darin sehe ich mich mit Dorothee Sölle und mit der Mystik einig. Religionen erfüllen nach Dorothee Sölle die Aufgabe, „Menschen in Grenzen einzuüben, Menschen an Grenzen zu erinnern, die Grenzen natürlichen Existierens … nicht zu verleugnen“ (429). „Einübung in die Sterblichkeit“ (428) lässt sich in der Religion lernen. Auch die mystische Reise ist ein Weg, auf dem das Ich stirbt. Allerdings gehört bei Sölle der Weg zurück ins Leben zu dieser Reise wesentlich hinzu.25 Sölle beschreibt ihr Ziel in der Mystik des Todes so, „Endlichkeit und ewiges Leben zusammendenken zu können“. Sie möchte „den Tod als einen ‚Ort‘ mystischer Erfahrung beschreiben, wie zuvor Natur, Erotik, Leiden, Gemeinschaft, Freude.“ In der Mystik des Todes kann sie dies nicht mehr zu Ende bringen. Ein ihr wesentlicher Gedanke ist, dass das Sterben wie das Gebären Anteil an der Passivität hat, die das Leben ausmacht (427). Ich gebe ihr in der Parallelität nicht recht, vor allem weil das Gebären und auch das Geborenwerden eine hohe Aktivität beider Beteiligter erfordert. Im Tod dagegen setzt sich, so sehe ich es – in meiner Unerfahrenheit – die Passivität durch. Bezeichnenderweise tritt er nicht selten erst dann ein, wenn eine Art Einverständnis der Sterbenden da ist, ihr Leben und sich selbst loszulassen, sich dem Tod – oder Gott – zu überlassen. Sölle möchte den Tod in den Rhythmus des Lebens einzeichnen. Sie möchte auch den Tod bejahen als einen Teil der Schöpfung. Der Gedanke der Unsterblichkeit der Seele erscheint ihr wie eine Verdrängung der Sterblichkeit. Auf den letzten Seiten ihres abgebrochenen Buches zur Mystik des Todes findet sie Gefallen daran, den Tod mit Teerstegen als einen dritten Geburtstag nach dem ersten und der Taufe 25

An dieser Stelle verweist sie auf die Weisung: „Sterbt, bevor ihr sterbt!“, die dem Propheten Mohammed zugeschrieben wird (61).

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als zweiten Geburtstag zu verstehen (452). Schon im ersten Mystikbuch kann sie mit dem spanisch-brasilianischen Bischof, Poeten und Befreiungstheologen Pedro Casaldáliga den Tod als Sakrament erhoffen, der verlangt, gut tanzen zu können (360f.). Die innere Ausrichtung der ars moriendi entscheidet über ihre Qualität. Sölles letzter Abschnitt in dem abgebrochenen Buch bringt die Motivation, die Bewegkraft mystischer Sehnsucht noch einmal klar auf den Punkt. Der Mensch der Mystik sucht nicht den Tod, sondern „er sehnt sich nach Gott.“ (455)

3. Besonderheiten der Mystikkonzeption Sölles Drei spezifische Kennzeichen der Mystiktheologie Dorothee Sölle sollen noch einmal besonders hervorgehoben werden: ihre Intention, die Mystik zu demokratisieren, ihre hierarchie-kritische Interpretation der Mystik und ihre Ankündigung der Mystik als Religionsgestalt der Zukunft. Ich schließe mit einigen Gedanken zur Frage, ob Sölle eine Mystikerin der Moderne sei. 3.1 Demokratisierung der Mystik als Programm Dorothee Sölle will die Mystik demokratisieren. Sie erläutert, was sie meint: Sie möchte „die mystische Empfindlichkeit, die in uns allen steckt, wieder zu … lassen, sie … aus dem Schutt der Trivialität“ ausgraben (16). Sie geht davon aus, dass in allen mystische Keime und mystische Wünsche verborgen sind. Einerseits werde zwar der mystische Wunsch, „das Ich loszuwerden, total negiert“ (264), andererseits aber lasse sich der Hunger nach mystischem und wahrem Leben ebenso wenig verdrängen wie „‚das von Gott‘ in uns“ (264), so meint sie. Sie ist davon überzeugt, dass „das von Gott … in uns“ (348) schlafe. Sie wählt dann den „mittleren Weg“, um ein Tor zu zeigen, durch das alle und nicht nur wenige Auserwählte gehen könnten. Parallel zur Demokratisierung strebt sie eine Antitrivialisierung an. Sie begreift alltägliche Tätigkeiten als Chance, in ihnen Freude und Schönheit zu empfinden. Von dem buddhistischen Mönch Thich Nhat Hanh lernt sie, dass selbst das Geschirrspülen als Tätigkeit erfahren werden kann, bei der Menschen sich fallen lassen können, so dass sie

