Musiktheater im Legitimationsdiskurs: Strategien und Strukturen in Musiktheaterkritiken zwischen 1987 und 2007 9783839464168

Im Diskurs um das Musiktheater weitet sich ein Legitimationsproblem aus, das politische, wirtschaftliche und ästhetische

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Musiktheater im Legitimationsdiskurs: Strategien und Strukturen in Musiktheaterkritiken zwischen 1987 und 2007
 9783839464168

Table of contents :
Inhalt
Vorwort und Dank
I Legitimation und Musiktheater im Diskurs – politische, wirtschaftliche und ästhetische Narrative
Einleitung
1. Legitimation als Topos: Kulturförderung und staatlicher Kulturauftrag
2. Die ästhetische und programmatische ›Krise‹ des Musiktheaters
3. Zwei Momentaufnahmen: »Radikale Leichtigkeit« und »Besser als Sex«
II Material und Methode
1. Musiktheaterkritik und Öffentlichkeit
2. Die Zeitungskritik als Medium der Legitimation des Musiktheaters
3. Der Forschungsprozess: diskursanalytischer Ansatz in wissenssoziologischer Perspektivierung
III Legitimationsstrategien im Diskurs um das Musiktheater
Einleitung
1. Bürgerliche Werte und Habitus
2. Musiktheater zwischen Kunst und Unterhaltung
3. Aktualität
4. Akteure
5. Ökonomische Positionen
IV Schlussbetrachtung
1. Universalität durch Widerspruch
2. Das Musiktheater als symbolische Sinnwelt – gesellschaftlich konstruierte Wirklichkeit einer großen Erzählung
3. Ausblick
Kritikenverzeichnis
Literaturverzeichnis

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Caroline Wiese Musiktheater im Legitimationsdiskurs

Musik und Klangkultur Band 59

Caroline Wiese ist Projektleiterin des Bundesjugendchores beim Deutschen Musikrat. Sie studierte Musikwissenschaft, Rechtswissenschaft und Betriebswirtschaftslehre an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn und Theaterproduktion und Bühnenmanagement an der University of British Columbia in Vancouver, Kanada. Anschließend promovierte sie an der Universität zu Köln.

Caroline Wiese

Musiktheater im Legitimationsdiskurs Strategien und Strukturen in Musiktheaterkritiken zwischen 1987 und 2007

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: //dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2023 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Jan Gerbach, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar https://doi.org/10.14361/9783839464168 Print-ISBN 978-3-8376-6416-4 PDF-ISBN 978-3-8394-6416-8 Buchreihen-ISSN: 2703-1004 Buchreihen-eISSN: 2703-1012 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Unsere aktuelle Vorschau finden Sie unter www.transcript-verlag.de/vorschaudownload

Inhalt

Vorwort und Dank .........................................................................7 I

Legitimation und Musiktheater im Diskurs – politische, wirtschaftliche und ästhetische Narrative ................................................................ 11 1. Legitimation als Topos: Kulturförderung und staatlicher Kulturauftrag................... 17 2. Die ästhetische und programmatische ›Krise‹ des Musiktheaters ...................... 25 3. Zwei Momentaufnahmen: »Radikale Leichtigkeit« und »Besser als Sex«................ 36 II 1. 2. 3.

Material und Methode................................................................ 43 Musiktheaterkritik und Öffentlichkeit .................................................. 43 Die Zeitungskritik als Medium der Legitimation des Musiktheaters....................... 51 Der Forschungsprozess: diskursanalytischer Ansatz in wissenssoziologischer Perspektivierung ............................................... 72 3.1 Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit................................ 73 3.2 Musiktheater als Dispositiv ....................................................... 80 3.3 Diskurstheoretische Aspekte operationalisiert: Diskurs, Legitimation und Strategie .................................................................... 82 3.4 Das Textkorpus und die hermeneutische Inhaltsanalyse ........................... 87

III Legitimationsstrategien im Diskurs um das Musiktheater .......................... 97 1. Bürgerliche Werte und Habitus ........................................................ 99 1.1 Bildung als Wissensakkumulation ................................................ 100 1.2 Die ›Schule des Lebens‹......................................................... 105 1.3 Traditionsbewusstsein ...........................................................109 1.4 Bildungsbürgerliches Wissen, Habitus und Jargon ................................. 118 2. Musiktheater zwischen Kunst und Unterhaltung........................................126 2.1 Ästhetische Positionen ...........................................................126 2.2 Die generische Klassifizierung – Versuch der Selbstvergewisserung................ 141 2.3 Emotionen und Gefühl ........................................................... 148 2.4 Unterhaltung I – »eine leichte Kost, perfekt serviert« ............................. 151 2.5 (Keine) Langeweile ...............................................................152

2.6 Unterhaltung II – intellektualisierte Unterhaltung ..................................159 2.7 Intellekt/Anspruch/Komplexität ...................................................162 3. Aktualität.............................................................................164 3.1 ›Eine irgendwie zeitlose Moderne‹ ............................................... 165 3.2 ›Sichtbar machen‹ und ›Aktualisieren‹ .......................................... 168 3.3 Tagespolitik und Zeitgeschehen als Referenz......................................173 3.4 Sozialkritische Dimensionen ......................................................179 3.5 Ein Potpourri der Gegenwart..................................................... 185 4. Akteure ..............................................................................187 4.1 Das Publikum ................................................................... 188 4.2 Einzelne Personen und Bezugsgruppen im Dienst der Legitimation.................212 5. Ökonomische Positionen ............................................................. 227 5.1 Starlight Express als Wirtschaftsfaktor: Attraktivitätssteigerung einer Region ..... 228 5.2 Umwegrentabilität .............................................................. 229 5.3 Wirtschaftsform und Maßnahmen des Marketings ................................ 230 5.4 Kulturförderung: marktwirtschaftliche Denkstruktur als Leerstelle ................ 232 5.5 Musiktheater »stiftet Zinsen in unserem Kopf« – eine synthetische Rückschau auf die Gattungen.................................................... 234 IV Schlussbetrachtung ................................................................ 237 1. Universalität durch Widerspruch ..................................................... 237 2. Das Musiktheater als symbolische Sinnwelt – gesellschaftlich konstruierte Wirklichkeit einer großen Erzählung .................................................. 243 3. Ausblick ............................................................................. 245 Kritikenverzeichnis .................................................................... 249 Literaturverzeichnis ................................................................... 263 Sonstige Quellen ........................................................................ 276

Vorwort und Dank

Obschon ich gerne Zeitungen lese und über Themen schreibe, die Musik betreffen, gehörte ich vor der Beschäftigung mit Legitimationsstrategien im zeitgenössischen Musiktheater weder zu den Leser*innen1 von Musiktheaterkritiken noch zu deren Verfasser*innen, woran sich auch mit der Fertigstellung dieser Arbeit nichts geändert hat und ändern wird. Als Musikwissenschaftlerin bleibt die Musiktheaterkritik für mich – wenn auch als janusköpfige Textsorte zwischen eigenständigem künstlerischen Genre und Kunstvermittlung spannungsreich – eine interessante und ertragreiche Quelle, anhand derer ich Phänomene, Strukturen oder die Musik betreffende Sachverhalte und Mechanismen beschreiben, analysieren, kontextualisieren und gesellschaftliche Phänomene letztendlich besser und in womöglich neuen, unerwarteten Zusammenhängen verstehen kann. Im Verlauf der Arbeit an diesem Buch bin ich sowohl vereinzelt im wissenschaftlichen als auch häufig im musikpraktischen Kontext gefragt worden, ob Musiktheater legitim sei, wobei in der Regel unterstellt wurde, diese Frage müsse bejaht werden. Dies bewegt mich dazu, deutlich zu machen, dass die Funktion dieser Arbeit weder darin liegt, Musiktheater durch die Ergebnisse meiner Analysen zu legitimieren noch zu delegitimieren. Außerdem geht es mir auch nicht um die Überprüfung oder Bewertung von subjektivem bzw. faktischem Wahrheitsgehalt vereinzelter Aussagen spezifischer Akteure, bei denen es sich in dieser Arbeit überwiegend um Musiktheaterkritiker*innen handelt. Es geht mir nicht darum, Urteile über einzelne Journalist*innen oder ihren Berufsstand zu fällen. Von Interesse sind das sich

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Sprache beeinflusst unser Denken. Diskurse konstruieren und festigen gesellschaftliche Strukturen. Eine Arbeit, die sich einer Forschungsfrage in wissenssoziologischer und diskurstheoretischer Perspektive nähert, trägt diesem Umstand auch sprachlich Rechnung. Um Frauen, Männer und Personen anderer Geschlechter gleichermaßen zu berücksichtigen, wurde die Form des Gender*Gap gewählt. – Siehe Annelene Gäckle: ÜberzeuGENDERe Sprache. Leitfaden für eine geschlechtersensible und inklusive Sprache, hg. von der Gleichstellungsbeauftragten der Universität zu Köln 2014, http://gedim.uni-koeln.de/sites/genderqm/user_u pload/Leitfaden_geschlechtersensible_Sprache_5.Auflage_2017.pdf, zuletzt aufgerufen am 11.05.2018.

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Musiktheater und Legitimation im Diskurs

in den Kritiken verdichtete Wissen zum Musiktheater und die dieses Wissen umgebenden diskursiven Kontexte, die sich im gesellschaftlichen Wissensvorrat verstetigt haben. Die vorliegende Studie wurde von der Philosophischen Fakultät der Universität zu Köln im Sommersemester 2021 als Dissertation angenommen und für die Drucklegung geringfügig überarbeitet. Selbstverständlich handelt es sich bei dieser Arbeit vollumfänglich um meine eigene wissenschaftliche Leistung. Sie ist aber – allein durch die zeitliche Dauer – auch Teil eines Lebensabschnitts, bei dem mich in Vancouver, Bonn, Köln und Hannover verschiedene Menschen, Wissenschaftler*innen, Kolleg*innen, Freund*innen, Familie und Vorbilder in unterschiedlichen Phasen begleitet, wissend und unbewusst entscheidend beeinflusst und ermutigt haben und denen ich hiermit herzlich danke. Danken möchte ich zuvorderst und ganz besonders den Herren Frank Hentschel und Peter W. Marx, die mir beide als Betreuer dieser Dissertation an der Universität zu Köln in unterschiedlichen Stadien der Arbeit zuverlässige, intelligent-kritische und streitbare Diskussionspartner waren. Herrn Hentschel danke ich für seine offene, unermüdliche und direkte Art, Argumente und Schlussfolgerungen auf den Prüfstand zu stellen. Herrn Marx danke ich für den erfrischenden disziplinären Perspektivwechsel, der an entscheidenden Stellen scheinbare Obstakel produktiv umzuwandeln vermochte. Mein Dank gilt auch meinen Kolleg*innen der a.r.t.e.s. Graduate School for the Humanities Cologne und besonders den Teilnehmer*innen von Forschungsklasse 4 sowie den Teilnehmer*innen der musikwissenschaftlichen und theaterwissenschaftlichen Forschungskolloquien bei Herrn Hentschel und Herrn Marx für bereichernde, trans-, inter- und monodisziplinäre Diskussionen. Andreas Speer, der mit a.r.t.e.s. einen einzigartigen ›Denkraum‹ geschaffen hat, und mit ihm allen Artist*innen und Mitarbeiter*innen der Graduiertenschule, spreche ich meinen Dank aus; die zahlreichen initiativ entstandenen und inspirierenden ›extrakurrikularen‹ Lesekreise, Diskussionsrunden, Kaffeepausen, Ausstellungen und Konferenzen haben die Promotionszeit für mich sehr bereichert und meine mentale Elastizität jenseits des eigenen Forschungsfeldes herausgefordert und trainiert. Der Stiftung der Deutschen Wirtschaft danke ich für die großzügige finanzielle Unterstützung in Form eines Promotionsstipendiums aus Mitteln des BMBF, mehr noch für die umfassende ideelle Förderung über die aktive Stipendiatinnenzeit hinaus. Den Mitarbeiter*innen der Theaterwissenschaftlichen Sammlung der Universität zu Köln danke ich für die unkomplizierte und stets zuvorkommende Bereitstellung meines Untersuchungsmaterials aus dem sammlungseigenen Kritikenarchiv. Bettina Schlüter und Erik Fischer legten mit ihrer ausgezeichneten Lehre am musikwissenschaftlichen Seminar der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität in Bonn das Fundament für einen kulturwissenschaftlichen Blick auf Musik. Annette Kreutziger-Herr begleitete mein Promotionsvorhaben bei den ersten Gehver-

Vorwort und Dank

suchen an der Hochschule für Musik und Tanz in Köln, David Metzer (University of British Columbia, Vancouver, Kanada) ermöglichte mir einen transnationalen Blick auf die eigene Fachkultur und Winfried Gebhardt (Universität Koblenz-Landau) gab dieser Arbeit bereits im frühen Stadium einen entscheidenden wissenssoziologischen Richtungswechsel. Vielen Dank! Danken möchte ich außerdem Alexandra Wiese für gendergerechtere Sprache und Sylwan Wiese für die Lust auf mehr Musik. Ursula Amstutz, Charles Barber, Anna Bindler, Mirjam Bonin, Felicitas Breuning, Heidrun Eberl, Bob Eberle, Katharina Finkenzeller, Frida Forslund, Katja Fuder, Dorit Lehr, Simon Liening, Anna Meinen, Sarah Meyer-Maschwitz, Magdalena Möhlenkamp, Eileen Padgett, Thibault Renoux, Jérôme Rossé, Paul Schempp, Hannah Scherer, Byron Schirbock und Teresa Schlüter danke ich für Ablenkung, Verpflegung und Motivation zur rechten Zeit. Emil Wiedemann danke ich für sein ausdauerndes Interesse an Diskursen zu zeitgenössischem Musiktheater und seine bedingungslose und durch Neugier getriebene Begeisterung für Wissenschaft. Meinen Eltern danke ich für die Weitergabe wesentlicher Eigenschaften, die mich diese Arbeit mit einem liebenswerten und aufgeweckten Kleinkind haben abschließen lassen: Meiner Mutter Dobrosława Wiese danke ich für das kämpferische Gemüt meiner Urgroßmutter, meinem Vater Andreas Wiese für die stoische Gelassenheit.

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I Legitimation und Musiktheater im Diskurs – politische, wirtschaftliche und ästhetische Narrative »Derzeit grassieren die Fragen nach dem, was Oper ist, kann, was sie ausmacht und ob sie überleben wird. Ein Symposion über dieses Thema jagt das andere. Jeder will über ihre Gegenwart und Zukunft Bescheid wissen, die einen rufen nach Visionen, die anderen nach dem Rotstift. Die Oper scheint mehr denn je im Legitimationsnotstand, sucht nach hinreichenden Gründen für ihre Existenz […].«1

Die Motivation für diese Arbeit entsprang einer simplen Beobachtung: Die gegenwärtige Musiktheaterlandschaft in Deutschland – insbesondere die durch öffentliche Zuwendungen geförderte – hat offensichtlich ein Legitimationsproblem. Die Gründe, die dafür angeführt werden, sind vielfältig; sie umspannen politische, wirtschaftliche und ästhetische Aspekte: So wird einerseits häufig ein vermeintlicher oder tatsächlicher Publikumsrückgang festgestellt, verknüpft mit einem generellen Wandel des ›öffentlichen Konsenses‹ über Zuwendungen der öffentlichen Hand für Angebote im Bereich der sogenannten ›Hochkultur‹.2 Andererseits wird Kulturförderung durch die Austeritätspolitik öffentlicher Haushalte auf Kommunal-, Landesund Bundesebene beeinflusst. Denn durch die Einsparungen und daraus resultierenden finanziellen Engpässe der Theater wird sichtbar, dass der Musiktheaterbe-

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Nike Wagner: Oper: »Musik mit Bildern«?, in: Bettina Knauer und Peter Krause (Hg.): Von der Zukunft einer unmöglichen Kunst. 21 Perspektiven zum Musiktheater, Bielefeld: Aisthesis Verlag, 2006, S. 75–83, hier S. 75. Siehe zum Diskurs über den Publikumsschwund im Musiktheater exemplarisch Michael Mihatsch et al.: Politik und Kulturbewusstsein: Kulturpolitische Rahmenbedingungen für das Musiktheater im neuen Jahrtausend (Roundtable), in: Teure Kunstform Oper?, hg. von Manfred Jochum und Isolde Schmid-Reiter, 2006, S. 17–28, hier S. 18.

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Musiktheater und Legitimation im Diskurs

trieb weit davon entfernt ist, kostendeckend zu arbeiten. Und schließlich genügt ein Blick auf die Spielpläne renommierter Opernhäuser, um sich der Dominanz des historischen Repertoires bewusst zu werden; damit einher gehen die viel diskutierten kompositionsästhetischen und programmatischen Probleme der Kunstform im 20. und 21. Jahrhundert. Derlei Gründe erscheinen im öffentlichen Diskurs als Spitze des Eisbergs einer facettenreichen allgemein beschworenen ›Krise‹ der Kunstform. Allen genannten Topoi ist gemein, dass sie ›Legitimation‹ in den Mittelpunkt diskursiver Aushandlungsprozesse um den Geltungsanspruch des Musiktheaters stellen.3 »Im demokratischen System erfolgt Legitimitätserzeugung im Medium der Öffentlichkeit«4 – für den Legitimationsdiskurs um das Musiktheater lohnt also der Blick in die Feuilletons als öffentlichen Ort für Diskussionen über Kunst. Denn der erhöhte Legitimationsdruck lässt sich in unterschiedlichen Artikeln in Zeitungen besonders gut nachvollziehen, da sie gewissermaßen als Forum für den Aushandlungsprozess zwischen einerseits Legitimationsstrategien und andererseits der Herausforderung der Legitimität dienen. So ist beispielsweise in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung im Anrisstext zu einem Artikel über klassische Musik zu lesen: »Immer wieder wird behauptet, das Publikum für klassische Musik schrumpfe, doch das ist falsch. Noch nie haben so viele Menschen ›Hochkultur-Musik‹ gehört wie heute. Aber nie zuvor mussten sie sich dafür so sehr rechtfertigen.«5 Der Journalist stellt explizit einen erhöhten Legitimationsdruck für ›Hochkultur-Musik‹ fest. Bemerkenswert ist, dass er, kurz und prägnant, die offensichtlich weit verbreitete, aber seiner Meinung nach falsche Annahme des Publikumsrückgangs korrigiert. Diese unmittelbare, sehr direkte Korrektur dient der Legitimitätserzeugung klassischer Musik, denn die angeführte hohe Nachfrage, so scheint es, verweist aus einer demokratietheoretischen Perspektive auf die Legitimität klassischer Musik. Darüber hinaus zeigt schon dieser kleine Ausschnitt aus dem Artikel, dass es »offensichtlich ein wichtiges Ziel gesellschaftlichen und

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Diese Beobachtung lässt sich zu Teilen sicherlich auch auf den durch Ulrich Sarcinelli festgestellten allgemeinen Anstieg an Legitimierungsbedürftigkeit staatstragender Bereiche zurückführen, der mit einer Erhöhung der Transparenz- und Partizipationsansprüche der Bevölkerung gegenüber politischem Handeln und politischen Akteuren einhergeht. – Ulrich Sarcinelli: Politikvermittlung und demokratische Kommunikationskultur, in: Ebd. (Hg.): Politikvermittlung. Beiträge zur politischen Kommunikationskultur, Bonn, S. 19–45, hier S. 27. Ulrich Sarcinelli: Demokratietheoretische Bezugsgrößen. Legitimität, in: Politische Kommunikation in der demokratischen Gesellschaft. Ein Handbuch mit Lexikonteil, hg. von Otfried Jarren, Ulrich Sarcinelli, Ulrich Saxer, Opladen/Wiesbaden: Westdeutscher Verlag, 1998, S. 253–267, hier S. 256. Jan Brachmann: Es geht darum, wer den Ton angibt, in: FAZ, 10.08.2016, http://www.faz.net /aktuell/feuilleton/buehne-und-konzert/elbphilharmonie-wirbt-mit-graffiti-14378104.html, zuletzt aufgerufen am 12.03.2018.

Legitimation und Musiktheater im Diskurs

politischen Handelns [ist, die] Öffentlichkeit für sich zu gewinnen«6 – das gilt für Fürsprecher*innen der klassischen Musik im Allgemeinen, aber auch analog und im Besonderen für die Festigung des Geltungsanspruchs des Musiktheaters. Ein anderes Beispiel als Schauplatz für diesen Aushandlungsprozess: Ein Redakteur der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung kommentierte Ende November 2016 eine Sendung des TV-Comedians Mario Barth, der sich im Rahmen seiner RTL-Sendereihe Mario Barth deckt auf mit versteckter Kamera in die Staatsoper Hannover begab, um die ›Verschwendung von Steuergeldern‹ aufzudecken.7 »Barth drückte sein Erstaunen darüber aus, dass ein altes Stück wie Mozarts ›Zauberflöte‹ immer noch in vielen verschiedenen Inszenierungen gezeigt werde. Kein Wunder, dass das Publikum ausbleibe: ›Das ist ja so, als ob Justin Timberlake 80 Jahre lang dasselbe Programm spielt und nur alle drei oder vier Jahre eine andere Jacke anzieht‹, witzelte er. In der ›Manon Lescaut‹-Vorstellung, die Barth in Hannover besuchte, traf er zwar nicht auf leere Ränge – der Saal war wie meistens voll besetzt – aber einer wie Barth lässt sich von der Realität nicht aus dem Konzept bringen.«8 Auch hier greift der Journalist korrigierend ein. Er stellt mit Verweis auf die Auslastung des Zuschauerraumes deutlich heraus, dass die Einschätzung Barths hinsichtlich eines ›ausbleibenden Publikums‹ weder für die besagte Aufführung gelte noch grundsätzlich der ›Realität‹ entspräche. Über das Feuilleton hinaus wird durch zahlreiche weitere Publikationen innerhalb des Diskurses um das zeitgenössische Musiktheater nicht nur dessen ›Legitimationsnotstand‹ deutlich, sondern auch die Suche nach neuen Legitimationsstrategien oder einer ›gewandelten‹ Legitimation. Im Vorwort eines Sammelbands des Forschungsinstituts für Musiktheater der Universität Bayreuth Mitten im Leben. Musiktheater von der Oper zur Everyday Performance etwa stellt der Musiktheaterwissenschaftler Anno Mungen mit Blick auf das sogenannte Regietheater in Frage, ob dieses »als einzige Strategie zur gesellschaftlichen Rechtfertigung von Oper ausreichen wird«9 , und plädiert für eine Ausweitung des Gattungsbegriffs auf Lebensbereiche

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Jürgen Gerhards und Friedhelm Neidhardt: Strukturen und Funktionen moderner Öffentlichkeit, in: Öffentlichkeit. Kultur. Massenkommunikation. Beiträge zur Medien- und Kommunikationssoziologie, hg. von Stefan Müller-Doohm und Klaus Neumann-Braun, Oldenburg: BIS-Verlag, 1991 [=Studien zur Soziologie und Politikwissenschaft], S. 31–89, hier S. 31. Stefan Arndt: Mario Barth mit versteckter Kamera im Opernhaus, in: Hannoversche Allgemeine Zeitung, 30.11.2016, http://www.haz.de/Hannover/Aus-der-Stadt/Uebersicht/Mario-Bart h-mit-versteckter-Kamera-im-Opernhaus-Hannover, zuletzt aufgerufen am 4.3.2017. Ebd. Anno Mungen: Wem gehört die Oper, in: Ders. Mitten im Leben. Musiktheater von der Oper zur Everyday Performance, Königshausen & Neumann, Würzburg: 2011, S. 11–22, hier S. 13.

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jenseits institutionalisierter Spielstätten. Konzeptionell bedeutet diese gattungsästhetische Öffnung, das klassische Musiktheater durch die Ausweitung seiner Randbereiche mit zusätzlichen Bedeutungsebenen aufzuladen und dadurch zu legitimieren. Diese Legitimationsstrategie, die vermutlich durch den Autor nicht explizit intendiert wurde, wird im Verlauf der Arbeit nochmals aufgegriffen. Mit dem Sammelband versucht der Herausgeber – folgt man seinen einleitenden Erklärungen – die Möglichkeiten eines ›gesellschaftlich relevanten Musiktheaters‹ durch die Bündelung der unterschiedlichen Beiträge exemplarisch zu versammeln und stellt explizit die Frage: »Wann und wie kann das Musiktheater bzw. die Oper zum Bedeutungsträger bzw. einem Ort gesellschaftlicher Relevanz werden?«10 Auch wenn die Autor*innen der einzelnen Beiträge des Sammelbands den Aspekt der Legitimation von Musiktheater nicht explizit aufgreifen, sondern gattungstheoretische Diskussionen um den Begriff ›Musiktheater‹ führen, wird durch die Wahl der einzelnen Themenfelder und insbesondere durch das Vorwort deutlich, dass die Praktik der Legitimation von Musiktheater bereits Eingang in den wissenschaftlichen Diskurs gefunden hat – ein Indiz für die Strahlkraft der öffentlichen Debatte. Mungen beruft sich in seiner Einleitung sogar auf einen Zeitungsartikel »im Zusammenhang der Auseinandersetzungen und Debatten um Hans Neuenfels’ Idomeneo-Produktion an der Deutschen Oper im Jahr 2006«11 , in dem die Journalistin schreibt, »dass das Musiktheater hier ›mitten im Leben‹ stehe.«12 Der Artikel, auf den Mungen sich bezieht, konnte allerdings nur als Reflex oder Assoziation für den Titel des Buches gedient haben. Eine affirmative Behauptung, dass Musiktheater ›Mitten im Leben‹ stehe, geht aus dem Zeitungsartikel nämlich nicht hervor.13 Obwohl Mungen also betont, dass der Band keinen »Beitrag nach einem ›Zuviel‹ an Operntheatern«14 in Deutschland anstrebe, geschweige denn die »Frage nach der generellen Bedeutung von Kultur«15 beantworten wolle, führt er in der Diskussion um Sparmaßnahmen einerseits an, dass das »Modell der breiten musikkulturellen Ausstattung […] zu einem Erfolgsmodell unseres politischen Systems«16 beitrage und führt in diesem Zusammenhang Merkmale bzw. Funktionen des Musiktheaters wie etwa »Bildung und

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Ebd., S. 12. Ebd., S. 11. Ebd. Christine Lemke-Matwey: Ring frei, in: Tagesspiegel 08.10.2006, https://tagesspiegel.de/kul tur/ring-frei/760516.html, zuletzt aufgerufen am 25.07.2018. Anno Mungen: Wem gehört die Oper, in: Ders. Mitten im Leben. Musiktheater von der Oper zur Everyday Performance, Königshausen & Neumann, Würzburg: 2011, S. 11–22, hier S. 12. Ebd. Ebd.

Legitimation und Musiktheater im Diskurs

Bildungspolitik«17 , »Identitätsfindung«18 sowie »Wirtschaftsfaktor«19 als Parameter gesellschaftlicher Relevanz an. Auch das folgende Zitat, der Klappentext des Sammelbandes zur Zukunft des Musiktheaters, dem bereits das Eingangszitat entnommen wurde, stellt die ›Legitimationskrise‹ deutlich heraus. Als kondensierte Zusammenfassung der Beiträge ist dieser Klappentext implizites Symptom des ›Legitimationsnotstands‹ des Musiktheaters und zugleich explizite Legitimation seines Geltungsanspruchs: »Die Klagegesänge über eine Krise der Musiktheaterlandschaft durchziehen seit Jahren die Feuilletons. Ein Paradigmenwechsel tut Not, er setzt jedoch eine Änderung der Perspektive voraus: Regisseure, Intendanten, Theater- und Musikwissenschaftler sowie Kulturökonomen wagen diesen neuen Blick und überwinden das Lamento. Der Band versammelt 21 Beiträge, in denen die Zukunftsfähigkeit der unmöglichen Kunst ›Musiktheater‹ auf den Prüfstein gestellt und eindrucksvoll bestätigt wird. Es werden Visionen für das Musiktheater entwickelt, die von den Bildungswegen ausgehen, über ästhetische Problemstellungen und eine Befragung des Begriffes ›Regietheater‹ zu kulturökonomischen Konzepten und schließlich zum eigentlichen Ziel des Musiktheaters, zum Publikum, führen. Kritisch und konstruktiv werden die relevanten Fragen zur gewandelten Legitimation, zu Strukturveränderungen und zur ästhetischen Neuorientierung gestellt und beantwortet. Sie verstehen sich als aktive Anregung eines Diskurses, der die künstlerische, politische und wirtschaftliche Besitzstandswahrung überwindet und die sinnlichste und schönste, die integrativste und berührendste aller Künste von Grund auf erneuert.«20 Dieser kurze Text ist eine konzentrierte Beschreibung des im Fokus stehenden Problemfelds: Einerseits steht er paradigmatisch als Symptom für die wahrgenommene Notwendigkeit, die Existenz des Musiktheaters zu legitimieren; andererseits sehen die Herausgeber*innen durch die in den Beiträgen aufgeworfenen ›relevanten und beantworteten Fragen‹ die ›Zukunftsfähigkeit‹ und damit die Existenz des Musiktheaters ›bestätigt‹. Selbstverständlich bietet ein Klappentext nicht viel Raum für genaue Erläuterungen und argumentativ nachvollziehbare Begründungen. Aber schon dieser kurze Abschnitt enthält Schlüsselwörter, an denen sich die ›Vision‹ der Herausgeber*innen kristallisiert: Eine Erneuerung des Musiktheaters unter Berücksichtigung der künstlerischen, politischen und wirtschaftlichen Implikationen. Neben einer gewandelten Legitimation stehen eine ästhetische

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Musiktheater und Legitimation im Diskurs

Neuorientierung, das Publikum und Strukturveränderungen im Fokus. Zwei Diskursstränge zur Legitimation der Existenz des Musiktheaters fallen in diesem kurzen Abschnitt besonders auf. Einerseits ist es die stets beschworene, aber eher unspezifisch artikulierte Zukunftsfähigkeit – Erneuerung, wie auch immer geartet diese sein mag, ist dabei ein zentrales Moment. Andererseits verweist die superlativ-emotionale Beschreibung des Musiktheaters als ›sinnlichste und schönste‹ sowie ›integrativste und berührendste aller Künste‹ darüber hinaus auf die Überlegenheit des Musiktheaters im Verhältnis zu allen anderen Künsten. Die vorliegende Arbeit befragt Musiktheaterkritiken als Medien der Öffentlichkeit nach Strategien der Legitimitätserzeugung im Diskurs um das zeitgenössische Musiktheater. Die Forschungsfrage zielt auf das Aufdecken von Argumentationsstrukturen und Denkmustern ab, die als objektivierte diskursive Legitimationsstrategien den Geltungsanspruch des Musiktheaters zu stabilisieren und zu festigen suchen. Ziel der Arbeit ist es, diese Legitimationsstrategien zu entschlüsseln, thematisch zu ordnen und innerhalb der sie umgebenden Subdiskurse zu verorten. Das Erkenntnisinteresse liegt in der Beantwortung der Frage, ›wie‹ und ›wodurch‹ legitimiert wird: Welche Strategien der Legitimation haben sich im gesellschaftlichen Wissensvorrat verdichtet?21 In den folgenden Abschnitten wird Musiktheater mit dem Aspekt der ›Legitimation‹ als Bezugsgröße verknüpft, um den kontextuellen Rahmen für den Untersuchungsgegenstand abzustecken. Innerhalb dieses komplexen Bezugsrahmens liegt der Fokus auf der kaleidoskopartigen Diskussion ausgewählter politischer, wirtschaftlicher und ästhetischer Narrative, die jeweils als Verbindungslinien zwischen Legitimation und Musiktheater gezogen werden. Gespiegelt werden diese Narrative sodann an zwei journalistischen Texten als ›plastischen‹ Momentaufnahmen. Das vorliegende erste Kapitel (I) steht für die Motivation für diese Arbeit ein und bildet gewissermaßen als Problemfeld den verdichteten ›Fluchtpunkt‹ des Forschungsprozesses ab. Im zweiten Kapitel (II) wird der konzeptionelle und methodische Rahmen der Forschungsarbeit abgesteckt. Konkret wird dort Rechenschaft über die Forschungsperspektive, Begriffsbestimmungen und die analytische Arbeit am Korpus abgelegt. Im dritten Kapitel (III) werden – mit starkem Fokus auf das untersuchte Material – die analytisch extrahierten Legitimationsstrategien und die sie umgebenden Subdiskurse präsentiert respektive skizziert. Das vierte Kapitel (IV)

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Es ist also zunächst zweitrangig und für diese Frage irrelevant, ›warum‹ und ›ob‹ Legitimation empirisch nötig ist. – Zu ›ob‹ und ›warum‹ siehe die Schlussbetrachtung, Kapitel IV, das die Beobachtungen und Überlegungen aus Kapitel I aufgreift. – Es ist also zunächst für die hier anvisierte Fragestellung nur relevant, dass das ›Legitimationsproblem‹ im öffentlichen Diskurs verhandelt wird.

Legitimation und Musiktheater im Diskurs

der Arbeit bündelt die Forschungsergebnisse in einem Versuch, die Legitimationsstrategien auf makroskopischer Ebene im Dispositiv des Musiktheaters zu verorten.

1. Legitimation als Topos: Kulturförderung und staatlicher Kulturauftrag »Was noch vor kurzem selbstverständlich erschien, nämlich der breite öffentliche Konsens über die Legitimation öffentlicher Kulturfinanzierung, speziell des Musiktheaters, scheint mitunter erste Risse zu bekommen.«22 Die prominente öffentliche Debatte über Subventionen für den Kulturbetrieb und damit einhergehend auch die Frage nach der ›Legitimation öffentlicher Kulturfinanzierung‹ betrifft das Musiktheater in besonderem Maße, da es durch die Personalintensität des Probenbetriebs und der Aufführungen zu den kostspieligsten Formen der regelmäßig durch die öffentliche Hand geförderten Kulturveranstal-

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Michael Mihatsch et al.: Politik und Kulturbewusstsein: Kulturpolitische Rahmenbedingungen für das Musiktheater im neuen Jahrtausend (Roundtable), in: Teure Kunstform Oper?, hg. von Manfred Jochum und Isolde Schmid-Reiter, Innsbruck: Studien Verlag, 2006, S. 17–28, hier S. 18. – Die Beobachtung, dass es noch vor kurzem einen ›breiten öffentlichen Konsens über die Legitimation öffentlicher Kulturfinanzierung‹ gegeben haben soll, ist für sich gesehen bereits interessant, weil sich der prozentuale Anteil an der Gesamtbevölkerung, der zu den regelmäßigen Besucher*innen gehört, wahrscheinlich nicht proportional zur Abnahme des ›öffentlichen Konsenses‹ geändert haben wird, sondern vermutlich gleich geblieben ist. Das würde bedeuten, dass offensichtlich zuvor auch diejenigen dem Musiktheater bzw. den Opernhäusern einen gesellschaftlichen Wert zusprachen, die nicht zu den tatsächlichen Nutzern dieser Kulturinstitutionen gehörten. – Siehe dazu die interessanten Forschungsergebnisse von Trine Bille Hansen, die feststellt, dass auch weiterhin Nicht-Besucher zahlungswillig sind: Trine Bille Hansen: The Willingness-to-Pay for the Royal Theatre in Copenhagen as a Public Good, in: Journal of Cultural Economics, Bd. 21, Kluwer Academic Publishers, 1/1997, S. 1–28. – Es kann selbstverständlich sein, dass die von Hansen festgestellte Zahlungswilligkeit der Nicht-Besucher insbesondere und exklusiv auf den repräsentativen und staatstragenden Charakter des Royal Theatre zurückzuführen ist. Für die Verknüpfung von Staatlichkeit und Staatsopern siehe auch Sarah Zalfen: Staats-Opern? Der Wandel von Staatlichkeit und die Opernkrisen in Berlin, London und Paris am Ende des 20. Jahrhunderts. – Zalfens Kernthese lautet: Staatskrisen und Staatsopernkrisen verhalten sich analog und stehen in einem Bedingungsverhältnis zueinander. Die Autorin greift unter anderem die repräsentative Funktion von Staat respektive Oper auf, um ihre These zu stützen.

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tungen zählt.23 So steht Musiktheater besonders häufig im Zentrum der Diskussion um Austeritätspolitik: Auf kommunalpolitischer Ebene werden verabschiedete Sparpläne für städtische Opernhäuser etwa ausführlich in der Presse thematisiert24 und die Bürger*innen durch Internet-basierte Plattformen oder öffentliche Diskussionsrunden an Debatten um die Gewichtung städtischer Sparmaßnahmen beteiligt.25 Bernd Meyer bringt diese Situation auf den Punkt: »Die Krise der öffentlichen Haushalte verstärkt den Legitimationsdruck auf die Kultur.«26 Und das Präsidium des Deutschen Städtetages diagnostizierte in einem 1994 verabschiedeten Positionspapier, das Perspektiven für die Theater und Orchester in öffentlicher Verantwortung27 aufzeigen sollte: »Im Mittelpunkt des gegenwärtigen öffentlichen Interesses […] stehen die Kosten, die [dazu führen], daß Öffentlichkeit und Politik zunehmend Fragen nach dem Sinn und der Notwendigkeit von Theater stellen.«28 Vor diesem Hintergrund klingt der Slogan ›Theater muss sein‹, den der Deutsche Bühnenverein in den frühen 1990er Jahren verlautbaren ließ, einerseits nach »Selbstvergewisserung«29 , andererseits aber nach Überzeugungsarbeit, den Konsens in der 23

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Im Durchschnitt fördert der Staat einen Opernbesuch pro Eintrittskarte mit etwa 110 Euro bei einer Auslastung der Spielstätte von gut 70 %. – Michael Söndermann: Öffentliche und private Musikfinanzierung, Bonn: Deutsches Musikinformationszentrum, 2010, S. 1–9, http://www.miz.org/static_de/themenportale/einführungstexte_pdf/02_Mu sikfoerderung/soendermann.pdf, zuletzt aufgerufen am 29.07.2013; Siehe dazu auch Arnold Jacobshagen: Musiktheater, Bonn: Deutsches Musikinformationszentrum, 2013, S. 1–14, http://www.miz.org/static_de/themenportale/einfuehrungstexte_pdf/03_Konzerte Musiktheater/jacobshagen.pdf, zuletzt aufgerufen am 29.07.2013. – Die Kostspieligkeit ist kein ausschließliches Charakteristikum des späten 20. bzw. frühen 21. Jahrhunderts, sondern der Integration vieler Künste geschuldet. Dazu bspw. Alfred Brasch: Die Oper im zwanzigsten Jahrhundert. Ein Situationsbericht, in: Zeitschrift für Musik, 1954, Jg. 115, Heft 5, S. 264–266, hier S. 264. Exemplarisch dazu Claus-Jürgen Göpfert im Interview mit Opern-Intendant Bernd Loebe und Schauspiel-Intendant Oliver Reese, 24.05.2013: »Wir werden noch mutiger werden«, http://www.fr.de/frankfurt/oper-und-schauspiel-frankfurt-wir-werden-noch-mutiger -werden-a-707218, zuletzt aufgerufen am 20.05.2018. In Bonn können sich Bürger*innen über die Plattform https://www.bonn-macht-mit.de, zuletzt aufgerufen am 20.05.2018, an Haushaltsentscheidungen der Stadt beteiligen. In der Vergangenheit wurden beispielsweise auch durchzuführende Sparmaßnahmen des Haushalts diskutiert. Nicht selten kommt es bei diesen online-Diskussionen, aber auch bei Ausschusssitzungen zu Lagerbildungen, bei denen etwa Kultureinrichtungen gegen Sportstätten um Förderung konkurrieren. Bernd Meyer: Rettungsanker Kulturgesetze?, in: Zeitschrift für Gesetzgebung, 1996, S. 343–352, hier S. 344. Kulturausschuss des Deutschen Städtetags (Hg.): Perspektiven für die Theater und Orchester in öffentlicher Verantwortung, Berlin, 15. Juni 1994. Ebd., S. 1. Henning Röper: Handbuch Theatermanagement. Betriebsführung, Finanzen, Legitimation und Alternativmodelle, Köln: Böhlau, 2001, S. 1.

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Gesellschaft für die öffentlich getragene Förderung der Theater wiederherzustellen. Wie diese Einschätzungen zeigen, geht die wirtschaftliche Krise der Opernhäuser Hand in Hand mit der Krise der politischen Legitimation des geförderten Musiktheaters.30 Besonders sichtbar ist die Legitimationsbedürftigkeit, weil im Zusammenhang mit Kulturförderung immer öffentliche Gelder zur Disposition stehen, die auch in anderen öffentlichen Bereichen eingesetzt werden könnten: Zwangsläufig stellt sich die Frage, inwiefern Kulturausgaben für städtische Bühnen beispielsweise im Vergleich zu möglichen Förderansprüchen in anderen kulturellen Feldern respektive öffentlichen Einrichtungen und diversen weiteren Kosten der jeweiligen Kommune legitimiert sind. Bei finanziellen Engpässen der Haushalte konkurrieren deshalb beispielsweise Opernhäuser mit einer immer breiteren Förderungswürdigkeit anderer kultureller (und auch sozialer) Angebote auf kommunaler Ebene – Kultureinrichtungen stehen in Konkurrenz zu öffentlich bezuschussten Einrichtungen wie Sportstätten oder insbesondere zu Einrichtungen für soziale Dienstleistungen.31 Zudem bezieht sich der in den 1970er Jahren propagierte Leitspruch ›Kultur für alle‹ nicht mehr ausschließlich auf ein vorab definiertes kulturelles Angebot der ›Hochkultur‹ und damit auf erschwingliche Eintrittspreise etwa für Musiktheatervorstellungen im Opernhaus. Kulturförderung – und damit einhergehend auch die Zuwendungswürdigkeit von Kulturinstitutionen für öffentliche Gelder – operiert nunmehr mit einem breiteren Kulturbegriff, der sich nicht ausschließlich auf die sogenannte ›Hochkultur‹ bezieht.32 Henning Röper konstatiert: Im »politischen Verteilungskampf im Widerstreit mit anderen berechtigten Interessen«33 geht es bei

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Exemplarisch für die kommunalpolitische Dimension der Debatte zur Kulturförderung Jana Magdowski und Matthias Rößler: Pflichtaufgabe oder Selbstverpflichtung. Kulturförderung in Krisenhaushalten, 2003, Wesseling: Konrad-Adenauer-Stiftung e.V. Der Unterhalt von Theatern und Opernhäusern liegt nicht ausschließlich bei den Kommunalverwaltungen. Staatstheater und Landestheater tragen bereits im Namen den Zuwendungsgeber und befinden sich in Trägerschaft der Länder. Die Aufteilung des institutionalisierten Theatersystems in Staats-, Landes- und Stadttheater in Deutschland hat historische Gründe und nichts mit der Größe des Hauses zu tun. In einigen Fällen teilen sich Länder und Kommunen den Unterhalt eines Theaters. Die meisten Theater in Deutschland werden allerdings von den Kommunen verwaltet. Vgl. Jan Brachmann: Es geht darum, wer den Ton angibt, in: FAZ, 10.08.2016, http://www. faz.net/aktuell/feuilleton/buehne-und-konzert/elbphilharmonie-wirbt-mit-graffiti-143781 04.html, zuletzt aufgerufen am 12.03.2018. – Einen guten Überblick über kulturpolitische Debatten in der Bundesrepublik Deutschland (bis etwa 2003) bietet die Ausarbeitung von Otto Singer: Kulturpolitik und Parlament. Kulturpolitische Debatten in der Bundesrepublik Deutschland seit 1945, Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages, Reg. Nr.: WF X – 078/03, 2003, https://www.bundestag.de/blob/194112/0dbad9b8141eceb2075000afac4b d533/kulturpolitik_und_parlament-data.pdf, zuletzt aufgerufen am 19.02.2018. Henning Röper: Handbuch Theatermanagement. Betriebsführung, Finanzen, Legitimation und Alternativmodelle, Köln: Böhlau, 2001, S. 485.

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»der Frage nach der Legitimation der öffentlichen Theater […] hauptsächlich um die Legitimation der öffentlichen Zuschüsse, denn das Produzieren und Präsentieren von Theater an sich bedarf keiner weiteren Legitimation«34 . Als Reaktion auf die wirtschaftliche und politische Krise sind darüber hinaus auch die Bemühungen etwa der letzten zwei Jahrzehnte zu verstehen, Opernhäuser und Theater betriebswirtschaftlich zu sanieren, das heißt nach einer Analyse der Finanzen entweder Reformen der bestehenden Betriebsführung vorzunehmen oder gegebenenfalls wirtschaftliche Alternativmodelle zu entwickeln. Im Umfeld dieser Finanzreformen entstanden diverse Handbücher für das Theater- und Kulturmanagement, die vereinzelt mit praktischem Rat zu möglichen handfesten Legitimationsstrategien von Seiten der Theaterleitung gegenüber den regional verantwortlichen Kulturpolitikern zur Seite stehen.35 Die Positionen, die innerhalb des politischen und wirtschaftlichen Kontexts in Bezug auf Sparmaßnahmen für öffentlich geförderte Kultureinrichtungen von unterschiedlichen Akteur*innen eingenommen werden, oszillieren maßgeblich zwischen zwei Polen: Auf der einen Seite stehen Stimmen, die in Subventionen für Theater einen Auslöser für ästhetischen Stillstand sehen. Außerdem sei exklusive Kulturförderung für die sogenannte ›Hochkultur‹ demokratisch nicht legitimiert, weil nur ein sehr kleiner Anteil der Bevölkerung dieses Angebot nutze. Auf der anderen Seite wird argumentiert, dass Subventionen ganz im Gegenteil die Freiheit der Kunst fördern und damit Möglichkeiten für ästhetische Weiterentwicklung eröffnen. Hinzu komme der ›staatliche Kulturauftrag‹, der ohnehin zu Subventionen solcher Kulturveranstaltungen verpflichte, die sich nicht aus eigener Kraft halten können.36 34

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Ebd. – Aus dieser Beobachtung lässt sich die Hypothese ableiten, dass der Betrieb kommerzieller Theater, etwa der des Musicals Starlight Express durch das gewinnorientierte Unternehmen Mehr-Entertainment GmbH, gesichert und legitimiert ist, sofern der Betrieb eine positive Bilanz aufweist und öffentliche Gelder nicht in Anspruch genommen werden. Die Hypothese ist für das gegebene Beispiel zwar verkürzt, da die eigens für das Musical erbaute Veranstaltungshalle durch die Stadt Bochum und das Land NRW gefördert wurde. Nichtsdestotrotz ist der Betrieb des Musicals im Gegensatz zu Produktionen an städtischen Theatern kostendeckend. Siehe dazu exemplarisch Thomas Schmidt: Theater, Krise und Reform. Eine Kritik des deutschen Theatersystems, 2017, Wiesbaden: Springer. – Schmidt spricht explizit von ›Legitimationskrisen‹ und zeigt in einer Tabelle Handlungsoptionen auf, die dazu dienen sollen, den identifizierten Legitimationskrisen entgegen zu wirken. – Ebd., S. 168. – Zu den kulturpolitischen Empfehlungen bzw. Legitimationsstrategien von Theaterleitungen gegenüber der öffentlichen Hand äußert sich auch explizit Henning Röper. Siehe dazu: Henning Röper: Handbuch Theatermanagement. Betriebsführung, Finanzen, Legitimation und Alternativmodelle, Köln: Böhlau, 2001, S. 539–560. Siehe zu diesen zwei antagonistischen Ansichten innerhalb der aktuellen Debatte auch die von Peter W. Marx nachgezeichneten historischen Stationen zur Trennung von Kunst und

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Im Klima des Sparkurses zahlreicher verschuldeter Kommunen, der sich besonders auf öffentlich getragene Theater auswirkt – wie bereits erwähnt, ist Kulturförderung in der Regel Sache der Länder und der Kommunen –, erregten Dieter Haselbach et al. 2012 Aufsehen mit ihrer Publikation Der Kulturinfarkt: Von Allem zu viel und überall das Gleiche. Eine Polemik über Kulturpolitik, Kulturstaat, Kultursubvention37 , in der die Autoren sich mit der Legitimität von Kultursubventionen auseinandersetzen. Insbesondere stellen sie zusätzlich zu einem ›zu viel an Gleichem‹, bzw. einer gewissen Einseitigkeit des kulturellen Angebots, fest, dass »mit Steuermitteln das Ende zukunftsorientierter Kunst- und Kulturproduktion herbeigeführt«38 würde; Subventionen seien in ihrer Wirkung nach Meinung der Autoren lähmend für Innovation.39 Darüber hinaus bemerken sie plakativ: »Die Hälfte der Menschen interessiert sich nicht für Hochkultur, verweigert sich dem Glücksversprechen, mit

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Kommerz. – Peter W. Marx: Theater zwischen Kulturkonsum und Subvention. Ein historischer Querblick, in: Wolfgang Schneider (Hg.): Theater entwickeln und planen. Kulturpolitische Konzeptionen zur Reform der Darstellenden Künste, Bielefeld: Transcript Verlag, 2013, S. 57–67. Dieter Haselbach et al.: Der Kulturinfarkt: Von Allem zu viel und überall das Gleiche. Eine Polemik über Kulturpolitik, Kulturstaat, Kultursubvention, München: Knaus-Verlag, 2012. Ebd.: S. 15. – Die Autoren (im Übrigen allesamt arrivierte ›Kulturmanager‹ und Hochschullehrer und damit Profiteure von Kunst und Kultur) versammeln zahlreiche Beispiele sowohl in einer historischen Rückschau auf die Kulturpolitik der vergangenen vier Jahrzehnte als auch einige treffende Beobachtungen zur gegenwärtigen Kulturpolitik. Die Publikation büßt allerdings durch die polemische und parataktische Art der Darstellung an Überzeugungskraft ein. Außerdem werden unterschiedliche Kulturinstitutionen, die in ihrer Art durchaus verschiedene Zielgruppen haben (sämtliche Theater, Volkshochschulen, städtische Musikschulen, Archive, Film, der Literaturbetrieb samt der Buchpreisbindung etc.), als Einheit betrachtet. Der Diversität wird unzureichend Rechnung getragen; durch diese rigorose Verallgemeinerung überzeugen die angeführten Argumente häufig nicht. Für die Autoren geht die Krise der Kulturpolitik weit über die reine ›Finanzierungskrise‹, die viel tiefer liegende Probleme der starren Organisation von Kulturbetrieben verdecke, hinaus (ebd., S. 62f.). Die Finanzierungskrise habe die »Immobilität, in die das kulturelle System« (ebd., S. 204) geraten sei, lediglich offenbart. Um dem Konservativismus im subventionierten Kultursektor entgegenzutreten, schlagen die Autoren vor, die kulturelle Infrastruktur zu halbieren und die so eingesparten Gelder teilweise in die verbleibenden Angebote fließen zu lassen, aber auch bisher unberücksichtigte Kultur zu bezuschussen. Haselbach et al. nehmen in ihrer Argumentation einen wirtschaftsliberalen Standpunkt ein, was sich außer in der Forderung, Kultur habe sich den Regeln des Marktes zu unterwerfen, deutlich in ihrem Jargon niederschlägt. Der Vorwurf, Subventionen seien lähmend für Innovation, kommt verstärkt auch aus den Reihen der Szene der Neuen Musik. Exemplarisch kann Hans Zenders Äußerung stehen: »Es ist heller Wahnsinn, dass 90 % und mehr aller öffentlichen Gelder für Musik in die tariflich organisierten Gruppen fließen und fast nichts für die zukunftsorientierten, schöpferischen Aktivitäten übrig bleibt: So richtet sich eine Kultur selbst zugrunde […].« – Hans Zender im Interview, in: O. A.: Sprengt die Opernhäuser in die Luft!; Die Fragen. Die Antworten, in: Neue Zeitschrift für Musik, Jg. 154, Heft 4, 1993, S. 10–29, hier S. 27.

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dem die Aussicht auf voraussetzungslose Selbstverwirklichung verbunden ist. Dass dies so ist, daraus zieht Kulturpolitik ihre Legitimation.«40 Das Argument der nicht vorhandenen Nachfrage nach ›Hochkultur‹ zumindest von Teilen der Bevölkerung – der sogenannten ›Publikumskrise‹ – ist simpel, trifft aber auf einen in öffentlichen Debatten stets wiederholten und als Kernproblem des Musiktheaters verstandenen Topos: Subventionen der öffentlichen Hand trotz mangelnden Interesses an Aufführungsbesuchen durch die Bevölkerung zu gewähren, verweise auf ein demokratisches Defizit im Zusammenhang mit solchen Zuwendungen und sei deswegen nicht legitim. Das zugrundeliegende Denkmuster ist stark verkürzt, weil es erstens Nicht-Besuchern unterstellt, dass diese durch ihre Abwesenheit gleichzeitig ihren Dissens in Bezug auf die Vergabe von Kultursubventionen äußern. Zweitens handelt es sich bei Subventionen um politische Entscheidungen, die, zumindest in demokratischen Gesellschaften, durch Wahlen legitimiert sind. Die polemische Streitschrift von Haselbach et al. wurde medial kontrovers diskutiert und verstärkte vor allen Dingen durch das einprägsame plakative Statement des Titels den bereits einige Jahre zuvor öffentlich und auch im Umfeld der Theater diskutierten »Zwang zur existenziellen Legitimation«41 von Kunst und Kultur, und zwar nicht nur aus wirtschaftlicher Perspektive, sondern verstärkt verknüpft mit demokratietheoretischen Fragen, insbesondere mit der Frage nach der politischen Legitimation der Subventionen. Die Forderung von Haselbach et al., die sich Kunstproduktion nach Mechanismen des Marktes wünschen, legt nahe, dass gewinnorientierte Theaterunternehmen sich weder mit finanzieller noch mit politischer Legitimationsnotwendigkeit konfrontiert sehen, da sie nicht – zumindest nicht regelmäßig – auf öffentliche Gelder angewiesen sind. Allerdings ist die Debatte um staatliche Subventionen und insbesondere um Einnahmedefizite von Theatern und Opernhäusern keineswegs neu. Beispielsweise haben William J. Baumol und William G. Bowen in ihren statistischen Auswertungen bereits 1966 festgestellt, dass Theater und vergleichbare Einrichtungen notwendigerweise stets unter finanziellen Engpässen leiden: »[P]erforming organizations typically operate under constant financial strain [and] their costs almost always exceed their earned income.«42 Die auf Grundlage ihrer statistischen Erhebungen modellierte Prognose der Wirtschaftswissenschaftler zeigt außerdem deutlich, dass sich das Missverhältnis zwischen Einnahmen und Ausgaben,

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Dieter Haselbach et al.: Der Kulturinfarkt: Von Allem zu viel und überall das Gleiche. Eine Polemik über Kulturpolitik, Kulturstaat, Kultursubvention, München: Knaus-Verlag, 2012, S. 41. Bernd Meyer: Rettungsanker Kulturgesetze?, in: Zeitschrift für Gesetzgebung, 1996, S. 343–352, hier S. 344. William J. Baumol und William G. Bowen: Performing Arts – The Economic Dilemma. A Study of Problems common to Theatre, Opera, Music and Dance, New York: The Twentieth Century Fund, 1966, S. 161.

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bezeichnet als »income gap«43 , u. a. wegen steigender Produktionskosten nicht erholen wird.44 Plastisch verweisen die Autoren auch auf die Tatsache, dass die in der Privatwirtschaft erreichte Produktivitätssteigerung in den Künsten in vergleichbarer Form nicht erreicht werden kann. Während, so das Beispiel, etwa die Arbeitszeit in der Automobilindustrie für die Herstellung eines Fahrzeugs im Verlauf der Zeit reduziert werden konnte, so sei es nicht möglich, die Arbeitszeit für die Aufführung eines 45-minütigen Schubert-Quartetts maßgeblich unter drei Arbeitsstunden zu reduzieren.45 Während Haselbach et al. also die freie Marktwirtschaft im Bereich der Kultur befürworten und Zuschüsse allenfalls leistungsbasiert vergeben würden, so kehrt die Position der Gegenseite die Argumente um. Daniel Ris, Schauspieler und Regisseur, der sich zudem als Lobbyist für Kulturschaffende mit der Unternehmensethik öffentlich-rechtlicher Theater46 auseinandersetzt und hier als exemplarische Stimme zu Wort kommen soll, argumentiert aus gesellschaftspolitischer Sicht, wenn es um die Kosten-Nutzenrechnung von Kulturförderung geht. Ris verknüpft den Gedanken der verfassungsrechtlich verankerten Kunstfreiheit – »Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei«47 – mit einer sich aus diesem Freiheitsparadigma ableitenden staatlichen Verantwortung für Kulturförderung, dem sogenannten ›staatlichen Kulturauftrag‹.48 So sieht Ris die Legitimität staatlich geförderter Kultur insbesondere dann gefährdet, wenn der ›wirtschaftliche Druck die künstlerische Freiheit‹ einschränke. Er bezieht sich damit explizit auf das in Deutschland 43 44

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Ebd. Ebd., S. 207. – Dass dies in der öffentlichen Debatte auch tatsächlich thematisiert wird, zeigt beispielsweise der bereits zitierte Artikel über Sparmaßnahmen der Stadt Frankfurt a. M., in dem explizit auf die Erhöhung der Personalkosten verwiesen wird. – Göpfert im Interview mit Loebe und Reese. Ebd., S. 164. – Zu Recht bemerkt Erwin R. Tiongson in Bezug auf diesen zwar plastischen, aber schrägen Vergleich, dass die Automobilindustrie und die aufführenden Künste wegen maßgeblicher Unterschiede im jeweiligen Konsum (für Aufführungen gilt das Prinzip der ›nonrivalty in consumption‹) keine guten Beispiele sind. Tiongson bezweifelt außerdem die Tatsache, dass es in den Künsten keine Nutzensteigerung gegeben haben soll. Sein Bezug auf Technologien, etwa die Distribution von Konzertaufnahmen (als mögliche Produktivitätssteigerung durch den werbenden Effekt) ist zwar nachvollziehbar und die Argumentation in ihren Schritten auch überzeugend. Dennoch ist das Beispiel Bowens und Baumols für eine grobe Einschätzung der wesentlichen Unterschiede von aufführenden Künsten und anderen, greifbaren Gütern treffend. – Erwin R. Tiongson: Baumol’s Cost Disease Reconsidered, in: Challenge, 1997, S. 117–122. Daniel Ris: Unternehmensethik für den Kulturbetrieb. Perspektiven am Beispiel öffentlichrechtlicher Theater, Wiesbaden: Springer, 2012. Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland: Artikel 5 Absatz 3. Siehe dazu Sophie-Charlotte Lenski: Öffentliches Kulturrecht. Materielle und immaterielle Kulturwerke zwischen Schutz, Förderung und Wertschöpfung, Tübingen: Mohr Siebeck, 2013a [= Jus Publicum. Beiträge zu öffentlichem Recht, Bd. 220], insbesondere S. 92ff.

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verfassungsrechtlich verankerte Staatsprinzip einer unabhängigen Kunst und betont: »Kunst ist Risiko. Der wirtschaftliche Druck schränkt die künstlerische Freiheit ein. Ziel der Arbeit wird es in zunehmendem Maße einem vermeintlichen Publikumsgeschmack entsprechen zu müssen. Das kann nicht die Aufgabe öffentlich geförderter Kultur sein. Materieller Gewinn führt zu immateriellen Verlusten. Und die Legitimation von öffentlich-rechtlichem Theater ist in ihrer Substanz gefährdet.«49 Juristische Fachpublikationen50 weisen allerdings darauf hin, dass das in Artikel 5 Absatz 3 des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland festgelegte Freiheitsparadigma den Lebensbereich der Kunst als eine vom Staat unabhängige Sphäre festlegt. Die staatliche Verpflichtung zielt zunächst also lediglich darauf ab, »Freiheit, Autonomie, Pluralität und immanente Eigengesetzlichkeit der Kunst zu achten.«51 Für die Rolle des Staats als Kulturveranstalter – etwa als Betreiber und damit finanzieller Geldgeber öffentlicher Theater, Museen oder Opernhäuser – gibt es, zumindest aus verfassungsrechtlicher Sicht, keine spezifische gesetzliche Grundla-

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Daniel Ris: Was ist der Auftrag? Legitimation und Verantwortung öffentlich-rechtlicher Theater aus unternehmensethischer Sicht. Impulsvortrag an der Oper Stuttgart im »Denkraum Ariadne« am 5. Dezember 2014, 8 Seiten, hier S. 4, https://www.oper-stuttgart.de/downloa d/32312/vortrag_daniel_ris_denkraum_ariadne_i.pdf, zuletzt aufgerufen am 3.12.2015. – Es gibt aber auch Gegenstimmen zur Sicherung der Kunstfreiheit durch Subventionen. Neil Blackadder etwa stellt fest: »subsidized theater can never really claim to be free because funding by the establishment of experimental work necessarily compromises any oppositional production.« – Neil Blackadder: Performing Opposition. Modern Theater and the Scandalized Audience, Westport: Praeger, 2003, S. 187. – Die Kulturhoheit der Länder zielt in Deutschland u. a. auf eine ästhetische Unabhängigkeit der künstlerischen Produktion ab. Die folgenden Ausführungen berufen sich vor allem auf Sophie-Charlotte Lenski: Staatliche Kulturförderung und kulturelles Freiheitsparadigma im Grundgesetz, in: Beharren – Bewegen. Festschrift für Michael Kloepfer zum 70. Geburtstag, hg. von Claudio Franzius et al., Berlin: Duncker & Humblot, 2013b [= Schriften zum öffentlichen Recht; Bd. 1244], S. 105–119. Ebd., S. 106.

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ge.52 Der Deutsche Städtetag wird in Bezug auf staatsrechtliche Legitimationsversuche sehr deutlich: »Theater darf sich nicht auf eine Legitimation durch verfassungsrechtliche Begründungen, Verpflichtungen durch Landesgesetze oder kulturpolitische Theorien verlassen. Theater muss sich durch sich selbst legitimieren, durch die Kunst auf den ›Brettern, die die Welt bedeuten‹.«53 Flankiert wird die ›wirtschaftliche Krise‹ und die damit in Verbindung stehende politische Krise der Legitimation des Musiktheaters – vornehmlich in Gestalt der ›Publikumskrise‹ also – von einer ›ästhetischen Krise‹. Dieser ›ästhetischen Krise‹ des Musiktheaters widmet sich das nächste Kapitel.

2. Die ästhetische und programmatische ›Krise‹ des Musiktheaters »In the performing arts, crisis is apparently a way of life.« 54 Ästhetisch motivierte Rechtfertigung von Kunst ist kein genuin aktuelles Phänomen, sondern ein Sujet, das die Kunstproduktion seit jeher begleitet.55 Dennoch werden besonders die Entwicklungen in der Kunst des 20. Jahrhunderts »als Bruch

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Ebd., S. 107. – Die Tatsache, dass der ausdrückliche Auftrag zur staatlichen Kulturpflege der Weimarer Reichsverfassung nicht ins Grundgesetz übernommen wurde, führt Lenski als ein überzeugendes Indiz dafür an, eine aus dem Grundgesetz motivierte verpflichtende Kulturförderung eher zu verneinen, auch wenn sich das juristische Meinungsspektrum zwischen den Positionen einer etwaigen Verpflichtung des Staats »zur Garantie einer kulturellen Grundversorgung der Bevölkerung […] und der völligen Ablehnung jeglicher konkreter Förderpflichten« (Ebd., S. 109) bewegt. Der herrschenden Meinung, dass aus dem im Grundgesetz verankerten »objektiv-rechtlichen Schutz kein subjektives Recht auf Kunst- bzw. Kulturförderung ableitbar ist« (Ebd., S. 109), folgt auch die Rechtsprechung, die das freiheitsbedrohende Potential staatlicher Kulturförderung zumindest aus rechtsdogmatischer Sicht anerkennt. Denn die – zwar realiter praktizierte, sich aber nicht aus dem Grundgesetz ableitbare – finanzielle Förderung von Kultur durch den Staat birgt grundrechtliches Konfliktpotenzial: Die Förderung nach qualitativen Maßstäben etwa widerspricht dem Grundsatz der Neutralität. – Ebd., S. 105–119. Deutscher Städtetag (Hg.): Perspektiven für die Theater und Orchester in öffentlicher Verantwortung, Pressedienst Nr. 603, 21.06.1994, S. 6. William J. Baumol und William G. Bowen: Performing Arts – The Economic Dilemma. A Study of Problems common to Theatre, Opera, Music and Dance, New York: The Twentieth Century Fund, 1966, S. 3. Hans-Georg Gadamer: Die Aktualität des Schönen. Kunst als Spiel, Symbol und Fest, Stuttgart: Reclam, 2012, S. 5.

