Muttersprache und Vaterland [1 ed.] 9783205216391, 9783205216377

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Muttersprache und Vaterland [1 ed.]
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FRITZ MAUTHNER

MUTTERSPRACHE UND VATERLAND Herausgegeben und mit einem Nachwort von Thomas Hainscho

Fritz Mauthner

MUTTERSPRACHE UND VATERLAND Herausgegeben und mit einem Nachwort von Thomas Hainscho

böhlau verlag wien köln

Veröffentlicht durch Unterstützung der Abteilung für Kunst und Kultur des Landes Kärnten.

»Muttersprache und Vaterland« von Fritz Mauthner erschien erstmals 1920 bei Dürr & Weber (= Zellenbücherei 38). Der Text ist gemeinfrei. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek  : Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie  ; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2022 Böhlau Verlag, Zeltgasse 1, A-1080 Wien, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande  ; Brill USA Inc., Boston MA, USA  ; Brill Asia Pte Ltd, Singapore  ; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland  ; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich) Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau und V&R unipress. Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung  : Nach der Titelgrafik unbekannten Ursprungs aus der Ausgabe von 1920. Lektorat  : Sigrid Strauß, Klagenfurt Einbandgestaltung  : Michael Haderer, Wien Satz  : Michael Rauscher, Wien Vandenhoeck & Ruprecht Verlage www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-205-21639-1

Inhalt

Muttersprache und Vaterland. . Erstes Kapitel . . . . . . . Zweites Kapitel.. . . . . . Drittes Kapitel . . . . . . . Viertes Kapitel . . . . . . . Fünftes Kapitel. . . . . . . Sechstes Kapitel . . . . . . Siebentes Kapitel. . . . . . Achtes Kapitel . . . . . . .

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Nachwort. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Veröffentlichung im Jahr 1920. . . . . . . . Entstehung des Texts.. . . . . . . . . . . . Aufbau und Bezüge zum Gesamtwerk . . . Die politische Dimension von Mauthners Sprachkritik . . . . . . . . . . . . . . . . . Zur Neuauflage.. . . . . . . . . . . . . . .

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Angaben zu den erwähnten Werken . . . . . . . . . . . . . .

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Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105

Fritz Mauthner

Muttersprache und Vaterland

Erstes Kapitel Der Verfasser dieses Versuchs, die Grundbegriffe der Natio­ nalitätsidee sich und andern deutlich zu machen, ist ein lebendiges Beispiel für die Kämpfe, zu denen diese Begriffe Veranlassung geben können. Deutsch ist meine Muttersprache, und seit einem Menschenalter bin ich politisch ein Bürger des Deutschen Reichs. Geboren aber wurde ich, gerade vor 70 Jahren, im nordöstlichen Böhmen, nur eine Meile von Sadowa entfernt, nicht weit von der deutsch-böhmischen Sprachgrenze, in einem Orte, in welchem die Tschechen weitaus die Mehrheit der Bevölkerung bildeten. Das Kind wußte es nicht anders, als daß es mit Vater und Mutter und den Geschwistern ausschließlich deutsch sprach, daß es sich aber mit den Dienstmädchen nur auf »Kuchelböhmisch« verständlich machen konnte, einem abscheulichen Mischmasch, das es mitgelernt hatte, sobald es erst sprechen lernte. Vielleicht schon bei der Amme. In meinem sechsten Jahre übersiedelten die Eltern nach Prag. Hier, auf der Klippschule wie nachher auf dem Gymnasium, wurde das Kuchelböhmisch nicht mehr geduldet. Die papierne Vorschrift des Gesetzes verlangte von allen Schülern einige Beherrschung der beiden »Landessprachen«. Ich habe in meinen »Erinnerungen« darzustellen versucht, wie ungenügend der deutsche Unterricht, wie eindringlich der tschechische Unterricht, namentlich auf dem Gymnasium, war  ; ausnahmslos waren unsere Lehrer der tschechischen Sprache gute tschechische Patrioten, die Lehrer der deutschen Sprache waren höchstens gute Österreicher, gute Staatsbürger. Die beiden Sprachen hießen also die Landessprachen. Die Vorstellung, daß jedes Kind nur eine einzige Muttersprache besitze, die andere Sprache des Landes nur aus Muttersprache und Vaterland

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Nützlichkeitsgründen üben solle, durfte offenbar gar nicht aufkommen. Der Unterricht wurde so gehandhabt, als ob alle Böhmen zweisprachige Menschen wären. Von einer Muttersprache war niemals die Rede. Aber eigentlich auch nicht von einem Vaterlande. Es war uns jungen Leuten nur nicht bewußt, daß wir schon damals unaufhörlich in die nationalen Kämpfe hineingezogen wurden, daß beide Parteien mit unserem Sprechen oder mit unserem Denken ihr Spiel trieben. Unsere Heimat kannten wir freilich, das Hügelland, das sich südlich gegen die Elbe abflacht und nordöstlich mit dem grauen Kamm des Riesengebirges und dem Gipfel der Schneekoppe seinen Abschluß findet. Dort war die Welt mit Brettern verschlagen, dort lag Deutschland, das »Reich«. Das hieß niemals unser Vaterland. Unser Vaterland war für die Tschechen das Königreich Böhmen oder gar das ersehnte Reich der Wenzelskrone, das jetzt unter dem Namen Tschechoslowakei Wirklichkeit geworden ist, für die Deutschen das zufällig gewordene Kaisertum Österreich, nach dem Jahre 1866 – nachdem der sogenannte Dualismus eingeführt worden war – Cisleithanien. Für uns Deutsche sollte wirklich der doppelt papierne, der packpapierne, Begriff Cisleithanien die Bedeutung von Vaterland gewinnen. So besaßen die Tschechen und die Deutschen in Böhmen verschiedene und einander im Grunde feindliche Vaterlande, verschiedene Fahnen, denen sie zu folgen hatten  : die Tschechen die rot-weiße Fahne der alten böhmischen Könige, die Deutschen die schwarz-gelbe Fahne des Kaisertums Österreich. Die böhmische Vaterlandsliebe der Tschechen konnte sich dabei an einer Sehnsucht begeistern, an der Sehnsucht nach Befreiung von der Herrschaft der Habsburger, und an Volksliedern, die dieser haßerfüllten Sehnsucht Ausdruck gaben  ; die Deutschen mußten sich 10

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mit dem »Gott erhalte« begnügen, das ebenso wie die Verherrlichung des Kaiserhauses in der Schule von Amts wegen gelehrt wurde. Was man so auf der Schule Geschichte zu nennen pflegt, das wurde uns allen gemeinsam vorgetragen  ; aber die Tschechen unter uns hatten ein viel feineres Gehör für die Lügen der offiziellen österreichischen Geschichte  ; im Elternhause, aus den Zeitungen, wohl auch schon in Vereinen hatten sie erfahren, was die politische Agitation diesen Lügen entgegenstellte. So hatten die Tschechen ein natürliches Vaterland, die Deutschböhmen nur ein künstliches. Man könnte das beinahe grotesk auch so ausdrücken  : der Kaiser von Österreich hieß in der heuchlerischen Ausdrucksweise der Schule der Landesvater – einer der vielzuvielen Landesväter des Deutschen Reichs –, und wir armen Deutschböhmen erfuhren immer nur von unserem Landesvaterland. Das dem Landesvater untertänige Gebiet, von der Adria bis zum Erzgebirge, hieß uns Vaterland. Zur Steuer der Wahrheit muß ich erwähnen, daß es unter uns Knaben auch bereits österreichische Patrioten gab, die von der schwarz-gelben Fahne ebenso dachten oder doch redeten, wie die Tschechen von ihrer rot-weißen Fahne  ; es waren das fast ohne Ausnahme Söhne von Beamten und von Offizieren. Einer dieser Beamtensöhne ging in seinem Hasse gegen das Nationalitätenprinzip so weit, daß er die Habsburger am liebsten zu Papstkönigen von Österreich gemacht hätte. In viel späteren Jahren wurde ich an den jungen Schwarmgeist erinnert, als ich das Wort las, worin Franz Grillparzer, auch er ganz Österreicher, seine Verbitterung über allen Nationalitätenhader niedergelegt hatte  : »Der Weg der neuen Bildung geht von Humanität durch Nationalität zur Bestialität.« Muttersprache und Vaterland

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Daß wir eine Muttersprache redeten, hörten wir amtlich zum ersten Male im Jahre 1868. Ich saß – nach deutscher Bezeichnung – in Unterprima, als infolge politischer Katzbalgereien eine Verordnung herauskam, nach welcher das Unrecht und der Unfug mit den beiden Landessprachen ein Ende nehmen sollte. Von jetzt ab sollten die Schüler nur noch zum Unterricht in ihrer »Muttersprache« gezwungen werden  ; es wurde dem Ermessen des Einzelnen anheimgestellt, ob er auch an dem Unterrichte in der anderen »Landessprache« teilnehmen wollte oder nicht. Wir gerieten über diese neue Freiheit in ungeheure Aufregung. Die Lüge, als wären wir zweisprachige Menschen, war von uns genommen worden. Die Regierung hatte anerkannt, daß wir eine Muttersprache besäßen, daß wir Deutsche wären. Unsere ganze Klasse hielt eine Beratung ab, in der wunderliche Reden geführt wurden  ; mein liebster Freund stellte bescheiden die Frage, ob wir uns nicht jetzt auch eine schwarz-rot-goldene Fahne zulegen könnten, wie die deutschen Studenten draußen im Reich. In unserer Freude über die Errungenschaft – und um den gutmütigen Lehrer nicht zu kränken – beschlossen wir einstimmig, den Unterricht in der tschechischen Sprache weiterhin zu genießen, freiwillig, gewissermaßen als Gäste. Aber wir hatten auf einmal begriffen, daß wir durch unsere Muttersprache zu Deutschland gehörten, daß Deutschland unser Vaterland wäre. Und wir sangen zum ersten Male  : »Was ist des Deutschen Vaterland  ?« Wir hatten aber noch nicht begriffen, daß der im ersten Teile immer wiederkehrende Schlußvers des Liedes »Sein Vaterland muß größer sein« durch eine leichte Umdeutung zu der Gesinnung verführen konnte, die unser Geschlecht nur wenige Jahre später zu dem weltgefährlichen Imperialismus führte. 12

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Das Lied, 1813 von Arndt verfaßt und schon zwei Jahre später viel gesungen, uns Deutschböhmen in den Flegeljahren suggeriert, enthielt schon wie ein gereimter Katechismus die Dogmen des nationalen Glaubens. Nicht die Liebe zur unmittelbaren Muttersprache, zur Mundart der Heimat, wurde da ausgesprochen, sondern die Liebe zu der gebildeten, gemeinsamen Schriftsprache des ganzen Volkes  ; und da Patriotismus oder Vaterlandsliebe auf der Liebe zur Muttersprache beruht, so wurde sofort auch das Ideal eines Vaterlandes hingestellt, das es – in Deutschland wenigstens – in der Gegenwart nicht gab, nur in der Vergangenheit und in der nahen Zukunft. Das größere deutsche Vaterland war für die deutschböhmische Jugend ein Gegenstand der Sehnsucht, wie jedes Ideal. Genau genommen ist aber der Unterschied gar nicht so groß zwischen der Sehnsucht nach einem deutschen Vaterlande, das dem Österreicher verboten war, und der Sehnsucht nach Einheit, die dem Deutschen verboten war.

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Zweites Kapitel Was wir jungen Leute auf dem politisch wunderlichen Boden der Heimat damals, zwischen 1866 und 1870, in der eigenen Seele erlebten, das war ein halbes Jahrtausend früher ein Ereignis der Weltgeschichte geworden unter den reiferen Völkern Europas. Die Stämme, die bis dahin eine christliche Universalmonarchie gebildet hatten, regiert und kultiviert in einer fast künstlich am Leben erhaltenen Universalsprache, der lateinischen, begannen langsam eine überraschende Entdeckung zu machen  : daß sie nämlich verschiedene Muttersprachen besaßen, die schöner, jünger und kräftiger waren als das alte, kranke und häßliche Latein, und daß jeder einzelne Stamm durch die Liebe zu seiner Muttersprache fester zusammengeballt wurde zu einer Einheit als die Universalmonarchie durch ihre lateinischen Gesetze. Aus der ganz neuen Liebe zu den Muttersprachen erwuchs zuerst die Ahnung und dann die Erkenntnis, daß die Stämme auch in Handel und Wandel besser daran täten, den Vorteil ihrer nationalen Einheiten zu wahren, anstatt wie bisher den Vorteil der Christenheit oder gar den der Menschheit. Aus dieser Ahnung und dieser Erkenntnis entstand nun just in den Gebieten, deren Volkssprachen Tochtersprachen des Lateinischen waren, die Sehnsucht oder das Ideal, die Stammesinteressen gegeneinander abzugrenzen, Nationalstaaten zu bilden auf Grund von Nationalsprachen. Wie so häufig in der Geschichte der Menschheit, bleiben die Ideale unverwirklicht in den Köpfen kühner Geister, bis mächtige Herren auf den Einfall kamen, solche Ideale für ihre persönlichen Zwecke zu benutzen. Machtgierige Fürsten bemerkten, daß die Massen von der Sehnsucht nach Nationalstaaten ergriffen worden 14

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waren  ; das schien ihnen eine günstige Gelegenheit, sich und ihr Machtgebiet von der Oberhoheit des geistlichen und des weltlichen Schwertes zu befreien und sich zu mehr oder weniger unumschränkten Landesherren zu machen. Das gelang am schnellsten und vollkommensten in Frankreich, das mißlang gänzlich in Italien, dem Stammlande der nationalen Bewegung. Es ist traurig oder auch lustig, zu erfahren, wie unbeholfen gerade die Schöpfer der italienischen Nationalsprache ihrer großen Aufgabe gegenüberstanden  ; Dante, Petrarca und Boccaccio, die binnen hundert Jahren den Bau begannen und vollendeten, der eine Mundart in eine Kunstsprache umwandelte und mit den Mitteln dieser neuen Sprache Meisterwerke bildete, diese drei Sprachgewaltigen schämten sich ein wenig ihrer Lebensleistung und erhofften ihren Nachruhm nicht von ihren unsterblichen italienischen Schriften, sondern von lateinischen Stilübungen. Das gilt am meisten freilich von dem Geringsten unter ihnen, von Petrarca, der nicht müde wurde, der Pöbelsprache seine Verachtung auszudrücken, und der den jüngeren Freund Boccaccio dadurch zu ehren glaubte, daß er eine seiner unvergänglichen Novellen in ein steifes Latein übersetzte. Es war ein komischer Widerspruch in den bewußten und den unbewußten Zielen dieser ersten Renaissance-Dichter   : sie waren berufen, durch ihr Talent eine rohe Volkssprache zum Range einer Weltsprache zu erheben, und fühlten sich – von den Schlagworten ihrer Zeit getäuscht – berufen, die alte Herrlichkeit der Stadt Rom wiederzuerwecken und im Dienste dieser Idee die tote Römersprache wiederzubeleben. In einem Punkte ist dieser Widerspruch heute noch nicht völlig erloschen  ; es gibt in Italien heute noch Schriftsteller, die sich für Renaissance-Menschen halten, wenn sie ihre Muttersprache und Vaterland

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köstliche Volkssprache mit aufdringlichen Verzierungen aus dem lateinischen Vorrate überladen, während die echten Erben von Dante und Boccaccio ihre Sprache nach wie vor von dem lateinischen Schwulst zu reinigen suchen und schreiben wollen, wie dem Volke der Schnabel gewachsen ist. Auch in Frankreich, wo doch der Sieg der Nationalitätsidee schon vor 500 Jahren entschieden war, hat solche Sprachreinigung immer noch zu arbeiten.

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Drittes Kapitel Wenn dem Vaterlande Gefahr droht, d. h. wenn die durch Sprache und Geschichte verbundenen Bewohner eines Landes befürchten müssen, leibliche oder geistige Güter zu verlieren, dann äußert sich der Patriotismus in mancher Überspannung des Nationalgefühls  ; und weil der reinste und schönste Patriotismus gar nichts anderes ist als Liebe zur Muttersprache, darum erzeugt jede Gefahr des Vaterlandes eine Sorge um die Muttersprache. So war es in der furchtbaren Zeit des Dreißigjährigen Krieges, wo das Fortleben oder doch die Gesundheit der deutschen Sprache wirklich bedroht war, und wo die prachtvollen Sprachfegermeister sie vielleicht wirklich gerettet haben. So war es auch – wenn auch ein bißchen anders –, als während der Kriege, die auf die große französische Revolution folgten, die ursprüngliche Schönheit der deutschen Muttersprache vernachlässigt wurde, weil auch die besten Dichter das westliche Ausland in falscher Weise bewunderten. Gegenüber einem Goethe waren die Sprachreiniger kleine Schriftsteller und brauchten für den Spott nicht zu sorgen, obgleich ihr Streben immer berechtigt und verdienstvoll war. Ein Goethe hatte es wirklich nicht nötig, sich die Verse seiner Iphigenie von Campe schulmeisterlich ankreuzen zu lassen  ; mit lustigen Xenien wiesen Schiller und Goethe die »furchtbare Waschfrau« zurück, und als Campe mit eigenen Versen zu antworten wagte, mußte er selbst für die Elendigkeit seiner Sprachkunst um Entschuldigung bitten. Der ewige Gegensatz zwischen den schöpferischen Geistern von Weltweite und den wackeren, beschränkten Puristen läuft darauf hinaus, daß die ersten, die Baumeister der deutschen Kultur, eben nur Zeit hatten, an der inneMuttersprache und Vaterland

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ren Form ihrer Sprache zu arbeiten, daß sie sich nicht auch noch Zeit nehmen konnten, das Unkraut aus dem ererbten Wortschatze auszujäten. Da Gustav Freytag als Greis doch daran ging, die Fremdwörter aus seinen Romanen zu fegen, hat er diese Bücher dem Volke nicht näher gebracht. Goethe hatte in seiner nachlässigen Größe niemals Muße genug, dem Drängen der Reiniger nachzugeben. Noch andere deutscheste Männer wären zu nennen, die den Ansprüchen der Sprachfegermeister nicht genügten. Luther tat das nur in seiner Bibelübersetzung  ; in seinen Streitschriften jedoch und in seinen Tischreden, wo er sich gehen lassen wollte, scheut er nicht leicht vor einem Fremdwort zurück. Leibniz, der als einer der ersten für den Adel der deutschen Sprache eintrat, schrieb das schlimme Deutsch seiner Zeit, wenn er nicht lateinisch oder französisch schrieb. Jacob Grimm, der verehrungswürdige und dennoch liebenswürdige Begründer einer deutschen Sprachwissenschaft, hat wohl die Fremdwörter aus seinem Deutschen Wörterbuch verbannen wollen, aber zugeben müssen, daß solche fremden Ausdrücke uns allen täglich in den Mund kommen  ; und er hat sich auf die Kraft unserer Sprache verlassen, sich die Fremdkörper anzugleichen. »Fällt von ungefähr ein fremdes Wort in den Brunnen einer Sprache, so wird es solange darin umgetrieben, bis es ihre Farbe annimmt und seiner fremden Art zum Trotze wie ein heimisches aussieht.« Endlich der Fürst Bismarck, dem man doch deutsches Wesen nicht ganz absprechen wird und der leider sein Ansehen für Beibehaltung der vermeintlich deutschen Lettern einsetzte, war ein Schriftsteller ersten Ranges, obgleich es in seinen Berichten und Reden von überflüssigen Fremdwörtern nur so wimmelt. Auch er hatte bei seinem großen Reinemachen keine Zeit für das kleine Reinigungsnebengeschäft. 18

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Es gab eine Zeit, wo unsere Muttersprache wirklich in Gefahr war, zu einer häßlichen und ekelhaften Mischsprache zu werden. Damals, nach dem Dreißigjährigen Kriege, war die Säuberung der »deutschen Haupt- und Heldensprache« eine gewaltige Aufgabe, und die damaligen Sprachfegermeister verdienen heute noch unsern Dank, insbesondere der Herr Hofkonsistorialrat Justus Georg Schottel, wenn er sich auch Schottelius nannte und – wie die meisten Sprachreiniger – nur schlechte Gedichte machte. Aber noch hundert Jahre nachher, als Friedrich der Große schon den moralischen Boden für eine politische Einheit gelegt hatte – durch den Stolz der Deutschen auf seinen Weltruhm –, stand unsere Sprache vor einer nicht geringen Gefahr  ; die gute Gesellschaft französelte. Friedrich der Große selbst war der unbedenklichste Förderer dieser Mode. Und Retter der bedrohten Muttersprache wurden die »fritzisch« gesinnten Lessing und Goethe, die die Sprachfegerei nicht mitmachten und dennoch die literarische Vorherrschaft Frankreichs überwinden halfen. Übrigens ist die Sprachmengerei kein besonders deutsches Laster und die Sprachfegerei nicht nur eine Äußerung der deutschen Vaterlandsliebe. Es gibt so wenig eine ungemischte Sprache, wie es einen ungemischten Volksstamm gibt. Nicht nur in Frankreich und in Italien, wie schon bemerkt, sondern sogar in Japan haben leidenschaftliche Freunde des Vaterlandes oder der Muttersprache den Kampf gegen die verhaßten Fremdwörter begonnen. Und nach Deutschland gelangte dieser Kampf, als der Dreißigjährige Krieg den Wohlstand und die Sprache des Volkes gründlich zerrüttet hatte, erst aus Holland. Dort war ein Zeit- und Gesinnungsgenosse Spinozas, der Freidenker Adriaan Koerbagh, Arzt und Rechtsgelehrter, gegen Muttersprache und Vaterland

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den Unfug der »Bastard-Wörter« aufgetreten. Ein anderer Mann dieses Kreises, Ludwig Meyer, der die nachgelassenen Schriften seines Freundes Spinoza herausgegeben hat, hatte schon 1654 einen puristischen »Niederländischen Wortschatz« in neuer Auflage verbessert und allen Freunden der Muttersprache ans Herz gelegt. Die Aneignung fremder Wörter und Begriffe ist in der Geschichte jeder Sprache nachzuweisen. Niemals sind Gedanken und Formen von einem geistig reicheren und älteren Volke zu einem ärmeren und jüngeren gelangt, ohne Wörter mitzuschleppen  ; stoßweise haben solche Kulturwanderungen ganze Mengen fremder Begriffe dem eigenen Boden zugeführt, schmutzig und ertragreich wie einen gesegneten Nilschlamm. Ganze Schichten ausländischer Vorstellungen kamen zu uns, stoßweise durch das Christentum, zuerst griechisch durch das oströmische und dann lateinisch durch das weströmische Christentum, ferner durch die Aufnahme des römischen Rechts, durch das Beispiel der italienischen und dann der französischen Heereseinrichtungen, durch die Ausbreitung des norditalienischen Handelsverkehrs, durch das Umsichgreifen des Humanismus, durch das Vorbild des politischen Umschwungs in England und in Frankreich usw. Je weiter solche Einbrüche fremder Vorstellungsmassen zurückliegen, desto gründlicher hat sich die Eindeutschung ihres lautlichen Ausdrucks vollzogen. Niemand sieht oder hört es mehr, daß »Kirche« ursprünglich ein griechisches Wort war, »Kreuz« ein lateinisches. Dem Irdischen ging es nicht anders als dem Überirdischen  ; hundert Küchenausdrücke sind ebenfalls bis zur Unkenntlichkeit eingedeutscht worden  : Kohl, Radieschen usw. Dazu kamen freilich auch lächerliche Modeausdrücke, gegen welche dem Deutschen Sprachverein ein eiserner Besen zu wünschen wäre. Wo 20