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Gott Raum geben, zu ihnen zu treten (228). Die Ästhetik dieser mystischen Haltung konzentriert sich nicht auf spektakuläre, glanzvolle Kunstwerke, sondern würdigt das Kleine durch Achtsamkeit. Sie zielt darauf, auch im normalerweise Geringgeschätzten und im Alltäglichen Anlässe zur Freude zu entdecken. 3.2 Mystik als antihierarchische Kraft zwischen Menschen sowie zwischen Gott und den Menschen Mit dem antihierarchischen Impuls greift Sölle alte mystische Traditionen auf, gibt ihnen allerdings ein neues Gesicht. In mystischer Theologie werden nicht nur Menschen in differenten Positionen und unterschiedlichem Status wie Laien und Kleriker, wenig Ausgebildete und Studierte oder Frauen und Männer gleichgestellt, sondern auch Gott und die Menschen rücken sich sehr nah. In der Unio begegnet die Seele einer Person, dem Bräutigam Christus, auf einer Stufe, in einer Erfahrung, die den Worten zufolge körperliche und erotische Dimensionen hat. Auch wenn die Begegnung nicht erotisch geprägt ist, nehmen mystische Theologinnen und Theologen Gott so wahr, dass nicht nur sie selbst seiner Existenz, seiner Präsenz und Nähe bedürfen, sondern auch umgekehrt. Als Gewährsperson zitiert Sölle Angelus Silesius: „Ich weiß, dass ohne mich Gott nicht ein Nun leben kann. Wird ich zu nicht. Er muss von Not den Geist aufgeben.“ (144) In der Gott-Mensch-Beziehung ändern sich die Rollen von oben und unten, von Erstem und Zweitem, sie verschwinden. Keine Seite bleibt führend, keine gehorsam, sondern beide werden aus ihren Rollen befreit. In der langen Zeit ihrer theologischen Tätigkeit hält sich die theologische Erkenntnis Sölles durch, dass Gott die Menschen braucht. Daher kritisiert sie die Vater-Kinder-Metaphorik für die GottMensch-Beziehung als Verkindlichung, der eine erwachsene Mystik überlegen ist, in der sich beide auf gleicher Ebene begegnen. Auch von einer orthodoxen Spiritualität des Gehorsams (144) grenzt sich Sölle ab. Die antihierarchische Tendenz in der Gott-Mensch-Beziehung wird bei Sölle dabei weniger eingeschränkt als in vielen mystischen Ansätzen. Diese teilen zwar auch außerordentliche Begegnungen Gottes in unmittelbarer Nähe der Person oder gar in ihrem Körper mit, fordern aber daneben für ein angemessenes christliches Leben auch Haltungen des Gehorsams Gott und den Vorgesetzten im Kloster gegenüber und dokumentieren eine solche Praxis.

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Dorothee Sölle – Mystikerin der Moderne?

Die Faszination der Mystik erkennt Sölle in ihrer Konzentration auf die menschliche Gottesliebe. Menschliche Gottesliebe und die (menschliche) Liebe anderer Menschen sind in der Mystik und bei Sölle miteinander verwandt. Das Fundament der antihierarchischen Interpretation der Mystik bildet ihr Verständnis von Liebe. Liebe enthält für Sölle eine antihierarchische Dynamik, sie versteht sie als reziprokes Verhältnis. Beide Beteiligten einer Liebesbeziehung würdigen und schätzen sich in ihrem Anderssein gegenseitig, beide sind aufeinander angewiesen. In einer weiterführenden Überlegung erwägt Sölle, ob der Mangel an Mystik im Protestantismus „ein Mangel an gelebter Gegenseitigkeit“ sein könne (144). Er wäre dann auch ein Mangel an gelebter menschlicher Gottesliebe und an der Wahrnehmung göttlicher Menschenliebe. Ihre Haltung erläutert sie selbst als panentheistisch. Sie rückt die biblische Metapher ins Zentrum der Aufmerksamkeit, dass Gott in den Menschen ist und die Menschen in Gott, dass – neutestamentlich – die Gemeinschaft der Glaubenden „en Christo“ situiert ist. Entgotten Mystiker wie Silesius und Sölle Gott? Hat sich Gott nicht selbst entgottet in seiner Mensch- und Fleischwerdung in Jesus Christus? Mit dieser und anderen Gegenfragen könnte sie antworten. Hat Gott andere Hände als die unseren? Können wir theologisch – nach Auschwitz, diesen Anspruch hat sie nie aufgegeben – noch von der in die Geschichte rettend eingreifenden Macht Gottes sprechen? Auch die Gegenfrage ist zu stellen: Hat Sölle einen Sinn dafür, dass Gott die Not und das Elend der Menschen tragen und überwinden kann, die Menschen nicht tragen und überwinden können? Ist sie in der Lage, die theologisch in meinen Augen unverzichtbare qualitative Differenz zwischen Gott und Mensch zu denken, die darauf basiert, dass Gott in Christus am Kreuz in seiner Auferweckung des Gekreuzigten die Gewalt, den Tod und das Böse überwunden hat, die von Menschen nicht überwunden werden konnten und können? Sölles inkarnationstheologische Identifikationen menschlicher und göttlicher Hände, Füße, Worte etc. legen nahe, die menschliche Praxis der Liebe als Praxis des Göttlichen zu interpretieren. Bleibt da noch Raum für den Gedanken der Differenz zwischen Göttlichem und Menschlichem? Indem Sölle noch von Gottes Händen, Füßen etc. spricht, indem sie die theologische Perspektive und Sprache nicht zugunsten säkularer Perspektiven aufgibt, zeigt sie, dass sie an der Differenz festhält.