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einer einheitlichen Tradition«56 wahrgenommen, was maßgeblich mit der Ausweitung, Verschiebung, bis hin zur Aufhebung bzw. Verschmelzung von Grenzen zwischen Kunst und Nicht-Kunst, im weitesten Sinne also zwischen ›Kunst und Leben‹57 zusammenhängt.58 In diesem Kontext der ›Entgrenzung der Künste‹ lässt sich auch der bereits erwähnte Sammelband (unter Herausgeberschaft von Mungen) des Forschungsinstituts für Musiktheater der Universität Bayreuth verorten, der sich in einer gattungstheoretisch inspirierten Auseinandersetzung dem Musiktheater widmet. Schon der programmatische Titel des Buches macht die Entgrenzung des Musiktheaters explizit: Mitten im Leben. Musiktheater von der Oper zur Everyday Performance. Seit das historische Repertoire an Opernhäusern im Vergleich zu Aufführungen von Neukompositionen überwiegt – das Repertoiretheater entwickelte sich im 19. Jahrhundert – und insbesondere seit das Bewusstsein für diesen Umstand zeitgenössische Komponist*innen dazu bewog, sich mit der Gattung kompositorisch, stofflich und verstärkt auch gattungstheoretisch auseinanderzusetzen, tauchte alsbald der Begriff der ›Krise‹ im Begriffsrepertoire zur Beschreibung der Oper auf.59 Der Begriff steht hier in einfachen Anführungszeichen, um nicht entscheiden zu müssen, ob es sich um eine begründete Krisenerfahrung oder um eine Krisenideologie handelt.60 Sigrid Wiesmann bringt in einem Artikel zum Musiktheater in der Bundesrepublik Deutschland aus dem Jahr 1982 die ›Krise‹ des Repertoires polemisch auf den Punkt: »Die auffallend geringe Zahl neuer Stücke ist bedrohlich für die Institution Oper überhaupt. Degeneration zu einem hoch subventionierten Vergnügungsbetrieb?«61 Abgesehen davon, dass der Vergnügungsbetrieb hier durch die

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Ebd., S. 7. Siehe dazu Peter Bürger: Theorie der Avantgarde, Göttingen: Wallstein Verlag, 2017, insbesondere S. 64–74. Prominente Beispiele für diese Entgrenzung sind etwa die ›Objets trouvés‹ von Marcel Duchamp, bei denen der situative Kontext einer Ausstellung Alltagsobjekte zur Kunst erhob, und Cages berühmte Komposition 4'33'', die Geräusche des rezipierenden Publikums zur Musik machte; oder auch das Lehrstück Bertolt Brechts ohne Publikum, bei dem die Spielerfahrung in erster Linie der politischen Aktivierung der Teilnehmenden dienen sollte. Adorno verortet die Entstehung der ›Krise‹ der Opernform etwa in der Zeit der Weltwirtschaftskrise, das heißt in den 1920er Jahren. – Theodor W. Adorno: Bürgerliche Oper, in: Klangfiguren. Musikalische Schriften I, Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag, 1959, S. 32–54, hier S. 32. Jürgen Habermas: Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus, Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag, 2015, S. 13. Sigrid Wiesmann: Musiktheater in der Bundesrepublik, in: Carl Dahlhaus und Giwi Ordschonikidse (Hg.): Beiträge zur Musikkultur in der Sowjetunion und in der Bundesrepublik Deutschland, Hamburg und Wilhelmshaven: Musikverlag Hans Sikorski/Heinrichshofen Verlag, 1982, S. 199–212, hier: S. 210.

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polemische Darstellung als Endpunkt eines degenerativen Prozesses negativ konnotiert ist, zeigt Wiesmann implizit den Ausweg aus der ›Krise‹ durch die Komposition ›neuer Stücke‹ auf. Es scheint wenig verwunderlich, dass diese ›Krise‹ sich seit ihrem Auftreten als ästhetisch-produktives Moment erweist, denn eng mit ihr verknüpft sind zahlreiche Unternehmungen, ein Gegenstück zur Oper mittels ihrer vermeintlichen oder tatsächlichen ästhetischen Weiterentwicklung bzw. Reinterpretation zu entwerfen. Symptomatisch für diese ›Krise‹ und für den Bedeutungsverlust, den die Oper in den 1960er und 70er Jahren wegen einer verhältnismäßig geringen Anzahl an Neukompositionen auf den Spielplänen, stetigen Publikumsrückgangs und überwiegend historischen Repertoires auf den Spielplänen erfahren hat, ist das polemische Interview mit dem Komponisten und Dirigenten Pierre Boulez mit dem Titel Sprengt die Opernhäuser in die Luft!62 aus dem Jahr 1967 im Spiegel-Magazin, anhand dessen die ›ästhetische Krise‹ exemplifiziert und in den Kontext der vorliegenden Arbeit eingeordnet werden soll. Der provokative Titel, der sich an eine Äußerung Boulez’ aus dem Interview anlehnt, wird insbesondere im Bereich des Musiktheaters seitdem gerne als Bild verwendet, wenn strukturelle und insbesondere ästhetische Veränderungsprozesse des Musiktheaters diskutiert werden.63 Eine Sprengung kommt in ihrer Symbolhaftigkeit einer Zerstörung gleich. Deswegen erweckt dieses Zitat als isolierter Ausspruch den Eindruck, Boulez habe der Gattung und insbesondere auch der Institution ein Ende setzen wollen. Bei näherer Betrachtung des Interviews und besonders des relevanten Abschnitts wird jedoch deutlich, dass es Boulez nicht grundsätzlich um die Obsoleszenz von Opernhäusern geht. Vielmehr bezieht er den Standpunkt, dass modernes Musiktheater – um glaubwürdig zu sein – in anderen Räumen als im konventionellen Opernhaus stattfinden sollte, nämlich etwa auf Experimentierbühnen64 :

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Pierre Boulez im Interview: »Sprengt die Opernhäuser in die Luft!«. SPIEGEL-Gespräch mit dem französischen Komponisten und Dirigenten Pierre Boulez, in: Der Spiegel, 40/1967, S. 166–174. Auch in anderen Bereichen der klassischen Musik wird das Bild der Sprengung bemüht, wenn es um institutionelle Reformen geht. – Siehe beispielsweise die Antwort Helmut Lachenmanns in einem anderen Kontext, ob man Musikhochschulen »in die Luft sprengen« solle: »In die Luft sprengen – nein, wozu? Schon eher: durchlüften. Aber ich halte nichts von solch kühnen Redensarten, gleich, ob es sich um Opernhäuser oder Musikhochschulen handelt […].« – Helmut Lachenmann im Interview mit Ursula Stürzbecher, in: Dies.: Werkstattgespräche mit Komponisten, Köln: Musikverlage Hans Gerig, 1971, S. 95–105, hier S. 95. Es ist bezeichnend, dass ein Kompendium für Kompositionen des Musiktheaters von 1960 bis 1980 den ›experimentellen Gedanken‹ innerhalb des Musiktheaters zu dieser Zeit auch im Titel sichtbar macht: Christoph-Hellmut Mahling und Kristina Pfarr (Hg.): Musiktheater im Spannungsfeld zwischen Tradition und Experiment (1960 bis 1980), 2002, Tutzing: Hans Schneider.

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»Herr Boulez, glauben Sie, Ihr modernes Musiktheater in einem unserer ja sehr konventionellen Opernhäuser verwirklichen zu können? Ganz bestimmt nicht. Da kommen wir zu einem weiteren Grund, warum es heute keine moderne Oper gibt. Die neuen deutschen Opernhäuser sehen zwar sehr modern aus – von außen; innen sind sie äußerst altmodisch geblieben. In einem Theater, in dem vorwiegend Repertoire gespielt wird, da kann man doch nur mit größten Schwierigkeiten moderne Opern bringen – das ist unglaubwürdig. Die teuerste Lösung wäre, die Opernhäuser in die Luft zu sprengen. Aber glauben Sie nicht auch, daß dies die eleganteste wäre? Da zweifellos kein Intendant Ihren Vorschlag befolgt… …kann man in den bestehenden Opernhäusern das übliche Repertoire spielen, Mozart, Verdi, Wagner, bis Berg etwa; für neue Opern müßten unbedingt Experimentierbühnen angegliedert werden.«65 Obwohl die zwei Redakteure, die Boulez zum modernen Musiktheater befragen, auf zahlreiche Auftragswerke hinweisen und damit zu erkennen geben, dass modernes Musiktheater durchaus existiere, beharrt Boulez auf seiner Meinung, dass seit Alban Bergs Wozzeck und Lulu, und damit seit 1935, »keine diskutable Oper mehr komponiert worden«66 sei. Zentrales Argument für diese Ansicht ist der durch Boulez diagnostizierte ästhetische Stillstand der Gattung. Denn all jene Opern, die als Beispiele angeführt werden, sind für Boulez lediglich neue ›Aufgüsse‹ bereits existierender Werke des Musiktheaters. Darüber hinaus sei die Vergabe von Kompositionsaufträgen – eine zur damaligen Zeit bewährte und stark geförderte Praxis der Opernhäuser, um Neukompositionen des Musiktheaters anzuregen – kein geeignetes Instrument, die Entwicklung der Gattung voranzutreiben. Denn diese Praxis bediene, so äußert sich Boulez etwa in Bezug auf die Hamburgische Staatsoper unter der Intendanz von Rolf Liebermann, lediglich ›bürgerlichen Durchschnittsgeschmack‹. Eine Reform des Musiktheaters ließe sich nicht durch Kompositionsaufträge verwirklichen.67 Das Interview ist im Übrigen nicht nur in Bezug auf den ästhetischen Diskurs zum Musiktheater aufschlussreich, sondern gibt darüber hinaus einen Einblick in das Beziehungsgeflecht zeitgenössischer Opernkomponisten samt ihren persönlichen Befindlichkeiten und Spannungen innerhalb der Szene der Neuen Musik bzw.

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Pierre Boulez im Interview: »Sprengt die Opernhäuser in die Luft!«. SPIEGEL-Gespräch mit dem französischen Komponisten und Dirigenten Pierre Boulez, in: Der Spiegel, 40/1967, S. 166–174, hier S. 172f. Ebd., S. 166. Ebd., S. 166–169.

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der zeitgenössischen Musiktheaterszene: Nahezu erheiternd ist Boulez’ unverfrorene Art, ästhetisch motiviert gegen seine Komponisten-Kollegen zu wettern. Weder auf Hans Werner Henze (er sei Epigone) noch Gunther Schuller (seine Oper sei misslungen) ist Boulez gut zu sprechen. Mauricio Kagel und György Ligeti mangle es an Theaterkenntnis, Boris Blachers Oper Zwischenfälle bei einer Notlandung sei keine Oper, sondern Filmkulissenmusik. – Boulez macht in seinen kompromittierenden Ausführungen deutlich, dass Musiktheater grundsätzlich reformbedürftig sei. Explizit spricht er sogar von der Notwendigkeit einer ›Revolution‹. Einen Hinweis darauf, wie eine solche ›Revolution‹ ausgestaltet sein könnte, gibt er durch eine skizzenhafte Darstellung dessen, was modernes Musiktheater seiner Meinung nach auszeichne: »Zunächst einmal: Der Text muß wirklich direkt für das musikalische Theater konzipiert werden. Es darf keine Adaption eines literarischen Stoffes sein, wie das heute ausnahmslos üblich ist.«68 In diesem Zusammenhang differenziert Boulez zwischen ›Text vertonen‹ und ›Text verwenden‹, und gibt zu bedenken, dass im Idealfall »Text und Musik gleichzeitig konzipiert würden.«69 Darüber hinaus illustriert Boulez seine Vision für ein gelungenes ›modernes‹ Musiktheater anhand einer Szene aus Jean Genets Stück Wände überall, bei der Textfragmente auf Wände gezeichnet werden. Durch diese »Aktion, die zu gleicher Zeit die technischen Aspekte der Bühne verwendet«70 , entstehe das Bühnenbild. Boulez’ Skizze des modernen Musiktheaters ist nichts anderes als eine Beschreibung eines Amalgams aus sich gegenseitig bedingenden Kunstformen: Musik wirkt auf Bühnenbild und Text, der Text wirkt auf Bühnenbild und Musik, Bühnenbild wirkt auf Text und Musik. Boulez’ ›Vision‹ ist letztendlich eine Beschreibung der utopischen Idee eines Gesamtkunstwerks71 und der damit einhergehenden »Erprobung der generischen Fundamentalstruktur«72 durch eine fortwährende Auseinandersetzung mit den in der Oper integrierten Kunstformen. Allerdings, und das ist für das folgende Argument entscheidend, suggeriert Boulez, dass es sich bei seiner ›Vision‹ um eine ästhetische Neuerung handle. Damit sind die von

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Ebd., S. 169. Ebd. Ebd., S. 170. Das Konzept des Gesamtkunstwerks als Synthese der Künste wird besonders im Bereich der Musik regelmäßig mit den formästhetischen Überlegungen Richard Wagners zum Musikdrama in Verbindung gebracht, obwohl überliefert ist, dass bereits die Florentiner Camerata sich dieser Synthese angenommen hat. Das Konzept einer integrativen Kunstform lässt sich für die Musiktheatergeschichte also weit vor Wagner zurückverfolgen. – Udo Bermbach: Der Wahn des Gesamtkunstwerks. Richard Wagners politisch-ästhetische Utopie, Stuttgart/ Weimar: J. B. Metzler, 2004, S. 210. Erik Fischer: Zur Problematik der Opernstruktur. Das künstlerische System und seine Krisis im 20. Jahrhundert, Wiesbaden: Franz Steiner Verlag, 1982 [= Beihefte zum Archiv für Musikwissenschaft, hg. von Hans Heinrich Eggebrecht u. a., Band XX], S. 54.

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Boulez geforderten, durch den Spiegel wirksam verbreiteten und nach Boulez’ Ansicht auch notwendigen ästhetischen Neuerungsprozesse des Musiktheaters symptomatisch für die stets proklamierte ›ästhetische Krise‹ der Gattung,73 aus welcher heraus derlei Neuerungen als Transformationsprozesse begriffen werden. Dieses Narrativ beruht wiederum auf der Prämisse, dass all diejenigen Werke, die unter dem anerkannten Konzept der ›Oper‹ firmieren – also Opern aus einen

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Ein aufschlussreiches Kompendium und zugleich Spiegel dieser ›Krise‹ mit Fokus auf maßgeblich ästhetische Fragen ist – um neben Boulez’ Interview ein weiteres Beispiel anzuführen – der 1964 vom Internationalen Musikrat ausgerichtete und von der UNESCO unterstützte Kongress zu ›zeitgenössischem Musiktheater‹, dem auch Boulez mit einem Beitrag beiwohnte. Für das Symposium versammelten sich darüber hinaus weitere namhafte Persönlichkeiten aus dem Bereich des Musiktheaters aus dem In- und Ausland. Die Beiträge, Berichte und Diskussionen der Teilnehmer*innen erschienen in einem Sammelband, der eine wertvolle Quelle zu den Diskursen zum Musiktheater in den 1960er Jahren darstellt. Anhand der Gliederung in mehrere große Themenbereiche ist deutlich erkennbar, wie schwierig sich die ästhetische ›Krise der Oper‹ definieren ließ. Form, Stoffe, Inszenierungen und der Einfluss technischer Medien wurden ebenso besprochen wie Fragen zur Ausbildung der Sänger*innen oder zu orientalischem Theater. Wenn auch die Meinungen bezüglich ›ästhetischer Neuerungen‹ und der Art und Weise der Überwindung der vermeintlichen oder tatsächlichen Krise weit auseinander gingen, so herrschte zumindest Einigkeit darüber, dass die Oper in einer ästhetischen Krise gefangen sei. Damit einhergehend wurde einerseits die Notwendigkeit eines Kongresses betont, andererseits herrschte Einigkeit darüber, dass Oper sich wieder an das Publikum annähern und dieses geistig fordern solle. Die Überwindung der Krise könne – so lässt sich interpretieren – nur aus einer Erneuerung der Oper resultieren. – Ernst Thomas (Hg.) i. A. des Deutschen Musikrates: Zeitgenössisches Musiktheater. Hamburg 1964. Internationaler Kongress, 1966, Pfungstadt: Jacob Helène KG. – Die ›Erneuerung‹ oder, neutral formuliert, Änderungsbestrebungen der Gattung Oper sind selbstverständlich kein Alleinstellungsmerkmal des Musiktheaterdiskurses nach 1945. Für das Musiktheater zu Beginn des 20. Jahrhunderts haben Komponisten der Neuen Sachlichkeit etwa versucht, die Gattung Oper einem größeren Publikum zugänglich zu machen, indem sowohl für die Komposition als auch für die Inszenierung Aspekte von zu der Zeit beliebten Medien wie Varieté, Revue oder Film entlehnt wurden und die verarbeiteten Stoffe sich an die Lebenswirklichkeit der neu zu gewinnenden proletarischen Theaterbesucher*innen annähern sollten. Bekannte Beispiele sind etwa Der Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny von Bertolt Brecht und Kurt Weill oder die Oper Jonny spielt auf von Ernst Křenek. Das Problembewusstsein um die Antiquiertheit der Gattung Oper, vornehmlich der ›kulinarische‹ Charakter, verbunden mit Bemühungen zur Überwindung desselben, verdeutlicht folgender Kommentar Bertolt Brechts zur Oper Mahagonny, der ihre »gesellschaftsändernde Funktion« verdeutlichen soll: Die Oper »sitzt […] noch prächtig auf dem alten Ast, aber [sie] sägt ihn wenigstens schon […] ein wenig an«. – Bertolt Brecht: Anmerkungen zur Oper »Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny«, in: Schriften, Berlin: Aufbau-Verlag, 1981, S. 76–88, beide Zitate hier S. 87. – Zur ›Krise‹ siehe bspw. auch O. A.: Podiumsdiskussion, in: Hermann Danuser (Hg.): Musiktheater heute. Internationales Symposion der Paul Sacher Stiftung Basel 2001, Mainz: Schott, 2003, S. 394–426.

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Zeitraum von rund 350 Jahren74 – ein klar umrissenes gattungsästhetisches Feld darstellen, von dem sich das, wie Boulez verdeutlicht, ›revolutionäre‹ Konzept des Musiktheaters abgrenzen lasse.75 Es ist offensichtlich, dass diese generische Differenz zwischen den beiden Konzepten ›Oper‹ und ›Musiktheater‹ nicht stichhaltig zu begründen ist, da die Homogenität der Werke, die aus einer solchen Perspektive zur Operngattung gehören, angezweifelt werden kann. Was aber sehr wohl festgestellt werden kann, ist, dass die Oper durch die laut Boulez zu vollziehende Überwindung ihrer selbst wieder stabilisiert würde; und zwar besonders durch die stete Wiederholung der Differenz zwischen den zwei semantisch aufgeladenen Zuschreibungen ›anachronistische Kunstform‹ respektive ›Erneuerung‹. Das damit verknüpfte Phänomen, dass Werke des ›Musiktheaters‹ – Musiktheater wird für dieses generisch motivierte Argument hier ausnahmsweise als Gattungsbegriff verstanden – wieder in das Opernrepertoire aufgenommen wurden, lässt sich beispielsweise anhand des Musiktheaters der Neuen Sachlichkeit zeigen; als ästhetische Reaktion auf die ›Krise‹ der Oper konnten die Produktionen in den 1920er Jahren letztendlich das kanonisierte Konzept der Oper nicht aufbrechen. An dieser Stelle soll die Ausweitung des Gattungsbegriffs ›Musiktheater‹ durch Mungen aufgegriffen werden: Denn konzeptionell lässt sich diese theoretische Ausweitung des Gattungsbegriffs mit der Bestrebung von Komponist*innen vergleichen, die die generische Fundamentalstruktur versuchen zu ›erproben‹: Mungen erprobt den Gattungsbegriff ›Musiktheater‹ auf seine Dehnbarkeit und impliziert im Übrigen mit der Ausweitung des Begriffs auf ›Everyday Performances‹, dass konventionelle Oper ›gesellschaftliche Relevanz‹ nicht leisten kann und dass dafür neue Alltagsformen gesucht werden müssen. In der generisch motivierten Ausdehnung des 74

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Gängig ist es, die Gattung Oper, in Abgrenzung zum diffus anmutenden Begriff des Musiktheaters, mit ihrer Entstehung um 1600 bis zum Tod von Richard Strauss zu verorten, obwohl bereits vor 1949 zahlreiche Kompositionen vorliegen, die den historischen Gattungsbegriff nicht mehr bedienen. – Zum Gedanken des gattungsästhetisch klar definierten Feldes der Oper Erik Fischer: Die Oper. Der problematische Anweg zum Problem ihrer Definition, in: Musiktheater als Herausforderung. Interdisziplinäre Facetten von Theater- und Musikwissenschaft, hg. von Hans-Peter Bayerdörfer, S. 92–100, hier S. 92. Im Übrigen nutzt auch Adorno diese Prämisse für seine Feststellung der ›Krisenhaftigkeit‹ der Oper: »Krisenhaft an der Oper ist vielmehr ihre innere Zusammensetzung, vor allem die Substantialität, Aktualität und Konsistenz des heute Produzierten. Da freilich die Oper aus ihren eigenen materialen und ästhetischen Bedingungen wie kaum eine andere Form eines Publikums bedarf, so läßt diese innere Krise von der Frage der Wirkung und damit von der Gesellschaft nicht sich trennen. […] Daß aber das Publikum an der Opernform gerade als einem Denkmal der Vergangenheit festhält, trägt zu deren gegenwärtigen Schwierigkeiten bei, da der Komponist von seinem Publikum so wenig abstrahieren kann wie von der künstlerischen Aktualität dessen, was er gestaltet, und die beiden Forderungen kaum mehr zusammengehen.« – Theodor W. Adorno: Fragen des gegenwärtigen Operntheaters, in: Neue Deutsche Hefte III, S. 526–535, hier S. 526.

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Begriffs ›Musiktheater‹ liegt abermals das Bestreben, das Musiktheater zu legitimieren. Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen – bei Mungen klingt bereits an, dass es ihm weniger um ›generische‹ Fragen zu gehen scheint, das heißt um Fragen der musikalischen Form, als um Überlegungen zu einem Dispositiv – lässt sich der generisch motivierte Diskurs der ›Krise‹ auf das Musiktheater als Dispositiv übertragen und die ›Krise‹ somit auch als diskursive Strategie der Legitimation des Geltungsanspruchs des Musiktheaters lesen, da die ritualisierte Proklamation dieser ›Krise‹ mit dem offensichtlich weiterhin vorhandenen Bestand der Oper kollidiert und diese durch das repetitive Moment der ›Krise‹ wieder selbst stabilisiert. Die ritualisierte Repetition der ›Krise‹ – getreu dem adaptierten Motto: ›L’opéra est mort, vive l’opéra!‹76 – zeigt sich nicht zuletzt darin, dass das Gespräch mit Boulez auch nach 25 Jahren noch den Musiktheaterdiskurs bestimmt. Einerseits ist es also bezeichnend, dass der Titel des Interviews regelmäßig als Metapher verwendet wird – insbesondere wenn es um Transformationsprozesse im Opernbetrieb geht. Andererseits zeigt sich die ritualisierte Verlautbarung der ›ästhetischen Krise‹ auch und besonders durch den erneuten Abdruck des Interviews aus den 1960er Jahren im Jahr 1993 in der Neuen Zeitschrift für Musik samt einer retrospektiven Stellungnahme von Boulez zu seinen eigenen Äußerungen.77 Der erneute Abdruck des Interviews von 1967 ist durch eine kurze Einleitung eingerahmt, in der betont wird: »Aktueller denn je scheint dieses Gespräch von damals zu sein in unseren Tagen, in denen Opern wie Pilze aus dem Boden sprießen«78 – abermals ein Bezug auf die zu dieser Zeit weiterhin angewandte Praxis, Kompositionsaufträge für Opern an Komponist*innen zu vergeben. Im Kontext des erneuten Abdrucks des Interviews kommentieren sodann die Komponistin Adriana Hölszky und die Komponisten Hans-Jürgen von Bose, Manuel Hidalgo, Nicolaus A. Huber, Wolfgang Rihm, Dieter Schnebel, Hans Zender und Walter Zimmermann, allesamt dem Musiktheater als Genre verpflichtet, das alte Interview von Boulez, das zur Zeit der Veröffentlichung 76

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Hermann Danuser (Hg.): Musiktheater heute. Internationales Symposion der Paul Sacher Stiftung Basel 2001, Mainz: Schott, 2003 [= Veröffentlichungen der Paul Sacher Stiftung, Bd. 9], S. 29. O. A.: Sprengt die Opernhäuser in die Luft!; Die Fragen. Die Antworten, in: Neue Zeitschrift für Musik, Jg. 154, Heft 4, 1993, S. 10–29. – Die ›ästhetische Krisis‹ der Oper, wie sie hier als Legitimationsstrategie für den Geltungsanspruch des Musiktheaters perspektiviert wurde, ist, durch den ästhetischen Reflex auf diese ›Krisis‹ der sogenannten ›Avantgarde‹ und die perpetuierte Verlautbarung dieser ›Krise‹ innerhalb der Szene, Teil der ›Image-Konstruktion‹ von Komponist*innen aus dem Umfeld der Neuen Musik. – Zur Image-Konstruktion der Szene der Neuen Musik siehe Frank Hentschel: Die »Wittener Tage für neue Kammermusik«. Über Geschichte und Historiografie aktueller Musik, Stuttgart: Franz Steiner Verlag, 2007, hier insbesondere Kapitel 4 [= Beihefte zum Archiv für Musikwissenschaft, Bd. 62, hg. von Albrecht Riethmüller]. O. A.: Sprengt die Opernhäuser in die Luft!; Die Fragen. Die Antworten, in: Neue Zeitschrift für Musik, Jg. 154, Heft 4, 1993, S. 10–29, hier S. 15.

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sehr viel Aufmerksamkeit erregte, und beantworten fünf Fragen zur persönlichen Einschätzung der aktuellen Situation der Oper. Die Fragen, an denen sich die Komponist*innen orientieren sollen, streifen etwa die Bedeutung der Äußerungen Boulez’ auf das eigene musiktheatralische Schaffen der Komponist*innen, die Möglichkeit eines Musiktheaters ohne den für das Genre in traditioneller Perspektive so unabdingbar erscheinenden Gesang, etwaige historische Vorbilder aus dem Bereich des Musiktheaters und auch, ob derzeit eigene Musiktheater-Kompositionen in Planung seien. Außerdem wird die Suche nach neuen Orten und Formen für Aufführungen des Musiktheaters vor dem Hintergrund der wirtschaftlichen Situation thematisiert, mit der Anmerkung, dass die »Kosten für die Realisierung einer neuen Oper heute aufgrund der gesamtwirtschaftlichen Situation kaum mehr zu tragen [sind], obschon immer noch suggeriert und ›gerechtfertigt‹ wird, Oper erfülle sowohl die künstlerischen als auch die gesellschaftlichen Bedürfnisse.«79 In den Antworten wird einerseits deutlich, dass die Äußerungen Boulez’ aus der Perspektive der Komponist*innen auch nach 25 Jahren »so aktuell wie eh und je«80 sind; die ›ästhetische Krise‹ hat – zumindest in der Szene der Neuen Musik, also unter zeitgenössischen Komponist*innen, die sich traditionell einer ›bürgerlichen Musikkultur‹ verpflichtet sehen – offensichtlich weiterhin Bestand. Andererseits greifen die Komponist*innen – wenn auch nur in zwei kurzen Bemerkungen – eine weitere ästhetische Reaktion auf diese ›Krise‹ jenseits von möglichen neuen Musiktheaterkompositionen auf, nämlich die Reaktion von Regisseuren auf vorwiegend historisches Repertoire auf den Opernbühnen. Hans-Jürgen von Bose äußert sich wie folgt zu den Inszenierungspraktiken: »Ich glaube, daß auch heute viele Opernregisseure zeitgenössische Opern verhindern, allerdings wahrscheinlich gleichermaßen subtil wie absichtslos, indem sie das Publikum, die Intendanten und die Presse mit alter Opernliteratur in modern ›aufgemotzten‹ Inszenierungen beglücken, so daß ein Bedarf nach heute komponiertem Musiktheater viel weniger zu bestehen scheint.«81 Dieter Schnebel hingegen schätzt die Situation der Regie im Musiktheater weitaus weniger pejorativ ein. Nahezu alle Äußerungen Boulez’ könne er unterschreiben. »Allerdings hat sich eines inzwischen geändert: Es gibt wohl mehr wichtige Regisseure – z.B. Ruth Berghaus, Chéreau, Freyer, Kupfer, Neuenfels, Sellars, Stein,

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Ebd., S. 20. Wolfgang Rihm im Interview, in O. A.: Sprengt die Opernhäuser in die Luft!; Die Fragen. Die Antworten, S. 24. Hans-Jürgen von Bose im Interview, in: O. A.: Sprengt die Opernhäuser in die Luft!; Die Fragen. Die Antworten, S. 21.

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Wilson.«82 Auch wenn Schnebel sodann einräumt, dass die Regisseure dem Theater nicht immer gerecht würden und auch wenn von Bose auf Regisseure offensichtlich nicht allzu gut zu sprechen ist, ist die Regie als Referenz beider Aussagen im Kontext der ›ästhetischen Krise‹ interessant. Denn mit der identischen Argumentationslinie, wie die ›musikästhetische Krise‹ als diskursive Legitimationsstrategie verortet wurde, ist auch die durch das historische Repertoire bedingte ›inszenierungsästhetische Krise‹ seit etwa den 1970er Jahren einzuordnen, die sich heute in der nahezu inflationären Verwendung des in den 1980ern etablierten Begriffs ›Regietheater‹ niederschlägt. Das Selbstverständnis der auf diese Krise reagierenden Regisseur*innen kann habituell durchaus mit dem der Szene der Neuen Musik verglichen werden, da innerhalb beider Strömungen die Provokation der Rezipient*innen bisweilen als Indikator für ästhetischen Erfolg angesehen wird; zumindest dann, wenn der Begriff des ›Regietheaters‹ sehr spezifisch auf eben dieses Phänomen der Provokation reduziert wird.83 An dieser Stelle soll an Mungen erinnert werden, der das ›Regietheater‹ in seinem Vorwort explizit als Legitimationsstrategie im Musiktheater bezeichnet, ohne indes den semantisch mit diversen Ebenen aufgeladenen und deshalb auch unpräzisen Begriff zu spezifizieren. Da der Begriff ›Regietheater‹ in seiner Bedeutung so diffus und offen ist, eignet er sich für verschiedene Modi der Operationalisierung durch Rezipient*innen, was gleichzeitig – zumindest auf den ersten Blick – die Verknüpfung mit dem Aspekt der Legitimation erschwert. Je nach Sichtweise und der geistigen Haltung der Rezipient*innen einer Aufführung unterliegt der Begriff ganz unterschiedlichen Konturierungen, von neutraler Verwendung zur Darstellung der künstlerischen Tätigkeit in der Regie bis hin zum Schimpfwort, das sich zumeist dann artikuliert, wenn der Regisseur bzw. die Regisseurin dem Werk vermeintlich nicht gerecht wird. Während diese Auseinandersetzung sowohl im Sprechtheater als auch im Musiktheater »ein Phänomen auf der Bühne [beschreibt], das sich in seinen unterschiedlichen Erscheinungsformen aus einer langen Theatertradition heraus entwickelt hat«84 , scheint die Wirkung bzw. die Rezeptionserwartung bei

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Dieter Schnebel im Interview, in: O. A.: Sprengt die Opernhäuser in die Luft!; Die Fragen. Die Antworten, S. 26. Im Zusammenhang mit einer Idomeneo-Inszenierung durch Hans Neuenfels stellt ein Kritiker bspw. fest: »Ende gut, alles gut: Sänger und Dirigent: gefeiert. Das Regieteam bekam das erwartete Buh.« – Volker Boser: Wenn göttliche Köpfe rollen, in: Abendzeitung München, 15.03.2003. Ortrud Gutjahr: Spiele mit neuen Regeln? Rollenverteilungen im Regietheater, in: Dies. (Hg.): Regietheater! Wie sich über Inszenierungen streiten lässt, Würzburg: Königshausen & Neumann [= Theater und Universität im Gespräch, Bd. 6], S. 13–25, hier S. 15. – Gutjahr gibt in ihrem einleitenden Aufsatz einen übersichtlichen historischen Abriss zur Entwicklung der Regie anhand zentraler Schlüsselfiguren des Theaterkanons von Goethe über Wagner und Reinhardt bis zu Regisseuren der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts.

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den beiden Theaterformen an die Wandelbarkeit der Textvorlage gebunden zu sein und sich deshalb unterschiedlich darzustellen: In Abgrenzung zum Sprechtheater, bei dem die Elastizität der schriftlichen Vorlagen traditionell viel stärker präsent ist, bleibt im Musiktheater die Kombination aus Noten und Text in der Partitur auch für die Aufführungspraxis mehr erhalten, was Brüche deutlicher hervortreten lassen kann. Als deutlich sichtbare Variable tritt deswegen die Inszenierung im Musiktheater in den Vordergrund. ›Regietheater‹, vornehmlich im Bereich der Oper, bezieht sich auf die Beschreibung einer Inszenierungspraxis, bei der meist Werke des gegenwärtigen Opernkanons durch einen Regisseur – häufig mit einer eindeutigen Handschrift – interpretiert und auf die Bühne gebracht werden. Der Begriff kam im Musiktheater in den 1980er Jahren im deutschsprachigen Raum auf; im angloamerikanischen Raum wird diese Art von Inszenierungspraxis bisweilen ›Eurotrash‹ genannt. Besonders im Zusammenhang mit Opernwerken, die dem klassischen Opernrepertoire zugeschrieben werden – und dieses Verständnis kann auch Mungen in seiner Begriffsverwendung unterstellt werden –, wird ›Regietheater‹ häufig verwendet, um zu verdeutlichen, dass ein Regisseur bzw. eine Regisseurin im Zuge der Inszenierung Interpretationen oder Assoziationen auf der Bühne sichtbar macht, die – so zumindest positionieren sich Gegner*innen dieser Art ›Regietheaters‹ – mit dem ›Werk an sich‹ nichts mehr gemein hätten; die Maxime der Werktreue würde durch eine solche Inszenierungspraxis missachtet. Regietheater »wird verstanden als ein Theater des Eingriffs, wenn nicht gar des Übergriffs.«85 Eine solche Einschätzung fußt auf der Annahme, dass es ein ›Werk an sich‹ gäbe, das durch die Partitur fixiert sei. Die Partitur gilt dabei als Autorität vor allen anderen Komponenten des Musiktheaters.86 Sofern sich also Zuschauer*innen von einer Inszenierung provoziert fühlen, weil das Rezipierte nicht der Erwartung entspricht, wird der Begriff ›Regietheater‹ aus Rezipient*innenperspektive mit pejorativer Konnotation verwendet. Da die Provokation des Publikums in der Musiktheaterszene aber seinerseits durchaus positiv konnotiert ist, kann das so rezipierte ›Regietheater‹ in der stets perpetuierten Dichotomie zwischen positiver und negativer Konnotation als Legitimationsstrategie zur Stabilisierung des Musiktheaters verstanden werden.87 Hinzu kommt, dass immer neue Inszenierungen bekannter Stücke immer auch neue Kunstwerke sind, die vermeintlich oder tatsächlich neue Lesarten alter Werke mit der heutigen Zeit in Beziehung

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Ebd. S. 14. Siehe zur Begriffsgeschichte von ›Werktreue‹ auch Christopher Balme: Werktreue. Aufstieg und Niedergang eines fundamentalistischen Begriffs, in: Ortrud Gutjahr (Hg.): Regietheater! Wie sich über Inszenierungen streiten lässt, Würzburg: Königshausen & Neumann, 2008 [= Theater und Universität im Gespräch, Bd. 6], S. 43–50. Provokation als positive Konnotation im Musiktheater wird in Kapitel III 4 dieser Arbeit näher beleuchtet.

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setzen. Insofern ist das ›Regietheater‹ einerseits eine künstlerische Reaktion auf das dominante historische Repertoire, andererseits verweist der Begriff auf das Theater als autonome Kunstform.88 Es könnte also die Ansicht formuliert werden, ›Regietheater‹ gebe »neue Impulse für das ›totgesagte‹ Musiktheater«89 und entfalte die Festigung seines Geltungsanspruchs in der perpetuierten Reinterpretation und Assoziationssleistung des Regisseurs bzw. in der Entschlüsselung der auf der Szene sich konkretisierenden Bilder, die den Zuschauer*innen überlassen wird.90 Damit erwiese sich die Legitimation durch »die gesellschaftspolitische Notwendigkeit und Sprengkraft des Regietheaters und der Kunst des Inszenierens.«91

3. Zwei Momentaufnahmen: »Radikale Leichtigkeit« und »Besser als Sex« Als Spiegel der zuvor skizzierten Narrative sollen in diesem Unterkapitel beispielhaft zwei journalistische Texte stehen, die thematisch genau an der Schnittstelle von Musiktheater und Legitimation ansetzen. Es handelt sich einerseits um einen Text mit dem Titel Radikale Leichtigkeit 92 aus dem Kundenmagazin der Deutschen Bahn, in dem die Operette als Gattung inspiziert wird. Über dem Titel bzw. im Anrisstext ist zu lesen: »Comeback der Operette«93 und »Lange Zeit galt die Operette als altbacken, muffig und öde. Die komische Oper Berlin hat den Vorläufer des Musicals jetzt rehabilitiert und ihm zu einem Revival verholfen. Ein Hausbesuch.«94 Andererseits steht ein Artikel zur Oper aus dem Kulturspiegel mit dem Titel »Besser als Sex«95 im Fokus, in dem mehrere Persönlichkeiten, die in unterschiedlicher Weise dem Opernbetrieb verpflichtet sind, einzeln zu Wort kommen und sich jeweils 88

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Miriam Drewes: Theater jenseits des Dramas: Postdramatisches Theater, in: Peter W. Marx (Hg.): Handbuch Drama. Theorie, Analyse, Geschichte, Stuttgart/Weimar: Metzler, 2012, S. 72–84, hier S. 78f. Sigrid Wiesmann: Musiktheater in der Bundesrepublik, in: Carl Dahlhaus und Giwi Ordschonikidse (Hg.): Beiträge zur Musikkultur in der Sowjetunion und in der Bundesrepublik Deutschland, Hamburg und Wilhelmshaven: Musikverlag Hans Sikorski/Heinrichshofen Verlag, 1982, S. 199–212, hier: S. 205. Jürgen Schläder: OperMachtTheaterBilder. Neue Wirklichkeiten des Regietheaters, Leipzig: Henschel, 2006, S. 7. Ebd., S. 8. Jürgen Ziemer: Radikale Leichtigkeit, in: mobil 02/2015, Kundenmagazin der Deutschen Bahn, 2015, S. 82–85. Ebd., S. 82. Ebd., S. 82. O. A. (Hg.): »Besser als Sex«. Opernaufführungen sind verstaubt, langweilig, endlos – so lautet das Vorurteil. Falsch! Daniel Barenboim, Anna Netrebko, und fünf weitere Experten erklären eine Kunst mit Zukunft, KulturSPIEGEL, 7/2005, S. 14–17.

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einer Frage zur Gattung widmen. Im Anrisstext des Artikels »Besser als Sex« heißt es: »Opernaufführungen sind verstaubt, langweilig, endlos – so lautet das Vorurteil. Falsch! Daniel Barenboim, Anna Netrebko und fünf weitere Experten erklären eine Kunst mit Zukunft.«96 Ganz im Sinne der geläufigen Marketingstrategie ›sex sells‹ ist die Überschrift ein Blickfang. Stark kondensiert präsentiert der Anrisstext geläufige, offensichtlich im allgemeinen Wissensvorrat verankerte Ansichten über Opernaufführungen und verspricht mit dem Ausruf ›Falsch!‹ ein deutliches Korrektiv dieser ›Vorurteile‹ durch ›Experten‹. Insbesondere die Vorgehensweise, offensichtlich sachkundige Spezialist*innen zu Wort kommen zu lassen, verleiht der Korrektur negativ besetzter Ansichten über Oper besonderes Gewicht und Glaubwürdigkeit. Neben Namen und Funktion der Person unter den Texten steht bei einigen Antworten auch ein Verweis auf etwaige ausgewählte Auszeichnungen oder besondere Expertise der zu Wort kommenden Person – etwa ›Theaterpreisträger‹, ›StarSopranistin‹, oder ›einer der besten Wagner-Kenner der Welt‹. Auch im Anrisstext des Artikels über die Operette werden, obschon sachlicher formuliert, geläufige Ansichten über die Gattung (›altbacken, muffig und öde‹) ausgeräumt. Der ›Vorläufer des Musicals‹ sei jetzt ›rehabilitiert‹ und wiederbelebt, heißt es.97 Schon dieser erste Eindruck, den die Texte vermitteln, zeigt deutlich: Sie dienen der Legitimation des Musiktheaters, indem sie gesellschaftlich verdichtete, negativ konnotierte Narrative zu den Gattungen ins rechte Licht zu rücken und zu widerlegen suchen. Unter dem Slogan ›Besser als Sex‹ versammelt sich also ein Ensemble aus Fragen und Antworten zur Oper. So geht Klaus Zehelein, ehemaliger Intendant der Staatsoper Stuttgart und Vorsitzender des Deutschen Bühnenvereins, beispielsweise auf die Frage ein, ob Oper eine nicht längst veraltete Kunstform sei. Martin Zehetgruber, laut Angabe im Artikel mehrfach ausgezeichneter Bühnenbildner, reiht Gründe aneinander, warum Bühnenbilder regelmäßig überladen seien. Anna Netrebko, Sopranistin, widmet sich dem Klischee übergewichtiger Opernsängerinnen. Auch wenn an dieser Stelle nicht alle Antworten zitiert und kommentiert werden sollen, soll dennoch ein Blick auf einige lohnenswerte Ausschnitte geworfen werden. Daniel Barenboim etwa, Dirigent und derzeitiger Generalmusikdirektor der Deutschen Staatsoper Berlin, erläutert – »als einer der besten Wagner-Kenner der Welt«98 –, warum Wagner, »obwohl er schon lange tot ist«99 , »noch immer so viele Fans«100 hat: 96 97

Ebd., S. 14. Jürgen Ziemer: Radikale Leichtigkeit, in: mobil 02/2015, Kundenmagazin der Deutschen Bahn, 2015, S. 82–85, hier S. 82. 98 Daniel Barenboim über Wagner, in: O. A. (Hg.): »Besser als Sex«. Opernaufführungen sind verstaubt, langweilig, endlos – so lautet das Vorurteil. Falsch! Daniel Barenboim, Anna Netrebko, und fünf weitere Experten erklären eine Kunst mit Zukunft, KulturSPIEGEL, 7/2005, S. 14–17, hier S. 15. 99 Ebd. 100 Ebd.

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»Richard Wagners anhaltende Aktualität erklärt sich daraus, dass seine Musik nicht zeitgebunden war und ist. Er hat etwas Einzigartiges geschafft: alles, was es bis dahin in der Musik gab, zusammenzufassen und gleichzeitig den Weg in die Zukunft zu betreten. Wagners Werk spricht zu allen Menschen, denn es ist eine untrennbare Verbindung seines Denkens, seines Fühlens und seiner außergewöhnlichen Sinnlichkeit.«101 Peter Konwitschny, Opernregisseur, erläutert anhand der Oper Rigoletto von Giuseppe Verdi ausführlich, warum das Sterben auf der Bühne jedes Mal so lange dauert. »Weil Zeit nötig ist, um über das Wesentliche, um von der Utopie zu sprechen. […] Zur Schaffung dieses kathartischen Raumes ist Zeit nötig. Deshalb muss das Sterben eine gewisse Dauer haben.«102 Christina Weiss, von 2002–2005 Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien, widmet sich der Frage, wieso für die Oper so viele Steuergelder verschwendet würden. Zunächst stellt Weiss fest, dass die Oper im Vergleich zu den anderen Künsten »unter stärkerem Rechtfertigungsdruck«103 stehe. Auf die ihr gestellte Frage geht Weiss allerdings nicht sofort ein, sondern spricht zunächst über ein »immergleiches Repertoire von etwa 50 Stücken« und die Notwendigkeit eines ›neuen Publikums‹.104 Als Erklärung für die ›Verschwendung‹ von Steuergeldern führt sie sodann die Personalintensität des Opernbetriebs an, was zwar einleuchtet, aber die Notwendigkeit der Oper als Institution nicht besonders hervorhebt. Aufschlussreich ist jedoch Weiss’ recht poetische Bemerkung, welche dem Geltungsanspruch der Oper als Institution einerseits eine sehr persönliche Note verleiht, aber andererseits diese persönliche Einschätzung zu einer allgemeingültigen Maxime erweitert: »Für mich ist die Oper ein wundervoller Ort der Verwandlung. Wer offenen Auges und Ohrs ist, wird anders herauskommen, als er hineingegangen ist.«105 Die Oper also ist laut Weiss Möglichkeitsraum für persönliche Transformationsprozesse. Diese Transformationsprozesse werden von Weiss als Rechtfertigung für die ›Verschwendung von Steuergeldern‹ angeführt. Mit ihrer Begründung bewegt sich Weiss innerhalb eines Denkmusters ähnlich dem von Konwitschny erläuterten und zuvor zitierten ›kathartischen Raumes‹. 101 Ebd. 102 Peter Konwitschny über das Sterben in der Oper, in: O. A. (Hg.): »Besser als Sex«. Opernaufführungen sind verstaubt, langweilig, endlos – so lautet das Vorurteil. Falsch! Daniel Barenboim, Anna Netrebko, und fünf weitere Experten erklären eine Kunst mit Zukunft, KulturSPIEGEL, 7/2005, S. 14–17, hier S. 16. 103 Christina Weiss über die Verschwendung von Steuergeldern für die Oper, in: O. A. (Hg.): »Besser als Sex«. Opernaufführungen sind verstaubt, langweilig, endlos – so lautet das Vorurteil. Falsch! Daniel Barenboim, Anna Netrebko, und fünf weitere Experten erklären eine Kunst mit Zukunft, KulturSPIEGEL, 7/2005, S. 14–17, hier S. 16. 104 Ebd. 105 Ebd.

Legitimation und Musiktheater im Diskurs

Schließlich beantwortet Peter Weibel, Direktor des Zentrums für Kunst und Medientechnologie in Karlsruhe, die Frage: »Warum sitzt man stundenlang herum, wenn doch nur altbekannte Geschichten erzählt werden?«106 sehr ausführlich. Laut Personenbeschreibung unter seiner Antwort ist Peter Weibel »großer Opernfan.«107 – Diese Haltung lässt sich auch deutlich aus seinem Text herauslesen, auf den an anderer Stelle noch ausführlich eingegangen wird. Im Gegensatz zu dem sehr offensichtlichen Konzept, durch gezielte Fragen an Experten mit Vorurteilen zur Oper aufzuräumen, ist der Bericht über die Komische Oper Berlin und das ›Revival‹ der Operette etwas subtiler gestaltet, denn vom Einzelfall – hier hauptsächlich eine Inszenierung der Operette Die schöne Helena von Jacques Offenbach durch Barrie Kosky – schließt der Autor Jürgen Ziemer auf einen generellen Wandel der Perzeption der Kunstform. Über Die schöne Helena an der Komischen Oper schreibt der Autor: »Der ganze Abend steckt voller abgedrehter Einfälle, frivoler Dialoge und musikalischer Zitate, die von Wagner und Beethoven bis zu Edith Piaf und dem hebräischen Volkslied ›Hava Nagila‹ reichen. Es sind musikalische Akzente, kleine Querverweise, wie man sie im Pop mit Samples setzt. Das Publikum scheint komplett aus dem Häuschen. Verstohlen schaut man sich im Saal um. In einer Loge sitzt ein weißhaariges Ehepaar – Typ konservative Akademiker und jahrzehntelange Theaterabonnenten. Ob die beiden sich provoziert fühlen? Werden Sie aufstehen und protestierend den Saal verlassen? Unter einer Aufführung von Offenbachs Mutterschiff der Operette kann man sich ja auch etwas ganz anderes vorstellen. Bis vor kurzem galt die Operette als das musikalische Äquivalent zu Großmutters guter Stube – inklusive Spitzendeckchen und röhrendem Hirsch an der Wand. Als überzuckerter, stockkonservativer Quatsch ohne Anspruch. […] Und das soll plötzlich alles anders sein? Wenn man die Besucher in der Komischen Oper fragt: Ja! Ja! Ja! Auch die Feuilletons und Kulturmagazine sprechen längst von einem ›Comeback der Operette‹, schwärmen von ›Kultaufführungen‹ und einer neuen Sinnlichkeit. Selbst radikale Experimente mit der Form an sich sind kein Tabu mehr.«108 Das Gerüst des Artikels bildet gewissermaßen ein Aufführungsbericht, der, obwohl viel ausführlicher, dem Gestus einer Kritik im Feuilleton sehr nahesteht. Besonders

106 Peter Weibel über studenlanges Rumsitzen in der Oper trotz altbekannter Geschichten, O. A. (Hg.): »Besser als Sex«. Opernaufführungen sind verstaubt, langweilig, endlos – so lautet das Vorurteil. Falsch! Daniel Barenboim, Anna Netrebko, und fünf weitere Experten erklären eine Kunst mit Zukunft, KulturSPIEGEL, 7/2005, S. 14–17, hier S. 17. 107 Ebd. 108 Jürgen Ziemer: Radikale Leichtigkeit, in: mobil 02/2015, Kundenmagazin der Deutschen Bahn, 2015, S. 82–85, hier S. 82.

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Musiktheater und Legitimation im Diskurs

auffällig ist außerdem der Fokus auf die Person Koskys und die Einflechtung seiner zahlreichen Äußerungen und Ansichten in den Text, die – vergleichbar mit der ›Expertise‹ der zu Wort kommenden Personen im Kulturspiegel – dem Bericht eine unmittelbare und authentische Einschätzung zur Lage der Operette verleihen, etwa wenn Kosky eine spezifische Operette mit dem Attribut »Meisterstück« verknüpft und über die Operette Die schöne Helena bemerkt: »Die Musik ist sensationell – witzig, frech, ganz wunderbar […].«109 Darüber hinaus wird die Persönlichkeit Koskys mit zahlreichen auffallenden Eigenschaften charakterisiert: Er sei »leidenschaftlicher jüdischer Intellektueller mit dicker Hornbrille«, »Tausendsassa«, »Prince-Fan«, der »nicht nur Operetten inszeniert, sondern auch Wagner-Opern.« Gewissermaßen vollzieht sich durch diese Beschreibung eine Versöhnung der in der Regel als Gegensätze dargestellten Gattungen in der Person Koskys: ein Intellektueller, der sich zur Popmusik bekennt und der offensichtlich gleichermaßen ›ernstem‹ als auch ›heiterem‹ Musiktheater etwas abgewinnen kann. »Die Idee, zwischen Hochkultur und Unterhaltung zu unterscheiden, findet der Prince-Fan grauenhaft.«110 Bereits zu Beginn des Berichts wird deutlich, dass die Rehabilitation der Operette, so wie im Anrisstext konstatiert, auf die Überwindung der Dichotomie Oper versus Operette abzielt: »Bei allem Anspruch an das Schöne, Gute und Wahre – letztlich zählen auch in der Klassik die drei Regeln, die der große Regisseur Billy Wilder schon vor über 40 Jahren formuliert hat: ›Du sollst nicht langweilen, du sollst nicht langweilen und du sollst nicht langweilen.‹ So gesehen hat das Ensemble der Komischen Oper heute schon mal alles richtig gemacht. Das Publikum amüsiert sich nicht nur – es tobt vor Vergnügen. Irgendwann klatscht es sogar den Takt. Ein bisschen wundert man sich trotzdem: Wir sitzen schließlich in einem Tempel der Berliner Hochkultur. Mozart, Schönberg, Verdi – steht hier alles auf dem Spielplan. Auch Jacques Offenbachs ›Die schöne Helena‹, die heute die Zuschauer begeistert, ist ein 150 Jahre alter Klassiker der Musikgeschichte. Aber eben auch anzüglich, aufgekratzt und ausgesprochen komisch. Die Musik klingt, als hätte man sie durch einen Pool voller Champagner gezogen – stürmisch, prickelnd und wunderbar beschwipst.«111 Auch weitere Passagen zielen auf Überwindung der Gattungsdichotomie ab, indem etwa Entertainment, in der Regel mit Operette konnotiert, nun auch dem ›klassischen Musiktheater‹ zugeschrieben, oder der Gegensatz ›Verflachung‹ versus ›Qualität‹, als zuvor eindeutig der Operette respektive der Oper zugeordnet, nun korrigierend bemüht wird: Bei 109 Ebd., S. 84. 110 Ebd. 111 Ebd., S. 82.

Legitimation und Musiktheater im Diskurs

»jeder Vorstellung [rotiert] eine gigantische Entertainment-Maschine […]. Nicht nur Pop und Musicals, auch das klassische Musiktheater arbeitet mit allen denkbaren Tricks. Das ist kein Ausverkauf ewiger Werte, sondern die Beschwörung einer kreativen Zukunft. Die Musik sollte im Mittelpunkt stehen, klar. Aber sie allein füllt nicht die schwer subventionierten Opern- und Konzertsäle. Zehn Prozent mehr Zuschauer hat der immer ein wenig crazy wirkende Kosky innerhalb eines Jahres in seinen Musentempel gelockt. Nicht mit Verflachung, sondern mit einer Qualität, die das Bewährte fortführt, aber auch das Neue erforscht.«112 In der Qualität scheint also die Ursache für die hohe Nachfrage nach Eintrittskarten für Die schöne Helena zu liegen. »Auf Karten muss man lange warten« – ein Charakteristikum, das in der Regel nicht mit staatlich gefördertem Musiktheater in Verbindung gebracht wird. Zum Schluss des Artikels erfolgt eine Skizze der Verfassung des Publikums nach der Veranstaltung; von der Textdramaturgie verhält es sich damit ganz ähnlich wie bei Zeitungskritiken im Feuilleton: »Als die Zuschauer nach drei Stunden aus der Komischen Oper strömen, wirken sie glücklich. Sogar das konservative weißhaarige Ehepaar«, das zuvor als Pars pro Toto symbolisch für das althergebrachte Operettenpublikum beschrieben wurde, »trägt ein Lächeln im Gesicht.«113 – Die Klischees über die Gattung scheinen, zumindest im Rahmen dieses Berichts, nun endgültig ausgeräumt. Im Anschluss an den Artikel sind Pauschalreisen zu Operettenaufführungen aufgeführt, inklusive Übernachtung und Anreise mit der Deutschen Bahn.114 In beiden Texten zeichnen sich, teilweise sehr plakativ, verschiedene, im öffentlichen Diskurs verdichtete Wissensformationen, Narrative und diskursive Legitimationsstrategien für den Geltungsanspruch des Musiktheaters ab. Das folgende Kapitel widmet sich dem gewählten Untersuchungsgegenstand, der Musiktheaterkritik, und der Methode der Analyse.

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Ebd., S. 84. Ebd. O. A.: Operetten-Tipps, in: mobil 02/2015, Kundenmagazin der Deutschen Bahn, 2015, S. 82–85, hier S. 85.

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II Material und Methode

1. Musiktheaterkritik und Öffentlichkeit »Öffentlichkeit ist ganz offensichtlich eine relevante Bezugsgröße gesellschaftlichen Handelns«1 und insbesondere im Hinblick auf Legitimationsprozesse zentral. Denn Legitimität wird – zumindest gilt dies in freiheitlich-demokratisch-pluralistischen Gesellschaften – im öffentlichen Diskurs hergestellt. Unter ›Öffentlichkeit‹ als demokratietheoretischer Bezugsgröße wird einerseits ein unabgeschlossener Kommunikationsraum verstanden, in dem sich gesellschaftliche Wissensformationen ausbilden und dessen Zugang nicht an Bedingungen geknüpft, sondern allgemein, das heißt für alle Akteur*innen offen ist. Andererseits stellt ›Öffentlichkeit‹ auch das Kollektiv dar, das diese Wissensformationen verhandelt. Unter dem Begriff der ›Wissensformationen‹, die also in oder von der Öffentlichkeit verhandelt werden, werden ganz allgemein »Phänomene und Prozesse kollektiver Meinungsbildung im öffentlichen Austausch über Themen von öffentlichem Interesse«2 verstanden, was gemeinhin auch als allgemeine Definition von ›öffentlicher Meinung‹ bzw. von dem Prozess öffentlicher Meinungsbildung gilt. Massenmedien, bzw. im vorliegenden Fall Printmedien in Form von Presseerzeugnissen, werden als idealer Ort angesehen, in dem sich öffentliche Diskurse moderner demokratischer Gesellschaften abbilden:3 Denn Massenmedien »leisten einen Beitrag zur Realitäts-

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Jürgen Gerhards und Friedhelm Neidhardt: Strukturen und Funktionen moderner Öffentlichkeit, in: Öffentlichkeit. Kultur. Massenkommunikation. Beiträge zur Medien- und Kommunikationssoziologie, hg. von Stefan Müller-Doohm und Klaus Neumann-Braun, Oldenburg: BIS-Verlag, 1991 [= Studien zur Soziologie und Politikwissenschaft], S. 31–89, hier S. 34. Helmut Scherer: öffentliche Meinung, in: Politische Kommunikation in der demokratischen Gesellschaft. Ein Handbuch mit Lexikonteil, hg. von Otfried Jarren, Ulrich Sarcinelli, Ulrich Saxer, Opladen/Wiesbaden: Westdeutscher Verlag, 1998, S. 693–694, hier S. 693. Reiner Keller: Müll – Die gesellschaftliche Konstruktion des Wertvollen. Die öffentliche Diskussion über Abfall in Deutschland und Frankreich, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, 2009, S. 40. – Selbstverständlich ist neben Printerzeugnissen heutzutage auch und besonders das Internet ein wichtiger Ort der öffentlichen Meinungsbildung.

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Musiktheater und Legitimation im Diskurs

konstruktion der Gesellschaft.«4 Und zwar durch »eine laufende Reaktualisierung der Selbstbeschreibung der Gesellschaft […], sei es in konsensueller, sei es in dissensueller Form […].«5 Anders ausgedrückt: »Was wir über unsere Gesellschaft, ja über die Welt, in der wir leben, wissen, wissen wir durch die Massenmedien.«6 Für die gesellschaftliche Wissenskonstruktion in Bezug auf den Geltungsanspruch des Musiktheaters sind Zeitungskritiken als Ausschnitt der Massenmedien ein öffentlicher Ort der ›laufenden Reaktualisierung‹ des Wissens über dieses Dispositiv und seinen Geltungsanspruch. In diesem Kapitel soll dargestellt werden, in welchem Beziehungsgeflecht Musiktheaterkritiken zur ›Öffentlichkeit‹ stehen und inwiefern Inhalte der Musiktheaterkritik als ›öffentliche Meinung‹ verstanden werden können.7 In grundlegenden soziologischen Schriften zur ›öffentlichen Meinung‹ wird das Theater als Bezugsgröße angeführt. Die Bühne als Schauplatz für gesellschaftliche Aushandlungsprozesse liegt dabei auf der Hand, nicht zuletzt in Bezug auf den häufig zitierten Ursprung aus der Agora, dem Versammlungsplatz als Bühne für öffentliche Verlautbarungen und Diskussionen im antiken Athen, der gewissermaßen auch als Symbol für die Wiege der Volkssouveränität steht. Walter Lippman konstatiert plastisch: »Wer also die öffentliche Meinung analysieren will, muß daher mit der Erkenntnis der Dreiecksbeziehung zwischen der Handlungsbühne, dem Bild des Menschen hiervon und der Reaktion des Menschen auf dieses Bild, die sich auf der Handlungsbühne entfaltet, beginnen. Es ist wie ein Theaterstück, das den Schauspielern durch ihre eigene Erfahrung nahegelegt und bei dem die

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Niklas Luhmann: Die Realität der Massenmedien, Opladen: Westdeutscher Verlag, 1996, S. 183. Ebd. – Luhmann spricht Massenmedien einige Seiten später jedoch die Produktion von Öffentlichkeit ab und sieht diese nunmehr als Repräsentation von Öffentlichkeit (S. 188f.), was zu seinen vorherstehenden Überlegungen der Realitätsproduktion durch ›laufende Reaktualisierung‹ widersprüchlich ist. Für die hiesigen Zwecke wird ausschließlich das zitierte Verständnis der ›laufenden Reaktualisierung‹ berücksichtigt. Ebd., S. 9. Ich gehe – aus wissenssoziologischer Perspektive – davon aus, dass öffentliche Meinung und veröffentlichte Meinung in einem demokratischen System deckungsgleich sind. Das bedeutet nicht, dass es sich bei der kongruenten Verwendung der Begriffe bei beiden Konzepten nicht um eine dominante Meinung handeln kann, die den Diskurs bestimmt. ›Öffentliche Meinung‹ bedeutet im weitesten Sinne also ›Wissen‹ über einen bestimmten Gegenstand oder ein Phänomen.

II Material und Methode

tragende Handlung im wirklichen Leben der Schauspieler und nicht nur in ihren Bühnenrollen abgehandelt wird.«8 Anhand dieses Beispiels beschreibt Lippmann die ›öffentliche Meinung‹ aus dem Theaterereignis heraus. Dabei erkennt er die öffentliche Meinungsbildung als Prozess an, der sich durch eine stete Wechselwirkung von Internalisierung und Externalisierung eines, wie er schreibt, ›Bildes‹ auszeichnet, wobei der Begriff des ›Bildes‹ hier als Metapher für Wissensformationen verstanden wird.9 Lippmann deutet auch bereits an, dass die Abhandlungen im Theater zwar örtlich begrenzt stattfinden, diese aber nicht nur den Raum des Theaters betreffen, sondern, wenn auch nicht explizit genannt, Öffentlichkeit über die Theateröffentlichkeit hinaus geht. Ferdinand Tönnies hingegen differenziert in seinem Buch Kritik der öffentlichen Meinung bei seinen Überlegungen zur öffentlichen Meinung explizit zwischen unterschiedlichen Ausformungen des Publikums als Öffentlichkeit. Unter der Zwischenüberschrift ›Publikum‹ führt auch Tönnies zunächst das Theaterpublikum an, als »Menge von Menschen – Männern und Frauen –, […] die sich räumlich vereinen […].«10 Anschließend wendet er sich dem ›großen Publikum‹ zu, das »in bezug auf bestimmte Ereignisse und Arten von Ereignissen aus allen Menschen, die daran teilzunehmen, sie aufzunehmen, darüber zu urteilen fähig und willens«11 sind, besteht. Im Gegensatz zum Theaterpublikum handelt es sich also um eine »unbegrenzte Menge«12 an Menschen, die räumlich nicht eingegrenzt wird. Tönnies begrenzt dieses Publikum auf die ›gebildete Welt‹, die »über politische Begebenheiten, wie über solche des Kunstlebens, der Wissenschaft und Technik«13 usw. urteile. Zentral für die Verbreitung der öffentlichen Meinung sei die Zeitung, folglich sei das ›große Publikum‹ »fast ausschließlich das Zeitungen lesende Publikum«14 , es sei allgemein »eine Idee von unbestimmbarer Weite und Dauer«15 .