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aber sind die Grenzen der lobenswerten Sprachfegerei gegenüber dem eingedeutschten Sprachgute, den sogenannten Lehnwörtern  ? Will man wirklich die ältesten Sprachgäste austreiben, Kirche und Kreuz, Fenster und Kirsche  ? Ich glaube  : die Zeiten sind vorüber, in denen die Sprachreinigung eine Lebensfrage des deutschen Volkes war. Im siebzehnten und im achtzehnten Jahrhundert galt das Umsichwerfen mit lateinischen und französischen Brocken für ein Zeichen von Bildung  ; heute ist der Gebrauch überflüssiger Fremdwörter ein Zeichen von Unbildung geworden  ; kaum daß einige Professoren, selten die Zierden ihres Faches, weiterhin ihre halblateinische Gelehrtensprache schreiben oder gar reden. Unsere besten Schriftsteller schreiben ein gutes Deutsch und dürfen sich die Ankreidungen geschmackloser Sprachfegermeister verbitten. Der Lebendige hat recht, und wie erst der Lebendigmacher  ! Schönheitsfehler sind überall aufzuspüren  ; man soll nur kleine Schönheitsfehler nicht ausbrennen wollen und an Stelle des unbedeutenden Muttermals nicht eine häßliche Narbe setzen. Sprachreinheit ist ein Ideal wie die Wahrheit  ; wir wollen uns bescheidentlich mit einer Annäherung begnügen, an die Sprachreinheit wie an die Wahrheit. Mit der Vaterlandsliebe vollends hat Sprachreinheit sehr wenig zu tun. Friedrich der Große sprach und schrieb ein ganz verhunztes, Blücher ein sehr unsauberes Deutsch. Fast am gleichen Tage, da Jacob Grimm das ergreifende Vorwort zum Deutschen Wörterbuche verfaßte, richtete Herr v. Bismarck, preußischer Bundestagsgesandter in Frankfurt, an den vertrauten General v. Gerlach einen zornigen Brief über das Treiben der Berliner Exzellenzen. Der Brief zeichnet in den Wolken schon das Bild von Deutschlands Einheit und enthält auf zwei Druckseiten 38 Fremdwörter. Muttersprache und Vaterland

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Viertes Kapitel In behaglicheren Zeiten, wenn Handel und Gewerbe blühen und der Traum vom ewigen Frieden wieder einmal geträumt wird, verrichten die Sprachfegermeister stillere Arbeit, und die Reihe kommt an ganz andere Träumer, an die Erfinder einer künstlichen Universalsprache, die wir nach dem jetzt ganz veralteten, aber einst viel bewunderten Versuche wieder Volapük nennen wollen. Man könnte diese künstliche Universalsprache auch recht gut die katholische Sprache nennen, weil doch »katholisch« so viel heißt wie »allgemein«  ; da könnte man denn darüber lächeln, daß die Volapükisten, die Esperantisten, die Idisten (und was noch ferner kommen mag) auf dem Gebiete der Sprache eine Universalmonarchie einführen wollen, so viele Jahrhunderte nach dem Zusammenbruche der katholischen Universalmonarchie. Allen alten und neuen Mitarbeitern an der Erfindung eines brauchbaren Volapük muß zugute geschrieben werden, daß sie Idealisten sind, edle Utopisten, die es ehrlich meinen mit ihren Vorschlägen zu einer teilweisen Weltverbesserung. Graf Moltke hat einmal gesagt, der ewige Friede sei ein Traum und nicht einmal ein schöner Traum  ; so ist das Ziel, die Menschheit auf eine einzige Sprache zu einigen, auch nur ein Traum und nicht einmal ein schöner Traum. In dem Jahrhundert des Humanismus faßte man die gleiche Sache einfacher an  : man erklärte die damals schon tote lateinische Sprache für die einzige und gemeinsame Kultursprache und glaubte recht lange wirklich, man könnte für Juristerei und Medizin, für Staatsregierung und Geschäftsverkehr, für Poesie und Theologie mit der Sprache der alten Römer auskommen  ; wollte man heute wieder Latein zum Volapük machen, so wäre 22

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die Enttäuschung noch größer  ; es würde sich herausstellen, daß die leitenden Männer trotz der himmelhoch gepriesenen Leistungen der humanistischen Gymnasien nicht lateinisch reden gelernt haben, weder in England, noch in Frankreich, noch in Deutschland, daß sogar Oberlehrer als Dolmetscher ohnmächtig wären, daß die lateinische Weltsprache gegenüber allen neuen Begriffen ihren Bankrott zu erklären hätte. Kein Städter könnte auf lateinisch eine Fahrkarte auf der Straßenbahn fordern, kein Bauer den künstlichen Dünger bestellen, kein Soldat von seinem Gewehre, kein Matrose von den Teilen seines Schiffes reden, und nicht einmal der Lateinschüler könnte Papier und Feder mit Hilfe lateinischer Worte kaufen. Ich lebe der Überzeugung, daß die Erfindung einer brauchbaren Kunstsprache ein Ding der Unmöglichkeit ist  ; die Muttersprache ist unersetzlich, wie es auch keinen vollen Ersatz für natürliche Nahrungsmittel gibt  ; eine neue Sprache läßt sich nicht erfinden, weil Sprache niemals Maschine ist  ; und wenn Sprache wirklich ein Organismus wäre (was aber nur ein bildlicher Ausdruck ist), so wäre ein solcher Organismus erst recht nicht künstlich herzustellen. Doch meine Überzeugung von der Unmöglichkeit einer künstlichen Weltsprache würde mich niemals allein zu der undankbaren Aufgabe gedrängt haben, immer wieder diesen Weltverbesserern entgegenzutreten. Es mußte erst deren Verwogenheit hinzutreten, das künstliche Gebilde ihres Volapük unsern unschuldigen Schulkindern durch die obersten Schulbehörden aufzwingen zu wollen. Als ich vor bald 20 Jahren den Kampf gegen die Volapükisten begann, da geschah das unter dem Einflusse der mir zugekommenen Nachricht, daß ein deutscher Bundesstaat (Sachsen) tatsächlich den Plan gefaßt hatte  : zugleich die ReligionsMuttersprache und Vaterland

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stunden in der Volksschule zu vermehren und zwangsweise irgendein neues Volapük als Lehrgegenstand einzuführen  ; ich habe später erfahren, daß damals nur die altberühmte Universität des Bundesstaats eine so traurige Dummheit verhindert hat. Das fehlte gerade noch, daß man einem unweisen Minister gestattet hätte, unsere arme Jugend in Stadt und Land auch noch mit dem Auswendiglernen willkürlich gebildeter Wörter und Regeln einer Mondsprache zu martern. Darum begründete ich damals gegen einen solchen Wahnsinn des grünen Tisches ein Recht auf Revolution für die gesamte Schuljugend und für die Volksschullehrer erst recht. Die Klagen, daß die Kinder ohnehin überbürdet seien, haben – wenn man einen so ehrlichen Enthusiasten wie Herrn Dr. Heinrich Nienkamp hören will – keine Bedeutung. Wenn Volapük in der Volksschule eingeführt wird, so brauchte deshalb die Zahl der Unterrichtsstunden nicht vermehrt zu werden  ; »die eine oder zwei Stunden wöchentlich könnten am Deutschen gespart werden … Würde auf den höheren Schulen nur Lateinisch und Esperanto (das neue Volapük nämlich) gelehrt, würden also Griechisch und die neueren Sprachen wegfallen, so wäre Zeit genug gewonnen, den Geist an philosophischen und juristischen Grundbegriffen weiter zu üben.« Der Enthusiast versteigt sich zu der Behauptung  : man müßte Esperanto in die Schulen einführen, selbst wenn es keine Aussicht hätte, allgemeine Verkehrssprache zu werden. »Ich betone, daß Esperanto einen Teil des deutschen Unterrichts ausmachen müßte. Es würde nur nebenbei gelehrt, nicht damit Esperanto, sondern damit Deutsch gelernt würde.« Es ist nicht leicht, ernsthaft auf einen solchen Gedankengang zu antworten. 24

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Gewiß, in die Feinheiten und Geheimnisse des sprachlichen Denkens kann nur eindringen, wer die sogenannte Grammatik begriffen hat, die »Gesetze« der Wortbildung und der Wortänderung. Ich will nicht erst fragen, ob im Alter der Volksschüler ein Verständnis für alle diese Begriffe überhaupt möglich sei  ; ich will noch weniger fragen, ob es, woran bis vor hundert Jahren alle Forscher glaubten, wirklich eine allgemeine, für alle Sprachen gültige, »philosophische« Grammatik gebe. Genug daran, daß rund zweitausend Jahre an dem logischen Aufbau einer lateinischen Grammatik gearbeitet worden ist, die nur darum zu einem brauchbaren Schema gedeihen konnte, weil es sich da schließlich um die starr gewordenen Formen einer toten Sprache handelte  ; wie denn auch die Umrisse der Anatomie an der Leiche, nach dem Eintreten der Totenstarre, bequemer festzuhalten sind, als die Physiologie an einem lebendigen Menschen. Durch Jahrhunderte waren für die Lateingelehrten die Muttersprachen der Völker wertlose Barbarensprachen  ; die Beschäftigung mit ihnen schien der Wissenschaft unwürdig zu sein. Erst seit wenig über 100 Jahren vertiefte man sich in die Physiologie der lebenden Sprachen und der noch lebendigeren Mundarten so eifrig und so gründlich, wie einst in die Anatomie des toten Latein  ; und was wir heute Sprachwissenschaft nennen, das ist die Leistung dieser letzten 100 Jahre. Ein neues Wissenschaftsgebiet ist da entdeckt worden. Die Regeln und Ausnahmen der alten Lateingrammatik konnte ein zehnjähriger Knabe geistig aufnehmen wie die bewegenden Kräfte des Mühlrades und der Mühle  ; die unendlich feine Arbeit einer neusprachlichen Grammatik ist für ein volles Verständnis noch schwieriger als die bewegenden Kräfte einer Dynamomaschine. Die Erfinder des Volapük und des Muttersprache und Vaterland

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Esperanto haben natürlich versucht, ihrem künstlichen Bau die Sprachwissenschaft ihrer Zeit zugrunde zu legen  ; kein Wunder, wenn man nachher in der Mausefalle die Maus fand, die der Verfertiger der Falle vorher hineinversteckt hatte. Esperanto enthält wirklich zahllose Beispiele für eine sogenannte philosophische Grammatik, weil das leblose Ding nach dieser Grammatik eingerichtet worden ist. So verkehrt es aber wäre, die Anatomie von Auge, Herz und Ohr nach schematischen Darstellungen aus Pappe studieren zu wollen, anstatt nach der Natur, so verkehrt wäre es, in die Geheimnisse etwa der deutschen Sprachbildung mit Hilfe einer Sprache von Pappe eindringen zu wollen. Nein, noch viel verkehrter  ; die Vergleichung würde erst stimmen, wenn das pappige Schema von Auge, Herz und Ohr möglichst getreu den menschlichen Organen nachgebildet wäre, wenn das Schema nicht den Organen eines Untiers nachgemacht wäre, eines aus der Phantasie oder aus der Tiefe des Gemüts geborenen Ungeheuers. Als noch das alte Latein zum Muster alles Sprachunterrichts gedient hatte, war der Schaden für die neuen Volkssprachen nicht gering  ; alle modernen Nationalsprachen leiden noch heute unter den Folgen jener gelehrten Mode, sie haben sich alle von der lateinischen Leiche anstecken lassen. Wollte man gar den Gebrauch der Muttersprache nach dem Pappmodell des Esperanto richten und einüben, so wäre die Gefahr unabsehbar. Durch die zwangsweise Einführung des Esperantounterrichts würde jeder Volksschule eine Folterkammer angebaut werden, deren Wirkungen geistig noch schlimmer wären als die der Tortur in der grauenhaften Zeit der Hexenprozesse. Es gibt eben auch geistige Torturen mit unsichtbaren Marterwerkzeugen. Man überlege  : wir haben in Deutschland allein 10 Millionen Schüler  ; bei zwei Espe26

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rantostunden wöchentlich würde da für die Gesamtheit der Kinder eine Milliarde Stunden herauskommen, in denen die Ärmsten die peinliche Frage auszuhalten hätten, ob das Allheilmittel des Esperanto nicht am Ende doch ein Gift sei. Die Volapükisten nehmen für sich das Recht in Anspruch, sich Idealisten zu nennen  ; sie wollen durch zwangsweise Einführung einer gemeinsamen Weltsprache dem Völkerfrieden dienen, der Verbrüderung der Menschheit. Und wenn es darüber zum Kriege kommen sollte und die Volapükisten alle Nichtvolapükisten totschlagen müßten. Im Ernste  : Welcher Fanatismus, welcher Glaube hat sich nicht von jeher auf seinen Idealismus berufen  ? Auch der Fanatismus für eine künstliche Weltsprache ist nicht eine Sache der Wissenschaft, sondern eine Sache des Glaubens, eines unduldsamen Glaubens. Der Fanatismus unduldsamer Glaubensparteien hat durch Jahrhunderte blutige Kriege geführt, die sogenannten Religionskriege  ; wobei niemals zu vergessen ist, daß die Gewalthaber den vorhandenen und geschürten Glaubenshaß fast immer als Vorwand für ihre persönlichen oder politischen Ziele benutzen. Die Religionskriege sind dann – seit ungefähr 250 Jahren – abgelöst worden von den sogenannten Nationalkriegen, in denen wiederum die Nationalitätsidee und der geschürte Nationalhaß von den Gewalthabern als Vorwand benutzt wurden für ihre persönlichen oder wirtschaftspolitischen Ziele. Wenn die Nationalitätsidee unzertrennlich wäre vom Völkerhaß, dann wäre es freilich eine dringende Aufgabe des humanen Idealismus, die Nationalitätsidee zu bekämpfen, eine Idee durch ethischen Idealismus zu überwinden. So möchten die Volapükisten die Nationalitätsidee mit dem Bade ausschütten, indem sie langsam – sie verraten Muttersprache und Vaterland

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nur nicht ihre letzte Absicht – die Muttersprachen abschaffen. Es fragt sich nur, ob die Liebe zur Muttersprache – und diese Liebe ist die alleinige Ursache des Nationalgefühls und des Patriotismus – notwendig den Haß anderer Sprachen erzeugen müsse. Wie man im Mittelalter hätte fragen sollen, ob die Religion der Liebe den Haß gegen andere Religionen zur Folge haben müsse.

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Fünftes Kapitel Will man unter dem sogenannten Mittelalter die Zeit verstehen, in welcher die neue Kultur noch gar nicht oder nur in schüchternen Anfängen zu finden war, in welcher der Teufelsglaube herrschte und die Hexenverfolgung wütete, die Wissenschaft autoritätsgläubig war und der Glaube unduldsam, dann darf man das Mittelalter erst ungefähr mit dem Ende des Dreißigjährigen Krieges ausgehen lassen. Denkt man aber bei dem Begriffe Mittelalter ausschließlich an die Zeit der Theokratie oder der Priesterherrschaft, also an die Zeit, wo das zivilisierte Gebiet des Abendlandes eine christliche Universalmonarchie zu sein behauptete, dann ist dieses Mittelalter bereits um die Mitte des 14. Jahrhunderts gestorben, in dem siegreichen Kampfe der Nationalitätsidee gegen die uniformierte christliche Weltmonarchie. Ist dieser Gedanke richtig, daß nämlich das eigentliche Mittelalter mit dem Emporkommen der ersten Nationalstaaten abgelaufen ist, dann haben wir es da mit einer der feinsten Ironien der Weltgeschichte zu tun. Die Universalmonarchie der Kirche hatte über die Universalmonarchie des Kaisers gesiegt, der römische Papst über den nominellen Erben des römischen Imperiums  ; aber zu gleicher Zeit war es vorbei mit der einheitlichen Kultur, der einheitlichen Obrigkeitssprache und bald auch mit der einheitlichen Religion des Abendlandes. Die neuen Nationalstaaten hatten die besondere Kultur ihrer Völker gegen das Ausland zu verteidigen, mehr unbewußt und ohne Waffengewalt die besonderen Sprachen, bewußt und mit allen Mitteln die besonderen Religionen. Dazu kam langsam eine neue Aufgabe, die die Universalmonarchie noch nicht gekannt hatte  : der Nationalreichtum der einzelnen Muttersprache und Vaterland

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Völker sollte geschützt werden gegen die Ausbeutung der geistlichen wie der weltlichen Universalmonarchie. Dieser Nationalreichtum war durch das Anwachsen der Städte und des Handels in unerhörter Weise gesteigert worden und hatte erst den gebildeten Mittelstand geschaffen, der seit dem Aufhören des eigentlichen Mittelalters die Führung der Völker zu übernehmen begann. Philosophie und Rechtsgelehrsamkeit schickten sich an, das Recht der Nationalstaaten gegen die Universalmonarchie unabhängig zu begründen, und schufen in jahrhundertelanger Arbeit zuerst ein sogenanntes Völkerrecht zwischen den Nationalstaaten, dann das Recht des Volkes innerhalb seines Volksstaates. In der großen französischen Revolution kam diese Bewegung zu einem vorläufigen Abschluß. Aber das Ideal des Universalismus war damit nicht aus der Welt geschafft. Die Renaissance nannte diese Einheitssehnsucht gern »Humanismus«, und dieses Schlagwort wirkte weiter. Die Interessen der Menschheit schienen ehrlichen und unehrlichen Idealisten größer und darum heiliger als die Interessen der Völker  ; die Rechte des Volkes innerhalb seines Staates wurden überbaut von den allgemeinen Menschenrechten. Die Forderung der Menschenrechte ertönte zuerst aus den amerikanischen Freistaaten, die sich von der Fremdherrschaft der Engländer befreit hatten  ; die französische Revolution hat diese Forderung nicht erfunden, sondern nur aus den amerikanischen Verfassungen abgeschrieben. Eigentlich nur Worte nachgesprochen  ; denn die französische Revolution war in ihrem Anfang national beschränkt und wurde in ihrem Verlaufe – auch durch die Schuld der feindlichen Dynastien – ganz chauvinistisch. Nur daß die großen Worte Weltverbesserung und Menschenbeglückung immer wieder plakatiert 30

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wurden, auch von dem Genie Napoleons, dem sie Mittel wurden zur Anpreisung seiner neuen Universalmonarchie. Das Schlagwort von der allgemeinen Menschenbeglückung gewann durch die beispiellosen Erfolge Napoleons eine solche Macht selbst über die unterjochten Völker, daß sogar die besten Patrioten in Deutschland und in Italien dem universalistischen Fahnenworte »Brüderlichkeit« sich nicht entziehen konnten  ; Meinecke hat sehr gut gezeigt, wie selbst der Freiherr von Stein und Wilhelm von Humboldt nach der »Menschheit« schielten, als sie an der Wiederaufrichtung eines deutschen Nationalstaates arbeiteten. Erst Bismarck hat, mit einseitiger Hingabe an seine selbstgestellte Aufgabe, an die Einigung Deutschlands, beinahe den deutschen Nationalstaat geschaffen, ohne jede Rücksicht auf das universalistische Ideal des Weltbürgertums. Für ein halbes Jahrhundert. Die »kompakte Majorität« hat ihm nach seinen Erfolgen zugejauchzt und hat sich dann, als sein Werk durch fremde Schuld in Gefahr geriet, wieder von ihm abgewendet. Es wäre unzeitgemäß, also erst recht wieder an der Zeit, die Gedanken Bismarcks ganz zu begreifen. Auch wenn es nötig wäre, zu diesem Zwecke etwas weit auszuholen. Der lange Kampf zwischen den römischen Päpsten und den deutschen Kaisern wurde um die Weltmonarchie geführt  ; als aber die Hohenstaufen unterlagen, fiel das Imperium dennoch nicht der römischen Kirche zu, sondern auf den Ruinen des Weltkaisertums, welches das Erbe der alten römischen Kaiser zu verteidigen gewagt hatte, erwuchsen neue mächtige Königreiche, die einander im Namen eines wesentlich umgestalteten Imperialismus befehdeten. Bei dem bisherigen Kampfe um die Weltmonarchie hatten sich beide Parteien auf ein Recht berufen, die Kaiser Muttersprache und Vaterland

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auf das angeblich geschichtliche Recht, da sie sich für die Nachfolger der Cäsaren ausgaben, die Statthalter Christi auf das göttliche Recht, das ihnen die Schlüssel der Herrschaft gegeben hätte. Die jungen Königreiche schützten allerdings im einzelnen ebenfalls Rechtsansprüche vor, sooft irgendein Nachbargebiet erobert werden sollte, geschichtliche oder göttliche Rechtsansprüche, wie denn die sogenannten Religionskriege jedesmal mit einer Vergrößerung eines der Königreiche endeten. Im ganzen und großen jedoch berief man sich nur zum Scheine auf das Recht, in Wirklichkeit auf die Macht  ; die Macht schickte sich an, vor dem Rechte zu gehen. Wenn so ein König von seiner erworbenen Machtfülle ganz befriedigt war und ausruhen wollte, so sprach er von den Forderungen des europäischen Gleichgewichts  ; war er auf neuen Machtzuwachs bedacht, so sprach er von den Forderungen des Imperialismus oder doch so ähnlich. Die neuen Königreiche hießen, so ungefähr seit der Mitte des 13. Jahrhunderts, Nationalstaaten, weil sie im Gegensatze zu der weltlichen oder geistlichen Universalmonarchie des Mittelalters auf der Einheit einer Nation oder eines Volksstammes beruhten. Diese Einheit sprach sich, nachdem es erst zu einer Staatenbildung gekommen war, bald auch in einer Geschlossenheit wirtschaftlicher Interessen aus  ; zugrunde lag aber doch nur die Einheit der Sprache. Volksgenossen waren die Leute, die einander verstanden, die die gleiche Sprache redeten. Erst der Nationalstaat bot die Möglichkeit, die Begriffe Vaterland und Muttersprache zu schaffen. Doch »Muttersprache« blieb immer der natürlichere Begriff. Muttersprache war die Mundart und später die Gemeinsprache, die alle Volksgenossen redeten  ; »Vaterland« hätte eigentlich nur das Land 32

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der Volksgenossen bedeuten sollen, nur daß bald die Sitte aufkam, all das Land Vaterland zu nennen, das dem Fürsten der Volksgenossen »gehörte«. Wenn es der Weltgeschichte wesentlich wäre, logisch zu sein, so hätte es seit dem Aufkommen der Nationalstaaten vorbei sein müssen mit den Religionskriegen, so hätten die neuen Kriege, die von Volk zu Volk, Sprachenkriege heißen müssen. Aber die furchtbarsten Religionskriege begannen erst jetzt, als es den Machthabern gar nicht mehr um Religion zu tun war  ; und weil auch die Nationalität nur ein Vorwand des jungen Imperialismus war, ein neuer Vorwand für die alten Machtkriege, so kam es nicht dazu, daß die Menschen einander ausdrücklich um der verschiedenen Muttersprachen willen totschlugen. Nur in seltenen Fällen wurde die Sprache zur Begründung des Massenmords hervorgesucht. Wohl aber liebten es die Machthaber, ihre Machtkriege mit dem Gesamtnutzen des Volkes zu motivieren, wie sie vorher immer die gleichen Machtkriege mit der religiösen Verpflichtung beschönigt hatten. So wurden im Laufe der Zeiten die angeblichen Religionskriege durch die angeblichen Volkskriege abgelöst  ; vom Volke freilich war jetzt ebenso wie früher von der Religion nur im amtlichen Stile die Rede, gewissermaßen an Feiertagen  ; im Kriegsgeschäfte wurde das Volk immer von seinen Fürsten vertreten. Liebe zum Fürsten, wie später nach der Revolution Liebe zum Staate, war nur ein mühsam erlernter Ersatz für die natürlich aufblühende Liebe zur Muttersprache, zur Heimat, zum Volke. Es ist was Eigenes um eine Liebe, die viel Mühe gekostet hat  ; keine Musik hat so fanatische Anhänger wie eine, deren Aneignung überaus schwierig war, doch ich will keinen Komponisten beim Namen nennen. Jeder Posaunenbläser liebt sein Instrument, weil das Muttersprache und Vaterland