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Dennoch bleibt hier eine zentrale Anfrage an sie, die nicht nur aus nur theoretischen Gründen relevant ist oder um eine Traditionstreue oder Traditionsvarianz ihrer Theologie zu klären, sondern aus der Erfahrung und aus der christlichen, von vielen Nicht-Glaubenden geteilten Überzeugung heraus, dass die menschliche Kraft zu klein ist, das Böse, die Gewalt, die Ungerechtigkeit, die Sinnlosigkeit, den Tod zu überwinden, die Schmerzen zu lindern, die Krankheiten zu heilen, an denen Menschen leiden, und die Untröstlichen zu trösten. Christinnen und Christen leben von dem Versprechen und von der Erfahrung, dass Menschen sich in Gott fallen lassen dürfen, in ihn hineinfallen dürfen und in ihrer kleinen Kraft an der göttlichen großen Kraft partizipieren dürfen. Sölle antwortet auf diese Frage doppelt. Im Mystikbuch zitiert sie zustimmend Kierkegaard: „Des Menschen höchste Vollkommenheit ist es Gottes zu bedürfen.“ (444) Im Zusammenhang mit der „Hermeneutik des Hungers“ wurde darauf verwiesen. Später in der Mystik des Todes kritisiert sie diese Position. Sie wendet ein, dass Gott die Menschen brauche. „Aber Gott braucht auch uns, unseren Schutz, unseren Trost, unsere Wärme.“ (444) Hier betont sie die Gegenseitigkeit zwischen Gott und den Menschen. Sie zieht das besonders den Quäkern vertraute Bild der Freundschaft zwischen Gott und den Menschen dem elterlicher Liebe Gottes zu den Menschen vor. Aufschlussreich ist, dass sie im nächsten Satz anfügt: „Wir brauchen es, gebraucht zu werden.“ Wenn alle drei Sätze gelten, dass Menschen Gott brauchen und darin ihre höchste Vollkommenheit liegt, dass Gott die Menschen braucht, und schließlich, dass Menschen brauchen, nicht nur gebraucht, sondern gerade von Gott gebraucht zu werden, dann liegt darin, dass Gott Menschen so würdigt, dass er sie braucht, ein göttliches Entgegenkommen, ein Zeichen göttlichen liebenden Erkennens tiefster menschlicher Bedürfnisse. So könnte ich ihr zustimmen. Ich meine nicht, dass dies nur auf Kosten des Trostes und Schatzes christlicher Gotteserfahrung und erkenntnis festgehalten werden kann, dass sich in Christus die Liebe Gottes zur ganzen Welt inkarniert hat und dass sie in ihrer Fülle allem, was lebt, verheißen ist.

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3.3 Mystik als zukünftige Gestalt der Religion Vielleicht lässt sich nachvollziehen, dass Sölle in der Mystik die „zukünftige Gestalt der Religion“ (373) erkennt. Sie hält sie für überzeugungsfähiger, lebensförderlicher, begeisterungsfähiger und für in den Problemen des Lebens und des Lebens aller auf der Erde tragfähiger als institutionalisierte Kirchlichkeit. Andererseits stellt sie klar, dass immer drei Akzentuierungen zusammen die christliche Religion formen. Eine gute Form der Institutionalität, eine gute Form der Intellektualität und eine gute Form der Gottesliebe, die einerseits dem göttlichen Geheimnis Raum geben und andererseits Menschenliebe und Solidarität – notfalls auch einschließlich der Kosten eigenen Leidens und Konflikte mit den Mächtigen – umfassen, machen eine Religion auch in der Moderne weiter attraktiv und geben ihr ein genügend starkes Fundament. Für den Protestantismus hat Sölle die menschliche Gottesliebe wieder entdeckt und gestärkt. Sie öffnet Zugänge des Denkens, des Wollens und des Fühlens zur Gottesliebe und konkretisiert dies in der Beschreibung leibbezogener Denk- und leiblicher Gestaltungsformen. In dieser Hinsicht ist ihr Mystikbuch m.E. in der Literatur noch viel zu wenig gewürdigt worden. Sölles Stimme lädt dazu ein, eigene Gottessehnsucht zu spüren, Gottes Nähe und Gnade zu begehren. Sie findet Gehör, gerade weil sie nicht als Kirchenfunktionärin über die Gottesliebe spricht, weil sie die Fragwürdigkeit christlichen Lebens und christlicher Weltdeutung kennt und mit bedenkt, weil sie das Denken Gottes nicht von der Erfahrung und vom Fühlen Gottes trennt und weil sie ein christlich gedeutetes Leben nur dann für akzeptabel erachtet, wenn es bewusst und nach außen kenntlich mit dem praktischen Bemühen um Gerechtigkeit, Frieden, Befreiung und Solidarität verbunden ist. 3.4 Dorothee Sölle – eine Mystikerin der Moderne? Meine abschließende Frage, die nicht nur rhetorisch gemeint ist, lautet: Ist Dorothee Sölle selbst eine Mystikerin der Moderne, oder ist sie eine Theologin, die über Mystik nachdenkt? Meine These ist, dass sie beides ist, anders gesagt: dass sie sich in ihrem Nachdenken über Mystik als Mystikerin der Moderne zeigt. Auch von anderer Seite lässt sich die These bestätigen. Der Theologiehistoriker Ulrich Köpf geht davon aus, dass der Begriff der Mystik so