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Walter Lippmann: Die öffentliche Meinung, Rütten + Loening Verlag: München, 1964, S. 19 [Originalausgabe erschien unter dem Titel »Public Opinion« 1922 in New York, The Macmillan Company]. Die ›öffentliche Meinung‹ gleicht in dieser Lesart dem ›Jedermann-Wissen‹ bei Berger und Luckmann, das explizit vom individuellen Wissen und damit auch von angehäuften Individualmeinungen abgegrenzt ist. – Siehe dazu auch Jürgen Gerhards: Öffentlichkeit, in: Politische Kommunikation in der demokratischen Gesellschaft. Ein Handbuch mit Lexikonteil, hg. von Otfried Jarren, Ulrich Sarcinelli, Ulrich Saxer, Opladen/Wiesbaden: Westdeutscher Verlag, 1998, S. 268- 274, hier S. 269. Ferdinand Tönnies: Kritik der öffentlichen Meinung, Berlin: Verlag von Julius Springer, 1922, S. 82. Ebd., S. 84. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd., S. 85.

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Lippmann und Tönnies vermitteln in ihren Darstellungen einen ersten Eindruck zum Beziehungsgeflecht zwischen Wissensproduktion und ›öffentlicher Meinung‹. Sie zeichnen nicht nur das Theater als öffentlichen Ort nach, der – zumindest durch Tönnies – mit einer politischen Elite verknüpft wird, sondern sie machen durch die Parallelisierung des Begriffs ›Publikum‹ mit Öffentlichkeit und Öffentlichkeit mit Zeitung (Tönnies) auf die basalen Interdependenzen zwischen diesen drei Feldern aufmerksam. Zudem zeigt sich, dass Öffentlichkeit nach dem hier zugrunde liegenden Verständnis ›massenmedial‹ hergestellt wird.16 Wenn sich Öffentlichkeit als ›eine Idee von unbestimmbarer Weite‹, also durch »prinzipielle Unabgeschlossenheit«17 auszeichnen soll, so ist mit Blick auf die in der ›Öffentlichkeit‹ verhandelten Wissensformationen im zeitgenössischen Musiktheater die gleichzeitige Einschränkung auf einen abgeschlossenen Kreis von Zeitungsleser*innen, die in der Regel als passive Rezipient*innen auftreten, offensichtlich unscharf und es liegt deshalb nahe – darauf komme ich im Verlauf des Kapitels noch zurück –, die Diffusion von Wissen aus dem Leser*innenkreis hinaus zu berücksichtigen. Es erscheint lohnenswert, zunächst das spezifische ›Publikum‹ der Musiktheaterkritik, also die Teilöffentlichkeit, an die sich Musiktheaterkritiken richten, zu imaginieren. Die Rezipient*innen der beispielhaft untersuchten kontemporären Musikkritik in Tages- und Wochenzeitungen können aufgrund verschiedener Parameter eingegrenzt werden: Zunächst richtet sich die Tages- und Wochenpresse an ihre Leserschaft, das heißt an einen spezifischen Teil der ›Öffentlichkeit‹, aus dem wiederum nur ein Ausschnitt überhaupt den Feuilletonteil liest. Es ist davon auszugehen, dass Leser*innen der Kritiken auch ein prinzipielles Interesse an Musiktheateraufführungen haben und demnach – in den Worten Lippmanns – zu der Menge Menschen gehören, die sich in wechselnden Konstellationen auch räumlich vereinen und die jeweiligen Veranstaltungen des Musiktheaters besuchen. Laut Boenisch sind die wichtigsten Anreize für das Lesen von Theaterkritiken erstens, einen informativen Vorabeindruck über eine Aufführung zu erhalten, zweitens diesen Eindruck als Entscheidungshilfe für einen Besuch der Vorstellung zu nutzen und drittens, die eigene Meinung zur Aufführung mit der Kritiker*innenmeinung zu vergleichen.18 Die Leser*innenschaft der un16 17 18

Siehe dazu auch Jürgen Gerhards: Öffentlichkeit, S. 268–274, insbesondere S. 270. Jürgen Habermas: Strukturwandel der Öffentlichkeit, 1987, Neuwied: Luchterhand, S. 53. Vasco Boenisch: Krise der Kritik? Was Theaterkritiker denken – und ihre Leser erwarten, Berlin: Theater der Zeit [= Recherchen 63], S. 190–206. – Die Leser*innen der Musiktheaterkritiken sind auch und besonders diejenigen, über die in der Kritik berichtet wird. Allgemein gesprochen sind Leser*innen der Kritiken also auch »Theatermenschen«. – Franz R. Stuke (Hg.): Alles Theater? Bühne, Öffentlichkeit und die Kritik, Münster: Daedalus-Verlag, 1997 [= Kommunikation im Gespräch, Bd. 2], S. 9. – Dieser Band versammelt mit Blick auf die Frage ›Kritik in der Krise?‹ ein buntes Potpourri aus Einzelstimmen und Einzelmeinungen aus Theaterpraxis, Journalismus, Wissenschaft und Kulturpolitik zur Theaterkritik. Der Band zeigt u.

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terschiedlichen Zeitungen ist jeweils Teil eines bestimmten Milieus, das sich nach Bildungsstand, politischer Einstellung und diversen anderen Kriterien differenzieren lässt. In Bezug auf Musiktheaterkritiken handelt es sich bei den Leser*innen – gerade wegen des besonderen Aufbaus, der spezifischen Dramaturgie, Rhetorik und insbesondere wegen des Jargons – vermutlich um eine musikalisch informierte und an Musiktheater besonders interessierte Teilöffentlichkeit. Um Musikkritiken weitgehend zu verstehen und die Bewertung der Kritiker*innen nachvollziehen zu können, bedarf es nämlich eines hohen Maßes an künstlerisch gebildetem Vorwissen; und zwar unabhängig vom jeweiligen Medium. So sind bei den untersuchten Kritiken für das Verständnis einerseits sowohl inhaltliche Informationen zur Handlung bzw. zur stofflichen Grundlage des Stücks als auch Wissen über den historischen Kontext nötig. Außerdem ist musikhistorisches Hintergrundwissen zu weiteren Werken hilfreich, die mit dem Dargebotenen verglichen und auf deren Folie Ähnlichkeiten oder Unterschiede analysiert werden. Kenntnisse der Musikund Werkgeschichte werden also offensichtlich vorausgesetzt. Andererseits ist ein vorhandener Wissensbestand der Lesenden zu den sozialen und künstlerischen Hintergründen der Beteiligten für das Verständnis der Kritik förderlich – etwa dann, wenn Bezüge zu Vorarbeiten von Regisseur*innen oder Komponist*innen, Anspielungen auf Intendant*innen oder Verbindungen zu bereits gesungenen Rollen der Sänger*innen hergestellt werden. Wenngleich musikgeschichtliches Spezialwissen beispielsweise zu Partien und zugehörigen Stimmfächern im Zusammenhang mit den Sänger*innen und ihren individuell gesungenen Partien in Bezug auf die jeweiligen Akteure auch hier von Bedeutung ist, so stehen häufig biographische oder zwischenmenschliche Aspekte im Vordergrund. Je umfassender das Wissen der Leser*innen zu musikhistorischen und biographischen Gegebenheiten in Verbindung mit einer gewissen Sicherheit im Umgang mit spezifischer Terminologie, desto größer ist auch die Wahrscheinlichkeit, dass die jeweiligen Beschreibungen und Bewertungen durch die Leser*innen nachvollzogen werden können. Diese vorangehende imaginäre Skizze der Rezipient*innen von Musiktheaterkritiken erinnert an den durch Adorno in seiner Einleitung in die Musiksoziologie beschriebenen Typ des ›Bildungshörers‹ bzw. ›Bildungskonsumenten‹, der in Analogie assoziativ mit Kritikenleser*innen verknüpft werden kann.19 Der ›Bildungshörer‹ wird u. a. als »gut informiert«20 dargestellt. Er respektiert Musik als »Kulturgut,

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a. durch die Ansammlung der Einzelstimmen über das in diesem Kapitel im Fokus stehende Feld von Musiktheaterkritik und Öffentlichkeit insbesondere ›kommunikative‹ Aspekte auf, die situativ zwischen ›Bühne‹ – also den Theaterpraktiker*innen – und der Person des Kritikers bzw. der Kritikerin entstehen. Theodor W. Adorno: Einleitung in die Musiksoziologie, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1975, S. 17ff. Ebd., S. 20.

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vielfach als etwas, was man um der eigenen sozialen Geltung willen kennen muß«21 und verfügt zudem »über ausgebreitete Kenntnis der Literatur«22 . Der Schwerpunkt der Kenntnisse über Musik des ›Bildungshörers‹ erstrecke sich laut Adorno auf »Biographisches und […] die Meriten von Interpreten«23 sowie beim Sänger etwa auf die Stimme. »Das einzige, worauf dieser Typus primär anspricht, ist die exorbitante, sozusagen meßbare Leistung, also etwa halsbrecherische Virtuosität, ganz im Sinn des show-Ideals.«24 Adorno betont weiter, dass sich dieser Typus »massenfeindlich und elitär«25 gebärde und bestimmt sein »Milieu [ferner als] das obere und gehobene Bürgertum, mit Übergängen zum kleinen; [demnach] handelt es sich um eine Schlüsselgruppe [aus der sich] die Stammabonnenten der großen Konzertgesellschaften und der Opernhäuser«26 rekrutieren. Die von Adorno Anfang der 1960er Jahre typologisch separierten Eigenschaften der Hörer*innengruppen sind zwar spekulativ und deshalb äußerst problematisch. Auch die Zuordnung der Rezipient*innen des Jazz und der Neuen Musik scheinen aus heutiger Perspektive nicht plausibel. Nichtsdestotrotz scheint der skizzierte ›Bildungshörer‹ wesentliche Aspekte zu bündeln, die sich durchaus aus den Musiktheaterkritiken und ihren implizierten Leser*innen ableiten lassen. Allerdings, und damit greife ich den zuvor genannten Aspekt der Diffusion von Medieninhalten auf, geht die Öffentlichkeit, die Musiktheaterkritiken rezipiert, über den Personenkreis hinaus, der die Rezensionen vollständig liest. So bezieht die mit dem Musiktheater in Beziehung stehende Teilöffentlichkeit auch die Leser*innen ein, die durch Überfliegen der Teaser, der Überschriften, oder allein schon durch die Wahrnehmung der abgedruckten Kritiken in den Zeitungen zum Kreis der Rezipient*innen gehören. Dass Zeitungsinhalte und damit auch die Inhalte und Diskurse aus Musiktheaterkritiken darüber hinaus eine Öffentlichkeit erreichen, die über die tatsächlichen Leser*innen der Zeitung hinausgehen, exemplifiziert Elisabeth Noelle-Neumann anhand von Gesprächen, die über Medieninhalte geführt werden: »Welche Rolle das Gespräch für die Weitergabe von Medieninhalten spielt, zeigt eine kleine Studie mit der Methode der teilnehmenden Beobachtung. Von 180 Gruppen, deren Gespräche in Gaststätten, auf Plätzen und in Wohnungen beobachtet wurden, erwähnten über 70 Prozent innerhalb einer Stunde Medien oder Medieninhalte. Das geschah vor allem in Gesprächen mit geringer Gesprächsintensität durch die dominierenden Gesprächsteilnehmer. Die Erwähnung diente 21 22 23 24 25 26

Ebd. Ebd. Ebd. Ebd., S. 21. Ebd. Ebd.

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vor allem der Information über Fakten, gefolgt von der Stimulation von Gesprächen und der Verteidigung eigener Ansichten.«27 Durch diese Beobachtung wird einerseits deutlich, dass über Medien vermittelte Diskurse, im speziellen also auch Diskurse, die sich in Tages- und Wochenzeitungen niederschlagen, einen breiteren Öffentlichkeitsradius erreichen als nur das unmittelbare Lesepublikum. Musiktheaterkritiken erreichen also den Teil der gesellschaftlichen Öffentlichkeit, der sich an Diskursen über das Musiktheater beteiligt. Gerade die Musiktheaterkritik im Feuilleton, die im Vergleich mit Fachpublikationen allein aufgrund der Auflagenstärke breiter rezipiert wird, ist dazu geeignet, Diskurse zu bestimmen und Meinungsbildung zu beeinflussen. Über das Feuilleton schreibt Almut Todorow: »Im Feuilleton findet eine kurzzeitige, auf effektive Vermittlung der gesellschaftlichen Alltagspraxis gerichtete Kommunikation ihren Platz, mittels der aber auch komplexe Anliegen der Gesellschaft wie Kontinuitäten und Wandlungen, Stile, Moden, Erfahrungen, Widersprüche, Macht und Abhängigkeiten, soziale Rollen, Selbstverständigungen und Ideologien erörtert werden – ein kulturpublizistischer Diskurs, der im Feuilleton seinen Niederschlag findet, hier aber auch initiiert und mit anderen Diskursen vernetzt wird und seine eigene Dynamik in der Gesellschaft entfaltet.«28 Todorow spricht zwar nicht explizit von Öffentlichkeit, aber in der Bedeutung vergleichbar von Gesellschaft. Diskurse, so Todorow, entfalten innerhalb des Feuilletons eine ›eigene Dynamik‹, was auf die Beweglichkeit von Diskursen, damit auch auf den wechselseitigen Prozess der Diskursbildung, abzielt. Auf die Medien-Öffentlichkeit im Allgemeinen bezieht sich das Bundesverfassungsgericht in einem Urteil vom 5. August 1966. Es schreibt der Presse eine zentrale Rolle in öffentlichen Aushandlungsprozessen zu: »Soll der Bürger politische Entscheidungen treffen, muß er umfassend informiert sein, aber auch die Meinungen kennen und gegeneinander abwägen können, die andere sich gebildet haben. Die Presse hält diese ständige Diskussion in Gang; sie beschafft die Information, nimmt selbst dazu Stellung und wirkt damit als orientierende Kraft in der öffentlichen Auseinandersetzung. In ihr artikuliert sich die öffentliche Meinung; die Argumente klären sich in Rede und Gegenrede, ge-

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Elisabeth Noelle-Neumann: Wirkung der Massenmedien, in: Fischer Lexikon Publizistik, S. 379f. – Noelle-Neumann bezieht sich auf Hans Matthias Kepplinger und Verena Martin: Die Funktionen der Medien in der Alltagskommunikation, in: Publizistik, 31, 1986, S. 118–128. Almut Todorow: Das Feuilleton der »Frankfurter Zeitung« in der Weimarer Republik. Zur Grundlegung einer rhetorischen Medienforschung, Tübingen: Niemeyer, 1996, S. 4.

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winnen deutliche Konturen und erleichtern so dem Bürger Urteil und Entscheidung.«29 Nun handelt es sich bei Musiktheaterkritiken nicht um eine sachliche und nach journalistischem Kodex wertneutrale Berichterstattung über ein politisch relevantes Ereignis. Auch lassen sich in Musiktheaterkritiken in der Regel keine stringenten Argumentationsstrukturen nachweisen. Zwar geht es um die Bewertung eines Ereignisses, allerdings aus der Sphäre der Kunst – eine wertneutrale Bewertung ist gundsätzlich nicht möglich und scheitert, wenn nicht bereits am Mangel an einheitlich anerkannten Kriterien, dann aber an bisweilen gegensätzlicher subjektiver Einschätzung des Dargebotenen. Hinzu kommt, dass die Kritik in der Reflexion von Kunst selbst ein künstlerisches Medium darstellt, was sich besonders am poetischen Moment der Sprache innerhalb der Kritiken zeigt, aber auch durch humorvolle und anspielungsreiche Formulierungen.30 Die Musiktheaterkritik ist ein eigenes literarisches Genre, das zwischen künstlerischem Ausdruck und suggeriertem wissenschaftlichen Instrument der Analyse changiert. Eine sprachlich besonders poetisch, klang- und gleichzeitig humorvolle Einschätzung einer Aufführung der Oper La Bohème lautet zum Beispiel: Dieses »Musiktheater-Stück ist so italienisch wie Sauerkraut deutsch ist. Und es soll Menschen geben, die diese Oper furchtbar finden. Ich finde sie auch furchtbar. Aber furchtbar schön. Selbst diese Inszenierung […] kann die Musik Puccinis nicht völlig platt machen. Obwohl das Orchester […] das eruptiv-poetische Sentiment dieses opulenten musikalischen Stimmungsgemäldes auf der emotionslosen Ebene von Tiefkühlkost einfriert.«31 Es ist bemerkenswert, dass der Kritiker sich dezidiert und persönlich – ›ich‹ – gegen andere Stimmen für die ›Schönheit‹ des Werks einsetzt. Diese Beobachtung sei an dieser Stelle nur kursorisch angemerkt. Auffällig ist insbesondere im Zusammenhang mit der zuvor zitierten Einschätzung Todorows, dass selbst dieser ›poetische Abschnitt‹ andere Diskurse aufgreift, hier beispielsweise nationale Stereotype bemüht und somit weitreichendere Narrative transportiert als lediglich einen künstlerischen Reflex auf ein musiktheatrales Ereignis. Vergleichbar mit diesem Beispiel

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BVerfGE 20, 162 (Spiegel-Urteil vom 5. August 1966). Siehe zum ›poetischen‹ Moment beispielsweise auch die Selbsteinschätzungen von Theaterkritiker*innen bei Vasco Boenisch, aus denen besonders deutlich wird, dass die poetische Komponente einer Kritik für Kritiker*innen eine große Rolle spielt. – Vasco Boenisch: Krise der Kritik? Was Theaterkritiker denken – und ihre Leser erwarten, Berlin: Theater der Zeit [= Recherchen 63], S. 147–150. Bernd Hielscher: »Erbärmlicher Pinsel«, schimpft Marcel. Passauer Oper präsentiert Puccinis »La Bohème« im Punk-Look, in: Straubinger Tagblatt, 19.11.1993.

II Material und Methode

sind auch die schließenden Worte einer Kritikerin, die sich durch Personen im Publikum in ihrer Rezeption des Musiktheaters gestört fühlte: »Insgesamt eine großartige Leistung [der Ausführenden], die zu Recht mit begeistertem Applaus […] des überwiegend jungen Publikums bedacht wurden. Darunter auch geistig Behinderte. Sie gehören inzwischen fest zum Nienburger Theaterpublikum. Eine gute Sache. Doch sollte – zumindest bei Opern- und anderen musikalischen Aufführungen – einiges neu überdacht werden. Spaßiges Theater für Kinder, wo Tumult und lautstarke Zwischenrufe in den Zuschauerreihen einfach dazugehören, ist das eine. Dasselbe im Musiktheater, wo feinste Nuancen musikalischer Stimmungen von Sängern wie Publikum gleichermaßen abhängig sind, ist das andere.«32 Dieser beispielhalber angeführte Ausschnitt verweist über die Kritik und die Aufführung hinaus auf gesellschaftliche Diskurse außerhalb des Dispositivs des Musiktheaters, etwa Generationengerechtigkeit oder gesellschaftliche Teilhabe. Der Kommentar der Kritikerin zeigt darüber hinaus auch, dass eine Geräuschkulisse aus dem Publikum bei einer Musiktheateraufführung offensichtlich nicht erwünscht ist. Die Beispiele implizieren, dass innerhalb der Musiktheaterkritiken gesellschaftliche Aushandlungsprozesse stattfinden; und zwar unabhängig von einer spezifischen Aufführung. Das folgende Kapitel widmet sich der Musiktheaterkritik als Ort, an dem der Geltungsanspruch des Musiktheaters verhandelt wird.

2. Die Zeitungskritik als Medium der Legitimation des Musiktheaters Musiktheater ist eine flüchtige Kunst. Was nach einer Vorstellung bleibt – so könnte argumentiert werden –, ist lediglich die Musiktheaterkritik, die dieses ephemere Ereignis zu dokumentieren sucht.33 Diese basale Funktion der Musiktheaterkritik zeigt, dass sie bereits als Genre und Praktik, d. h. durch das Vorhandensein ihrer verschriftlichten Form im Feuilletonteil der Zeitungen, den Geltungsanspruch des Musiktheaters festigt und dieses legitimiert. Dieser sehr einfache Gedankengang rückt die Kritik funktional auf eine vergleichbare Ebene mit Fördervereinen an Opernhäusern, Musikhochschulen und ihren Ausbildungsprogrammen, Opernstudios zur Nachwuchsförderung oder mit der Spielplangestaltung für junges Publikum. Auch die ›Wiederentdeckung‹ bzw. ›Ausgrabung‹ historischer Opern steht in

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Tonka Angheloff: Von kalter Mansarde in triste Hütte, in: Die Harke, Nienburg, 22.11.1991. Vasco Boenisch: Krise der Kritik? Was Theaterkritiker denken – und ihre Leser erwarten, Berlin: Theater der Zeit [= Recherchen 63], S. 36.

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Musiktheater und Legitimation im Diskurs

legitimierender Funktion für das Dispositiv des Musiktheaters ein.34 Der Abdruck der Musiktheaterkritiken als Berichterstattung im Feuilleton bildet gewissermaßen den ›Wert‹ bzw. die Relevanz von Musiktheater ab. Julia Spinola stellt plakativ fest: »Was nicht in der Zeitung steht, findet nicht statt.«35 Sie bezieht sich damit nicht nur auf den flüchtigen Charakter von Musiktheateraufführungen, sondern beschreibt in Bezug auf Musiktheaterwerke vielmehr eine immer größer werdende Diskrepanz zwischen ›medialen und realen Gesellschaftsbildern‹.36 Zunächst kann im Umkehrschluss auch anhand dieser Beobachtung die Bedeutung dessen gemessen werden, was letztendlich in der Zeitung abgedruckt wird; mediale Berichterstattung verleiht Sichtbarkeit und dient der Relevanzproduktion in Bezug auf das besprochene Ereignis. Sodann erscheint es überlegenswert, ob der Gedanke Spinolas, der sich auf die Korrelation von Berichterstattung und Sichtbarkeit und damit auf die Abgrenzung zwischen unterschiedlichen Opernaufführungen konzentriert, nicht auch in Bezug auf das Dispositiv umgewandelt werden kann. Denn es wäre durchaus denkbar, dass die von Spinola beschriebenen ›medialen Gesellschaftsbilder‹ als Pars pro Toto für die ›realen‹ gelesen werden können: Die in den Kritiken besprochenen Opern stehen dann in legitimierender Funktion für das Dispositiv des Musiktheaters im Allgemeinen ein und rechtfertigen somit gewissermaßen auch die Aufführungen, über die nicht in der Zeitung berichtet wird. Die Musikkritik nach 1945 ist – und das gilt sowohl für Kritiken in der Fachals auch in der Tages- und Wochenpresse – zwar nur wenig erforscht, der Aspekt der Vermittlung spielt in den einschlägigen Publikationen allerdings durchgängig eine zentrale Rolle. Lutz Lesle etwa richtet in seiner 1984 erschienenen Studie Der Musikkritiker – Gutachter oder Animateur? den Blick auf die Leser*innen der Kritiken und entwirft eine »publikumspädagogische Handlungstheorie«37 , bei der er den Standpunkt vertritt, dass der Musikkritiker seine pädagogische Rolle maßgeblich in der ästhetischen Vermittlung neu komponierter Musik an den Zuhörer wahrnehmen solle.38 Neben musikwissenschaftlichen Studien zur Musikkritik greifen auch

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Dazu exemplarisch die Programmatik des Intendanten Peter Theiler: Peter Theiler: Grußwort, in: »Hier gilt’s der Kunst«. Aktuelle Entwicklungen der Musiktheaterkritik, hg. von Franz R. Stuke, Christoph Dittmann und Jan Ehlert, Bochum: Europäischer Universitätsverlag, 2006, S. 11. Julia Spinola: Schafft sich die Musikkritik ab? Zur Krise des Musikjournalismus in den Printmedien, in: Musik & Ästhetik, hg. von Ludwig Holtmeier, Richard Klein und Claus-Steffen Mahnkopf, 17. Jahrgang, Heft 66, April 2013, Klett-Cotta Stuttgart, S. 96–103, hier: S. 102. Ebd. Lutz Lesle: Der Musikkritiker – Gutachter oder Animateur? Aspekte einer publikumspädagogischen Handlungstheorie der Musikpublizistik, Hamburg: Verlag der Musikalienhandlung Karl Dieter Wagner, 1984. Auf die erzieherische Wirkung von Kritiken wurde mit Verweis auf andere Autoren beispielsweise bereits von Dolinski hingewiesen. – Kurt Dolinski: Die Anfänge der musikalischen

II Material und Methode

Musikinstitutionen diese Funktion bzw. Rolle der Kritik als Vermittlungsinstanz prominent auf. So führt etwa das Musikinformationszentrum unter der Rubrik ›Institutionen des Musiklebens‹ u. a. den Bereich ›Presse- und Publikationswesen‹ auf, dem wiederum die Rubrik ›Tages- und Wochenzeitungen‹ untergeordnet ist. Hier findet sich ein Datensatz mit 169 Zeitungen, bei denen jeweils die Ressortleitung der Feuilletons sowie die für den Musikbereich verantwortlichen Redakteure aufgeführt sind.39 Die Aufgabe der Tages- und Wochenzeitungen ist dabei klar definiert: Sie »spielen im Bereich der Information und Berichterstattung über musikalische Ereignisse und Veranstaltungen eine zentrale Vermittlerrolle.«40 Und auch im Rahmen einer praktischen Grundlagenpublikation zum Musikjournalismus wird im Abschnitt ›Musikjournalismus in Print und Internet‹ festgestellt, dass der Kritiker »mehr denn je als Vermittler gefragt«41 sei. Dieses letzte Zitat ist bei genauer Betrachtung besonders interessant. Handelt es sich bei der weit verbreiteten Auffassung, die die Kritik als Organ der Vermittlung klassifiziert, bereits um Relevanzproduktion des Musiktheaters, so zeigt der Ausdruck, dass ›mehr denn je‹ vermittelt werden müsse, auch einen erhöhten Rechtfertigungsdruck, d. h. eine dringliche Notwendigkeit der Vermittlung von Bühnenaktionen sowie künstlerischen Handlungen an ein – vermeintlich oder tatsächlich der Erklärungen bedürftiges – Publikum. Diese basale Eigenschaft der Musikkritik im

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Fachpresse in Deutschland. Geschichtliche Grundlagen, Berlin: Hermann Schmidt’s Buchund Kunstdruckerei, 1940, S. 55. Siehe http://www.miz.org/institutionen/tageszeitungen-wochenzeitungen-s74-p0, zuletzt aufgerufen am 26.4.2016. http://www.miz.org/institutionen/tageszeitungen-wochenzeitungen-s74-p0, zuletzt aufgerufen am 26.4.2016. – Darüber hinaus finden sich auf der Internetpräsenz weitere 206 Datensätze zu Periodika zur Musik und angrenzenden Gebieten. Artikel zur Musik und speziell zum Musiktheater finden sich darüber hinaus auch vereinzelt in Zeitschriften, die hier nicht aufgeführt werden: So etwa in der Wirtschaftswoche oder in Zeitschriften von großen Unternehmen und Verbänden (etwa im Kundenmagazin der Deutschen Bahn). Andreas Kolb: Bericht, Kommentar, Kritik, in: Musikjournalismus, hg. von Peter Overbeck, Konstanz: UVK Verlagsgesellschaft, 2005, S. 253. – Um diese ›Kunst‹ zu verdeutlichen, insbesondere aber um zu zeigen, dass Vermittlung »nur im Kontext mit dem Urheber und dessen Werk geschehen kann,« (ebd., S. 253f.) folgt eine zweiseitige Stellungnahme des Komponisten Wolfgang Rihm zur Musikkritik (ebd., S. 254f.), in welcher er sein eigenes Verständnis zur Musikkritik äußert, das durch den Kontext des Buches vermittelt offensichtlich Kritiker*innen zur Orientierung dienen soll. Dieses Beispiel zeigt, wie dominant sich die ästhetischen Positionen zeitgenössischer Komponist*innen im Musikbetrieb niederschlagen und gerade durch Musikkritiker*innen veröffentlicht werden. – Im Übrigen ist dieses Phänomen auch im wissenschaftlichen Kontext anzutreffen, wenn Wissenschaftler*innen Positionen von Komponist*innen in ihre Studien übernehmen, ohne diese zu reflektieren. – Siehe dazu Frank Hentschel: Neue Musik in soziologischer Perspektive: Fragen, Methoden, Probleme, in: Neue Zeitschrift für Musik 5/2010, S. 38–42, hier S. 42.

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Musiktheater und Legitimation im Diskurs

Allgemeinen und der Musiktheaterkritik im Besonderen, nämlich Organ der Vermittlung zu sein, ist ein weiteres deutliches Argument für die Anerkennung der Musiktheaterkritik als Legitimationsinstanz des Musiktheaters. Denn Vermittlung bedeutet in erster Linie das Erklären und Nahebringen von etwas, das der oder die Erklärende für wichtig erachtet und von dem der bzw. die Erklärungsempfänger*in überzeugt werden muss. Zwischen beiden Parteien herrscht ein unausgewogenes Wissensverhältnis; der bzw. die Erklärende verfügt gegenüber der bzw. dem Erklärungsempfänger*in über einen Wissensvorsprung hinsichtlich des Gegenstands. Dieser Wissensunterschied ist dabei für Legitimationsprozesse zentral. So stellen Berger und Luckmann etwa fest, dass das Problem der Legitimation nämlich unweigerlich erst dann entsteht, wenn »die Vergegenständlichung einer (nun bereits historischen) institutionalen Ordnung einer neuen Generation vermittelt werden muß. Zu diesem Zeitpunkt kann […] der Gewißheitscharakter der Institution nicht länger mehr mittels Erinnerung und Habitualisierung des Einzelnen aufrechterhalten werden. Die Einheit von Lebenslauf und Geschichte zerbricht. Um sie wieder herzustellen, muß man zu der institutionellen Überlieferung übergehen. Legitimierung ist der Prozeß dieses Erklärens und Rechtfertigens.«42 Diese diskursiven Prozesse des Erklärens und Rechtfertigens und damit explizite sowie implizite diskursive Strategien der Legitimation des Musiktheaters finden ihren Niederschlag im Text der Kritiken, das heißt in den sich an eine Öffentlichkeit richtenden Besprechungen spezifischer Aufführungen des Musiktheaters. Die Musik- und Opernkritik – folgt man dem Verständnis von Musikkritik als einem sich in regelmäßig erscheinenden Zeitschriften kondensierenden »Diskurs bürgerlicher Musikkultur«43 – entstand im 18. Jahrhundert im deutschsprachigen Raum etwa zeitgleich mit der Entwicklung des öffentlichen Konzert- und Opernwesens. Musik wurde Teil der öffentlichen Lebenswelt eines gebildeten Publikums jenseits etablierter Formen des Musikerlebens, das heißt jenseits religiöser Rituale, höfischer Musik und privater Hauskonzerte.44 Diese Form der Musik wurde so42

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Peter Berger und Thomas L. Luckmann: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissensoziologie, Frankfurt a. M.: Fischer Taschenbuch Verlag, 2013, S. 99f. – Bei der Arbeit mit diesem Text wurde insbesondere wegen zentraler Begriffe parallel die amerikanische Originalversion The Social Construction of Reality herangezogen. – Siehe auch Peter L. Berger und Thomas Luckmann: The Social Construction of Reality. A Treatise in the Sociology of Knowledge, 1967, New York: Anchor Books. Ulrich Tadday: Zum Terminus Musikkritik, in: Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Allgemeine Enzyklopädie der Musik, Sachteil, Bd. 6, 2. Aufl., hg. von Ludwig Finscher, Kassel/ Stuttgart: Bärenreiter/Metzler, 1994–2008 (1997), Sp. 1365–1368, hier Sp. 1365. Hansjörg Drauschke: Aus dem Geist der Rhetorik und Aufklärung. Musikkritik als Vorschein einer besseren Welt, in: ÖMZ 66/6, 2011, S. 6–15, hier S. 6.

II Material und Methode

dann »in ästhetischer Hinsicht erklärungsbedürftig«45 und so spielte der Aspekt der Vermittlung für die Musiktheaterkritik seit den Anfängen des Genres eine wichtige Rolle. Musikästhetische Aushandlungsprozesse, die beispielsweise der Legitimation bestimmter Opernstile dienten, wurden in öffentlich geführten Debatten ausgetragen – etwa im Zusammenhang mit dem Buffonistenstreit Mitte des 18. Jahrhunderts in Paris, der ein symptomatisches Beispiel für den Aushandlungsprozess der Vorherrschaft unterschiedlicher, an die Identität einer Nation gebundener musikästhetischer und stilistischer Ausprägungen darstellt.46 Dieser Streit zwischen Apologeten der französischen respektive der italienischen Oper beeinflusste seinerzeit auch den deutschsprachigen Raum, wo sich – neben der regelmäßigen Aufführung genuin italienischer respektive französischer Opern – eine eigenständige Operntradition entwickelte, die sich durch die Kombination des italienischen mit dem französischen Stil auszeichnete. Trotz der allgemeinen ästhetischen Anerkennung der Kombination verschiedener Stile als Schaffensprinzip, mit der die Begründung eines eigenen deutschen Stils einherging, »bedurfte das eklektische Prinzip der Rechtfertigung«47 – einerseits in Abgrenzung zu den zwei Stilen, aus denen es sich zusammensetzte, andererseits durch die Bestimmung verschiedener Urteilskriterien, die insbesondere der Kombination beider Stile eine musikästhetische Vorherrschaft attestierten.48 Ästhetisch motivierte Rechtfertigungsdebatten dieser Art schlugen sich in der zeitgenössischen musikalischen Fachpresse nieder, die sich zwar zunächst ausschließlich an Kenner und Musikspezialisten richtete, allerdings bald auch an Musikliebhaber, wobei sodann neben ästhetischen Aspekten auch soziale Gesichtspunkte Berücksichtigung fanden.49 In der Zeitschrift Wöchentliche Nachrichten und Anmerkungen die Musik betreffend (1766–1770) wurden etwa sowohl Aufführungs- und Werkkritiken als auch musikalische Nachrichten veröffentlicht, welche die kommunikative Funktion der Texte in den Mittelpunkt stellten und insbesondere Hintergrundinformationen zu den besprochenen musikali45

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Ulrich Tadday: Musikkritik in Deutschland. Das 18. Jahrhundert, in: Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Allgemeine Enzyklopädie der Musik, Sachteil, Bd. 6, 2. Aufl., hg. von Ludwig Finscher, Kassel/Stuttgart: Bärenreiter/Metzler, 1994–2008 (1997), Sp. 1368–1370, hier Sp. 1368. Der Buffonistenstreit (Querelle des Bouffons) bezeichnet eine Auseinandersetzung zwischen 1752 und 1754 in Paris, bei der die Vorherrschaft von italienischer und französischer Oper, bzw. höfischer und bürgerlicher Oper ausgehandelt wurde. Hansjörg Drauschke: Aus dem Geist der Rhetorik und Aufklärung. Musikkritik als Vorschein einer besseren Welt, in: ÖMZ 66/6, 2011, S. 6–15, hier S.8. Ebd. Ulrich Tadday: Musikkritik in Deutschland. Das 18. Jahrhundert, in: Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Allgemeine Enzyklopädie der Musik, Sachteil, Bd. 6, 2. Aufl., hg. von Ludwig Finscher, Kassel/Stuttgart: Bärenreiter/Metzler, 1994–2008 (1997), Sp. 1368–1370, hier Sp. 1369. – Tadday verweist darauf, dass zahlreiche Titel der Fachzeitschriften eine Form des Begriffs ›Kritik‹ tragen.

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Musiktheater und Legitimation im Diskurs

schen Begebenheiten lieferten.50 Diese nach unserem heutigen Verständnis feuilletonistische Form der Kritik richtete sich dezidiert nicht an Musikspezialisten, sondern an den musikalisch interessierten Laien. Neben der inhaltlichen Gewichtung zu Gunsten von sozialen Aspekten wurde auch der bis dahin in Fachkritiken übliche Jargon angepasst. So reflektierte der Herausgeber der Wöchentlichen Nachrichten beispielsweise die Angemessenheit der Sprache für seine Leserschaft.51 Diese historische Momentaufnahme verdeutlicht zweierlei: Auf der einen Seite wird durch die Überlegungen zur Sprache innerhalb der Kritiken und damit zu den Adressat*innen deutlich, dass der Aspekt der Vermittlung, wie er zuvor als Relevanzproduktion beschrieben wurde, bereits aus historischer Perspektive eine zentrale Eigenschaft der Musikkritik darstellte. Auf der anderen Seite zeigt sich durch die gewählten Beispiele, dass ästhetische Debatten zum Zweck der Legitimation (bestimmter Formen) des Musiktheaters bereits zur Zeit der Anfänge der feuilletonistischen Kritik innerhalb der Musikkritiken ausgetragen wurden. Dieser letztgenannte Aspekt wird im weiteren Verlauf dieses Kapitels anhand einer Bohème-Kritik aus dem untersuchten Kritikenkorpus näher erläutert. An dieser Stelle soll zunächst eine überraschende Auffälligkeit in den Fokus gerückt werden: Bemerkenswert ist, dass der überwiegende Teil der untersuchten Musiktheaterkritiken positiv ausfällt. Vereinzelte negative Bemerkungen innerhalb einer Kritik sind zwar üblich, trüben jedoch in der Regel den positiven Gesamteindruck nicht. Eine plausible Erklärung dafür, dass die Musiktheaterkritiken in der Regel ein positives Bild abgeben, könnte in der Struktur des Musiktheaters als plurimedialer Kunstform und in der äußerst differenzierten Bewertung einzelner Aspekte durch die Kritiker*innen liegen. Es ist äußerst selten, dass eine Aufführung nahezu samt aller ihrer Komponenten negativ bewertet wird.52 Nach einer kritischen Beurteilung einzelner Aspekte heiligt zumeist die Gesamtbewertung, d. h. der Gesamteindruck einer Aufführung auch ihre ggf. nicht überzeugenden Anteile. Sofern das Gesamturteil der Kritiker*innen in äußerst seltenen Fällen doch negativ

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Ebd. Ebd., Sp. 1370. Zu einer vergleichbaren Feststellung in Bezug auf die Musikkritik kommt Julia Spinola – Julia Spinola: Schafft sich die Musikkritik ab? Zur Krise des Musikjournalismus in den Printmedien, in: Musik & Ästhetik, hg. von Ludwig Holtmeier, Richard Klein und Claus-Steffen Mahnkopf, 17. Jahrgang, Heft 66, April 2013, Klett-Cotta Stuttgart, S. 96–103, hier S. 96. – Siehe auch die Beobachtung von Mathias Döpfner zur Musikkritik, insbesondere in Bezug auf Neue Musik – Mathias O. C. Döpfner: Musikkritik in Deutschland nach 1945. Inhaltliche und formale Tendenzen. Eine kritische Analyse, Frankfurt a. M.: Peter Lang, 1991, S. 288–295. – Für die Kritik im Sprechtheater scheint sich jedoch ein anderes Bild zu ergeben. – Siehe bspw. die Untersuchung von Boenisch – Vasco Boenisch: Krise der Kritik? Was Theaterkritiker denken – und ihre Leser erwarten, Berlin: Theater der Zeit [= Recherchen 63].

II Material und Methode

ist, wird eine solche Bewertung jedoch durch den regelmäßigen Verweis auf positive Publikumsreaktionen abgeschwächt, was wiederum dagegenspricht, eine solche Kritik gemeinhin als Verriss zu klassifizieren. Allein schon diese Beobachtung lässt vermuten, dass die zeitgenössische Musiktheaterkritik vermehrt die Funktion einer übergeordneten Selbstvergewisserung des Rezensierten eingenommen hat. Im Sprechtheater herrscht offensichtlich eine vom Musiktheater abweichende Kritikkultur. Zumindest scheinen Verrisse und explizit negative Kritik als Gesamtschau auf ein Theaterereignis die Theaterkritik durchaus zu bestimmen, wodurch sie hinsichtlich des Geltungsanspruchs eines Theaters auch stark kulturpolitisch wirken kann – etwa wenn es um öffentliche Subventionen geht. Diesen Einfluss von Theaterkritiken zeichnet Ulrich Roloff-Momin nach, der als Kultursenator die Schließung des Schiller-Theaters in Berlin begleitet und 1993 politisch umgesetzt hat. Auch wenn sein Aufsatz mit einer gewissen Distanz gelesen werden sollte – bisweilen klingt die Aneinanderreihung negativer Zeitungsausschnitte wie ein Verteidigungspamphlet für seine kulturpolitische Entscheidung als Kultursenator (sein Alias ›Schiller-Killer‹ scheint sich bis heute zu halten) –, so deuten die Ausschnitte und seine Darstellung unzweifelhaft auf das Potential von Kritiken, Geltungsansprüche durch die Bewertung künstlerischer Leistung zu legitimieren oder zu delegitimieren. Roloff-Momin schreibt: »Es ließen sich buchstäblich Seiten füllen mit Prophezeiungen und Drängen auf Schließung, sowie massiver Kritik an den Inszenierungen der drei staatlichen Schauspielbühnen – und dies in diversen Zeitungen gleichermaßen.«53 Die Kritikerin Anne Midgette verknüpft durchweg positive Rezensionen mit einem Mangel an Kriterien für die Beurteilung von Musiktheater. Insbesondere beklagt sie, dass die Musikkritiker*innen an diesem Mangel litten und verdeutlicht ihre Diagnose anhand eines Musikkritikers, der seine eigene zunächst negative Opernkritik nach zahlreichen positiven Reaktionen auf die rezensierte Aufführung

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Ulrich Roloff-Momin: Theaterkritik – Wegweiser für Kulturpolitik?, in: Alles Theater? Bühne, Öffentlichkeit und die Kritik, hg. von Franz R. Stuke, Münster: Daedalus-Verlag, 1997 [= Kommunikation im Gespräch, Bd. 2], S. 214–225, hier S. 215.

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Musiktheater und Legitimation im Diskurs

wohlwollend anpasste.54 Allerdings zeichnet sich der von Midgette konstatierte ›Kriterienmangel‹, also die Ablösung von allgemeingültigen bzw. falsifizierbaren Kriterien eines objektiven Wertesystems durch subjektive Geschmacksurteile, bereits deutlich an der Schwelle vom 18. zum 19. Jahrhundert ab und ist somit kein genuines Phänomen der kontemporären Opernlandschaft. Aus legitimationstheoretischer Perspektive und hinsichtlich der Beurteilungskriterien ist der von Klaus Rönnau beschriebene Bruch zur Beurteilung von Opern in der Musikkritik zu Beginn des 19. Jahrhunderts für die heutige Kritik aufschlussreich: Die bis zu diesem Zeitraum angelegten Urteilskriterien in Anlehnung an die mehr oder weniger nachvollziehbar strukturierte Nachahmungslehre (künstlerische, nach handwerklichen Maßstäben bestimmbare Kriterien) wurden von allgemeinen Kriterien abgelöst, welche sich an weitgehend unbestimmbaren Begriffen orientierten und sich der objektiven Falsifizierung widersetzten: im Zentrum stand etwa der »Begriff des Charakteristischen«55 als Kriterium der Beurteilung und auch in »der Forderung, daß die Oper […] ein ›Ganzes‹ sei, gewann man einen gattungstypischen, überzeitlichen Wertmaßstab«56 . Besonders interessant ist auch Rönnaus Beobachtung, dass insbesondere der strategische Rückgriff auf »die Maximen der Nachahmungslehre, nach denen [ein] Werk abgeurteilt [wurde,] allein dazu zu dienen [schien], das aus anderen Ursachen entstandene Unbehagen an der Oper nachträglich zu rechtfertigen«57 – ein Indiz dafür, dass die angelegten Bewertungskriterien für die Aufrechterhaltung eines Urteils willkürlich angepasst wurden. Wie sehr Geschmacksurteile in der zeitgenössischen Kritik eine Rolle spielen, wird durch die folgende Gegenüberstellung zweier Kritiken zur identischen Aufführung im Pfalztheater Kaiserslautern deutlich. Es ist davon auszugehen, dass beide

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It »is not only the public that suffers from lack of criteria. Munich’s leading music critic is said to have written a terrible review of the premier of Reimann’s Lear. He then pulled the article and rewrote it when he realized how positively other people were responding« – Midgette, Anne: Deadly Earnest. On the Contemporary German Opera Scene, in: Opera News/The Metropolitan Opera Guild, New York: 1994, Juni, S. 40–42, hier S. 41. – Anhand dieser beschriebenen Anpassung der Bewertung erschließt sich der Prozess der öffentlichen Meinungsbildung als Prozess der ›sozialen Kontrolle‹ bzw. »als Konformitätsdruck, als Integrationsmittel der Gesellschaft«. – Elisabeth Noelle-Neumann: Öffentliche Meinung, in: Politische Kommunikation in der demokratischen Gesellschaft. Ein Handbuch mit Lexikonteil, hg. von Otfried Jarren, Ulrich Sarcinelli, Ulrich Saxer, Opladen/Wiesbaden: Westdeutscher Verlag 1998, S. 81–94, hier S. 84. Klaus Rönnau: Grundlagen des Werturteils in der Opernkritik um 1825, in: Beiträge zur Geschichte der Oper, hg. von Heinz Becker, Regensburg 1969: Gustav Bosse Verlag [= Studien zur Musikgeschichte des 19. Jahrhunderts, Band 15, Forschungsunternehmen der Fritz Thyssen Stiftung, Arbeitskreis Musikwissenschaft], S. 35–43, hier S. 36. Ebd., S. 39. Ebd., S. 37.

II Material und Methode

Rezensent*innen die Premiere besucht haben. Das Beispiel zeigt, dass die Rezensent*innen vergleichbare Kriterien für ihre Bewertung anlegen, auch wenn das Urteil letztendlich diametral ausfällt: So ist in der einen Kritik etwa von ›orkanartigen Beifallsstürmen‹ die Rede, welche die Kritikerin vermuten lässt, »daß Alan Menkens Musical ›Der kleine Horrorladen‹ […] ein Renner werden wird. [Denn da] wurde aber auch nichts ausgelassen, was diese Mischung aus Parodie und Persiflage, Dichtung und Wahrheit erfolgreich auf die Bühne bringen kann.«58 Im Gegensatz dazu stellt der andere Kritiker fest: »Eigentlich müßte die amerikanische Traumgeschichte […] zünden wie ein zweieinhalbstündiger Knallfrosch.«59 Die »Inszenierung für das ›Pfalztheater Kaiserslautern‹ lahmt […].«60 Auch in der weiteren Beschreibung und Bewertung der Aufführung lesen sich beide Kritiken als Gegensätze. Die Arbeit des Regisseurs etwa habe einerseits »atemberaubendes Tempo, auf den jeweiligen Typ maßgerecht zugeschnittene Personenführung, pausenloses Nach- und Nebeneinander witziger, auch die pure Klamotte nicht scheuender Einfälle«61 , während dann andererseits wie folgt kommentiert wird: »Witzige Einfälle sind eher rar […]. Die Personenführung gleicht über weite Strecken einem beliebigen Hin- und Hergerenne ohne konkrete Absicht, Ziel und Zweck«62 . Darüber hinaus wird auch die musikalische Umsetzung unterschiedlich kommentiert: »Ebenfalls bestens vermittelt wurde die kunstvoll-schlichte Musik«63 , heißt es in der einen Kritik, während in der anderen Kritik die musikalische Umsetzung »den Drive nicht aufkommen [lässt], den gerade dieses Musical nötig hat.«64 Die Gegenüberstellung dieser zwei Kritiken zeigt einerseits besonders deutlich, dass subjektive Geschmacksurteile bei der Bewertung einer Aufführung eine Rolle spielen. Andererseits orientieren sich beide Kritiker*innen an identischen Kriterien. Auch wenn die Wahrnehmung der Aufführung im Vergleich sehr unterschiedlich ausfällt, nehmen beide Rezensent*innen folgende Charakteristika des Musicals in Augenschein: Erstens den Aspekt der Unterhaltung, zweitens die inszenatorisch-kreative Umsetzung durch den Regisseur, drittens die musikalische Präsentation. Es wird also deutlich, dass die Kriterien je nach beabsichtigter Aussage bzw. je nach beabsichtigtem Urteil evaluiert werden und es bei der Beurteilung bis hin zu diametralen Abweichungen kommen kann. Die hohe Anpassungsfähigkeit der Bewertung, wie sie in diesem Beispiel deutlich 58 59 60 61 62 63 64

Marlott Persijn-Vauz: Zum Fürchten gruselig! Josef Köpplinger inszeniert das Musical »Der kleine Horrorladen« in Kaiserslautern, in: Die Rheinpfalz, 07.03.1994. Boris Kehrmann: In diesem ›Horrorladen‹ geht es müde zu, Saarbrücker Zeitung, 08.03.1994. Ebd. Marlott Persijn-Vauz: Zum Fürchten gruselig! Josef Köpplinger inszeniert das Musical »Der kleine Horrorladen« in Kaiserslautern, Die Rheinpfalz, 07.03.1994. Boris Kehrmann: In diesem ›Horrorladen‹ geht es müde zu, Saarbrücker Zeitung, 08.03.1994. Marlott Persijn-Vauz: Zum Fürchten gruselig! Josef Köpplinger inszeniert das Musical »Der kleine Horrorladen« in Kaiserslautern, Die Rheinpfalz, 07.03.1994. Boris Kehrmann: In diesem ›Horrorladen‹ geht es müde zu, Saarbrücker Zeitung, 08.03.1994.

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Musiktheater und Legitimation im Diskurs

wird, ermöglicht also stets positive Kritik und eröffnet dadurch auch stets die Möglichkeit das Musiktheater zu legitimieren. An dieser Stelle sei vorausgreifend angemerkt, dass auch die Kriterien, die zur Bewertung herangezogen werden, variabel sind und Raum für die flexible Entfaltung diskursiver Legitimationsstrategien geben. So legen unterschiedliche Kritiker*innen etwa für ihre Bewertung einer La Bohème-Aufführung unterschiedliche Kriterien an – beispielsweise ›Unterhaltung‹ versus ›Anspruch‹. Der ›Kriterienmangel‹, den Midgette in ihrem Artikel darlegt, verweist auf die im Umfeld der Kritiker*innen häufig diskutierte ›Krise bzw. Kritik der Kritik‹, bei der der Aspekt der Legitimation eine besondere Rolle einnimmt.65 Auch wenn die65

Die meisten Studien und Aufsätze, die Musikkritik nach 1945 behandeln, wurden von Musikwissenschaftler*innen oder Schulmusiker*innen verfasst, die gleichzeitig erfahrene Musikkritiker*innen sind. Ulrich Saxer bemerkt dies ebenfalls zu Beginn seiner Studie über Kunstberichterstattung aus publizistikwissenschaftlicher Perspektive. So schreibt er: »Wohl über kaum ein zweites publizistikwissenschaftliches Interessengebiet wurde und wird so brillant, aber auch unsystematisch, einfallsreich, indes empirisch dürftig, und häufig, aber auch widersprüchlich berichtet.« Insbesondere stammt die überwiegende Mehrheit der »Verfasser […] aus der Kritikergilde selber.« – Ulrich Saxer: Kunstberichterstattung. Analyse einer publizistischen Struktur, Zürich: Seminar für Publizistikwissenschaft der Universität Zürich, 1995, [= Diskussionspunkt, Bd. 29], S. 1. – Durch die nötige, sehr spezifische akademische Ausbildung strahlen Musikkritiker*innen als Expert*innen eine gewisse Autorität aus. Unter dem Kapitel »Musikwissenschaftliche Berufsfelder« wird u. a. auch »Musikjournalismus« als berufliche Option für Studierende der Musikwissenschaft angegeben. In deutlicher Abgrenzung zu wissenschaftlichen Tätigkeiten geht es beim Musikjournalismus um »zielgruppenorientierte, auf den Konsumenten bezogene Aufgabenfelder.« – Helmut Rösing und Peter Petersen: Orientierung Musikwissenschaft. Was sie kann, was sie will, Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag, 2000, S. 155–166, hier insbesondere S. 160. – Die Kombination von musikwissenschaftlichem Studium und praktischen Erfahrungen könnte durch Detailwissen eine reflektierte Einschätzung der Kritik befördern, hat aber in den meisten Studien zur Folge, dass diese Studien eher als Leitfaden konzipiert sind. So stellt Mathias O. C. Döpfner beispielsweise im Schlusskapitel seiner Arbeit fest, dass der analytische Teil unter anderem praktische Probleme (etwa die Schwierigkeiten in der musikalischen Beschreibungssprache) der Musikkritik isoliert habe, welche als »Anstoß zu realen Veränderungen« aufzugreifen seien. – Mathias O. C. Döpfner: Musikkritik in Deutschland nach 1945. Inhaltliche und formale Tendenzen. Eine kritische Analyse, Frankfurt a. M.: Peter Lang, 1991, S. 296. Ähnlich verhält es sich auch mit Publikationen zur Theaterkritik. Beispielsweise führt Vasco Boenisch, der sich als Theaterkritiker »von Berufs wegen mit Theaterrezensionen befasst« – Vasco Boenisch: Krise der Kritik? Was Theaterkritiker denken – und ihre Leser erwarten, Berlin: Theater der Zeit [= Recherchen 63], S. 9 – im Schlusskapitel seiner Studie zur Theaterkritik die »zentralen Handlungsdevisen« – ebd., S. 240 – auf, die sich aus seiner Analyse ergeben. Derlei Standpunkte führen häufig dazu, dass wissenschaftliche Arbeiten zu Musik- bzw. Theaterkritiken sowohl latent als auch dezidiert eine Art Ratgeber für Rezensent*innen verkörpern und teilweise sogar angereichert sind mit eigens verfassten Kritiken des Autors, anhand derer die vorab aufgestellten Kriterien veranschaulicht werden, die eine ›angemessene Kritik‹ ausmachen. – Siehe bspw. die Studien von Döpfner und Lesle. Döpfner spricht explizit von »ange-

II Material und Methode

se Beobachtung auf den ersten Blick eine Problemstellung skizziert, die sich ausschließlich auf das Genre der Kritik zu konzentrieren scheint, so ist diese ›Krise der Kritik‹66 auch für die Untersuchung von Legitimationsstrategien im zeitgenössischen Musiktheater von Bedeutung, weil – dies wurde im Kontext der Diskussion der ästhetischen ›Krise‹ des Musiktheaters bereits diskutiert – einer ›Krise‹ immer auch Relevanzproduktion eingeschrieben ist. Das Schlusswort eines dezidiert der Musiktheaterkritik gewidmeten Symposiums fasst den Ertrag desselben zusammen und bestätigt die gesellschaftliche Relevanz des Musiktheaters und die damit in Wechselwirkung stehende Relevanz der Kritik: »Ich glaube, wir haben hier etwas ganz Wichtiges gemacht. Wir haben über die kommunikativen Bedingungen von Rezeption in Bezug auf Musiktheater gesprochen. Wir haben das Musiktheater nicht klein gemacht, sondern wir haben deutlich gemacht, dass dieses Musiktheater nicht nur eine Sache ist, die irgendwelche abgehobenen Gesellschaftsschichten sehen, sondern dass es eine gesellschaftlich sehr relevante Sache ist, über die es zu berichten lohnt. Wie man das jetzt praktisch macht, dazu sind eine ganze Reihe von Anmerkungen gekommen, es sind aber glaube ich – von allen hier – ziemlich radikale Aussprüche gefallen, die man vor zehn Jahren von Kritikern noch nicht gehört hätte.«67 Wenn also der dem Musikjournalismus inhärente Diskurs über die Funktion und Legitimation der feuilletonistischen Musikkritik problematisiert wird, dann handelt es sich sowohl um die Selbstlegitimation der Kritiker*innen und Legitimation der Kritik als Genre als auch um Relevanzproduktion für das Musiktheater im Allgemeinen. Dass sich – wenn auch hier in sehr kulturpessimistischer Art und Weise

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messener Kritik« – Mathias O. C. Döpfner: Musikkritik in Deutschland nach 1945. Inhaltliche und formale Tendenzen. Eine kritische Analyse, Frankfurt a. M.: Peter Lang, 1991, S. 299. Lesle präsentiert im Anhang seiner Arbeit eigene Kritiken als positives Beispielmaterial. – Lutz Lesle: Der Musikkritiker – Gutachter oder Animateur? Aspekte einer publikumspädagogischen Handlungstheorie der Musikpublizistik, Hamburg: Verlag der Musikalienhandlung Karl Dieter Wagner, 1984, o. S. (Zeitungsausschnitte zu Kap. 2.2.3.2. im Anhang). Siehe dazu exemplarisch Andreas Kolb: Bericht, Kommentar, Kritik, in: Musikjournalismus, hg. von Peter Overbeck, Konstanz: UVK Verlagsgesellschaft, 2005, S. 247; Lutz Lesle: Notfall Musikkritik, Breitkopf & Härtel, Wiesbaden 1981; Vasco Boenisch: Krise der Kritik? Was Theaterkritiker denken – und ihre Leser erwarten, Berlin: Theater der Zeit [= Recherchen 63]; zur ›Krise der Theaterkritik‹ auch Knut Hickethier: Über Theater schreiben. Fragen an die Theaterpublizistik, in: Dokumentation. Über Theater schreiben. Theaterkritik und Theaterzeitschriften. Stuttgart. 27.-28. Juni 1987, Berlin, 1988 [= Schriftenreihe des Zentrums Bundesrepublik Deutschland des Internationalen Theaterinstituts, hg. von Manfred Linke, Bd. 6], S. 6–10. Franz R. Stuke, Christoph Dittmann und Jan Ehlert (Hg.): »Hier gilt’s der Kunst«. Aktuelle Entwicklungen der Musiktheaterkritik, Bochum: Europäischer Universitätsverlag, 2006, S. 62.

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geäußert – Kritiker*innen selbst als Teil der ästhetischen Entwicklung im Theater sehen, zeigt zudem das folgende Zitat sehr deutlich: »Wir müssen die ästhetischen und politischen Ansprüche des Theaters, wir müssen den utopischen Gehalt, den Widerspruchsgehalt der Kunst unbedingt gegenüber dem aufrechterhalten, was gegenwärtig vielfach mit der Kunst geschieht. Gegenüber dem Betrieb, der diesen Gehalt neutralisiert, wenn nicht liquidiert. Es ist an der Kritik, und davon bin ich fest überzeugt, weiter zu fragen: Was will die Kunst? Was vermag das Theater? Wem ist es verpflichtet? Für wen spielt es? Worauf hat es zu reagieren? Wie könnte es reagieren, um welches Ziel zu erreichen? Es geht um die Rettung des kritischen Gedankens, um die Rettung der Kritik in der Gesellschaft generell. Das kann für das Überleben der Gesellschaft wichtig sein. Wenn es eine Notwendigkeit ist, den Anspruch zu erhalten, den Anspruch, gegen das schiere, beliebige Fortschreiten des Betriebs zu argumentieren, wenn das richtig ist, verlagern sich naturgemäß die Akzente der Kritik von der Beschreibung des einzelnen Ereignisses weg und hin zu einem Versuch, den kulturpolitischen Kontext schärfer zu beleuchten und sich damit auseinanderzusetzen. Das ist ein hoher Preis, denn er führt weg von dem, was man eigentlich gern machen wollte.«68 Neben der Wechselwirkung in Bezug auf die Relevanzproduktion in der Musiktheaterkritik respektive im Musiktheater überschneiden sich im ›Krisendiskurs der Kritik‹ auch explizite Legitimationsstrategien der Kritik mit solchen des Musiktheaters. Beispielsweise reflektiert Spinola die Abhängigkeit der Kritiker*innen von PR-Agenten, die bereits »Länge, Aufmachung und Bebilderung [eines Artikels eingeplant haben], noch bevor die Sache, um die es geht, überhaupt stattgefunden hat.«69 In diesem Zusammenhang stellt sie eine größere Präferenz der Redakteure für Opernpremieren fest, weil diese außer Musik noch die Inszenierung als Aufhänger bieten.70 Aufgrund der redaktionellen Produktionslogik sieht Spinola die genuine Funktion der Musikkritik in Gefahr, denn die Besprechung und Bewertung

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Peter Iden: Theaterkritik in der Bundesrepublik Deutschland, in: Hickethier, S. 11–16, hier S. 15. Julia Spinola: Schafft sich die Musikkritik ab? Zur Krise des Musikjournalismus in den Printmedien, in: Musik & Ästhetik, hg. von Ludwig Holtmeier, Richard Klein und Claus-Steffen Mahnkopf, 17. Jahrgang, Heft 66, April 2013, Klett-Cotta Stuttgart, S. 96–103, hier S. 101. Ebd., S. 100. – Dies entspricht auch der Beobachtung in Bezug auf das vorliegende Material, dass in Musiktheaterkritiken der Beschreibung der Inszenierung, der Handlung und des Entstehungskontexts der meiste Platz eingeräumt wird. – Siehe dazu auch Döpfner, der die regelmäßige Beschreibung der Inszenierung als ›nicht unwesentlichen Teil‹ einer Musiktheaterrezension charakterisiert. – Mathias O. C. Döpfner: Musikkritik in Deutschland nach 1945. Inhaltliche und formale Tendenzen. Eine kritische Analyse, Frankfurt a. M.: Peter Lang, 1991, S. 56.