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Erlernen so hart war. Vor den Ruhm der großen Schlagworte haben die Götter den Schweiß der Anhänger gestellt. So war es noch nicht zu der Zeit, da die Nationalitätsidee gegen die Universalkirche noch nicht aufgekommen war. Der Universalismus des Mittelalters, die Einheit also des Abendlandes in Religion und Sprache, wurde freilich durch die Reformation durchbrochen  ; in Deutschland fing man an, die römische Kirche als eine fremdländische Macht zu betrachten, und Flugschriften in der Muttersprache verbreiteten die neue Lehre weit über die theologischen Kreise hinaus. Es ist aber ein Irrtum zu glauben, daß die Kirchenspaltung die Nationalitätsidee gefördert habe  ; im Gegenteil, der leidenschaftliche Eifer für die eigene Konfession drängte das patriotische Gefühl der Volksgenossenschaft wieder zurück, und Deutschland wie Frankreich blieben für mehr als 100 Jahre nach Konfessionen zerrissen. Außerhalb der protestantischen Bewegung kam es zu dem großen Gegensatze, der von jetzt ab eigentlich bis zur Gegenwart die Völker trennte. Gemeinsam war beiden Strömungen der Grundsatz, daß der Zweck die Mittel heilige. Ich möchte die beiden Strömungen, die – von einer höhern Warte aus gesehen – gleichberechtigt scheinen, mit den Schlagworten Jesuitismus und Machiavellismus bezeichnen. Der Jesuitismus hat auf seinen Wegen den Kampf der Nationalitäten vielfach für seine Ziele benutzt, aber die Nationalitätsidee war ihm eigentlich ein Gegenstand des Hasses. In den Jahren der höchsten Gefahr der katholischen Universalkirche hatte der starke Begründer des Jesuitenordens sich die ungeheuere Aufgabe gestellt, alles mit Klugheit oder Gewalt zu unterdrücken, was der Wiederherstellung der Universalkirche hinderlich war  : jede Sektenbildung, die seiner Rechtgläubigkeit eine Ketzerei war. 34

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Und man kann es kühn aussprechen, daß für Loyola auch die Nationalitätsidee zu einer Art Ketzerei wurde. Er war der Feldherr der Gegenreformation und verlangte von seiner Armee unbedingten Gehorsam  : Wer – wie die Anhänger der Nationalitätsidee – ein irdisches Ideal kannte neben dem überirdischen, wer gar sein Vaterland mehr liebte als seine himmlische Heimat, der war für Loyola als Soldat unbrauchbar. Es ist bekannt, mit welcher Meisterschaft die Jesuiten ihre Aufgabe lösten, soweit sie überhaupt zu lösen war  : die lateinische Universalmonarchie wieder aufzurichten, in Religion und Sprache. Auch Machiavelli ist seit seinem Auftreten bis auf die Gegenwart bald bewundert und bald verdammt worden, weil auch er ohne jedes moralische Bedenken die Lehre verkündete, der Zweck heilige die Mittel. Nur daß ihm die Religion eine völlig gleichgültige Sache war, nur daß er seine Lebensaufgabe in der Wiederherstellung Italiens erblickte. Was Dante und Petrarca poetisch erträumt hatten, was Cola di Rienzo als dilettantischer Staatsmann erstrebt hatte, das setzte sich Machiavelli bewußt und groß zum Ziele, ein genialer Politiker, ein patriotischer Revolutionär. Mit gleichen Mitteln kämpfte Loyola für den Gottesstaat, Machiavelli für sein Vaterland. Beide überlegene Kenner der armen Menschenseele, beide bis zur Unmenschlichkeit rücksichtslos in der Verfolgung ihrer entgegengesetzten Ziele. Auch der Jesuitenorden wurde geschmäht und aufgehoben, als den Fürsten seine Macht unbequem geworden war  ; man warf auch den Jesuiten vor, daß sie die Revolution guthießen und sogar den Königsmord  ; aber offenbar taten sie das nur in den Fällen, wo die weltliche Obrigkeit der Kirche gefährlich zu werden drohte. Der Machiavellismus dagegen war revolutionär von Hause aus und verteidigte Muttersprache und Vaterland

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jeden Mord und jedes Verbrechen, wenn nur der Beweggrund Vaterlandsliebe war. Ist es nun unzweifelhaft richtig, daß das Nationalitätenprinzip, welches damals bereits seit mehr als 200 Jahren wirksam war, durch die Reformation und das neu erwachte kirchliche Interesse gestört wurde, dann hätte man meinen sollen, die Revolution, die besonders die große heißt, hätte, indem sie jeden Gott und jede Religion abschaffte, die Nationalität unbedingt zum neuen Ideal erheben müssen. Dem war aber durchaus nicht so. Ein Aufsatz von Robert Michels, unmittelbar vor dem Weltkriege in dem »Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik« erschienen, gibt eine ganze Menge Tatsachen an die Hand, aus denen zu lernen ist, daß just im Zeitalter der großen französischen Revolution das Ideal der Nationalität ersetzt wurde durch das moderne Ideal der Freiheit. Nichts liegt mir ferner, als ein Werturteil aussprechen zu wollen. Nur hinweisen möchte ich auf die sprachliche Erscheinung, daß das Wort Patriotismus in den Kämpfen der Revolution unaufhörlich gebraucht wurde, häufiger sogar als vorher, daß man sich aber daran gewöhnte, die Pflicht der Vaterlandsliebe von einer Bedingung abhängen zu lassen  : Vaterland war nur, liebenswert war nur derjenige Staat, der seinen Bürgern und allen Menschen Freiheit und Gleichheit versprach. Diese neue Vorstellung von Patriotismus war schon 50 Jahre vor der französischen Revolution auf englischem Boden entstanden, war schon in dem englischen Nationallied »Rule Britannia« (1734) und in einer Schrift des Lord Bolingbroke ausgesprochen worden  ; dieser Patriotismus schien unzertrennlich verknüpft mit Tyrannenhaß und dem Stolze auf demokratische Freiheit. Die Forderung einer Liebe nur zu einem freien Vaterland holten die Enzyklopädisten aus 36

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England herüber, zugleich mit der Duldsamkeit, die von Locke als ein Menschenrecht gepredigt wurde. Aber noch Voltaire verstand unter Patriotismus allein den Lokalpatriotismus der Provinzen und leugnete, daß man das Gesamtvaterland, also Frankreich, lieben könne. Als nun die Revolution ausgebrochen war, vollzog sich bald ein Bedeutungswandel, nach welchem nur diejenigen Abgeordneten und Minister Patrioten hießen, die für die Revolution tätig waren. In der Schreckenszeit gar mußte man Freude bezeugen über die Hinrichtungen, um den Ehrennamen eines Patrioten zu verdienen. Engländer und Amerikaner, Polen und Italiener, auch Deutsche (Schiller und Klopstock) wurden zu französischen Ehrenbürgern ernannt, weil sie für die revolutionäre Freiheit eingetreten waren. Der neue Begriff des Patriotismus machte seine Rundreise durch Europa. In Deutschland und in Holland wurden die Anhänger der Revolution Patrioten genannt  ; und der Kaiser von Rußland verbannte alle diejenigen Offiziere aus seiner Nähe, die des Patriotismus verdächtig geworden waren. Noch sprachwidriger entwickelte sich der Begriff Patriotismus in den Jahren der napoleonischen Herrschaft. Aus Abenteuersucht und Ruhmlust, aus menschlichem Interesse, da doch jeder Soldat wirklich den Marschallstab im Tornister trug, doch auch aus reinlicher Bewunderung entstand eine Begeisterung und Opferbereitschaft, die nur noch dem Empereur galt, nicht dem geographischen Vater­lande. Es war wieder beinahe so, wie zu der Zeit Ludwigs  XIV., wo Liebe zum Sonnenkönig für Patriotismus galt. Auch die Völker haben gewöhnlich nichts vergessen und nichts zugelernt. Der nationale Patriotismus, der sich vor und nach der Katastrophe gegen den internationalen NapoleonenthusiasMuttersprache und Vaterland

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mus richtete, in Tirol, Spanien und endlich auch nach dem Brande von Moskau in Preußen, beruhte natürlich zuletzt auf einem nationalen Hasse, den die Härten von Napoleons Weltherrschaft erzeugen mußten  ; aber der Zorn gegen Napoleon war in allen diesen Ländern nicht so allgemein, wie es von offiziösen Geschichtsschreibern dargestellt und in unsern Schulen gelehrt wird. Die Tiroler, die Spanier, die Preußen mußten zu ihrem nationalen Patriotismus erst erzogen werden, dort durch die Geistlichen, hier durch Offiziere und Professoren. Doch auch die patriotischen Führer des deutschen Volkes waren so sehr beeinflußt durch die Ideen der Revolution, daß sie – selbst Fichte und Arndt – das Nationalitätenprinzip nicht engherzig auffaßten, das Überwuchern der dynastischen Interessen auf dem Wiener Kongresse beklagten und, eigentlich zum ersten Male in der Geschichte der Welt, Freiheit und Gleichheit aller Menschen über die Wohlfahrt der einzelnen Staatsnationen stellten. Die Erben der französischen Revolution traten auf, die ersten Sozialisten, und erfanden das Wort  : europäischer Patriotismus. Wieder darf ich der guten, vorurteilslosen, oft prophetischen Darstellung von Robert Michels folgen, an einigen Stellen wenigstens. Als der wachsende Weltverkehr nach der Mitte des 19. Jahrhunderts internationale Vereinbarungen geschaffen hatte, die sich auf Eisenbahnen, Post und Ähnliches bezogen, blieb die Vaterlandsliebe davon unberührt  ; als jedoch die internationale Interessengemeinschaft der Lohnarbeiter oder Proletarier eine greifbare Wirklichkeit wurde und sich wie zum Trotze gegen allen Patriotismus »die Internationale« nannte, da schien der nationalen Gesinnung die letzte Stunde geschlagen zu haben. Und weil es sich um einen Glauben handelte, um den Glauben nämlich an die kom38

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mende Wohlfahrt der Massen, darum war die Ähnlichkeit so groß zwischen der neuen Internationale und der Universalkirche des Mittelalters. Man hatte zwar einst nur an das jenseitige Heil gedacht, dachte jetzt nur an das Diesseits  ; einerlei, die Vorstellungen vom Jenseits waren doch auch ganz materiell gewesen. Eine Weile schien es nun wirklich, als ob die Lohnarbeiter, die die internationale Partei der Sozialdemokraten gebildet hatten, ihr Vaterland nur noch in ihrer Klasse erblickten  ; alle Arbeiter der Welt waren Freunde oder Genossen, alle Nichtarbeiter waren Feinde. Soweit man Gewalt über die Sprache hatte, wurden die Begriffe Vaterland und Patriotismus abgeschafft, genau so wie in der großen französischen Revolution die religiösen und die kirchlichen Begriffe abgeschafft worden waren. Auch die Bilderstürmerei der Internationale hatte nur kurze Dauer. Das natürliche Gefühl einer engen Zusammengehörigkeit der Sprach- und Volksgenossen nahm bald wieder an Kraft zu. Sicherlich wirkten da allerlei kleine Beweggründe zusammen  : Rücksichtnahme auf den Instinkt der Menge, der immer ein kriegerischer Instinkt des Hasses ist, ferner der Wunsch, den Vorwurf der Vaterlandslosigkeit, der viele abschrecken konnte, durch heuchlerische Betonung des Patriotismus zu entkräften, endlich die Freude an der Nationalliteratur, eine verständnisvolle Freude, die eine unmittelbare Folge war der bessern Bildung des Arbeiterstandes. Alle diese Beweggründe wären aber unzureichend gewesen, wenn nicht die Wirtschaftsverhältnisse selbst das sogenannte Proletariat wieder patriotisch gemacht hätten. Die Sache lag so, daß die Erscheinungen des Maschinenzeitalters die Kapitalisten und die Lohnarbeiter gleicherweise verführten, ihre Taschen zu füllen, die Kapitalisten ihre großen, die Arbeiter ihre kleinen Taschen. Die MaMuttersprache und Vaterland

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schinenarbeit hatte gleich in ihren Anfängen das Elend gezeitigt, das in höchster Not den Sozialismus entstehen ließ  ; als der Kapitalismus, unbekümmert darum, die Leistungen der Maschine höher und höher steigerte und unbesorgt um das Ende so lange »Werte schuf«, bis die Werte keine Abnehmer mehr fanden, bis die Überproduktion da war, bis die Besitzer und die Bediener der Maschinen, beide deren Sklaven, ihre gemeinsame Rettung – diese Gemeinsamkeit verhinderte nicht den gegenseitigen Haß – in der politischen Macht ihres Landes erblickten. Was seit einigen Jahrzehnten unter dem Namen des Imperialismus verrufen ist und die Schuld am Weltkriege zu tragen hat, das ist gar nichts anderes als der notwendige Zwang, der das Maschinenzeitalter zur Ausdehnung der wirtschaftlichen Macht treibt. Kapitalisten und Arbeiter sind beide, allerdings mit sehr verschiedenen Gewinnhoffnungen, Imperialisten geworden. Der Imperialismus ist die schnödeste Form des Patriotismus, ist der Patriotismus des Geldsacks. Diesem realpolitischen Patriotismus gegenüber mußte die Stimmung wieder obenauf kommen, die, wie wir gesehen haben, die besten Köpfe und die besten Herzen Europas vor 150 Jahren beseelte, als Lessing die heroische Schwachheit des Patriotismus recht gern entbehrte, Goethe sich patriotischen Aufgaben verschloß und Voltaire über Patriotismus spottete  : »Man hat ein Vaterland unter einem guten König  ; man hat keins unter einem schlechten. Liebt wohl ein Bankier sein Vaterland  ? Die Leute, die vor Ehrgeiz brennen, eine politische Rolle zu spielen, schreien ihre Vaterlandsliebe aus und lieben nur sich selbst.« Hinter all diesen Absagen an den Patriotismus versteckt sich am Ende ein hohes sittliches Gefühl  ; ohne eine Ahnung für die geschichtliche Tatsache, daß der Patriotismus, 40

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einst eine moralische Forderung, inzwischen zu einem realpolitischen Gefühl geworden war, lehnten diese Männer den alten Patriotismus ab und wußten noch nichts von dem neuen. Der frivole Spruch  : »Wo dir’s gut geht, da ist dein Vaterland« hatte für die Mehrheit des Volkes einen ernsteren Sinn erhalten  ; der sozialistische Arbeiter wollte das Vaterland nicht mehr lieben, das ihm die Möglichkeit eines guten oder erträglichen Lebens nicht gewährte. Und die neuesten Staatslehrer bestärkten den Arbeiter im Vertrauen auf sein Recht, nicht nur ihre eigentlichen Führer. Auch ein Gelehrter wie A. Menger wendet sich scharf gegen eine Volkserziehung, die den Staatspatriotismus, d. h. die Aufopferung für die Machthaber, predigt  ; der Patriotismus sei in der Interessengemeinschaft der Herrschenden am stärksten entwickelt  : beim Adel, der Geistlichkeit, dem Heere und dem Beamtenstande.

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Sechstes Kapitel Dafür, daß an die Stelle des religiösen Ideals das nationale Ideal getreten ist, an die Stelle der jenseitigen Sehnsucht eine nach Raum und Sprache beschränkte nationale Sehnsucht, dafür, daß Religion wirklich durch Nation ersetzt wurde, will ich noch eine Tatsache beibringen, eine Anpassung, auf deren Bedeutung meines Wissens noch niemals hingewiesen worden ist. Es wäre aber ein recht umfangreiches Buch darüber zu schreiben. Ich meine die Tatsache, daß seit der entschiedenen Verdrängung der Religion durch die Nation im Dienste der Nationalitätsidee Bücher und Schriften gefälscht worden sind, genau so wie einst – und in nie noch gewürdigter Ausdehnung – Schriften gefälscht wurden im Dienste der Kirche, wie sogar noch in Übergangszeiten Fälschungen vorgenommen wurden im Dienste des Kirchenhasses. Ich glaube, daß auch die kritische Arbeit der letzten Jahrhunderte Fehler über Fehler begangen hat, im Gebrauche des Begriffes »Fälschung«. Die historische Wissenschaft hat zwar die Hypothese fallen lassen, nach welcher die Stifter von Religionen bewußte Betrüger waren, eine Hypothese übrigens, die zur Befreiung der Menschheit viel beigetragen hat  ; aber die gleiche historische Wissenschaft ist immer noch geneigt, die Verfasser unterschobener Schriften für bewußte Fälscher zu halten, also für Betrüger. Man lacht über den Scherz, daß es eine konfessionelle Mathematik gebe  ; man bemerkt aber nicht so leicht, daß in solchen kritischen Untersuchungen häufig eine katholische oder protestantische Philologie zu Worte kommt. So unterscheiden die Fachgelehrten ganz sinnlos zwischen den Pseudepigraphen des Alten Testaments und 42

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den Apokryphen des Neuen Testaments, eigentlich nur, um je nach Umständen die Verfasser der unterschobenen Schriften gegen den Vorwurf der Unehrlichkeit verteidigen zu können. Eine vorurteilslose Kritik dürfte zwischen den kanonischen und den nicht kanonischen Büchern der Bibel ganz und gar keinen Unterschied machen. Wer so eine Schrift unter dem Namen eines Propheten oder eines Apostels herausgab, um seine Eingebungen oder seine Tendenzschriften mit einer ehrwürdigen Autorität zu decken (Moses, Johannes), wer sich also einen berühmten Namen als Pseudonym wählte, der wäre ein Fälscher gewesen, falls jene Zeiten zwischen Echtheit und Unechtheit so genau unterschieden hätten wie wir. Auf die Echtheit geprüft, würde dann vom Alten Testament sehr wenig übrig bleiben  ; auch das Neue Testament und der Koran wären vielfach verdächtig. Für die Seelensituation der Fälscher sind besonders die zahlreichen Apokalypsen belehrend, die unter den Pseudepigraphen eine so große Rolle spielen. So wenig die Quäker und andere Schwärmer einfach Lügner waren, wenn sie sich auf unmittelbare Eingebungen Gottes beriefen, so wenig werden die Apokalyptiker der spätjüdischen Zeit einfach Betrüger gewesen sein, da sie den Namen eines Propheten zum Pseudonym wählten, da sie den Mann mit kindischer Schlauheit bereits eingetretene Ereignisse voraussagen ließen, nur um die Weissagung kommender Dinge glaubhafter zu machen. In jedem einzelnen Falle müßte man vor jeder Anklage auf Fälschung besonders prüfen, ob der Schreiber sich für inspiriert hielt oder nicht, ob er bestimmte Zwecke verfolgte oder nicht. Und weil eine solche Prüfung so gut wie niemals möglich ist, dürfte es angemessener sein, die Begriffe des Strafrechts nicht zu bemühen, Muttersprache und Vaterland

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noch weniger die der Moral, und lieber von Unechtheit oder von Neuheit zu reden als von Fälschung. Ähnlich steht es um die Annahme von Interpolationen oder Einschiebungen, mit der Hypothese also, die schon Bibelkritik war, die aber doch die Bedeutung der Frage überschätzte, ob z. B. Moses der Verfasser des Pentateuch gewesen. Bei den unechten Urkunden, auf welche in viel j­üngerer Zeit die Macht der römischen Päpste gestützt wurde, kann man freilich allgemein den Begriff der Fälschung anwenden  ; doch auch da hat die Phantasie einen weiten Spielraum  : ob man – um nur die beiden folgenreichsten Fälschungen hervorzuheben – gemeine Urkundenfälschung in gewinnsüchtiger Absicht voraussetzen will, wie bei der berüchtigten Konstantinischen Schenkung, oder ob man ideale Beweggründe als mildernde Umstände zubilligen will, wie bei den pseudoisidorischen Dekretalen wenigstens von den katholischen Gelehrten verlangt wird. Die Konstantinische Schenkung beruht sicherlich auf einer gemeinen Urkundenfälschung, ist – wie Luther sich kräftiglich ausdrückte – eine »weidliche, fette, dicke, wohl gemästete, echt päpstliche Lüge«. Wahrscheinlich hat ein Papst diese plumpe Fälschung anfertigen lassen – um das Jahr 750 –, um seine Ansprüche auf das Exarchat von Ravenna beim fränkischen Hofe juristisch bequemer verteidigen zu können. Aber der Inhalt der gefälschten Urkunde geht über diese nächste Absicht weit hinaus, möchte die Oberhoheit des römischen Papstes stabilisieren, nicht nur über seine Nebenbuhler in Antiochien, Alexandrien, Konstantinopel und über ganz Italien, sondern auch über die kaiserliche Macht  ; und in ihrer geschichtlichen Wirkung ging die Konstantinische Schenkung auch darüber noch 44

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hinaus, weil sie eine Handhabe bot, das alte römische Recht als geltendes Recht zu betrachten. Aber in dieser gefälschten Schenkungsurkunde steckt außer einer bewußten Lüge doch auch viel geglaubte Legende  ; so wurde es nicht nur für das Kaiserrecht, sondern auch für die Aufklärung von entscheidender Wichtigkeit, daß bald nach der allgemeinen Benutzung der Fälschung – erst seit dem 12. Jahrhundert – auch die historische Kritik einsetzte, die dann durch den Cusaner und endlich durch Valla zum wissenschaftlichen Beweise der Unechtheit führte. Etwas anders steht es um die pseudoisidorischen Dekretalen, die etwa 100 Jahre später als die Urkunden der Konstantinischen Schenkung gefälscht worden sind. Der Anlaß war vielleicht ein ähnlicher  : ein fränkischer Bischof wollte sich gegen Maßregelungen von weltlicher und kirchlicher Seite schützen, durch Urkundenfälschung, wenn es nicht durch das Recht geschehen konnte. Aber die ganze recht gelehrte Arbeit hatte doch einen ganz andern Erfolg, vielleicht wirklich schon einen ganz andern unbewußten Zweck. Die katholischen Forscher haben nicht ganz unrecht mit ihrer Behauptung, daß der Fälscher nicht etwa neue Gesetze habe einführen, daß er nur bestehende Gesetze auf falsche Autoritäten habe stützen wollen. Wie man in der Zeit der Kirchenväter, so hätten die katholischen Forscher hinzufügen können, vor Verfälschungen des Alten Testaments nicht zurückschreckte, um noch mehr Prophezeiungen auf das Neue Testament aufweisen zu können. Die Tatsache der Fälschung konnte nicht geleugnet werden, die Fälschung wurde aber aus dem Kreise des gewinnsüchtigen Betrugs in den der Geschichtsauffassung emporgehoben  : die Geschichte wurde verfälscht, zur größeren Ehre Gottes, also aus idealen Motiven. Muttersprache und Vaterland