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unterschiedlich verwendet werde, dass eine allgemeine Bedeutung nicht vorausgesetzt werden könne.26 In der Neuzeit verändert sich Köpf zufolge das Verständnis von Mystik dahingehend, dass neben den Texten, die von Erfahrungen mystischer Gotteserkenntnis erzählen, auch die theologische Reflexion über diese Phänomene zur Mystik gehört. Damit holt der Mystikbegriff ein, was ihm zumindest partiell schon in den alten Texten inhärent war. Da mystische Gotteserfahrungen nie direkt zugänglich sind und immer nur als gedeutete kommuniziert und in Texten festgehalten werden können, ist vorauszusetzen, dass auch in die alten Texte Elemente theologischer Mystikreflexion eingeflossen sind. Darüber hinaus aber kann zwischen Texten über Mystik und mystischen Texten differenziert werden. Denn es ist ein Unterschied, ob sich die Texte selbst als Anleitung zur Gotteserfahrung oder als zu imitierende Erzählung eigener Gotteserfahrung verstehen, oder ob sie wie Sölles Texte „nur“ beanspruchen, den mittleren Weg zu beschreiten, d.h. in diesem Fall, einladend und plausibilisierend über mystische Erfahrungen und Texte nachzudenken. Auch Sölle scheint dieser Auffassung zuzustimmen. Sie ist davon überzeugt, dass man sich mit Mystik nicht beschäftigen könne wie mit anderen Inhalten. Sie meint, dass sich Menschen wieder erkennen, wenn sie mystische Texte lesen. „Mein Interesse an der Mystik ist nicht, die Mystiker zu bewundern, sondern sich von ihnen erinnern zu lassen und das Innere Licht täglich so deutlich wie nur möglich zu sehen: Es ist auch in mir versteckt.“ (22) Weil sie dies nicht allein stehen lassen kann, füge auch ich ihre Worte hinzu: „Ich kann die Liebe Gottes nur sehen, wenn ich Teil von ihr werde!“ (23) Das geschieht, so sieht sie es, indem Menschen, indem wir offener für die Kraft werden, die in uns wirken will.

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Ulrich Köpf, Mystik 3. Christliche Mystik: Religion in Geschichte und Gegenwart 5, Tübingen 42002, 1659-1671.

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Lernen als Akt der Mystik 1. Eine längere Einführung Die Überschrift dieser Einführung enthält Begriffe, die sich vielleicht auf den ersten Blick nicht so recht zusammenfügen wollen. Da ist zunächst der Begriff des Lernens. Dieses Wort der deutschen Sprache, das die passive Form zu lehren bildet, ist schon lange nicht mehr ein Wort, das sich nur mit guten Gefühlen verbindet. Das Schlagwort vom „lebenslangen Lernen“ etwa erinnert nicht nur daran, dass Lernen sprachwissenschaftlich zur Wortgruppe von „leisten“ gehört, sondern auch daran, dass Lernen eine notwendige Aufgabe ist, um das moderne Leben mit all seinen Veränderungen zu bestehen, und auch durchaus daran, dass es Warencharakter gewonnen hat. Merkwürdig genug, erscheint es so, als spräche der Prediger auch hier wieder vielen aus der Seele: „Denn wo viel Weisheit ist, da ist viel Grämens; und wer viel lernt, der muss viel leiden.“ (Pred 1,18) Hier erklärt sich Lernen durch die weiteren Substantive: Akt und Mystik. Damit ist zumindest klar, dass Lernen in einem bestimmten Kontext verstanden wird. Es ist ein aktives Handeln und eine Praxis mit Bezug auf das, was man Mystik nennt. Dabei wird Lernen ausdrücklich nicht etwa als Weg zur Mystik verstanden, als sei es gleichsam vorbereitend. Lernen wird vielmehr als ein in sich mystisches Ereignis aufgefasst. Dass hier Lernen als ein individuelles Tun beschrieben wird, hat seinen Grund in der Abgrenzung von anderen Modellen. Zwar ist es auch in dem zu entwickelnden Modell denkbar, dass man sich an einen Lehrer wendet, aber es ist nicht zwingend erforderlich. Darin liegt der Unterschied zu fernöstlichen Wegen der Mystik. Auch für christliche Mystik gilt 1 Tim 2,5: „Denn Gott ist einer, und einer Mittler zwischen Gott und Menschen, der Mensch Christus Jesus.“ Insofern Mystik im Letzten die tiefste Sehnsucht nach dem Innewerden mit Gott bedeutet, hat sie ihren Ermöglichungsgrund in dem, den Christen als den Sohn Gottes glauben. Er ist Mittler und Lehrer dieser Erfahrung der Anheimgabe an Gott, weil er sie selbst gelebt hat. Und so es an Vertrauen in sich selbst und seine

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eigene Fähigkeit mangelt, kann man sich gewiss auf Paulus verlassen und auf seine Zuversicht: „Es kommt aber auch der Geist unserer Schwachheit zu Hilfe.“ (Röm 8,26) Unter diesem Aspekt vermag man durchaus zu sagen, dass christliche Mystik hineinführt in das trinitarische Geheimnis Gottes selbst. Damit ist aber zugleich gesagt, dass die mystische Entgrenzung des Individuums ein Ziel hat. Es ist nicht die völlige Leere, nicht die Öffnung für das Nichts, sondern immer die Entgrenzung hin auf Gott, von dem es in Jer 23,23 heißt: „Bin ich nur ein Gott, der nahe ist, spricht der HERR, und nicht auch ein Gott von ferneher?“ Unschwer ist an den Bibelzitaten zu merken, dass als Gegenstand des Lernens die Schrift, das Wort Gottes, vorausgesetzt wird. Und so sei an dieser Stelle gesagt, dass das Herzstück damit benannt ist, nämlich der Glaube selbst. Die Schrift, die Bibel, besitzt keinen Evidenzcharakter, der sie von anderen Texten unterschiede für Leser, die nicht um den besonderen Wert des Textes wüssten. Die Wahrnehmung der Schrift als Wort Gottes ist jedoch im Glauben wiederum evident. Näherhin: Dass die Schrift Wort Gottes ist, bezeugt sich im Akt des gläubigen Hörens, der wiederum nur möglich ist, weil man im Glauben die Schrift als Wort Gottes ergriffen hat, aber sich auch von ihr ergriffen weiß. Glaube und Anerkenntnis der Schrift als Wort Gottes sind zwei Prozesse, die einander ermöglichen und bedingen. Der Glaube weiß mit Gewissheit um die Besonderheit des Wortes Gottes. Nur bedarf diese Gewissheit, um die Heiligkeit zu erkennen, des Annehmens der Schrift als Wort Gottes. Bei dieser Rezeption findet ein bemerkenswerter Verschmelzungsprozess statt: Obwohl die Texte aus einer Zeit sind, die lange vergangen ist, sind sie doch wieder gegenwärtig in dem Gemeinsamen, was sie bezeugen, nämlich im Glauben an den Einen Gott und seine Geschichte mit den Menschen.