II Material und Methode

einer musikalischen Darbietung anhand musikästhetischer Kriterien – laut Spinola die primäre Aufgabe der Musikkritik – sei für eine Veröffentlichung nicht förderlich. Ganz im Gegenteil seien die dominierenden Kriterien für eine erfolgreiche Publikation »Sensation«, »Gesellschaftsereignis« und »Unterhaltungswert«71 . An dieser Stelle verwischt die Grenze zwischen selbstbezüglicher Legitimation der Kritik im Spannungsverhältnis zu Produktionsbedingungen und vermeintlichen oder tatsächlichen Legitimationsstrategien, die sich auf das Dispositiv des Musiktheaters beziehen. Denn die drei von Spinola genannten publikationsförderlichen Parameter, insbesondere das Gesellschaftsereignis und der Unterhaltungswert, stellen gleichzeitig auch Legitimationsstrategien innerhalb des Dispositivs des Musiktheaters dar, wie sie für das untersuchte Korpus herausgearbeitet wurden.72 In seinem 1968 publizierten Aufsatz Reflexion über Musikkritik unterzieht Adorno die Darstellung ›außermusikalischer‹ Parameter als ›Selbstzweck der Kritik‹ einer kritischen Untersuchung und betont: »Die banausische Kritik, die es nicht vermag, musikalische Erfahrung auszudrücken, ist Scylla, Charybdis die feuilletonistische Art der Kritik, in der die Darstellung Selbstzweck wird, und in der über die Darstellung die Entäußerung des Gedankens an die Sache vergessen wird.«73 In Abgrenzung zur ›banausischen Kritik‹ sei die objektive Funktion der ernstzunehmenden Kritik aus der Musik herzuleiten und solle sich nicht von anderen ›externen‹ Kategorien – etwa den Rezipierenden – leiten lassen. Adornos These lautet, dass »Musikkritik nicht, wie es vielfach erscheint, bloßes Mittel der Kommunikation ist, dergestalt, daß jemand, der Eindrücke gehabt hat, Urteile fällt und sie in irgendeiner, keineswegs ganz durchsichtigen Absicht, einem möglichst 71

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Julia Spinola: Schafft sich die Musikkritik ab? Zur Krise des Musikjournalismus in den Printmedien, in: Musik & Ästhetik, hg. von Ludwig Holtmeier, Richard Klein und Claus-Steffen Mahnkopf, 17. Jahrgang, Heft 66, April 2013, Klett-Cotta Stuttgart, S. 96–103, hier S. 100. Unter ›Sensation‹ im publikationsförderlichen Sinne können etwa Berichte über Pannen subsumiert werden, wobei eine solche Berichterstattung ausschließlich der Kritik zu dienen scheint und eine Legitimationsfunktion hinsichtlich des Musiktheaters nicht ausgemacht werden kann. Beispielsweise wird in einer Rezension über eine gelöste Rollschuhrolle eines Darstellers im Musical Starlight Express berichtet, was einen Sturz des Darstellers zur Folge hat. – Julia Baumgart und Julia Mahltig: Starlight Express: Darsteller humpelte von der Bühne, Westfälische Rundschau Dortmund, 15. September 2006. Ein anderes Beispiel findet sich in einer Vorankündigung, in der über einen »Zwischenfall bei der Generalprobe zur Csárdásfürstin [berichtet wird]: Gleich zu Beginn des I. Aktes löste sich ein Lüster von der Decke und traf László Csere, der den Grafen Boni Kancsianu spielt, am Kopf. Die blutende Wunde mußte vom Notarzt versorgt werden. Benommen spielte er bis zum Schluß weiter. Und Mária Tiboldi, Sie ist die Fürstin von und zu Lippert-Weylersheim, trat mit einem Muskelfaserriß im linken Bein auf.« – Helmuth Altinger: Die Csárdásfürstin hält in München Hof, Abendzeitung München, 28.06.1997. Theodor W. Adorno: Reflexion über Musikkritik, in: Symposion für Musikkritik, Graz 1968, Studien zur Wertungsforschung, Heft 1, hg. von Harald Kaufmann, S. 7–21, hier S. 16.

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großen Kreis von Menschen zugänglich macht. Vielmehr ist Musikkritik, wenn man ihren Begriff ernst nimmt, […] eine eigene Form, kein bloßes Mittel. Daß Musikkritik eine Form sei, läßt sich nur so verstehen, daß sie eine objektive, sachliche Funktion hat, nicht bloß eine kommunikative. Mit anderen Worten, soll Musikkritik mehr sein als feuilletonistischer oder orientierender Betrieb, so muß sie in gewissem Sinn von der Musik gefordert sein, nicht bloß von den Rezipierenden.«74 An anderer Stelle heißt es: »Unendlich viel von dem, was man so als Kritik serviert bekommt, ist eigentlich nur ein Ersatzphänomen […] mit allen möglichen, der Sache äußerlichen Kategorien, nur um von ihr abzulenken.«75 Auch wenn Adorno in seiner Abhandlung den Umstand berücksichtigt, dass Musikkritik sich gleichwohl mit gesellschaftlichen sowie sozialen Bedingtheiten auseinandersetzen muss, so dient Kritik seiner Meinung nach in erster Linie dem Urteilen über Kompositionen. Eine ausschließliche Ansammlung von Informationen gefährde das Genre der Kritik ebenso, wie wenn sie zu reinem »Kulturgeschwätz«76 würde und die Funktion der »Propaganda«77 sowie der »Kulturreklame«78 einnähme. Darüber hinaus »soll man vermeiden, bloße Geschmacksurteile auszusprechen« und »sachlich fundierte«, nicht »unbegründete Urteile fällen […].«79 Damit kritisiert Adorno all die Eigenschaften, die für den Großteil der zeitgenössischen feuilletonistischen Musiktheaterkritik verschiedener Printmedien im Rahmen des exemplarisch ausgewählten Textkorpus – blendet man die pejorative und bisweilen polemische Wortwahl Adornos aus – gelten und die Spinola teilweise als publikationsförderlich identifiziert hat. Unter Berücksichtigung der Produktionsbedingungen in den Printmedien im Verhältnis zu hypothetischen musikästhetischen Idealkriterien wird deutlich, dass gewisse in den Kritiken besprochene Parameter, so z.B. die ›Sensation‹ oder ›Kulturreklame‹, neben der Legitimation des Rezensierten gleichzeitig auch für die Legitimation der Kritik als feuilletonistisches Genre stehen. Was Adorno polemisch und mit deutlich kulturpessimistischem Anklang mit ›Kulturreklame‹ umschreibt, unterstützt weiterhin die These, dass es sich bei dem Genre der Musiktheaterkritik um ein Medium der Legitimation des Musiktheaters handelt. Ein Kritiker bestätigt diese Vermutung: »Eine wohlwollende Besprechung ist immer auch eine exzellente Reklame. Deshalb spielen sich häufig im Hintergrund subtile Dinge ab, die, da sie sich zu-

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Ebd., S. 7f. Ebd., S. 16. Ebd., 1968, S. 19. Ebd. Ebd. Ebd., S. 19f.

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meist im Rahmen der Legalität bewegen, nur aus der Ferne und bei ausdrücklich unterdrücktem Wohlwollen nach Bestechung riechen. Aber mal ehrlich, fällt es nicht unglaublich schwer, einen Verriss zu Papier zu bringen, wenn man, der man drei Telefonate lang im Ungewissen gehalten worden war, von der Leitung eines renommierten Festivals schließlich doch noch zwei Karten für die seit Monaten ausverkaufte Premiere bekommt und die Plätze ebenso vom Feinsten sind wie das Büffet beim anschließenden Galaempfang, zu dem man – nebst Begleiterin – überraschenderweise auch noch eingeladen wurde.«80 Ähnlich dem Reiseangebot der Deutschen Bahn im Anschluss an den ausführlichen Bericht über Die schöne Helena an der Komischen Oper in Berlin und im Sinne der von Adorno konstatierten ›Kulturreklame‹ übernehmen die untersuchten Kritiken tatsächlich häufig die Rolle einer Ankündigung mit Werbecharakter für weitere Aufführungen der besprochenen Produktion. So beginnt etwa eine Rezension mit den Worten: »Ein Tip: Unbedingt ansehen!«81 Meist wird allerdings, typographisch leicht abgesetzt, am Ende der Kritik über die Termine für folgende Aufführungen informiert und ein telefonischer Kontakt für die Reservierung von Eintrittskarten angegeben.82 In der Regel handelt es sich dabei um einen Zusatz unterhalb des Namens des Autors. Die Ankündigung für weitere Vorstellungen ist aber bisweilen auch in den Fließtext integriert, was an der Werbefunktion keinen Zweifel lässt. So schließt ein Kritiker beispielsweise seine Rezension: »Zum Trost der Chorsänger und anderen Nichtgenannten: Sie durften den Riesenbeifall im Bremer Schauspielhaus ganz sicher auch auf sich beziehen. Das kurzweilige Vergnügen kann man sich am 3., 4. und 5. Juli jeweils um 20 Uhr erstmals oder erneut gönnen.«83 Und ein anderer Rezensent schließt seine Kritik mit der Umschreibung des Abends als klanglicher »Delikatesse, die ihn zu einer unbedingt sehens- wie hörenswerten geraten lassen.«84

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Arnd Richter: Musikkritik in Zeitung und Rundfunk, in: Musikjournalismus, Konstanz: UVK Verlagsgesellschaft, 2005, hg. von Peter Overbeck, S. 23–37 [= Praktischer Journalismus, Bd. 59], hier S. 33. Ulrich Kelber: Ein Monster, das zum Lachen reizt, in: Mittelbayerische Zeitung, 08.10.1996. »Weitere Aufführungen vorgesehen für den 1., 3., 11., 14., 19., 22., und 27. Januar.« – Ellen Brandt: Üppig sei die Kunst. »La Bohème« in der deutschen Oper in Berlin, Frankfurter Rundschau, 31.12.1988; »Die nächsten Aufführungen sind am 29./31. Januar und 1./2./4. Februar. Karten gibt es unter der Telefonnummer: 040/351721.« – Stephan Hoffmann: Schwer und doch ganz leicht. Helmut Lachenmanns »Das Mädchen mit den Schwefelhölzern« in Hamburg uraufgeführt, Schwäbische Zeitung, 28.01.2007. Simon Neubauer: Das Höllenfaktotum kommt aus Sachsen. Studierende der Hochschule für Künste entdecken »Orpheus in der Unterwelt«/Premiere im Schauspielhaus, Weser Kurier, 01.07.2008. – Ebenfalls als Ankündigung in den Fließtext integriert, mit dem Aufhänger die Pointe nicht verraten zu wollen: Georg Spindler: Blutbad im Blumenladen, Mannheimer Morgen, 13.06.1990. Manuel Brug: Sanftes aus der Mozart-Lounge in Lachsrosa, Die Welt Hamburg, 15.03.2003.

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Darüber hinaus finden sich auch gelegentlich genuine Ankündigungen für Wiederaufnahmen abgedruckt. Derlei Artikel haben als Schriftstücke die ausschließliche Funktion, eine kommende Aufführung zu bewerben. Der Aufbau orientiert sich dabei an dem der Kritiken, wobei die Bewertung der Ausführenden selbstverständlich gar nicht vorkommt oder aber rückblickend sehr gering ausfällt.85 Kurios ist einer der wenigen Verrisse, die im Korpus ausgemacht werden konnten. Es geht – und diese Inszenierung ist auch Gegenstand der folgenden Überlegungen – um eine dritte La Bohème-Inszenierung in Berlin, die nach Einschätzung des Kritikers überflüssig sei. Auch musikalisch überzeuge sie nicht. Sein abschließender Rat lautet: »Wenn sie unbedingt hingehen wollen: Augen schließen!«86 Direkt im Anschluss ist die Ankündigung für Folgeveranstaltungen angeschlossen mit dem Hinweis, dass eine Vorstellung auch »vom Kultursender Arte live übertragen«87 werde. In Anbetracht der schlechten Kritik scheint diese Ankündigung die These zu bekräftigen, dass die Musiktheaterkritik auch unabhängig vom wertenden Inhalt den Geltungsanspruch des Musiktheaters festigt. Die folgende exemplarisch gewählte Kritik einer Bohème-Aufführung zeigt einerseits durch ihren Inhalt und Aufbau sehr deutlich, inwiefern Kritiken dafür geeignet sind, aus diesen einzelne, eine spezifische Aufführung betreffende Legitimationsstrategien zu isolieren und zu verallgemeinern, das heißt inwiefern diese spezifischen Strategien in Bezug auf eine spezifische Aufführung als Teil einer übergeordneten Legitimation des Musiktheaters per se darstellbar sind. Andererseits lässt sich an diesem Beispiel sehr deutlich ablesen, dass sich innerhalb der Musiktheaterkritiken auch allgemeine Legitimationsstrategien konzentrieren, die im Zusammenhang mit der besprochenen Aufführung allgemeiner und keineswegs spezifischer Natur sind. Damit ist gemeint, dass die Legitimationsstrategien über das greifbare besprochene Ereignis hinausweisen und nicht nur im Besonderen, sondern vor allen Dingen im Allgemeinen Wirksamkeit entfalten. Die Musiktheaterkritik ist also eine Textsorte, die als Ort der Geltungsproduktion und somit als ein Legitimationsmedium innerhalb des Musiktheaterdispositivs angesehen werden kann. Zur Illustration wird zunächst die vollständige Kritik mit dem Titel Geschüttelt, nicht gerührt: Puccinis »La Bohème« an der Berliner Lindenoper macht Musik in der Schneekugel88 zitiert:

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Arnd Rühle : Oper : »La Bohème«. Schranke zwischen Leben und Tod. Die Puccini-Inszenierung von Alfred Kirchner wird wieder ins Programm genommen, Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 02.12.2001. Frank Kallensee: Aller schlechten Dinge sind Drei, Märkische Allgemeine Potsdam, 18.12.2001. Ebd. Eleonore Büning: Geschüttelt, nicht gerührt: Puccinis »La Bohème« an der Berliner Lindenoper macht Musik in der Schneekugel, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 18.12.2001.

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»Vor kurzem sprach Gerard Mortier, der sich derzeit als Fellow am Berliner Wissenschaftskolleg von Salzburg erholt und für den Ruhrpott sammelt, über das ›Verführerische in der Oper‹. Es wurde, obwohl der Karneval noch nicht richtig begonnen hat, eine pointenglitzernde Büttenrede daraus. Charmant erläuterte Mortier die Ursachen für das Untergehen zwar nicht der Gattung, aber doch immerhin der Institution Oper. Nachträglich will es sogar scheinen, als habe er damit antizipatorisch zugleich auch die neueste ›Bohème‹-Inszenierung an der Staatsoper Unter den Linden rezensiert, die am Sonntag Premiere hatte und übermorgen als Live-Mitschnitt in Arte zu besichtigen ist. Einerseits bekräftigte Mortier seine bekannte Abneigung gegenüber Puccini und überhaupt gegenüber den Redundanzen eines Verismo, der den Belcanto an das Orchester verraten habe. Andererseits gab er zu Protokoll, Oper sei zwar eine bürgerliche Kunst, dürfe aber nicht zum Museum werden. Der Betrieb als solcher steht auf morschen Füßen, schielt auf die Kasse, nährt sich nur noch von Vergangenheiten. Soweit nichts Neues. Jedoch, Mortier selbst – da merkten alle auf – wolle fortan als designierter Chef der Pariser Oper über vier Spielzeiten hinweg nur noch Werke der Moderne spielen. Grund: ›Die Liste wichtiger Opern des zwanzigsten Jahrhunderts ist wichtiger als die des neunzehnten.‹ Opernhäuser umzubauen in Tempel des Zeitgenössischen, das käme einer Kampfansage gleich: Alle drei Opernhäuser Berlins könnten ihren kulinarischen Kulissenplunder umgehend einpacken. Drei ›Zauberflöten‹ gibt es in Berlin, drei ›Fidelio‹ sowieso und zweimal schon recht ansehnlich die ›Bohème‹: eine frühere Arbeit von Harry Kupfer (eine seiner besten) sowie eine mittlere von Götz Friedrich. Daß die Staatsoper jetzt ihre eigene, eine dritte ›Bohème‹-Inszenierung hinzufügte, die szenisch-dramaturgisch auch noch deutlich kraftloser ausfällt als die beiden anderen, dafür gibt es tatsächlich weder vernünftige musikalische noch politische Gründe. Trotzdem soll Puccinis Musik verteidigt werden. Sie ist phantastisch farbig instrumentiert – nicht nur als billige Pittoreske und deskriptive Verdopplung der Gesangslinie. Die fallenden, leeren Quinten, die kühl das Ende kündend zunächst den Wintermorgen im dritten Bild ausmalen, sind mehr als nur Illustration, sie pinseln impressionistisch den Seelenzustand aus. Das folgende, kontemplative Quartett ist ein geschliffenes Meisterwerk, ebenso das berühmte Liebesduett zu Beginn, in dem Mimi und Rodolfo einander kennenlernen und zunächst, bevor sie heillos im Duett entbrennen, motivisch das kokette ›Komm her/Geh weg‹-Spiel spielen: Nimmst Du einen Melodiefetzen von mir, nehm’ ich einen von dir. Starke, herrliche junge Stimmen hat sich die Lindenoper dazu eingeladen: Miroslav Dvorsky singt den Rodolfo mit heller Tenorstimme so heldenhaft geradeheraus und so mühelos, ohne Druck und Not in der Höhe, daß er auf die kleine Mimi tatsächlich wie der Inbegriff apollinischer Jugendlichkeit wirken muß. Zvetelina Vassileva parfümiert ihre Partie mit ein wenig zuviel

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Tremolo, doch das Timbre ist lyrisch schön und die Stimme klar und gut geführt. Alle anderen Bohémiens stammen aus dem Ensemble des Hauses. Die robuste Musetta der Daniela Bruera, der cholerische Marcello von Roman Trekel, der sonore, leicht überchargierende Schaunard (Hanno Müller-Brachmann) und der muntere Philosoph Colline (Kwangchoul Youn). Sie alle liefern ihr Rollendebut ab, jeder für sich vortrefflich und gemeinsam fabelhaft homogen. Die Orchesterleitung weiß die Valeurs der Farben souverän zu setzen. Mit Schwung und Kraft geleitet Barenboims langjähriger Assistent Philippe Jordan, der demnächst an das ›Opernhaus des Jahres‹ nach Graz wechseln wird, die Staatskapelle durch ein Sängerfest und die Sänger durch einen sinnlichen Klangrausch ohnegleichen. Nur die junge australische Regisseurin Lindy Hume scheint der Sache nicht zu trauen. Womöglich angenagt von Mortierschem Zweifel, mag sie den Umstand bedauern, daß diese flotte Beziehungskiste nicht von Benjamin Stuckrad-Barre getextet wurde und die Komposition nicht von Elton John stammt. Sie ignoriert den sozialen Hintergrund und das veristische Textbuch und schickt die BohèmeBrüder lieber in fernsehkompatible, kreischend-klischeehafte Klamaukszenen, bei denen allzuoft Musik und Handlung auseinanderfallen. Im Programmbuch findet sich eine zauberhafte Hommage Humes an ihre Großmama, von der sie annimmt, die hätte Puccini sehr gemocht. Oma zuliebe verkleidet sie die Oper als Schneekugel in einen machtgeschützten Ort sentimentaler Erinnerung. Packt die Bühne in plexigläserne Eisschollen, Neon, Flitter und Kitsch, läßt es schneien, vorbeiwalzern und macht, wenn die Liebe grünt, rote Rosen an Eisfenstern blühen. Dazu schlurft zeigefingerartig ein alter Mann im Schlafanzug über die Bühne, der für Peter Pan zu groß, für den künftigen Kultursenator indes zu schlecht gekleidet ist, und hantiert immerfort verzweifelt mit einer kleinen Schneekugel, ohne damit etwas ändern zu können am Elend der großen. Kurz: Es wird fleißig geschüttelt, nur niemand ist gerührt.«89 Die Kritik lässt sich grob in drei Abschnitte gliedern. Zu Beginn steht eine assoziative Kontextualisierung der rezensierten Aufführung als Einleitung. Sodann werden die Musik und die musikalische Umsetzung besprochen, gefolgt von einer Begutachtung der visuellen Komponenten der Aufführung, maßgeblich der Regie und Ausstattung. Während in zahlreichen Kritiken etwa auch die Handlung referiert und als assoziativer Reflex zur Kontextualisierung herangezogen wird, finden sich in der vorliegenden Kritik lediglich einige wenige das Libretto betreffende Anmerkungen, zum Beispiel eingebettet in die Reflexion zur Inszenierung durch die Regisseurin, die, laut Rezensentin, das veristische Textbuch samt sozialem Hintergrund ignoriert habe.

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Ebd.

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Auf den ersten Blick auffällig ist darüber hinaus, dass die Rezension einen deutlich bildungsbürgerlich-eklektizistischen Eindruck vermittelt, was sicherlich im Zusammenhang mit dem Medium der Frankfurter Allgemeinen Zeitung steht. In der Rezension befinden sich nämlich einerseits diverse kaleidoskopartig zusammengeführte Anspielungen auf aktuelle Kulturerscheinungen und -gegebenheiten sowie diverses ›name-dropping‹, das dem informierten, bildungsbürgerlich versierten Leser bzw. der Leserin fragmentarisch zur Entschlüsselung überlassen wird: So ist etwa Wissen zu Peter Pan nötig, vermutlich eine Anspielung auf die Figur des Anführers von »The Lost Boys«, zum Kultursenator, zur gehobenen Pop- und Jugendkultur mit Elton John und Benjamin Stuckrad-Barre, sowie zu zentralen Figuren und Aspekten des Operndispositivs (Mortier, Kupfer, Friedrich, oder z.B. die Auszeichnung ›Opernhaus des Jahres‹). Andererseits ist der künstlerisch-rhetorische, d. h. sprachgewandte Ausdruck auffällig, durch den der Eindruck eines gehobenen Ereignisses verstärkt und eine gewisse suggestive Aura des Kultivierten vermittelt wird. Insbesondere aber der inhaltliche Aufbau und die Argumentationsstruktur der Kritik zeigen deutlich, dass diese als Organ dient, das Musiktheater in der Öffentlichkeit zu legitimieren. Denn Büning greift im einleitenden ersten Abschnitt eine Rede des Opernmanagers Gerard Mortier90 auf, die – sieht man von den Bemühungen der Autorin ab, die rezensierte Oper Puccinis mit einer vermeintlichen Abneigung Mortiers gegen diesen Komponisten zu verknüpfen – in keiner Weise mit der besprochenen Aufführung zusammenhängt und damit funktional einen anderen, übergeordneten Zweck erfüllen muss, als den der Besprechung des konkreten Stücks. Die Rezensentin bezieht sich auf einen Vortrag Mortiers, der im Kontext des Berliner Wissenschaftskollegs gehalten wurde und dessen Titel Das Verführerische in der Oper bereits auf sehr allgemein gehaltene Überlegungen zum Musiktheater hinweist. Die Rezensentin verleiht dem Opernmanager, der in seiner beruflichen Funktion selbstverständlich ein Apologet des Musiktheaters sein muss, durch ihre Aufführungskritik somit eine öffentlich wahrnehmbare Stimme. Büning beruft sich in ihrer auf den ersten Blick recht kritischen Auswahl der Zitate Mortiers auf seine allgemeine Einschätzung zur Oper, die sich in erster Linie polemisch auf den Untergang der Oper als Institution bezieht. Sogleich wird dieser vermeintliche ›Untergang‹ der Institution aber dadurch relativiert, dass er die Oper als Gattung jedoch nicht betreffe. Büning erwähnt anschließend einige von Mortier genannte und öffentlich breit rezipierte Klischees über die Oper, allen voran den Vorwurf des musealen Charakters der Institution durch häufig vorgenommene einseitige Programmwahl mit vorwiegend historischem Repertoire. Interessant und aufschlussreich ist,

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Gerard Mortier (1941–2014) war ein belgischer Opernintendant, der u. a. die Brüsseler Oper La Monnaie, die Salzburger Festspiele, die Ruhr-Triennale und das Teatro Real in Madrid leitete.

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dass Büning diese öffentlich breit rezipierten Klischees der negativen Kritik am Dispositiv des Musiktheaters sodann durch einen Kunstgriff rhetorisch geschickt abschwächt: »Soweit nichts Neues«, konstatiert die Rezensentin nämlich und erkennt dadurch die Kritik zwar einerseits an, suggeriert durch den Ausspruch aber auch, dass es sich um eine nicht sonderlich bemerkenswerte Beobachtung handele. Die im Anschluss referierte Entscheidung Mortiers, als Intendant der Pariser Oper nur noch Werke der Moderne auf den Spielplan zu setzten, liest sich im Kontext der Einleitung der Kritik als Legitimationsstrategie für die Existenz des Musiktheaters, und zwar sowohl für die Existenz der Gattung als auch für den ›Tempel des Zeitgenössischen‹ als Institution. Bevor Büning sich der Rezension der besuchten Aufführung widmet, spricht sie alliterativ vom »kulinarischen Kulissenplunder«, der sich – rhetorisch schmuck – auf die Programmgestaltung aller drei Berliner Opernhäuser bezieht. Neben drei Zauberflöten- und drei Fidelio-Inszenierungen erwähnt Büning zwei bereits existierende Inszenierungen der Oper La Bohème, wobei in Bezug auf den vorab konstatierten Kulissenplunder mit der positiven Hervorhebung der Inszenierung von Harry Kupfer als »eine seiner besten« unklar bleibt, ob es sich hier um ihre eigene Sprecherinnenposition handelt, oder ob Büning diesen Aspekt lediglich referiert. Sodann erfolgt die Überleitung zur besprochenen Aufführung, der dritten La Bohème-Inszenierung auf den Opernbühnen Berlins (neben der Inszenierung Harry Kupfers und Götz Friedrichs): Lindy Humes Bohème falle »deutlich kraftloser [aus] als die beiden anderen«91 , so die Kritikerin. Als Einstieg in die tatsächliche Rezension der Aufführung, etwa nach einem Drittel des Textvolumens, folgt sodann abermals ein Kunstgriff, der trotz der zuvor geäußerten Anerkennung, dass es eigentlich keiner dritten Berliner Bohème-Inszenierung bedürfe, die Oper Puccinis allgemein und insbesondere die musikalische Umsetzung und Interpretation an der Staatsoper positiv hervorhebt, denn obwohl die Rezensentin zuvor widersprüchlich feststellt, dass es für eine dritte La Bohème keine vernünftigen musikalischen Gründe gebe, lautet der erste Satz des neuen Abschnitts: »Trotzdem soll Puccinis Musik verteidigt werden.« Dieser Paragraph zur Musik Puccinis und der durchweg lobend hervorgehobenen musikalischen Umsetzung vermag nicht nur der zuvor zitierten Abneigung Mortiers zu widersprechen, er verweist außerdem auf die übergeordnete Instanz der Musik innerhalb der Gattung Oper, die sich in Form des ›Meisterwerks La Bohème‹ niederschlägt. Damit steht das Konzept des Meisterwerks sozusagen legitimierend als Stellvertreter für die Gattung.92

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Eleonore Büning: Geschüttelt, nicht gerührt: Puccinis »La Bohème« an der Berliner Lindenoper macht Musik in der Schneekugel, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 18.12.2001. Siehe für die Idee des ›Meisterwerks‹ als Strategie der Legitimation Kapitel III 2.1.1.

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Diese Kritik ist ein sehr gutes Beispiel für die Legitimitätserzeugung und für die Festigung des Geltungsanspruchs des Musiktheaters. Es wird deutlich, dass die Kritikerin, obschon bisweilen vordergründig kritisch, als Sprachrohr des Musiktheaters auftritt. Die zentralen Strategien der Rechtfertigung liegen einerseits in der Verteidigung der ›verführerischen Gattung Oper‹, im Übrigen eine nicht näher ausgeführte, aber mit positiv assoziierter Zuschreibung konnotierte Aussage, und in der ausführlichen Beschreibung und Erhöhung der Musik Puccinis. Der letzte Abschnitt ist explizit auf die Inszenierung und Ausstattung der Regiearbeit Humes gerichtet und transportiert auf den ersten Blick allenfalls implizit Strategien der Legitimation einer Bohème-Inszenierung, die – so scheint es – anhand der vorliegenden Betrachtung eines Einzelfalls nicht allgemein auf das Musiktheater bezogen werden können. Allerdings lassen sich auch hier Legitimationsstrategien ex negativo im Kontext einer La Bohème-Inszenierung extrahieren: So ist etwa eine Umsetzung des veristischen Textbuchs mit Blick auf den ›sozialen Hintergrund‹ der Handlung, d. h. das gesellschaftsbeschreibende Tableau ebenso eine Legitimationsstrategie wie die Hervorhebung einer gewissen ›Rührung‹ des Publikums, allerdings in strikter Abgrenzung zur – hier auch bemängelten – Sentimentalität mit kitschigen Elementen. Die Kritikerin deutet also an, was Musiktheater leisten sollte bzw. könnte, obwohl die betrachtete Inszenierung diesen Ansprüchen augenscheinlich nicht genügt. Adorno charakterisiert die Funktion der Kritik – im vorliegenden Fall analog verstanden in Bezug auf die Inszenierung – folgendermaßen: »Legitime Kritik muß den Werken voraus sein, die sie kritisiert, muß geradezu Werke erfinden, die sie zu kritisieren vermag, und wenn sie produktiv genug ist, werden sich dann ganz gewiß auch Komponisten finden, die solche Werke schreiben«93 , oder eben Regisseur*innen, die solche Werke inszenieren. Wie bereits im Zusammenhang mit dem Selbstverständnis der Kritiker*innen erläutert, zeigt sich durch diese Einschätzung Adornos ebenfalls, dass Aufführung und Kritik aus ästhetischer Perspektive verquickt sind. Das Aufzeigen, wie ein Werk – hier die Inszenierung – zu sein habe, kann gleichsam als produktives Moment der Festigung des Geltungsanspruchs verstanden werden. In den vorangegangenen ausführlichen Überlegungen zur Musiktheaterkritik als Medium der Legitimation wurde der Blick auf ausgewählte Momente ihrer historischen und zeitgenössischen Funktion gelenkt, wobei sowohl die Bewertungskriterien und die Falsifizierbarkeit der auf den Kriterien beruhenden Urteile als auch die Idee der Vermittlerrolle zwischen Künstler*innen und Rezipient*innen näher beleuchtet wurden. Darüber hinaus wurde die Musiktheaterkritik als vorwiegend wohlwollend und positiv bewertende Instanz in den Fokus gerückt, wobei

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Theodor W. Adorno: Reflexion über Musikkritik, in: Symposion für Musikkritik, Graz 1968, Studien zur Wertungsforschung, Heft 1, hg. von Harald Kaufmann, S. 7–21, hier S. 18.

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Musiktheater und Legitimation im Diskurs

auch dem Umstand Rechnung getragen wurde, dass die Kritik selbst einer gewissen Produktionslogik der Zeitungen unterliegt: Strategien der Legitimation des Musiktheaters stehen mit solchen zur Legitimation der Kritik teilweise im Wechselverhältnis. Nicht zuletzt zeigt sich durch den bisweilen an Werbung erinnernden Charakter der Musiktheaterkritik, dass sie die ›Öffentlichkeit für das Musiktheater zu gewinnen‹ sucht. Die Musiktheaterkritik dient einerseits als Praktik der Legitimation des Musiktheaters; andererseits spiegelt sie Legitimationsstrategien, die sich im öffentlichen Diskurs um das Musiktheater verdichten. Aufgrund dieser binären Funktion eignet sich die Musiktheaterkritik in besonderem Maße als Material zur Analyse von Legitimationsstrategien.

3. Der Forschungsprozess: diskursanalytischer Ansatz in wissenssoziologischer Perspektivierung »Musik ist nicht nur ästhetisches Phänomen, sondern immer zugleich auch soziale Tatsache.«94 In diesem Kapitel wird einerseits der Forschungsprozess methodisch offengelegt und das Textkorpus definiert. Andererseits wird die eingenommene wissenssoziologische Perspektive, d. h. das theoretische Fundament der Untersuchung, das sich im Wechselverhältnis von Material und Fragestellung kristallisiert hat, mit einem diskurstheoretischen Ansatz verknüpft. Es geht also darum, verwendete Begriffe – etwa ›Legitimation‹, ›Strategie‹ und ›Diskurs‹ – mit für die Arbeit relevanten Ideen zu füllen und darzulegen, in welcher Bedeutung diese verwendet werden. Die folgenden Überlegungen stützen sich maßgeblich auf Peter L. Bergers und Thomas Luckmanns wissenssoziologisch motivierte Ausführungen zur Wirklichkeitskonstruktion in ihrer stark rezipierten Publikation Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie95 und auf die Verknüpfung dieser Ausführungen mit diversen Ideen zum ›Diskurs‹, zur ›Diskursanalyse‹ und zu ›diskursiven Strategien‹, die traditionell auf das Werk Michel Foucaults zurückgehen, von diesem angeregt wurden oder auf dieses projiziert werden.96 94 95 96

Theodor W. Adorno: Reflexion über Musikkritik, in: Symposion für Musikkritik, Graz 1968, Studien zur Wertungsforschung, Heft 1, hg. von Harald Kaufmann, S. 7–21, hier S. 16. Peter L. Berger und Thomas Luckmann: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie, 2013, Frankfurt a. M.: Fischer Verlag. Sowohl der Diskursbegriff als auch die Nutzbarmachung des Konzepts in Form von Diskursanalysen haben in den vergangenen Jahrzehnten eine Konjunktur erfahren, die in der Folge zu einem äußerst heterogenen Gebrauch der Begriffe führte. Innerhalb unterschiedlicher Disziplinen regte das Konzept die Anwendung stark divergierender Forschungsmethoden an.

II Material und Methode

3.1 Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit Die Frage nach Legitimationsstrategien im Diskurs des zeitgenössischen Musiktheaters stellt gesellschaftlich produzierte und objektivierte Wissensformationen ins Zentrum der Untersuchung, welche durch Akteure konstruiert, verdichtet, stabilisiert und transformiert werden und den Geltungsanspruch des Musiktheaters zu festigen suchen. Den Ausgangspunkt dieser Überlegungen kennzeichnet eine wissenssoziologische Forschungsperspektive, deren Interesse sowohl dem in einer Gesellschaft vorhandenen Wissensvorrat als auch der Analyse der Strukturen und Prozesse der gesellschaftlichen Wissens- und Wirklichkeitsproduktion gilt. Für die vorliegende Arbeit ist die Beschreibung der Wirklichkeitskonstruktion durch den stetigen Prozess der Internalisierung und Externalisierung von Wissen durch einzelne Akteure, wie Berger und Luckmann ihn beschreiben, entscheidend: Wirklichkeit ist gesellschaftlich konstruiert97 – das heißt, Berger und Luckmann richten ihr Augenmerk auf Wissensbestände, die die Menschen als Wirklichkeit wahrnehmen und die in einer Gesellschaft als gegeben angenommen, nicht hinterfragt und im Zuge von Sozialisationsprozessen weitergegeben werden. In diesem Zusammenhang ist mit ›Internalisierung‹ der Prozess der individuellen Aneignung und mit ›Externalisierung‹ der Prozess der Wieder- bzw. Weitergabe von Wissen gemeint. Der Soziologe Wilhelm Jerusalem, der als einer der Begründer der Wissenssoziologie gilt, skizziert den repetitiven Prozess der reziproken Bestärkung, der für die Wirklichkeitskonstruktion konstitutiv ist, als ›soziale Verdichtung‹ und versteht darunter im Allgemeinen Kollektivvorstellungen.98 Mit Blick auf die durch verdichtetes Wis-

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Die Popularität des Diskurs-Begriffs im alltäglichen Sprachgebrauch potenzierte nachgerade seine übermäßige Verwendung. Peter L. Berger und Thomas Luckmann: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie, 2013, Frankfurt a. M.: Fischer Verlag, S. 1. – Man kommt nicht umhin, den durch alle geisteswissenschaftlichen Disziplinen geisternden Begriff der ›Konstruktion‹ und insbesondere der ›gesellschaftlichen‹ und ›sozialen‹ Konstruktion zu kommentieren. Luckmann beklagte, dass der Titel des Buches ein Eigenleben entwickelte, was besonders dem Begriff der ›sozialen Konstruktion‹ geschuldet sei. Der wesentliche und häufig missverstandene Begriff der Konstruktion bezieht sich auf die gesellschaftliche bzw. soziale Bedingtheit der Wirklichkeitskonstruktion. Dieser Fokus auf gesellschaftliche Prozesse ist ein wesentlicher Unterschied zu Ansätzen von Konstruktivisten anderer Strömungen, etwa poststrukturalistischen Perspektiven, oder z.B. den systemtheoretischen Konstruktionen Luhmanns. Berger und Luckmann interessieren sich für den Prozess, wie gesellschaftlich entwickeltes, tradiertes und bewahrtes Wissen für jedermann zu unhinterfragter ›Wirklichkeit‹ wird. – Ebd., S. 3. Wilhelm Jerusalem: Soziologie des Erkennens, in: Kölner Vierteljahreshefte für Sozialwissenschaften, Heft 3, 1. Jahrgang, 1921, Verlag von Duncker & Humblot, München und Leipzig, hg. von Christian Eckert et al., S. 28–34, hier: S. 34. – Jerusalem stellt fest, dass »sich der Prozeß der sozialen Verdichtung […] immer wieder aufs neue vollzieht, daß er die mannigfachsten

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sen stabilisierte Wirklichkeit beschreiben Berger und Luckmann wiederum diejenigen Mechanismen, die dem Erhalt dieses gesellschaftlich anerkannten Wissens dienen: Sie beschreiben etwa die stabilisierende Rolle von Institutionen bzw. von Institutionalisierung99 , wodurch externalisiertes Wissen gewissermaßen objektiviert, das heißt vergegenständlicht wird100 , oder auch Legitimationsprozesse, die das Wissen durch Rechtfertigen und Erklären in einem permanenten Prozess der Internalisierung und Externalisierung etwa an eine neue Generation übermitteln. Der Prozess der individuellen Internalisierung und Externalisierung schafft als kollektiver Prozess, d. h. als Prozess vieler Individuen, verdichtetes, gesellschaftlich anerkanntes und unhinterfragtes Wissen, welches wiederum als Momentaufnahme einfasst, was für eine Gesellschaft Wirklichkeit ist. »Gesellschaftsordnung [ist] eine ständige menschliche Produktion. Der Mensch produziert sie im Verlauf seiner unaufhörlichen Externalisierung.«101 Entscheidend ist bei diesem Verständnis einerseits, dass Wirklichkeitsproduktion ein dialektischer Prozess zwischen Individuum und Kollektiv bzw. dem jeweiligen Wissen ist und andererseits, dass dieses Wissen von Wahrheit entkoppelt ist.102 In ihrem Entwurf einer Theorie der WissenssoFormen annimmt, daß er sowohl zur Aufrechterhaltung von Irrtümern als auch zur Verfestigung objektiver Wahrheiten hinführt«. – Wilhelm Jerusalem: Die soziologische Bedingtheit des Denkens und der Denkformen, in: Der Streit um die Wissenssoziologie. Erster Band, 1982, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S. 37. – Auch wenn Jerusalem mit einem von Berger und Luckmann abweichendem Vokabular arbeitet und Wahrheit und Wissen im Gegensatz zu den Überlegungen bei Berger und Luckmann bei Jerusalem in einem Wechselverhältnis stehen, so können seine Ausführungen nicht nur als wichtiger Ausgangspunkt für spätere wissenssoziologische Studien verstanden werden. Insbesondere schafft er mit dem Begriff der ›soziologischen Verdichtung‹ oder angelehnt des ›soziologisch verdichteten Wissens‹ eine sehr plastische Beschreibung des gesellschaftlichen Prozesses der Wirklichkeitskonstruktion, die in das Begriffsrepertoire dieser Arbeit übernommen wurde. 99 Berger und Luckmann verstehen unter Institution eine vollzogene Typisierung habitueller Handlungen oder Tätigkeiten. Sie fassen den Begriff also weiter als gängige Beschreibungen gesellschaftlicher Einrichtungen, die meist durch öffentliche Gebäude manifest werden. Beispielsweise gibt die Institution ›Applaus in der Oper‹ gemeinhin vor, dass Beifall nur unter bestimmten Voraussetzungen – nämlich am Ende eines Aktes vor der Pause oder unter Umständen nach einer sängerischen Höchstleistung – ertönt. Die Institution ›Applaus im Konzert‹ gibt vor, dass zwischen einzelnen Sätzen nicht geklatscht wird. Klatschen steht im klassischen Konzert unter sozialer Kontrolle, was sich schon allein dadurch bemerkbar macht, dass Personen, die zwischen einzelnen Sätzen applaudieren, in der Minderheit sind. – Zum Begriff der ›Institution‹ siehe Peter L. Berger und Thomas Luckmann: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie, 2013, Frankfurt a. M.: Fischer Verlag, S. 57ff. 100 Ebd., S. 64f. 101 Ebd., S. 55. 102 Pierre Bourdieu formuliert den Gedanken der Wirklichkeitsproduktion zwischen Individuum und Kollektiv ähnlich, wenn er in Bezug auf den Einfluss von Kräfteverhältnissen der unterschiedlichen Kapitalsorten auf die Konstitution der sozialen Ordnung schreibt: Die »Legiti-

II Material und Methode

ziologie sind Berger und Luckmann also nicht an ontologischer Gewissheit interessiert. ›Wirklichkeit‹ definieren sie als Qualität von all dem ›Jedermannswissen‹, das gesellschaftlich entsteht, vermittelt und bewahrt wird:103 »Jedermannswissen ist das Wissen, welches ich mit anderen in der normalen, selbstverständlich gewissen Routine des Alltags gemein habe. Die Wirklichkeit der Alltagswelt wird als Wirklichkeit hingenommen. Über ihre einfache Präsenz hinaus bedarf sie keiner zusätzlichen Verifizierung. Sie ist einfach da – als selbstverständliche zwingende Faktizität.«104 Während Berger und Luckmann in ihren Ausführungen auf Alltagsroutinen abstellen, kann zu Recht angemerkt werden, dass es sich beim vorliegenden Untersuchungsgegenstand des Musiktheaters weniger um ›selbsterklärende Alltagsroutinen‹ handelt, sondern vielmehr um einen hochspezialisierten, abgrenzbaren Gesellschaftsbereich. Allerdings – und das ist entscheidend – diffundiert das, was über Musiktheater gewusst wird und als selbstverständliches und unhinterfragtes Wissen zum Musiktheater gilt, aus dem Spezialdiskurs (Berger und Luckmann sprechen von ›Subsinnwelten‹) in die Alltagswelt. Dies geschieht nicht zuletzt durch Musiktheaterkritiken, aber auch durch die Präsenz von Opernhäusern als architektonischem Monument, durch musikalische Opernzitate in der Werbung oder gar Werbung in der Oper.105 ›Wirklichkeit‹ ist all das, »was in einer Gesellschaft als ›Wissen‹ gilt, ohne Ansehen seiner absoluten Gültigkeit oder Ungültigkeit.«106 ›Jedermannswissen‹ bezieht sich also nicht ausschließlich auf Alltagsroutinen, sondern beispielsweise auch auf tradiertes Wissen über das Musiktheater im Allgemeinen und die Unterschiede zwischen Oper und Musical im Besonderen,

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mation der sozialen Ordnung […] ergibt sich vielmehr aus der Tatsache, daß die Akteure auf die objektiven Strukturen der sozialen Welt solche Wahrnehmungs- und Wertungsstrukturen anwenden, die selbst aus jenen objektiven Strukturen hervorgegangen sind […].« – Pierre Bourdieu: Sozialer Raum und symbolische Macht, in: Ders.: Rede und Antwort, 1992, Suhrkamp Verlag: Frankfurt a. M., S. 135–154, hier S. 149. Peter L. Berger und Thomas Luckmann: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie, 2013, Frankfurt a. M.: Fischer Verlag, S. 3. Ebd., S. 26. – ›Jedermannswissen‹ ist die deutsche Übersetzung von ›commonsense knowledge‹ aus dem englischen Originaltext. Der zitierte Satz lautet in der Originalausgabe wie folgt: »Commonsense knowledge is the knowledge I share with others in the normal, selfevident routines of everyday life.« – Berger und Luckmann: The Social Construction of Reality. A Treatise in the Sociology of Knowledge, 1967, New York: Anchor, S. 23. Etwa La Donna è mobile aus Giuseppe Verdis Rigoletto für Pizzawerbung von Dr. Oetker oder Werbung für das Bier Bud Light im Parkett eines Opernhauses – bei den Koloraturen der Sopranistin bersten die eingeschmuggelten Bierflaschen in Folge einer Resonanzkatastrophe. – https://www.youtube.com/watch?v=V9c0eabL3RA, zuletzt aufgerufen am 26.09.2018. Peter L. Berger und Thomas Luckmann: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie, 2013, Frankfurt a. M.: Fischer Verlag, S. 3.

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Wissen über die Institution eines Opernhauses, die Sänger*innenausbildung, den ›kulturellen Wert‹ oder die Besucher*innencodes bei einer Aufführung usw. ›Jedermannswissen‹ kann folglich durchaus das Wissen beinhalten, das beispielsweise aus der ›Subsinnwelt Musiktheater‹ diffundiert und als gegeben angenommen wird. Im Zuge der Sozialisation wird dieses unhinterfragte Wissen von Akteuren einer Generation den Subjekten einer anderen Generation in unterschiedlichen Prozessen übermittelt und wiederum von diesen angeeignet. Die neue Generation internalisiert dieses, wie Berger und Luckmann es bezeichnen, objektivierte Wissen und externalisiert es wiederum durch die eigene Handlungspraxis und Teilnahme am Diskurs. Dieser dialektische Prozess zwischen Internalisierung und Externalisierung verfestigt Wissensbestände durch ›soziale Verdichtung‹ und konstruiert Wirklichkeit: »Wissen über die Gesellschaft ist demnach ›Verwirklichung‹ im doppelten Sinne des Wortes: Erfassen der objektivierten gesellschaftlichen Wirklichkeit und das ständige Produzieren eben dieser Wirklichkeit in einem.«107 Anders ausgedrückt, erlernen Subjekte vorhandenes, historisch entstandenes, allgemein anerkanntes Wissen (objektivierter, kollektiver oder verdichteter Wissensvorrat) und tragen wiederum zum Erhalt dieses Wissens bei. Bevor genauer auf das bei Berger und Luckmann zugrundeliegende Verständnis von Legitimationsprozessen eingegangen wird, soll der Nutzen einer Trennung von Wissen und Wahrheit für die vorliegende Studie veranschaulicht werden. Denn die wissenssoziologische Forschungsperspektive, die sich ausschließlich auf das vorhandene ›Wissen‹ konzentriert und Fragen ontologischer Gewissheit nicht berücksichtigt, schärft einerseits den Fokus für die konstruierte, d. h. für die von den im Diskurs teilnehmenden Akteuren wahrgenommene Wirklichkeit. Andererseits erleichtert die Trennung von Wissen und Wahrheit den Umgang mit dem gewählten Untersuchungsmaterial: Musiktheaterkritiker*innen beschreiben in ihren Texten über Opern- oder Musicalaufführungen zeitlich abgeschlossene Ereignisse mit ephemerem Charakter. Die Überprüfbarkeit der getroffenen Aussagen und Beschreibungen ist damit in der Retrospektive – sofern die Leser*innen der Kritik der besprochenen Aufführung selbst nicht beigewohnt haben – nur bedingt gegeben. Zur Illustration genügt es, beispielhaft die Beschreibung einer Sängerin zu betrachten. Einer Kritik zur Aufführung der Oper Idomeneo in Ludwigsburg kann etwa entnommen werden: »Als trojanische Prinzessin Ilia brillierte Sylvia McNair mit ihrem kultivierten Koloratursopran und ihrer sicheren Intonation.«108 Während anhand von Besetzungszetteln mit hoher Wahrscheinlichkeit überprüft werden könnte, ob Sylvia McNair die besprochene Aufführung und Partie auch tatsächlich gesungen hat (kurzfristige Ausfälle werden allerdings in der Regel vor 107 Ebd., S. 71. 108 Dieter Schnabel: Idomeneo – streng, dramatisch. John Eliot Gardiner dirigiert die MozartOper in Ludwigsburg, Aalener Volkszeitung, 18.05.1990.

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Beginn der Vorstellung mündlich verkündet), so ist die Überprüfbarkeit einer sicheren Intonation ohne Vorlage einer Aufnahme nicht gegeben. Ob die Beschreibung des Kritikers der ›Wahrheit‹ entspricht, entzieht sich in der Regel der Kontrolle und ist für das Verstehen von objektiviertem, das heißt allgemein anerkanntem Wissen auch nicht von Bedeutung. Denn viel interessanter und aufschlussreicher ist das Wissen über etwaige Kriterien einer brillanten Darbietung einer Gesangspartie, die sich – wie dem Zitat entnommen werden kann – in einer sicheren Intonation und kultivierten Beherrschung der Stimme niederschlagen und Teil einer gelungenen bzw. positiv bewerteten Darstellung sind. Insbesondere im Hinblick auf künstlerische Parameter, deren positive Bewertung unzweifelhaft stark von individuellem Geschmack abhängt, leuchtet ein, dass das Vorhandensein einer allgemeingültigen ›Wahrheit‹ bzw. eine Bestimmung derselben nicht glaubwürdig ist. Um die für den Forschungsprozess sinnvolle Trennung von ›Wissen‹ und ›Wahrheit‹ anhand eines weiteren Beispiels jenseits künstlerischer Parameter zu verdeutlichen, ist die Beobachtung interessant, dass die Auslastung der Spielstätte in den Kritiken regelmäßig thematisiert und häufig mit ›ausverkauft‹ bezeichnet wird. Beschreibungen dieser Art enthalten allgemein anerkanntes Wissen darüber, was eine erfolgreiche Aufführung auszeichnet – nämlich die Nachfrage. In Verbindung mit einer spezifischen Inszenierung ist die allgemeine Beliebtheit eines Werkes in objektiviertes Wissen eingegangen und wird, verdichtet durch Wiederholung in ähnlichen Kontexten anderer Musiktheateraufführungen, im kollektiven Wissensvorrat verfestigt. Was ›ausverkauft‹ im Einzelfall jenseits der hohen Nachfrage bedeutet, bleibt jedoch spekulativ. Denn zunächst suggeriert diese Beschreibung zwar, dass alle Plätze im Vorstellungssaal verkauft wurden, wovon allerdings in den seltensten Fällen auszugehen ist. Schließlich werden insbesondere für Premieren (und diese liegen meist auch den Kritiken zu Grunde) zahlreiche kostenlose oder vergünstigte Karten für Angehörige der Sänger*innen, Presse, Ehrengäste usw. vergeben. Somit haben hinsichtlich der Nachfrage gerade Premierenvorstellungen einen Sonderstatus. Wie zuvor dargestellt, verstehen Berger und Luckmann die gesellschaftliche Wirklichkeitsproduktion als Resultat eines wissensbasierten dialektischen Prozesses, bei dem die drei Komponenten »Externalisierung, Objektivation und Internalisierung […] simultan für die Gesellschaft und alle ihre Teile charakteristisch«109 sind. So lange habituell typisiertes Wissen, d. h. Wissen, das durch wiederholte Einordnung in eine übergeordnete Sinnstruktur anerkannt, also »einfach ein Faktum ist, das keiner weiteren subjektiven oder biographischen Unterstützung bedarf [und] für alle Betroffenen Gewißheit«110 ist, erübrigt sich die Notwendigkeit der Legitimation dieses Wissens. Erst ein disruptives Moment, das etwa so 109 Peter L. Berger und Thomas Luckmann: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie, 2013, Frankfurt a. M.: Fischer Verlag, S. 139. 110 Ebd., S. 99.

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basal sein kann wie die Wissensweitergabe an eine andere Generation, erfordert Legitimation.111 »Legitimation ›erklärt‹ die institutionale Ordnung dadurch, daß sie ihrem objektivierten Sinn kognitive Gültigkeit zuschreibt. Sie rechtfertigt die institutionale Ordnung dadurch, daß sie ihren pragmatischen Imperativen die Würde des normativen verleiht. Daß Legitimation sowohl eine kognitive als auch eine normative Seite hat, darf nicht außer acht gelassen werden. Sie ist, mit anderen Worten, keineswegs einfach eine Frage der ›Werte‹, sondern impliziert immer auch ›Wissen‹.«112 Den Prozeß der Legitimierung von Institutionen bzw. habituell typisierten Handlungen verstehen Berger und Luckmann funktional, denn »Legitimation sagt dem Einzelnen nicht nur, warum er eine Handlung ausführen soll und die andere nicht ausführen darf. Sie sagt ihm auch, warum Dinge sind, was sie sind. Mit anderen Worten: bei der Legitimierung von Institutionen geht das ›Wissen‹ den ›Werten‹ voraus.«113 Berger und Luckmann fassen den nach eigenen Angaben an Max Weber angelehnten Begriff der Legitimation viel weiter und zerlegen ihn zunächst in vier Schichten, die selbstverständlich – hier übertragen auf den Untersuchungsgegenstand – nur für ein besseres Verständnis der gesellschaftlichen Legitimationsprozesse angeführt werden sollen und die sich realiter überlappen. Für folgende methodische Überlegungen ist insbesondere die Beschreibung der dritten Stufe relevant:114 •



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Auf erster, vortheoretischer Stufe der Legitimation verorten Berger und Luckmann die Weitergabe eines Vokabulars, in das basale Wissensbausteine integriert sind. Wenn ich also zur Illustration die Oper als Beispiel anführe, dann weiß ich auf dieser Stufe, dass ich mich für einen Opernabend – wie die anderen Besucher*innen auch – angemessen, also gepflegt und elegant, zu kleiden habe; weil ›man das so macht‹ in der Oper.115 Auf zweiter Stufe der Legitimation verorten sie gewisse Schemata, die bereits als Verknüpfungsleistung unterschiedlicher Sinngefüge verstanden werden können und sich beispielsweise in Form von Lebensweisheiten oder Sprichwörtern

Ebd., S. 99f. – »Legitimation als ein Prozeß, als Legitimierung also, läßt sich als ›sekundäre‹ Objektivation von Sinn bezeichnen.« – Ebd., S. 98. Ebd., S. 100. Ebd. Ebd., S. 98, Fußnote 67. – Die folgenden Ausführungen beziehen sich auf ebd. S. 100–103. Ebd., S. 100f.

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äußern. Das gängige Sprichwort ›Wo man singt, da lass’ dich ruhig nieder, böse Menschen haben keine Lieder‹ kann einen Opernbesuch mit einer positiven Erfahrung in Verbindung bringen.116 Als ›Tempel der Kunst‹, wie Opernhäuser oft bezeichnet werden, sind diese mit einer für gewöhnlich Heiligtümern zugesprochenen erhabenen Aura verknüpft. Auch die Bezeichnung des Opernhauses als »Ort des Schönen, Wahren und Guten«117 fällt unter diese Kategorie. »Auf der dritten Ebene der Legitimation stehen explizite Legitimationstheorien, die einen institutionalen Ausschnitt an Hand eines differenzierten Wissensbestandes rechtfertigen. Solche Legitimationen liefern mehr oder weniger geschlossene Bezugssysteme für die entsprechenden Ausschnitte institutionalisierten Handelns. Sie sind ihrer Schwierigkeit und Differenziertheit wegen häufig einem besonderen Personenkreis anvertraut, der sie in formalisierten Initiationsriten weitergibt.«118 Diese Ebene stellt in ihrer Formalisierung ein diskursives Stadium der Legitimation dar und wird als wichtiger Bezugspunkt für die vorliegende Analyse zu gegebener Zeit nochmals aufgegriffen. Auf der vierten Ebene der Legitimation verorten Berger und Luckmann ›symbolische Sinnwelten‹. Sie »meinen damit synoptische Traditionsgesamtheiten, die verschiedene Sinnprovinzen integrieren und die institutionale Ordnung als symbolische Totalität überhöhen […]. Legitimation erfolgt nun mit Hilfe symbolischer Gesamtheiten«119 , die nicht mehr alltäglich erfahrbar sind. Während sich ein Opernbesuch also noch im möglichen subjektiven alltäglichen Erfahrungsraum bewegt, ist die ›symbolische Gesamtheit‹ – im Folgenden spreche ich von ›Dispositiv‹ – im alltäglichen Erfahrungsraum nicht mehr erfahrbar.120

Diese Aufschlüsselung der unterschiedlichen Charakteristika der ›Legitimierung‹ verdeutlicht, dass – wie noch erläutert wird – auch im Rahmen der Analyse zwischen verschiedenen Formen (beispielsweise expliziten und impliziten Legitimationsstrategien) der Legitimation unterschieden werden kann.

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Ebd., S. 101. Lorenz Tomerius: Die Komtesse Staatssicherheit, in: Berliner Morgenpost, 31.12.1999. Peter L. Berger und Thomas Luckmann: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie, 2013, Frankfurt a. M.: Fischer Verlag, S. 101. – Für die Übersichtlichkeit wurde auf das Einrücken dieses Zitats verzichtet. 119 Ebd., S. 102. 120 Berger und Luckmann sprechen im Zusammenhang mit Sinnwelt bzw. Sinnwelten sowohl im Singular als auch im Plural, wobei der Eindruck entstehen kann, dass Sinnwelten in der einen Sinnwelt integriert sind. Für die vorliegende Arbeit, die sich auf einen Ausschnitt der gesellschaftlichen Wirklichkeit bezieht, ist ›Musiktheater‹ selbstverständlich eine Sinnwelt im Sinne eines Ausschnitts. – Berger und Luckmann bemerken zur vierten Ebene der Legitimation, dass eine ›symbolische Gesamtheit‹ allenfalls ›theoretisch erfahrbar‹ ist. – Ebd., S. 102.

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3.2 Musiktheater als Dispositiv In diesem Unterkapitel wird der Begriff des Dispositivs eingeführt, um das dieser Arbeit zugrundeliegende Verständnis von ›Musiktheater‹ insbesondere in Abgrenzung zum in der Musikwissenschaft dominierenden Gattungsdiskurs zu veranschaulichen: »Das, was ich mit diesem Begriff zu bestimmen versuche, ist erstens eine entscheidende heterogene Gesamtheit, bestehend aus Diskursen, Institutionen, architektonischen Einrichtungen, reglementierenden Entscheidungen, Gesetzen, administrativen Maßnahmen, wissenschaftlichen Aussagen, philosophischen, moralischen und philanthropischen Lehrsätzen, kurz, Gesagtes ebenso wie Ungesagtes, das sind die Elemente des Dispositivs.«121 ›Musiktheater als Dispositiv‹ beschreibt demnach ein Bedeutungs-Portfolio, das Zuschreibungen, Eigenschaften, Problemkonstellationen, Legitimationsstrategien, Spielstätten, Musiktheaterkritiken usw. um die Begriffe Oper, Operette, Musical und Musiktheater synthetisiert. Unter anderem bündelt das Dispositiv – gewissermaßen als ›symbolische Gesamtheit‹ im Sinne Bergers und Luckmanns – neben den genannten Aspekten auch das Wissen um die jeweils konventionelle Bedeutungsebene als Gattungsbegriff, die im Folgenden entlang der relevanten Artikel in der für die Musikwissenschaft einschlägigen Enzyklopädie Die Musik in Geschichte und Gegenwart exemplarisch zu Gunsten des Dispositivs dekonstruiert werden soll. Durch die entlang des Gattungskonzepts isolierten Bedeutungsebenen eines ›verwandtschaftlichen Zusammenhangs‹ bzw. eines ›soziologischen Typus‹ wird plausibel, dass das für diese Arbeit relevante Verständnis über eine einseitige semantische Zuschreibung hinausgehen muss und die Fragestellung nur mit Blick auf ›Musiktheater als Dispositiv‹, das heißt Musiktheater als ›heterogene Gesamtheit mit symbolischem Potential‹ beantwortet werden kann. Während im theaterwissenschaftlichen Forschungsdiskurs gattungstheoretischen Fragen keine große Aufmerksamkeit geschenkt wird, weil die Aufführung als performatives Ereignis im Verhältnis zur schriftlichen Vorlage im Fokus des Interesses steht, ergibt sich für die musikwissenschaftliche Forschung ein anderes Bild: Hier scheint die Gattungsdiskussion ein zentrales Forschungsfeld zu sein, was sicherlich der Dominanz des Werkbegriffs und insbesondere der Partitur

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Michel Foucault: Dits et Ecrits: Schriften, Bd. III, 2003, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S. 392–395. – Obschon dem Dispositiv im Werk Foucaults eine strukturierende und ordnende Funktion eingeschrieben ist und damit insbesondere Machtverhältnisse produziert werden, so ist dieser weiterführende Aspekt, den auch viele Exegeten Foucaults aufgreifen, in der vorliegenden Arbeit nicht relevant. Dennoch spreche ich dem Dispositiv des Musiktheaters die ordnende strukturierende Funktion von Machtverhältnissen nicht ab.

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als schriftlich fixierter Autorität geschuldet ist.122 Im Gattungsbegriff komme »[ü]ber den Akt der Klassifikation hinaus […], und zwar nicht nur in der deutschen Sprache, seiner Etymologie entsprechend auch ein Moment eines genetischen, verwandtschaftlichen Zusammenhangs zum Ausdruck.«123 Es ist äußerst interessant, dass sich alle vier Einträge Oper, Operette, Musical, Musiktheater der einschlägigen musikwissenschaftlichen Enzyklopädie Die Musik in Geschichte und Gegenwart durch einen problematisierenden Zugriff auf den jeweiligen Begriff auszeichnen und darüber hinaus in diesen Einträgen der MGG die verbindende plurimediale Konstellation aus Text, Stimme, Musik und Szene beleuchtet wird. Auffällig ist, dass innerhalb der Beschreibung von ›Operette‹ und ›Musical‹ Wertungen mitschwingen, die sich auf soziologische Parameter stützen: Mit ›Operette‹ und ›Musical‹ wird Musiktheater in der MGG als ›soziologischer Typus‹ kategorisiert, der genuin als Unterhaltungsgenre gilt und dessen »Anspruch«124 sich dementsprechend auf Popularität und kommerziellen Erfolg stützt.125 Auffällig ist außerdem, dass sowohl Operette als auch Musical, als Gattungen des Unterhaltungstheaters, in der wissenschaftlichen Forschung häufig aus soziologischer Perspektive betrachtet werden, bei der Untersuchung von Oper als ›ernster‹ Gattung hingegen der musikhistorische Zusammenhang sowie die ästhetische Qualität, und damit verbunden das ästhetische Werturteil, im Vordergrund stehen. Gerade anhand der funktionalen Beschreibung der Operette und des Musicals als Unterhaltungstheater lässt sich eine soziologische Klassifizierung ablesen, die zwar im MGG-Artikel zur Oper oder zum Musiktheater nicht genannt wird, aber in Analogie selbstverständlich auch für diese Formen gilt: Oper respektive Musiktheater als Gattungen des vermeintlich ernsten, kritischen und wertevermittelnden 122

Siehe dazu Peter W. Marx: Theaterwissenschaftliche Gattungsforschung, in: Rüdiger Zymner (Hg.): Handbuch Gattungstheorie, 2010, Metzler, S. 298–301. – Die Aufführung zeichnet sich ganz allgemein durch ihren ephemeren und ereignishaften Charakter aus und beschreibt zunächst die »[g]leichzeitige Anwesenheit von Akteuren und Zuschauern an einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit«. – Roselt, Jens: Phänomenologie des Theaters, Wilhelm Fink Verlag: München, 2008 [= Übergänge. Texte und Studien zu Handlung, Sprache und Lebenswelt, Bd. 56], S. 47. Die Aufführung ist sozusagen ein Wirksamwerden eines Wechselverhältnisses aller beteiligten Akteure und Objekte innerhalb der plurimedialen Konstellation des Musiktheaters und schließt darüber hinaus ein ›Dazwischen‹ mit ein. – Siehe dazu ebd., S. 46f. Eine Aufführung ist das, was »im Vollzug zwischen allen Beteiligten« geschieht. – Ebd., S. 47. 123 Hermann Danuser: ›Gattung‹, in: Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Allgemeine Enzyklopädie der Musik, Sachteil, Bd. 3, 2. Ausg., hg. von Ludwig Finscher, Kassel u. a.: Bärenreiter, 1994–2008 (1995), Sp. 1042–1069, hier Sp.1042. 124 Gisela Schubert: ,Musical‘, in: Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Allgemeine Enzyklopädie der Musik, Sachteil, Bd. 6, 2. Ausg., hg. von Ludwig Finscher, Kassel u. a.: Bärenreiter, 1994–2008 (1997), Sp. 688–710, hier Sp. 689. 125 Ebd.

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Bildungstheaters lassen sich mit Blick auf soziologische Parameter insbesondere mit dem Aspekt der sozialen Distinktion in Verbindung bringen. Wenn es in dieser Arbeit um ›Musiktheater‹ geht, so bezieht sich der Begriff selbstverständlich nicht auf eine Gattungsklassifikation im Sinne einer ›genetischen Verwandtschaftsbeziehung‹, es sei denn der Kontext gibt dies eindeutig vor. ›Musiktheater‹ wird als Dispositiv, also als ›heterogene Gesamtheit‹ unterschiedlicher Attribute verstanden, wie dies zu Beginn dieses Unterkapitels präzisiert wurde.