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Die Aufklärung, welche den Beweis der Unechtheit geführt hatte, ging nun ihrerseits daran, ihre eigenen Ideen durch Fälschungen auf alte Autoritäten zu begründen. Ich erinnere nur daran, daß das Buch von den drei Betrügern, dessen Titel seit dem Kaiser Friedrich II. das Ziel zu zeigen schien, wirklich zu Ende des 16. und dann wieder zu Anfang des 18. Jahrhunderts geschrieben und gedruckt wurde, als ob es sich um eine Arbeit aus dem 13. Jahrhundert handelte. Diese Unterschiebungen waren nicht so naiv, doch auch bei weitem nicht so nachwirksam wie etwa die unterschobenen Apokalypsen der alexandrinischen Zeit  ; ihre Verfasser kannten bereits zwei Motive der Fälschung, die den alten jüdischen Fälschern als fanatischen Schwärmern sicherlich fremd gewesen waren  : Eitelkeit und Lachlust. Beinahe könnte man als Beispiel so moderner Fälschungen auch die berühmten Briefe der Dunkelmänner anführen, die zwar fast nur die Absicht des Spottes hatten und fast gar nicht die Absicht der Täuschung, die aber dennoch täuschten und so eigentlich parodistische Fälschungen waren. Nach diesem Rückblick auf alle die Fälschungen, die im Laufe von 2000 Jahren im Dienste der Religion ausgeführt worden waren, darf ich jetzt zu meinem Ausgangspunkte zurückkehren, zu der Bemerkung, daß eben solche Fälschungen im Dienste der Nationalitätsidee häufig und fast Mode wurden, als erst die Religion aus ihrer dominierenden Stellung durch die Nation verdrängt worden war. Da und dort heiligte der Zweck die Mittel. Aber die Fälschungen des 18. Jahrhunderts unterscheiden sich von den jüdischen und mittelalterlichen wesentlich durch die höhere Bildung und durch die schriftstellerischen Fähigkeiten der Fälscher  ; um alte Handschriften im vollen Lichte 46

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der Aufklärungszeit mit leidlichem Erfolge fälschen zu können, mußten die Hersteller über das ganze Handwerkszeug moderner Gelehrsamkeit verfügen. Doch auch wo man nicht darauf ausging, schriftliche Denkmale einer uralten Kultur des eigenen Volkes zu erfinden, begünstigte der Zeitgeschmack eine Lust am Truge. Zahlreiche Reiseromane erschienen, bald mit utopistischer Tendenz, bald ohne jede Tendenz, als ob es sich um erlebte Abenteuer des Verfassers gehandelt hätte  ; man hat den Erfinder des Robinson-Romans, den realistischen Phantasten Daniel Defoe, nicht übel einen edlen Fälscher genannt, weil viele seiner Romane geradezu darauf ausgingen, über einen erdachten Helden so zu berichten, als ob er wirklich gelebt hätte. Das Prinzip der täuschenden Erzählungskunst wurde von Defoe entdeckt, mit einigem Humor und nicht ohne Eitelkeit. Die reine Lust am Truge mag um die gleiche Zeit den tollen Psalmanazar verführt haben, die ganze Welt auf eine unerhörte Fälschung hineinfallen zu lassen. Ein französischer Strolch, sehr begabt, aber durchaus nicht verrückt, gelangt nach mancherlei Schicksalen in die Hände eines Jesuiten, der ihm allerlei zerstreute Kenntnisse beibringt. Der übermütige Junge erfährt, daß man von den Zuständen des östlichen Asien sehr wenig wisse  ; da gibt er sich für einen Eingeborenen von Formosa aus, und um seine Rolle im Abendlande besser spielen zu können, erfindet er die Kultur seines Vaterlandes Formosa  : Sprache und Schrift seines Volkes, einen ebenso neuen Kalender, eine ebenso neue Religion. Er übt sich so lange, bis ihm Sprache und Schrift seiner eigenen Erfindung geläufig worden sind. Er gibt nun (1725) ein gelehrtes Buch über sein angebliches Vaterland heraus  ; Geschichte und Geographie, Sprache und Religion, alles ist seine ErfinMuttersprache und Vaterland

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dung, und in dieser nur ihm bekannten Sprache leistet er eine Bibelübersetzung und legt Proben von epischen und lyrischen Dichtungen vor. Er findet zahlreiche Anhänger, auf deren Kosten er ein gutes und lustiges Leben führt, denn er mag nicht wenig über die Leichtgläubigkeit der Gelehrten gelacht haben. Endlich wurde die Spitzbüberei Psalmanazars, der sich für einen überzeugten Gläubigen der anglikanischen Kirche ausgab, von einem Jesuitenpater teilweise aufgedeckt, und der geniale Fälscher, dessen wirklichen Namen man niemals erfahren hat, entschloß sich, in einem neuen Buch ein volles Geständnis abzulegen. Er stellt sich da als einen gebesserten Sünder vor und mag wiederum über die Leichtgläubigkeit der Welt gelacht haben. Von einem Betruge im Dienste der Nation kann freilich keine Rede sein, weil er eine Liebe zu dem vorgetäuschten Vaterlande nicht haben konnte  ; aber Psalmanazar zeigte den Weg zu solchen Betrügereien und hatte bald Nachfolger. Wieder noch nicht Fälscherei im Dienste der Nation, eher wieder eine im Dienste des Religionshasses, war ein Betrug, der den gefeierten Königsmörder und Puritaner Milton um seinen Ruhm bringen sollte. Den Katholiken und den englischen Konservativen war Milton schon lange ein Dorn im Auge. Ein gewisser Lauder unternahm es (1747), durch eine unverschämte Unterschiebung den Dichter des Verlorenen Paradieses eines Plagiats zu bezichtigen. Durch einige Verehrer Miltons wurde Lauder gezwungen, seinen Schurkenstreich zu bekennen. Daß Milton den Holländer Vondel wirklich nachgeahmt hatte, gehört nicht hierher. Auf diese beiden tollen und mißglückten Fälschungen folgte 1760 die erste Probe einer Übersetzung aus dem neuentdeckten Barden Ossian. Die Wirkung dieses Bu48

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ches war ungeheuer  : auf die abendländische Dichtung wie auf die abendländische Sprachwissenschaft. Ossian wurde Mode, besonders in Deutschland und Frankreich  ; doch in England selbst regte sich bald der Zweifel an der Echtheit  : James Macpherson, der Entdecker und Übersetzer, habe dem Barden aus dem dritten Jahrhundert seine eigenen Gedichte in den Mund gelegt, das Ganze sei eine plumpe Fälschung. Ganz so einfach lag die Sache nun nicht. Nach der Meinung der heutigen Forscher hat Macpherson wirklich Bruchstücke alter Dichtungen aufgefunden, wenn auch just nicht aus dem dritten Jahrhundert, hat sie vor dem Untergange gerettet, sie aber freilich willkürlich nach seinem eigenen Ungeschmack verändert. So kann man beim alten Ossian nicht eigentlich von einer bewußten Fälschung sprechen, aber die unbewußte Fälschung hatte um so merkwürdigere Folgen. Die Dichtungen wurden rasch nacheinander in alle Kultursprachen übersetzt  ; Deutschland beeilte sich besonders  ; der Jüngling Goethe übersetzt Verse aus dem Ossian mit derselben Begeisterung, mit der dann der Greis Goethe ein Gedicht der Königinhofer Handschrift übersetzte. Überall in Europa wurde seitdem nach uralten Volksliedern gefahndet, überall wurde Echt und Schön verwechselt, überall sollte die Liebe zum eigenen Volke durch antiquarische Studien gesteigert werden. Der halbechte Ossian hat dieser Bewegung den stärksten Anstoß gegeben. Und ich zweifle nicht, daß die Freude am historischen Romane, die immer noch nicht ganz ausgestorben ist, mittelbar auf die Ossian-Mode zurückgeht. Es ist kein Zufall, daß Walter Scotts antiquarische Romane im England Ossians aufgekommen sind. Auch die deutsche Romantik hatte nicht nur fromme, sondern auch antiquarische Neigungen für das Mittelalter. Muttersprache und Vaterland

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Ich darf die Bemerkung nicht unterdrücken, daß diese erste große nationalistische Halbfälschung, eben die des Ossian, nicht nur ganz unkirchlich war, sondern geradezu freidenkerisch  ; die Religion Ossians kommt in allem Nebel und Dunst wie ein kirchenfeindlicher Deismus heraus, der von Atheismus nicht gar weit entfernt ist. Die Ahnung, daß der ganze Ossian ein unterschobenes Werk sei, muß doch gleich den ersten Erfolg begleitet haben  ; sonst wäre es ganz unverständlich, daß ein blutjunger und ehrgeiziger, übrigens sittlich haltloser Dichter sich (1770) bereits anreizen ließ, sein Glück mit den gleichen Mitteln zu versuchen. Es war der unglückliche Chatterton, der den Schwindel mit rasch zusammengerafften antiquarischen Kenntnissen unterstützte, dennoch keinen rechten Glauben fand und seinem verfehlten Leben bald selbst ein Ende machte. Äußerlich mehr dem Vorgehen Chattertons nachgebildet, an dichterischer Begabung (wenigstens in den lyrischen Stücken) selbst einem Macpherson überlegen, muß der patriotische Fälscher gewesen sein, der dann im Jahre 1818 altböhmische Gedichte in einem Turm von Königinhof gefunden haben wollte  : die Königinhofer Handschrift, das Meisterstück einer nationalistischen Fälschung. Zum ersten Male geschah es, daß ein philologischer Kampf um die Echtheit einer Handschrift zum Teile eines nationalen Kampfes wurde   ; durch viele Jahrzehnte leugneten die tschechischen Gelehrten die Fälschung. Und wie die pseudoisidorischen Dekretalen auch von solchen päpstlichen Politikern benützt wurden, die von ihrer Unechtheit überzeugt waren, so wurden die altböhmischen Gedichte in den politischen Kämpfen Böhmens benutzt. Es muß aber hervorgehoben werden, daß Herr Masaryk, der der erste 50

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Präsident der böhmischen Republik wurde, als genau 100 Jahre nach der Auffindung der Königinhofer Handschrift der kühnste Traum der Fälscher in Erfüllung ging, – daß Herr Masaryk einer der ersten tschechischen Forscher war, die die Echtheit der Handschrift preisgaben.

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Siebentes Kapitel Wir haben es bei dieser ganzen Untersuchung mit einer Reihe von Worten zu schaffen, die auch der schlichteste Bürger versteht oder zu verstehen glaubt, die aber bedeutsame Rätsel aufgeben, sobald man es unternimmt, sie zu ordnen  : Muttersprache, Volk, Nation, Staat, Vaterland. Wir wollen jedes einzelne Wort aus dieser Reihe etwas näher ansehen und vielleicht ein wenig von dem Staube säubern, den die geschichtliche Entwicklung darüber hat fallen lassen. Nur ein wenig  ; denn es gibt kein Wort, das noch einen Sinn hätte, wenn man es völlig von seiner Geschichte lösen wollte oder könnte. Die Sprache geht uns hier gar nichts an als die Bezeichnung für das Ausdrucksmittel, das »bekanntlich« das menschliche Denken vom tierischen Denken unterscheidet. Uns geht hier nur die Einzelsprache etwas an, die Muttersprache, an der man vor allem ein Volk von dem andern unterscheidet, durch welche jedes Volk zum Bewußtsein seiner Einheit kommt. Sieht man jedoch genauer zu, so sind die Grenzen zwischen der gemeinsamen Muttersprache und den vielen Mundarten nicht scharf gezogen. Der Staat, auch der annähernd reine Nationalstaat, hat als Verständigungsmittel seiner Menschen nicht eigentlich eine Muttersprache, die ohne mundartliche Färbung nicht denkbar ist, sondern eine Sprache der Übereinkunft, eine nicht künstliche, aber doch gewählte Sprache, die man sich gewöhnt hat »Schriftsprache« zu nennen. Wir hätten keine Gemeinsprache, wir hätten nur Mundarten, wenn das Schreiben nicht erfunden worden wäre, und der Buchdruck dazu. So ist es bei allen Völkern von größerer Ausdehnung. Ohne eine gelernte Schriftsprache verstehen einander nicht der 52

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Pommer und der Schwabe, der Genueser und der Neapolitaner, der Bretone und der Gascogner, der Schotte und der Engländer. Unter »Volk« versteht man nun nicht die Menschen, die durch eine Mundart verbunden sind, sondern eben diese weitere Gemeinschaft, die den Gebrauch einer umfassenden Schriftsprache kennt. Es ist nicht oder doch nicht mehr deutscher Sprachgebrauch, von den Schwaben, den Bayern, den Franken oder den Pommern als von verschiedenen Völkern zu reden. Um das gleich vorwegzunehmen  : so oft der Geschichtsschreiber das Wort »Volk« gebraucht, hat er gegenwärtig eine ausgedehnte Menschengemeinschaft im Sinne, die nicht allein durch eine gemeinsame Sprache, sondern auch durch politische Einheit zu einer Nation, zu einem Staate verbunden ist. Als Grenzfälle kann man diejenigen Völker betrachten, die bereits eine Nation zu bilden glauben, aber noch keine nationale Selbständigkeit erlangt haben, also die Sehnsucht nach eigener Staatenbildung mit sich herumtragen. Man konnte bis vor kurzem an das Volk der Tschechen denken, kann es immer noch an Irland. Wie immer es nun um die Herkunft und um die Grundbedeutung des Wortes Volk stehen mag, wie immer man sich zu der Frage stellen mag, ob das deutsche Wort ursprünglich eine Kriegerschar bezeichnete oder nicht, sicher ist, daß nur der Geschichtsschreiber und etwa noch der Staatsmann mit dem Worte »Volk« den Begriff des Gesamtvolkes oder der Nation verbindet, während die Umgangssprache noch vielfach unter »Volk« die ungebildete Menge versteht, im Gegensatze zu den durch Adel, Gelehrsamkeit oder Reichtum nach wie vor bevorrechteten Kreisen. Daran hat sich durch alle Revolutionen seit 1789 nicht viel geändert. Man spricht die Worte »ein Mann aus dem Volke« achtungsMuttersprache und Vaterland

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voller als früher, aber man benutzt immer noch die gleichen Worte. Und merkwürdig  : in England und in Frankreich, wo dem Lehnworte nation das ältere Lehnwort people oder peuple gegenübersteht, hat people und peuple genau den gleichen Bedeutungswandel durchgemacht  : aus einer Bezeichnung für alle Menschen eines Staates (so wurde das lateinische Wort populus zuerst gebraucht) ist people und peuple im Wandel der Zeiten, nicht ganz parallel in England und in Frankreich, zur Bezeichnung für einen niedrigeren Teil der Staatsbürger hinabgesunken. Im Lande der großen Revolution ist diese Verpöbelung des Wortes peuple noch dauerhafter als in England, wo people doch auch ganz ohne Werturteil von Menschen, Leuten überhaupt gesagt wird. Im Französischen mochten Grundrechte und Staatsgesetze in demokratischer Absicht peuple anstatt nation setzen, mochte der amtliche Stil der Republiken feierlich peuple sagen, mochte den peuple zum souverain machen, immer wurde von der Umgangssprache der alte Unterschied festgehalten  : sollte Frankreichs Größe gepriesen werden, so hieß es  : grande Nation, peuple behielt, als Hauptwort und sogar auch als Beiwort, einen unfreundlichen Sinn. Ich möchte die Bemerkung einschalten, daß im Deutschen eine Gegenbewegung gegen das Hinabsinken des Wortes »Volk« zu beobachten ist  ; durch ältere und neuere Bemühungen der Sprachreiniger. Vor etwa hundert Jahren gelang es tüchtigen Männern, den Ausdruck »Nation« (namentlich in Zusammensetzungen) durch das vermeintlich einheimische Wort »Volk« zu verdrängen  ; man gewöhnte sich rasch und gut an Volkstum (von Jahn geprägt), an Volkswirtschaft, Volksheer, Volkslied, Volksmärchen usw.; nur die neuere Verdeutschung von »national« hat sich nicht recht durchsetzen können, vielleicht weil »völkisch« zuerst 54

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als politisches Schlagwort einer Partei auftrat und darum von der Gegenpartei bewußt abgelehnt wurde. Vielleicht aber doch auch darum, weil der Sprachgeist, der einst im Zauberkreise der Romantik die Bezeichnung »Volkslied« für die feinste Blüte der Poesie gutgeheißen hatte, jetzt hundert Jahre später, in der harten, realpolitischen Bismarckzeit, die hohe Bewertung des Begriffes »Volk« nicht mehr mitmachte. Vielleicht sträubt sich der Sprachgeist auch nur gegen eine ungewohnte Verwendung der Endsilbe »isch«  ; die Bildung »volklich« hätte möglicherweise mehr Glück gehabt, wenn nicht die üble Möglichkeit eines Mißverständnisses (»volklich« und »folglich«) dem Gebrauch dieser Wortbildung entschieden widerraten hätte. Das Fremdwort »Nation« ist also in der deutschen Sprache lebendig geblieben und bedeutet, bestimmter für das Gefühl als für die Wissenschaft, fast nur die geschichtlich gewordene Einheit, ohne pedantisch nach der Ursache der Einheit zu fragen  ; die Einheit der Nation beruht bald mehr auf der Gemeinsamkeit der Sprache und der geistigen Kultur, bald mehr auf dem gemeinsamen Wohnsitz, der dann leicht zur Annahme einer gemeinsamen Abstammung verführt, bald mehr auf der Zugehörigkeit zu einem gemeinsamen Staate. Gemeinsamkeit der Religion hat längst aufgehört ein Merkmal der Nation zu sein  ; man hat sich vertragen gelernt. Es macht aber für das Wesen des Nationalgefühls einen gewaltigen Unterschied aus, ob es sich – mit mehr oder weniger Bewußtsein – auf die gemeinsame Muttersprache gründet oder auf die Zugehörigkeit zu einem gemeinsamen Staate. Die Muttersprache und was drum und dran hängt, ist ein Gegenstand der Liebe  ; man empfindet die Einheit der Sprache, des Geistes und der Sitten wie ein enges verMuttersprache und Vaterland

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wandtschaftliches Band und liebt seine Sprachgenossen wie man seine Familie liebt, unbekümmert um alles Trennende. Man liebt die Muttersprache sogar stärker als man seine Familie liebt, als man seinen Nächsten lieben kann  ; man liebt sie wirklich wie sich selbst, wie man nur einen edlen Teil seines Ich lieben kann, wie man sein Auge liebt. Auch sehen wir ja die Welt nur durch unsere Sprache. Den Staat liebt man nicht, sicherlich nicht von seinem Anfang an. Zu häufig ist der Staat im Laufe der Geschichte zusammengeschweißt worden von einem machtgierigen Fürsten, von einem Eroberer  ; unterdrückte Stämme wehrten sich mit oder ohne Erfolg dagegen, ihre Mundart oder gar ihre Sprache an den siegreichen Staat zu verlieren. Die Schweiz bietet beinahe das einzige Beispiel eines mehrsprachigen Staates, in welchem bisher trotz der Liebe zur Muttersprache etwas wie Liebe zum gemeinsamen Staatswesen aufkommen konnte  ; vielleicht auch nur Stolz auf das gemeinsame Staatswesen. Es gibt auch im Verhältnisse der Geschlechter eine Liebe aus Eitelkeit. Wer könnte überzeugend sagen, warum der Elsässer, der seine deutsche Mundart liebt, dennoch ein Genosse der französischen Staatsnation sein will  ? Seine Muttersprache liebt man unwillkürlich, zum Staate strebt der bewußte Wille. Ein Musterbeispiel des Widerspruchs zwischen den Nationen und dem Staate war das österreichische Kaiserreich. Die Regenten waren unfähig, durch ihre guten wie durch ihre schlechten Eigenschaften, eine österreichische Nation zu schaffen  ; fast bei allen Stämmen dieser vielsprachigen politischen Einheit war Liebe zur Muttersprache mit Haß gegen den Gesamtstaat verbunden, bis zum Zusammenbruche. Weil aber gemeinsame Arbeit an den Aufgaben des Staates den Einsatz der ganzen Persönlichkeit seiner Bürger 56

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verlangt, weil gemeinsame Arbeit ohne etwas Liebe unmöglich oder doch unfruchtbar ist, darum haben die Staatsmänner von jeher danach gestrebt, einen Ersatz zu schaffen für die Liebe zur Heimat, zur Muttersprache, die dem natürlichen Staate von selbst eigen war  ; der künstliche Staat hatte seinen Bürgern keine Heimat zu bieten, und so schuf er als Ersatz den Begriff des Vaterlandes, das – wie gesagt – sehr oft nur das Land des sogenannten Landesvaters war. Der einst so feierlich ausgesprochene Ehrentitel eines pater patriae, eines Vaters des Vaterlandes, hätte, genau betrachtet, zu seiner eigenen Parodie werden müssen. Man liebte den unnatürlichen Vater so wenig wie das nicht natürliche Vaterland. Doch konnte es auch da das geben, was nicht nur die Unterhaltungsschriftsteller eine Liebe aus Mitleid nennen. In Zeiten der äußersten Not, wie in Zeiten von Glück und Ruhm, konnte diese Liebe zum Vaterlande überaus wirksam zu einer echten Empfindung anschwellen  ; aber dazwischen, im alltäglichen Kampfe ums Dasein, wurde diese Vaterlandsliebe, auch Patriotismus genannt, leicht zu einem bloßen Fahnenschlagwort, wie eine Regimentsfahne, zu welcher der Soldat geschworen hat, schwören mußte, damals, als es noch keine sogenannten Volksheere gab. Die geistigen Führer Deutschlands, Lessing und Goethe, ließen sich bei ihrer »unpatriotischen« Denkrichtung freilich von einem andern Schlagworte leiten, dem des Weltbürgertums, aber sie liebten ihre Heimat und ihre Muttersprache nicht weniger, wenn sie in einem zerrissenen Deutschland, das noch kein Staat und kein Vaterland war, die Vaterlandsliebe kühl betrachteten. Der volkstümlichste oder nationalste Dichter, der bald nach ihnen kam, Friedrich Schiller, bietet eine willkommene Gelegenheit, die Zweideutigkeit des Wortes Vaterland festzustellen, das natürliche VaterMuttersprache und Vaterland

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land und das künstliche auseinanderzuhalten. Ohne vorgefaßte Absicht muß ich das Beispiel von der Schweiz und von Österreich wiederholen  ; und seltsam, bei Schiller selbst erscheint Österreich im Gegensatz zur Schweiz. Der staatsmännischste Dichter der Deutschen, eben Schiller, hat in seinem »Wilhelm Tell« die natürliche Vaterlandsliebe des Schweizers hinreißend gepriesen. Die Sätze Attinghausens finden heute noch bei jeder Aufführung lauten Beifall  ; die Zuhörer vergessen gern, daß der Neffe des demokratischen Freiherrn nicht durch diese klingenden Sätze, sondern durch eine dumpfe Liebesgeschichte zu einem Patrioten umgewandelt wird, zu einem Gegner Österreichs, dessen »Herrschaft auf den Ländern lastet«. Die Heimatliebe des Herzens tönt aus Attinghausens Versen  : Die angebornen Bande knüpfe fest, ans Vaterland, ans teure, schließ dich an, das halte fest mit deinem ganzen Herzen. Hier sind die starken Wurzeln deiner Kraft  !