2. Vom Murmeln der Weisung – ein biblisches Lehrstück Um zu erläutern, was es bedeuten kann, Lernen als Akt der Mystik zu verstehen, kann die Heilige Schrift selbst eine Antwort geben. Es ist der erste Psalm, der das Psalmenbuch eröffnet und es zu einem Buch der frommen Weisheit werden lässt. Der Text des Psalms entwirft und dokumentiert zugleich ein neues Lebensideal: Lernen als Frömmigkeit. Obwohl der Tempel noch steht, ist das Lernen der Schrift der beherrschende Ort der religiösen Erfahrung geworden. Hier findet man den

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Gerechten (zadik) nicht bei Frevlern, Sündern und Dreisten. Er lebt in Opposition zu dieser Lebensform, die inhaltlich durch die Verneinung seines Weges bestimmt ist und eindeutig als negativ qualifiziert wird. Die Lebenspraxis des Gerechten dagegen ist eine völlige Hingabe an die Weisung des Herrn, in der er seinen Lebenssinn findet, an der und aus der ihm Freude wird. Wenn vom „Murmeln“ die Rede ist, erinnert dies zunächst daran, dass die Kunst, lautlos zu lesen, relativ spät auftritt. Es wird vom heiligen Ambrosius berichtet, dass die Menschen kamen, um ihm dabei zuzusehen, dass er ein Buch las, ohne die Lippen zu bewegen. Freilich geschieht dieses Murmeln auch, um sich den Text anzueignen, ihn zu memorisieren. In einer Zeit, in der die Bücherproduktion unermesslich kostspielig war, wurden Texte aufgeschrieben, um auswendig gelernt werden zu können. Beim Gerechten des Psalms umfasst diese Tätigkeit sein ganzes Leben. Es ist bei Tag und Nacht durchdrungen von den Worten der Weisung des Herrn. Und indem so sein ganzes Leben um das Wort Gottes kreist, stellt er eine Nähe zum Sprecher dieser Worte selbst her, nämlich zu Gott. Die Schrift wird so zum Medium der Gottesbegegnung selbst. Der Ps 119, der mit Ps 1 den gleichen Ursprung hat, stellt das Verhältnis sehr schön dar. Zu Anfang heißt es: „Mit meinem ganzen Herzen habe ich dich gesucht: Lass mich nicht abirren von deinen Weisungen!“ Und im Schlussteil wird formuliert: „Ich bin umhergeirrt wie ein verlorenes Schaf; suche deinen Knecht! denn ich habe deine Weisungen nicht vergessen.“ Der Gott suchende Mensch muss sich von Gott finden lassen. Orientierung in diesem Prozess bieten die Weisungen, die den Menschen wieder entdecken lassen, dass er der Zuwendung Gottes bedarf. Im Lernen der Schrift wird man inne, dass man auf Gott verwiesen ist und bleibt. In Ps 1 liegt mithin das Grundmodell des Lernens als Akt der Mystik vor. Lernen meint im Kontext der Heiligen Schrift durchaus eine intellektuelle Annäherung. Es bedarf des Verstehens des Textes, seiner gedanklichen Durchdringung. Dabei ereignet sich ein dialogisches Geschehen zwischen Lesendem und Text: Man erschließt sich den Text, um sich für ihn öffnen zu können. Es ist, wie die Vulgata mit Recht übersetzt, eine Meditation, die aber nicht von der Reflexion absieht. Getragen wird dieser Prozess vom Glauben an die Wirkmächtigkeit des Wortes. Im Akt der mystischen Ergreifung des Wortes Gottes, erweist es