3.3 Diskurstheoretische Aspekte operationalisiert: Diskurs, Legitimation und Strategie Die Überlegungen zur gesellschaftlichen Wirklichkeitskonstruktion bleiben für Berger und Luckmann im Rahmen ihrer Theorie streng soziologisch. Mit Nachdruck stellen sie den ›lebendigen Menschen‹ und sein Handeln in den Mittelpunkt. Im Zusammenhang mit Legitimationsprozessen betonen sie: »Institutionen und symbolische Sinnwelten werden durch lebendige Menschen legitimiert, die ihren konkreten gesellschaftlichen Ort und konkrete gesellschaftliche Interessen haben. Die Geschichte von Legitimationstheorien ist immer ein Teil der ganzen Geschichte der Gesellschaft.«126 Auch wenn Berger und Luckmann den Aspekt der Sprache nicht allzu ausführlich behandeln, so messen sie ihr dennoch eine besondere Bedeutung bei, da Sprache als Wissensspeicher fungiert und damit für die Wirklichkeitskonstruktion zentral ist: »So subsumiert Sprache spezielle Erlebnisse ständig unter allgemeine Sinnordnungen, die objektiv und subjektiv wirklich sind.«127 Um die Theorie Bergers und Luckmanns für die Textanalyse methodisch nutzbar zu machen, schlägt Reiner Keller mit Verweis auf das Gedankengebäude Michel Foucaults die Brücke zu einem diskursanalytischen Begriffsrepertoire und erweitert den Aspekt der ›Sprache‹ um die wirklichkeitskonstituierende Funktion von ›Aussagen‹.128 Während Berger und

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Peter L. Berger und Thomas Luckmann: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie, 2013, Frankfurt a. M.: Fischer Verlag, S. 137f. Ebd., S. 41. – Siehe zur Sprache auch ebd. S. 39ff., S. 73f. und S. 164. Die Idee der Verknüpfung beider ›Theorien‹ geht auf den Soziologen Reiner Keller zurück, der diesen Ansatz bereits 1998 in seiner Dissertation mit dem Titel Müll – Die gesellschaftliche Konstruktion des Wertvollen. Die öffentliche Diskussion über Abfall in Deutschland und Frankreich skizziert und im Anschluss daraus laut eigenen Angaben ein allgemein gehaltenes Forschungsprogramm, die sogenannte wissenssoziologische Diskursanalyse, entwickelt, das zahlreiche analytische Zugriffe auf Diskursformationen erlaube, ohne die sogenannte interpretative Hermeneutik zu unterlaufen. Dieser Ansatz soll die Möglichkeit eröffnen, Diskurse vor allen Dingen qualitativ und nicht nach quantitativen und ausschließlich linguistischen Parame-

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Luckmann zwar in ihrem Entwurf Sprache und routinierte Handlungen der Akteure als Transportmedien des Wissens beschreiben, äußern sie sich, wie Keller anmerkt, an keiner Stelle explizit über eine wissenskonstituierende Funktion von Aussagen. Foucault wiederum, der sich ebenfalls für Denk- und Wissenssysteme interessiert, bestimmt Diskurse als »eine Menge von Aussagen, die einem gleichen Formationssystem zugehören.«129 Dem Diskurs wird durch Foucault eine wirklichkeitskonstituierende Bedeutung zuerkannt, denn Diskurse selbst sind »als Praktiken zu behandeln, die systematisch die Gegenstände bilden, von denen sie sprechen.«130 Anders ausgedrückt lassen sich Diskurse »als mehr oder weniger erfolgreiche Versuche verstehen, Bedeutungszuschreibungen und Sinn-Ordnungen zumindest auf Zeit zu stabilisieren und dadurch eine kollektiv verbindliche Wissensordnung in einem sozialen Ensemble zu institutionalisieren.«131 Die von Subjekten abgelöste und sich nur auf Aussagen konzentrierende diskurstheoretische Sichtweise erscheint auf den ersten Blick inkompatibel mit einer explizit durch Subjekte hergestellten Wirklichkeit. Die Verknüpfung beider Perspektiven erweist sich aber gerade in Bezug auf die vorliegende Untersuchung als äußerst fruchtbar und liegt in der Fragestellung und dem Material begründet. Eine Verknüpfung eröffnet methodisch eine theoretisch unterfütterte Analysemöglichkeit von einzelnen individuellen Äußerungen, die sich als externalisiertes und zuvor internalisiertes Wissen in den einzelnen Musiktheaterkritiken niederschlagen. Ausschlaggebend für eine soziologische und kulturwissenschaftliche Verwendung des Diskursbegriffs ist, dass einerseits einzelne diskursimmanente Äußerungen oder Handlungen der Akteure stets im konstitutiven Wechselverhältnis mit dem Gesamtdiskurs stehen und andererseits der kulturelle, historische und situative Kontext der Sprecherpositionen zu Gunsten der Interpretation und

tern zu analysieren. Für die Soziologie mag dieser forschungspraktische Ansatz gerade wegen etablierter quantitativer Arbeitsmethoden bedeutsam sein. Geistes- und Kunstwissenschaften, die sich als Kulturwissenschaften verstehen, haben das Diskurskonzept Foucaults längst an ihre Bedürfnisse angepasst. Das Forschungsprogramm Kellers dient dieser Arbeit, genauso wie die entlehnten Begriffe zum Diskurs von Foucault, aber auch die hier übernommenen Ideen von Bourdieu und anderen, der Inspiration und gleichsam der Schärfung des eigenen Begriffsrepertoires. 129 Michel Foucault: Archäologie des Wissens, Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M.: 1981, S. 156. 130 Ebd., S. 74. 131 Reiner Keller: Diskursforschung. Eine Einführung für SozialwissenschaftlerInnen, 2011, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S. 8. – Diskurs oder öffentlicher Diskurs wird im allgemeinen Sprachgebrauch als Synonym für öffentlich geführte Debatten, Diskussionen und Auseinandersetzungen verwendet. Kern dieser Art des Diskurses ist folglich ein dialogischer Austausch von Argumenten bzw. sprachlichen Aussagen innerhalb eines spezifischen Problemfelds.

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Rekonstruktion diskursiver Formationen bei der Analyse berücksichtigt wird.132 Das dieser Arbeit zugrundeliegende Verständnis von Diskursanalyse ist, dass sie sich – zwar nicht ausschließlich, aber prominent – »auf die Legitimität sozialer und politischer Ereignis- und Handlungszusammenhänge«133 bezieht – es geht also um die Frage, »wie Diskurse soziales oder politisches Handeln legitimieren und welche Deutungen als legitime Deutungsvorgaben institutionalisiert werden.«134 Diskursanalyse wird »als eine spezifische Form politischer Soziologie« begriffen, da in öffentlichen Aushandlungsprozessen Deutungen produziert werden, die »soziales und politisches Handeln zugleich anleiten und legitimieren« und mit denen die Diskursteilnehmer*innen u. a. um Legitimität und Anerkennung ringen.135 Die Frage nach Legitimationsstrategien im zeitgenössischen Musiktheater stellt ›Jedermannswissen‹, d. h. gesellschaftlich verdichtetes Wissen zur Legitimation des Musiktheaters, in den Mittelpunkt. Legitimation und Rechtfertigung, sowie alle abgeleiteten Formen, werden in dieser Arbeit synonym verwendet und wurden im Rahmen der Analyse auch synonym verstanden. Es gibt keine Anhaltspunkte dafür, dass der Gebrauch dieser beiden Wörter in den betrachteten Aussagen einer differenzierenden Bedeutung folgt. Darüber hinaus gilt ›Legitimation‹ in Nachschlagewerken als ›allgemeine Bezeichnung für den Versuch, etwas zu rechtfertigen‹, was ebenfalls für eine synonyme Verwendung der beiden Begriffe spricht.136 Die Legitimationsstrategien, welche im Fokus dieser Arbeit stehen, sind in erster Linie als Rechtfertigungsstrategien und als Verhandeln von Wertvorstellungen zu verstehen.137 Der Prozess des Legitimierens respektive des Rechtfertigens beinhaltet die Notwendigkeit des Erklärens und Nachweisens des zu verteidigenden

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Reiner Keller: Diskursforschung. Eine Einführung für SozialwissenschaftlerInnen, hg. von Ralf Bohnsack u. a. [= Qualitative Sozialforschung Band 14], S. 65. Michael Schwab-Trapp: Diskurs als soziologisches Konzept. Bausteine für eine soziologisch orientierte Diskursanalyse, in: Handbuch Sozialwissenschaftliche Diskursanalyse. Band I: Theorien und Methoden, hg. von Reiner Keller et al., Opladen: Leske + Budrich, 2001, S. 261–283, hier S. 264. Ebd. Ebd., S. 266. Werner Fuchs-Heinritz: Stichwort ›Legitimation‹ ([2], [3]), in: Lexikon zur Soziologie, 2011, Wiesbaden: VS Verlag. – Ich folge damit der nicht-essentialistischen Perspektive Ludwig Wittgensteins, der in seinen Philosophischen Untersuchungen unter § 43 bestimmt: »Die Bedeutung eines Wortes ist sein Gebrauch in der Sprache.« – Ludwig Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen, 9. Aufl., 2019, Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag, S. 40. Eine genuin rechtliche Auseinandersetzung mit ›Legitimation‹ findet allenfalls Niederschlag in den Diskussionen um einen vermeintlich im Grundgesetz verankerten staatlichen Kulturauftrag (abgeleitet aus Art. 5 GG), der den Anspruch verschiedener Einrichtungen auf Kultursubventionen begründet.

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Standpunktes bzw. des zu verteidigenden Gegenstands.138 In diesem Zusammenhang ist es allerdings wichtig zu betonen, dass – obschon Strategie etymologisch auf den Kontext der militärischen Kriegsführung zurückzuführen ist und im allgemeinen Sprachgebrauch das zielgerichtete Handeln von Personen oder Organisationen unter Berücksichtigung möglicher externer Einflüsse beschreibt139 – die bewusste, subjektiv motivierte Ausrichtung eines Vorgehens mit Blick auf ein vorhersehbares übergeordnetes Ziel für das Verständnis von Legitimationsstrategien nicht im Mittelpunkt steht. Im Rahmen dieser Arbeit bezieht sich der Strategie-Begriff also nicht auf das zielgerichtete, streng deterministisch ausgelegte Handeln und Bestreben von einzelnen Personen, sondern auf diskursive Strategien; Strategien also, die verdichtet innerhalb eines Diskurses entstehen und die durch den Prozess der Objektivierung, das heißt durch die Vergegenständlichung subjektiver Vorstellungen als objektiv gegeben, zwar zielgerichtet sein können, aber weder in einem bewussten noch vorhersehbaren Sinne ihre Entfaltung erfahren müssen. In dieser Ansicht folge ich in Analogie den Überlegungen Pierre Bourdieus zur Strategie: »Ich muß noch einmal betonen, daß das Prinzip der philosophischen (oder literarischen usw.) Strategien nicht etwa die zynische Berechnung, das bewußte Streben nach Maximierung des spezifischen Profits ist, sondern ein unbewußtes Verhältnis zwischen einem Habitus und einem Feld. Die Strategien, die ich meine, sind Handlungen, die sich objektiv auf Ziele richten, die nicht unbedingt auch die subjektiv angestrebten Ziele sein müssen.«140 »Dagegen gilt tatsächlich meine ganze Anstrengung […] dem Aufweis, daß die (ökonomischen oder anderen) Verhaltensweisen die Gestalt von objektiv auf ein Ziel bezogener Sequenzen annehmen, ohne notwendigerweise das Ergebnis einer bewußten Strategie noch mechanischer Determination zu sein.«141 Darüber hinaus sind Legitimationsstrategien diskursive Strategien in doppeltem Sinne: Einerseits beziehen sie sich auf inhaltliche Zusammenhänge bzw. Subdiskurse oder übergeordnete Sinnwelten, die für die Festigung des Geltungsanspruchs des Musiktheaters angeführt werden. – Es sei an die vier zuvor aufgeschlüsselten 138

Werner Fuchs-Heinritz: Stichwörter ›Legitimation‹ ([2], [3]) und ›Legitimierung‹ in Analogie, in: Lexikon zur Soziologie, VS Verlag, Wiesbaden: 2011, S. 401. – Der Begriff der Legitimation steht in der sozialwissenschaftlichen Literatur zwangsläufig im Zusammenhang mit dem Werk Max Webers, der sich mit der Struktur von Machtverhältnissen zwischen Herrschenden und Beherrschten auseinandergesetzt hat und in dessen Werk der Begriff der Legitimation insbesondere mit abgeleiteten Begriffen (etwa dem ›Legitimitätsglauben‹) eine große Rolle spielt. In der vorliegenden Arbeit sind Machtverhältnisse von nachrangiger Bedeutung. 139 Wahrig. Deutsches Wörterbuch: Strategie, Bertelsmann: Gütersloh, 2006, S. 1427. 140 Pierre Bourdieu: Soziologische Fragen, Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag, 1993, S. 113. 141 Pierre Bourdieu: Das Interesse des Soziologen, in: Rede und Antwort, Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag, 1992, S. 111–118, hier S. 115.

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Legitimationsebenen von Berger und Luckmann erinnert. Andererseits sind diskursive Strategien ein Portfolio an Mechanismen, die einen Legitimationsprozess erst ermöglichen. Während diskursive Legitimationsstrategien also einerseits die von Berger und Luckmann spezifizierten und bereits dargelegten vier Stufen beinhalten, die sich weitestgehend exklusiv auf das Musiktheater beziehen, sind diskursive Legitimationsstrategien andererseits auch in Bezug auf die ›Art und Weise‹, das heißt in Bezug auf geläufige Verfahren, wie Legitimation erreicht wird, auf andere Lebensbereiche übertragbar. Der letztgenannte Aspekt bezieht sich also auf diskursive Strategien etwa im Sinne von Abgrenzung, Bezugnahme, (historischen) Vergleichen usw. Schwab-Trapp beschreibt diesen Aspekt wie folgt: »Diskursive Strategien manifestieren sich in den Texten, die Diskursteilnehmer produzieren. Wo solche Strategien zur Veränderung bestehender oder zur Institutionalisierung neuer Deutungen für politische Ereignisse eingesetzt werden, entsteht für die Träger dieser Deutung ein Problem. Sie werden mit der Frage konfrontiert, wie bislang gültige Deutungen entwertet und neue Deutungen kollektiv zur Geltung gebracht werden können. Die Lösung dieses Problems besteht im Anschluss an Deutungen, die bereits kollektiv anerkannt sind.«142 Im Rahmen der Analyse sind beide Aspekte der Legitimierung interessant, d. h. sowohl der differenzierte Wissensbestand eines Bezugssystems, der zur Legitimation angeführt wird und dadurch Wirklichkeit schafft, als auch die angewendeten Mechanismen bzw. Verfahren, wobei der Schwerpunkt auf dem ersten Aspekt liegt. Von Interesse sind also insbesondere Legitimationsstrategien, »die einen institutionalen Ausschnitt an Hand eines differenzierten Wissensbestandes rechtfertigen. Solche Legitimationen liefern mehr oder weniger geschlossene Bezugssysteme für die entsprechenden Ausschnitte institutionalisierten Handelns.«143 Es geht um die Analyse von verdichtetem Wissen, das zur Legitimation des Musiktheaters angeführt wird. Während alle durch Berger und Luckmann spezifizierten Ebenen der Legitimation im vorliegenden Material angetroffen werden, so liegt die Forschungsabsicht insbesondere darin, die hinter den Legitimationsstrategien liegenden möglichen Bezugssysteme freizulegen, die durch differenzierte Argumente, Deutungsmuster und Erklärungen zur Festigung des Geltungsanspruchs des Musiktheaters herangezogen werden.

142 Michael Schwab-Trapp: Diskurs als soziologisches Konzept. Bausteine für eine soziologisch orientierte Diskursanalyse, in: Handbuch Sozialwissenschaftliche Diskursanalyse. Band I: Theorien und Methoden, hg. von Reiner Keller et al., Opladen: Leske + Budrich, 2001, S. 261–283, hier S. 273. 143 Peter L. Berger und Thomas Luckmann: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie, 2013, Frankfurt a. M.: Fischer Verlag, S. 101.

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3.4 Das Textkorpus und die hermeneutische Inhaltsanalyse Musiktheaterkritiken sind als Kern des Korpus maßgeblicher Bestandteil der vorliegenden Untersuchung. Der Fokus auf dieses Material erfolgte aufgrund der Funktionalität des Genres: In Musiktheaterkritiken kondensiert sich objektiviertes Wissen – jenseits der spezifischen Betrachtung eines ausgewählten Ereignisses. Der Begriff der Musiktheaterkritik wird weit ausgelegt, weil die in wissenschaftlichen Publikationen häufig strikt vorgenommene Unterteilung in Organisations-, Werkund Interpretationskritik aufgrund der regelmäßigen Verschmelzung dieser drei Formen im Bereich des Musiktheaters – dies lässt sich zumindest für das vorliegende Korpus feststellen – nicht sinnvoll ist und darüber hinaus für die Fragestellung auch keinen Mehrwert darstellen würde. Es wurden deshalb auch solche Texte in das Korpus integriert, die aufgrund ihrer Form im klassischen Sinne dem Genre einer Meldung nahestehen, oder die als Stellungnahme, Interview o. ä. an eine spezifische Aufführung anknüpfen.144 Die Zusammenstellung des Untersuchungsmaterials orientierte sich an acht Werken des Musiktheaters, die im Zeitraum von 1987 bis 2007 regelmäßig aufgeführt und in der Presse besprochen wurden. Anhand der Werkstatistik der Spielzeit 1996/1997 des Deutschen Bühnenvereins, der eine jährliche Bündelung aller im deutschsprachigen Raum stattgefundenen Theateraufführungen nach Gattungskategorien vornimmt, wurden stichprobenhaft je zwei Werke der Gattungen Oper, Operette, Musical sowie zwei Uraufführungen aus dem Bereich der Oper gewählt, um ein kontrastierendes Korpus zu erhalten.145 Dies erfolgte aufgrund der Hypothese, dass Legitimationsstrategien sich hauptsächlich gattungsspezifisch im Diskurs um die Oper, besonders um Uraufführungen, allenfalls noch eingeschränkt um das Genre der Operette in kontrastreicher Abgrenzung zum Musical formieren.146 Folgende Ereignisse wurden für die vorliegende Untersuchung ausgewählt: La Bohème von Giaccomo Puccini, Idomeneo von Wolfgang Amadeus Mozart, Orpheus in der Unterwelt von Jacques Offenbach, Die Csárdásfürstin von Emrich Kálmán, Das Mädchen mit den Schwefelhölzern von Helmut Lachenmann,

144 Die Begriffe ›Kritik‹ und ›Rezension‹ werden synonym verwendet. 145 Deutscher Bühnenverein – Bundesverband Deutscher Theater: Wer spielte was? 1996/97. Werkstatistik, Bensheim: Mykenae Verlag [= 50. Jahrgang]. – In den Werkstatistiken wird das Repertoire aller Theater in Deutschland, Österreich und der Schweiz, »vom Staats-, Stadtund Landestheater [bis hin zu den] meisten privaten Bühnen und […] Tourneeunternehmen« dokumentiert. – Deutscher Bühnenverein – Bundesverband Deutscher Theater: Wer spielte was? 1997/98. Werkstatistik, Bensheim: Mykenae Verlag [= 51. Jahrgang], S. 8. Die Werkstatistik ist nach Gattungen gegliedert (Oper, Operette, Musical, Schauspiel, Tanz). »Das Musiktheater ist aufgeteilt in die Gattungen Oper […], Operette und Musical.« – Deutscher Bühnenverein – Bundesverband Deutscher Theater: Wer spielte was? 1996/97. Werkstatistik, Bensheim: Mykenae Verlag [= 50. Jahrgang], S. 4. 146 Diese Hypothese konnte nicht aufrecht erhalten werden.

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Der unsichtbare Raum von Adriana Hölszky, Der kleine Horrorladen von Alan Menken und Starlight Express von Andrew Lloyd Webber. Anschließend wurden für Aufführungen dieser Werke etwa 1500 Kritiken aus Printmedien für den Zeitraum von 1987 bis 2007 zusammengetragen. Die Mitte des Untersuchungszeitraums bildet etwa den Zeitabschnitt ab, in dem die Debatte um öffentlich getragene Kulturförderung und Diskussionen um den Sparzwang einen Höhepunkt erreichten.147 Den Endpunkt des Untersuchungszeitraums markiert etwa das Aufkommen von Rezensionen im Internet. Als pragmatische Orientierungshilfe wurde die Gründung des Online-Kritikenportals nachtkritik.de gewählt. Das Portal wurde 2007 von einem Journalist*innen-Kollektiv als unabhängiges Online-Theaterfeuilleton etabliert. Zentraler Gedanke der Unternehmung war, die Kritik als Gesprächsangebot zu positionieren und Leser*innen durch anonyme Kommentarfunktion dezidiert Partizipationsmöglichkeiten bei der Diskussion von Aufführungen zu bieten. Die Gründer*innen nahmen damit vom Verständnis der Kritik als Kunstrichterin Abstand und konnten sich zudem von der Produktionslogik der Zeitungen lösen.148 Für die Auswahl der untersuchten Kritiken hätten selbstverständlich auch andere Werke herangezogen werden können. Leitend bei der Auswahl war neben der kanonischen Gattungszugehörigkeit, wie sie in den Statistiken systematisiert wird, für jede Gattung individuell zwei unterschiedliche Werke zu berücksichtigen; etwa in Bezug auf die Besetzung, die Ästhetik, den historischen Kontext oder die Aufführungsdichte. Um genügend Material zusammentragen zu können, sollten die Werke der Kategorie ›Uraufführung‹ außerdem mindestens eine Wiederaufnahme im Untersuchungszeitraum erfahren haben. Das Korpus beschränkt sich maßgeblich auf Printmedien unterschiedlicher Pressetypen: Teil des Korpus sind Artikel aus überregionalen Tageszeitungen, regionalen Tageszeitungen, Wochenzeitungen, Nachrichtenmagazinen, Illustrierten und Boulevardmagazinen. Der überwiegende Teil der als Quellen genutzten Zeitungsausschnitte stammt aus dem Bestand des Kritikenarchivs der Theaterwissenschaftlichen Sammlung der Universität zu Köln. Ein Merkmal, das für Kritikenarchive zwar nicht unüblich, aber dennoch erwähnenswert ist, ist die 147

Neben der politischen und wirtschaftlichen Debatte in Bezug auf Theaterfinanzierung ist außerdem auffällig, dass Mitte der 1990er Jahre ein erhöhtes Interesse an historischen Perspektiven auf dieses Thema bestand und etwa durch Museen beleuchtet wurde. Beispielsweise widmete sich das Märkische Museum Berlin 1995/1996 dem ›Theater als Geschäft‹ mit einer Ausstellung. Das Vorwort der Ausstellungspublikation rückt die Frage nach Theaterfinanzierung – vor dem Hintergrund der Schließung des Schillertheaters in Berlin – explizit in den Fokus. – Ruth Freydank (Hg.in): Theater als Geschäft. Berlin und seine Privattheater um die Jahrhundertwende, Berlin: Edition Hentrich, 1995. – Nicht von Ungefähr wurde 1996 auch Das Theater als Geschäft, ein Theatermanagement-Buch von Max Epstein aus dem Jahr 1911, neu aufgelegt. 148 Siehe http://www.nachtkritik.de.

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vorausgegangene Sondierung relevanter Ausschnitte durch entsprechende Dienstleistungsunternehmen, welche die Tagespresse nach Kritiken durchsuchen. Die Ausschnittdienste orientieren sich dabei an den durch die Auftraggeberin festgelegten Kriterien. Für das Kritikenarchiv der Theaterwissenschaftlichen Sammlung werden neben der expliziten Auswahl der zu beachtenden Printmedien folgende Kriterien für den Ausschnittdienst festgelegt: Erstens liegt der Fokus auf Kategorien und Schlagwörtern wie Ur- und Erstaufführung, Premiere, Theater, Oper usw. Zweitens werden Konzert-, Ballett- und Filmkritiken explizit ausgeschlossen.149 Demnach stellen die untersuchten Kritiken vor der Analyse bereits ›verdichtetes Wissen‹ dar, das in der Musiktheaterlandschaft als berichtens- und sammelnswert erscheint. Ergänzt wurde das Korpus punktuell durch Material aus den jeweiligen Archiven der Veranstaltungsorte einiger Aufführungen, wobei sich die Ergänzungen – mit Ausnahme des Materials zum Starlight Express – quantitativ in Grenzen halten. Während sich die stichprobenhaft angefragten Presseberichte beispielsweise bei den Opernhäusern Hamburg (Das Mädchen mit den Schwefelhölzern in der Regie von Achim Freyer) und Dresden (Die Csárdásfürstin in der Regie von Konwitschny) nahezu deckungsgleich mit dem im Kritikenarchiv vorhandenen Material darstellten, das Archiv der Theaterwissenschaftlichen Sammlung bisweilen sogar über mehr Material verfügt als die jeweiligen Pressespiegel der Veranstaltungsorte, zeigte sich die Differenz in der Menge der Artikel besonders im Zusammenhang mit dem Musical Starlight Express. Im Gegensatz zum sehr gut bestückten hauseigenen Kellerarchiv in der Starlight-Halle in Bochum ist der Bestand zum Starlight Express

149 Diese Angaben beruhen auf der Auskunft der Mitarbeiterin Nora Probst, die das Kritikenarchiv der Theaterwissenschaftlichen Sammlung der Universität zu Köln betreut. – Im Untersuchungszeitraum (zwischen 1987 und 2007) wurde die Auswahl der Printmedien wegen häufiger Mehrfachnutzung einer Kritik (Dublette) in mehreren Medien eingeschränkt. Die Praxis der Dubletten konnte im Verlauf der Recherche eindrücklich nachvollzogen werden. Neben wortgleichem Abdruck der Kritiken in unterschiedlichen Medien kommt es häufig auch zur Verwendung bereits in einem anderen Medium verarbeiteter Versatzstücke, was dazu führt, dass sich einige Kritiken bis auf marginale Änderungen in Formulierung und Aufbau, teilweise aber auch nur in einigen Teilen in einem anderen Medium wiederholen. Dubletten konnten ausschließlich für regionale Zeitungen festgestellt werden. Auffällig ist außerdem, dass sich Kritiken in regionalen Zeitungen für überregional besprochene Aufführungen an dpa-Meldungen orientieren und ggf. Sätze oder Textteile wörtlich übernehmen. – Siehe bspw. die Beschreibung des Dirigats Seiji Ozawas bei Klaus Gruber: Verblüffende Bilder retten Spannung, in: Mittelbayrische Zeitung Regensburg, 30.07.1990, die mit der dpa-Meldung identisch ist O. A.: Verdi läuft Mozart in Salzburg den Rang ab, in: Westfälische Nachrichten, 30.07.1990. – Siehe beispielsweise auch die beiden Rezensionen im Vergleich von Matthias Frede: Dieser Charme von Melancholie, Dresdner Neueste Nachrichten, 03.01.1992 und Matthias Frede: Stiller Tod im Schnee, Die Welt Hamburg, 18.12.1991.

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im Archiv der Theaterwissenschaftlichen Sammlung zwar vorhanden, allerdings in der Anzahl der Dokumente im Vergleich sehr dürftig.150 Während die Auswahl der Stücke als strukturierende Grundlage des zu untersuchenden Materials nach dem Kriterium der größtmöglichen Heterogenität erfolgte, sollte die Konzentration auf Musiktheaterkritiken aus Zeitungen (und beim Starlight Express ergänzend aus Zeitschriften) zu den gewählten Werken ein homogenes Korpus zur Diskursanalyse generieren.151 Darüber hinaus wurde das jeweilige Medium, dem die Texte entnommen wurden, für die Analyse weitestgehend ausgeblendet, um den einzelnen Dokumenten mit einer größeren Offenheit zu begegnen. Es könnte vermutet werden, dass die Ergebnisse der vorliegenden Studie durch dieses Vorgehen verzerrt würden, da das Korpus aus Dokumenten zusammengestellt wurde, die in unterschiedlichen Medien mit differierender Auflagenhöhe abgedruckt wurden. Auf den ersten Blick erreichen Kritiken beispielsweise abgedruckt in der Süddeutschen Zeitung eine größere Leserschaft als Kritiken, die etwa im Wiesbadener Kurier publiziert wurden. Allerdings konnte für das Korpus festgestellt werden, dass insbesondere in auflageschwächeren Medien wortgleiche bzw. lediglich leicht abgeänderte Musiktheaterkritiken abgedruckt werden. Das heißt, dass ein und dieselbe Kritik in mehreren auflageschwachen Medien gedruckt wird und damit wiederum zahlenmäßig eine vergleichbare Leserschaft erreicht wie etwa ein überre-

150 Für diese Beobachtung gibt es mehrere hypothetische Erklärungen: 1.) Das Musical Starlight Express läuft bereits ensuite seit vielen Jahren und fällt dadurch aus dem Sammelgebiet der Theaterwissenschaftlichen Sammlung wegen der festgelegten Kriterien (etwa: Premiere) heraus, 2.) Dem Musical wird von den Dienstleistern für Zeitungsausschnitte wenig Bedeutung beigemessen, 3.) Die vorgenommene Sondierung der Zeitungsausschnitte richtet sich hauptsächlich auf Medien, in denen Starlight Express im Gegensatz zu den anderen Werken nicht bzw. wenig rezensiert wird. – Unabhängig vom Fundort differieren die einzelnen Zeitungsausschnitte sehr stark hinsichtlich der Güte der vorhandenen Quellenangaben. Nach Möglichkeit werden die Zeitungsausschnitte folgendermaßen zitiert: Autor*in bzw. Autor*innenkürzel: Titel, Zeitung, Datum, Seite. Um die Fußnoten nicht unnötig aufzublähen, wurde bei den Titelangaben der Kritiken auf etwaige Untertitel verzichtet. Bei Nichtvorhandensein einer Seitenangabe wird auf Platzhalter verzichtet. – Auf etwaige Tippfehler in den Zitaten wird nicht hingewiesen. Diese wurden um der besseren Lesbarkeit willen korrigiert. 151 Für die vorliegende Studie werden online publizierte Rezensionen aus unterschiedlichen Gründen nicht berücksichtigt. Insbesondere fällt der pragmatisch gewählte Endpunkt der Studie gewissermaßen auf den Übergang zum web 2.0 und damit auf den Beginn einer dualen Internetnutzung durch Konsumenten, die gleichzeitig als Produzenten auftreten. Für die Musiktheaterkritik bedeutet dies erstens, dass neben den Kritiken in Online-Portalen von Zeitungen auch die Kommentare berücksichtigt und dass unzählige privat initiierte Rezensionen in das Korpus integriert werden müssten. Zweitens müssten in diesem Fall der Vollständigkeit halber weitere Medien, Kommentare o. ä., beispielsweise aus sozialen Netzwerken, in das Korpus integriert werden, was den Rahmen dieser Arbeit sprengen würde.

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gionales Medium.152 An dieser Stelle soll jedoch nichtsdestotrotz auf den milieugenerierten Subtext der unterschiedlichen Medien hingewiesen werden.153 Ferner ist zu beobachten, dass Berichte zum Starlight Express, dessen Unternehmensstruktur privatwirtschaftlich organisiert ist, im Vergleich zum restlichen Material des Korpus auch verstärkt in Blättern wie Quick, Stern und anderen Illustrierten sowie in der Wirtschaftswoche und der Apotheken Umschau abgedruckt sind.154 Die Vermu152

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Siehe dazu die bereits zitierte Beschreibung des Dirigats von Seiji Ozawa. – Ein weiteres Beispiel für identische Kritiken in unterschiedlichen Medien ist z.B. Ingvelde Geleng: »La Bohème« der jungen Stimmen begeistert aufgenommen, Schwarzwälder Bote, 27.12.1988 und Ingvelde Geleng: Eine verjüngte »La Bohème« in Berlin zu Weihnachten, Badisches Tagblatt, 27.12.1988. – Für Literaturrezensionen stellen Rolf Hackenbroch und Jörg Rössel die im Kontext der Literatur nachvollziehbare Vermutung auf, dass die Frankfurter Allgemeine Zeitung für andere Printmedien als Leitmedium fungiert. Für Literatur, die, um rezipiert zu werden, geographisch nicht auf einen spezifischen Ort angewiesen ist, mag dies einleuchten. Für das vorliegende Korpus kann eine solche Vermutung allenfalls für überregional besprochene Musiktheateraufführungen (etwa solche, die verhältnismäßig viel Aufmerksamkeit erlangen) gelten, wobei vielmehr die Differenz zwischen überregionalem und regionalem Medium und keine Vorherrschaft einer spezifischen Zeitung festgemacht werden kann. Zahlreiche Musiktheateraufführungen, die in regionalen Zeitungen rezensiert werden, beziehen sich auf lokale Veranstaltungsorte und finden keinen Eingang in überregionale Zeitungen. – Vgl. zu Literaturrezensionen Rolf Hackenbroch und Jörg Rössel: Organisationsstrategien und mediale Selektion im Kunstbereich am Beispiel von Literaturrezensionen, in: Jürgen Gerhards (Hg.): Soziologie der Kunst, Opladen: Westdeutscher Verlag, 1997, S. 263–287. Auch wenn das durch Gerhard Schulze vorgelegte Konzept der ›Erlebnisgesellschaft‹ als kultursoziologisches Merkmal der Gegenwart hinterfragt werden kann, legt er in seiner Studie dennoch eine nachvollziehbare Einordnung der Leser*innen unterschiedlicher Zeitungen und Zeitschriften vor: Für seine fünf Milieubeschreibungen ordnet Schulze unterschiedliche Printmedien verschiedenen sozialen Milieus zu. – Gerhard Schulze: Die Erlebnisgesellschaft. Kultursoziologie der Gegenwart, Frankfurt/New York: Campus Verlag, 2005, S. 277–333. Das Korpus der Studie enthält nur eine geringe Anzahl an Kritiken, die sich auf eine Musiktheateraufführung von sogenannten ›freien Theatern‹ beziehen. Vereinfacht werden unter ›freien Theatern‹ all jene Produktionen oder Theaterkollektive verstanden, die öffentliche Zuschüsse nach spezifischem Antrag für die Umsetzung einer Veranstaltung oder Produktion zugesprochen bekommen und nicht – wie beispielsweise an städtischen Bühnen üblich – für mehrere konsekutive Spielzeiten. Damit lässt sich ›das freie Theater‹ zwar nicht in seiner Ästhetik, aber doch in der Finanzierungsform greifen. Die geringe Anzahl der Kritiken zu freien Theatern liegt vermutlich am grundsätzlich erhöhten Personalaufwand im Musiktheater und mit einer einhergehenden geringen Dichte freier Bühnen, die Werke des Musiktheaters zur Aufführung bringen. Zudem mag auch die vorgelagerte Auswahl der Werke diesen Effekt verstärken, da diese einerseits für die ›freie Szene‹ aus finanzieller Perspektive nur schwierig umsetzbar sind und der Fokus ›freier Bühnen‹ andererseits tendenziell eher auf experimentellen und kollektiven Arbeitsabläufen liegt. Unabhängig davon ist allerdings anzumerken, dass die Differenz im Finanzierungssystem zwischen staatlich geförderten Theatern und der sogenannten ›freien Szene‹ letztendlich nicht so groß ist. Der Unterschied liegt in der zuwendungsrechtlichen Verwaltung der Gelder (Projektförderung vs. institutionelle

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tung liegt nahe, dass die Institution (privatwirtschaftlich oder öffentlich finanziert) und nicht das Genre determiniert, wieviel und in welchem Medium publiziert wird. Für die Strukturierung und die Analyse der Musiktheaterkritiken wurde, wegen des sehr großen Textkorpus und zu Zwecken der systematischen Erfassung der Dokumente, eine Software zur qualitativen Datenanalyse verwendet.155 Die Kritiken wurden innerhalb der Programmoberfläche als Scans im pdf-Format unter der entsprechenden Werkbezeichnung einsortiert. Den jeweiligen Dateien als Ganzes, aber auch einzelnen Abschnitten können sogenannte Memos (etwa ausformulierte Interpretationsgedanken oder Fragen in Form von Karteikarten) oder Kategorien (in Form von Schlagworten, Variablen oder etwa Farbkodierungen) zugeordnet werden. Das Programm kann während der Analyse durch unterschiedlich anwählbare Dokumente oder – wie im vorliegenden Fall induktiv, d. h. aus dem Material heraus entwickelte – Kategorien einen schnellen und insbesondere sortierten Überblick beispielsweise über ähnliche Aussagen geben, die den unterschiedlichen, vorab induktiv gewonnenen Kategorien zugeordnet sind. Insbesondere bei einer sehr großen Textmenge kann das Programm die Analyse der Daten unterstützen oder auch stimulieren: Die Möglichkeit der Anpassung von einzelnen Analysebestandteilen im Sinne eines spiralförmigen Erkenntniszuwachses während der Analyse hilft sehr dabei, die Daten und Analyseergebnisse übersichtlich zu strukturieren und in Gruppen zusammenzuführen. Dadurch können relevante Zitate und Querverweise nicht nur schnell aufgefunden, sondern insbesondere auch mühelos an die Textstelle im Originaltext zurückverfolgt werden, um den Kontext des Zitats bei Bedarf zu reaktivieren. Selbstverständlich ersetzen diese Programme in keiner Weise die Analyseleistung der Forschenden. Das Datenmaterial, im vorliegenden Fall jede einzelne

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Förderung, kurzfristige Planungsmöglichkeit vs. langfristige Planungssicherheit, fluide Produktionsformen vs. statische Produktionsabläufe). Damit bleibt die öffentliche Hand auch bei den ›freien Theatern‹ Geldgeberin. – Vgl. Überlegungen zur ›freien Theaterszene‹: Annemarie Matzke: Das »freie Theater« gibt es nicht. Formen des Produzierens im gegenwärtigen Theater, in: Wolfgang Schneider (Hg.): Theater entwickeln und planen. Kulturpolitische Konzeptionen zur Reform der Darstellenden Künste, Bielefeld: transcript Verlag, 2013 S. 259–298. – Eine Bestandsaufnahme zu freiem Musiktheater bildet die Dissertation von Lothar Jahn: Freies Musiktheater in der Bundesrepublik Deutschland. Inauguraldissertation zur Erlangung des Grades Dr. phil. im Fach Musikwissenschaft an der Gesamthochschule Universität Kassel GhK, 1993. Für die vorliegende Arbeit wurde das Softwareprogramm MaxQDA verwendet. QDA-Programme, das heißt Softwareprogramme zur qualitativen Datenanalyse, werden sehr vielfältig und disziplinenübergreifend eingesetzt. Einen guten Überblick über mögliche Anwendungsfelder sowie die methodischen Verfahren gibt beispielsweise Udo Kuckartz. – Udo Kuckartz: Einführung in die computergestützte Analyse qualitativer Daten, VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden: 2010, zu Anwendungsfeldern insbesondere S. 15–20.

II Material und Methode

Musiktheaterkritik als Zeitungsausschnitt, bleibt unmittelbarer Untersuchungsgegenstand.156 Die unterschiedlichen Arbeitsschritte, d. h. die Analyse-, Interpretations-, Kodierungs- und Gruppierungsphasen, wurden im Zuge der Analyse zirkulär vorgenommen und haben sich teilweise auch überschnitten; es handelte sich demnach nicht um einen chronologischen Analyseablauf. Ein großer Vorteil der zirkulären Kodierung (dem immer dichter werdenden Netz aus Kategorien und Subkategorien) und des sehr einfachen Datenmanagements (d. h. des jederzeit und unkompliziert möglichen schnellen Überblicks über den Analysestand) besteht einerseits in der offenen Unvoreingenommenheit der Arbeit am Text und andererseits in der durch die garantierte Übersichtlichkeit minimierten Gefahr einer reduktionistischen Interpretation. Für die Analyse der Texte orientiere ich mich an einer hermeneutisch-interpretativen Vorgehensweise und frage im Zusammenhang mit Legitimationsstrategien nach Wissensbausteinen, Deutungsmustern, Subdiskursen, aber auch nach werkspezifischen narrativen Strukturen in den einzelnen Texten.157 Von Interesse sind also »die sozialen Erzeugungsprozesse und Erscheinungsformen der gesellschaftlichen Wissensvorräte«158 zur Legitimation des Musiktheaters. Das analytische Vorgehen zielte dabei grundsätzlich darauf ab, von einzelnen Aufführungen zu abstrahieren und für die Fragestellung interessante spezifische Textpassagen herauszulösen, die quantitativ betrachtet als verdichtetes Wissen ausgewertet wurden.159 Die Ergebnisse dieser Studie gründen in Bezug auf die spezifische Textarbeit auf der für die Geisteswissenschaften klassischen Methode der Hermeneutik, d. h. auf der »Kunst der Interpretation von Texten«160 . Die wissenssoziologische Perspektive Bergers und Luckmanns verdeutlicht durch den Prozess der Internalisierung

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Siehe dazu auch Reiner Keller (2011): Diskursforschung. Eine Einführung für SozialwissenschaftlerInnen, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften [= Qualitative Sozialforschung, Band 14, hg. von Ralf Bohnsack et al.], S. 103. – Udo Kuckartz beschreibt plastisch: »(Fast) alles, was das Computerprogramm macht, ließe sich auch mit althergebrachten Paper-and-pencil Techniken realisieren, aber es würde um einige Zehnerpotenzen mehr Zeit benötigen.« – Udo Kuckartz: Einführung in die computergestützte Analyse qualitativer Daten, VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden: 2010, S. 13. 157 Siehe dazu Reiner Keller: Diskurse und Dispositive analysieren. Die Wissenssoziologische Diskursanalyse als Beitrag zu einer wissensanalytischen Profilierung der Diskursforschung, in: Historical Social Research, Vol. 33, 2008 No.1, S. 73–107. 158 Reiner Keller: Diskurse und Dispositive analysieren. Die Wissenssoziologische Diskursanalyse als Beitrag zu einer wissensanalytischen Profilierung der Diskursforschung, in: Historical Social Research, Vol. 33, 2008 No.1, S. 73–107, hier S. 79. 159 Patrick Rössler: Inhaltsanalyse, UVK Verlagsgesellschaft, Konstanz, 2010, S. 18. 160 Franz-Peter Burkard: Hermeneutik, in: Metzler Lexikon Philosophie, hg. von Peter Prechtl und Franz-Peter Burkard, Stuttgart: Metzler’sche Verlagsbuchhandlung und Carl Ernst Poeschel Verlag GmbH, 2008, S. 236f., hier S. 236.

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Musiktheater und Legitimation im Diskurs

und Externalisierung von Wissen, dass jedes Verstehen einem inhärenten Vorverständnis unterliegt. Gadamer beispielsweise äußerte: »So gibt es gewiß kein Verstehen, das von allen Vorurteilen frei wäre, so sehr auch immer der Wille unserer Erkenntnis darauf gerichtet sein muß, dem Bann unserer Vorurteile zu entgehen.«161 Dieses Vorverständnis steht in engem Zusammenhang zur Zirkularität des Verstehensprozesses (hermeneutischer Zirkel): So muss »der Interpret, [um] einen Text zu verstehen, […] auf das Ganze hinschauen, andererseits darf er zum Ganzen nur durch das Verstehen des Einzelnen gelangen.«162 Das Modell des Zirkels vernachlässigt jedoch den Verstehenszuwachs, der durch den Weg vom Einzelnen zurück zum Vorurteil des Ganzen entsteht und der sich eindrücklich im software-unterstützten Analyseverfahren manifestiert hat. »Der Spiralbewegung entsprechend, unterliegt die Interpretation hinsichtlich ihrer Hypothesenbildung diesbezüglich einem Mechanismus der Selbstkorrektur.«163 Aus diesem Grund beschreibt Jürgen Bolten den Verstehensprozess mit dem Modell der Spiralform und bringt somit zum Ausdruck, dass das zunächst durch ein Vorurteil geprägte ›Ganze‹ einer immerwährenden Korrektur unterliegt.164 Über das Verstehen von Text schreibt Bolten: »Einen Text verstehen heißt […], Merkmale der Textstruktur bzw. des -inhaltes und der Textproduktion unter Einbeziehung der Text- und Rezeptionsgeschichte sowie der Reflexion des eigenen Interpretationsstandpunktes im Sinne eines wechselseitigen Begründungsverhältnisses zu begreifen. Daß es dabei weder falsche noch richtige, sondern allenfalls mehr oder minder angemessene Interpretationen geben kann, folgt aus der – auch vorausweisenden – Geschichtlichkeit der Verstehenskonstituenten und der damit zusammenhängenden Unabschließbarkeit der hermeneutischen Spirale.«165 Die Methode, mit auf einzelne Kritiken gerichteten Analysen ein abstrahiertes Ensemble von im gesellschaftlichen Wissensvorrat verankerten Legitimationsstrategien zu erhalten, d. h. einzelne individuelle Aussagen zu kumuliertem Wissen zu verdichten und zu objektivieren, erkennt den diskursiven Charakter dieser Strategien an.

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Hans-Georg Gadamer: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, Tübingen: Mohr Siebeck, 2010 [= Hans-Georg Gadamer, Gesammelte Werke, Bd. 1, Hermeneutik], S. 494. 162 Marco Bonato: Hermeneutischer Zirkel, in: Metzler Lexikon Philosophie, hg. von Peter Prechtl und Franz-Peter Burkard, Stuttgart: Metzler’sche Verlagsbuchhandlung und Carl Ernst Poeschel Verlag GmbH, 2008, S. 238. 163 Jürgen Bolten: Die Hermeneutische Spirale. Überlegungen zu einer integrativen Literaturtheorie, in: Poetica 17, 1985, H. 3/4., S. 355–371, hier S. 363. 164 Ebd., S. 355–371. 165 Ebd., S. 362.

II Material und Methode

Unter Berücksichtigung der Wissensproduktion auf mikrosoziologischer Ebene durch individuelle Aussagen und mit dem Wissen um die makrosoziologische Bedingtheit interessiert die aus den einzelnen Wissensformationen ableitbare, auf makrosoziologischer Ebene verallgemeinerbare diskursive Wissensformation. Konkret bedeutet dies, dass durch die Analyse eines Korpus unterschiedlicher Texte eines bestimmten Genres, gewissermaßen aus einer analytischen Mikroperspektive anhand einzelner Kritiken und damit anhand von Dokumenten einzelner Personen, maßgeblich Kritiker*innen, auf im allgemeinen Wissensvorrat verdichtetes Wissen zur Legitimation des Musiktheaters geschlossen werden kann. Es liegt in der Natur einer wissenschaftlichen Arbeit, Texte samt ihren Autor*innen zur Unterstützung der eigenen Hypothesen zu zitieren. Die Zitate aus den Musiktheaterkritiken sind – leicht nachvollziehbar durch die regelmäßige Angabe des Autors bzw. der Autorin – zwar in ihrer ›Externalisierung‹ eindeutig auf eine Person, nämlich die Kritikerin oder den Kritiker zurückzuführen; als ›echte Menschen‹ haben sie Teil an der gesellschaftlichen Konstruktion der Wirklichkeit. Das verdichtete Wissen jedoch ist gleichzeitig ›internalisiertes Wissen des Jedermann‹ und in seiner Funktionalität diskursiv. Aus diesem Grund richtet sich die Analyse auch nicht auf die Bewertung der Aussagen einer bestimmten Person166 , sondern fragt sozusagen nach dem aus dem Korpus ableitbaren verschleierten Wissen. Der folgende Abschnitt widmet sich den diskursiven Legitimationsstrategien, die im Datenkorpus der ausgewählten Musiktheaterkritiken durch spiralförmige Analyse des Materials verdichtet vorgefunden wurden.

166 »Soziologische Analysen rufen oft ein Mißverständnis hervor: Wer selbst zum Untersuchungsgegenstand gehört – in diesem Fall die Journalisten –, neigt dazu, das Aussprechen, das Entschleiern von Mechanismen als ein gegen Personen gerichtetes Denunzieren aufzufassen, als ›Angriffe‹, wie man so sagt, als persönliche ›ad hominem‹ geführte Attacken. […] Die Menschen mögen es im allgemeinen nicht, als Objekte aufgefaßt, objektiviert zu werden, und die Journalisten mögen es weniger als irgendeiner.« – Pierre Bourdieu: Über das Fernsehen, Suhrkamp Verlag Frankfurt a. M., 1998, S. 20f.

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III Legitimationsstrategien im Diskurs um das Musiktheater

Die Typologie der Bezugssysteme, wie sie durch die folgenden Überschriften vorgenommen wird, stellt bereits ein wesentliches analytisches Ergebnis der vorliegenden Untersuchung dar und hat sich erst im Verlauf der Analyse durch die Sortierung des Materials herausgebildet; die Kategorien sind selbstverständlich nicht a priori festgelegt worden, um anschließend mit Inhalt gefüllt zu werden.1 Das heißt also, dass die fünf Kategorien diejenigen Wissensbestände darstellen, unter welche die diskursiven Legitimationsstrategien, die sich in den untersuchten Musiktheaterkritiken verdichtet niederschlagen, subsumiert werden können. In der Konsequenz folgt einerseits, dass die hier angeführten Strategien hinsichtlich des Korpus durch die Typologie vollständig abgebildet sind. Andererseits heißt dies aber auch, dass es durchaus über die hier vorliegende Aufschlüsselung hinausgehende diskursive Legitimationsstrategien im Dispositiv des Musiktheaters geben kann, die innerhalb der Kritiken nicht verdichtet zur Sprache kommen und somit keinen Eingang in die vorliegende Typologie gefunden haben. Diskurse (in Form von Aussagen, die auch Handlungen sind), aber auch Praktiken (in Form von sonstigen Handlungen) bringen Legitimationsstrategien hervor, die durch Verdichtung oder Institutionalisierung zur Wirklichkeit werden. Für die vorliegende Arbeit schafft die ausschließliche Betrachtung von Aussagen eine strukturierende Orientierung, da Legitimationsstrategien, die sich als Praktiken entfalten, schon allein durch die gewählte Methode der Textanalyse nicht berücksichtigt werden, es sei denn sie werden in den Texten erwähnt. Unter Praktiken, die Legitimationsstrategien darstellen, fallen bspw. die Auftragsvergabe von Kompositionen für das Musiktheater, die ›Wiederentdeckung‹ in Vergessenheit geratener historischer Opern,2 die Existenz von För-

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Zum Forschungsprozess siehe Kapitel II. 3.3.4. Äußerungen wie die folgende sind ein Verweis auf diese Praktik des ›Ausgrabens‹: »da es an substanzreichen uraufzuführenden Werken mangelt, gräbt man aus, entdeckt man wieder.« – Gerhart Asche: Höhepunkte. Die Wiederentdeckung von Franz Schrekers »Der Schatzgräber« durch die Hamburgische Staatsoper, in: Jahrbuch 1989 der Zeitschrift Opernwelt, S. 88.

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Musiktheater und Legitimation im Diskurs

dervereinen samt ihren Ritualen,3 die Musiktheatervermittlung an Opernhäusern, deren Zielgruppe insbesondere Kinder und Jugendliche sind, aber auch – wie bereits dargelegt – die Musiktheaterkritik im Feuilleton.4 Eine besondere Schwierigkeit bei der Analyse bestand darin, häufig miteinander verquickte Argumentationslinien der Kritiker*innen in ihrer Spezifität einem bestimmten und differenzierten Wissensbestand zuzuordnen, das heißt, unterschiedliche Legitimationsstrategien zu entwirren und letztendlich als repräsentatives Beispiel einer spezifischen Strategie zuzuordnen. Gelegentliche Verweise zwischen den Unterkapiteln deuten auf diese sich häufig als Antagonismen angelegten Wechselwirkungen innerhalb der diskursiven Legitimationsstrategien hin (dies betrifft insbesondere Legitimationen der dritten Ebene, wie sie Berger und Luckmann beschrieben haben). Ebenfalls in der Analyse berücksichtigt werden diskursive Legitimationsstrategien im Sinne eines Mechanismus, wie sie SchwabTrapp ausarbeitete, das heißt beispielweise der Mechanismus der Abgrenzung oder des Vergleichens einer diskursiven Legitimationsstrategie gegenüber bzw. mit einer anderen. Darüber hinaus folgt die übergeordnete Struktur der einzelnen Kapitel zu den Legitimationsstrategien (im Gegensatz zu den Kapiteln I, II und IV) keinem linearen textdramaturgischen Ziel. Somit kann die Leseanordnung der Teilkapitel 1 bis 5 dieses Kapitels III nach Belieben erfolgen.

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Siehe dazu beispielsweise Anja Frank: Große Gesellschaft in kleiner Gruppe. Zum Eigensinn bürgerschaftlichen Engagements für Oper und Theater, Wiesbaden: Springer, 2018. Seit einiger Zeit legen Opernhäuser vermehrt Wert auf die »Professionalisierung [im Bereich der Musiktheaterpädagogik, welche] nicht nur aus dem Wunsch der Steigerung der Auslastungszahlen heraus wichtig [ist], sondern auch, um die Kunstform Oper und die Institution Opernhaus als Austragungsort menschlich-gesellschaftlicher Auseinandersetzungsprozesse weiterhin legitimieren zu können und ihn lebendig zu erhalten.« – Ostrop, Anne-Kathrin: Warum Musiktheatervermittlung an Opernhäusern?, in: con moto. Akademie Musiktheater heute 2015/2016, Deutsche Bank Stiftung, Frankfurt: 2015, S. 8–11, hier S. 11. – An diesem Zitat, das sich als Äußerung in Bezug auf eine Praktik, nämlich auf die Musiktheaterpädagogik, bezieht, lässt sich die Verquickung von Praktiken und Aussagen deutlich erkennen: Denn Ostrop spricht einerseits explizit über die Funktion der Musiktheaterpädagogik als legitimierendes Instrument, andererseits stehen ›menschlich-gesellschaftliche Auseinandersetzungsprozesse‹ im Vordergrund. Der Verweis auf die Funktion der Oper als Ort ›menschlich-gesellschaftlicher‹ Aushandlungsprozesse im Sinnzusammenhang von Musiktheaterpädagogik ist gleichzeitig Teil einer diskursiven Legitimationsstrategie.

III Legitimationsstrategien im Diskurs um das Musiktheater

1. Bürgerliche Werte und Habitus »Oper als spezifisch bürgerliche Form«5 Im Folgenden geht es nicht um eine theoretische Einordnung von sozialen Strukturen oder um die Beschreibung von Akteuren; es geht nicht um die Darstellung einer etwaigen, sich in den Kritiken niederschlagenden Selbstbeschreibung einer gegenwärtigen ›bürgerlichen Gesellschaft‹ respektive eines gegenwärtigen ›Bürgertums‹. Insbesondere geht es auch nicht darum, ein etwaiges bürgerliches Muster als historisches Ensemble diverser Bezugsgrößen nachzuzeichnen, auf welchem derlei Überlegungen fußen könnten. Es geht im Folgenden also vielmehr darum, den Begriff der ›Bürgerlichkeit‹ als Referenzsystem für ein semantisches Feld aufzugreifen, in dem sich gewisse Normen, Ideale und Wertvorstellungen, das heißt in dem sich »vagabundierende und kulturell wiederbelebbare Habitusund Mentalitätsformen«6 verdichten, ohne indes den Versuch zu unternehmen, auf einen »sozialstrukturell bestimmbaren Träger«7 zu verweisen. ›Bürgerlich‹ bezieht sich hier sowohl auf Kategorien bzw. Deutungsmuster aus dem Bereich der Lebenswelt, den Scheler mit dem Begriff des ›Bildungswissens‹ zu fassen versuchte8 , als auch auf das Ensemble an Formen eines Habitus, der in der Alltagssprache unter den Begriff des ›Bildungsbürgers‹ – von der häufig pejorativen Konnotation soll hier abstrahiert werden – subsumiert wird. Es geht also um die ›individuelle Bildungsleidenschaft‹9 bzw. den ›Bildungseifer‹10 samt Kanonisierung und Wissensakkumulation musikhistorischer Inhalte inklusive dem Aspekt der sprachlichen Distinktion durch einen spezifischen Jargon, die Praktik, diskursimmanent Verweisungszusammenhänge und Bezüge zu anderen Wissensinseln herzustellen, 5 6

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Theodor W. Adorno: Bürgerliche Oper, in: Klangfiguren. Musikalische Schriften I, hg. von dems., Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag, 1959, S. 32–54, hier S. 37. Heinz Bude, Joachim Fischer, Bernd Kaufmann: Einleitung, in: Bürgerlichkeit ohne Bürgertum. In welchem Land leben wir?, hg. von dens., München: Wilhelm Fink Verlag, 2010, S. 7–16, hier S. 15. Heinz Bude, Joachim Fischer, Bernd Kaufmann: Einleitung, in: Bürgerlichkeit ohne Bürgertum. In welchem Land leben wir?, hg. von dens., München: Wilhelm Fink Verlag, 2010, S. 7–16, hier S. 15. Zum ›Bildungswissen‹ siehe Max Scheler: Probleme einer Soziologie des Wissens, in: Ders.: Die Wissensformen und die Gesellschaft, Leipzig: Neue-Geist-Verlag, 1926. Tilman Reitz: Klassenprojekt oder Bildungsprogramm. Die strategischen Horizonte bürgerlicher Kultur, in: Heinz Bude, Joachim Fischer, Bernd Kauffmann (Hg.): Bürgerlichkeit ohne Bürgertum. In welchem Land leben wir?, München: Wilhelm Fink Verlag, S. 101–111, hier S. 104. Pierre Bourdieu: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, 2012, Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag, S. 503.

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Musiktheater und Legitimation im Diskurs

die ›Traditionsverpflichtung und -pflege‹, gewisse moralische Anschauungen bzw. um die Darstellung einer »universellen Programmatik richtigen Lebens«11 usw. Damit bezeichnet ›bürgerlich‹ als Eigenschaft eine Haltung oder einen Lebensstil und kulturelles Wissen. Es handelt sich damit um einen Begriff, der »eher deskriptive und assoziative Qualität«12 besitzt.

1.1 Bildung als Wissensakkumulation »Was man in der Schule schon lange nicht mehr lernt, das holt das Theaterprogramm mit gründlichen Informationen nach«13 , heißt es in einer Kritik. Ein katholisches Bildungswerk bietet Fahrten zum Musical Starlight Express an,14 im Katalog für Bildungsurlaub der Stadt Köln wird eine Fahrt ins Ruhrgebiet mit Zechenbesichtigung und Besuch einer Aufführung des Musicals angeboten15 und als siebenmillionster Musical-Gast wird eine Lehrerin vorgestellt, die mit ihrer Schulklasse die Aufführung des Musicals in Bochum besuchte; Starlight Express ist Teil des Bildungskanons – jedenfalls geht dies aus der Kritik hervor, denn die Lehrerin betont, dass das Musical auf dem Lehrplan stehe.16 Der Topos der Bildung, bzw. der »Bildungseffekt«17 des Theaters, wird in diesen Beispielen explizit mit schulischer Bildung, Weiterbildung bzw. kultureller Wissensvermittlung verknüpft. Während derlei explizite Hinweise recht rar sind, besteht an der wissensvermittelnden Funktion des Musiktheaters – zumindest mittelbar durch die Darstellung in den Kritiken – kein Zweifel, denn sie erwecken stets den Eindruck einer ausführlichen Lektion im Fach der ›kanonischen Musikgeschichte‹18 und spiegeln dabei häufig das bildungsbürgerliche Ideal musikhistorischer Wissensakkumulation. Neben der Präsentation von Jahreszahlen und Hintergrundinformationen zum historischen Entstehungskontext der zugrundeliegenden Werke der rezensierten Aufführungen 11

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Tilman Reitz: Klassenprojekt oder Bildungsprogramm. Die strategischen Horizonte bürgerlicher Kultur, in: Heinz Bude, Joachim Fischer, Bernd Kauffmann (Hg.): Bürgerlichkeit ohne Bürgertum. In welchem Land leben wir?, München: Wilhelm Fink Verlag, S. 101–111, hier S. 101. Wolfgang Kaschuba: Deutsche Bürgerlichkeit nach 1800. Kultur als symbolische Praxis, in: Jürgen Kocka (Hg.): Bürgertum im 19. Jahrhundert. Band II: Wirtschaftsbürger und Bildungsbürger, 1995, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, S. 92–127, hier S. 93. Johann W. Hammer: Vom ausgeflippten Olymp, in: Die Woche, Regensburg, 20.02.1992. O. A.: Bildungswerk fährt zum Starlight Express, in: Ruhr-Nachrichten, 08.09.98. Bernd Schiefer: Neuorientierung für das »Luxusgut« Bildungsurlaub, in: Arbeitgeber 9/50, 1998, S. 286–290, hier: S. 286. Nina Jeglinski: Im Expreß nach London, in: Thüringer Allgemeine, 12.9.98. Kai Luehrs-Kaiser: Buh-Stürme für die Ewigkeit, in: Die Welt, 17.04.2003. Wie in Kapitel II 2. gezeigt wurde, wird die Kritik funktional als Organ der Vermittlung kategorisiert. Im Unterkapitel III 1.3.1 wird der Aspekt der ›kanonischen Musikgeschichte‹ ausführlich aufgegriffen.

III Legitimationsstrategien im Diskurs um das Musiktheater

werden die Stücke, bisweilen angereichert mit Anekdoten, auch in den größeren Zusammenhang des musikhistorischen Kanons eingeordnet, wodurch der Geltungsanspruch des jeweiligen Werks im Gefüge anderer ›großer‹ Werke regelrecht ›platziert‹ wird. Ganz besonders in Bezug auf Offenbachs Orpheus in der Unterwelt scheint eine differenzierte und ausführliche historische Einordnung des Werks erforderlich zu sein, da das heutige Publikum weder besonders vertraut mit der Antike und mit den Vorstellungen des Humanismus sei, noch mit der Geschichte und der Politik zur Zeit von Napoleon III.19 Dieses Umstands und der daraus erwachsenen potentiellen Schwierigkeiten der Rezeption der Operette ist sich der Rezensent dieser spezifischen Aufführung also durchaus bewusst; er scheint gerade aus diesem Grund so ausführlich auf die Entstehungsgeschichte und insbesondere auf die einzigartige Stellung des Werks als Begründung der ›Offenbachiade‹ zu rekurrieren. Diese sei wiederum die Begründung der Gattung der ›abendfüllenden Operette‹.20 Innerhalb des Artikels wird die Relevanz musikhistorischen Wissens auch durch das Gewicht der historischen Kontextualisierung im Vergleich zur Besprechung der Aufführung deutlich: Etwa die Hälfte des Artikels beschäftigt sich mit historischen Begebenheiten, es wird die finanzielle Not Offenbachs als treibende Kraft hinter der Komposition dargestellt, in flüssigem, Binnenbeziehungen innerhalb des Textes herstellenden Schreibstil erhält die Leserin bzw. der Leser einen umfassenden Einblick in unterschiedliche Fassungen der Operette – dabei noch differenziert in Original und Bearbeitung –, die Librettisten bzw. Bearbeiter werden erwähnt, der antike Stoff in seiner Tragweite für die Musiktheatergeschichte aufgegriffen. Im Gegensatz dazu beschränkt sich die anschließende parataktische Aufzählung der Funktionen der beteiligten Personen darauf, lediglich durch einzelne Adjektive eine tatsächliche Wertung der Leistungen vorzunehmen. Gerade die ausführliche und differenzierte historische Aufarbeitung des Werks verweist sehr stark auf die Bedeutung der Wissensvermittlung im Kontext des Musiktheaters.21 Ist die Beschäftigung mit antiker Mythologie ohnehin ein Ausdruck bürgerlicher Kultur, so scheint dieser Umstand in der folgenden Kritik noch eine Dopplung zu erfahren, da die Rezensentin einen ausführlichen historischen Abriss über die Verwendung antiker Stoffe in den Künsten gibt. Auch dieser Abschnitt ist ein paradigmatisches Beispiel für die Ausführlichkeit, mit der in den Kritiken bisweilen über musikhistorische Gegebenheiten referiert wird. Zur Illustration soll im Folgenden der gesamte Abschnitt zitiert werden: »Antike Mythen – unerschöpflicher Fundus für Kunst und Künstler: Von der Renaissance bis zur Gegenwart regt die antike Mythologie, namentlich die 19 20 21

Dieter Schnabel: Operette im Zweiten Kaiserreich, in: Haller Tagblatt, Schwäbisch-Hall, 6.2.1992. Ebd. Ebd.