Nur wenige Jahre vorher hatte Schiller seinen »Wallenstein« vollendet, die politische Tragödie des treulosen österreichischen Generals. Wir lesen den fünften Auftritt des ersten Aufzugs von »Wallensteins Tod«, die entscheidende Unterredung zwischen dem Feldherrn des Kaisers und dem schwedischen Unterhändler. Der Schwede zweifelt an der Möglichkeit, eine ganze Armee zum Treubruch zu verleiten, denn der schwedische Protestant glaubt daran, daß der Krieger der Fahne mit dem »Herzen« folge. Wieder steht das Wort »Herz« da. Und Wallenstein, der Staatsmann und Diplomat, der Kenner der Soldatenseele, hat ein Vaterland des Verstandes im Sinne, wenn er antwortet  : 58

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Ja, der Österreicher hat ein Vaterland, Und liebts, und hat auch Ursach, es zu lieben. Doch dieses Heer, das kaiserlich sich nennt, Das hier in Böheim hauset, das hat keins.

Man achte auf jedes Wort und auch auf die Betonung von »hat«, die Schiller selbst vorschreibt. Der Unterhändler Wrangel hatte verblüfft gefragt  : »Herr Gott im Himmel  ! Hat man hier zu Lande denn keine Heimat, keinen Herd und Kirche  ?« Dem schlauen Wallenstein ist es nur um den zweiten Teil seiner Antwort zu tun  : der Soldat werde sich wohl zum Treubruch verleiten lassen, weil er in Österreich kein Vaterland gefunden habe, »Böhmen habe kein Herz (schon wieder) für seinen Herrn, den ihm der Waffen Glück, nicht eigne Wahl gegeben«. Und nur nebenher wirft Wallenstein (oder der diplomatische Schiller) die fast paradoxe Behauptung hin  : »Der Österreicher hat ein Vaterland«, gegen die allgemeine Erwartung, er hat eine Heimat und darin einen heimatlichen Herd. Unsere geistigen Führer im 18. Jahrhundert haben demnach, ohne darüber zu begrifflicher Klarheit zu kommen, Muttersprache und Volk als natürliche Gebilde erkannt, Nation und Staat als mehr oder weniger künstliche Gebilde, haben offenbar einen Unterschied gemacht zwischen der Liebe zur Heimat und der Liebe zum Vaterlande  ; so war es aber nicht gemeint, daß sie vaterlandslose Weltbürger gewesen wären wie die Sozialisten später – in der Theorie. Liebe zur Heimat und Weltbürgertum wirrten durcheinander, im Deutschland Friedrichs des Großen ebenso gut oder so schlecht wie in dem Frankreich der großen Revolution. Zu einer reinlichen Scheidung der beiden Gefühle kam es hüben und drüben, unwiderstehlich im Augenblicke der Muttersprache und Vaterland

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höchsten Not und dann wieder verhängnisvoll nach dem Triumphe  : in Frankreich 1793 und nach den berauschenden Erfolgen Napoleons, in Deutschland nach der Schlacht von Jena und nach dem Sturze Napoleons. Wir sind nur, alle, durch die Schule des Historismus hindurchgegangen und darum besser als unsere Klassiker imstande, sowohl die mehr natürlichen als die mehr künstlichen Gebilde in ihrem geschichtlichen Werden zu verstehen. Geworden sind – wie wir erst seit etwa 100 Jahren wissen – auch Muttersprache und Volk, nur sind sie viel früher, viel langsamer, viel unbewußter geworden, organischer als Nation und Staat  ; daraus allein mag es zu erklären sein, daß wir Sprache und Volk wie Teile unseres Ich lieben, wirklich wie unsern Augapfel, daß wir zu ihnen ein Verhältnis des Herzens haben, während wir zu den jüngeren, schnelleren, bewußteren Gestaltungen von Nation und Staat nur ein Verhältnis des Verstandes aufbringen. So bin ich geneigt, den Riß, der gegenwärtig bei allen Völkern die Patrioten und die Weltbürger zu trennen droht, für ein arges Mißverständnis zu halten  ; auf der einen wie auf der andern Seite wird ein richtiges oder doch beachtenswertes Gefühl mit leidenschaftlichem Eifer übertrieben, hier das Gefühl der allgemeinen Brüderlichkeit unter den Menschen – nebst Freiheit und Gleichheit –, dort das Gefühl für eine gesunde Selbstsucht des eigenen Volkes. Und der Humor des armen Menschenverstandes hat es zuwege gebracht, daß diese Vermischung von Weltbürgertum und Nationalstolz überall – mehr oder weniger deutlich – zu dem Aberglauben geführt hat  : das eigne Volk sei das Muster, sei das Vorbild für die Menschheit. Überall soll an des eigenen Volkes Wesen die Welt genesen. Die guten Deutschen haben das am offensten ausgesprochen, lange 60

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vor Geibel, schon seit Wilhelm von Humboldt und Fichte. Doch auch anderswo herrscht dieser Aberglaube, der nur nicht weiß, wie unhöflich und unduldsam er ist. Die Unterlage dieses Gefühls aber ist wertvoll  : die Überzeugung, daß die Welt krank sei und genesen müsse. Die Untersuchung der Krankheit, die sogenannte Diagnose, gibt leider noch keine Sicherheit dafür, daß ein Heilmittel gefunden werden könnte  ; dennoch muß mit der Untersuchung der Anfang gemacht werden. Das Mißverständnis scheint mir darauf zu beruhen, daß die beiden Parteien, die der Patrioten und die der Weltbürger, einander als Feinde betrachten, daß man wieder einmal für einen Artunterschied hält, was eigentlich nur ein Gradunterschied ist. Die Sache hat mit einer falschen Übersetzung angefangen, noch dazu mit der falschen Übersetzung eines Satzes aus dem alten Tröster Aristoteles. Der Mensch sei ein politisches Tier. Natürlich war nur gemeint  : der Mensch sei ein geselliges Tier oder (wenn es schon ein Fremdwort sein muß) ein soziales Tier. Seitdem der Sozialismus die Macht eines Schlagwortes erlangt hat, und seitdem gar die Sozialdemokratie eine politische Partei geworden ist, wäre für einen Gedankengang, wie der gegenwärtige, das Wort »sozial« besser zu meiden. Denn nicht Politik, die Mutter der Lüge, soll hier getrieben werden. Halten wir uns also an eine gemeinverständliche Form des Satzes. »Geselligkeit, Gemeinschaftsgefühl gehört zum Wesen des Menschen.« Unmenschlich ist, wer kein Gemeinschaftsgefühl besitzt, weder im engern noch im weitern Kreise. Ein Gradunterschied jedoch scheint es mir, ob der Einzelne Gemeinschaftsgefühl besitzt  : nur für seine Ehe oder Familie, für seine nächste Heimat, für sein Volk, für seine Nation, oder ob er gar ein Gemeinschaftsgefühl besitzt für die soMuttersprache und Vaterland

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genannte Menschheit, für alles, was Menschenantlitz trägt. Nur das Gefühl einer Gemeinschaft, einer Zugehörigkeit, einer Einheit muß der Mensch besitzen, sonst ist er kein Mensch, ob er auch Menschenantlitz trägt. Aber ein Gefühl nur ist es, meinetwegen ein Instinkt und darum immer in Gefahr, wenn es erst wissenschaftlich begründet werden soll. Es ist da die Gemeinsamkeit der Abstammung, oft mehr Glaube als Tatsache, wissenschaftlich kaum mehr zu halten, aber als Fiktion von großer Bedeutung, weil der Glaube an die gemeinsame Abstammung fast religiös wirken kann, im guten wie im bösen Sinne. Es ist da ferner die Gemeinsamkeit des Wohnsitzes, poetischer »der Heimat«, die dem Patriotismus alle Stimmungen der tiefsten Zugehörigkeit verleiht zu der Umwelt, in der er geboren ist, zu allen Besonderheiten der toten und der lebendigen Natur  ; an Berg und Tal, an Himmel und Fluß, an Blumen und Vogelgesang denkt man bei dem Worte Heimat. Da ist endlich die Gemeinsamkeit des geistigen Lebens, kürzer  : die Gemeinsamkeit der Kultur. Da möchte ich aber wiederholen, daß diese Gemeinsamkeit viel weiter reicht und sich demnach viel einfacher ausdrücken läßt, als man gewöhnlich erwartet. Die Gemeinsamkeit der Kultur äußert sich überall, wenn man das Wort nur recht verstehen will, in der Liebe zur Muttersprache. Patriotismus ist diese Liebe zur Muttersprache. Die Muttersprache ist der große Nationalschatz, der alle andern geistigen Güter mit umfaßt. Für die Nationalliteratur sollte sich das von selbst verstehen  ; sie ist ja nichts andres als die von erlesenen Menschen künstlerisch geformte Sprache. Aber auch die Religion ist nur ein Zweig am Baum der Sprache, weil alle religiösen Begriffe der Sprache angehören, in ihr und mit ihr wachsen und erstarken, sich wandeln und vergehen  ; und wo in der 62

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Religion Unsagbares auszudrücken ist, da versagt freilich die Sprache, aber da ist die Religion auch nicht mehr gemeinsam, sondern flüchtet sich ketzerisch, mystisch in das Herz des Einzelnen. So ist die Gemeinsamkeit der Muttersprache wirklich das Höchste, was der Mensch in seinem innersten Gewissen an Gemeinsamkeit vorfindet  : der gemeinsame Besitz alles dessen, was ihm teuer und unverlierbar ist an den Gütern der Kultur und des Geistes.

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Achtes Kapitel Der Völkerhaß um der verschiedenen Religionen willen, ein geschichtlich gewordener, aber von Politikern immer wieder aufgepeitschter Haß, hat erst nach dem Dreißigjährigen Kriege langsam nachgelassen. An seine Stelle ist, weil die Menschen offenbar auf die Freuden des Hasses nicht verzichten wollen, der neue Völkerhaß getreten, der sich auf die natürlicheren Grundlagen der Völkerverschiedenheit beruft, auf Abstammung und Sprache. Und weil’s doch zu widersinnig gewesen wäre, Menschen totzuschlagen, weil sie eine andere Muttersprache liebten, so einigte man sich auf eine gefälligere Formulierung, man schlug sie nur tot, weil sie ein anderes Vaterland liebten. An der Sache wurde dadurch nichts geändert. Die Leute, welche die biblische Schöpfungsgeschichte für wahr hielten, hätten eigentlich die gleiche Abstammung aller Menschen und, trotz des babylonischen Turmbaus, die Verwandtschaft aller Sprachen anerkennen müssen  ; abgesehen davon, daß gerade diesen Leuten von ihrer Religion die Liebe empfohlen worden war und nicht der Haß. In Wahrheit ist die Lehre, die uns allen nach dem entsetzlichen Weltkriege gepredigt wird, die Lehre von der Notwendigkeit eines Völkerbundes, von der Brüderlichkeit aller Menschen, viel älter als die aus dem Schrecken geborene Sehnsucht unserer Tage, älter als die fraternité der großen französischen Revolution, älter als die Utopien aus dem ersten Jahrhundert der Neuzeit. Nicht unter den geistlichen und weltlichen christlichen Fürsten, wohl aber unter den inbrünstigen Ketzern des Mittelalters tauchte der Gedanke auf, daß die Menschen einander als Brüder verstehen und lieben könnten. Wo diese Ketzer (viele wur64

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den zersprengt, verfolgt, gelegentlich auch um der Liebe willen lebendig verbrannt) dazu gelangten, Vereinigungen zu bilden, da verriet sich ihr Glaubensbekenntnis am schönsten darin, daß sie wenigstens ihre Genossen Brüder nannten. So bestand in den europäischen Ländern seit dem 13.  Jahrhundert und bis ins 16.  Jahrhundert hinein eine Brüderschaft vom Freien Geiste oder vom Neuen Geiste oder vom Hohen Geiste. Nicht eigentlich eine Sekte. Die Brüder waren sehr religiös, doch ganz unkirchlich. Nicht gottlose, doch kirchenfeindliche Mystiker, die sich aus dem Religionshasse des Mittelalters hinaus sehnten und für das dritte Reich schwärmten, das auf das Reich des alten und des neuen Bundes folgen mußte. Für das dritte Reich, zu welchem 500 Jahre später Lessing das Menschengeschlecht erziehen wollte. Auch die Überwindung der nationalen Gegensätze, wie aller irdischer Besonderheiten, war diesen Freien Geistern nicht fremd. Diese Pantheisten, die sich eins wußten mit dem unpersönlichen Schöpfer aller Dinge, kannten noch weniger den »Unterschied« zwischen einem Menschen und seinem Bruder, zwischen einem Volke und seinem Brudervolke. Ich habe es einmal gewagt, in einer vermessenen Erfindung die Weltanschauung der Brüder vom Freien Geiste so einem alten Knaben in den Mund zu legen oder in die Feder, da ich ihn einen Brief schreiben ließ über alle diese Dinge und den Brief so datierte, als wäre er nur drei Jahre nach der Verbrennung des Johannes Hus verfaßt worden. Hus war einer der ersten gewesen, die an Stelle des Religionshasses den Vaterlands- oder Sprachenhaß setzen  ; es ging also recht gut an, einen Zeitgenossen des Hus die eigenen Gedanken aussprechen zu lassen  : die Nationalkriege seien ebenso zu überwinden wie die Religionskriege. Hier mein Brief  : Muttersprache und Vaterland

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»Geliebter Bruder im Freien Geiste  ! Wir, die heimlich verbundenen Kampfgenossen der kommenden Wahrheit, sind nur gering an Zahl und dem Leibe nach unfrei in einem unfreien Geschlechte  ; ich bitte Dich darum, diese Blätter, die ich Dir durch einen sichern Boten zugehen lasse, nur in der Verborgenheit Deiner Bücherei zu lesen und sie nachher zu verbrennen, als wärest Du einer der Henkersknechte, die jetzt so eifrig dabei sind, unbequeme Schriften oder auch Menschen dem Feuer zu überliefern. Du bist alt genug, ich bin jung und stark genug, den natürlichen Tod nicht zu fürchten. Ich bin aber noch kein Feigling, wenn ich nicht gern lebendig verbrannt werden möchte. Ich werde es niemals vergessen, wie die klingenden Flammen dem Magister Hus ins Gesicht schlugen, bis sie die Worte auf seinen Lippen erstickten. Nun fragst Du mich, mein geliebter Bruder, zweierlei  : um welcher Ketzerei willen der böhmische Magister so jammervoll leiden mußte, und warum das Konzil von Konstanz so kläglich auseinander ging, ohne die Reform der Kirche an Haupt und Gliedern auch nur anzubahnen. Die Form Deines Fragens hat mir angezeigt, daß Du mit den äußern Umständen der öffentlichen Verhandlungen schon vertraut bist und von mir etwas Wichtigeres erfahren willst  : was sich in den Herzen der leitenden Männer regte, da sie nur einen neuen Mord zu andern Morden fügten, anstatt – wie sie versprochen hatten – die Christenheit von einem unerträglichen Joche zu lösen. Ich maße mir nicht an, ein Herzenskündiger zu sein. Vielleicht kann ich Dir aber wirklich einiges Wissenswerte berichten, weil ich ja die Prager Unruhen miterlebt hatte und jetzt hier in Konstanz beim Ausgange dabei war, als Geheimschreiber meines Kardinals, des klugen und gelehrten Pierre von Ailly. 66

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Nicht eine einfache Antwort auf Deine beiden Fragen kann ich bieten, nur etwa einen Trost in Deinem fragenden Kummer, wenn ich endlich auszusprechen wage, was sich mir in den vier erregten Jahren dieses kriegerischen Konzils als letzte Überzeugung aufgedrängt hat. Nimm gütig auf, was ich also Deiner reiferen Weisheit unterbreite. Den geistlichen und den weltlichen Fürsten war es nicht einen Tag lang ehrlich zu tun um eine Erneuerung des Glaubens  ; und auch Hus ist nicht um einer Ketzerei willen gemartert worden. Gläubige Frommheit findet sich nur noch beim niederen Volke und bei einzelnen einfältigen Herren und Prälaten, bei inbrünstigen Gottsuchern, die längst unserer Brüderschaft zugehörten, wenn sie den Weg zur Vereinigung mit dem unbekannten All-Einen gewiesen bekommen hätten. Die Könige aber und die – unglaublich zu sagen – gleichzeitigen drei Päpste suchten Gott nicht, suchten bloß ihren zeitlichen Vorteil, konnten einen ungeheuchelten Zorn gegen den Ketzer Hus gar nicht empfinden, weil sie den freudigen Glauben gar nicht mehr hatten. Ihre einzige Triebfeder ist die leidige Politik. Sie haben den Zustand bereits vorgefunden, daß die Religion der Liebe sich in eine Religion des Hasses und der Verfolgung gewandelt hat  ; die geistlichen wie die weltlichen Fürsten verwenden diesen Haß, selbst kaltsinnig, selbst ohne Liebe und fast ohne Haß, für ihre staatsmännischen Zwecke. Ich sehe von meinem bescheidenen Winkel aus, wie von einem stillen Beobachterposten, das Gefühl der einheitlichen frommen Gläubigkeit langsam verdrängt werden durch ein neues Gefühl, in der Christenheit bislang unbekannt, doch einst den Griechen und Römern vertraut  : durch das Gefühl der Volkszugehörigkeit. Und auch dieses Gefühl, so rufe ich als ein trauriger Prophet, wird sich wandeln wie Muttersprache und Vaterland

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die Religion, wird sich wandeln aus einer Liebe zu Sprache und Sitte der Heimat zu einem Hasse gegen die Nachbarstämme. Mit der Ausrottung der Ketzer hat es angefangen, mit Ausrottungsversuchen der Völker wird es seinen Fortgang nehmen. Glaubensgreuel da und dort. Bis etwa unsere heilige Brüderschaft, oder was sich aus ihr entwickeln wird, im Freien Geiste das dritte Reich gestiftet haben wird, den Menschenfrieden in demütiger Vereinigung mit dem All-Einen. Es kann 50 Jahre dauern, es kann auch 500 Jahre dauern, bevor das dritte Reich aufgerichtet ist, so genau sieht mein blödes Prophetenauge nicht. Aber das Reich wird kommen  ; und dann wird man uns Brüder nicht mehr als Schwarmgeister verlachen. Jetzt jedoch will ich meiner hitzigen Einbildungskraft Zügel anlegen und Dir schlicht erzählen, wie sich in Prag und dann in Konstanz meine Meinung von diesen Dingen gebildet hat. Das neue Gefühl, der neue Glaube an die Herkunft oder die Nation der Menschen war zuerst an den Universitäten entstanden, wo die jungen Leute aus aller Herren Ländern zusammenkamen und, gelangweilt von der lateinischen Schulsprache, Landsmannschaften schlossen, um ihre engern und weitern Angelegenheiten in der vertrauten Muttersprache zu erörtern. Es machte sich so, daß die Kommilitonen schließlich nach Landsmannschaften oder Nationen abstimmten, wenn nach neuem Aberglauben die Mehrheit etwas entscheiden sollte. Aus Paris, der ersten Universität der Welt, war dieser Brauch nach Prag gewandert. Ich war vor bald zehn Jahren ein Prager Student, als ein Niederländer bei der sächsischen Nation eingeschrieben, da der arme Magister Johannes Hus dort noch lauter als vorher von sich reden machte. Auch auf den Straßen. Du erinnerst Dich, daß die Prager Geschichte mit 68

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einem Siege der böhmischen Nation endete, daß die drei andern Nationen (die sächsische, die bayerische und die polnische, mit ihrem Anhang von Dienern, Schreibern und Buchhandwerkern an die 5000 Mann stark) nach Leipzig auszogen  ; ich für mein Teil ging nach Paris, weil dort die kühne Zweifelslehre des Engländers Occam im Schwange und ich – heute ein in lächelnder Resignation Zweifelnder – noch ein erbittert Zweifelnder war. Du kannst Dich darauf verlassen, daß ich mich schon damals vom falschen Scheine nicht täuschen ließ  ; auch in Prag hat es sich um den neuen Glauben an das Herrschaftsrecht eines Volksstammes gehandelt, nicht um den alten Glauben der römischen Theologen. Überhaupt war der Magister Hus kein selbstständiger Neuerer. Seine Ketzerei trug zuerst nicht einmal seinen Namen. Er war nur bekannt als ein Anhänger des Engländers Wyclif, dem ja der Dogmenstreit auch eine Nebensache gewesen war, Hauptsache aber die Entlastung seines Landes von vielen kirchlichen Steuern. Und wie Wyclif bei den englischen Baronen in Gunst war, die Geld zu sparen und Kirchengüter an sich zu bringen hofften, so wurde auch Hus von mächtigen böhmischen Baronen beschützt und aus dem gleichen Grunde. Er hatte freilich viele Freunde selbst unter den Bürgern und kleinen Leuten  : weil er der wachsenden Sehnsucht nach einer Verinnerlichung der Religion entgegenkam, besonders weil er solchergestalt auf der Kanzel seiner Kapelle predigte. Sehr erhöht wurde sein Ansehen just damals, da er sich an die Spitze der Bewegung stellte, die die Prager Universität an die eine Nation auslieferte. Gib fleißig acht, wie der neue Glaube sotaner Maßen gleich in seiner Wiege unduldsam war. Hus empfand eine echte und schöne Liebe zu der Sprache seines Stammes  ; es Muttersprache und Vaterland

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war wie ein Verhängnis, daß diese Liebe sofort als Haß in die Erscheinung trat. Er berief sich auf die Satzungen der Pariser Universität, aber da liegen die Verhältnisse doch anders. Auch in Paris gibt es vier Nationen, von denen besteht aber nur eine aus Ausländern, die englische  ; die drei andern Nationen tragen ihre Namen nach gut französischen Provinzen. So waren die Franzosen von jeher die Herren auf ihrer Hochschule  ; die Böhmen wurden zu Herren in ihrem Hause erst durch den trunksüchtigen König Wenzel, der den dringlichen Magister Hus nur wenige Tage vorher jähzornig mit dem Scheiterhaufen bedroht hatte und dann plötzlich allen böhmischen Forderungen zustimmte. Die Spatzen pfiffen es von den Dächern Prags, daß es weder dem Magister noch dem Könige um theologische Haarspaltereien zu tun war, daß Hus die eine Landessprache über die andere triumphieren lassen wollte, daß König Wenzel sich übrigens von französischen Sendlingen hatte foppen lassen und sogar überreden, durch scheinbare Begünstigung des Wyclifiten die nationalen Pläne der französischen Kardinäle zu fördern. Wohl war die Kirchenspaltung, der Zank zweier und dann dreier Statthalter Gottes, ein Skandalum für die gesamte Christenheit  ; aber die französischen Kardinäle machten, wenn ich mich so rednerhaft ausdrücken darf, den Stein des Anstoßes zu einem Eckstein ihrer Politik, denn in ihnen hatte sich der merkwürdige Umtausch vollzogen, daß sie keine Christen mehr waren, sondern fast nur noch Franzosen. Darüber, wie es zu dieser neuen Religion gekommen sein mag, zu dem Glauben an die Macht und an das Recht der sogenannten Vaterlandsliebe, kann ich Dir nur einige Vermutungen vorlegen  ; denn wir Brüder vom Freien Geiste wissen ja oder bekennen doch, daß das unbekannte All70