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sich selbst wieder als mächtig, als das von außen kommende Wort, das aber zum inneren Wort wird. Dieses Wort nun wird vom Gerechten ohne Unterlass „gemurmelt“. Nun ist hier im Hebräischen eine Assoziation möglich, die im Deutschen nicht leicht erkennbar ist. Dazu muss man wissen, dass die alten Sprachen keine Worte kennen, um Tierlaute zu benennen. So gab es beispielsweise für das Schnurren der Katze oder das Bellen des Hundes keine eigenen Worte. So findet sich in Jes 31,4 der Satz: „Gleichwie ein Löwe und ein junger Löwe murmelt über seinen Raub.“ Mit Erich Zenger, dem Großmeister der Psalmenauslegung, wird man annehmen dürfen, dass hier eine gewisse Verbindung besteht. Das Betrachten der Schrift ist tatsächlich eine Verinnerlichung: Sie wird ganz und gar aufgenommen. Dass der Mensch nicht nur vom Brot allein lebt, wusste der Beter des Ps 1 bereits. Es ist die mystische Erfahrung, die der Prophet Jeremia erlebte: „Dein Wort ward mir Speise, da ich's empfing; und dein Wort ist meines Herzens Freude und Trost; denn ich bin ja nach deinem Namen genannt; HERR, Gott Zebaoth.“ (Jer 15,16) Die Hingabe an die Schrift, und zwar als Lernender, gehört zu den ältesten mystischen Übungen des Judentums und des Christentums. Es war und ist der Ausdruck des Vertrauens auf die Gabe Gottes. So sind aus den Schriften der Wüstenväter folgende Sentenzen überliefert: „Ein Bruder fragte Abba Sisoes den Thebaner (†429): ,Gib mir ein Wort!‘, und er antwortete: ,Was soll ich dir sagen: Ich lese das Neue Testament und wende mich zum Alten.‘“ Und von Antonios dem Großen wird berichtet: „Jemand fragte Abba Antonios (250-356): ,Was muss ich tun, um Gott zu gefallen?‘ Der alte Mann erwiderte: ,Gib acht, was ich dir sage: Wo immer du bist, habe Gott vor deinen Augen, was immer du tust, tue es in Übereinstimmung mit den Zeugnissen der Heiligen Schriften.‘“ Beide Überlieferungen bezeugen die Schrift als Weg zu Gott. In der ersten Sequenz ist es ein Mitbruder, der nach einem Wort – hiermit ist ein Weisheitswort zum gläubigen Leben gemeint – fragt. Er wird jedoch beschieden mit einem Verweis auf die Praxis des Weisen: die Schrift lesen. Dies ist alles, was man tun muss. Mehr bedarf es nicht, um ein Leben in und mit Gott zu leben. Die zweite Erzählung hat gewisse humoristische Züge. Als Hintergrund muss mitbedacht werden, dass die Wüstenväter, die der Welt entfliehen wollten, immer wieder von der Welt eingeholt wurden. Neugie-

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rige und Ratsuchende belagerten sie geradezu. So tritt jemand zu Antonios dem Großen und stellt eine schlichte und doch komplizierte Frage. Aber genau diese Frage wird beantwortet aus dem Grund eben dieser Frage selbst: Gott und die Schrift. Beide gehören zusammen und bilden eine Einheit, die, nimmt man sie ins Leben hinein, zu einem Leben mit Gott führen. Die Frage ist gleichsam überflüssig, da, so könnte man sagen, die Antwort vor Augen geschrieben liegt. Immer wieder begegnen uns in der Geschichte der Kirche Menschen, die sich ganz mit der Schrift vereint haben, um aus ihr zu leben. Es seien zwei gegensätzliche Männer hier stellvertretend genannt: Franz von Assisi und Ignatius von Loyola. Trotz aller Unterschiede sind sie in einem gleich: Sie haben durch langes Lernen die Schrift zu einem solchen Element ihres Lebens gemacht, dass sie ganz aus und mit ihr leben. Bei Ignatius finden wir die Spuren in seinen Exerzitien, die weitgehend eine Versenkung in die Schrift sind. Bei Franziskus lässt sich seine Vertrautheit und sein Vertrauen auf die Schrift in dem fast rührend zu nennenden Versuch erkennen, eine Ordensregel nur aus Zitaten aus der Schrift zu formulieren. Das war ihm genug, und er glaubte fest, auch allen anderen.

3. „Herr, hast du ihn weggetragen, so sage mir, wo hast du ihn hingelegt, so will ich ihn holen.“ – Suche nach dem Wort Gottes Mit Zuversicht können wir davon sprechen, dass die Schrift Gottes Wort ist. Aber wie spricht Gott in der Schrift? Zunächst ist festzuhalten, dass die Worte Gottes, wie die Schrift sie aufbewahrt, selbst als Text im Text erscheinen. Auch wenn Amos, der älteste Schriftprophet, eine eigene Formel einführte, um seine Worte von Gottesworten zu unterscheiden – so etwa Am 1,6: „So spricht der HERR: Um drei und vier Frevels willen Gazas will ich ihrer nicht schonen, darum dass sie die Gefangenen alle weggeführt und an Edom überantwortet haben“ – so sind es Gottesworte in menschlicher Gestalt. Sind sie dann aufgezeichnet, verändert sich ihre Form nochmals. Sie sind nicht lebendiges gesprochenes Wort, sondern sie sind geschriebenes Wort. Dass sie lebenmachendes Wort sind, kann man aber wiederum am Glauben ablesen. Gleichwohl ergeht zumindest im Glau-