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Musiktheater und Legitimation im Diskurs

griechische Saga um das berühmte Künstlerehepaar Orpheus-Eurydike, die künstlerische Fantasie aller Richtungen an. Bringen dem einen etwa Heroinen, wie ›Salome‹, ›Elektra‹, ›Ariadne‹, ›Die Ägyptische Helena‹ u. a. in gleichnamigen Opern Richard Strauss’ hehrsten Kunstgenuß, so erfreuen sich andere eher an Soubretten und Diven der leichten Muse, wie ›Die schöne Galathee‹ (Operette von Franz von Suppé). Namentlich ›Eurydike‹, die als Gemahlin des Orpheus, griechischer Gott der Musik und des Gesangs, in alle Kunstgattungen einging, erfuhr vielfache Würdigung und unterschiedliche Deutung in ernsten und heiteren Auslegungen: Nach ›Dafne‹, der 1594 verfaßten allerersten Oper überhaupt, zierte bereits 1600 der Name ›Euridice‹ den Titel des zweiten ›Produkts‹ dieser eben erfundenen Kunstart des florentiner Autoren-Triumvirats Peri-Caccini-Rinuccini. ›Euridice‹ entstand anläßlich der Vermählung des französischen Königs Heinrich IV. mit Maria Medici. Fortan wurden die Gemüter bewegt von Glück und Tragik des Liebes- und Ehepaares ›Orpheus und Eurydike‹ (so Glucks Operntitel, Wien 1762), von Orpheus’ verzweifeltem Abstieg in den Hades, seiner Besiegung der Furien, von Eurydikes Auffindung bei den ›Seligen Geistern‹, ihrer Rückführung und – je nachdem – von der abermaligen Vereinigung oder dauernden Trennung der Liebenden. Das Paar, die Liebe und Musik wurden in Opern, Balletten, Gedichten und Tondichtungen sowie in Filmwerken verherrlicht und verewigt.«22 Die musikhistorischen Wechselwirkungen, die sich wie im vorangehenden Beispiel im Binnensystem des Musiktheaters bewegen, sind innerhalb der Kritiken dicht gewoben. Die hergestellten Bezüge verknüpfen jedwede historischen und werkbezogenen Parameter des Musiktheaterdispositivs und vermitteln dadurch ein dichtes Netz kulturrelevanten historischen Wissens: Den Tanz der durch Peter Konwitschny inszenierten kopflosen Leiche in der Operette Die Csárdásfürstin – der Regisseur perspektivierte das Stück aus seiner Entstehungszeit heraus und ließ den ersten Weltkrieg auch durch Ausstattung und Bühnenbild lebendig werden – assoziiert ein Rezensent etwa mit dem Tanz der Salome mit dem abgetrennten Kopf des Jochanaan in der Oper Salome von Richard Strauss und vergleicht sodann die Regiearbeit Konwitschnys mit einer Inszenierung der Operette Die Fledermaus von Johann Strauss (Sohn) durch die Regisseurin Ruth Berghaus; »ein tänzerisches Beharren auf dem Leben gegen den Tod.«23 Und auch in einem anderen Zusammenhang – hier geht es um die geköpften Götter am Ende von Neuenfels’ Idomeneo-Inszenierung – wird mit Verweis auf Salome und Medusa festgestellt, dass »das Köpfen eine ikonogra-

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Elisabeth Schrauzer: Vergnügliches aus Olymp und Hades, in: Reichenhaller Tagblatt, 10.11.1994. Georg-Friedrich Kühn: Mesalliance mit der Stasi, in: Frankfurter Rundschau, 31.12.1999.

III Legitimationsstrategien im Diskurs um das Musiktheater

fisch saubere Sache«24 sei. Hier steht abermals der Verweis auf griechische Mythologie im Zentrum, verbunden mit Bezug zu Inhaltsdeutungen der bildenden Kunst. Die historischen Hintergrundinformationen oder assoziativen Verknüpfungsleistungen haben bisweilen auch einen lokalen Bezug, was – wie im folgenden Fall deutlich wird – auch wieder dazu dient, das besprochene Werk mit anderen musikhistorischen Ereignissen in Beziehung zu setzen und mit Bedeutung aufzuladen. Im Zusammenhang mit einer Bohème-Rezension ist zu lesen: »Nach der Turiner Uraufführung von ›Manon Lescaut‹ galt Giacomo Puccini als erster Opernmeister seines Landes und als legitimer Nachfolger Verdis. Puccini brannte darauf, sofort eine weitere Oper zu komponieren. Als Stoff schien Henri Murgers Roman ›La vie de Bohème‹ geeignet. Nach mühevoller Zusammenarbeit mit dem Librettisten Giuseppe Giacosa und Luigi Illica gelang ein alle zufriedenstellendes Textbuch. Für die Komposition und Instrumentation ließ sich der Meister drei Jahre Zeit, und ›La Bohème‹ wurde Puccinis Meisterwerk. Im Jahre 1911 erfolgte mit dem ›Rosenkavalier‹ von Richard Strauss die Coburger Erstaufführung der Puccini-Oper, die dabei dem heimischen Publikum näher stand als der schwer aufzunehmende ›Rosenkavalier‹, wie es damals im ›Tageblatt‹ zu lesen war.«25 In einigen Fällen (meist, wenn die Interpretation der Regie laut Kritiker*in nicht zufriedenstellend ist) wird auch auf die Informationen im Programmheft hingewiesen; es sei »voll mit dem, was es an neuen Erkenntnissen auf dem Gebiet der Bohème-Forschung gibt«26 , schreibt etwa ein Rezensent. Besonders aufschlussreich, wenn auch zunächst irritierend, ist, dass er im Verlauf der Kritik, nach Einschätzung der Sänger*innen, nochmals auf das Programmheft eingeht. Er bemerkt: »War man vorne beinahe visionär um eine Puccini-Entstaubung bemüht, hielt man sich weiter hinten lieber an Abgeklopftes. Wo ›Originalbeitrag‹ draufstand, war – gleich mehrere Sätze am Stück – nur handelsüblicher Opernführer drin, eigenhändig gewürzt immerhin mit einer Vokabel ›herzzerreißend‹.«27 Der Anspruch des Kritikers, dass eine Aufführung auch neue Erkenntnisse der Forschung zum Werk zu berücksichtigen habe, unabhängig davon ob die Erwartung in diesem Fall eingelöst wird oder nicht, unterstreicht abermals die Bildungsfunktion des Musiktheaters und deutet zugleich auf den im Kunst- und Kulturdiskurs präsenten Topos des Fortschritts hin. Der Fortschrittsgedanke bleibt zwar unspezifisch und wird nicht weiter erläutert – im Verlauf dieses Kapitels wird er nochmals

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Kai Luehrs-Kaiser: Buh-Stürme für die Ewigkeit, in: Die Welt, 17.04.2003. Hans Höfer: Wehmut blühender Kantilenen, in: Coburger Tageblatt, 05.06.1990. Stefan Schickhaus: Der Dichter friert, in: Main-Echo Aschaffenburg, 04.06.1996. Ebd.

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Musiktheater und Legitimation im Diskurs

aufgegriffen –, er tritt durch den Rekurs auf Forschung und ›neue‹ Erkenntnisse aber sehr deutlich hervor; dem Werk wird dadurch einerseits Relevanz, andererseits eine gewisse Wandelbarkeit zugeschrieben. Die Kritik ist aber gerade deshalb so irritierend, weil sie im chronologischen Lesefluss zunächst von Wissenserweiterung spricht, diese dann aber durch Wissensstagnation wieder auszuheben scheint. Denn die im Programmheft vorgenommene Verknüpfung von ›neuen Erkenntnissen‹, die später als ›beinahe visionär‹ mit Hinweis auf den ›handelsüblichen Opernführer‹ bezeichnet werden, steht für sich betrachtet in einem unversöhnlichen Widerspruch. Entweder löst das Programmheft hier aus der Perspektive des Kritikers den Aspekt der Wissensvermittlung doch nicht ein, obwohl er diesen Aspekt zu Anfang explizit hervorhebt,28 oder aber er hält lediglich ›den handelsüblichen Opernführer‹ für redundant, da dieses Bildungswissen ohnehin vorausgesetzt wird. Auch im folgenden Beispiel steht ein Verweis auf das Programmheft im Mittelpunkt, um das Stück oder gar das Genre gegen die nach Befinden des Rezensenten missglückte Inszenierung subtil zu verteidigen. So schreibt der Rezensent sprachspielerisch: Die musikalische Umsetzung »aber kann den Gesamteindruck nicht operetten, er bleibt matt. Zu vieles in der Inszenierung bestätigt die Vorurteile gegen das Genre […]. Dabei steht alles, was Operette ist, im Programmheft. Und auch: wie man sie inszenieren kann – oder sollte.«29 Wie detailliert und sowohl musikhistorisch als auch -praktisch informiert die Rezensionen zeitweise ausfallen, zeigt sich beispielsweise auch an der Diskussion der Stimmwahl für die Besetzung der Rolle des Idamante, der in der besprochenen Aufführung »mit einem Tenor (anstatt mit einem Mezzosopran)«30 besetzt wurde. So äußert sich der Rezensent zwar zunächst anerkennend über diese Entscheidung, kritisiert dann aber deutlich, dass die unterschiedlichen Fassungen keine Berücksichtigung fänden: »Ein Blick auf die Entstehungs- und Aufführungsgeschichte des ›Idomeneo‹ zeigt, daß dies ganz im Sinne Mozarts ist. Der Komponist selbst hat für die Wiener Aufführung 1786 die Urfassung des Werks – 1781 in München aufgeführt – in dieser Hinsicht überarbeitet. Bedauerlicherweise greift die hannoversche Inszenierung dies nicht auf, mehr noch: Sie verschweigt das Problem der verschiedenen ›Idomeneo‹-Fassungen gänzlich, weder im Programmheft noch im ›Theater Magazin‹ finden sich hierzu konkrete Angaben. Die Besetzung des Idamante mit einem Tenor erscheint daher reichlich willkürlich. Mozarts Umgestaltung des Beginns des

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Gleichwohl positioniert sich der Kritiker selbst als umfassend informiert, weil er über die Inhalte ›gewöhnlicher Opernführer‹ offensichtlich Bescheid weiß. Gerd Klee: Nichts perlt, es tröpfelt nur, in: Wiesbadener Kurier, 09.12.1996. Hugo Thielen: Des Gottes Zorn besänftigt, in: Hannoversche Allgemeine, 06.07.1989.

III Legitimationsstrategien im Diskurs um das Musiktheater

zweiten Aktes bleibt ebenso unberücksichtigt wie (weitgehend) die Änderungen und Ergänzungen im dritten Akt.«31 Im Zusammenhang mit der Frage nach Subventionen im Kulturbetrieb – es soll an dieser Stelle an die eingangs zitierte und stark rezipierte Publikation der Wirtschaftswissenschaftler Baumol und Bowen erinnert werden – wird besonders deutlich, dass der Bildungsaspekt als Legitimationsstrategie im Diskurs des Musiktheaters eine dominante Größe darstellt. Das mag maßgeblich daran liegen, dass ›Bildung‹ als sogenanntes ›öffentliches Gut‹ als gesellschaftlich akzeptierte und unhinterfragte Maxime öffentlich anerkannt ist, die politisch durch den sogenannten ›Bildungsauftrag‹ funktional auf die Künste ausgeweitet wird. Daran schließt insbesondere das gängige Narrativ an, das den Nutzen von Bildung für die Gesellschaft über den individuellen Nutzen stellt.32 Baumol spezifiziert in einem Interview: »And in the case of the arts [as public good, Anm. CW] part of that spillover is of the same form as it is for education; more generally, we feel that cultured individuals make better citizens. At least much of the public feels that way.«33 Der letzte Satz, der sich auch auf den Aspekt der ›option value‹ beziehen lässt, ist im Kontext des Artikels für sich genommen aufschlussreich, da diese Generalisierung bereits Beobachtung der ›Wirklichkeit‹ ohne empirischen Nachweis ist, gleichzeitig als Aussage nicht hinterfragt und gewissermaßen verstetigtes Wissen zu sein scheint. Noch interessanter aber ist der Aspekt, dass kulturell gebildete Bürger*innen – und damit kann sowohl ästhetische Bildung als auch kulturelle Bildung im weiteren Sinne verstanden werden – ›bessere Bürger*innen‹ seien.

1.2 Die ›Schule des Lebens‹ Das hohe Legitimationspotential von ›Bildung‹ als Grund für den Geltungsanspruch des Musiktheaters scheint sich besonders durch die mögliche kleinteiligere Differenzierung unterschiedlicher Aspekte zu potenzieren. Dass die differenzierte historische Einordnung eines Werks dieses gleichsam semantisch mit historischer Bedeutung auflädt und dadurch auch die zugehörige Gattung in diesem semantischen Geflecht überzeitliche Geltung erfährt, sozusagen ›ihren Platz in der Geschichte‹ auf diese Art zugewiesen bekommt, geht aus den im vorangehenden Unterkapitel zitierten Beispielen deutlich hervor und scheint im Grunde auch als Konnex plausibel. Die Kritiken erschöpfen sich jedoch nicht im Aspekt der schulischen Bildung bzw. in der Wissensakquise und in der Rezeption eines kulturellen Kanons. So geht 31 32 33

Ebd. Siehe bspw. William Baumol im Interview: The Case for Subsidizing the Arts, in: Challenge, 1995, S. 52–56, hier S. 52. William Baumol im Interview: The Case for Subsidizing the Arts, in: Challenge, 1995, S. 52–56, hier S. 52.

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es – wenn auch in Wechselbeziehung mit dem akquirierten ›kulturellen‹ Wissen – um eine kultivierte Formung und Entwicklung des Menschen oder gar Bürgers, wie dies bei Baumol und Bowen anklingt. Das Theater als alternative ›Schule des Lebens‹34 , so wie es beispielsweise explizit in einer Kritik heißt, knüpft an das verbreitete Narrativ an, das dem Theater die Funktion einer ›moralischen Anstalt‹ zuschreibt. Dass die Trennung dieser beiden Facetten des Bezugssystems ›Bildung‹ sich nicht immer so deutlich artikuliert bzw. dass zwischen diesen beiden Aspekten eine Wechselbeziehung besteht, zeigen vage Formulierungen, die gewissermaßen zwischen Bildung im Sinne von Wissensakquise und Bildung im Sinne einer ›moralischen‹ Bildung oszillieren. So stellt ein Rezensent fest: »Man ging klüger aus dem Theater«35 , was im größeren Zusammenhang einerseits bedeuten kann, dass die Aufführung einen Wissens- oder Verstehenszuwachs ermöglicht, man also den eigenen kognitiven Horizont durch einen Aufführungsbesuch erweitert. Andererseits kann diese Art der ›Klugheit‹, hier durch die bildliche Darstellung des Hineinund wieder Hinausgehens, einen vom Theater initiierten Transformationsprozess darstellen, der auf eine kathartische Wirkung abzielt. Im bis heute populären Vortrag Friedrich Schillers, den er 1784 vor der kurpfälzischen deutschen Gesellschaft hielt, heißt es: »Die Schaubühne ist mehr als jede andere öffentliche Einrichtung des Staats eine Schule der praktischen Weisheit, ein Wegweiser durch das bürgerliche Leben, ein unfehlbarer Schlüssel zu den geheimsten Zugängen der menschlichen Seele.«36 Diesen gängigen Topos, Theater erbaue geistig, konnte Bourdieu im Übrigen im Zusammenhang mit seiner kultursoziologischen Studie Die feinen Unterschiede auch und besonders in solchen gesellschaftlichen Zusammenhängen ausfindig machen, in denen Theater in der Regel nicht rezipiert wird. Er deutet diese Beobachtung zu Recht als Indiz für die Dominanz dieses ›kulturellen Kapitals‹ im gesellschaftlichen Gefüge.37 Im Bild des Theaters als Bildungsanstalt und Medium der Umsetzung einer abstrakten Idee der Volkserziehung, wie es auch die Kritiken großflächig vermitteln, schwingt eine Reminiszenz an die Praxis der aufklärerischen Volksbildung im 18. Jahrhundert mit, die als Idee weit über übliche institutionalisierte Bildungsformen hinausgeht – das heißt weg von Erfahrungen und traditionellen, im familiären Kontext übertragenen Lehren, Weisheiten und Praktiken und hin zu einer umfassenderen »Art von gelehrter Erziehung [bzw. einer] anderen 34 35 36 37

Siehe beispielsweise Michael Struck-Schloen: Was Zerfall ist, in: Süddeutsche Zeitung, 02.01.1998. Manuel Brug: Die letzten Tage der Operetten-Menschheit, in: Die Welt, 31.12.1999. Friedrich Schiller: Was kann eine gute stehende Schaubühne eigentlich wirken?, in: Thalia, Bd. 1, Leipzig: Georg Joachim Göschen Verlag, 1785. Pierre Bourdieu: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, Frankfurt: Suhrkamp Verlag, 2012, S. 502. – Bourdieu ist sich selbstverständlich bewusst, dass im Rahmen von Umfragen die Position des Fragenden samt Ausrichtung der Fragen ein Bias hervorrufen.

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Art kultiviert zu werden.«38 Dem Musiktheater ist – zumindest geht dies deutlich aus den Kritiken hervor – ein moralischer Imperativ eingeschrieben:39 »Die Geschichte um die menschenfleischfressende Pflanze ist gar grausig, aber zutiefst moralisch. Protagonist Seymour […] muß sich entscheiden: erfolgreich sein, Geld und Audrey besitzen und dafür ein wenig morden – oder als ewiger Versager im Armenviertel Skid Row versauern.«40 Dieser moralische Imperativ zeigt sich auch und besonders im Topos ›Menschlichkeit‹. Nachgerade inflationär und floskelhaft steht ›menschlich‹ in den Kritiken als Bezugspunkt für die Beschreibung eines rezensierten Ereignisses. Nicht immer ist auszumachen, was hinter derartigen Beschreibungen stehen könnte. Als eingestreutes Adjektiv – ›menschlich‹ – bleibt der Topos teilweise sehr vage, und zwar nicht nur isoliert, sondern auch unter Berücksichtigung des größeren Verweisungszusammenhangs der jeweiligen Kritik. Ein neuer Intendant etwa verspreche ›menschliches Theater‹ für die kommende Spielzeit.41 Oder eine Inszenierung habe ›menschliches Format‹42 . Gerade durch die Offenheit bleibt der Topos anschlussfähig für unterschiedliche Verwendungen und Interpretationen. Während mit ›menschlich‹ in vielen Fällen ein ethisch-moralischer Aspekt aufgegriffen wird, der ›Menschlichkeit‹ als ›gute‹, erstrebenswerte moralische Grundhaltung skizziert, findet sich der Begriff auch häufig in Abgrenzung zu ›künstlich‹ oder ›bedeutungslos‹ wieder – ›menschlich‹ heißt in diesem Zusammenhang, dass uns etwas als Menschen betrifft und als ›natürlich‹ dargestellt wird. Ein Sänger etwa, der sich ohne Starallüren auf der Bühne bewegt und die Figur des Rodolfo authentisch vermittelt habe, verkörpere seine Rolle mit »tiefer Menschlichkeit«43 . Andererseits bezieht sich ›menschlich‹ auch auf Nöte und Bedürfnisse des Menschen, was unzweifelhaft als Bedeutungsproduktion für die Rezipient*innen interpretiert werden kann. Ein Regisseur etwa »meidet das abgegriffene Klischee der Operngestik

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Zitiert nach Reinhart Siegert: Volksbildung im 18. Jahrhundert, in: Notker Hammerstein und Ulrich Herrmann (Hg.): Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte. Bd. II: 18. Jahrhundert. Vom späten 17. Jahrhundert bis zur Neuordnung Deutschlands um 1800, 2005, München: C. H. Beck S. 443–483, hier S. 443. – In einer Übersicht werden Volkstheater und Bänkelsang als Medien der Volksaufklärung genannt. – Ebd. S. 461. Siehe dazu Frank Hentschel: Bürgerliche Ideologie und Musik. Politik der Musikgeschichtsschreibung in Deutschland 1776–1871, S. 448–453. Sara Thiel: Gar grausiges grelles grünes Gewächs, in: Freie Presse Chemnitz, 31.03.1998. Michael Stoll: »Etwas Neues bricht in Koblenz an«, in: Rhein-Zeitung Koblenz, 29.08.1996. Matthias Frede: Dieser Charme von Melancholie, in: Dresdner neueste Nachrichten u. a., 03.01.1992. Helmut Hampel: Gala der charaktervollen Stimmen, in: Wiesbadener Kurier, 16.05.1994.

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weitgehend, stellt lebendige Menschen auf die Bühne […].«44 Und im Zusammenhang der Beschreibung einer La Bohème-Aufführung schreibt ein Rezensent: »Es geht um […] Liebe und Nöte – und das ist alles so menschlich.«45 Ein anderer Rezensent wiederum äußert sich über die beeindruckende »Kunst des kanadischen Regisseurs, aus den Sängern Menschen wie du und ich zu formen«46 . Besonders im Zusammenhang mit Aufführungskritiken zu La Bohème ist der Rekurs auf ›Menschlichkeit‹ vermehrt vorzufinden – ein Rezensent etwa spricht vom »menschlichen Drama auf der Bühne«47 –, was mit dem historischen Entstehungskontext sowie der Bühnenhandlung der Oper und der Tradierung von Puccinis Selbstverständnis in Verbindung gebracht werden kann. Bei den Hauptakteuren auf der Bühne handelt es sich um junge Künstler und eine kranke Stickerin; den Chor bilden Bauern und Bäuerinnen, Cafébesucher*innen usw. Ohne Zweifel sind die Figuren Bilder des gewöhnlichen Lebens im Gegensatz zu den in der Oper bis ins 19. Jahrhundert vorherrschenden Figuren des Adels oder des gehobenen Bürgertums. Die Kritiken geben allerdings auch Aufschluss darüber, dass unter dem charakteristischen Merkmal des Adjektivs ›menschlich‹ der Bedeutungszusammenhang nicht nur mit der Bühnenhandlung zusammenhängt. Vielmehr oszilliert der Begriff auch um Menschlichkeit als ethisches Ideal eines übergeordneten Lebensprinzips und Menschlichkeit in der Funktion eines verbindenden Elements zwischen dem Bühnen- und Zuschauerraum, letzteres auf der Ebene der Figuren, der Darsteller*innen und der Zuschauer*innen. La Bohème wird durch die in einer Aufführung umgesetzte Personenführung und das Repertoire der Gesten der Darsteller*innen als »menschlich berührend«48 bezeichnet. Als ›humanistische Aufgabe des Theaters‹ hat Walter Felsenstein seine Abneigung gegenüber dem Konventionellen und Kulinarischen verstanden: »Menschen aus dem trägen, gedankenlosen und erlebnisarmen Genießen herauszuholen, den Gummipanzer, in den sie der Alltag einhüllt, aufzureißen, das wahre Menschliche in ihnen wachzurufen.«49 Auch die Geschichte des Starlight Express »propagiert den

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Alfred Beaujean: Glanzvoller Auftakt [Titel nicht vollständig lesbar], in: Aachener Volkszeitung, 05.09.1989. Günter Zschacke: Großer Erfolg für Mimi, die aus Lübeck stammt, in: Lübecker Nachrichten, 25.03.1990. – Das Kapitel III 3. nimmt den Aspekt der ›Aktualität‹, der sich hier auch in der Relevanzproduktion durch den Topos ›menschlich‹ im Sinne von ›den lebendigen Menschen betreffend‹ niederschlägt, näher in den Blick. Stefan Koch: Spielarten der Liebe oder: Tod im Narzissenfeld, in: Mannheimer Morgen, 6.11.2001. Jörg Riedlbauer: Puccini mit schroffen Akzenten, in: Hallertauer Zeitung, 25.10.1991. Matthias Frede: Dieser Charme von Melancholie. Peter Konwitschny inszeniert Puccinis »Bohème« an der Oper Leipzig, in: Dresdner Neueste Nachrichten, 3.1.1992. Walter Felsenstein, Siegfried Melchinger: Musiktheater, Bremen: Carl Schünemann Verlag, 1961, S. 70.

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Sieg des Menschlichen«50 , denn die kleine Lok Rusty gewinne schließlich mit Hilfe des Starlight Express im Rennen gegen die konkurrierende und technisch besser ausgestattete Lok.

1.3 Traditionsbewusstsein Die »künstlerische Legitimität von Theater [ist] die Pflege der Tradition«51 , äußert Jürgen Flimm in einem Interview vor dem Hintergrund der finanziellen Krise der Theater in den späten 1980er Jahren. Das Sprechtheater habe als Vermittlungsinstanz und Aufbewahrungsort für Literatur eine hohe Bedeutung.52 Ein ähnliches Argument ließe sich analog für das Musiktheater formulieren; zumindest vermitteln die Musiktheaterkritiken ein breites Portfolio an kanonischem Wissen zum Musiktheater. »Traditionell, aber staubfrei inszenierte […] Operette«53 – der Charakter des Bewahrens erschließt sich nicht zuletzt durch den bereits herausgearbeiteten ›Bildungsauftrag‹ im Sinne einer Wissensvermittlung.

1.3.1 Das Narrativ der europäischen Musikgeschichte Wie zuvor dargelegt wurde, spielen musikhistorische, auf das besprochene Werk bezogene Abhandlungen besonders bei Offenbachs Operette eine große Rolle. Bezüge zu anderen Werken der europäischen Musikgeschichte stellen einerseits die Bedeutung des besprochenen Werks im historischen Zusammenhang dar, andererseits verweisen derlei musikhistorische Verortungen bisweilen auch auf einen linearen und kausalen Blick auf ›die‹ Musikgeschichte: »Jacopo Peri hat mit seinem Orpheus die Geschichte der Oper begonnen, Monteverdi die moderne Oper eingeleitet, Gluck die große Reform vollbracht und Offenbach, wie er selbst schreibt, ›die vierte weltgeschichtliche Epoche der Oper begonnen‹, natürlich auf seine parodistische Art.«54 In nahezu allen untersuchten Kritiken werden historische Gegebenheiten aufgegriffen, die das besprochene Stück im Kontext anderer ›großer‹ Namen oder Werke verorten. Ganz eindeutig transportieren solch lineare Verknüpfungsleistungen den Fortschrittsgedanken, wie er der europäischen Musikgeschichtsschreibung

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O. A.: »Starlight Express« auf Rollschuhen ohne Tempolimit. Bochumer Musical-Inszenierung spricht alle Sinne an – Enormer technischer Aufwand, in: Siegener Zeitung, 23.07.1988. O. A.: »Ich finde Goethe wichtiger als ein Flugzeug«. Das Theater in der finanziellen Krise: Ein Gespräch mit Jürgen Flimm, in: Frankfurter Neue Presse, 08.06.1988. Ebd. Lars Wallerang: Rot-Gold liebt sich’s in Ungarn, in: Düsseldorfer Nachrichten, 14.08.2000. M. W. Dworzak: Sieg auf der ganzen Linie, in: Mittelbayrische Zeitung Regensburg, 17.12.1993.

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seit dem 18. Jahrhundert inhärent ist.55 Es geht um kompositionsästhetischen Fortschritt mit Würdigung der ästhetischen Tradition: »Voranschreiten als Rückwärtsgang. Begann vor nicht langer Zeit der Kanon reifer Mozart-Opern mit der ›Entführung aus dem Serail‹ von 1782, so hat sich der inzwischen mit dem endlich ernstgenommenen ›Idomeneo‹ des 24-Jährigen um ein Jahr nach hinten datiert. Folgt das deutsche Singspiel mit dem Türken-Sujet herrschender Mode, so erweist sich ausgerechnet die mit der Gattung ringende Griechen-Seria als Geburtsstunde des Genius: als Schöpfung von anrührend Neuem auf den Fundamenten des Alten.«56 Und in einer anderen Kritik zum gleichen Werk ist zu lesen: »›Idomeneo‹ ist die interessanteste Mozart-Oper. Denn sie präsentiert nicht nur perfekt die Elemente neapolitanischer Belcanto-Virtuosität der Opera seria, sondern darüber hinaus auch die Ergebnisse der Opernreform Glucks.«57 Besonders eindrücklich erweist sich die Legitimationsstrategie der ›historischen Kontextualisierung‹58 und der linear-narrativen Verknüpfung eines Werks mit dem Fortschrittsgedanken bei den Kritiken zu Helmut Lachenmanns Das Mädchen mit den Schwefelhölzern und Adriana Hölszkys Der unsichtbare Raum. Besonders verblüffend ist, mit welcher Präzision nahezu in jeder Kritik, die Lachenmanns Werk betrifft, auf die Stellung des Komponisten im Kanon der europäischen Musikgeschichte verwiesen wird. Besonders häufig referieren die Kritiker*innen Lachenmanns Beziehung zu seinem Kompositionslehrer Luigi Nono, dessen musikhistorische Geltung ›unbestritten‹ sei: »Hat nicht vielleicht überhaupt erst Nonos Tod für Lachenmann, seinen getreuesten Schüler und Geistesverwandten, den eigenen Weg zur Oper frei gemacht, ihm den Druck womöglich hemmender Einwände erspart, aber zugleich auch die Last eines testamentarischen Auftrags, eine Idee fortzuführen, aufgedrückt? Verwunderlich wäre es jedenfalls nicht, wenn sich die kreativen Keime, die gedanklichen Leitmotive und sensualistischen Inspirationen von Lachenmanns aktuellem Musiktheaterstück sehr weit zurückverfolgen ließen: zumindest bis in die prägenden Lehrjahre von 1958 bis 1960 bei Luigi Nono in dessen Heimatstadt

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Siehe dazu ausführlich Frank Hentschel: Bürgerliche Ideologie und Musik. Politik der Musikgeschichtsschreibung in Deutschland 1776–1871, 2006, Frankfurt a. M.: Campus, S. 160–208. Manuel Brug: Sanftes aus der Mozart-Lounge in Lachsrosa, in: Die Welt, 15.03.2003. Volker Boser: Wenn göttliche Köpfe rollen, in: Abendzeitung München, 15.03.2003. Michael Schwab-Trapp: Diskurs als soziologisches Konzept. Bausteine für eine soziologisch orientierte Diskursanalyse, in: Handbuch Sozialwissenschaftliche Diskursanalyse. Band I: Theorien und Methoden, hg. von Reiner Keller et al., Opladen: Leske + Budrich, 2001, S. 261–283, hier S. 274

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Venedig 1961, wo damals der elf Jahre ältere just an der Schwelle zur Komposition seiner ersten azione scenica ›Intolleranza 1960‹ stand. Wie im Schaffensrausch binnen drei Monaten komponiert, erregte das Widerstandsstück Skandal bei der Uraufführung in Venedig 1961. Der musikhistorische Rang und die expressive Gewalt dieses leidenschaftlichen politischen Bekenntniswerkes sind längst unbestritten. Bei Nono war zu lernen, was gültige Tradition noch immer war und was ›immanente Innovation‹ einmal sein werde.«59 Was besonders deutlich hervortritt, schon allein durch die ausführliche Darstellung der Musiktheater-Komposition Nonos, ist hier die Verknüpfung von ›alt‹ und ›neu‹, das heißt von ›gültiger Tradition‹ und ›immanenter Innovation‹ – auch wenn über diese Feststellung hinaus keine konkreten musikalischen oder anderweitigen Hinweise für diese Verknüpfung gegeben werden. Auch die Lehrer-Schüler-Beziehung ist isoliert betrachtet interessant, da Lachenmann gewissermaßen in der Tradition seines Lehrers rezipiert wird und dadurch explizit in den Kanon der europäischen Musikgeschichte integriert wird, unmittelbar nach Nono steht Lachenmann eingereiht in die Gruppe der ›großen‹ Komponisten der Neuen Musik: »Lachenmann, in deutschen Konzertsälen gefeiert als führender Zeitgenosse in der Traditionsreihe Schönberg, Webern und Nono, versagt sich dem Schönklang.«60 Auch Hölszky wird durch ihre Komposition in die Reihe bedeutender Komponist*innen aufgenommen. Der unsichtbare Raum sei »[j]ene ›Oper ohne Text’[,] von der schon Robert Schumann träumte: Hier ist sie wirklich geworden.«61 Vergleichbar deutliche musikhistorische Bezüge gehen auch aus dem folgenden Zitat hervor: »Es gibt Parallelen, zumal in der musikalischen Moderne. Mahlers bilderträchtige Symphonien wurden als verkappte Opern erkannt, Schönbergs orchestrale ›Begleitmusik für eine Lichtspielszene‹ imaginiert eine dreiaktige Tragödie nur im Kopf: Drohende Gefahr, Angst, Katastrophe heißen die drei Instrumentalstücke. Adriana Hölszky gab ihrer Orchesterpartitur bezeichnender Weise den Titel ›Der unsichtbare Raum‹. Was einem besonderen Paradox gleichkommt, denn gerade in der Sichtbarkeit einer hyperrealen Szene artifizieller Unwirklichkeit bestehen der Reiz und die Spannung dieser eigenartigen Bühnenraum-Oper, die ein versteckter Krimi ist.«62 »Die Musiktheater-Revolution steht wieder neu erst am Anfang.«63 – So konkludiert ein Rezensent den Willen zur musikalischen Umsetzung eines Werks der Neuen Musik, hier der Oper Lachenmanns, durch klassische Orchestermusiker*innen und 59 60 61 62 63

Heinz-Harald Löhlein: Erinnerung an einen Toten, in: Bremer Nachrichten, 15.01.1997. Hans Berndt: Zerstückelte Laute und Geräusche, in: Handelsblatt, 31.01.1997. Julia Spinola: Klanganalyse auf der Couch, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 15.11.2001. Wolfgang Schreiber: Phantom einer Oper, in: Süddeutsche Zeitung, 30.05.1997. Rainer Beßling: Klopfen, Rascheln, in: Verdener Aller-Zeitung, 06.02.1997.

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verweist auf ihre Toleranz hinsichtlich der Klangvorstellungen des Komponisten und der damit einhergehenden erforderlichen sogenannten neuen Spieltechniken. Denn Lachenmann habe »in seinem stark beachteten Schaffen gewohnte Klänge neu definiert und herkömmliche Spielpraxis in Bewegung gebracht.«64 Auch wenn die ebenfalls in anderen Kritiken zum Werk Lachenmanns so deutlich herausgestellten neuen Spieltechniken keineswegs so neu sind – Lachenmann fühlt sich der ›musique concrète instrumentale‹ bereits in seinen früheren Werken verpflichtet, auch ein Blick auf Kompositionen anderer zeitgenössischer Komponist*innen zeigt, dass die sogenannten ›neuen Spieltechniken‹ bereits zum fest etablierten Repertoire zeitgenössischer Kompositionstechnik gehören –, ist die hier beschriebene ›Musiktheater-Revolution‹ besonders aufschlussreich, steht doch die Beschreibung dieser als ›wieder neu erst am Anfang‹ paradigmatisch für den Fortschrittsgedanken, der innerhalb der Szene der Neuen Musik stark verbreitet ist und der – hier sei an Pierre Boulez’ Interview erinnert – als legitimierendes Moment für die Selbsterhaltung der Gattung sorgt. In Bezug auf die Rezeption der Oper Lachenmanns stellt ein Rezensent darüber hinaus das Hören in den Mittelpunkt, changiert zwischen ›neu‹, da für das Publikum keine Hörtradition vorhanden sei, und ›traditionell‹, da – als Rekurs auf die immerwährende Auseinandersetzung um das Primat der Musik oder der Sprache – hier das Primat der Musik, zumindest bei ›großen Werken der Musikgeschichte‹, als traditionell überlegen dargestellt wird; schließlich nutzt Lachenmann Wortfragmente, Morpheme und andere Sprachlaute als Kompositionsmaterial für die musikalische Textur seiner Komposition: »Das Werk ist gleichzeitig schwer und ganz leicht zu hören. Schwer, weil Lachenmanns musikalische Sprache ohne Vorbild ist, weil das Publikum auf keinerlei Hörtraditionen zurückgreifen kann. Leicht, weil man eigentlich nur seine Ohren öffnen muss, um diese ganz neuartigen, meist extrem leisen und oft geräuschhaften Klangwelten in sich aufzunehmen. Wie bei allen großen Werken des Musiktheaters ist auch hier die Musik das eigentliche Thema – in diesem Sinne ist Lachenmanns Werk dann doch traditionell.«65 Auch wenn das Modell einer linearen und zwangsläufig aufeinanderfolgenden Musikgeschichte im Bereich des Musicals nicht besonders auffällt und die Tendenz, den historischen Rahmen samt Fortschrittslogik zur Legitimation anzuführen, eindeutig zu Gunsten der Opern, Operetten bzw. Kompositionen des Musiktheaters der Neuen Musik ausfällt, so sollen dennoch zwei bemerkenswerte Zitate herausgestellt werden, die nach einem ähnlichen Prinzip den Geltungsanspruch des Musiktheaters festigen. Über eine Aufführung des Musicals Starlight Express ist zu lesen: 64 65

Ebd. Stephan Hoffmann: Schwer und doch ganz leicht, in: Schwäbische Zeitung Leutkirch, 28.01.1997.

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»Wenn man nach zweieinhalb Stunden wieder auf den Ruhrschnellweg steigt, hat man freilich zwei Melodien im Kopf, die auch am Breitscheider Kreuz noch nicht draußen sind. Das sind die Knickse, die Lloyd Webber vor seinem Geistesonkel Giacomo Puccini machte.«66 Und anerkennend in Bezug auf das Musical Der kleine Horrorladen schreibt ein Rezensent: »Vielleicht ist es ja gar nicht nur Blödsinn, was sich Howard Ashman nach dem Corman-Film zur Musik von Alan Menken ausgedacht hat. Es ist eine ›Traviata‹Rockoper: Audrey als schwindsüchtige Frau mit Vergangenheit, deren Glück nicht sein darf. Es ist ja auch eine griechische oder altnordische Tragödie anno Rock n Roll.«67 Die (musik)historischen Referenzen sind in beiden Beispielen offensichtlich auszumachen. Webber verneigt sich vor Puccini, was einerseits letzterem sehr bildlich musikhistorische Größe verleiht und andererseits auch Webber durch die Parallelisierung mit seinem ›Geistesonkel‹ würdigt. Und das offensichtlich in der Regel mit ›Blödsinn‹ in Verbindung gebrachte Musical Menkens wird durch die Verbindung mit La Traviata und griechischer Tragödie aufgewertet. Über den historischen Bezug hinaus illustrieren diese zwei Beispiele durch die gewählten Verknüpfungen der Gattungen den Mechanismus eines ›Kopplungsmanövers‹ als Legitimationsstrategie.68

1.3.2 Werktreue Es steht außer Frage, dass ›Werktreue‹ eine ausgesprochen wichtige Rolle innerhalb der Kritiken spielt. Die Diskussion über eine geglückte oder missratene werkgetreue Inszenierung steht in zahlreichen Kritiken nachgerade inflationär im Mittelpunkt der Beschreibung: »Die Inszenierung ist im besten Sinn traditionell ohne Schnickschnack, ohne irgendwelche verkrampften Adaptionen an heute.«69 Ein dezenter Hinweis, die hier betrachtete Inszenierung gegen die bisweilen eindeutig negativ aufgefasste Auslegungsarbeit des Regisseurs abzugrenzen. Oder etwa mit

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Wolfram Goertz: Ein Brausen tief im Westen, in: Rheinische Post Düsseldorf, 14.08.1997. Hans-Martin Koch: Das Geschäft muss brummen, in: Landeszeitung für die Lüneburger Heide, 04.04.1992. Der Begriff des ›Kopplungsmanövers‹ wird als Pendant zur ›Abgrenzung‹ verstanden. – Siehe dazu Michael Schwab-Trapp: Diskurs als soziologisches Konzept. Bausteine für eine soziologisch orientierte Diskursanalyse, in: Handbuch Sozialwissenschaftliche Diskursanalyse. Band I: Theorien und Methoden, hg. von Reiner Keller et al., Opladen: Leske + Budrich, 2001, S. 261–283, hier S. 274. – In Bezug auf Gattungsbezeichnungen siehe Kapitel III 2.2 der vorliegenden Arbeit. Susanne Geyer: Mimi und Rodolfo lieben und leiden in inniger Harmonie, in: Main-Post Würzburg, 28.09.1992.

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ähnlichem Gestus der Abgrenzung: »Der Regisseur tut den Szenen aus Henri Murgers ›Vie de Bohème‹ keine Gewalt an, deutet nicht um, sondern vertraut der Tradition.«70 – ›Werkgerecht rührend‹ sei auch der Schluss. Der Umstand, dass Inszenierungen, die als werkgetreu, traditionell oder konventionell beschrieben werden, immer in Konkurrenz zu ihrem dialektischen Gegenstück, das heißt in einem reziproken Abhängigkeitsverhältnis – siehe dazu auch Kapitel III 3. – stehen, lässt sich auch darin ablesen, dass Kritiker*innen, gewissermaßen in Verteidigungshaltung, hervorheben, dass die jeweilige, traditionell eingestufte Inszenierung gelungen sei, oder aber der vermeintliche oder tatsächliche Sonderstatus einer ›traditionellen‹ Inszenierung explizit hervorgehoben wird: »Zu erleben war eine Aufführung, die Auge und Ohr gleichermaßen befriedigte. Wolfgang Webers Inszenierung erwies sich als konventionell. Das ist kein Schimpfwort, zumal sie im einzelnen (das gilt auch für die großen Ensembleszenen des zweiten Aktes) so geschickt durchgearbeitet war, wie man es auf der Schauspiel-, nicht aber auf der Opernbühne erwarten darf.«71 Eine andere Inszenierung wiederum entsprach dem »›originalen‹ Operngeist«72 , was »ja heute keineswegs selbstverständlich ist und in progressiven Kreisen als rückständig gilt.«73 Ebenfalls in deutlicher Abgrenzung und Hervorhebung dieser ›Ausnahme‹ ein anderer Rezensent: »In dieser […] Szene kulminierte das Konzept des Regisseurs, der sich – auch das ist heute schon eine Ausnahme – nicht nur jegliche Aktualisierung oder Verfremdung versagte, sondern die Geschichte genau dort ansiedelte, wo es das Libretto […] vorschreibt, nämlich auf Kreta.«74 Ganz deutlich wird dabei häufig auch auf die Autorität des Komponisten verwiesen. Eine Regiearbeit zum Musical Der kleine Horrorladen wird vom Kritiker gerade deswegen lobend erwähnt, weil der Regisseur das Vorwort des Komponisten ernst genommen habe.75 Ein ähnliches Argument entfaltet ein anderer Rezensent auch in Bezug auf die Inszenierung einer La Bohème: »Das Regiekonzept […] besticht durch Werktreue, Freude am Detail und ungekünstelte Natürlichkeit, wie es dem Stil des italienischen Verismus entspricht. Intellektualistische Mätzchen und Zutaten sind vermieden, denn Puccini hat 70 71 72 73 74 75

Hans Neubauer: Künstler, die im Wohlklang hungern, in: Fränkischer Tag, 09.12.1993. Rolf Lieberum: Viel Liebesleid in der Künstlermansarde, in: Wolfsburger Nachrichten, 20.09.1994. Ursula Mielke: Italienische Opernträume erfüllten sich, in: Thüringer Allgemeine, 13.12.1993. Curt J. Diederichs: Kantiger Puccini, in: Kölnische Rundschau, 28.11.1990. Neubauer, Simon: Menschendrama auf Kreta, in: Bremer Nachrichten, 30.06.1989. Ursula May: Einfach, ehrlich und süß, in: Frankfurter Rundschau, 06.12.1994.

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selbst genügend Regieanweisungen in die Partitur geschrieben. Aus ihrer Befolgung und Verwirklichung resultierte eine im Großen und Kleinen vollendete, beglückende Interpretation, an der alle Mitwirkenden im gleichen Maß teilhaben.«76 Und auch im Zusammenhang mit Offenbachs Operette stehen die Ideen des Komponisten im Mittelpunkt. Der Rezensent billigt Änderungen, sofern die Grundidee des Komponisten durch den Regisseur nicht verletzt werde. Dieser, so schreibt der Kritiker, »verlegt Offenbachs klassische Götter-Travestie in die Gegenwart. Die Sünde wider den Buchstaben der Werktreue ist verzeihlich, wenn er sich nicht gegen den Geist der Offenbachiade richtet.«77 Das Konzept der Werktreue bezieht sich in den Kritiken nahezu ausschließlich auf die szenische Komponente der Aufführungen. Es erweist sich im Bereich der Regie (unabhängig von der normativen Einschätzung, ob Werktreue nun überhaupt möglich sei oder nicht) als Haltung, die einem historischen Bewusstsein verpflichtet ist und damit gewissermaßen auch ein ethisches Verantwortungsgefühl der Geschichte gegenüber transportiert. »Das war für Operettenfreunde und besonders die Nostalgiker unter ihnen ein Geschenk! Als hätte es 50, 60 Jahre Theaterentwicklung nicht gegeben, betrat ›Die Csárdásfürstin‹ von Emmerich Kálmán im Theater Erfurt mit der Patina ihrer Jahre die Bühne. […] Und siehe da, es bekommt der guten alten Tante Operette am besten, wenn sie uns als Relikt aus Omas Zeiten entgegentritt. Dann begreift man ihren Charme, ihren Witz und ihre Traumwelt am besten. Selbst wenn ihre Formen, wie eben auch in diesem entzückenden Werklein, zum Klischee erstarrt sind.«78 Aus dem vorangehenden Zitat wird deutlich, dass es – um dem Grad der werktreuen Umsetzung eines Stücks Rechnung zu tragen – ein gängiges Muster ist, das jeweilige Aufführungskonzept von alternativen Inszenierungsmöglichkeiten abzugrenzen. Auch im folgenden Beispiel steht etwa die vermeintlich traditionelle Inszenierung dem ›Experiment‹ gegenüber. So verdeutlicht der Rezensent beispielsweise seine Position wie folgt: Beim »Budapester Operettentheater gibt es keine Experimente; da wird eine Operette aufgeführt, wie es sein soll: die Kostüme historisch, das Bühnenbild realistisch.«79 Die konzeptionellen Ideen der Kritiker*innen sind bisweilen sehr spezifisch und zeichnen sich insbesondere 76 77 78 79

Elisabeth Schrauzer: »La Bohème« im Großen Festspielhaus, in: Reichenhaller Tagblatt, 26.101989. Fritz Schleicher: Vom Himmel zur Hölle, in: Nürnberger Nachrichten, 11.03.1991. Hans-Jürgen Thiers: Nippeskabinett wurde entstaubt, in: Thüringische Landeszeitung, 23.02.1999. Katrin Hilger: Teufelsweib läßt bitten, in: Münchner Merkur, 28.06.1997.

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dadurch aus, dass sie andere Inszenierungskonzepte favorisierend hervorheben: Beispielsweise lehnt ein Kritiker, der Frage nachgehend, wie Offenbachs Operette aufgeführt werden könne, die Möglichkeit ab, ›Kriegs-Krüppel‹ auftreten zu lassen, nur um die Inszenierung in den Entstehungszeitraum des Stücks zu verlegen, und schlägt statt dessen vor, sich an einer spezifischen vorangegangenen Inszenierung der Operette am gleichen Haus zu orientieren.80 Das Bezugssystem der Werktreue dient ähnlich der historischen Verortung eines Werks oder eines Komponisten im Gefüge der Musikgeschichte der Festigung des Geltungsanspruchs des Musiktheaters. Gerade durch die Offenheit des Konzepts erweist es sich als besonders anschlussfähig für unterschiedlich perspektivierte Auslegung, oszilliert aber stets um das ›Werk‹ mit seinem autoritären Charakter. Während sich ›Werktreue‹ also in einem differenzierten Wissensbestand als Legitimationsstrategie auf diskursiver Ebene verorten lässt, ist an dieser Stelle auch besonders gut nachzuvollziehen, auf welche Art und Weise Legitimation darüber hinaus vollzogen wird. Denn in nahezu allen Beispielen wird deutlich, dass Abgrenzung als Verfahren bzw. Mechanismus zur Anwendung kommt, um den durch den Kritiker oder die Kritikerin vertretenen Standpunkt hervorzuheben. Vereinfacht gesprochen vollzieht sich der Legitimationsprozess nicht nur durch die in Verbindung mit dem Bezugssystem ›Werktreue‹ stehenden spezifischen Subdiskurse oder spezifischen Inszenierungen, sondern auch und sehr eindrücklich durch die strategische Abgrenzung vom projizierten Gegenstück. ›Nicht-Werktreue‹ entfaltet sich in Konzepten von ›Experiment‹, ›modernistischen Mätzchen‹, Hervorhebung des ›Geschenks‹ der ›Werktreue‹ im Gegensatz zur impliziten ›Strafe‹ aller anderen Inszenierungsansätze, Aktualisierung, Verfremdung usw.

1.3.3 Kultstatus »Hit reiht sich an Hit.«81 – Besonders augenfällig ist, dies gilt vor allem für Stücke, die häufig aufgeführt werden, der ständige Verweis auf ihre Popularität: Die Operette sei ein ›Evergreen‹ wegen der Musik Offenbachs.82 Viele Nummern seien ›Hits‹83 oder ›Evergreens‹84 oder ›Schlager‹. So schreibt eine Rezensentin: »Man kann sie gar nicht oft genug hören, die unsterblichen Schlager vom eiskalten Händchen und von

80 81 82 83 84

W.-E. von Lewinski: Ganz ohne Kálmán geht die Operetten-Chose nicht, in: Wiesbadener Tagblatt, 09.12.1996. Armin Kaumanns: Viel Bein tritt auf und ab, in: WZ, Düsseldorfer Nachrichten, 02.12.1996. Joachim Stiehr: Leider manchmal etwas albern, in: Main-Echo Aschaffenburg, 22.04.1991. Roberto Becker: Volltreffer, in: Neues Deutschland Berlin-Ost, 04.01.2000. Michael Dellith: So ganz und gar ohne Weiber geht die Chose eben doch nicht, in: Frankfurter Neue Presse, 27.12.1997.

III Legitimationsstrategien im Diskurs um das Musiktheater

der ›Mimi‹ genannten Lucia.«85 Dann wiederum Begriffe wie ›Kultmusical‹86 , ›Musical-Hit‹87 , Klassiker oder ›Dauerbrenner‹88 , ›Puccini-Hit‹89 , oder ›Opern-Hit‹90 . Außerdem: »Totgesagte leben länger. Das gilt vor allem für die Operette. Eingängige Melodien machen dieses Genre unsterblich, und gerade die ›Csárdásfürstin‹ hält einige Evergreens parat […].«91 Und eine Rezensentin schreibt über das ›Kultstück‹92 Der kleine Horrorladen: »Es gibt nicht nur ›Casablanca‹, ›Easy Rider‹ und ›Evita‹: auch eine naive Story kann zum Kultstück werden. Der unaufhaltsame Aufstieg des ›Little Shop of Horrors‹ begann 1960 als Low-Budget-Film des Roger Corman, der zuvor so unvergessliche Werke wie ›Die Folterkammer des Hexenjägers‹ fabriziert hatte.«93 Wenn im Zusammenhang mit dem Musical Starlight Express von einem Kult-Musical gesprochen wird, so ist dies insbesondere mit Blick auf die nun bereits lange Laufzeit in Bochum nicht verwunderlich und auch vom milieuspezifischen Duktus nachvollziehbar. Während die lange Laufzeit in den Zeitungsartikeln und Magazinbeiträgen stets als Besonderheit hervorgehoben wird, leuchtet zunächst der Unterschied zu immer wieder neu inszenierten Opern, etwa Puccinis La Bohème, ein. Denn jede neue Inszenierung geht nicht nur mit anderen Sänger*innen einher – auch die Besetzung des Starlight Express changierte im Verlauf der Zeit – sondern die szenische Umsetzung ist zu einem höheren Grad variabel, etwa was Aufund Abtritte betrifft, aber noch mehr die Ausstattung mit Kostüm und Bühnenbild. Allerdings erhalten auch Opern durch Wiederaufnahmen die Möglichkeit zu KultInszenierungen zu werden. Zumindest hat es den Anschein, wenn beispielsweise über eine neue Besetzung der Gesangspartien in der von Otto Schenk bereits 1969 inszenierten La Bohème an der Staatsoper in München berichtet wird. Schon allein die lange Laufzeit der Inszenierung suggeriert eine bleibende hohe Nachfrage nach

85 86 87 88 89 90 91 92 93

Laura Naumburg: Liebe in einer Mansarde aus Eis, in: Neues Deutschland Berlin-Ost, 20.12.2001. Barbara Schwarz: Wieder geöffnet: Der kleine Horrorladen, in: Wilhelmshavener Zeitung, 05.10.1998. Thomas Kahlcke: Gefräßiges Gemüse wächst ans Herz, in: Kieler Nachrichten, 26.09.1994. Christoph A. Brandner: Die Romantik des leisen Todes, in: Kinzigtal-Nachrichten Schlüchern, 07.03.1997. Hanns-Horst Bauer: An der Rampe stehen und schön singen, in: Südwestpresse Ulm, 02.04.1994. Ebd. Dellith, Michael: So ganz und gar ohne Weiber geht die Chose eben doch nicht, in: Frankfurter Neue Presse, 27.12.1997. Ursula May: Einfach, ehrlich und süß, in: Frankfurter Rundschau, 06.12.1994. Walter Rebstock: Blutrünstige Superblume, in: Stuttgarter Nachrichten, 07.12.1999.

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dieser spezifischen Regiearbeit.94 Ähnlich verhält es sich auch mit der, wie eine Rezensentin schreibt, »steinalten Komische-Oper-Inszenierung«95 von Harry Kupfer, aus der sie eine bestimmte Szene als exzeptionelles Paradebeispiel anführt. Diese sei nämlich in der Inszenierung Kupfers ›ungeschlagen‹.96 Aber nicht nur hinsichtlich spezifischer Inszenierungen lässt sich die hohe Nachfrage nach einem Werk nachzeichnen. Schon allein die Häufigkeit, mit der Puccinis Oper La Bohème auf den deutschsprachigen Bühnen gespielt wird, lässt Kritiker schlussfolgern: sie sei ein »Repertoire-Renner ohnegleichen«97 , »ein Topos bürgerlichen Operngenusses.«98 Dass es sich bei der hier skizzierten ›Beliebtheit‹ um eine diskursive Legitimationsstrategie handelt, leuchtet sofort ein; die zitierten Textstellen vermitteln vor allen Dingen durch die absoluten Formulierungen keinen Zweifel an der Relevanz der jeweiligen Musiktheaterwerke und lassen sich dadurch als basales und in keiner Weise notwendig abgegrenztes oder gar hinterfragtes Wissen auf der durch Berger und Luckmann eingeführten ersten Ebene verorten.

1.4 Bildungsbürgerliches Wissen, Habitus und Jargon »Diese Oper ist eine wundervolle Unterhaltung und sie ist Kunst.«99 »›Blumen und Gold zugleich/Machen reich‹. Die Weisheit ist von Goethe und also unbestritten.«100 – Mit diesem Zitat steigt die Rezensentin in ihre Kritik zu Der kleine Horrorladen ein. Der Bezug zwischen Goethe und Menken, den die Rezensentin hier vorschlägt, ist durch seine augenfällige Banalität leicht nachvollziehbar, schließlich geht es auch im Musical um eine Blume, die den in finanzielle Not geratenen Blumenladen gewissermaßen wieder saniert und dem Eigentümer – zumindest bis er der Blume selbst zum Opfer fällt, es handelt sich ja um eine fleischfressende Pflanze – wieder mehr Kunden und Reichtum beschert. Nach einer knapp

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Dorothea Hußlein: Hausmütterchen trifft netten Nachbarn, in: Münchner Merkur, 23.09.2002. – Die Kritikerin äußert sich eher zurückhaltend und stellt die Inszenierung nicht heraus. Vielmehr merkt sie an, dass es gerade bei einer Neubesetzung möglich gewesen wäre, die Arbeit etwas zu erneuern. 95 Laura Naumburg: Liebe in einer Mansarde aus Eis, in: Neues Deutschland Berlin-Ost, 20.12.2001. 96 Ebd. 97 Michael Schäfer: Liebe, Tod und Tränen, in: Göttinger Tagblatt, 12.01.1989. 98 Volker Hagedorn: Operngeister auf Durchreise, in: Hannoversche Allgemeine Zeitung, 10.02.1993. 99 Befindet Siegfried Melchinger in Bezug auf Così fan tutte – Walter Felsenstein, Siegfried Melchinger: Musiktheater, Bremen: Carl Schünemann Verlag, 1961, S. 74. 100 Susanne Benda: Von wegen Blume – Böses Pflänzchen!, in: Stuttgarter Nachrichten, 21.03.2003.

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gehaltenen Einführung in die Handlung des Stücks und einer kurzen Beschreibung und Bewertung der Leistung der Teilnehmenden schließt die Rezensentin abermals mit Goethe: »›Blumen‹, schwärmt der, ›sind die Hieroglyphen der Natur, mit denen sie uns andeutet, wie lieb sie uns hat.‹«101 Goethe gilt zweifelsohne als Symbolfigur für die deutsche Kultur. Universitäten, Kultureinrichtungen und Preise sind nach dem Dichter benannt, in Zitat- und Aphorismensammlungen sind zahlreiche seiner Sinnsprüche abgedruckt, die bei kommunikativen Gelegenheiten in unterschiedlichen Kontexten vorgestellt oder erwähnt werden. Die Nennung Goethes verweist einerseits habituell auf den gehobenen Bildungsstand der zitierenden Person, die sich durch ihr kulturelles Kapital von anderen Lebensbereichen abgrenzt. Andererseits – das lässt sich auch dem Verweis der Kritikerin entnehmen, dass das Zitat eine Weisheit Goethes sei und also ›unbestritten‹ –, deutet der Verweis auf Goethe immer auch auf seine verstetigte und unhinterfragte kulturelle Autorität. Darüber hinaus steht Goethe gleichzeitig auch als Pars pro Toto, gewissermaßen als personifiziertes Symbol, für den Kanon bildungsbürgerlichen Wissens ein. Die hier vorgenommene Verknüpfung des Musicals mit Goethe als der Symbolfigur für deutsche Kultur hebt somit auch den kulturellen Wert des Musicals an. Ein weiteres Beispiel, in dem Goethe aufgegriffen wird, stellt folgendes Zitat dar, welches im Zusammenhang mit einer Besprechung der Tragödia von Hölszky steht. Der Rezensent leitet die Besprechung wie folgt ein: »›Tragödia‹, Adriana Hölszkys Dienstag abend im Kunsthallenforum uraufgeführtes Musiktheater, sollte das Parallelstück werden zu Achim Freyers ›Komödia‹ vor zwei Jahren. Aber das war es wohl nur im Titel. Freyer hatte damals seine Aversion gegen das literarische Theater wie weiland Goethe mit ›Commedia dell’arte‹Fundstücken von Goldoni befriedigt. Natürlich entsprechend personenreich.«102 Dieser Ausschnitt ist in seiner Dichte bildungsbürgerlicher Referenzen über Goethe hinaus eindrücklich. Wie anhand dieses Beispiels deutlich wird und bereits diskutiert wurde, beschränken sich zahlreiche Kritiken nicht ausschließlich auf die Beschreibung der Aufführung, sondern setzen die Darbietung mit sonstigen rezenten Aufführungen oder ›berühmten‹ Inszenierungen in Verbindung. Um die Bezüge und Parallelen zu verstehen, bedarf es eines ausgesprochen detailreichen Wissens über die Veranstaltung, die als Spiegel durch den Rezensenten herangezogen wird. Um das Musiktheater ohne agierende Personen auf der Bühne zu beschreiben, referiert der Rezensent hier auf eine offenbar darstellerreiche Inszenierung Freyers, illustriert durch Goethe und Goldoni. Neben diesen ›Dichtern‹ als symbolischen Figuren bildungsbürgerlicher Orientierungspunkte werden Interreferenzen innerhalb des Binnensystems Musiktheater durch andere Inszenierungen (wie etwa den 101 Ebd. 102 H. D. Terschüren: Auf rätselhafter Blutspur, in: Kölnische Rundschau, 30.05.1997.

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Rekurs auf Freyer) oder musikalische Umsetzungen der Partitur hergestellt, um die rezensierte Aufführung im Dispositiv zu verorten. Dabei spielt es keine Rolle, wie die jeweilige Bewertung der begutachteten Aufführung ausfällt. Der Rekurs auf andere Arbeiten dient häufig dazu, die eigene Position zu verdeutlichen bzw. den eigenen Standpunkt dadurch zu exemplifizieren. Allerdings scheinen derlei Bezüge häufig auch nur einen assoziativen Reflex widerzuspiegeln, bei dem in einem solchen Fall die Semantik über die Aufführung und das Werk hinausweist. Denn gerade plakativ hergestellte Zusammenhänge, die für die Bewertung der rezensierten Aufführung keine schlüssige Funktion besitzen, deuten darauf hin, dass es sich um eine habituelle Praxis des Vergleichens und der Verknüpfung handelt. Der Habitus, der durch diese Verknüpfungsleistungen hergestellt wird, transportiert einen bildungsbürgerlichen Gestus der Distinktion.103 So wird etwa die musikalische Tonsprache von Adriana Hölszky mit Helmut Lachenmanns Oper Das Mädchen mit den Schwefelhölzern verglichen. Und um beispielsweise die musikalische Interpretation eines Dirigenten zu beschreiben, rekurriert der Rezensent auf die ›großen Dirigenten‹ Karajan und Toscanini, um das bewertete Dirigat einzuordnen. Der Dirigent, so schreibt der Kritiker, »vermied Leerlauf und bevorzugte herbe klangliche Konturen. In dieser kompakten, eher an Toscaninis innerer Dramatik als an Karajans Opulenz orientierten Darstellung paßte die ›Bohème‹ exzellent in den Rahmen des kleinen, überschaubaren Aachener Theaters […].«104 Auch wenn die Leser*innen der Kritik im Zweifel nicht zwischen unterschiedlichen musikalischen Interpretationen, d. h. zwischen der musikalischen ›Handschrift‹ Toscaninis und Karajans unterscheiden können – ohnehin ein hochspezialisierter und professionalisierter Diskurs –, so lösen hier die mit dem Gegensatz ›konturiert – opulent‹ verknüpften bedeutenden Namen zumindest die Möglichkeit des Wiedererkennens durch die Leser*innen aus und bedienen den Aspekt der ›Bildungsleidenschaft‹ durch ›hochkulturelle‹ Bezüge innerhalb des Binnensystems. Habituell mit Goethe als Bezugspunkt vergleichbar und ebenfalls die ›Bildungsleidenschaft‹ als bürgerliches Charakteristikum bedienend, stellt sich auch die folgende Einschätzung einer Inszenierung dar, die mit der Gedankenwelt Heideggers und Sartres verknüpft wird. Der Rezensent schreibt: Die »Inszenierung konfrontiert kleinbürgerliches Alltagsleben mit der abgestumpften Ellbogengesellschaft, in der jeder auf sich gestellt ist und unter Berührungs103 Siehe bspw. auch den Rekurs auf den Regisseur Peter Mußbach, der zu Beginn der Beschreibung der Inszenierung von Manfred Schnabel genannt wird, um die Leistung des letzteren zu schmälern. Die Kritik beginnt wie folgt: »Man darf nicht daran denken, wie scharf konturiert Peter Mußbach vor kurzem in Frankfurt ›Die lustige Witwe‹ als Art-déco-Persiflage wiedererweckt hat.« – Siegfried Kienzle: Vorgestrige Heiterkeit. Manfred Schnabel inszeniert Kálmáns ›Csárdásfürstin‹ in Wiesbaden, in: Darmstädter Echo, 09.12.1996. 104 Pedro Obiera: Viel Beifall für ›La Bohème‹, in: Aachener Nachrichten, 05.09.1989.