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Eine uns seine Absichten nicht offenbart hat, daß also der Lauf der Welthistorie ein Würfelspiel des Zufalls bleibt für die arme Menschenvernunft der Zuschauer. Jedenfalls fing die Vaterlandsreligion just im neuen Rom an, wo die scheintoten Sagen und Namen noch lebendig waren, wo die alten Götter nächtens noch in ihren christlich umgetauften Tempeln spukten, wo das Volk, von geizigen und herrschsüchtigen Adeligen aufgehetzt, erst kürzlich lieber einen Römer als einen Christen zum obersten Bischof haben wollte. Nicht gar so plötzlich freilich hatte sich die ovidische Metamorphose vollzogen, die die Christen der Kreuzkriege zu den Italienern, Franzosen und Engländern der heutigen Beutekriege umschuf  ; doch seit ungefähr 100 Jahren ist es vorbei mit dem, was man frech eine Gottesherrschaft genannt hat, ist es vorbei mit der statthalterisch ausgeübten Allgewalt Gottes über die Erde, will sagen, über das Abendland. Es gab da überall Könige, die sich groß dünkten wie die römischen Päpste, und die sich darum dem statthalterischen Gottesreiche widersetzten  ; es kam da und dort zu einem gespenstischen Zweikampfe zwischen den beiden Schwertern. In Deutschland unterlagen die Hohenstaufen dem geistlichen Schwerte, in Frankreich siegte ein Menschenalter später das weltliche Schwert. Warum  ? Waren die Deutschen geduldiger im Wortaberglauben als die Römer und Halbrömer  ? Ist man in Frankreich neuerungssüchtiger und vertauschte man darum dort früher als anderswo die Andacht zum überirdischen Gotte mit der Andacht zum vergotteten Volksstamme  ? Müßige Fragen. Genug daran  : als das Konzil von Konstanz, unehrlich zum Zwecke einer Kirchenreform berufen, endlich zusammentrat, da hatten meine Franzosen alle Trümpfe in der Hand, weil sie fast offen die Ziele des neuen nationalen Glaubens Muttersprache und Vaterland

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verfolgten  ; denn in Frankreich war das Nationalgefühl an der Todfeindschaft gegen die Engländer erstarkt und flammte gerade in den Jahren der Konzilkämpfe nach der furchtbaren Niederlage von Azincourt so heftig auf wie nie zuvor. Ich brauche also nicht erst zu versichern, daß der Prozeß des Magisters Hus durchaus nicht, wie es in der Ferne scheinen könnte, der Hauptgegenstand der Tagungen von Konstanz war  ; der Ärmste verbrannte eben mit wie irgendeine unselige Kreatur, die beim Brande einer Stadt unter glühenden Balken begraben worden ist. Er hatte eigentlich nur wenige Feinde  : die unbedeutenden böhmischen Kirchenfürsten, die für ihre Pfründen und für ihren höfischen Einfluß bangten. Der deutsche König war sein Gönner und hatte ihm ohne Falsch den Geleitbrief ausstellen lassen  ; er opferte den Magister erst, allzu leichten Herzens und zu eigener Schande, als seine politischen Berechnungen mit gestört wurden durch des Mannes Festigkeit, die der König Eigensinn nannte. Dem ohnmächtigen Papste, den man an Stelle der beiden Gegenpäpste gewählt hatte, war der kleine Wyclifit aus Böhmen ein ganz unbeträchtliches Menschlein  ; er ließ ihn bannen, brennen oder frei ausgehen, je nachdem König Sigismund den einen oder den andern Entschluß mit wertvollen Gefälligkeiten zu bezahlen versprach. Aber auch die geistlichen Ankläger des Magisters hatten mehr zu tun, als sich sein Schicksal zu Herzen gehen zu lassen  ; am liebsten hätten sie es gesehen, wenn er eine befriedigende Erklärung abgegeben hätte und mit einer geringen Buße davon gekommen wäre. Sie hätten ihn etwa stäupen lassen. Von den beiden berühmten französischen Theologen wenigstens kann ich das aus eigenem Wissen behaupten. 72

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Mein gnädiger Herr, der gelehrte Kardinal Pierre von Ailly, war und ist vor seinem Gewissen ein Schüler Occams, heute noch selbst ein ketzerischer Zweifler  ; er zweifelt noch an ganz andern Sätzen als an der Unfehlbarkeit des Papstes oder des Konzils, aber er verteidigt mitunter wunderliche Fabeln, weil er seinen Lebenslauf als Oberhaupt der Kirche beschließen möchte. Er hat mich zu seinem Geheimschreiber gemacht, obgleich er weiß, daß ich der Brüderschaft vom Freien Geiste zugehöre  ; in leutseligen Gesprächen spottet er oft, besonders, wenn er die vortrefflichen Felchen des Bodensees mit reichlichem Meersburger Rotem hinuntergespült hat, der scholastischen Beweise für das Dasein und die Eigenschaften Gottes. Würde er Papst, wozu vor Jahresfrist nicht viel fehlte, so würde er vielleicht ein Papst vom Freien Geiste. Nicht aus Liebe zu der christlichen Religion, sondern – er heißt in Paris und hier in Konstanz der Adler Frankreichs – aus Liebe zu seinem Vaterlande. Lächle nur über meine Leichtgläubigkeit. Sähe ich in ihm nicht einen Freund unserer Sache, ich könnte nicht in seinem Dienste bleiben. Du ahnst ja bereits, geliebter Bruder, daß ich den Ersatz des kranken religiösen Glaubens durch einen gesunden nationalen Glauben freudig begrüße, nicht als die Erreichung eines Ziels, nur als die Entdeckung eines Weges. Mein Herr Pierre von Ailly ist gar kein Christ mehr, ist nur ein Patriot, wie sie das auszudrücken anfangen  ; um so schlimmer für ihn, wenn er mich und alle auch darin getäuscht hat, wenn er mit Hilfe des neuen Glaubens Oberpriester des alten Glaubens werden will. Immerhin gilt und galt der Haß meines Kardinals einzig und allein den siegreichen Engländern, nicht dem waffenlosen Wyclifiten aus Prag. Der andere geistliche Ankläger, Herr Gerson – er war niemals Jude, wie Du nach dem Klange seines Namens Muttersprache und Vaterland

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glauben könntest –, ist ein Schüler meines Herrn, ein Zweifler und Wortverächter. Auch er bekennt sich nicht zu unserer Brüderschaft, ist aber in seinem Langen nach dem All-Einen ein Feind der Kirche, leider nur ein heimlicher, ein schwächlicher Feind. Er liebt den namenlosen Gott, liebt sein Vaterland und versteht es sehr geschickt, das wie eine Begeisterung für den Pariser Hof und für die Pariser Universität einzukleiden, wofür er hohen Lohn zu erwarten hat. Du wirst ihn vielleicht persönlich kennen lernen, da er im Begriffe steht, im Kloster Melk bei Wien auszuruhen und bevorstehende politische Veränderungen abzuwarten  ; solltest Du sein Vertrauen gewinnen, so wird er Dir bald eingestehen, daß das Schicksal Frankreichs und dazu sein eigener Ehrgeiz ihm wichtiger ist als das Schicksal der Christenheit. Diesen beiden Anklägern und Richtern wäre es gar nicht darauf angekommen, einen rechtmäßig gewählten Papst hinrichten zu lassen  ; das Leben eines armseligen Magisters zählte für sie gar nicht mit. Gar nichts lag ihnen an dem Tode des Ketzers Hus. Sie hielten ihm bis zuletzt die Hintertür eines nicht allzu schimpflichen Widerrufes offen und verurteilten ihn, fast ärgerlich, erst dann, als König Sigismund ihn, heftig und unbesonnen wie immer, preisgegeben hatte. Sie redeten feierlich die theologische Sprache, doch im Sinne hatten sie immer nur, recht leidenschaftlich, die Sache Frankreichs. Und ähnlich stand es eigentlich um den Magister  : bannen und verbrennen ließ er sich für theologische Ketzerworte seines Meisters Wyclif, aber sein Herz war immer bei seiner böhmischen Heimat, bei seiner Muttersprache. Im Verhör beteuerte er seine Rechtgläubigkeit, so daß man in den Irrtum geführt werden konnte, nur Trotz und Starr74

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sinn hätten seinen Widerruf verhindert  ; doch er starb nicht gern den Märtyrertod, er hätte sonst den Fluchtversuch nicht gemacht. Ich habe ihm mehr als einmal zugehört, vor und nach seiner Verhaftung, wenn er den Bürgern in hartem Deutsch seine Lehren vortrug, wenn er in hartem Latein den Prozeß in eine Disputation umzugestalten suchte. Und ich sage Dir  : seine Seele war allezeit bei seiner Prager Gemeinde. Er wünschte sein Leben zu retten, aber höher stand ihm die Rücksicht auf sein Vaterland. Der Vorwurf der Ketzerei konnte einem ganzen Volke noch gefährlich werden  ; so nannte er sich rechtgläubig, um seiner Heimat willen. Zuletzt jedoch hat er nicht widerrufen und den schier unmenschlichen Tod auf sich genommen, wahrlich nur darum, weil er die Augen seiner Böhmen auf sich gerichtet wußte und ihnen nicht ein Bild der Schwäche bieten wollte. Der ganze Streit zu Konstanz wurde um Nationen geführt und nicht um kirchliche Lehrsätze. Du wirst mich nun gewißlich fragen, was ich von diesem neuen nationalen Glauben halte. Wir, mein geliebter Bruder, vom Freien Geiste, bedürfen nicht der aufreizenden Schlagworte. Von dem All-Einen, das wir nicht benennen können und nicht benennen wollen, sind wir so voll, daß nichts weiter in uns hineingeht, nicht einmal ein Wort. Zutiefst in mir will aber doch eine Stimme zu Worte kommen, die ich bis zur Stunde nur undeutlich vernehme. Ich will es versuchen, ihr mit wenigen Silben nachzustammeln. Auch was unsere heilige Brüderschaft will, das ist niemals wirklich, wird niemals wirklich sein, kann ewig nur werden. Der alte Glaube hatte die Entzweiung zwischen den Menschen und dem Weltall nur scheinbar gemildert  ; als es jetzt vorbei war mit dem Gottesreich, war der einzelne Muttersprache und Vaterland

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Mensch ganz und gar einsam, nur auf sich selbst gestellt, entzweit mit allen Mitmenschen wie früher mit der Natur. Da kommt ihm der neue Glaube an eine gemeinsame Herkunft zu Hilfe, an eine Einheit und Liebe zwischen den Einzelnen des gleichen Stammes. Ich habe Dir meine Sorge nicht verschwiegen, daß auch diese Liebe sich kehren wird in einen Haß der Nationen. Bis in ferner, ferner Zeit ein neues Geschlecht, des Hasses müde, wieder einen neuen Glauben erfinden wird, an eine Einheit aller Menschen in einem Bunde zwischen den Völkern. Doch auch dieser heiterste Glaube wird in Trauer umschlagen für unsere Nachfolger in der Brüderschaft, wenn dereinst aus dieser menschenwürdigsten Idee neue Scholastiker die Folgerung der Gleichheit ziehen werden, nicht nur die natürliche Folgerung eines gleichen Menschenrechts, sondern auch die Folgerung des gleichen Wertes  ; dann wird eine neidvolle Gerechtigkeit den Glücklichen nicht nur das nehmen, was sie nach fragwürdigen Gesetzen an Geld und Gut geerbt haben, sondern auch das, was sie von Gnaden der Natur an Geist, Kraft oder Schönheit geerbt haben. Und es wird wieder wenig Glück sein auf der Erde. Bis künftige Brüder vom Freien Geiste die letzte Form der Entzweiung getilgt haben werden. Wenn das möglich ist.«

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Veröffentlichung im Jahr 1920 Fritz Mauthners Muttersprache und Vaterland wurde im Jahr 1920 beim Verlag Dürr & Weber in Leipzig als 38. Band der Reihe »Zellenbücherei« veröffentlicht. Weder Mauthners Nachlass am Leo Baeck Institute in New York1 noch die kleineren archivarischen Sammlungen zu Mauthner, die bei Joachim Kühn2 genannt werden, enthalten Korrespondenz mit Dürr & Weber oder einen Verlagsvertrag. Ebenso sind keine Manuskripte oder Druckfahnen erhalten, die Muttersprache und Vaterland zugeordnet werden können. Wie es zur Veröffentlichung gekommen ist, kann somit nicht mehr anhand von Primärquellen geklärt werden. Es ist aber möglich, den Anspruch, der mit dem schmalen Buch erhoben wurde, durch die Veröffentlichung in der Reihe »Zellenbücherei« nachzuvollziehen  : Der Verlag Dürr  & Weber wurde im Jahr 1919 als Tochterunternehmen der Leipziger Verlagsbuchhandlung von Johannes Friedrich Dürr gegründet mit dem Ziel, Deutschland nach dem Weltkrieg »Anstoß zu einem geistigen Neuaufbau 1 Fritz Mauthner Collection (AR 3392) – Archives of the Leo Baeck Institute (LBI), Center for Jewish History, New York. https  ://archives. cjh.org/repositories/5/resources/19217, letzter Zugriff  : 31.05.2022. 2 Joachim Kühn, Gescheiterte Sprachkritik. Fritz Mauthners Leben und Werk (Berlin, New York  : de Gruyter, 1975), 363–366. Veröffentlichung im Jahr 1920

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[…] zu geben.«3 Die 85 Bände4 der »Zellenbücherei« stellen populärwissenschaftliche Abrisse über Themen von öffentlichem Interesse dar und erschienen in den Jahren von 1920 bis 1925. In einer Werbeanzeige der Reihe wird als ihre Hauptaufgabe die »Förderung des Verstehens aller Gebiete, denen der Umschwung der Zeiten Gegenwartswert verliehen hat«5 genannt und die »Zellenbücherei« wird mit einem Verweis auf ihren niederschwelligen Zugang sowie die Autorität ihrer Autor*innen beworben  : »Ihre volkstümliche, leicht faßliche Darstellungsweise, aus der Feder erster Schriftsteller, Wissenschaftler, Politiker, Künstler, ermöglicht jedermann sondern Fachkenntnis und Vorbildung Verständnis auch für die schwierigsten Fragen aller Wissensgebiete.«6 Die Bände haben bis auf wenige Ausnahmen einen Umfang unter hundert Seiten. Aus Briefen im Deutschen Literaturarchiv Marbach von Dürr  & Weber an die Schriftsteller Paul Ernst7, Arthur Schnitzler8 und Will Vesper9 geht hervor, dass Autor*innen 3 Johannes Friedrich Dürr, Die Dürr’sche Buchhandlung im letzten Vier­ teljahrhundert (Leipzig  : Dürr’sche Buchhandlung, 1931), 38. 4 Im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek sind 85 Bände verzeichnet  : http  ://d-nb.info/014569256, letzter Zugriff  : 31.05.2022. 5 Heinz Udo Brachvogel, Die Silberrepublik, ein Buch über Argentinien (Leipzig  : Dürr & Weber, 1920), 74. 6 Brachvogel, Die Silberrepublik, 74. 7 Brief von Dürr & Weber GmbH. an Paul Ernst, Saschwitz bei Leipzig, 21.  Juli 1919 (Deutsches Literaturarchiv Marbach, Zugangsnummer HS.NZ 89.0002.00020). 8 Brief von Dürr  & Weber GmbH. an Arthur Schnitzler, Saschwitz bei Leipzig, 5. Dezember 1919 (Deutsches Literaturarchiv Marbach, Zugangsnummer HS.1985.0001.02806). 9 Brief von Dürr & Weber GmbH. an Will Vesper, Leipzig, 16. Februar 1922 (Deutsches Literaturarchiv Marbach, Zugangsnummer 76.2056).

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gezielt vom Verlag angeschrieben und um Beiträge gebeten wurden. In einer Jubiläumsschrift zur Verlagsgeschichte wird Fritz Mauthner bei einer Aufzählung ausgewählter Autor*innen der »Zellenbücherei« als dritter genannt10 und so kann angenommen werden, dass der Verlag auf die damalige Anziehungskraft des Namens ›Mauthner‹ gesetzt hat und an ihn herangetreten ist. In den erwähnten Briefen sind keine Hinweise darauf zu finden, dass eine Themenstellung vorgegeben wurde. So lässt sich zwar nicht belegen, aber plausibel annehmen, dass Muttersprache und Vaterland auf Initiative des Verlags entstanden ist, aber die Themenwahl bei Mauthner lag. Diese Annahme lässt sich durch weitere Dokumente stützen. Entstehung des Texts Peter Stachel11 verweist auf einen Brief Mauthners vom 21.  Dezember 1915 an Gustav Landauer, um den Beginn der Arbeit an Muttersprache und Vaterland zu datieren. Mauthner schreibt in diesem Brief, dass ein Gegensatz zwischen ihm und Landauer in ihrer Einstellung zu der ›nationalen Gefahr‹ bestehe  :

10 Dürr, Die Dürr’sche Buchhandlung, 39. 11 Peter Stachel, »›Die nüchterne Erkenntniskritik hat vorläufig zu schweigen‹. Fritz Mauthner und der Erste Weltkrieg oder Die Geburt der Sprachkritik aus dem Geist des Nationalismus«, in Aggression und Katharsis. Der Erste Weltkrieg im Diskurs der Moderne, Studien zur Moderne, Bd. 20, hrsg. v. Petra Ernst, Sabine Haring und Werner Suppanz (Wien  : Passagen, 2004), 93–134. Entstehung des Texts

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Der größere Gegensatz steckt in der Frage, wie wir uns beide zu der nationalen Gefahr stellen. Da habe ich seit Wochen an einem langen Briefe herumgearbeitet, der sich fast gegen meinen Willen zum Anfang eines kleinen Buches ausgewachsen hat. Und so werde ich Dir, wenn ich Stimmung und Kraft behalte, ohne Dich zu nennen, öffentlich in einem Buche antworten. Sprachkritik wird nicht zu kurz kommen  ; und freie Gesinnung auch nicht. Hoffentlich kann es gedruckt werden. Ich weiß nicht, wie lange es noch dauern kann.12

Hanna Delf, Herausgeberin des Briefwechsels Mauthner– Landauer, verbindet diese Stelle jedoch nicht mit Mutter­ sprache und Vaterland und bemerkt, dass kein Entwurf des ›langen Briefs‹ bekannt sei.13 Sie verweist auf Mauthners Nachruf auf Landauer aus dem Jahr 1919, in dem keine Vorarbeiten zu einem Buch mit Bezugnahme auf Landauer erwähnt werden, aber Mauthner seinen Wunsch ausdrückt, über Landauer »ein Buch zu versuchen, das in Erinnerungen und Eindrücken sein Bild enthalten soll, mit äußerster Wahrhaftigkeit gezeichnet, wie er es fordern würde, mit harter Liebe, ohne jeden offiziösen Zusatz«14. 12 Brief von Fritz Mauthner an Gustav Landauer, 21.  Dezember 1915, in Gustav Landauer – Fritz Mauthner. Briefwechsel 1890–1919, hrsg. v. Hanna Delf (München  : C.H. Beck, 1994), 312. 13 Hanna Delf, Hrsg., Gustav Landauer – Fritz Mauthner. Briefwechsel 1890–1919 (München, C.H. Beck, 1994), 460, Anm. 22. 14 Fritz Mauthner, »Zum Gedächtnis«, Masken. Halbmonatsschrift des Düsseldorfer Schauspielhauses 14, Nr. 18/19 (1918/19), 300–304  ; zitiert nach dem gekürzten Abdruck in Ulrike de Kruijf und Michael Matzigkeit, »Fritz Mauthner und Gustav Landauer – eine Freundschaft mit Brüchen«, in »…die beste Sensation ist das Ewige…«. Gustav Land­ auer – Leben, Werk und Wirkung, hrsg. v. Michael Matzigkeit (Düssel-

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Einen Anhaltspunkt dafür, dass sich Mauthner in dem Brief vom 21. Dezember 1915 doch auf eine erste Fassung des Anfangs von Muttersprache und Vaterland bezieht, stellen seine Texte aus dem Weltkriegsjahr 1915 dar, die er für verschiedene Zeitungen schrieb und in Muttersprache und Vaterland aufnahm15. Mauthners Kriegspublizistik kann ohne Zweifel als eine Auseinandersetzung mit der Frage der ›nationalen Gefahr‹ verstanden werden, wie Stachel in seinem Aufsatz16 zeigt. Falls sich Mauthner in dem Brief vom 21.  Dezember 1915 auf eine frühe Fassung von Muttersprache und Vater­ land bezieht, dann lässt sich der Entstehungsbeginn des Texts mit der zweiten Hälfte des Jahres 1915 datieren. Das stützt die Annahme, dass der Text auf die Idee Mauthners zurückgeht, sich sprachkritisch mit politischen Begriffen auseinanderzusetzen, und er das Ergebnis dieser Beschäftigung später auf die Anfrage von Dürr  & Weber nach einem Text mit ›Gegenwartswert‹ an diesen Verlag geschickt hat. Falls diese Datierung zutrifft, dann erscheint die nüchterne Darstellung des Vorhabens im ersten Kapitel als ein Versuch, »die Grundbegriffe der Nationalitätsidee sich und andern deutlich zu machen«17, weniger sachlich  : Muttersprache und Vaterland nahm seinen Ausgang, um etwas zu der ›nationalen Gefahr‹ zu sagen, und dieses Vorhaben wurde während des Ersten Weltkriegs umgesetzt. Nach den ersten Kriegsmonaten schreibt dorf  : Theatermuseum der Landeshauptstadt Düsseldorf, 1995), 133– 153, 149. 15 Stachel, Die Geburt der Sprachkritik aus dem Geist des Nationalismus, 130, Anm. 30. 16 Stachel, Die Geburt der Sprachkritik aus dem Geist des Nationalismus. 17 Siehe Seite 9. Entstehung des Texts

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Mauthner im November 1914 in sein Tagebuch sowie in einem Brief an Landauer, dass er von einer »Todesangst um Deutschland«18 beherrscht werde. Die publizistischen Arbeiten der Kriegsjahre zeugen von dieser Angst ebenso wie von seinem Deutschnationalismus, der sich in Ausfällen gegen England und Frankreich ausdrückt. Philosophie könne nichts zum Krieg beitragen und bevor der Krieg nicht zu Ende sei, könne man auch nicht zu ihr zurückkehren, schreibt Mauthner im Artikel »Die Philosophie und der Krieg« (Berliner Tageblatt, 11. Oktober 1914)19. So habe die »eigentliche Philosophie, die nüchterne Erkenntniskritik, […] vorläufig zu schweigen« 20  ; noch deutlicher drückt er es in seinem Tagebuch aus  : »Sprachkritik hat das Maul zu halten«.21 Dass diese »kriegerische Wut«22 im Widerspruch zur Sprachkritik stehe, wurde Mauthner mehrfach zum Vorwurf gemacht. »Du willst der Sprachkritiker sein und denkst an 18 Brief von Fritz Mauthner an Gustav Landauer, 15. November 1914, in Delf, Briefwechsel Landauer–Mauthner, 294  ; in mehreren Tagebucheinträgen im November und Dezember 1914 verwendet Mauthner ebenfalls diesen Ausdruck  ; siehe Einträge vom 11.11., 28.11., 5.12.; Fritz Mauthner Collection (AR 3392, box 10, folder 9  : Transcripts of Fritz Mauthner’s war diary and Erinnerungen II). 19 Fritz Mauthner, »Die Philosophie und der Krieg«, Berliner Tageblatt, 11. Oktober 1914 ( Jg. 43, Nr. 517), [nicht paginiert]  ; Fritz Mauthner Collection (AR 3392, box 7, folder 29  : Fragments, etc.; Berliner Tageblatt, 1880–1905, 1910–1919). 20 Mauthner, »Die Philosophie und der Krieg«. 21 Tagebucheintrag vom 9. November 1914  ; Fritz Mauthner Collection (AR 3392, box 10, folder 9  : Transcripts of Fritz Mauthner’s war diary and Erinnerungen II). 22 Brief von Gustav Landauer an Fritz Mauthner, Hermsdorf b. Berlin, 26. November 1914, in Delf, Briefwechsel Landauer–Mauthner, 310.