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ben auch in dieser Form das Wort Gottes als Gehorsam und Glauben forderndes Wort. Dass dieser Satz Anspruch auf Wahrheit hat, bezeugen der Glaube und die Gemeinschaft der Glaubenden, die ecclesia. Wer diese Wahrheit anerkennt, ist bereits Glaubender, d.h. das Wort ist bereits Wort Gottes an ihm bzw. an ihr geworden. Die Schrift kann als Wort Gottes bezeichnet werden, weil in ihr Gott geglaubt in vergangenen Zeiten gegenwärtig gültig spricht. Indem die Schrift von der Geschichte Gottes mit seinem Volk und seiner Schöpfung erzählt, erinnert sie die unendliche Treue Gottes zu denen, die an ihn glauben. Zugleich realisiert sich in diesem Akt des Glaubens aber auch, dass das Wort ein Wort voller Kraft ist. Das Wort Gottes ist nicht statisch, sondern aktiv. Eine der besten Stellen hierfür steht beim Evangelisten Lukas: Der Engel sagt zur Jungfrau Maria: „Nicht kann ein Wort von Gott her unwirksam sein.“ (Lk 1,37) Ein Wort von Gott kann nicht folgenlos sein; es ist als wirkendes Wort da. Deswegen antwortet Maria bei Lukas dann auch: „Es geschehe mir nach deinem Wort.“ Wieder und wieder wird man auf die enge Beziehung von Glauben und Wort Gottes verwiesen. Die Verschränktheit ist nicht aufzulösen. Freilich haben die Kirchen versucht, sie zu verobjektivieren. Der Grund ist gewiss der, dass die Gefahr der Individualisierung sonst zu groß wäre. Der eine Weg geht gleichsam den der Sanktifikation: Die Kanonisierung spricht dem Text Gültigkeit zu; damit ist zunächst etwas über die Gültigkeit des Textes in einer bestimmten Kirche ausgesagt; zugleich aber wird das Wesen der Kirche mit diesem Text verbunden. Der Text ist konstitutiv, weil er die Möglichkeit und den Ursprung der Kirche selbst bezeugt. Ein anderer Weg ist die Inspirationslehre, die eng mit dem Mythos des Anfangs verbunden ist. Der Begriff ist keineswegs abfällig gemeint: Vielmehr teilen auch die christlichen Kirchen den Glauben, dass dem Anfang eine ganz besondere Gottesnähe innewohnt. Die Zeit des Lebens Jesu ist als die Gegenwart des göttlichen Logos eine besondere Heilszeit, in der das Heil gegenwärtig war. Und hier tut sich die theologische Begründung für das Lernen als Akt der Mystik auf: Es führt zum fleischgewordenen Logos, zu Christus selbst. Es ist der Satz aus Joh 1,14, der dies ermöglicht: „Und das Wort wurde Fleisch und zeltete unter uns; und wir schauten seine Herrlichkeit, eine Herrlichkeit des einzigen Sohnes vom Vater, voll Gnade und Wahrheit.“ Dann meint Wort Gottes – in besonderer Beziehung zum Johannesevangelium – Jesus Christus als das endgültig geoffenbarte Wort Gottes. Die Worte Jesu Christi sind Worte Got-

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tes selbst und als solche mündlich weitergegeben und schriftlich aufgezeichnet worden. Daher enthält das Neue Testament das Wort Gottes in besonderer Weise. Jesus Christus als das Wort Gottes ist zum geschriebenen Wort geworden. Es gibt keinen anderen Zugang zu ihm. Durch die Schrift und in der Schrift begegnet man Jesus. In einem Brief, den der Märtyrerbischof Ignatius im zweiten Jahrhundert schrieb, heißt es: „… es (gibt) einen Gott, der sich geoffenbart hat durch Jesus Christus, seinen Sohn, der sein aus dem Schweigen ausgegangenes Wort ist …“ (Magn 8,2) Und da Jesus Wort Gottes im Wort der Schrift ist, ist das Lernen der Schrift Zugang zum Mysterium Gottes in Jesus Christus. Dieses Wort kann befragt, betrachtet und verinnerlicht werden. Es ist die Eröffnung eines Dialogs, in dem ein Schweigen nicht möglich ist, da die Schrift als Gottes Wort je gegenwärtig spricht. Dass dieses Lernen auch Wissen beinhaltet, ermöglicht das innere Gespräch zwischen Vernunft und Glaube. Der Mensch, der darum weiß, dass er seinen Glauben dem lebendigen Wort Gottes verdankt, findet im Lernen der Schrift immer wieder den Zugang zu seinem Glauben neu. Da es sich hierbei nicht um einen abgeschlossenen Prozess handelt, ist es tatsächlich lebenslanges Lernen, und zwar ein notwendiges und notwendendes Lernen für das Leben. Für die mystische Versenkung in die Schrift gilt, was nach den Worten des II. Vatikanums für die Kirche insgesamt gilt: „… denn die Kirche strebt im Gang der Jahrhunderte ständig der Fülle der göttlichen Wahrheit entgegen, bis an ihr sich Gottes Worte erfüllen.“

4. Kurze Vorschläge unter Anleihe bei Madeleine Delbrêl Sich in diesem Kontext auf Madeleine Delbrêl zu berufen, die Mystikerin der Straße, wie sie genannt wird, ist nicht ganz einfach, da sie, anders als oben dargelegt, eine rein anbetende Aneignung der Schrift für möglich hält. Allerdings hat Madeleine Delbrêl selber den Erweis erbracht, dass sie intellektuelle Schärfe und mystische Einfühlung miteinander verbinden kann. Daher erscheint es doch erlaubt, einige Anleihen bei ihr zu machen. 1. Schritt: Man wähle einen Bibeltext und zwar möglichst einen, der einem immer schon fremd oder widerspenstig war. Diesen Text lese man mehrfach in verschiedenen Übersetzungen.

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2. Schritt: Man entscheide sich, ob man den Text daraufhin befragt, was er sagt, oder ob man ihn daraufhin befragen will, was er einem selbst sagt. In beiden Fällen aber ist es notwendig, sich zu vergegenwärtigen, dass der Text aus einer Welt stammt, die der unseren sehr, sehr fern ist. Man wird nicht umhin können, sich zumindest in Ansätzen mit dem, was einem völlig unbekannt ist, zu beschäftigen. (Wer über den historischen Jesus nachdenken will, sollte wissen, was die heilige Jungfrau Maria zu Mittag gekocht hat.) 3. Schritt: Dieser Schritt des Lernens bedarf einer Ruhe und einer Verinnerlichung des Textes. Man ist wohl beraten, sich zu notieren, was der Text bei einem selbst auslöst. 4. Schritt: Der nächste Schritt ist die Hineinnahme des Textes in das Leben. Die Kontemplation verlangt, dass man sich Räume der Zeit schafft, Momente des Innehaltens. In dieser Phase ist es sinnvoll, den gewählten Text immer wieder zu memorisieren. Er soll zu einem Begleiter des Alltags und des Lebens werden. Jetzt ist auch die Zeit gekommen, in der man das Wort teilen kann, indem man mit Anderen spricht und sich berät. Aber auch in dieser Zeit bleibt es sinnvoll, sich eine Auszeit zu nehmen, in der man das Wort und sich selber in Beziehung zum Wort betrachtet. 5. Schritt: Am Ende dieses Prozesses steht eine Verinnerlichung des