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ängsten leidet. Die französische Existentialphilosophie und Martin Heideggers Sorge um das ›Nichts‹ als Grunderlebnis des Menschen scheinen die neue Auslegung der Handlung beeinflusst zu haben. Die enge Mansarde, in der die vier Hungerleider hausen, erinnert an Sartres ›Geschlossene Gesellschaft‹, in der sich alle, wie auch die übrigen Personen gegenseitig auf die Nerven gehen. Am Schluß wird jedoch die Vereinsamung des Menschen als Zentralproblem offenkundig. Diese ungewöhnliche Sicht des Librettos räumt zwangsläufig mit allen Klischees auf.«105 Neben Heidegger und Sartre reihen sich auch Kant, Freud, Einstein und Goerges in das Bezugssystem des Musiktheaters ein. Für den Regisseur Hans Neuenfels, so referiert ein Rezensent, sei die Oper Idomeneo »mehr als ein in die Jahre gekommenes mythisches Erzähl-Geplänkel. Schließlich hat im Entstehungsjahr der Oper Kant seine ›Kritik der reinen Vernunft‹ geschrieben.«106 Und als Rechtfertigung, dass es sich bei Idomeneo um ein musikalisches Meisterwerk handle, ist in einer anderen Kritik zu lesen: »Einstein sprach von einer ›wahren Explosion musikalischer Empfindungskraft‹, und sein Forscherkollege Horst Goerges jubelte: ›Die Oper quillt förmlich über von dem Reichtum der Farben und Klänge.‹«107 Weil ein Inszenierungskonzept statt regulärer Bestuhlung für die Zuschauer*innen Liegen vorsieht, stellt eine Rezensentin einen Zusammenhang zu Freud her, denn dieser »wußte die entspannende und assoziationsfördernde Wirkung einer Couch zu schätzen.«108 Neben ›großen Denkern‹ und ›großen Regisseuren und Dirigenten‹ dienen auch Literaten und bildende Künstler als assoziative Bezugspunkte, um Aufführungen zu beschreiben. Häufig bleibt es allerdings bei assoziativen Reflexen der Kritiker*innen. So erinnere eine Szene einer Inszenierung an den »Vater-Geist im ›Hamlet‹«109 oder ein Beziehungsgeflecht zwischen den Figuren eines Stücks wird mit Verdis Aida verglichen.110 Eine Ausstattung einer Bohème gleiche Bildern Aus einem Totenhaus und die Figuren, so der Rezensent, »entstammen eher der nachtschwarzen Welt eines Dostojewski oder Kafka.«111 Und in einer anderen Kritik ist zu lesen: »Elektra, die Tochter Agamemnons, schiebt wie Brechts ›Mutter Courage‹ einen Leiterwagen

105 Gerth-Wolfgang Baruch: Alle gehen sich auf die Nerven, in: Badische Neueste Nachrichten, 23.10.1991. 106 Volker Boser: Wenn göttliche Köpfe rollen, in: Abendzeitung München, 15.03.2003. 107 Simon Neubauer: Menschendrama auf Kreta, in: Bremer Nachrichten, 30.06.1989. 108 Julia Spinola: Klanganalyse auf der Couch, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 15.11.2001. 109 Wolfgang Schreiber: Die wilden Bilder der Aufklärung, in: Süddeutsche Zeitung, 15.03.2003. 110 Ebd. 111 Siegfried Kienzle: Aus der nachtschwarzen Welt Kafkas, in: Allgemeine Zeitung Mainz, 19.01.1998.

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hinter sich her und bringt liebe Menschen um, indem sie ihnen zwei Giftschlangen um den Hals legt.«112 Einstein und Goerges – zumindest suggeriert dies die zuvor zitierte Kritik – begeisterten sich für Puccinis La Bohème. Tucholsky sei anderer Meinung gewesen, so äußert sich zumindest ein anderer Rezensent: »Tucholsky nannte Puccini denn auch bissig den ›Verdi des kleinen Mannes‹, geißelte die veristische Hinwendung zu den kleinen Dingen des Lebens, des Menschlich-Allzumenschlichen.«113 Diese geläufige Kritik, in die der Rezensent noch beiläufig den Titel einer philosophischen Schrift Nietzsches einflicht, wird allerdings sogleich kompensiert, indem der Rezensent anschließt: »Ein Bertolt Brecht, die Brüder Mann, selbst Schönberg schätzten Puccini hingegen sehr.«114 Weiterhin stehen zahlreiche bildende Künstler als Orientierungspunkte für die Bewertung der Aufführungen ein. Dabei kann die Referenz sehr allgemein gehalten sein, wie das folgende Zitat nahelegt, in dem auf die Perfektion eines Kunstwerks rekurriert wird: »Von einem Kunstwerk darf man reden, wenn an und in ihm alles stimmt. Das gilt für ein abstraktes Gemälde (beispielsweise von Mondrian) ebenso wie für eine Opernaufführung.«115 Das Assoziationsspektrum ist in der Regel aber durchaus spezifischer gestaltet, denn, so ein Rezensent, »René Magritte oder Edward Hopper lassen grüßen, wenn im Forum der Bundeskunsthalle ein monumentaler Tisch in surrealer Schräglage prangt, auf dem sich neben Lampe, Hut und Handschuhen ein wulstiger Mops grätscht.«116 Colline, wie er seinen Mantel besingt, erinnere als Figur an Toulouse-Lautrec117 und auch in einer anderen Inszenierung wird die Stimmung mit diesem Maler in Verbindung gebracht.118 Dann wiederum purzeln im »Stil von Braque und Delaunay […] Musikinstrumente, Zeitungsmeldungen und Annoncen übereinander: dezenter Hinweis auf Zeitgeschichte.«119 Eine wiederum andere Inszenierung habe, so der Rezensent, »fast schon slapstickartige Momente eines an Beckett erinnernden Kammertheaters«120 . Das recht komplexe bildungsbürgerliche Bezugsystem als Folie für Legitimationsstrategien wird – wie bereits zuvor angedeutet – besonders durch Vergleiche

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Volker Boser: Wenn göttliche Köpfe rollen, in: Abendzeitung München, 15.03.2003. Reinhard Söll: La Bohème: Der Triumph des Olafur Bjarnason, in: Mittelbayrische Zeitung Regensburg, 07.04.1992. 114 Ebd. 115 Helmut Hampel: Gala der charaktervollen Stimmen, in: Wiesbadener Kurier, 16.05.1994. 116 Struck-Schloen, Michael: Die Spur führt ins Nichts, in: Stuttgarter Zeitung, 31.05.1997. 117 Rudolf Jöckle: Die Gefühle lodern wie ein Höllenfeuer, in: Frankfurter Neue Presse, 19.01.1998. 118 Günter Zschake: Großer Erfolg für Mimi, die aus Lübeck stammt, in: Lübecker Nachrichten, 25.03.1990. 119 Michael Struck-Schloen: Rasch ein Abenteuer, in: Kölner Stadt-Anzeiger, 11.02.1992. 120 Frank Pommer: Nackte Venus mit Hummer auf Klavier, in: Die Rheinpfalz Ludwigshafen, 06.11.2001.

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und ›In-Beziehung-Setzen‹ von Wissen deutlich. So verweist eine Rezensentin etwa im Rahmen des Musicals Der kleine Horrorladen auf die drei »Macbeth-Hexen«121 , die im übrigen eine dreifach geklonte Version eines Verschnitts aus Maria Callas und Jackie Kennedy sein sollen; oder es werden Bezüge zum griechischen Drama, dem ›antiken Chor‹122 mit den ›Streetladys‹ als Kommentatorinnen hergestellt.123 In einer anderen Kritik zum gleichen Stück zählt der Kritiker zahlreiche bekannte Horror-Schöpfungen auf, die mit dem Musical in Verbindung gebracht werden.124 Und in einer anderen Kritik ist zu lesen: Das Musical Der kleine Horrorladen sei eine »makabre Komödie mit Tiefgang. Sie verweist im Sinne der Märchen aus der deutschen Romantik auf jene Sehnsüchte, die den Menschen buchstäblich verzehren, wenn er ihrer nicht Herr wird, und gleichzeitig auf das hybride, die Geheimnisse der Natur mißachtende Wesen Mensch.«125 Wenn es um die Beschreibung der musikalischen Interpretation durch Dirigenten, den Klangkörper des Orchesters oder den Gesang der Charaktere geht, ist die kunstvolle Beschreibungssprache in Form von »Sprachpirouetten«126 sehr augenfällig. Über Hölszkys Oper Tragödia (Der unsichtbare Raum) schreibt etwa eine Rezensentin: »Die Tragödie entwickelt sich rein musikalisch, als nach außen gestülptes inneres Drama, dessen klangliches Panoptikum im Raum ungemeine Plastizität und eine beinahe körperliche Präsenz gewinnt.«127 Eine andere Inszenierung wiederum habe die Möglichkeit ›verkitschte Zöpfe abzuschneiden‹128 und der Generalmusikdirektor, so schreibt ein Rezensent, »unterstreicht all diese Gefühle mit honigsüßem Saft [und breitet] ein ungemein erotisches Streicherbett aus für Rodolfo und Mimi.«129 Während derlei Beschreibungen mit Sprache spielen oder als poetische Reflexe aufgefasst werden können und die Bedeutung im letzten Beispiel sich, zumindest was den Gestus der musikalischen Umsetzung anbelangt, nachvollziehbar interpretieren lässt (die Streicher*innen spielten wohl gesanglich 121

Gabriella Lorenz: Das Kuhmaul bleckt die Haifischzähnchen, in: Abendzeitung München, 15.03.1997. 122 Marlott Persijn-Vautz: Zum Fürchten gruselig!, in: Die Rheinpfalz, 07.03.1994. 123 Jutta W. Thomasius: Schreckenspflanze frißt sich durch, in: Frankfurter Neue Presse, 05.12.1994. 124 Hubertus Heiser: Grusel-Story im Horrorladen um menschenfressende Blut-Primel, in: Westfalenpost Hagen, 18.05.1990. 125 Lars Wallerang: Im Schlund der Leidenschaft, Westdeutsche Zeitung Düsseldorfer Nachrichten, 19.02.1994. 126 Vasco Boenisch: Krise der Kritik? Was Theaterkritiker denken – und ihre Leser erwarten, Berlin: Theater der Zeit [= Recherchen 63], S. 240. 127 Julia Spinola: Klanganalyse auf der Couch, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 15.11.2001. 128 Stefan Schickhaus: Der Dichter friert, in: Main-Echo Aschaffenburg, 04.06.1996. 129 Schulte im Walde, Chr.: Bittersüßes Weihnachtsmärchen. Von Münster nach Aachen: Ewa Teilmans inszeniert eine rührende »La Bohème«, in: Westfälische Nachrichten, 6.11.2006.

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und von der Tongebung weich oder erotisch, auch dies lässt sich zumindest in der Vorstellung semantisch nachvollziehen), so ist aber zum Beispiel nicht klar, was genau einen »Puccini-Abend von betörender impressionistischer Ausdruckskraft und Dichte«130 ausmacht. Die angeführten Beispiele sind für den Jargon der untersuchten Musiktheaterkritiken charakteristisch. Bisweilen geht von den Äußerungen ein ästhetischer Reiz aus,131 der nachgerade den Versuch zu unternehmen scheint, die unmögliche Übertragung einer musikästhetischen Erfahrung in ein verbales Zeichensystem zu vollziehen. Die zahlreichen Beispiele können somit auf die »Selbstbespiegelung […] des Kritikers«132 hindeuten, sofern davon ausgegangen wird, dass die Musiktheaterkritik eine künstlerische Imitation der Aufführung darstellt – gewissermaßen inszenieren sich die Kritiker*innen durch den verwendeten Jargon selbst. Im Gegensatz zu dieser reflexiven Beschreibung perspektivierte Adorno die Beschreibungssprache in Musikkritiken wie folgt: »Wenn man einmal […] Razzien veranstalten würde auf Worte wie Urmusikant, rhythmische Elementarkraft, Spätromantik oder intellektualistisch verfeinert – man könnte einen ganzen Index solcher Prägungen anlegen –, formierte sich ein Zug von Wortgespenstern, vor dem es einem graute.«133 Weniger pejorativ lässt sich der spezifische Jargon in den Musiktheaterkritiken als Instrument der Distinktion beschreiben oder mehr noch als Kopplungsmanöver an das ›bürgerliche Sprechen‹.134 Neben der habituellen Wissensverknüpfung, dem assoziativen Aufzeigen von bildungsbürgerlichem Wissen und dem für die Kritiken spezifischen Jargon geben die Kritiken bisweilen auch Aufschluss über rituelle Praktiken während einer Aufführung. Schon allein die Tatsache, dass überhaupt über störende Geräusche seitens der Zuschauer*innen berichtet wird, verweist auf die rigide und gar andächtige Rezeptionshaltung während einer Aufführung des Musiktheaters. So äußert sich bspw. ein Rezensent empört über störende »hörbare Zwischenbemerkungen im Zuschauerraum sogar während der Sterbeszene.«135 Zu dieser Szene schreibt ein an-

130 Hanns-Horst Bauer: An der Rampe stehen und schön singen, in: Südwestpresse Ulm, 02.04.1994. 131 Das ist eine im Spezifischen zwar äußerst individuelle, aber nicht minder verallgemeinerbare Feststellung. Damit ist natürlich nicht gemeint, dass die eventuell durch die Lektüre wahrgenommenen ästhetischen Reize für etwaige Rezipient*innen identisch sind. 132 Vasco Boenisch: Krise der Kritik? Was Theaterkritiker denken – und ihre Leser erwarten, Berlin: Theater der Zeit [= Recherchen 63], S. 218. 133 Theodor W. Adorno, Reflexion über Musikkritik, in: Symposion für Musikkritik, Graz 1968, Studien zur Wertungsforschung, Heft 1, hg. von Harald Kaufmann, S. 20. 134 Pierre Bourdieu: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, Frankfurt: Suhrkamp Verlag, 2012, S. 284. 135 Helmut Hampel: Gala der charaktervollen Stimmen, in: Wiesbadener Kurier, 16.05.1994.

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derer Kritiker als Anrisstext einer Kritik zu einer Wiederaufnahme: »Jetzt ist die Jahreszeit wieder danach, daß Mimis leise sterbende Töne schon vorher vom Zuschauerraum aus laut zu Tode gehustet werden: ›La Bohème‹, ein einverständliches Hustenkonzert zwischen Bühne und Parkett, aber sonst wieder sehr schön«.136 Und ein anderer Kritiker bemerkt: »Die Unsitte, unsensibel in die zarten Aktschlüsse hineinzuapplaudieren, bleibt hoffentlich alleiniges Privileg der feinen Premierengesellschaft.«137 In Bezug auf die hier beschriebenen habituellen Praktiken, d. h. auf das entsprechende Verhalten im Theater, lässt sich von Legitimationsstrategien der ersten Stufe sprechen. Insgesamt stehen Bildung, Wissensakkumulation, aber auch Menschlichkeit als Erziehungsideal für bürgerliche Werte ein. Der Versuch ›Oper als spezifisch bürgerliche Form‹ im Sinne einer Rückführung auf eine abgrenzbare Trägerschicht zurückzuführen, scheitert nicht nur aus einer chronologischen Perspektive auf ihre höfische Entstehungsgeschichte und somit auf die enge Verknüpfung mit der Lebenswelt des Adels, sondern auch und besonders wegen des Kulturtransfers zwischen Adel und Bürgertum.138 Die hier angeführten bürgerlichen Werte im Sinne von Haltungen dienen der Legitimation des Musiktheaters. Philipp Ther stellt bereits für das 19. Jahrhundert fest, dass bürgerliche, aufklärerische Bildungsbestrebungen im Sinne eines Kulturtransfers vom Adel als Legitimationsstrategie für Subventionen der Hoftheater angeführt wurde: »Mit der aufklärerischen Bühnenprogrammatik des Theaters errang das Bildungsbürgertum bzw. die Intelligenz in den deutschen Ländern, in Polen und Böhmen eine Obermacht über die Theaterdiskurse. Die Höfe hatten dem kaum etwas entgegenzusetzen, denn die Unterhaltungsfunktion des Theaters für eine exklusive Hofgesellschaft ließ sich nicht tiefer begründen. Als Verfassungen die Fürsten zur Sparsamkeit in ihrer Hofhaltung zwangen, verstärkte sich der Legitimationsdruck auf die traditionellen Hoftheater. Letztlich wurde er dadurch abgefangen, dass die Höfe die Ausrichtung auf das Theater als ›moralische Anstalt‹ übernahmen, denn so ließen sich die horrenden Subventionen legitimieren. Die aufklärerische Programmatik wurde daher zu einem Allgemeingut und sicherte dem Theater eine herausgehobene Stellung und ein positives Image.«139

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Christoph Müller: Nicht nur Mimi hustet, in: Südwest Presse Ulm, 28.11.1997. Pedro Obiera: Viel Beifall für ›La Bohème‹, in: Aachener Nachrichten, 05.09.1989. Siehe dazu Philipp Ther: In der Mitte der Gesellschaft. Operntheater in Zentraleuropa 1815–1914, Wien: Oldenbourg Verlag, 2006, insbes. S. 36–95. Ebd., S. 40.

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Bemerkenswert für das Korpus ist, dass auch bei Operette und Musical durch Kopplungsmanöver bürgerliche Werte aufgegriffen werden und den Gattungen auf diese Art Bedeutung verleihen.

2. Musiktheater zwischen Kunst und Unterhaltung Das einleitende Zitat und der Titel dieses Kapitels lassen sich auf den ersten Blick nicht recht vereinbaren. Während Siegfried Melchinger das sich hartnäckig haltende Narrativ der Trennung zwischen U- und E-Musik zu versöhnen scheint, deutet der Titel dieses Unterkapitels auf einen anhaltenden Gegensatz zwischen Kunst und Unterhaltung. Dieser Graben, wie er sich zwischen den beiden Polen häufig darstellt, wird beispielsweise durch das folgende Zitat sehr deutlich vorgeführt: »Von der sozialkritischen Komponente der Oper blieb nichts – der auf optische Effekte dressierte Gourmand konnte ungehemmt genießen. Für den kunstinteressierten Kenner hingegen fand sich kein Leckerbissen.«140 Während die Rezensentin für eine Aufführung von Puccinis La Bohème mit sprachlicher Souveränität ganz eindeutig zu wenig Kunst und zu viel Unterhaltung feststellt, so lässt sich mit Blick auf die Gattungszuschreibungen der ausgewählten Werke des Korpus die kanonische, entlang der jeweiligen Zuschreibungen verfestigte Unterscheidung zwischen Kunst und Unterhaltung in dieser Deutlichkeit nicht feststellen. Im untersuchten Material zeichnet sich nicht nur ein viel differenzierteres Bild zwischen den Gattungen, sondern auch für einzelne Werke ab.

2.1 Ästhetische Positionen 2.1.1 Musik Die Feststellung musikalisch-künstlerischer Qualität einer Aufführung oder eines Werks dient der Legitimation. Auch wenn es sich dabei auf den ersten Blick um einen Allgemeinplatz handelt, so kann das Streben nach ›musikalischer Exzellenz‹ im Zusammenhang mit Musiktheaterkritiken als eine dominante Rechtfertigungsstrategie der ersten Ebene bezeichnet werden, die über die jeweils besprochene Aufführung hinausweist.141 Beispielsweise wird die musikalische Umsetzung einer La 140 Brigitta Mazanec: Im Reich der singenden Puppen, Mannheimer Morgen, 09.03.1995. 141 Siehe beispielsweise in Analogie zum Bau der Elbphilharmonie: »Olaf Scholz, Hamburgs Regierender Bürgermeister, hat den neuen Rechtfertigungsdruck bereits rhetorisch verinnerlicht. Als er Anfang April bekanntgab, dass die Elbphilharmonie im kommenden Januar eröffnet werde, setzte er nach: Das Haus sei ›kein Musentempel aus Samt und Seide für die oberen Zehntausend‹. Die Elbphilharmonie strebe ›mit großen Namen nach musikalischer Exzellenz, aber zugleich mit Vielfalt und Offenheit auch nach gesellschaftlicher Relevanz‹.« – Jan Brachmann: Es geht darum, wer den Ton angibt, in: FAZ,

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Bohéme als »klar und plastisch, auch ernüchtert und keineswegs ›spätromantisch‹ berauscht«142 beschrieben. Oder ein Dirigent etwa führe »das Orchester klangsensibel zu empfindungsvollem Musizieren.«143 Auch übertraf eine Premiere alle Erwartungen, denn sie wurde zum »Triumph [eines jungen Sängers, der] seinen hellen, biegsamen Tenor mit unglaublicher Strahlkraft und schier unerschöpflichem Nuancenreichtum erklingen«144 ließ. Besonders aufschlussreich ist die Beschreibung der musikalischen Interpretation dann, wenn der Rezensent nicht nur nach einigermaßen messbaren musikalischen Kriterien bewertet – d. h. Aspekte wie etwa Intonation, Zusammenspiel, Tempi und Dynamik benennt –, sondern die musikalische Interpretation mit darüber hinausgehenden Parametern verknüpft. Dadurch erhält die Musik eine Zuschreibung weiterer Qualitäten: »Jari Hämäkäinen dirigierte […] flott und rhythmisch akzentuiert. Die impressionistischen oder atmosphärisch auskostenden Passagen blieben da eher unterbelichtet, betont wurde der Realismus, die Stringenz und die Modernität dieser Musik.«145 Ähnlich auch die Einschätzung eines Kritikers, der die vermeintliche oder tatsächliche Modernität der Musik Puccinis durch den Dirigenten freigelegt sieht. Denn dieser »betrieb keine Schönfärberei, sondern zeigte, wie modern, ja avantgardistisch Puccinis Partitur eigentlich ist.«146 Auch die musikalisch-feine Umsetzung der Oper Idomeneo durch den Dirigenten Zagrosek verweise »auf die in der Musik liegende Modernität«147 . Es ist besonders eindrücklich, dass die Musik im Zweifel als ultimative, nicht zu hinterfragende und damit absolute Instanz für den Geltungsanspruch des Musiktheaters einsteht. Darüber hinaus sagt die Bewertung einer Aufführung als eine, die »einem strengen künstlerischen Anspruch gerecht«148 werde, nicht nur etwas über die situative Rezeptionserfahrung der Kritikerin aus, sondern sie verweist auf die allgemeine diskursive Verbindung von Kunst und Anspruch. Auf der einen Seite wird

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10.08.2016, http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buehne-und-konzert/elbphilharmonie-w irbt-mit-graffiti-14378104.html, zuletzt aufgerufen am 12.03.2018. Frieder Reininghaus: Mimis nichtiges Bühnenleben im Bretterverschlag, in: Frankfurter Allgemeine, 16.02.1996. Manfred Meier: Und theatralisch rumpelt der Leichenwagen, Märkische Allgemeine Potsdam, 24.01.1995. – Der Kritiker beschreibt die musikalische Umsetzung jedes einzelnen Bildes. Michael Sandner: Nicht viel fürs Auge, aber einiges mehr fürs Ohr, in: Der neue Tag Weiden, 08.04.1992. Nikolaus Schmidt: Wie aus dem Bilderbuch, in: Badische Neueste Nachrichten Karlsruhe, 13.10.1997. Michael Dellith: In den Pariser Studentenbuden geht es immer noch hoch her, in: Frankfurter Neue Presse, 17.05.1994. Jürgen Otten: Köpfe ab, in: Rheinische Post Düsseldorf, 17.03.2003. Ingvelde Geleng: ›Bohème‹ mit Herz – ein Triumph des Ensembletheaters, in: Welt am Sonntag, 08.01.1989.

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also das musikalische Kunstwerk kritisch evaluiert, auf der anderen Seite die musikalische Leistung der Künstler*innen, das heißt des Orchesters, des Dirigenten und der Sängerinnen und Sänger begutachtet. Das Spiel mit der Dichotomie zwischen ›Kunst und Unterhaltung‹ entfaltet sich im Zusammenhang mit dem Topos der Musik auch als Strategie einzelne Genres zu legitimieren – etwa durch die Aufwertung eines Werks, das gemeinhin dem Genre der Unterhaltung zugeschrieben wird. In einer Aufführungskritik von Offenbachs Orpheus aus der Unterwelt etwa verortet der Kritiker das Werk durch die Beschreibung der Interpretation der Musiker*innen im Spektrum der Dichotomie, indem er feststellt: »Schon in der Ouvertüre mit den gefühlvollen Soli von Klarinette, Cello und Violine ließen die Lübecker Philharmoniker vernehmen, dass sie das leichte Genre keineswegs auf die leichte Schulter nehmen.«149 In zahlreichen Kritiken wird der Begriff »Meisterwerk«150 herangezogen, um die Besonderheit einer Komposition hervorzuheben. In den meisten Fällen geschieht dies im Zusammenhang mit der Tatsache, dass es sich bei einem ›Meisterwerk‹ um ein Werk handelt, das besonders häufig aufgeführt wird. Und auch wenn eine Inszenierung nicht überzeugen kann, sollte man »dennoch hingehen, um dieses Meisterwerk des 25jährigen zu genießen«151 , betont beispielsweise eine Kritikerin. Und ein anderer Kritiker schreibt im Zusammenhang mit dem für das heutige Publikum schwierig zu dekodierenden Libretto: »Geblieben ist aber die verständliche, einfallsreich-differenzierte Musik von Jacques Offenbach: Eurydikes Couplet ›Der Tod soll mir als Freund erscheinen‹, das Schlaf-Ensemble der Götter, die Götterrevolte mit dem Zitat der Marseillaise, das Couplet des Prinzen von Arkadien und der Höllen-Can-Can, Kompositionen, die mehr als das Libretto eine Aufführung der Operette ›Orpheus in der Unterwelt‹ in unseren Tagen rechtfertigen.«152 In einer Kritik in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung zu einer Inszenierung der La Bohème in Berlin – diese Kritik wurde zu Beginn vollständig zitiert – stellt die Kritikerin zwar die Notwendigkeit einer weiteren La Bohème-Inszenierung in Frage (zur Erinnerung: es existierten bereits zwei Inszenierungen der gleichen Oper an anderen Häusern Berlins in den Inszenierungen von Harry Kupfer respektive Götz Friedrich), dennoch lautet der auf diese Feststellung folgende Absatz über das musikalische Werk Puccinis:

149 Günter Zschacke: Götterfest mit Augenzwinkern, Kieler Nachrichten, 2.12.2007. 150 Vgl. z.B.: Ulrich Bumann: Der öffentliche Tod, in: General-Anzeiger Bonn, 2.10.2007. 151 Karla Langehein: ›Idomeneo‹: Am Ende flogen die Blumensträuße, in: Schaumburg-Lippische Landeszeitung, 30.06.1989. 152 Dieter Schnabel: Operette im Zweiten Kaiserreich, in: Haller Tagblatt, Schwäbisch-Hall, 6.2.1992.

III Legitimationsstrategien im Diskurs um das Musiktheater

»Trotzdem soll Puccinis Musik verteidigt werden. Sie ist phantastisch farbig instrumentiert – nicht nur als billige Pittoreske und deskriptive Verdopplung der Gesangslinie. Die fallenden, leeren Quinten, die kühl das Ende kündend zunächst den Wintermorgen im dritten Bild ausmalen, sind mehr als nur Illustration, sie pinseln impressionistisch den Seelenzustand aus. Das folgende, kontemplative Quartett ist ein geschliffenes Meisterwerk, ebenso das berühmte Liebesduett zu Beginn, in dem Mimi und Rodolfo einander kennenlernen und zunächst, bevor sie heillos im Duett entbrennen, motivisch das kokette ›Komm her/Geh weg‹-Spiel spielen: Nimmst Du einen Melodiefetzen von mir, nehm‹ ich einen von dir.«153 Einerseits rückt die Rezensentin mit dieser Beschreibung zur ›Verteidigung‹ der offensichtlich häufig der plakativen Illustration und billigen Verdopplung bezichtigten Musik aus. Andererseits relativiert sie in diesem Abschnitt ihre zuvor vorgenommene kritische Stellungnahme in Bezug auf die bereits existierenden Inszenierungen und die damit einhergehende Hinfälligkeit einer dritten La Bohème-Inszenierung in Berlin. Denn die Beschreibung der Musik Puccinis als ›Meisterwerk‹ ist als Bewertungskriterium absolut und bedarf letztendlich auch keiner weiteren Begründung. Ähnlich verhält es sich mit den abschließenden Worten in einer weiteren Kritik zu einer nach Maßgabe des Rezensenten sowohl musikalisch als auch inszenatorisch gelungenen Aufführung von Puccinis La Bohème: »Triumphator über allem blieb Puccini selbst.«154 Ein anderer Kritiker wiederum bemerkt: »Der Erfolg von ›La Bohème‹ liegt nicht nur in der einzigartigen musikalisch-symbolartigen Sprache begründet, Puccini sprüht in dieser Oper geradezu von schier unerschöpflichem musikalischem Ideenreichtum.«155 Der Komponist bzw. stellvertretend das Werk wird durch einen solchen Ausspruch überhöht und erlangt somit absolute Gültigkeit, die sich jeglicher Kritik zu entziehen scheint. Besonders interessant ist, dass die Musik häufig auch dazu dient, antizipierte Kritik am Werk einzudämmen. Dabei ist die Abschwächung der antizipierten Kritik durch den absoluten Geltungsanspruch der Musik ein gängiges Muster. Zu Offenbachs Orpheus in der Unterwelt schreibt etwa ein Rezensent: »Gesellschaftspolitische Brisanz wie damals hat diese Operette zwar nicht mehr, aber als Satire auf den Umgang mit den Tugenden sprüht sie unverändert vor Temperament – allein schon durch die Musik.«156 Die Rezensionen zu der spezifischen Inszenierung von Götz Friedrich, auf die sich die bereits zitierte Kritik der dritten La Bohème-Inszenierung in Berlin bezieht, 153 154 155 156

Eleonore Büning: Geschüttelt, nicht gerührt: Puccinis ›La Bohème‹ an der Berliner Lindenoper macht Musik in der Schneekugel, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 18.12.2001. Paul Barz: Ein Triumph bittersüßer Nostalgie. Puccinis ›La Bohème‹ an der Deutschen Oper Berlin, in: Trierischer Volksfreund, 30.12.1988. Jörn Pick: Bravissimo Milano!, Hanauer Anzeiger, 21.11.1992. Zschacke, Günter: Im Himmel ist die Hölle los. Bejubelter Premieren-Erfolg in Lübeck: Offenbachs ›Orpheus in der Unterwelt‹, in: Lübecker Nachrichten, 16.10.1988.

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sind – zwischen der zuvor zitierten Aufführungskritik und der Premiere der Inszenierung von Götz Friedrich liegen dreizehn Jahre – hinsichtlich der Beschreibung der Musik vergleichbar interessant. Denn auch hier wird die Qualität der Musik hervorgehoben und sie erfährt durch die der Aufführung zugrundeliegende Neuausgabe der Partitur sogar gewissermaßen eine zeitgemäße Neuerung, denn sie »verschärft mit musikphilologischer Akribie aufgrund von Vergleichen zwischen Autograph und gedruckten Ausgaben in vielen Details Puccinis für seine Zeit neuartige Musikdramaturgie.«157 Im Gegensatz zu allen anderen Parametern einer Aufführung ist das musikalisch fixierte Werk im Notentext in der Regel allerdings relativ statisch, denn Veränderungen der Partitur werden – von der gelegentlichen Streichung kompletter Nummern abgesehen – nicht vorgenommen.158 Auch als »Repertoirestück in einer interessanten musikalischen Neudeutung«159 beschrieben, ist die Neuausgabe der Partitur somit ein erwähnenswertes Argument zur Legitimation des häufig aufgeführten Werks. Detaillierter noch ist die folgende Beschreibung einer musikalischen Einstudierung, die zwar weniger den Notentext hervorhebt, dafür aber die Veränderung einer kanonischen Interpretationsweise herausstellt, denn der Dirigent »benutzt freudig die Errungenschaften der Barockmusikrevolution Harnoncourts: kleine Besetzung, vibratoarme Streicher, kleinmotivische Rhetorik – alle spätromantisch in Bögen ausgespannte Lineatur, alles klanglich Überwältigende ist zurückgenommen.«160 Um die musikalische Klangsprache Adriana Hölszkys zu beschreiben, verwendet Wolfgang Schreiber Adjektive wie etwa virtuos, faszinierend und komplex. Der folgende Auszug aus einer Kritik der Uraufführung ihrer Musiktheaterkomposition Tragödia (Der unsichtbare Raum) verleiht Hölszkys Musik darüber hinaus – insbesondere im Hinblick auf ›neue Spieltechniken‹ – den Eindruck der Einzigartigkeit: »Sehen als Hören oder Musik als nach außen gestülptes Innen: Adriana Hölszkys Partitur ist ein virtuos konzipiertes und realisiertes, ein faszinierendes Kompendium von Instrumentalklängen live und vom Tonband, vermischt mit Live-Elektronik. Klänge in körperhaftem Kontrastreichtum: ständig wechselnd zwischen leise und laut, vereinzelt und massenhaft, natürlich hervorgebracht und denaturiert, schön und häßlich, langsam und rasend schnell skandiert, auf- und nieder-

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Ingvelde Geleng: ›La Bohème‹ an der Deutschen Oper in Berlin: Ein vitales Wunder. Götz Friedrich inszenierte Puccini mit einer jungen Sängergarde, in: Nürnberger Zeitung, 27.12.1988. 158 Zumindest gilt das für alle im Korpus integrierten Stücke mit Ausnahme des Starlight Express. Im Verlauf der letzten Jahre wurden gelegentlich Musiknummern dieses Musicals kompositorisch angepasst oder einzelne Stücke ausgetauscht. 159 Ellen Brandt: Üppig sei die Kunst. ›La Bohème‹ in der Deutschen Oper in Berlin, in: Frankfurter Rundschau, 31.12.1988. 160 Wolfgang Schreiber: Die wilden Bilder der Aufklärung, in: Süddeutsche Zeitung, 15.03.2003.

III Legitimationsstrategien im Diskurs um das Musiktheater

springend, zerhackt. Verwirrend, verstörend oder ›nur‹ exquisit die klangfarbliche Vielfalt dieser Musik, in der percussive Aktionen sich mit Akkordeon-, Harfe-, Cembalo- und solistischen Bläser- und Streicherklängen vermischen. Hölszky hat es besonders in der Erfindung seltener, verquerer Spielanweisungen für die Instrumentalisten weit gebracht; ihre hochorganisierten, komplex geschichteten, rasend schnell sich verändernden Musikabläufe bedeuten für den Zuhörer ein Wahrnehmungsabenteuer, durchaus vergleichbar dem ebenfalls von Bildern und Inhalten losgetrennten, die Bilder in sich aufhebenden ›Mädchen mit den Schwefelhölzern‹ Lachenmanns.«161 Besonders auffällig werden durch Schreiber die in der Musik befindlichen Kontraste hervorgehoben. Somit ist die Musik im Wechsel ›schön und häßlich‹ oder ›natürlich und denaturiert‹. Eine solche Beschreibung offenbart zweierlei: Erstens erfährt das negativ konnotierte Adjektiv eine positiv konnotierte Aufwertung, weil es Teil des virtuosen und faszinierenden Kompendiums der Komposition wird. Zweitens ist durch das als Kontrast abgebildete Spektrum kein Raum für eine von dieser Beschreibung abweichende Einschätzung der Musik Hölszkys. Das heißt, dass auch hier die Musik gewissermaßen absolut bzw. als umfassend beschrieben wird. Weitere kritische Überlegungen sind nicht anschlussfähig. Bezeichnenderweise schließt der Rezensent: »Beruhigung und Aufregung von Auge und Ohr heißt das Gebot des gesamten bisherigen Werkes dieser Komponistin«162 – damit vereint er abermals Gegensätze in der Musik, hier sogar im gesamten Werk Hölszkys. Ein anderer Kritiker beschreibt Hölszkys Musik wie folgt: Das »Gestisch-Dramatische ist den Live-Klängen wie den Instrumentallauten vom Tonband auf faszinierende Art und Weise eingeschrieben. Irisierende Tonlagen von Gitarre, Harfe oder Cembalo, die verfremdete Volkstümlichkeit eines Akkordeons oder die raffiniert ausgeloteten neuen Spieltechniken von Bläsern und Schlagzeug schaffen eine überreiche Farbpalette.«163 Diese Beschreibung findet sehr positive und nahezu euphorische Worte für die Umschreibung der Musik Hölszkys; auch ›neue Spieltechniken‹ werden hervorgehoben. Im Zusammenhang mit den Werken sowohl Hölszkys als auch Lachenmanns fällt besonders auf, dass die musikalische Beschreibungssprache räumliche, haptische und visuelle Begriffe in den Vordergrund rückt. Diese Beobachtung ist bemerkenswert, weil sie auf das Primat der Musik hinweist. Gewissermaßen wird das Vokabular für Libretto und Szene von der Musik einverleibt. Und auch folgendes Beispiel

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Wolfgang Schreiber: Phantom einer Oper. Musiktheater ohne Sänger – Adriana Hölszkys ›Tragödia‹ in Bonn uraufgeführt, in: Süddeutsche Zeitung, 30.05.1997. Ebd. Michael Struck-Schloen: Die Spur führt ins Nichts, in: Stuttgarter Zeitung, 31.05.1997.

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Musiktheater und Legitimation im Diskurs

verdeutlicht den absoluten Charakter der Musik: Denn in Bezug auf eine Regiearbeit, bei der die »bis aufs feinste Detail durchdachte Personenführung […] ganz aus dem Text und der Musik heraus«164 erwächst, wird deutlich, wie sehr der Diskurs durch das Ideal des Gesamtkunstwerks bestimmt wird.165 Wie zahlreiche Beispiele in diesem Unterkapitel zeigen, wird die Priorisierung der musikalischen Komponente vor Szene und Libretto als Mechanismus einer diskursiven Legitimationsstrategie deutlich.

2.1.2 Inszenierung Die Beschreibung der Inszenierung steht insbesondere bei Opern und Operetten meist prominent im Zentrum einer Kritik, was auf die Variabilität der szenischen Umsetzung historischer Werke zurückzuführen ist und deswegen nicht verwundert. Ganz allgemein und wertneutral wird regelmäßig festgestellt, dass – zumindest ist diese Unterscheidung sowohl im wissenschaftlichen als auch im musikpraktischen Kontext sehr gängig – Inszenierungen sich zwischen nachvollziehbarer Interpretation von musiktheatralen Kunstwerken und eigenständigem Kunstwerk bewegen.166 Das sogenannte ›Regietheater‹, tendenziell als eigenständiges Kunstwerk betrachtet, wird häufig als Strategie zur Legitimation des Musiktheaters angeführt,167 da es vermeintlich oder tatsächlich neuartige Sichtweisen auf bekannte Stoffe ermöglicht. In den Kritiken sind Feststellungen dieser Art auch sehr häufig zu finden: »Regisseure bemühen sich immer wieder um zeitgeistige Neuinterpretationen«168 , heißt es etwa in einer Rezension. In einem Sammelband von 2006 mit Aufsätzen zu unterschiedlichen Inszenierungen an der Bayerischen Staatsoper werden derartige ›zeitgeistige Neuinterpretationen‹ wie folgt skizziert: »Seit 20 Jahren setzt das avancierte Regietheater interpretatorische Akzente vor allem durch visuelle Deutungen der musikalischen Dramen. Die Oper macht Theaterbilder, die einleuchten, aufregen, schockieren und nachdenklich stimmen. […] In ihnen erweist sich die gesellschaftspolitische Notwendigkeit und Sprengkraft des Regietheaters und der Kunst des Inszenierens.«169 164 Werner Wolf: Beklemmendes Finale im dunkel-dumpfen Kellerloch, in: Leipziger Volkszeitung, 23.01.1998. 165 Siehe dazu den Gedanken von Guido Hiß, der das Regietheater, damit meint der Autor Regiekonzepte und die Figur des Regisseurs als künstlerischen Akteur, als Folge der Idee des Gesamtkunstwerks herausarbeitet. – Guido Hiß: Synthetische Visionen. Theater als Gesamtkunstwerk von 1800 bis 2000, München: epodium, 2005, S. 123ff. 166 Siehe beispielsweise Jürgen Schläder (Hg.): Oper Macht Theater Bilder. Neue Wirklichkeiten des Regietheaters, o. O.: Henschel Verlag, 2006, S. 7. 167 Siehe dazu auch Kapitel I dieser Arbeit. 168 Olaf Weißenborn: Speicher-Spielzeugpuppe, in: WZ Düsseldorfer Nachrichten, 19.12.1997. 169 Jürgen Schläder (Hg.): Oper Macht Theater Bilder. Neue Wirklichkeiten des Regietheaters, o. O.: Henschel Verlag, 2006, S. 8.

III Legitimationsstrategien im Diskurs um das Musiktheater

Dass das Regietheater nicht nur derart positiv besetzt ist, zeigt sich nicht zuletzt auch durch die Motivation für diesen Sammelband, der die Notwendigkeit des Regietheaters illustriert. Auch aus den Kritiken geht bisweilen eine pejorative Haltung der Kritiker*innen hervor, für die der Begriff ›Regietheater‹ oder noch deutlicher ›Regisseurstheater‹ eine eindeutig negativ besetzte Beschreibung einer Art und Weise des Inszenierens darstellt. Dass aber nicht nur das sogenannte ›Regietheater‹ zu Legitimationszwecken angeführt wird, sondern die Praxis der Inszenierungsarbeit der Regisseur*innen im Allgemeinen, das zeigen die Musiktheaterkritiken sehr deutlich. Inszenierungen als integrale und im Vergleich zur Musik und zum Libretto regelmäßig deutlich variabler gestaltete Bestandteile einer Aufführung unterliegen in jeder Kritik einer mehr oder weniger gründlichen Begutachtung. Die »Inszenierung erzählt die Geschichte schnörkellos und ohne Anspruch auf eine umstürzende Neudeutung des Melodrams, doch mit genauem Blick für die Details.«170 Das Spektrum an Bewertungsparametern innerhalb des Korpus ist zwar sehr diffus, letztendlich sind die unterschiedlichen Positionen in Bezug auf die szenische Umsetzung eines Werks aber zwischen den scheinbar unvereinbaren Polen der ›Werktreue‹ und der als »Regiewillkür«171 bezeichneten Arbeit des Regisseurs, die wertneutral als künstlerische Interpretationsfreiheit bezeichnet werden kann, angesiedelt. Insbesondere im Bereich des Musiktheaters hat sich der Begriff des ›Regietheaters‹ für Inszenierungen verhärtet, bei denen der Regisseur bzw. die Regisseurin Interpretationen vornimmt, die – aus der Perspektive der Rezipient*innen – zu weit von der im Wissensvorrat vorgesehenen Grundaussage eines Werks entfernt sind. In einem solchen Fall verhält sich das sogenannte Regietheater diametral zu einer vermeintlich werkgetreuen Auslegung und szenischen Umsetzung eines Werks. Es steht – zumindest in der aktuellen wissenschaftlichen Forschung – außer Frage, dass die Maxime der Werktreue realiter keinen Bestand hat. Insbesondere in den Theaterwissenschaften wurde das, was generell mit ›werkgetreuer Inszenierung‹ umschrieben wird, vor allem aus struktursemiotischer Perspektive dekonstruiert.172 Wenn es werkgetreue Inszenierungen nicht geben kann,173 ist folglich jede Inszenierung ›Regietheater‹, und zwar in dem Sinne, 170 Ruth Fühner: Die Liebe in frivolen Zeiten, in: Handelsblatt Düsseldorf und Frankfurt, 23.01.1998. 171 Michael Sandner: Nicht viel fürs Auge, aber einiges mehr fürs Ohr, in: Der neue Tag Weiden, 08.04.1992. 172 Erika Fischer-Lichte: Was ist eine werkgetreue Inszenierung? Überlegungen zum Prozess der Transformation eines Dramas in eine Aufführung, in: Das Drama und seine Inszenierung. Vorträge des internationalen literatur- und theatersemiotischen Kolloquiums Frankfurt a. M., 1983, hg. von Erika Fischer Lichte, Max Niemeyer Verlag, Tübingen 1985, S. 37–49. 173 Erika Fischer-Lichte umschreibt Theater als ›Zeitmaschine‹: »Alles, was es berührt und auf die Bühne bringt, verwandelt es in Gegenwart.« – Ebd., S. 37. Allein aus dieser Überlegung heraus wird deutlich, dass Musiktheater heute nie werkgetreu sein kann, dass das Konzept zwangs-

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dass ein Regisseur die künstlerisch-szenische Umsetzung einer verschriftlichen Vorlage auf einer Bühne anleitet. Dem künstlerischen Interpretationsspielraum sind dabei keine Grenzen gesetzt. Ungeachtet der wissenschaftlichen Erkenntnisse sind beide Pole, Werktreue und Regietheater, als Bezugspunkte im zeitgenössischen Musiktheaterdiskurs zementiert und dienen den Kritiker*innen nach wie vor als Orientierungspunkte zur Bewertung einer Regiearbeit. So zeigt folgendes Beispiel durch das ›Überraschende‹, dass der Kritiker das sogenannte ›Regietheater‹ für die favorisierte und vermutlich auch zeitgemäße Art und Weise hält, ein Stück auszulegen, denn bei der besprochenen Inszenierung »besteht die Überraschung darin, daß [Intendant und Ausstattungsleiter] die Oper so auf die Bühne bringen, wie sich’s Puccini wohl vorgestellt hat, doch mit mehr Farbigkeit und Finessen.«174 Allerdings wird sodann positiv hervorgehoben, was aber gerade diese ›werkgetreue‹ Inszenierung ausmacht. Eindrücklich ist besonders die nahezu kleinlich wirkende Genauigkeit, mit der der Rezensent die Umsetzung des Stücks auf der Bühne verfolgt: »Es läuft alles nach den Regieanweisungen des Komponisten, abgesehen von so kleinen Ausnahmen, daß sich Mimi im 1. Akt bei ihrer berühmten Arie nicht erst, wie es in der Partitur steht, bei der Stelle ›ma quando vien lo sgelo‹ vom Sessel erhebt, sondern schon ein paar Takte vorher.«175 Und weiter spricht der Rezensent im Zusammenhang mit der Inszenierung von »Bohème-Bilderbuch«176 und »perfekter Authentizität«177 . Und in einer anderen Kritik zur Csárdásfürstin heißt es etwa: »Denn beim Budapester Operettentheater gibt es keine Experimente, da wird eine Operette aufgeführt, wie es sein soll: die Kostüme historisch, das Bühnenbild realistisch.«178

2.1.3 Radikalität, Risiko und andere Extreme Besonders auffällig in Bezug auf ästhetische Parameter des Musiktheaters ist die Oszillation um das charakterisierende Merkmal ›radikal‹ in der Beschreibung der Musik oder der Inszenierung in den Kritiken. Die ›Radikalität‹ des künstlerischen Ausdrucks ist ein sehr deutliches, da immer explizit genanntes, und gleichsam durchweg positiv konnotiertes Merkmal einer Aufführung.179 Radikalität, bzw. die

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läufig konzeptionell bleiben muss. Denn eine vermeintlich werkgetreue Inszenierung müsste auch den Stand der Technik, angefangen bei der Bühnentechnik, der Beleuchtung bis hin zu den Instrumenten, der musikalischen Interpretationsweise usw. berücksichtigen. Rudolf Sewald: Opernereignis mit Glanz: ›La Bohème‹, in: Trostberger Tagblatt, 18.10.1989. Ebd. Ebd. Ebd. Katrin Hilger: Teufelsweib lässt bitten, in: Münchner Merkur, 28.06.1997. Siehe dazu die Beobachtung von Leonhard Emmerling in Bezug auf die gegenwärtige Kunstkritik, die sich mit meinen Beobachtungen deckt. – Leonhard Emmerling: Radikal schöner Schein. Der Begriff der Radikalität und die Künste, S. 287.

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gängige Beschreibung ästhetischer Parameter als ›radikal‹, überschneidet sich in den Rezensionen funktional mit ähnlichen Topoi wie extrem, rücksichtslos, revolutionär und kompromisslos, da diese Begrifflichkeiten in den Argumentationen und Beschreibungen vergleichbar angewendet werden und eine gewisse Ausschließlichkeit bzw. Grenzerfahrung charakterisieren.180 All diese Begriffe dienen – im Gegensatz zu einer negativen Konnotation in anderen Kontexten – der positiven Beschreibung und Bewertung einer Aufführung. Darüber hinaus nehmen Begriffe wie etwa das ästhetische ›Experiment‹181 , das geheimnisvoll ›Rätselhafte‹182 und das unberechenbare ›Risiko‹183 als Abenteuer bzw. Wagnis184 ebenfalls eine zentrale Rolle in der Einordnung und Bewertung der besprochenen Darbietungen oder in 180 Siehe bspw. Wolfgang Nölter: Avantgarde-Werk: Staatsoper reduziert die Preise, in: Münchner Merkur, 15.01.1997. – Oder siehe auch Julia Spinola: Klanganalyse auf der Couch, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 15.11.2001. 181 Siehe in Analogie etwa den in diesem Fall negativ konnotierten Ausdruck »Regieexperiment« – Klaus Trapp: Fliegende Hüte, Große Gefühle, in: Darmstädter Echo, 04.05.1993. – Oder auch die Strategie, sich von ›verkrampften Regie-Experimenten‹ abzugrenzen. – Wolfgang Nölter: Jubelstürme um Luciano Pavarotti, in: Heilbronner Stimme, 03.03.1989. – Darüber hinaus in Bezug auf die Wahl der La Bohème für den Spielplan: »›Keine Experimente!‹ Das scheint in Hildesheim beim Start in die neue Spielzeit die Devise gewesen zu sein.« – Hugo Thielen: Verkühlte Künstler vor dem brennenden Manuskript, in: Hannoversche Allgemeine Zeitung, 16.09.1992. – Oder auch die Beschreibung einer weiteren Inszenierung der La Bohème wie folgt: »Tom Cairns […] zeigt mit seiner Stuttgarter Arbeit fast schon ein Experimentalstück […].« – Günter Scheinpflug: Und alles wird eins, in: Heilbronner Stimme, 22.10.1991. 182 Siehe bspw. die Beschreibung der Arbeit Achim Freyers. – Michael Struck-Schloen: Die Spur führt ins Nichts, in: Stuttgarter Zeitung, 31.05.1997. 183 Siehe bspw. die Risikofreude der Ausführenden. – Lorenz Tomerius: Wenn das Dunkel die Sinne öffnet, in: Märkische Oderzeitung Frankfurt/Oder, 15.11.2001. – Oder auch das Risiko bei der musikalischen Interpretation: »Was man jetzt an der Staatsoper Hannover erlebte, war allerdings alles andere als eine harmlose Sicherheitsversion: Statt Notenbuchstabieren hörte man hinreißenden Schwung und Leidenschaft aus dem Graben, wie sie nur hohes Risiko beim Spielen hervorbringen kann.« – Stefan Arndt: Volles Risiko, in: Hannoversche Allgemeine Zeitung, 20.11.2003. – Dass Risikofreude grundsätzlich positiv konnotiert ist, zeigt auch folgende Bemerkung: »Ein erfolgreicher, wenn auch nicht übermäßig riskanter Saisonauftakt […].« – Pedro Obiera: Viel Beifall für ›La Bohème‹, in: Aachener Nachrichten, 05.09.1989. – Risiko ist im Gegensatz zum Experiment allerdings stets positiv konnotiert. 184 In einer Kritik zu Helmut Lachenmanns Oper Das Mädchen mit den Schwefelhölzern steht im Zusammenhang mit dem ›Buh-Konzert‹ folgende Beobachtung des Kritikers: »Die Intendanz beweist lobenswerten Mut zum Wagnis.« – Hans Berndt: Zerstückelte Laute und Geräusche, in: Handelsblatt, 31.01.1997. – An einer anderen Stelle wird bspw. das Wagnis in Bezug auf die Inszenierung herausgestellt: Der Regisseur »Heyme wagt viel.« – Marieluise Jeitschko: Pessimistisch wie nie, in: Neue Westfälische Bielefeld, 9.2.1993. – Neuenfels wird hinsichtlich seiner Inszenierungsarbeit beispielsweise Mut attestiert: »Mutig riskiert Neuenfels den Salto vorwärts, bringt Jesus, Mohammed und Buddha auf die Bühne.« – Volker Boser: Wenn göttliche Köpfe rollen, in: Abendzeitung München, 15.03.2003 und Hölszkys Tragödia (Der unsichtbare Raum) wird durch den Begriff »Wahrnehmungsabenteuer« charakterisiert. – Wolfgang

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der Beschreibung der Ausführenden ein. Die Einschätzung einer Musiktheateraufführung oder einzelner ihr zugehöriger Komponenten als ›radikal‹ findet sich nahezu ausschließlich, dafür dort aber nachgerade inflationär, in den Kritiken zu zeitgenössischen Kompositionen oder im Zusammenhang mit spezifischen Regisseuren, die gemeinhin dem sogenannten Regietheater zugeordnet werden bzw. die sich selbst dem Regietheater verbunden fühlen. Aber auch die musikalische Interpretation historischer Werke durch das Orchester muss sich an ihrer Radikalität messen lassen. Radikalität wird zum entscheidenden qualitätsgenerierenden Momentum, wie folgende abwertende Einschätzung der musikalischen Umsetzung bzw. Interpretation des Orchesters von Mozarts Idomeneo zeigt. Denn der Kritiker stellt fest: »Doch das Opernorchester bot bloß Gediegenes. Alles war richtig, nichts radikal. Dabei geht es um eine Genietat Mozarts, weil die Konflikte auch musikalisch hart aneinander knallen.«185 Radikal als operatives Etikett für die positive Bewertung einer ästhetischen Position bedeutet in diesem konkreten Fall, musikalisch Spannungen und Gegensätze deutlich herauszustellen, wobei auch im weiteren Verlauf der Kritik unklar bleibt, auf welche Parameter (etwa musikalische Motivik oder Auseinandersetzungen der Charaktere im Libretto) sich hier die genannten Konflikte genau beziehen. In Verbindung mit einer Inszenierung der Operette Die Csárdásfürstin durch Peter Konwitschny klärt der Kritiker nicht nur über Wandelbarkeit bzw. den Interpretationsspielraum der Gattung Operette auf, sondern betont insbesondere die Möglichkeit, auch bei der Operette radikale Deutungen vornehmen zu können. So schreibt er: »Radikal neue Sichtweisen aber auf bekannt Geglaubtes und auf die Zeitläufte und uns selbst gibt es allemal, auch bei der Operette.«186 Diese »radikale Deutung«187 bedeutet beispielsweise, die sonst eher heiter inszenierte Operette in den Kontext des ersten Weltkriegs zu verlegen und das Bühnenbild mit fortschreitender Handlung durch inszenierte Bombeneinschläge kontinuierlich in ein Trümmerfeld zu verwandeln. Auch im Zusammenhang mit einer Inszenierung von La Bohème stellt der Regisseur »Puccini radikal in Frage«188 , etwa indem er eine Klassengesellschaft skizziert und sich einer naturalistischen Darstellungsweise verweigert.189 Und im Zusammenhang mit einer Inszenierung der Oper Idomeneo ist zu lesen: »Unentschiedenes Stilgemenge prägt diese im Detail oft faszinierende, im Schreiber: Phantom einer Oper. Musiktheater ohne Sänger – Adriana Hölszkys ›Tragödia‹ in Bonn uraufgeführt, in: Süddeutsche Zeitung München, 30.05.1997. 185 Stephan Hoffmann: Gediegenheiten genügen nicht, in: Die Welt, Hamburg, 14.01.2003. 186 Roberto Becker: Volltreffer, in: Neues Deutschland, Berlin-Ost, 4.1.2000. 187 Bernd Klempnow: Denk-Mal ›Csárdásfürstin‹, in: Sächsische Zeitung Dresden, 19.01.2000. 188 Ulrich Fischer: Giacomo Puccini – nur ein Lügner?, in: Oldenburgische Volkszeitung Vechta, 12.02.1993. 189 Siehe auch Werner Matthes: Fast wie ein szenisches Oratorium, in: Nordwest-Zeitung Oldenburg, 06.02.1993.

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Ganzen eher fragwürdige Inszenierung, die mit einer Neudeutung in heutig radikal säkularisiertem Bewußtsein liebäugelt, aber den opulenten Glanz der Opera seria nicht aufgeben will.«190 Und dem Regisseur Hans Neuenfels wird beispielsweise ›radikaler Erzählsinn‹191 attestiert, ohne genau zu beschreiben, was damit eigentlich gemeint sein könnte. In einer anderen Kritik zur gleichen Inszenierung gibt es auf diese Radikalität einen möglichen Hinweis: »Der ›Idomeneo‹ als […] Steinbruch für alles Spätere bei Mozart. Die Berliner Neuinszenierung will diese Tatsache so radikal wie möglich ins Bild bringen. Dadurch, dass man eben die Ästhetik des Bruchs, der Inkohärenz, des Fragments zum Stil- und Sprachprinzip erhebt.«192 Beispielhaft für die Ästhetik des Bruchs nennt der Rezensent im weiteren Verlauf der Kritik die Kostüme, die sich als ›bunt-barock‹ in Chor und ›modernen Anzügen‹ im Solistenensemble darstellen. Die Idee, Mozarts musikalisches Frühwerk Idomeneo als Kompendium für seine folgenden Opernkompositionen zu verstehen, ist zwar aus einer chronologischen Perspektive nachvollziehbar, der ›radikale‹ Sprung zu den Kostümen bleibt aber in diesem Zusammenhang unklar und erschließt sich nicht. Während in den hier angeführten Beispielen zumindest ansatzweise, wenn auch eher vage erklärt wird, worin sich die jeweils beschriebene Radikalität hinsichtlich der Inszenierung entfaltet, ist dies, wie auch der vorab zitierte ›radikale Erzählsinn‹ zeigt, innerhalb der Kritiken in der Regel nicht der Fall. Häufig bleibt es lediglich bei der schlichten Diagnose von Radikalität, ohne auf Symptome oder auf Details der Inszenierung einzugehen und somit ohne genau zu erklären, was mit dem Begriff ›radikal‹ gemeint sein könnte. Helmut Lachenmanns Selbstverständnis ist das eines radikalen Komponisten der musikalischen Avantgarde. Da er sich durch seine ästhetischen Positionen in zahlreichen Schriften193 immer wieder selbst als ›Verweigerungs-Komponist‹ inszeniert und sich darüber hinaus als politisch komponierend darstellt, ist es nicht verwunderlich, dass Radikalität als Topos in Besprechungen seiner Oper Das Mädchen mit den Schwefelhölzern immer wieder aufgegriffen wird; ›radikal‹ changiert dabei deutlich zwischen einer gewissen politischen Bestimmung seines Oeuvres einerseits und seinem ästhetischem Konzept andererseits: »Kompromisse hat er ganz entschieden keine gemacht. Helmut Lachenmann ist auch bei seinem ersten Bühnenwerk […] der ihm eigenen Radikalität treu geblieben.«194 Diese Radikalität 190 Klaus Adam: Kreta versinkt in einer Flut von wilden Bildern, in: Frankfurter Neue Presse, 30.07.1990. 191 Siehe Götz Thieme: Wo man Götterköpfe rollen lässt, in: Stuttgarter Zeitung, 15.03.2003. 192 Wolfgang Schreiber: Die wilden Bilder der Aufklärung, in: Süddeutsche Zeitung, München, 15.03.2003. 193 Siehe bspw. den Sammelband mit Schriften des Komponisten: Helmut Lachenmann: Musik als existenzielle Erfahrung, 1996, Wiesbaden: Breitkopf & Härtel. 194 Stephan Hoffmann: Schwer und doch ganz leicht, in: Schwäbische Zeitung Leutkirch, 28.01.1997.

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scheint sich, folgt man den Beschreibungen der Kritiker*innen, in der bisweilen ablehnenden Haltung des Publikums wiederzuspiegeln, das in Bezug auf die ›Avantgarde‹ nichts mit dieser Art Musik, diesen »neuartigen, meist extrem leisen und oft geräuschhaften Klangwelten«195 anfangen kann. Worin über das vermeintlich Neuartige hinaus genau die kompositorische Radikalität Lachenmanns liegt, ist anhand der Kritiken allerdings nicht eindeutig zu bestimmen, zumal seine Tonsprache mit der Uraufführung der Oper im Vergleich zu seinen vorangegangenen Kompositionen keine maßgeblichen Änderungen erfahren hat. Es wird deutlich, dass das Extreme, Rücksichts- und Kompromisslose sowie Radikalität im ästhetischen Kontext innerhalb des Musiktheaterdispositivs immer als positives Merkmal für ein ästhetisches Ideal verwendet wird, das sich selbst im Einzelfall überhaupt nicht genau erklären und darstellen lässt. Das nachgerade inflationäre Aufkommen des Ausdrucks ›radikal‹ im Zusammenhang mit ästhetischen Phänomenen könnte zweierlei bedeuten. Entweder geht mit dem Begriff aufgrund seiner inflationären Verwendung eine gewisse Bedeutungslosigkeit einher,196 oder er steht als Symbol bzw. Etikett für etwas anderes. Leonhard Emmerling stellt in diesem Zusammenhang etwas polemisch fest: »Der Begriff der Radikalität erfüllt die Funktion eines kompensatorischen Surrogats. Er nutzt die gesamte Schwungkraft des utopischen Pathos der Moderne, um, wenn auch semantisch leer, durch seine rhetorisch hocheffiziente Aufgeladenheit die reale Unfähigkeit der Kunst auszugleichen, angesichts einer hochkomplexen Realität noch relevante Aussagen zu treffen.«197 Der Topos der Radikalität von Musiktheaterkompositionen oder musikalischen Interpretationen sowie der Radikalität der Inszenierung entfaltet sich im Diskurs als Legitimationsstrategie des Musiktheaters im Sinne eines diskursiven Mechanismus.

195 Ebd. 196 Siehe dazu in Analogie die Überlegungen zur politischen Radikalität durch Christian Bermes: Radikalität – Etikett oder Gestalt? Zum Ort des Radikalen in der Kultur, in: Zeitschrift für Kulturphilosophie, Bd. 6, Jg. 2012, Heft 2, Hamburg: Felix Meiner Verlag, 2012, S. 273–285, hier S. 274. 197 Leonhard Emmerling: Radikal schöner Schein. Der Begriff der Radikalität und die Künste, S. 288. – Emmerling geht sogar noch weiter und sieht den »Diskurs des Radikalen im Zusammenhang mit der zeitgenössischen Kunst [als] Beleg für die These, daß der westliche Moderne-Begriff (und somit auch der Begriff der Post-Moderne) und damit die westliche Auffassung von der Entwicklung der Kunst von einer Auffassung der Geschichte abhängig ist, die als säkularisierte Heilsgeschichte beschrieben werden kann.« – Ebd.