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Deutschland«23, soll ihm im Landauer im Herbst 1918 vorgeworfen haben. Weder im zeitgenössischen Kontext noch in der späteren Rezeption konnte dieser Widerspruch restlos aufgelöst werden. Stattdessen wurden Mauthners politische Überzeugungen häufig biographisch ausgelegt und unabhängig von seiner Sprachkritik gelesen. Das theoretische Werk von den Lebensumständen zu isolieren, lässt es jedoch als Zerrbild erscheinen, denn bei Mauthner sind Leben und Werk eng miteinander verknüpft. Er bezeichnet sich selbst eingangs als »lebendiges Beispiel«24 für die ausgetragenen Kämpfe um politische Begriffe. Seine philosophischen Texte enthalten biographische Passagen, die theoretische Hypothesen stützen, und umgekehrt werden biographische Erlebnisse durch theoretische Überlegungen gedeutet. Entgegen der Absage an die Philosophie im zitierten TageblattArtikel vom 11. Oktober 1914, schlägt sich der Erste Weltkrieg auch im theoretischen Werk nieder. Muttersprache und Vaterland nimmt somit eine Schlüsselstellung in Mauthners Werk ein und ermöglicht es, die politische Dimension seiner Sprachkritik genauer zu beleuchten. Aufbau und Bezüge zum Gesamtwerk Das schmale Buch umfasst im Original 73 Seiten und setzt sich aus acht Kapiteln zusammen. Das Thema einer sprachkritischen Auseinandersetzung mit den Grundbegriffen 23 Mauthner, »Zum Gedächtnis«, zit. nach de Kruijf und Matzigkeit, »Fritz Mauthner und Gustav Landauer – eine Freundschaft mit Brüchen«, 149. 24 Siehe Seite 9. Aufbau und Bezüge zum Gesamtwerk

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der Nationalitätsidee zieht sich als inhaltlicher roten Faden durch das Werk, formal stellt Muttersprache und Vaterland aber eine lose miteinander verknüpfte Sammlung einzelner Aufsätze dar. Da Mauthners Nachlass keine Primärquellen zu Muttersprache und Vaterland enthält, können Bemerkungen zur Textgenese nur auf intertextuellen Bezügen zum Gesamtwerk beruhen. Zwei Kapitel lassen sich direkt auf frühere Texte zurückführen  : Das dritte Kapitel geht auf einen Artikel Mauthners vom 2.  Mai 1915 im Berliner Tageblatt zurück25 und das achte Kapitel auf einen Artikel vom 2. Januar 1920 in der Neuen Freien Presse (Wien)26. Längere Passagen aus dem vierten Kapitel erschienen ebenfalls zuvor im Berli­ ner Tageblatt 27. Themen anderer Kapitel wurden teilweise in früheren Texten diskutiert und in späteren Texten verarbeitet, wenn auch nicht wortgleich. Die Übernahme älterer Texte in Muttersprache und Va­ terland stellt keine Ausnahme in Mauthners Werk dar. Er schreibt redundant und wiederholt Versatzstücke  ; im Wör­ terbuch der Philosophie stellen etwa die Artikel »Element«, »Gegenstand« und »Spinozas ›Deus‹« wiederverwertete Texte dar, allerdings mit einem entsprechenden Verweis. 25 Fritz Mauthner, »Der Krieg gegen die Fremdwörter«, Berliner Tage­ blatt, 2. Mai 1915 ( Jg. 44, Nr. 222), [nicht paginiert]  ; Fritz Mauthner Collection (AR 3392, box 7, folder 29  : Fragments, etc.; Berliner Tageblatt, 1880–1905, 1910–1919). 26 Fritz Mauthner, »Die Brüderschaft vom freien Geiste«, Neue Freie Presse (Wien), 2. Januar 1920 (Nr. 19881), 1–4  ; Fritz Mauthner Col­ lection (AR 3392, box 8, folder 12  : Clippings  ; »N-S«, 1876–1923). 27 Fritz Mauthner, »Und wieder einmal Volapük«, Berliner Tageblatt, 25. Februar 1917 ( Jg. 46, Nr. 102), [nicht paginiert]  ; Fritz Mauthner Collection (AR 3392, box 7, folder 29  : Fragments, etc.; Berliner Tageblatt, 1880–1905, 1910–1919).

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Ohne Anspruch auf Vollständigkeit werden im Folgenden eindeutig nachweisbare Textübernahmen aus dem Gesamtwerk genannt und, wenn vorhanden, wird auf inhaltliche Abweichungen in den Textfassungen eingegangen. Das dritte Kapitel, die Auseinandersetzung mit dem Sprachpurismus, stellt im Wesentlichen eine Kürzung des Artikels »Der Krieg gegen die Fremdwörter« (Berliner Tageblatt, 2. Mai 1915) dar, aus dem Beispiele sowie Bezugnahmen auf den Weltkrieg entfernt wurden. So wurde etwa jeweils ein Absatz zu den Fragen, was die Reinheit der Sprache bzw. der deutschen Sprache mit dem Weltkrieg zu tun habe, gestrichen sowie eine Passage über die Zukunft des Sprachpurismus nach dem Krieg. Der Anfang und das Ende der Textfassung in Muttersprache und Vater­ land sind neu geschrieben. In dieser neuen Fassung ersetzt die Bemerkung, dass sich Patriotismus »in mancher Überspannung des Nationalgefühls«28 äußere, wenn das Vaterland in Gefahr sei, die in der Fassung von 1915 einleitende Bemerkung »Und weil ich […] an Liebe zu der deutschen Muttersprache mich von niemanden überbieten lasse, mag man mir schon glauben, daß ich kein Gegner des Purismus bin oder der Sprachfegerei«29. Das Fazit, dass Sprachreinheit ein »Ideal wie die Wahrheit«30 sei, findet sich in beiden Fassungen. Das Ende in Muttersprache und Vaterland ist ergänzt um die Zurückweisung der These, dass Patriotismus etwas mit Sprachreinheit zu tun habe, sowie um einige Beispiele, die diese Zurückweisung stützen. Mauthner nimmt in diesem Kapitel keine eindeutige Position gegen28 Siehe Seite 17. 29 Mauthner, »Der Krieg gegen die Fremdwörter«. 30 Siehe Seite 21. Aufbau und Bezüge zum Gesamtwerk

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über dem Sprachpurismus ein. Er verteidigt ihn anfangs noch im historischen Kontext, kommt über verschiedene Überlegungen aber zu dem Schluss, dass es sich bei Sprachreinheit um ein Ideal handelt. Anders als in der Sprachkritik, in der Mauthner solche Ideale kritisiert, indem er zeigt, dass es sich bei ihnen um Scheinbegriffe handelt, und das Ziel verfolgt, den Aberglauben an solche Scheinbegriffe zu zerstören, schreibt er in Muttersprache und Vaterland, dass er sich »mit einer Annäherung«31 an Sprachreinheit und Wahrheit begnüge. Die unklare Positionierung gegenüber dem Sprachpurismus wurde Mauthner bereits in einer zeitgenössischen Rezension32 vorgeworfen, allerdings in der Zeitschrift des sprachpuristischen Allgemeinen Deutschen Sprachvereins. Dieser Widerspruch tritt im dritten Kapitel von Muttersprache und Vaterland stärker hervor als in der Fassung des Texts im Berliner Tageblatt. Das vierte Kapitel enthält eine Kritik an Plansprachen. Mauthner hat diese Kritik bereits in mehreren Texten geäußert, etwa in Die Sprache 33 oder dem Artikel »Universalsprache« im Wörter­buch 34. Die Passagen über die Einführung von Volapük als Unterrichtsfach in Sachsen finden sich weitgehend wortgleich im Artikel »Und wie31 Siehe Seite 21. 32 Anonym, Zeitschrift des Allgemeinen Deutschen Sprachvereins 36, Nr. 7/8 (1921), 106–107  ; Fritz Mauthner Collection (AR 3392, box 9, folder 14  : Clippings  ; Reviews of »Luegenohr« … »Muttersprache …«, 1881–1921). 33 Fritz Mauthner, Die Sprache (Frankfurt am Main  : Rütten & Loening, 1906), 31–42. 34 Fritz Mauthner, Wörterbuch der Philosophie. Bd.  3, nach der 2.  verm. Aufl. von 1923/24, hrsg. v. Ludger Lütkehaus (Wien  : Böhlau, 1997), 316–326.

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Nachwort

der einmal Volapük« (Berliner Tageblatt, 25. Februar 1917). Im Oktober 1921 verweist Mauthner in einem Leserbrief an den Herausgeber der Wochenzeitschrift Die Weltbühne (Berlin) auf Muttersprache und Vaterland als die Darstellung seiner Sicht auf Kunstsprachen, der er nichts mehr hinzuzufügen habe.35 Einige der historischen Ausführungen im fünften Kapitel werden in Der Atheismus und seine Geschichte im Abend­ lande aufgegriffen und dort detaillierter behandelt. Bemerkungen über das Ende des Mittelalters und die Entstehung von Nationalstaaten finden sich ausführlicher im ersten Band des Atheismus, in dem sich Mauthner mit dem 13.  Jahrhundert (Abschnitt 5) und der italienischen Renaissance (Abschnitt 17) beschäftigt. Das Ende der Periode, die Mauthner den ›kirchlichen Universalismus‹ nennt, wird in Abschnitt 17 angesprochen, wo er, wie im zweiten Kapitel von Muttersprache und Vaterland, anhand von Dante, Petrarca und Boccaccio auf die Rolle der Nationalliteratur eingeht. Jesuitismus und Machiavellismus werden im dritten Abschnitt des zweiten Bands besprochen.36 Es kann angenommen werden, dass Mauthner während der Arbeit an Muttersprache und Vaterland auch mit den Atheis­ mus-Bänden beschäftigt war. Der erste Band des Atheismus erschien im Jahr 1920, die drei weiteren Bände folgten in Jahren von 1921 bis 1923. Muttersprache und Vaterland stellt die erwähnten Sachverhalte kürzer dar, weicht dabei aber inhaltlich kaum vom Atheismus ab. 35 Fritz Mauthner, »Esperanto« (Brief an den Herausgeber), Die Welt­ bühne (Berlin), 27. Oktober 1921 ( Jg. 17, Nr. 43), 437  ; Fritz Mauthner Collection (AR 3392, box 8, folder 13  : Clippings  ; »T-Z«, 1874–1923). 36 Fritz Mauthner, Der Atheismus und seine Geschichte im Abendlande. Bd. 2, hrsg. v. Ludger Lütkehaus (Aschaffenburg  : Alibri, 2011). Aufbau und Bezüge zum Gesamtwerk

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Die Beispiele im sechsten Kapitel sollen zeigen, dass Fälschungen sowohl als Mittel für Zwecke der Religion als auch im »Dienste der Nationalitätsidee«37 eingesetzt worden sind. Dabei wird die Konstantinische Schenkung auch am Beginn des ersten Abschnitts des ersten AtheismusBand erwähnt38. Unter den Beispielen im sechsten Kapitel befindet sich außerdem die Königinhofer Handschrift, auf die Mauthner bereits 1897 in seinem Roman Die böhmische Handschrift 39 anspielt. Kühn zählt Die böhmische Handschrift zu den patriotischen Romanen, in denen Mauthner sein »Engagement für die Deutschen in Böhmen«40 ausdrückt. Im Nachwort zu einer Neuauflage des Romans aus dem Jahr 1919 zeigt sich Mauthner einsichtig gegenüber seiner nationalistischen Parteinahme – »Beim Durchsehen des Neudrucks wurde es mir freilich bewußt, daß ich Licht und Schatten noch nicht ganz gerecht verteilt hatte«41 – und schließt mit der Bemerkung, dass kämpferische Auseinandersetzungen um Vorherrschaft »Kriege um arme Worte, um liebe Sprachen«42 seien.43 37 Siehe Seite 42. 38 Fritz Mauthner, Der Atheismus und seine Geschichte im Abendlande. Bd. 1, hrsg. v. Ludger Lütkehaus, (Aschaffenburg  : Alibri, 2011), 151–154. 39 Fritz Mauthner, Die Böhmische Handschrift (Paris, Leipzig, München  : Albert Langen, 1897). 40 Kühn, Gescheiterte Sprachkritik, 156. 41 Fritz Mauthner, »Nachwort zum vierten Bande«, in Böhmische Novel­ len, Fritz Mauthners Ausgewählte Schriften, Bd. 4 (Stuttgart und Berlin  : Deutsche Verlags-Anstalt, 1919), 367–369, 369. 42 Mauthner, »Nachwort zum vierten Bande«, 369. 43 Zu Mauthner im böhmischen Kontext siehe u.a. die Beiträge von Gilbert Roy und Katherine Arens in Brückenschlag zwischen den Diszi­ plinen  : Fritz Mauthner als Schriftsteller, Kritiker und Kulturtheoretiker, hrsg. v. Elisabeth Leinfellner und Jörg Thunecke (Wuppertal  : Arco,

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Nachwort

Das siebente Kapitel kann als das Kernstück von Mutter­ sprache und Vaterland betrachtet werden. Sofern sich Etymologie, sprachenübergreifende Vergleiche und die Untersuchungen des Wortgebrauchs als Elemente einer sprachkritischen Methodologie der Beiträge zu einer Kritik der Sprache und des Wörterbuchs verstehen lassen, wird eine solche Mauthner’sche Sprachkritik im siebenten Kapitel ausgeübt. Der Text des achten Kapitels wurde ohne die hier vorliegende Einleitung am 2. Januar 1920 in der Neuen Freien Presse (Wien) als »Die Brüderschaft vom freien Geiste« mit dem Untertitel »Ein 500 Jahre alter Brief, aus dem Mönchslatein übersetzt oder sonst den Quellen nachgeschafft«44 abgedruckt. Die Fassung in Muttersprache und Vaterland wurde sprachlich überarbeitet und um zwei Sätze am Ende gekürzt (»Du aber wirst diese Blätter vernichten. Gegeben zu Konstanz, am 6.  Juli 1418, drei Jahre nach dem Heimgang des Johannes Hus.«45). Der Verweis auf einen in Wien – Erscheinungsort der Zeitung – hingerichteten Nikolaus wurde ebenfalls entfernt (vermutlich handelt es sich um den Begarden Nikolaus von Basel, der im Jahr 1395 von der katholischen Kirche am Scheiterhaufen verbrannt wurde). Mit der im Titel angeführten Brüderschaft gebraucht Mauthner eine Sammelbezeichnung für verschiedene, aus christlicher Sicht ket2004)  ; verschiedene Beiträge in Fritz Mauthner (1849–1923). Zwischen Sprache und Literatur, hrsg. v. Veronika Jicínská (Köln  : Böhlau, 2021)  ; und Veronika Jicínská, »Wer ist der bessere Fälscher  ? Die gefälschten tschechischen Manuskripte im Nationalitätenkampf um kulturelle Hegemonie«, Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 5, Nr. 2 (2014), 57–72. 44 Mauthner, »Die Brüderschaft vom freien Geiste«, 1. 45 Mauthner, »Die Brüderschaft vom freien Geiste«, 4. Aufbau und Bezüge zum Gesamtwerk

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zerisch geltende Bewegungen des 13. bis 15. Jahrhunderts.46 Im Atheismus wird die Position der Brüder vom Freien Geiste skizziert  : Sie soll unter anderem darin bestanden haben, die Bibel als ein poetisches Werk anzusehen, die Existenz eines überweltlichen Gottes zu verneinen und den Menschen als ein gottgleiches Wesen zu verehren.47 Mauthner stützt sich dafür auf nicht näher genannte historische Prozessberichte, bei deren Lektüre man glaube, »die aufreizende Rede eines Religionsvernichters von 1793 zu vernehmen«48. Ob Mauthners Quellen eine historisch zutreffende Darstellung liefen, ist jedoch fraglich, da überlieferte Zeugnisse in neuerer Forschung als Übertreibungen beurteilt werden.49 Die Darstellung der Brüder und Schwestern des Freien Geistes mag Mauthner aber imponiert haben, da er dem Briefautor eine an seine eigene Biographie angelehnte Lebensgeschichte verleiht  : Er soll einst ebenso Student in Prag gewesen sein und nun, ähnlich Mauthner im Meersburger Glaserhäusle, als »ein in lächelnder Resignation Zweifelnder«50 leben, der »wie von einem stillen Beobachterposten«51 aus das Geschehen kommentiert. Im Unterschied zu den Schriften, in denen Mauthner andere Autor*innen imitiert52, handelt es sich bei dem achten Kapitel nicht um eine Parodie. Im Brief wird 46 Raoul Manselli, »Brüder des freien Geistes«, in Theologische Realen­ zyklopädie. Bd. 7  : Böhmische Brüder – Chinesische Religionen, hrsg.  v. Gerhard Krause und Gerhard Müller (Berlin, New York  : de Gruyter, 1981), 218–220. 47 Mauthner, Atheismus 1, 262–263. 48 Mauthner, Atheismus 1, 262. 49 Manselli, »Brüder des freien Geistes«, 219. 50 Siehe Seite 69. 51 Siehe Seite 67. 52 Fritz Mauthner, Nach berühmten Mustern (Stuttgart  : W. Spemann, 1879).

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Mauthners These, dass religiöse Machtkämpfe durch nationale Machtkämpfe ersetzt worden seien, in einen historischen Kontext um Jan Hus (1372–1415) gestellt. Dieselbe These finden man ebenfalls am Beispiel von Hus ausgearbeitet im ersten Atheismus-Band53, wo Mauthner im zehnten Abschnitt über die Position und Verfolgung der Hussit*innen schreibt. Sprachliche Übernahmen zwischen dem achten Kapitel von Muttersprache und Vaterland und dem zehnten Abschnitt im Atheismus bestehen etwa in der Schilderung des Auszugs der deutschsprachigen Angehörigen der Prager Karls-Universität im Jahr 1409.54 Die politische Dimension von Mauthners Sprachkritik Mauthner stilisiert sich selbst immer wieder als unpolitisch  : In dem im September 1917 verfassten Nachwort der Autobiographie Erinnerungen, das auf die Verzögerung der Veröffentlichung eingeht 55, schreibt Mauthner, er sei »ein Mann ohne Uniform« 56 und gehöre »keinem der politischen Lager« 57 an. In seinem Nachruf auf Gustav Landauer kontrastiert er sich zu Landauer durch die Bemerkung »Er ein Kämpfer, ich ein unpolitischer Betrachter« 58. 53 Mauthner, Atheismus 1, 307–308. 54 Mauthner, Atheismus 1, 314. 55 Das Buch lag vor Beginn des Ersten Weltkriegs druckfertig vor, konnte aber erst im Jahr 1918 veröffentlicht werden. 56 Fritz Mauthner, Erinnerungen. Bd. 1. Prager Jugendjahre (München  : Georg Müller, 1918), 349. 57 Mauthner, Erinnerungen, 349. 58 Mauthner, »Zum Gedächtnis«, zit. nach de Kruijf und Matzigkeit, »Fritz Mauthner und Gustav Landauer – eine Freundschaft mit Brüchen«, 149. Die politische Dimension von Mauthners Sprachkritik

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Dieses Selbstbekenntnis zum Unpolitischen kann allerdings nicht so gedeutet werden, dass Mauthner zu politischen Themen geschwiegen hätte. Er kommentiert im Jahr 1915 den Kriegseintritt Italiens59, nimmt Stellung zu öffentlichen Rundfragen – etwa, ob Deutschland nach dem Krieg eine Republik oder Monarchie sein soll60 oder warum ›Deutschland so viele Feinde in Welt‹ habe61 – und äußert sich zur ›Judenfrage‹62. Weitere Beispiele finden sich unter den journalistischen Texten im Nachlass.63 In vielen dieser Beiträge betont Mauthner zwar seine unpolitische Position, rechtfertigt seine Ausführungen aber mit dem Verweis darauf, dass politische Probleme auch Konflikte über Worte seien und der Sprachkritiker somit etwas mitzureden habe  ; ein Auszug aus dem Zeitungsartikel »Für den Völkerfrie59 Fritz Mauthner, »Das italienische Volk«, Berliner Tageblatt, 6.  Juni 1915 ( Jg.  44, Nr.  184), [nicht paginiert]  ; Fritz Mauthner Collection (AR 3392, box 7, folder 29  : Fragments, etc.; Berliner Tageblatt, 1880– 1905, 1910–1919). 60 Fritz Mauthner, »Die deutsche Republik«, Prager Tagblatt, 9.  April 1921 ( Jg. 46, Nr. 82), 1  ; Fritz Mauthner Collection (AR 3392, box 8, folder 12  : Clippings  ; »N-S«, 1876–1923). 61 Fritz Mauthner, »Warum hat Deutschland so viele Feinde. Eine Rundfrage der Zeit« (Teilbeitrag), Die Zeit (Wien), 4. April 1915 ( Jg. 14, Nr.  4499), 8  ; Fritz Mauthner Collection (AR 3392, box 8, folder 13  : Clippings  ; »T-Z«, 1874–1923). 62 Fritz Mauthner, [ohne Titel], in Judentaufen, hrsg. v. Werner Sombart (München  : Georg Müller, 1912), 74–77. 63 Auch vor der Veröffentlichung philosophischer Texte schrieb Mauthner im Berliner Tageblatt über politische Themen, etwa im Rahmen einer Buchbesprechung (»Zum Kampfe der Deutschen in Böhmen« in der Abendausgabe vom 14. März 1984), oder in mehreren Beiträgen im August 1880, als er für das Berliner Tageblatt die Feiern zum 50-jährigen Jubiläum der Unabhängigkeit Belgiens besuchte und von dort berichtete.