Wortes. Und hier können wir von Madeleine Delbrêl wirklich lernen: „Dann sehen wir es aufleuchten, während wir eine Straße entlanggehen, unsere Arbeit verrichten, Gemüse schälen, auf eine telefonische Verbindung warten, unsere Böden kehren; sehen es aufblitzen zwischen zwei Bemerkungen eines Mitmenschen, zwischen zwei Briefen, die zu schreiben sind, beim Aufwachen und beim Einschlafen. Denn das Wort hat seinen Platz gefunden: ein armes und warmes Menschenherz, das ihm Herberge bietet.“

Verzeichnis der Autorinnen und Autoren Boehme, Katja, Dr. theol., Akademische Oberrätin am Fachbereich Katholische Theologie/ Religionspädagogik der Pädagogischen Hochschule Freiburg. Kampling, Rainer, Dr. theol., Professor für Biblische Theologie/Neues Testament und Leiter des Ernst-Ludwig-Ehrlich-Masterstudiengangs für Jüdisch-Christliche Beziehungen am Seminar für Katholische Theologie der Freien Universität Berlin. Kuhlmann, Helga, Dr. theol., Professorin für Systematische Theologie und Ökumene des Instituts für Evangelische Theologie der Universität Paderborn. Middelbeck-Varwick, Anja, Dr. phil., Juniorprofessorin für Systematische Theologie/Theologie der Religionen des Seminars für Katholische Theologie der Freien Universität Berlin. Plattig, Michael, P. Dr. theol. Dr. phil., O. Carm., Professor für Theologie der Spiritualität und Leiter des Instituts für Spiritualität an der Philosophisch-Theologischen Hochschule Münster. Poorthuis, Marcel, Dr. theol., Koordinator für Jüdisch-Christliche Beziehungen am Institut für Bibelwissenschaften und Kirchengeschichte der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Tilburg/Utrecht. Sandherr, Susanne, Dr. theol., Professorin für Katholische Theologie in der Sozialen Arbeit an der Katholischen Stiftungsfachhochschule München. Thurau, Markus, M.A., Wissenschaftlicher Mitarbeiter des Seminars für Katholische Theologie der Freien Universität Berlin.

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Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

Westerhorstmann, Katharina, Dr. theol., Akademische Geschäftsführerin des Interdisziplinären Ethik-Zentrums der Albert-LudwigsUniversität Freiburg.

Apeliotes. Studien zur Kulturgeschichte und Theologie Herausgegeben von Rainer Kampling Band 1

Rainer Kampling (Hrsg.): Eine seltsame Gefährtin. Katzen, Religion, Theologie und Theologen. 2007.

Band 2

Rainer Kampling: Erbauung. Vom Wort reden. 2007.

Band 3

Matthias Vollmer: Fortuna Diagrammatica. Das Rad der Fortuna als bildhafte Verschlüsselung der Schrift De Consolatione Philosophiae des Boethius. 2009.

Band 4

Rainer Kampling / Anja Middelbeck-Varwick (Hrsg.): Alter – Blicke auf das Bevorstehende. 2009.

Band 5

Rainer Kampling (Hrsg.): "Wie schön sind deine Zelte, Jakob, deine Wohnungen, Israel!". Beiträge zur Geschichte jüdisch-europäischer Kultur. 2009.

Band 6

Anja Middelbeck-Varwick / Markus Thurau (Hrsg.): Mystikerinnen der Neuzeit und Gegenwart. 2009.

www.peterlang.de

Peter Lang · Internationaler Verlag der Wissenschaften

Silvana Lindner

Mystik des Nihilismus? Auseinandersetzung mit Emil Ciorans Werk aus systematisch-theologischer Perspektive orthodoxer Prägung Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2006. 179 S. Europäische Hochschulschriften: Reihe 23, Theologie. Bd. 826 ISBN 978-3-631-54383-2 · br. € 41.10* Diese Untersuchung behandelt die Auseinandersetzung aus systematischtheologischer Perspektive mit einem „unsystematischen“ Denker, Emil Cioran. Sie versucht im Sinne einer dialogischen Kulturtheologie einen Dialog zwischen der christlichen Theologie orthodoxer Prägung und Cioran zu führen. Dieser Versuch soll von Toleranz als Anerkennung der Legitimität des Anderen und dem Respekt des Fremden als Fremden geprägt sein. Methodologisch untersucht die Arbeit drei Hauptcharakteristika von Ciorans Denken: den Dualismus, die Skepsis und die Mystik. Sie versucht diese mit Hilfe von zwei Strukturierungsprinzipien – dem hermeneutische Dreieck GottMensch-Welt und den sieben Leitebenen (ontologisch, anthropologisch, kosmologisch, erkenntnistheoretisch, ethisch, ästhetisch und soteriologisch) zu systematisieren. Aus dem Inhalt: Multidimensionaler Dualismus bei Cioran · Die Skepsis bei Cioran · Mystik und Verneinung bei Cioran · Cioran aus der systematischtheologischen Perspektive und die Chance einer Auseinandersetzung orthodoxer Theologie mit Ciorans Denken

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