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Nachwort

den in Böhmen« (Neue Freie Presse, 25.  Dezember 1913) soll diese Rechtfertigung der politischen Äußerung exemplarisch veranschaulichen  : Ihre ehrende Aufforderung, mich über den Ausgleich in Böhmen zu äußern, hätte ich vielleicht dankend ablehnen sollen, weil ich kein Politiker bin, durchaus kein Politiker. Meine Lebensarbeit ist aber der Kritik der Sprache gewidmet  ; und weil jeder Streit zwischen Nationen – bei der Unsicherheit der Kriterien, nach denen die Rasse zu bestimmen wäre – zuletzt eine Sprachenfrage ist, darum mag es auch dem Sprachkritiker gestattet sein, ein Wörtchen zur Sache vorzubringen.64

Mauthner Selbstbekenntnis zum Unpolitischen lässt sich nur als Abwehr gegen eine politische Vereinnahmung verstehen  : Mauthner ist nicht unpolitisch, sondern unparteiisch. Er ist kein Sprecher einer politischen Partei oder einer Ideologie, sondern ein ›Mann ohne Uniform‹. Als solcher nahm er sich allerdings nicht zurück und tätigte frei seinen Überzeugungen folgend, vielfach naiv und politisch unbedacht, Aussagen, die sich nur als unverhohlen nationalistisch deuten lassen. Während Corinna Kosuch65 Mauthner als konservativ bezeichnet, ist Mauthners Position für Peter Stachel die »eines leidenschaftlichen und bekennenden Nationalisten«66. Gegen diese Einschätzungen von Mauth64 Fritz Mauthner, »Für den Völkerfrieden in Böhmen«, Neue Freie Presse (Wien), 25. Dezember 1913, 9  ; Fritz Mauthner Collection (AR 3392, box 8, folder 12  : Clippings  ; »N-S«, 1876–1923). 65 Carolin Kosuch, Missratene Söhne. Anarchismus und Sprachkritik im Fin de Siècle (Göttingen  : Vandenhoeck & Ruprecht, 2015), 10. 66 Stachel, »Die Geburt der Sprachkritik aus dem Geist des Nationalismus«, 127. Die politische Dimension von Mauthners Sprachkritik

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ners politischer Haltung können kaum Einwände erhoben werden. Über die Deutung der politischen Dimension von Mauthners Sprachkritik herrscht jedoch keine Einigkeit. Es ist unklar, wie das Verhältnis zwischen philosophischen und politischen Ansichten in der Sprachkritik zu bestimmen ist. Die Frage, inwiefern eine Sprachkritik, die Züge der Dekonstruktion trägt67, und ein nationalistisches Denken miteinander übereinstimmen oder voneinander abweichen, wurde bisher entweder nur in Bezug auf den jeweiligen Kontext behandelt oder mit zueinander widersprüchlichen Einschätzungen beantwortet. Pascale Roure schreibt, Mut­ tersprache und Vaterland habe einen »singulären Platz im Mauthner’schen Korpus, da Mauthner seine Sprachkritik direkt auf aktuelle politische Fragen anwendet«68. Auch wenn gezeigt werden konnte, dass sich das Buch teilweise aus zum Veröffentlichungszeitpunkt bereits vorliegenden Arbeiten zusammensetzt, nimmt der Text diesen singulären Platz ein. Mauthner selbst verknüpft darin seine politischen und philosophischen Ansichten. In einer Rezension aus dem Jahr 1921 wird Muttersprache und Vaterland als ein Buch der politischen Mitte beschrieben, das »heilsam« sei für »Volksverderber und Brandstifter, 67 Gottfried Gabriel, »Fritz Mauthner – oder vom linguistic turn zur Dekonstruktion«, in An den Grenzen der Sprachkritik. Fritz Mauthners Beiträge zur Sprach- und Kulturtheorie, hrsg. v. Gerald Hartung (Würzburg  : Königshausen & Neumann, 2013), 115–130. 68 Pascal Roure, »La métaphore de la langue maternelle. Nationalisme linguistique et apories identitaires selon Fritz Mauthner«, Trajectoires. Revue de la jeune recherche franco-allemande, No.  3  : Mondes en narration (2009), https  ://doi.org/10.4000/trajectoires.245, letzter Zugriff  : 31.05.2022 [Übersetzung TH].

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Nachwort

für extreme Internationalisten und übertriebene Nationalisten, für Aktionäre und Reaktionäre der äußersten Linken und Rechten«69. Diese Einschätzung erlaubt die Annahme, dass sprachkritische Argumente gegen nationalistische Positionen eingesetzt werden können. Zugleich erscheint eine Sprachkritik, die sich nur gegen politische Extrempositionen richtet, als eine bremsende, konservative Haltung und nicht als die Anwendung der radikalen Erkenntniskritik, wie sie in den Beiträgen zu einer Kritik der Sprache präsentiert wird. Es handelt sich dabei allerdings um keine fachwissenschaftliche Beurteilung. Die aufgeworfene Frage nach dem Verhältnis zwischen philosophischen und politischen Überzeugungen wird in Mauthners zeitgenössischem Kontext nicht beantwortet. Roure gibt einen Überblick über die neueren, philosophischen Auseinandersetzungen mit Muttersprache und Vater­ land und verweist auf die Arbeiten von Elisabeth Leinfellner70 und Peter Stachel71, die konträre Positionen vertreten  : Für Leinfellner drückt Mauthner in seinen späten Texten, die nach dem Ersten Weltkrieg veröffentlicht worden sind, ein Bedauern über seinen früheren Chauvinismus aus. Sie belegt mit Muttersprache und Vaterland etwa, dass Liebe zur 69 Walter Huber, Rezension von Muttersprache und Vaterland, Der Land­ bote (Winterthur), 30. Juli 1921 ( Jg.  82, Nr.  115)  ; Fritz Mauthner Collection (AR 3392, box 9, folder 14  : Clippings  ; Reviews of »Luegen­ ohr« … »Muttersprache …«, 1881–1921). 70 Elisabeth Leinfellner-Rupertsberger, »Die Republik der Sprachen bei Fritz Mauthner  : Sprache und Nationalismus«, in Die Wiener Jahrhun­ dertwende, hrsg.  v. Jürgen Nautz und Richard Vahrenkamp (Wien  : Böhlau, 1993), 389–404. 71 Stachel, »Die Geburt der Sprachkritik aus dem Geist des Nationalismus«. Die politische Dimension von Mauthners Sprachkritik

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Muttersprache für Mauthner die »einzige zulässige Form des Patriotismus« darstelle und es für ihn ein Irrtum sei, dass »die Liebe zur Muttersprache mit dem Haß auf andere Sprachen gepaart sein müsse«72. Stachel geht ausführlich auf Mauthners Schriften der Kriegsjahre 1914–1918 ein und weist damit Mauthners nationalistische Haltung nach. Er zeigt mit Verweis auf Muttersprache und Vaterland, dass Mauthner eine identitäts- und einheitsstiftende Funktion von Sprache annehme, wodurch Muttersprache als »primäres Definitionsmerkmal nationaler Zugehörigkeit«73 aufgefasst werde. Stachel belegt, dass Liebe zur Muttersprache bei Mauthner »explizit mit der Ablehnung ›fremder‹ Einflüsse verknüpft«74 sei. Für Jacques Le Rider wiederum stellt Muttersprache und Vaterland Mauthners Versuch dar, »seine bedauernswerten Aussagen der Kriegsjahre vergessen zu lassen«75. Roure zeigt, dass sich Mauthner in Mut­ tersprache und Vaterland von der affirmativen Haltung zum Nationalismus distanziert, indem er auf Irrtümer bei der Auffassung der Nation als Vaterland aufmerksam mache. Zugleich weise Mauthner im Buch auch darauf hin, dass Zusammenhänge zwischen Staat und Sprache, im konkreten Fall von Nationalstaat und Nationalsprache, nicht geleugnet werden können. Das zentrale Problem stelle die Frage nach der Rolle von Muttersprache bei Konflikten um 72 Leinfellner-Rupertsberger, »Die Republik der Sprachen«, 393. 73 Stachel, »Die Geburt der Sprachkritik aus dem Geist des Nationalismus«, 106. 74 Stachel, »Die Geburt der Sprachkritik aus dem Geist des Nationalismus«, 107. 75 Jacques Le Rider, Fritz Mauthner. Scepticisme linguistique et modernité. Une biographie intellectuelle (Paris  : Bartillat, 2012), 415 [Übersetzung TH].

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Zugehörigkeit dar. Roure zeigt mit Verweis auf Mutterspra­ che und Vaterland, dass Mauthners Verständnis von Muttersprache eine Alternative zu einer begrifflichen Opposition von sprachbasiertem Nationalismus und Universalismus darstellt. Diese verschiedenen Ansätze legen nahe, dass sich Mut­ tersprache und Vaterland für eine Erkundung der politischen Dimension von Mauthners Sprachkritik eignet. Zugleich zeugen die genannten Arbeiten davon, dass sich die Deutungen in ganz verschiedene Richtungen bewegen können. Muttersprache und Vaterland schließt mit einem Brief, den Mauthner einem erfundenen Autor zuschreibt, der aber – anders als die im sechsten Kapitel besprochenen Fälschungen – ohne Täuschungsabsicht verfasst ist. Als Bruder vom Freien Geist weist Mauthner darauf hin, dass eine »Einheit und Liebe zwischen den Einzelnen«76 in Hass umschlägt, wenn sie auf einem festgelegten Merkmal aufbaut  ; er nennt konkret die gemeinsame Herkunft als Beispiel und stellt in Aussicht, dass ebenso andere Merkmale an dieser Stelle stehen könnten (Nationalität, Sprache, Identität, …). Auch in einer Gemeinschaft ohne Unterschiede zwischen ihren einzelnen Mitgliedern könne es kein Glück geben. Der Text mündet im Offenen  : Ist es möglich, die Entzweiung zwischen den Menschen zu überwinden  ? Zur Neuauflage Der Text von Muttersprache und Vaterland wurde für diese Neuauflage durchgesehen und vereinzelte Druckfehler wur76 Siehe Seite 76. Zur Neuauflage

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den stillschweigend korrigiert. Formatierungen (Sperrung und Kursivierung, Wechsel von Fraktursatz auf Antiqua, verschiedene Kennzeichnungen mit Anführungszeichen) wurden vereinheitlicht und historische Namensschreibung (de Foe/Defoe, Wiclif/Wyclif ) modernisiert. Die nicht immer nachvollziehbaren inhaltlichen Schlagworte in der Kopfzeile wurden nicht übernommen. Die im Anschluss folgenden Angaben zu den erwähnten Werken sollen weder ein fehlendes Literaturverzeichnis ersetzen noch Mauthners Text der Form nach an akademische Standards heranführen. Die bibliographischen Angaben sollen zeigen, auf welches Werk sich Mauthner bezieht, wenn der Text keine klaren Angaben dazu enthält. Es ist nicht bekannt, auf welche konkreten Ausgaben er bei der Arbeit an Muttersprache und Vaterland zurückgegriffen hat, und so sollen die bibliographischen Angaben lediglich erlauben, Werke zu identifizieren. Die Anmerkungen weisen auf Fehler Mauthners und Abweichungen zwischen Zitat und Originaltext hin. Wenn ein Werkverweis im Text vorkommt, aber nicht aus dem Werk zitiert wird und der Titel eindeutig identifiziert werden kann, wird das entsprechende Werk nicht angeführt. Das Namensregister wurde in dieser Ausgabe ergänzt. Diese Neuauflage wurde ermöglicht durch finanzielle Unterstützung der Abteilung für Kunst und Kultur des Landes Kärnten. Klagenfurt, im Mai 2022 Thomas Hainscho

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Angaben zu den erwähnten Werken Im Folgenden findet man Angaben zu der Erstveröffentlichung oder dem Abdruck in einer Werkausgabe für Titel, die im Text nicht eindeutig identifiziert werden können oder aus denen Mauthner zitiert. Seite 9  :

Mauthner, Fritz. Erinnerungen. Prager Jugend­ jahre. München  : Georg Müller, 1918. Seite 11  : Grillparzer, Franz. [Ohne Titel]. In Sämtliche Werke. Abt. 1, Bd. 12  : Gedichte. Dritter Teil  : Sprüche und Epigramme, Textteil, herausgegeben von August Sauer und Reinhold Backmann, 213. Wien  : Anton Schroll & Co., 1937. – Der zitierte Satz stammt von Epigramm Nr. 1182, datiert um den 19. April 1849, und findet sich in der Grillparzer-Werk­ausgabe als Vierzeiler. Statt »Weg der neuen Bildung« und »Nationalität« heißt es bei Grillparzer »Weg der neuern Bildung« und »Nazionalität«. Seite 12  : Arndt, Ernst Moritz. »Des Deutschen Vaterland.« In Gedichte von Ernst Moritz Arndt. Vollständige Sammlung, 233–235. Berlin  : Weidmannsche Buchhandlung, 1860. Seite 17  : Löwe, Joel. »Bemerkungen über den Ausdruck in Göthen’s Iphigenie.« In Beiträge zur weitern Ausbildung der deutschen Sprache, sechstes Stück (1796)  : 1–37 [mit Zusätzen von Joachim Heinrich Campe], und [»Fortsetzung«] siebenAngaben zu den erwähnten Werken

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tes Stück (1797)  : 1–50. – Mauthner schreibt Campe die sprachpuristische Kritik an Goethes Iphigenie auf Tauris zu  ; die Textgrundlage dieser Kritik ist zwar in den von Campe herausgegebenen Beiträgen erschienen, stammt aber von Joel Löwe. Seite 17  : Schiller, Friedrich. Xenien. In Werke. Bd. 1  : Gedichte in der Reihenfolge ihres Erscheinens 1776–1799, herausgegeben von Julius Petersen und Friedrich Beißner, 309–360. Weimar  : Hermann Böhlaus Nachfolger, 1943. – Die Xenien von Goethe und Schiller erschienen ursprünglich in dem von Schiller herausgegebenen Musenalmanach für das Jahr 1797  ; Mauth­ ner verweist auf Xenie Nr. 87, Eridanus. Seite 17  : [Campe, Joachim Heinrich]. »Doppelverse (Distichen), ein Gegengeschenk für die Verfasser der Xenien in Schillers Musen-almanache.« In Beiträge zur weitern Ausbildung der deutschen Sprache, siebentes Stück (1797)  : 179–182. Seite 18  : Grimm, Jacob. [Vorwort]. In Deutsches Wör­ terbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm, Bd. 1, II–LXVII. Leipzig  : S. Hirzel, 1854. – Die Groß- und Kleinschreibung im Zitat ist orthographisch angepasst. Seite 20  : [Meijer, Lodewijk, Ed.]. Nederlandtsche Woorden-Schat. Amsterdam, 1654. – Die von Lodewijk Meijer (Ludwig Meyer) herausgegebene neue Auflage des Jahres 1654, auf die Mauthner hinweist, geht auf das im Jahr 1650 anonym bei dem Drucker Thomas Fonteyn in Haarlem erschienene Wörterbuch zurück, das 100

Angaben zu den erwähnten Werken

von Johan Hofman zusammengestellt wurde. Siehe dazu die digitalisierte Online-Fassung des Wörterbuchs von 1650  : https  ://www.dbnl. org/tekst/hofm005nede02_01/index.php, letzter Zugriff  : 31.05.2022. Seite 21  : Bismarck, Otto von. Die gesammelten Werke. Bd. 14  : Briefe. Erster Band  : 1822–1866, he­ rausgegeben von Wolfgang Windelband und Werner Frauendienst. Berlin  : Deutsche Verlags-Gesellschaft, 1933. – Das Vorwort im Grimm’schen Wörterbuch ist mit 2. März 1854 signiert und auch wenn es einen anderen Brief Bismarcks an Leopold von Gerlach gibt, der näher an diesem Datum liegt, meint Mauthner vermutlich Brief Nr. 492, den Bismarck am 20. Februar 1884 in Frankfurt verfasst. Seite 24  : Nienkamp, Heinrich. Kultur und Sprache. Berlin-Charlottenburg  : Vita Verlag, 1916. – Bei Heinrich Nienkamp handelt es sich um das Pseudonym des Schriftstellers und Esperantisten Ernst Kliemke. Mauthner springt in der Auslassung im ersten Zitat über mehrere Seiten (186–196) und ergänzt eigenmächtig den in Klammern gesetzten Einschub »das neue Volapük nämlich«. Seiten 36 und 38  : Michels, Robert. »Zur historischen Analyse des Patriotismus.« In Archiv für Sozial­ wissenschaft und Sozialpolitik 36, Nr.1 (1913)  : 14–43, und [»Schluss«] Nr. 2 (1913)  : 394–449. Seite 36  : Thomson, James und David Mallet. »Alfred  : A Masque.« In The Works of James Thomson. With his Last Corrections and Improvements. Vol. 2. Angaben zu den erwähnten Werken

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1763. – Die früheste Textfassung des Lieds »Rule, Britannia  !« geht auf das letzte Stück der Oper Alfred zurück. Das Libretto und die Musik stammen aus dem Jahr 1740  ; Mauthners Angabe 1734 ist falsch. Seite 36  : [St. John, Henry]. Letters, on the Spirit of Patrio­tism  : on the Idea of a Patriot King  : and On the State of Parties, At the Accession of King George the First. London, 1749. – Die beiden im Titel angeführten Briefe von Henry St. John, 1st Viscount Bolingbroke über Patriotismus wurden in den Jahren 1736 (On the Spirit of Patriotism) und 1738 (The Idea of a Patriot King) geschrieben. Es ist unklar, auf welchen Brief sich Mauthner hier bezieht  ; siehe Abschnitt 5., Shaftesbury, Tindal, Morgan, Chubb, Bolingbroke, im zweiten Buch von Der Atheismus und seine Geschichte im Abendlande für Ausführungen Mauthners zu Bolingbroke. Seite 40  : [Voltaire]. »Patrie.« In Dictionnaire philoso­ phique, portatif, 295–297. [Londres], 1764. – Mauthner zitiert nicht aus der ersten Auflage aus dem Jahr 1764, sondern aus einer späteren Fassung des Artikels. Ein Vergleich mit dem französischen Original, dessen endgültige Fassung zum Beispiel in der unter der Leitung von Louis Moland entstandenen Voltaire-Werkausgabe (1877 bis 1885 bei Garnier F ­ rères in Paris), erschienen ist, zeigt, dass Mauthner im Zitat einzelne Sätze ausgelassen hat. Seite 44  : Luther, Martin. »Einer aus den hohen Artikeln des päpstlichen Glaubens, genannt Donatio 102

Angaben zu den erwähnten Werken

Seite 47  :

Seite 48  :

Seite 48  :

Seite 50  :

Seite 58  :

Constantini. 1537« [herausgegeben von D. Clemen und D. Brenner]. In D. Martin Luthers Werke (Weimarer Ausgabe). Abt. 1  : Schriften, Bd. 50, 65–89. Weimar  : Hermann Böhlaus Nachfolger, 1914. – Das Zitat ist orthographisch angepasst und leicht verändert  ; es lautet im Original auf S. 70  : »Eine weidliche, fette, dicke, wolgemeste, Eine rechte Bepstliche Lügen«. Psalmanaazaar, George. An Historical and Geographical Description of Formosa, An Island subject to the Emperor of Japan. London, 1704. – Das Buch erschien bereits im Jahr 1704, nicht erst 1725, wie im Text angegeben. Lauder, William. »An Essay on Milton’s Imitation of the Moderns.« In The Gentleman’s Magazine 17 (1747)  : 24–26. – Lauder baute seine Artikel im Gentleman’s Magazine zu einem Buch aus, das im Jahr 1750 unter dem Titel An Essay on Milton’s Use and Imitation of the Moderns, in his Paradise Lost in London bei J. Payne und J. Bouquet gedruckt wurde. [Macpherson, James]. Fragments of Ancient Poetry, Collected in the Highlands of Scotland, and, Translated from the Galic or Erse Language. Edinburgh  : G. Hamilton and J. Balfour, 1760. Chatterton, Thomas. »An Excelente Balade of Charitie  : As wroten bie the gode prieste Thomas Rowleie, 1464.« In The Poetical Works of Thomas Chatterton. Vol. 2, 148–154. Boston  : Fields, Osgood & Co., 1870. Schiller, Friedrich. »Wilhelm Tell.« In Werke. Bd. 10  : Die Braut von Messina. Wilhelm Tell. Angaben zu den erwähnten Werken

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Die Huldigung der Künste, herausgegeben von Siegfried Seidel, 127–277. Weimar  : Hermann Böhlaus Nachfolger, 1980. – Das vierzeilige Zitat stammt aus der ersten Szene des zweiten Aufzugs. Mauthner weicht orthographisch vom Original ab, das auf S. 170 wie folgt lautet  : »Die angebohr’nen Bande knüpfe fest, / An’s Vaterland, an’s theure, schließ dich an, / Das halte fest mit deinem ganzen Herzen. / Hier sind die starken Wurzeln deiner Kraft«. Die bei Mauthner zuvor als Zitat aus Wilhelm Tell angegebene Stelle »Herrschaft auf den Ländern lastet« lautet im Original auf S. 170  : »Wie Oestreich’s Herrschaft lastet auf den Ländern«. Seite 59  : Schiller, Friedrich. »Wallensteins Tod.« In Werke. Bd. 8  : Wallenstein, herausgegeben von Hermann Schneider und Lieselotte Blumenthal, 173–354. Weimar  : Hermann Böhlaus Nachfolger, 1949. – Das vierzeilige Zitat stammt aus dem fünften Auftritt des ersten Aufzugs. Das »Ja,« am Anfang des Zitats steht bei Schiller am Ende der Zeile zuvor. Im nachfolgenden Zitat von Wallensteins Antwort stammen der Beginn »Böhmen habe« sowie der Einschub »(schon wieder)« von Mauthner, nicht von Schiller. Die Stelle lautet in der Werkausgabe Schillers auf S. 189  : »Und dieses böhmsche Land, um das wir fechten, / Das hat kein Herz für seinen Herrn, den ihm / Der Waffen Glück, nicht eigne Wahl gegeben.«

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Angaben zu den erwähnten Werken

Personenregister

A Ailly, Pierre von 66, 73 Aristoteles 61 Arndt, Ernst Moritz 13, 38 Attinghausen, Werner von (Schiller) 58 B Bismarck, Otto von 18, 21, 31 Blücher, Gebhard Leberecht von 21 Boccaccio, Giovanni 15, 16 Bonaparte, Napoleon 31, 38, 60 C Campe, Joachim Heinrich 17 Chatterton, Thomas 50 Cusanus (Nikolaus von Kues) 45

Gerson, Jean 73 Goethe, Johann Wolfgang von 17 – 19, 40, 49, 57 Grillparzer, Franz 11 Grimm, Jacob 18, 21 H Humboldt, Wilhelm von 31, 61 Hus, Johannes ( Jan) 65 – 70, 72, 74 J Jahn, Friedrich Ludwig 54 Johannes (Apostel) 43 K Klopstock, Friedrich Gottlieb 37 Koerbagh, Adriaan 19

F Fichte, Johann Gottlieb 38, 61 Freytag, Gustav 18 Friedrich II., der Große (Preußen) 19, 21, 46, 59

L Lauder, William 48 Leibniz, Gottfried Wilhelm 18 Lessing, Gotthold Ephraim 19, 40, 57, 65 Locke, John 37 Loyola, Ignatius von 35 Ludwig XIV. (Frankreich) 37 Luther, Martin 18, 44

G Geibel, Emanuel 61 Gerlach, Leopold von 21

M Machiavelli, Niccolò 35 Macpherson, James 49, 50

D Dante, Alighieri 15, 16, 35 Defoe, Daniel 47

Personenregister

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Masaryk, Tomáš 50, 51 Meinecke, Friedrich 31 Menger, Anton 41 Meyer, Ludwig 20 Michels, Robert 36, 38 Milton, John 48 Moltke, Helmuth von 22 Moses 43, 44 N Nienkamp, Heinrich 24 O Occam (Wilhelm von Ockham) 69, 73 Ossian (Macpherson) 48 P Petrarca, Francesco 15, 35 Psalmanazar, George 47, 48 R Rienzo, Cola di 35

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Personenregister

S Schiller, Friedrich 17, 37, 57 – 59 Schottel[ius], Justus Georg 19 Scott, Walter 49 Sigismund (Hl. Römisches Reich) 72, 74 Spinoza, Baruch de 19, 20 Stein, Karl Freiherr vom 31 St. John, Henry (1. Viscount Bolingbroke) 36 V Valla, Lorenzo 45 Voltaire 37, 40 Vondel, Joost van den 48 W Wallenstein (Schiller) 58, 59 Wenzel IV. (Böhmen) 70 Wrangel, Carl Gustaf (Schiller) 59 Wyclif, John 69, 74