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In Verbindung mit der Komposition Tragödia (Der unsichtbare Raum) von Adriana Hölszky stechen rhetorische Verweise auf das Experimentelle, Geheimnisvolle198 und Rätselhafte199 besonders hervor. Einerseits sind zur sprachlichen Vorlage des Werks beispielsweise keine Einzelheiten bekannt: Denn »über diese Textvorlage schweigen sich der Projektdramaturg und die Komponistin aus: Für das Stück blieb sie Reibungsfläche, nicht konkreter Bezugspunkt.«200 Die Verbindung von Musik und Theatralität ohne auditiv verstehbares Libretto ist spätestens seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts keine Voraussetzung mehr für eine generische Zuordnung zum Musiktheater, nichtsdestotrotz transportieren die Kritiken gerade bezüglich der nicht einsehbaren Textvorlage eine gewisse Aura des Besonderen bzw. Geheimnisvollen und dadurch Irritierenden. So steht eine Kritik etwa unter dem Titel: »Surreale Irritationen aus der Wundertüte«201 . Andererseits unterstreichen die Kritiken den experimentellen Charakter des Werks Tragödia (Der unsichtbare Raum) durch naturwissenschaftliche Vergleiche, denn für Adriana Hölszky sei ihre Musik vergleichbar »mit dem Experimentalcharakter chemischer Prozesse«202 und wirke »in ihrer Logik wie von einem mathematischen Gehirn ersonnen.«203 Das ›Experimentelle‹ deutet auf eine Handlung mit unberechenbarem Verlauf und unbekanntem Ausgang. Zufall und Risiko sind dafür charakteristisch: »Dieses Projekt bedeutet ein weiteres Abenteuer mit ungewissem Ausgang«204 , lautet ein in einer Kritik herausgestelltes Zitat Helmut Lachenmanns aus dem Jahr 1993. Der Prozess des Komponierens wird somit als experimentell und risikobehaftet dargestellt. Neben dem Geheimnisvollen und Experimentellen bleibt auch Radikalität wesentliches Merkmal von Hölszkys Komposition. ›Ähnlich radikal‹ wie die vorangegangenen Aufführungen der Reihe ›Neues Theater für Musik‹, einer Kooperation der Bundeskunsthalle und des Theaters Bonn, sei Adriana Hölszkys Musiktheaterwerk Tragödia, so lautet die wörtliche Einschätzung des Kritikers: »In ihrer Art ähnlich radikal geriet nun die jüngste Uraufführung der aus Rumänien stammenden

198 Das Geheimnis ist auch für Lachenmanns Oper charakteristisch, da sich die Komposition des Werks über mehrere Jahre hinweg zog und schließlich auch die Premiere des Stücks mehrmals verschoben wurde. In einer Vorschau auf die Premiere heißt es: »Am 26. Januar 1997 lüftet die Hamburgische Staatsoper eines der bestgehüteten Geheimnisse.« – Heinz-Harald Löhlein: Erinnerung an einen Toten, in: Bremer Nachrichten, 15.01.1997. 199 Wolfgang Schreiber: Phantom einer Oper, in: Sueddeutsche Zeitung München, 30.05.1997. 200 Michael Struck-Schloen: Harsche Schnitte, in: Rheinische Post Düsseldorf, 04.06.1997. 201 Michael Struck-Schloen: Surreale Irritationen aus der Wundertüte. Adriana Hölszkys ›Tragödia‹ in Bonn uraufgeführt, in: Bremer Nachrichten, 30.05.1997. 202 Detlef Gojowy: Zwei Möpse trauern, und wir wissen nicht, um wen, in: Die Welt Berlin, 29.05.1997. 203 Ebd. 204 Heinz-Harald Löhlein: Erinnerung an einen Toten, in: Bremer Nachrichten, 15.01.1997.

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Komponistin Adriana Hölszky. ›Tragödia für Bühnenbild und Orchester‹ ist der rätselhafte Titel, der klassische Komponenten europäischen Musiktheaters – Libretto, Sänger, Regisseur – eigensinnig ausblendet.«205 Mit dem starken Fokus auf das Bild nebst vollständiger Absage an ein auditiv wahrnehmbares Libretto sei Adriana Hölszkys Tragödia nun die »radikalste Konsequenz aus der Herrschaft des Bildes über die Handlung«206 . Vergleichbare Beschreibungsmodi finden sich auch in der Besprechung einer Folgeinszenierung am Hebbeltheater 2001; sowohl in der Beurteilung der Musik als auch der Inszenierung stellt Radikalität ein wesentliches Beschreibungsmerkmal dar: Adriana Hölszky habe »die radikale Konsequenz aus einem musikalischen Denken gezogen, das Dramatik aus dem Klang heraus entfesselt, statt ein Drama klanglich zu illustrieren.«207 Und in Abgrenzung zur Bonner Uraufführung wirke die Inszenierung im Hebbeltheater »dagegen nun weit radikaler«208 , denn die Musiktheaterbesucher nahmen auf Holzpritschen Platz und rezipierten das Werk liegend. Radikalität als Beschreibungsmodus in der Musiktheaterkritik dient zwar im Einzelfall der positiven ästhetischen Bewertung einer Aufführung, das Radikale als Lehnwort aus dem politischen Diskurs verweist aber gleichzeitig auch auf die Bestrebungen der Avantgarde des 20. Jahrhunderts, die Grenzen zwischen Kunst und Leben aufzulösen,209 bzw. im speziellen Fall die Grenzen des Musiktheaters und insbesondere der Oper aufzulösen oder zumindest hinsichtlich der szenischen Arbeit auszudehnen. In diesem Sinne greift Radikalität auch die Intention auf, Altes und Bekanntes durch Neues und Unbekanntes zu ersetzen. Inwiefern sich das zeitgenössische Musiktheater tatsächlich dieser Utopie nähert, kann selbstverständlich nicht beantwortet werden. Die Begrifflichkeiten jedoch bleiben als Symbole für die anhaltende, aus einer avantgardistischen Ideologie heraus sich darstellende Deutung der unterschiedlichen Gattungen des Musiktheaters und dienen als anschlussfähige Bezugssysteme der Legitimation. Dies gilt für Experiment, Wagnis, Risiko, Abenteuer, Geheimnis ebenso wie für Radikalität. Ein weiterer Aspekt ist überlegenswert: ›Radikal‹ als bloßes Etikett nebst sehr unterschiedlichen Bestrebungen, das betreffende Objekt bzw. einen ästhetischen Parameter als ›radikal‹ zu beschreiben und die Radikalität zu erklären, deutet darauf hin, dass es sich darüber hinaus um Versuche handelt, Unterschiede in der Sache hervorzuheben; das heißt, es handelt sich um eine Strategie, durch das Etikett des 205 206 207 208 209

Michael Struck-Schloen: Die Spur führt ins Nichts, in: Stuttgarter Zeitung, 31.05.1997. Ebd. Julia Spinola: Klanganalyse auf der Couch, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 15.11.2001. Ebd. Leonhard Emmerling: Radikal schöner Schein. Der Begriff der Radikalität und die Künste, S. 289. – Das Beispiel der Radikalität als einer aus dem Diskurs des Politischen in den Diskurs des Künstlerischen diffundierten Begrifflichkeit zeigt die komplexe Verknüpfung der unterschiedlichen Legitimationsstrategien sehr deutlich.

III Legitimationsstrategien im Diskurs um das Musiktheater

›Radikalen‹ Abgrenzung zu etwas anderem herbeizuführen.210 Es geht also weniger um die Frage nach tatsächlicher Radikalität eines ästhetischen Phänomens, als um »die Setzung eines Unterschieds«211 als Legitimationsstrategie.

2.2 Die generische Klassifizierung – Versuch der Selbstvergewisserung La Bohème »gilt als Inbegriff der Gattung Oper schlechthin«212 , konstatiert ein Rezensent. Über eine eindeutige Zuordnung hinaus vermittelt diese Feststellung implizit einen Orientierungspunkt für generische Zuschreibungen. Bei sechs von acht Werken, die als Grundlage für die Auswahl der Kritiken dienten, ist die Frage nach der Gattung – Oper, Operette, Musical – im Diskurs eindeutig bestimmt. Der in den Kritiken sich spiegelnde Aushandlungsprozess der generischen Zuordnung bei den zwei Kompositionen der Neuen Musik ist hingegen fluid. Als zentrales Moment der Identitätsbildung bzw. des Images ist dieser Aushandlungsprozess für die Szene der Neuen Musik bereits zur Tradition geworden.213 Während Abgrenzungsstrategien in Bezug auf spezifische Werke innerhalb eines jeden Genres vorliegen – zumindest für die Werke des Korpus ist diese Aussage gültig –, entfalten sich explizite Aushandlungs- und Abgrenzungsprozesse in der Regel im Rahmen der folgenden binären Kategorisierung: Einerseits wird Musical von Operette und andererseits Operette von Oper abgegrenzt. Die bestehenden Gattungskategorien dienen einer jeweiligen im Zentrum stehenden Gattung als eine Art Kontrastfolie oder negativ besetzter Bezugspunkt, von dem es sich formalästhetisch abzugrenzen gilt.214 Die Gattung als Reibungsfläche ist im Rahmen des Korpus vor allem im Zusammenhang mit Helmut Lachenmanns Komposition Das Mädchen mit den Schwefelhölzern sowie mit Adriana Hölszkys Werk Tragödia eindrücklich. Einerseits steht die generische Zuordnung beider Stücke mit problemzentriertem Zugriff häufig exponiert im Zentrum der Besprechungen. Andererseits wird deutlich, dass sowohl Lachenmann als auch Hölszky – und dies gilt auch für die Kritiker*innen, sofern diese als Apologet*innen des Komponisten bzw. der Komponistin auftreten – selbst

210 Siehe in Analogie zur politischen Diskussion des Radikalen Christian Bermes: Radikalität – Etikett oder Gestalt? Zum Ort des Radikalen in der Kultur, in: Zeitschrift für Kulturphilosophie, Bd. 6, Jg. 2012, Heft 2, Hamburg: Felix Meiner Verlag, 2012, S. 273–285, hier S. 277f. 211 Ebd.: S. 278. 212 Michael Schäfer: Liebe, Tod und Tränen, in: Göttinger Tagblatt, 12.01.1989. 213 In musikhistorischer Perspektive ist dieser Aushandlungsprozess nachvollziehbar, da im Milieu der Neuen Musik das Komponieren von Opern eher negativ konnotiert war. Bei den Darmstädter Ferienkursen für Neue Musik etwa wurden Musiktheaterkompositionen lange Zeit kaum berücksichtigt. 214 Pierre Bourdieu: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, Frankfurt: Suhrkamp Verlag, 2012, S. 107.

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mit der Disposition der Gattung kokettieren. Helmut Lachenmann beispielsweise charakterisiert sein Bühnenwerk selbst im Untertitel mit dem Zusatz: »Eine Musik mit Bildern«215 . Den Begriff Oper meidet er in der Regel in Interviews und Stellungnahmen zum Stück und begünstigt dadurch den Eindruck einer erschwerten bis gar unmöglichen generischen Einordnung der Komposition. Letztendlich kokettiert aber auch Lachenmann mit der Gattungsbezeichnung, denn für ihn ist Das Mädchen mit den Schwefelhölzern zweifelsohne eine Oper.216 Ohne sich auf die musikästhetische Ebene der Analyse zu begeben, ist bereits die Tatsache, dass sich das Stück in den einschlägigen Nachschlagewerken zur Oper befindet, Indiz genug dafür, dass die generische Klassifizierung des Werks weitaus unproblematischer ist, als dies durch den Diskurs in den Kritiken angenommen werden könnte. Darüber hinaus wurde das Werk von der Hamburgischen Staatsoper in Auftrag gegeben, das Opernhaus fungierte als Aufführungsort und der künstlerische Apparat speiste sich aus professionellen Sänger*innen, dem Opernorchester, einem Regisseur usw. Nicht zuletzt kann auch das Publikum als Opernpublikum charakterisiert werden. Trotz dieser vielfältigen Indizien ist das Komplement der Oper, die »Anti-Oper«217 , in den Kritiken von Bedeutung und häufig Topos der Auseinandersetzung. Zwar gibt es durchaus Kritiken, die die Diskussion um die Gattung überhaupt nicht aufgreifen bzw. ohne Verweis auf generisch motivierte Abgrenzungsstrategien schlicht über »Lachenmanns Oper«218 im Sinne eines Kopplungsmanövers219 schreiben, allerdings überwiegen Äußerungen zur Gattung als Reibungsfläche: »Eine Oper ist es jedenfalls nicht, und schon gar keine im konventionellen Sinn. Es gibt keine Handlung, keine Protagonisten, keine Darstellung großer Gefühle«220 , konstatiert beispielsweise ein Kritiker. Die unterschiedlichen Subnarrative seien zudem »verbunden durch eine Musik, deren Radikalität die Gattung Musiktheater auf ein neues qualitatives Niveau hebt.«221 Auch im Zusammenhang mit Tragödia (Der unsichtbare Raum) von Hölszky steht die Frage nach der Gattungszugehörigkeit exponiert in den Kritiken zur Diskussi-

215

Helmut Lachenmann: Das Mädchen mit den Schwefelhölzern. Musik mit Bildern, Partitur, Breitkopf & Härtel. 216 Dies geht aus Schriftverkehr in Lachenmanns Sammlung in der Paul Sacher Stiftung in Basel hervor. 217 Matthias Frede: Schwieriger Fall von Anti-Oper, Mitteldeutsche Zeitung Halle und Saalkreis, 28.01.1997. 218 Rainer Beßling: Klopfen, Rascheln, Verdener Aller-Zeitung, 06.02.1997 219 Michael Schwab-Trapp: Diskurs als soziologisches Konzept. Bausteine für eine soziologisch orientierte Diskursanalyse, in: Handbuch Sozialwissenschaftliche Diskursanalyse. Band I: Theorien und Methoden, hg. von Reiner Keller et al., Opladen: Leske + Budrich, 2001, S. 261–283, hier S. 274. 220 Stephan Hoffmann: Schwer und doch ganz leicht, Schwäbische Zeitung Leutkirch, 28.01.1997. 221 Ebd.

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on. Während die Überschrift einer Kritik sich schlicht auf die Gattung Oper bezieht, der Titel nämlich lautet »Bonn: Oper ›Tragödia‹«222 , oder an anderer Stelle von »Experimentaloper«223 die Rede ist, so steht dieser weitgehend unkommentierten eindeutigen Zuordnung beispielsweise eine – zumindest suggeriert durch rhetorisches Fragen – unsichere Haltung hinsichtlich der generischen Zuordnung gegenüber: »Eine Oper? Musiktheater jedenfalls […].«224 Außerdem verweist an anderer Stelle beispielsweise die Anspielung auf die Heroldsformel zwar einerseits auf die Kontinuität und damit auf die Operntradition, in der das Werk Hölszkys steht, andererseits aber durch den Gegensatz zwischen Literatur und Bild sowie zwischen Oper und Theater auf einen Bruch mit eben dieser generischen Tradition: »Die Literaturoper ist tot, es lebe das Bildertheater!«225 Konsequent wird Tragödia (Der unsichtbare Raum) dann auch als »Phantomoper«226 bezeichnet, da der Fokus auf visuellen Aspekten, d. h. der Ausstattung, liegt und im Werk keine Stimmen vorgesehen sind. Ähnlich wie auch bei Helmut Lachenmanns Oper findet die Diskussion der Gattung in Abgrenzung zur »Oper im herkömmlichen Sinne«227 Niederschlag in den Kritiken, zumeist indem die Gattungsbezeichnung erweitert wird. Neben ›Phantomoper‹ wird beispielsweise auch von einer »eigenartigen Bühnenraum-Oper«228 gesprochen. So unterschiedlich auch die Ausdrucksformen der Beschreibungen für das Gegenstück zur Oper sind, ihnen ist einerseits das Bestreben gemein, das besprochene Werk im Kontext der Gattung herauszuheben und dessen Besonderheit hervorzustellen. Andererseits scheint die auf diese Art suggerierte Erkundung der Gattungsgrenze der Oper für sich genommen ein positives Bewertungskriterium und eine Legitimationsstrategie darzustellen. Gerade im Zusammenhang mit generischen Zuschreibungen jenseits traditioneller Klassifizierung wird sowohl bei Hölszkys Tragödia (Der unsichtbare Raum) als auch bei Lachenmanns Das Mädchen mit den Schwefelhölzern der Einfluss der Szene der Neuen Musik deutlich, der mit dem Musiktheaterdiskurs im Zusammenhang steht. Das Bild der Anti-Oper bis zur Anti-Anti-Oper wurde als Narrativ bereits von anderen Komponisten des 20. Jahrhunderts bemüht und kann gewissermaßen als Symbol für die Imagepflege der Szene gelten.229 Die von der Szene der Neuen Musik verinnerlichten Abgrenzungsstrategien

222 Michael Struck-Schloen: Harsche Schnitte, in: Rheinische Post, 04.06.1997. 223 Detlef Gojowy: Zwei Möpse trauern, und wir wissen nicht, um wen, in: Die Welt Berlin, 29.05.1997. 224 Wolfgang Schreiber: Phantom einer Oper, in: Süddeutsche Zeitung München, 30.05.1997. 225 Michael Struck-Schloen: Die Spur führt ins Nichts, in: Stuttgarter Zeitung, 31.05.1997. 226 Wolfgang Schreiber: Phantom einer Oper, Süddeutsche Zeitung München, 30.05.1997. 227 Wolfgang Nölter: Avantgarde-Werk: Staatsoper reduziert die Preise, Münchner Merkur, 15.01.1997. 228 Wolfgang Schreiber: Phantom einer Oper, Süddeutsche Zeitung München, 30.05.1997. 229 Siehe etwa Wulf Konold: Oper ‒ Anti-Oper ‒ Anti-Anti-Oper, in: Musiktheater heute, S. 47–60.

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finden wiederum Niederschlag in den Kritiken: »Anders als in anderen Opern«230 sei Helmut Lachenmanns Werk, da weder Arien noch ein vertrauter Orchesterklang zu hören seien.231 Die Abgrenzungsbemühungen der Komponist*innen der Neuen Musik innerhalb der Gattung Oper, bzw. innerhalb des zu Grunde liegenden Konzepts der Gattungsbezeichnung232 , werden im Bereich des Musiktheaters auch innerhalb der anderen Gattungen sowie zwischen den Gattungen vollzogen. Die Abgrenzungsbestrebungen betreffen also nicht ausschließlich das Musiktheater der Neuen Musik. So setzen Kritiker*innen gerade bei der Oper La Bohème beispielsweise sehr häufig auf ›das Andere‹. So führe ein Dirigent beispielsweise »den ›anderen‹ Puccini«233 vor. Innerhalb der Werkgrenzen greifen demnach ebenfalls Abgrenzungsmechanismen ein, die einem bestimmtem Werk mit Hilfe von Distanz die Aura des Besonderen attestieren bzw. durch die Argumentation auf Differenz das vermeintliche oder tatsächliche Alleinstellungsmerkmal des Werks unterstreichen. Die Abgrenzung oder auch Kopplung zu einem anderen bzw. an ein anderes Genre (dabei geht es – wie bereits skizziert – meist um die Abgrenzung bzw. Annäherung von Oper zur Operette oder vom Musical zur Operette oder vice versa) fällt außerdem besonders auf: »Das war richtiger Offenbach und richtige seriöse Operette – was ja ›kleine‹ Oper bedeutet.«234 Oder ein anderer Kritiker bemerkt mit Verweis auf die »authentisch gelebte Operette«235 : »Die wirklich guten Operetten (ja, die gibt es!) haben ihn alle, diesen doppelten Boden, wo zwischen der Champagnerseligkeit die Realität aufblitzt, wo im schunkelnden Balkanesien auf einmal die Zeitumstände greifbar werden, wo das frivole Dudidu-Immerzu zur genau beobachteten Sittenkomödie wird.«236 Und dann wiederum ist in einer anderen Kritik zu lesen: »Die farbenfrohe Musik Puccinis, die – abgesehen vom tragischen Schluß – eigentlich mehr an eine Operette erinnerte […].«237 Oder beispielsweise auch: »Liebhaber der Operette werden schnalzen, Opernfreunde mit Appetit auf leichte Kost gewiss auf den Geschmack

230 Hans Berndt: Zerstückelte Laute und Geräusche, in: Handelsblatt, 31.01.1997. 231 Ebd. 232 Dies gilt bisweilen auch im Bereich des Musicals, wenn es z.B. darum geht, ob es sich um ein Musical oder ein Grusical handelt. 233 Paul Barz: Ein Triumph bittersüßer Nostalgie. Puccinis ›La Bohème‹ an der Deutschen Oper Berlin, in: Trierischer Volksfreund, 30.12.1988. 234 Franz A. Stein: Köpplingeriade oder: die Bühne, ein Tollhaus, Mittelbayrische Zeitung Regensburg, 17.02.1992. 235 Manuel Brug: Operette auf dem Silbertablett, in: Die Welt Berlin, 30.12.1998. 236 Ebd. 237 Robert Stockamp: Gesang und Spiel ganz wunderbar, in: Wolfsburger Nachrichten, 16.12.1996.

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kommen.«238 Was in diesen Beispielen deutlich wird, ist die – wenn auch in Nuancen abweichende – Kopplung der Gattungen Oper und Operette. Im Gegensatz dazu spricht beispielsweise ein Rezensent im Zusammenhang mit einem anderen Werk von einem »Operetten-Etikettenschwindel«239 ; offensichtlich weil der Regisseur die Operette nicht einer solchen würdig ausgelegt und inszeniert hat. In Bezug auf die Gattungsdiskussion innerhalb von Werkgrenzen gibt das folgende Beispiel Aufschluss. So schreibt ein Kritiker über La Bohème: »Vielleicht wäre Giacomo Puccinis veristischer Vierakter von heute aus betrachtet auf dem Operetten-Brettl besser aufgehoben. Der Plot ist jedenfalls danach. Denn wie die Schwindsüchtige Stickerin Mimi binnen zweieinhalb sentimentaler Stunden dem armen Poeten Rodolfo verfällt (und zwar aufs heftigste), sich von ihm trennt (und zwar aufs heftigste), um ihn dann doch wieder als Sterbebegleiter in Anspruch zu nehmen (und zwar aufs heftigste), gehört in die Kategorie Libretto-Blödsinn.«240 In dieser Kritik besonders aufschlussreich ist die Stellung der La Bohème zwischen Operette und Oper, hier eher dem operettenhaften Charakter zugeordnet. Über das Werk, das – folgt man auch anderen Kritiken – »nicht gar so selten in operettennahe Tränenseligkeit abrutscht, mit ebenso wachem wie ernsthaften Sinn für die Lebensund Liebeswahrheiten«241 , wird im Anschluss an diese Einschätzung deutlich, dass es an der Regie gewesen wäre, genau diese hybride Stellung des Werks in die andere Richtung zu entscheiden. Der Hinweis darauf ist eher subtil, verweist aber auf die komplexen Zusammenhänge zwischen dem Diskurs um ›Werktreue‹ und ›generische Klassifizierung‹. Der Kritiker schreibt bestimmt: »Umso mehr muss ein Regisseur zeigen, was in ihm und dem Stück (außer drei, vier Arien-Hits womöglich doch noch) steckt.«242 Durch Abgrenzungsbemühungen vergewissern sich die Autor*innen aber auch innerhalb einer generischen Zuschreibung der Gattung. Im Zusammenhang mit einer Rezension einer Aufführung von La Bohème findet der Rezensent einen zwar eigentümlichen, aber nicht minder das Musiktheater rechtfertigenden Einstieg in die Kritik, da er die Wandelbarkeit der Gattung durch das Referat unterschiedlicher Bedürfnisse und Werkkontextualisierungen herausstellt. Seine Beschreibung stellt sich dabei gewissermaßen in der Vielseitigkeit der Gattung – hier hauptsächlich auf 238 Lars Wallerang: Rot-Gold liebt sich’s in Ungarn, in: Westdeutsche Zeitung Düsseldorfer Nachrichten, 14.08.2000. 239 Lorenz Tomerius: Die Komtesse Staatsicherheit, in: Berliner Morgenpost, 31.12.1999. 240 Frank Kallensee: Aller schlechten Dinge sind drei, in: Märkische Allgemeine Potsdam, 18.12.2001. 241 Simon Neubauer: Bittere Erkenntnisse der Aussteiger, in: Bremer Nachrichten, 08.04.2002. 242 Frank Kallensee: Aller schlechten Dinge sind drei, in: Märkische Allgemeine Potsdam, 18.12.2001.

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die Regie bezogen – dar und wirkt dadurch als Gegenstück zur bisweilen einseitigen Spielplangestaltung, bei der La Bohème zweifellos eine der am häufigsten gespielten Opern darstellt: »Opern fürs Repertoire, die viele Jahre auf dem Spielplan bleiben müssen, bald mit Stars, bald mit dem Rest-Ensemble besetzt, haben ihre eigenen Gesetzmäßigkeiten: Verdis ›Macht des Schicksals‹ oder Debussys ›Pelléas und Melisande‹ eignen sich für das Regie-Theater genannte Assoziations-Theater, Wagners ›Ring des Nibelungen‹ oder Schönbergs ›Moses und Aron‹ verlangen, durch ihren weltdeutenden Anspruch, mit jeder Inszenierung eine eigenständige Neudeutung. Aber der ›Rosenkavalier‹, die ›Traviata‹ und die ›Bohème‹ brauchen einen festen, durch die Mode unverwüstlichen, für alle Eventualitäten passenden Rahmen. Der ist in den Stücken (den am häufigsten gespielten Opern) natürlich bereits angelegt. Ihn mit Anschauung und Sinn zu füllen, ist aber nicht nur eine lästige Pflicht. Es ist auch eine Chance, im festgelegten Rahmen die Möglichkeiten des Werks ganz auszuloten.«243 Die Kopplungs- und Abgrenzungsmanöver erschöpfen sich nicht in der Paarung Oper und Operette. Folgende Beispiele etwa loten die Beziehung zwischen Musical und Operette aus: »Das ist wieder ein Volltreffer. Da hat man den Nagel auf den Kopf getroffen. Von wegen, Operette sei ein Auslaufmodell. Im Wettstreit mit manch kurzatmigem Musical macht sie allemal noch das Rennen. Was hier kreiert wird, ist höchst lebendiges Musiktheater.«244 Oder auch: »Keine Frage: die Fülle einschmeichelnder Melodien juckt immer neu – und keines der aktuellen Musicals kann auch nur einen Ohrwurm anbieten, der es mit Kálmáns schmissigen, sentimentalen, schmierigen Gemütsmelodien aufnimmt […].«245 Aber auch die andere Perspektive ist zu finden. So schreibt eine Rezensentin: »Hier ist […] Alan Menkens hintersinniges Werk zur vordergründigen, süßlichen Operette geworden. Alles scheint angestaubt […].«246 Gattungskategorien als Orte der Selbstvergewisserung erscheinen besonders durch – zwar seltene – überraschende Abgrenzungs- und Kopplungsmanöver plausibel, etwa durch Binnenabgrenzungen innerhalb der Gattung Musical – in »der Inszenierung […] wird den hyperperfekten Technomusicals wie Cats oder Starlight-Express Paroli geboten. Der Charme der kleinen, aber perfekt auf den Punkt

243 O. A.: Naturgeschichte der Pariser Bohème, in: Süddeutsche Zeitung München, Nr. 301, S. 26, 30.12.1988. 244 Günter Görtz: Im Himmel ist der Teufel los, in: Neues Deutschland, Berlin-Ost, 31.3.1992. 245 W.-E. von Lewinski: Ganz ohne Kálmán geht die Operetten-Chose nicht. Die »Csárdásfürstin« im Großen Haus neuinszeniert, in: Wiesbadener Tagblatt, 09.12.1996. 246 Renate Freyeisen: Hausbacken-unkritisches »Musical-Grusical«, in: Main-Echo Aschaffenburg, 22.02.1994.

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inszenierten Show siegt mit Längen über die auf Massentourismus zielenden Gigantenspektakel«247 – oder durch Kopplung von Musical und Oper – das »Marktbild war mit Lust ausgemalt: Hier haben sich elegantes Farbempfinden der Ausstatter und die Freude am Geschichtenerzählen des Regisseurs gefunden. Es wurde so, wie Hollywood Musicals macht.«248 . Aber auch die Abgrenzung zwischen Oper und ›Musiktheater‹, letzteres in diesem Fall vermutlich als Synonym des Regietheaters zu verstehen, findet sich in den Kritiken: »Wenn uns die jüngste Premiere im Opernhaus Erfurt, ›La Bohème‹ von Giaccomo Puccini, eines sagt, dann dies: Die Oper lebt! Sie hat sich über alle Irrungen und Wirrungen des ›Musiktheaters‹ gerettet und strebt nun geläutert zu neuem Glanz: Das Übergewicht szenischer Gestaltung wird aufgegeben, das Gleichgewicht von Szene und Musik schafft neue Identität.«249 Im Dispositiv des zeitgenössischen Musiktheaters bietet die Gattung bzw. die generische Klassifizierung spezifischer Werke des Musiktheaters Reibungsfläche. Gleichzeitig sind generische Abgrenzungsbestrebungen Nexus für legitimatorische Aushandlungsprozesse zwischen einzelnen Genres, denn die Abgrenzung ist nur dann möglich, wenn das Komplementäre, das Andere stets mitgedacht bzw. berücksichtigt wird. Die Differenzkonstruktion der eigenen präferierten Gattungen durch Ablehnung oder durch die Abhebung von anderen führt zwangsläufig zur Konstruktion einer Gemeinschaft und dient der Distinktion: »Die Geschmacksäußerungen und Neigungen (d. h. die zum Ausdruck gebrachten Vorlieben) sind die praktische Bestätigung einer unabwendbaren Differenz. Nicht zufällig behaupten sie sich dann, wenn sie sich rechtfertigen sollen, rein negativ durch die Abhebungen von anderen Geschmacksäußerungen.«250 Die in diesen Gemeinschaften liegenden Abgrenzungsstrategien führen kumuliert letztendlich zu einer Selbstvergewisserung des Musiktheaters, auch wenn es im Einzelnen um die ›Durchsetzung eines Lebensstils‹ zu gehen scheint: »Das bedeutet zugleich, daß die Spiele der Künstler und Ästheten und deren Ringen um das Monopol künstlerischer Legitimität so unschuldig nicht sind, wie sie

247 Ursula May: Einfach, ehrlich und süß. »Little Shop of Horrors« im English Theater, in: Frankfurter Rundschau, 6.12.1994. 248 Wolfgang Tschechne: Puccinis musikalischer Bestseller, in: Lübecker Nachrichten, 10.01.1989. 249 Hans-Jürgen Thiers: Von südlichem Charme, Thüringische Landeszeitung Weimar, 18.02.1992. 250 Pierre Bourdieu: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, Frankfurt: Suhrkamp Verlag, 2012, S. 105.

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sich geben: keine Auseinandersetzung um Kunst, bei der es nicht auch um die Durchsetzung eines Lebensstils ginge«.251 Interessant ist allemal, dass sich neben der Abgrenzung als Selbstvergewisserung des Musiktheaters auch Kopplungsmanöver als diskursive Legitimationsstrategie vollziehen. Das Bezugssystem der Gattung, d. h. die generische Klassifizierung, bildet samt angrenzender Subdiskurse einen differenzierten Wissensbestand, der den Geltungsanspruch des Musiktheaters festigt. »Operette hat Konjunktur: Stöbert man in den Spielplänen bundesdeutscher Bühnen, trifft man den ›Vetter aus Dingsda‹ und den ›Bettelstudenten‹, den ›Zigeunerbaron‹ und den ›Zarewitsch‹. Ein immer wieder totgesagtes Genre erlebt einen neuen Frühling. Warum das so ist, darüber darf spekuliert werden. Ist es das nahe Ende des Jahrhunderts, das Erinnerungen an die Hoch-Zeit der Gattung vor 100 Jahren wach werden läßt? Ist die Operette das Heilmittel für von Solidaritätszuschlag und Gesundheitsreform gebeutelte Bürger der NachWende-Zeit? Verdanken das ›Land des Lächelns‹ und die ›Lustige Witwe‹ ihre Auferstehung dem Musical, der Schwester also, die der alten Tante Operette den Boden unter den Füßen wegzunehmen schien? Wie auch immer: Intendanten und Regisseure trauen sich wieder an den ›kalkulierten Schwachsinn‹ (Adorno) und eine der ›empfindlichsten Entehrungen des menschlichen Geschlechts‹ (Friedell). Und feiern Erfolge.«252

2.3 Emotionen und Gefühl Eine zentrale Eigenschaft des Musiktheaters und insbesondere der Oper ist, »herzzerreißend schön und anrührend«253 zu sein. Beim Opernbesuch geht es um ›große Gefühle‹, bei denen es einem »warm ums Herz wird«254 – auf der Bühne und beim Publikum. Es ist daher nicht verwunderlich, dass Emotionen, maßgeblich Rührung, auch in den Kritiken eine große Rolle spielen. Eine Aufführung, bei der ein Darsteller durch »seine Ausdruckskraft auch einen hartgesottenen Opernkritiker schier zu Tränen zu rühren vermochte«255 , erfüllt diese von der Oper gemeinhin erwartete, emotionale Vereinnahmung des Zuschauers. Rührung, so scheint es, häufig plastisch dargestellt durch Tränen, verleiht der besprochenen Aufführung Authentizi-

251 Ebd., S. 106. 252 Gerd Klee: Nichts perlt, es tröpfelt nur, in: Wiesbadener Kurier, 09.12.1996. 253 Reinhard Söll: La Bohème: Der Triumph des Olafur Bjarnason, Mittelbayrische Zeitung Regensburg, 07.04.1992. 254 Ebd. 255 Jörg Riedlbauer: Tenorglanz aus Italien, Donau-Kurier Ingolstadt, 05.04.1994.

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tät: »am Ende […] werden die Augen feucht.«256 Für eine Kritikerin ist klar: »Und ich schäme mich meiner Tränen nicht.«257 Dass Tränen, die durch Ergriffenheit ausgelöst werden, für eine gelungene Aufführung stehen, wird auch aus dem folgenden Zitat deutlich: »Der Puccini-Klang der Philharmoniker ist so verführerisch denn doch nicht, dass man davon überrumpelt würde. […] Ein paar verstohlene Tränen (wir wissen ja, die gehen auf Reisen aber lügen nicht) sollen in der Premiere trotzdem gekullert sein, was wir gerne als Erfolgsmeldung weiter reichen.«258 Es ist sicherlich dem Libretto der La Bohème geschuldet, dass Emotionen und Gefühle im Zusammenhang dieser Oper häufig im Zentrum der Kritik stehen. Für einen Kritiker bedeutet dies: »Aufflammende, alte Liebesleidenschaft, die Leere der Empfindungen, Leidenschaft und ein Tod ohne Pathos – all das erschüttert auch nach 200 Aufführungen. Und das ergreifend von Rodolphe besungene eiskalte Händchen seiner Mimi dürfte erneut die Herzen und Ohren der Zuschauer bewegen.«259 Und in einer anderen Kritik ist beispielsweise zu lesen: Der Regisseur »macht die Oper nicht ›ganz anders‹, übt keine Zeitsprünge oder feuert gesellschaftskritische Salven ab, sondern hält den Blick unverwandt auf das Paar Mimi-Rodolfo. ›La Bohème‹ ist auch für ihn die Oper der Gefühle.«260 So offensichtlich ›Gefühl‹ auch zum Musiktheater gehört und in einer Vielzahl an Kritiken für sich genommen als Indiz für gelungene Unterhaltung steht, sind gerade die Kritiken interessant, bei denen das ›Gefühl‹ anerkannt, aber direkt intellektualisierend transformiert oder alternativ vom ›Kitsch‹ abgegrenzt wird. Die regelmäßige Überführung des ›Gefühls‹ in ein intellektuelles Problemfeld erschließt sich nicht auf den ersten Blick und wird häufig nur in der Gesamtschau einer Kritik deutlich. Betrachtet man dies aber als bürgerlichen Habitus, so wird deutlich: Intellektualisierung des ›Gefühls‹ dient dazu, den Wert des Emotionalen anzuheben. Besonders deutlich wird die Bedeutung des ›Gefühls‹ für das zeitgenössische Musiktheater in einer Rezension zu Puccinis Oper La Bohème herausgearbeitet, in welcher der Rezensent zunächst sehr nüchtern die Realitätsferne dieser Oper bestätigt, im Anschluss aber eben das ›Gefühl‹ sowohl als realitätsnahes Gegenstück

256 Reinhard Söll: La Bohème: Der Triumph des Olafur Bjarnason, Mittelbayrische Zeitung Regensburg, 07.04.1992. 257 Ursula Mielke: Plädoyer für die Liebe, in: Thüringer Allgemeine Erfurt, 5.11.2001. 258 Dieter Stoll: Fenster zu, Mimi singt!, in: Abendzeitung Nürnberg, 04.10.2000. 259 Peter Buske: Eiskaltes Händchen mit Frischegarantie, Berliner Zeitung, 29.12.1992. 260 Rudolf Jöckle: Die Gefühle lodern wie ein Höllenfeuer, Frankfurter Neue Presse, 19.01.1998.

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als auch als ›Wahrheit‹ präsentiert. Auch wenn das Leben auf der Bühne den heutigen Erfahrungen des Zuschauers bzw. der Figuren, d. h. der von Künstler*innen, nicht mehr entspricht, so bleibt dennoch ein hohes Identifikationspotential durch ›Gefühl‹ vorhanden: »Vollends heute, wo Künstlersozialversicherung und ein dichtes Netz von Stipendien, Preisen und Förderhilfen unsere Rodolfos und Schaunards durch ihr Künstlerleben tragen und unser Kunstmarkt auch die schwächeren Bilder unserer Marcellos schluckt: Heute tendiert der Realitätsgehalt der ›Bohème‹ gegen null und damit auch ihre historische Erkenntnisfunktion. Was bleibt, ist die Wahrheit des Gefühls, die ihren Ort in einer eigenen Welt hat, aus der sie nicht heraustransponierbar ist: in einem eigentümlichen Medium, das sich aus Melos, Orchestertimbre und Identifikationsangeboten zusammensetzt, und uns, sei es auch nur für eine Phrase, ein paar Takte lang, zu Tränen rührt. Intellektuelle wie Heinrich Mann haben das gewusst und beschrieben, und auch das breite Publikum will seit fast 100 Jahren nichts lieber als seine Mimi leben und sterben hören.«261 Wenn hier also von der ›Wahrheit des Gefühls‹ gesprochen wird und das Bedürfnis nach diesem ›Gefühl‹ mit Rekurs auf Intellektuelle, beispielhaft dafür Heinrich Mann, verknüpft wird, so wird das Bestreben nach Intellektualisierung des Gefühls besonders deutlich. Im Gegensatz dazu nehmen die Kritiker*innen in Bezug auf die durch La Bohème ausgelösten Emotionen häufig eine Verteidigungshaltung ein, um zwischen nicht favorisiertem Kitsch und akzeptiertem Gefühl zu differenzieren, wobei bisweilen auch anerkannt wird, dass der »Hang zum Kitsch […] der ›Bohème‹ natürlich kaum auszutreiben ist«262 . So stellt auch ein anderer Rezensent fest: »Daneben gelingen schöne, zeitweilig haarscharf am Kitsch vorbeidriftende Bilder.«263 Diese Beispiele geben Aufschluss darüber, dass für die meisten Kritiker*innen die Differenz eindeutig zu Gunsten des Gefühls ausfällt: »Schmelz statt Schmalz lautet die Devise. Gefühl ja, Sentimentalität nein.«264 Denn »Puccinis Oper ›La Bohème‹ ist keine rührselige Schmonzette, sondern – Partitur wie Libretto – ein Werk des Verismo unbedingter Gefühle, ein Meisterwerk.«265 So ist auch besonders hervorzuheben, dass etwa ein Dirigent das Orchester »durchweg frisch und agil musizie-

261 Martin Ebel: Mimi stirbt, und ihr Sopran leuchtet, Badische Zeitung, 19.12.1992. 262 Schulte im Walde, Chr.: Bittersüßes Weihnachtsmärchen. Von Münster nach Aachen: Ewa Teilmans inszeniert eine rührende »La Bohème«, Westfälische Nachrichten, 06.11.2006. 263 Jürgen Rickert: Ein Hauch von Aufklärung, Landeszeitung für die Lüneburger Heide, 01.07.1989. 264 Hanns-Horst Bauer: An der Rampe stehen und schön singen, Südwestpresse Ulm, 02.04.1994. 265 Wolfgang Schreiber: Der Himmel über Paris, in: Süddeutsche Zeitung München, 27.12.1996.

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ren [ließ, alle] Sentimentalitäten und Süße [vermied und stattdessen] vielmehr auf schlackenlose Klarheit, klangliche Transparenz und Beweglichkeit«266 setzte. Dass das ›Gefühl‹ kein alleiniges Merkmal von historischen Opern ist, zeigt das folgende Zitat, in dem die Ergriffenheit von Besucher*innen des Starlight Express umschrieben wird: »Gänsehaut und Tränen in den Augen bei allen Schülerinnen und Schülern. Wer vermag das nach zehn Jahren Laufzeit bei allabendlich vollem Haus? Der unendliche Sternenhimmel des Starlight Express verzauberte 31 Schüler […] und deren Eltern.«267 Aber auch die Oper Das Mädchen mit den Schwefelhölzern spielt mit Emotionen. So berichtet ein Rezensent über die Absicht Lachenmanns im Zusammenhang mit seiner Oper, »daß, was von Herzen komme, trotz aller Sprachlosigkeit auch wieder zu Herzen gehe«268 – bildlicher kann man die Absicht des Rührens durch den Komponisten nicht darstellen.

2.4 Unterhaltung I – »eine leichte Kost, perfekt serviert« »Sie werden bestimmt Spaß haben.«269 – Unterhaltung bedeutet vergnüglichen Zeitvertreib. Intellektueller Anspruch und tiefgründige Gedanken sind bei Amüsement nicht vorgesehen.270 Die Unterteilung in U-Musik und E-Musik und damit der große Graben zwischen dem Genre der ernsten Oper und den heiteren Genres Operette und Musical hält sich hartnäckig im Wissensvorrat. Die Erwartungshaltung, dass ›Unterhaltung‹ im Zusammenhang mit Operette und Musical als Bezugssystem für eine gelungene Aufführung herangezogen wird, ist durch die zementierte funktionale Trennung der Gattungen im Allgemeinen auch aus den Kritiken herauszulesen. So ist in einer Kritik beispielsweise in aller Deutlichkeit zu lesen: »Ein weiteres Plus ist das Tempo. Ihm alleine ist es zu verdanken, daß die von Grund auf dummen Dialoge nicht zuviel Gewicht erlangen. Denn alleiniger Sinn und Zweck der Bühnenshow ist die Unterhaltung. Kein Anspruch bitte […].«271 Während in den vergangenen Jahrzehnten immer aus dem Gegenstand der Musik argumentiert wurde, ergibt eine solche Unterteilung von U- und E-Musik überhaupt nur dann Sinn, wenn die Wirkung oder der Zweck, also das Rezeptionsziel des Rezipienten für eine solche Klassifizierung ausschlaggebend gemacht würde. Ob es sich bei einer Aufführung um unterhaltende oder ernste Stunden handelt, sollte dem Rezipienten überlassen sein. In den Kritiken wird als Gegenstück

266 267 268 269 270 271

Rainer Köhl: Die Komödie eines Künstlerlebens, Badische Neueste Nachrichten, 25.09.1996. O. A.: Verzauberte Gesamtschüler, Andernacher Kurier u. a., 12.08.98 Sybill Mahlke: Die Großen in der Kinderstube, Der Tagesspiegel Berlin, 28.01.1997. Marlott Persijn-Vautz: Zum Fürchten gruselig!, Die Rheinpfalz Ludwigshafen, 07.03.1994. Siehe auch Wahrig. Deutsches Wörterbuch: Unterhaltung, Unterhaltungs-, Bertelsmann: Gütersloh, 2006, S. 1544. Heide Ossenberg: Harmlos turbulent, in: Coburger Tageblatt, 25.03.1995.

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von ›kulinarischer Unterhaltung‹ stets Kunst angeführt, was häufig gleichzeitig suggeriert, dass Kunst nicht unterhalten könne. Zahlreiche Kritiken ordnen die Funktion der Operette ohne Umschweife der Unterhaltung zu. Dabei wird diese Funktion häufig durch die Kritiker*innen in einer Selbstverständlichkeit präsentiert, die an die Legitimation der ersten Stufe Bergers und Luckmanns erinnert. Denn Zweifel an dieser Legitimationsstrategie klingen in solchen Fällen in diesen Kritiken nicht an: »Eine leichte Kost, perfekt serviert.«272 Bevor auf differenzierte Formen der Unterhaltung eingegangen wird, soll der Topos der Langeweile näher in den Blick genommen werden. Denn unterhaltsam ist Musiktheater dann, wenn es sich um »eine flotte Non-stop-Show ohne eine Spur Langeweile«273 handelt.

2.5 (Keine) Langeweile In den Kritiken changieren die Beurteilungen einerseits zwischen der Wahrnehmung einer Aufführung schlicht als langweilig, was sehr selten vorkommt, und der häufigen ex negativo-Betonung des ›Nicht-Langweiligen‹; subjektives Empfinden scheint für diese Art der Beurteilung ausschlaggebend zu sein. Andererseits findet die Auseinandersetzung mit dem Topos der Langeweile anhand verschiedener Parameter des Musiktheaters statt: Libretto, Musik, Regie, Dauer oder Gewöhnlichkeit stereotyper Aufführungen stehen dabei im Mittelpunkt und bezeichnen Aspekte oder Objekte, die Langeweile auslösen. Langeweile gilt gemeinhin als ein Symptom unserer heutigen Zeit: Für das späte 20. und das beginnende 21. Jahrhundert wird das Konzept der Langeweile häufig als Diagnoseinstrument für die steigende Unzufriedenheit der Gesellschaft angeführt, wobei gerade durch die zahlreichen Versuche, Langeweile zu vermeiden, diese wiederum potenziert werde, d. h. durch die Flucht vor Langeweile diese sich strudelartig selbst verstärke. Die Feststellung, dass das Phänomen der Langeweile – zumindest nach Maßgabe zahlreicher Studien – seit Ende des 20. Jahrhunderts angestiegen sei,274 ist aus der Motivation des Vermeidens von Langeweile oder des ›Gelangweilt-Werdens‹ heraus, dadurch sich aber doch selbst verstärkend, nachvollziehbar und mag auch mit dem Gewinn ›freier Zeit‹ durch die breite Technisierung des letzten Jahrhunderts zusammenhängen. Das pathologische Moment im Kontext von Langeweile – häufig wird wörtlich von Langeweile als ›Krankheit der Gegenwart‹ oder auch ›Gebrechen der Moderne‹

272 Manfred Merz: Auf dem Skateboard durch die Unterwelt, in: Frankfurter Neue Presse, 28.10.1993. 273 M.W. Dworzak: Sieg auf der ganzen Linie, Mittelbayrische Zeitung Regensburg, 17.12.1993. 274 Siehe bspw. Patricia Meyer Spacks: Boredom. The Literary History of a State of Mind, Chicago: The University of Chicago Press, 1995, S. 249ff.

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gesprochen – ist bereits ein Hinweis auf die negative Konnotation von Langeweile im gegenwärtigen gesellschaftlichen Kontext: »Mit der erwerbsbürgerlichen und industriellen Revolution haben Utilitarismus und Zeitökonomie ihre Herrschaft über die Menschen angetreten. Damit wird Langeweile geradezu unschicklich, da sie auf Nichtstun oder Nichts-RichtigesTun schließen läßt. So verkündet der Durchschnittsbürger voller Stolz bis heute: Für Langeweile habe ich gar keine Zeit!«275 Undifferenzierte Langeweile sei eine Krankheit der Moderne, Resultat einer permanent beschleunigten Lebensweise. Diese epidemische Form der Langeweile verortet Elizabeth Goodstein in Europa im 19. Jahrhundert.276 Die negative Auffassung von Langeweile spiegelt sich auch in den Musiktheaterkritiken, in denen Langeweile in der Regel entweder durch Zuschreibung als Attribut ›langweilig‹ negativ bewertet oder das negative Attribut zur positiven Beschreibung mit ›nicht langweilig‹ hervorgehoben wird. Vor diesem Hintergrund ließe sich schlicht argumentieren, dass Langeweile in den Kritiken verhandelt wird, weil sowohl Musiktheater als auch Langeweile Teil unserer gesellschaftlichen Gegenwart sind. Langeweile durchzieht schließlich alle Lebensbereiche und setzt sich folglich auch als Sediment in der Beschreibungssprache der Kritiken ab; die Kritiken stellen also lediglich ein Medium dar, aus dem sich Langeweile als gegenwärtiges, negativ konnotiertes kulturelles Phänomen oder als Pathologie herauslesen lässt – ohne zwangsläufig mit dem Musiktheater in Verbindung gebracht werden zu müssen. Das Phänomen der zu vermeidenden ›gefürchteten Langeweile‹277 lässt sich im Zusammenhang mit Musiktheaterkritiken über diese triviale, wenn auch zutreffende Beobachtung hinaus allerdings auch – wie Gerhard Schulze diagnostizierte – als ein spezifisches Symptom einer Erlebnisgesellschaft lesen, für die das Bedürfnis einer immer höheren Erlebnisdichte durch Unterhaltung charakteristisch ist. Je mehr Konkurrenzangebote der Unterhaltung vorhanden sind und je häufiger Unterhaltung in Anspruch genommen wird, desto stärker scheint auch die Notwendigkeit, auf den Unterhaltungswert hinzuweisen und die Beschreibung an die Bedürfnisse der Gesellschaft anzupassen: »Je weiter das Kumulationsprinzip auf die Spitze getrieben wird, desto mehr schlägt das Motiv der Sehnsucht nach dem Schönen in das Motiv der Vermeidung von Langeweile um.«278 Als alternatives Erklärungsmo-

275 Martin Doehlemann: Langeweile? Deutung eines verbreiteten Phänomens, Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag, 1991, S. 125. 276 Elizabeth Goodstein: Experience without Qualities: Boredom and Modernity, Stanford: University Press, 2005, S. 1ff. 277 Wolfgang Nölter: Diesmal gar nicht langweilig. Nach 103 Jahren neu inszeniert: ›Idomeneo‹ in Hamburg, Aachener Nachrichten, 17.01.1990. 278 Gerhard Schulze: Die Erlebnisgesellschaft. Kultursoziologie der Gegenwart, S. 543.

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dell ist also die Jagd nach Unterhaltung im Lebensbereich der Freizeit naheliegend, der neben dem Kino- und Konzertbesuch oder dem Besuch eines Fußballspiels eben auch Aufführungen des Musiktheaters umfasst – vorausgesetzt der Theaterbesuch fällt in den Bereich der Freizeit.279 Langeweile stellt im Kontext der Freizeitgestaltung durch (kulturelle) Events das Gegenstück zum Erlebnis und zur kurzweiligen Unterhaltung dar. Die Erwartung beispielsweise an eine Musiktheateraufführung ist schlicht und ergreifend Kurzweil und eben ›keine Langeweile‹. In den Kritiken fällt diese nachvollziehbare Erwartungshaltung auf, da sehr häufig von ›nicht langweilig‹, also dem Topos der Langeweile ex negativo, berichtet wird. Sofern ›Unterhaltung‹, wie im vorangehenden Kapitel erläutert wurde, im Dispositiv des Musiktheaters als Legitimationsstrategie erster Ebene verortet wird, kann durch den Mechanismus des Zeigens, wie etwas nicht ist, also durch Negation als diskursive Legitimationsstrategie der Geltungsanspruch des Musiktheaters verdeutlicht und verstetigt werden. Die ›Nicht-Langeweile‹ kann somit als Bekräftigung der Unterhaltung verstanden werden. Diese Lesart berücksichtigt die gehäufte Ansammlung von ›nicht langweilig‹ in den Kritiken, ohne den jeweiligen Kontext, in dem die einzelnen Aussagen stehen, genauer zu betrachten. Langeweile entfaltet sich innerhalb dieser Lesart vornehmlich als situatives Phänomen, jenseits tiefsinniger existenzieller Betrachtung, wie ›existenzielle Langeweile‹ etwa in der Tradition von Konzepten wie ›Acedia‹, ›Melancholie‹, ,Taedium vitae‹ und ›Ennui‹ verstanden wird,280 denn vielen »Menschen kommt ab und zu bloß die Zeit zu lang vor, sie verspüren Unlustgefühle in einer als leer empfundenen Zeitspanne, erhoffen sehnsuchtsvoll das Ende der langen Weile […].«281 Jenseits existenzieller Bedeutung – gemeinhin wird zwischen existenzieller und situativer Langeweile als den zwei unterschiedlichen großen Bedeutungssträngen differenziert282 – kann Langeweile also einfach situativ bedingt sein und bezieht sich in diesem Fall auf einen subjektiv wahrgenommenen zeitlich begrenzten und absehbaren Abschnitt, dessen Ende man herbeisehnt, da er als sinnlos und nicht lohnenswert oder als Zeitverschwendung empfunden wird. Langeweile äußert sich in diesem Zusammenhang als transitorisches Moment und manifestiert sich etwa durch »gelegentlich unbefriedigende Abende, […] Theateraufführungen, Konzerte«283 , oder Aufführungen des Musiktheaters. Zumindest deuten zahlreiche Kritiken ex negativo auf diese Art des verbreiteten Phänomens der Langeweile hin. Wer sich im Theater »langweilt, hofft auf das Ende einer negativ empfunde-

279 Theaterbesuche finden auch im Rahmen von Schulveranstaltungen statt. 280 Siehe bspw. die Einführung von Alfred Bellebaum: Langeweile, Überdruß und Lebenssinn. Eine geistesgeschichtliche und kultursoziologische Untersuchung, Westdeutscher Verlag, Opladen: 1990, hier insbesondere S. 67f. 281 Ebd., S. 67. 282 Siehe bspw. ebd. 283 Ebd., S. 10.

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nen leeren Zeit, in der zwar nicht nichts, aber doch nichts Ernsthaftes geschieht.«284 Damit lässt sich Langeweile im Theater gewissermaßen als »ein Zustand der Erlebnisarmut«285 beschreiben; aus wahrnehmungspsychologischer Perspektive der Zuschauer ist also die Langeweile im Parkett der trivialen bzw. nicht tiefsinnigen Langeweile zuzuordnen. Interessant ist, dass Alfred Bellebaum für die Beschreibung von situativer Langeweile als konkrete Beispiele auf Theateraufführungen und Konzerte zurückgreift. Denn dies deutet auf das verbreitete Klischee hin, das für Theater und Musik sowie für das Musiktheater und insbesondere die Form der Oper gilt: ›Opernaufführungen sind langweilig‹.286 Bevor dieses Klischee anhand der Äußerungen in den Kritiken genauer betrachtet wird, ist es sinnvoll und verständnisfördernd, gerade im Hinblick auf Bühnenvorstellungen, zwischen ›äußerlichen Elementen‹, als einer Situation, der man sich nicht entziehen kann, und ›inneren Elementen‹, das heißt dem Erleben der Situation zu unterscheiden, letzteres etwa mit einem Unbehagen und einem Gefühl der Ausweglosigkeit, das aus einer Zwangslage heraus entsteht.287 Es geht also sowohl um eine Situation, die langweilig ist, als auch um die Erkenntnis, dieser Situation nicht entkommen zu können. Im Zusammenhang mit Musiktheatervorstellungen, bzw. mit Theateraufführungen allgemein, ist es eine überlegenswerte Hypothese, dass gerade im Theater der Aspekt der Zwangslage den Topos der Langeweile bestimmt oder zumindest verstärkt, was – neben dem ohnehin virulenten Allgemeinplatz der ›Langeweile als Gebrechen der Moderne‹ – auch die gehäufte Bekräftigung der ›ex-negativo-Langeweile‹ als Legitimationsstrategie innerhalb der Kritiken erklären könnte. Die besondere Zwangslage im Theater entsteht durch rigide akzeptierte bzw. praktizierte Rezeptionscodes, wie etwa einem abgedunkelten Zuschauerraum und Stille. Denn das Verlassen des Saals ist meist nur unter Störung der anderen Zuschauer*innen möglich: Klappstühle machen es unmöglich, die Reihen zu passieren, ohne dass die sitzenden Personen für diejenige, welche den Saal aus Langeweile verlässt, aufstehen müssten. Im Zuge dieser physischen Störung der anderen Zuschauer ist ferner mit Sichteinschränkungen und Geräuschen zu rechnen. Deutlich wird diese beschriebene Zwangslage im Zusammenhang mit Langeweile beispielsweise durch einen verzweifelten Theaterbesucher oder eine verzweifelte Theaterbesucherin. Während einer Vorstellung sendet diese Person ein Hilfegesuch ins Forum der virtuellen Ratgeber-Community gutefrage.net, einer der

284 Ebd., S. 76. 285 Martin Doehlemann: Langeweile? Deutung eines verbreiteten Phänomens, Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag, 1991, S. 53. 286 O. A. (Hg.): »Besser als Sex«. Opernaufführungen sind verstaubt, langweilig, endlos – so lautet das Vorurteil. Falsch! Daniel Barenboim, Anna Netrebko, und fünf weitere Experten erklären eine Kunst mit Zukunft, KulturSPIEGEL, 7/2005, S. 14–17. 287 Siehe zur Differenzierung zwischen äußerlichen und innerlichen Elementen Bellebaum S. 70.

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nach eigenen Angaben größten Ratgeber-Communities bzw. Online-Plattformen im deutschsprachigen Raum, die sich dem Austausch von persönlichen Erfahrungen und Ratschlägen verschrieben hat: »Was tun gegen Langeweile im Theater? Ich bin grad im Theater und sterbe vor Langeweile hilfe [sic!]«. Neben einigen Vorschlägen, die unkommentiert bleiben, antwortet die Hilfe suchende Person auf den naheliegenden Rat eines anderen Nutzers »Geh’ nachhause« mit »Kann ich nicht«.288 Was die genaue Zwangslage in diesem konkreten Fall ausmachte, muss Spekulation bleiben, sie zeigt aber, dass äußere Umstände für die innerlich wahrgenommene Ohnmacht zur Langeweile führen. »Diesmal gar nicht langweilig«289 – Bereits durch die Überschrift zu einer Aufführung der Oper Idomeneo korrigiert der Kritiker ex negativo die allgemeine Auffassung, dass diese Oper langweilig sei. Besonders diesem Werk eile der Ruf der Langweiligkeit voraus, obwohl es sich um ein ›Geniestück‹ und ›Schlüsselwerk‹ in der Entwicklung Mozarts handele.290 »Das Großartige an der neuen Hamburger Produktion [des Idomeneo] ist, daß die gefürchtete Langeweile keine Chance hat.«291 Verantwortlich dafür seien Dirigent und Regisseur, die dem Stück samt stofflicher Vorlage durch ihre Interpretation Lebendigkeit verliehen und Schwere nähmen.292 Auch im Zusammenhang mit einer Aufführung von Orpheus und Eurydike folgen die lobenden Worte der Kritikerin an das künstlerische und technische Team einer vergleichbaren Argumentation: Durch die abwechslungsreiche Regieführung mit Witz sowie den Einsatz verschiedener technischer Effekte ließen sie »niemals ›tote Punkte‹, Langeweile aufkommen.«293 Es hat den Anschein, dass – zumindest für diese beiden Beispiele – Langeweile den Stücken durch das Libretto und auch durch die Musik gewissermaßen inhärent ist. Was hier als Spezifikum zweier Werke dargestellt wird, ist gemeinhin tradiertes Klischee über Oper.294 Darüber hinaus steht der Topos der Langeweile, ausgelöst durch die Wiederkehr des Gleichen, als problematisches Phänomen des Musiktheaters im Mittelpunkt einiger Kritiken und bezieht sich dabei insbesondere auf Stücke, die in hoher Frequenz aufgeführt werden: Beispielsweise wird eine besprochene Aufführung von

288 https://www.gutefrage.net/frage/was-tun-gegen-langeweile-im-theater, zuletzt aufgerufen am 13.02.2018. 289 Wolfgang Nölter: Diesmal gar nicht langweilig. Nach 103 Jahren neu inszeniert: ›Idomeneo‹ in Hamburg, Aachener Nachrichten, 17.01.1990. 290 Ebd. 291 Ebd. 292 Ebd. 293 Elisabeth Schrauzer: Vergnügliches aus Olymp und Hades, Reichenhaller Tagblatt, 11.04.1994. 294 O. A. (Hg.): »Besser als Sex«. Opernaufführungen sind verstaubt, langweilig, endlos – so lautet das Vorurteil. Falsch! Daniel Barenboim, Anna Netrebko, und fünf weitere Experten erklären eine Kunst mit Zukunft, KulturSPIEGEL, 7/2005, S. 14–17.

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La Bohème zum »Opernabend fern aller gelangweilten Routine«295 erklärt, wodurch suggeriert wird, dass ein Besuch dieser spezifischen Inszenierung lohnenswert sei, selbst wenn die Oper bekannt ist. Ähnlich äußert sich ein Stella-Mitarbeiter, der viele Musical-Shows bereits mehrfach gesehen habe: »langweilig wird das nie.«296 In diesem Kontext bezieht sich die Langeweile eindeutig nicht auf spezifische Aufführungen, sondern sie wirkt der allgemeinen Anschauung entgegen, Musiktheater sei insbesondere deswegen langweilig, weil es die Wiederholung des immer Gleichen sei. Langeweile kann in diesem Kontext also mit Überdruss in Verbindung gebracht werden.297 »Kein Augenblick der Langeweile schleicht sich ein«298 , oder auch: es »gibt keine langweilige Minute.«299 – Die Betonung der Langeweile ex negativo zieht sich als Topos durch die Musiktheaterkritiken. Interessant ist, dass gerade die NichtLangeweile in den Besprechungen als Qualitätskriterium hervorgehoben wird. Die einzelnen Beispiele verweisen über den konkreten Bezugsrahmen hinaus auf ein allgemein anerkanntes rezeptionsästhetisches Klischee bzw. auf ein im objektivierten Wissensvorrat verankertes charakteristisches Merkmal des Musiktheaters: die Langeweile. Im Theater betrifft sie das individuelle Zeitempfinden der Zuschauer in Bezug auf den Theaterbesuch, von dem man sich Kurzweil erhofft. Anstelle eines Erlebnisses, welches sich durch Abwechslung auszeichnet und das Gefühl für den Verlauf der Zeit im Gegensatz zur realen Zeit verkürzt, dehnt sich der subjektiv wahrgenommene Zeitraum im Auditorium. Das positive Bewertungsschema ›keine Langeweile‹ steht dem – wenn auch seltener herangezogenen – negativen Bewertungsschema ›langweilig‹ gegenüber. Ausschlaggebend dafür ist einerseits das Empfinden von Monotonie, die sich durch die Wiederholung bereits reproduzierter und mehrfach rezipierter »stereotyp-müder Klischeedarstellungen«300 manifestiert. »Über weite Strecken herrscht simple Langeweile.«301 – Langeweile tritt aber auch dann ein, wenn der Rezensent dem Geschehen auf der Bühne oder in der Musik nicht folgen kann, das heißt, wenn er die Aufführung nicht versteht. Verhältnismäßig selten steht bei einer solchen Kritik die ganze Aufführung zur Disposition:

295 Katharina von Glasenapp: Fern aller gelangweilten Routine, Aalener Volkszeitung, 22.02.1994. 296 Orhan Ertegl: O. T., in: start. 4/98, S. 56 [Starlight Express-Archiv Bochum]. 297 Siehe in diesem Zusammenhang Ausführungen von Doehelmann, der zu den erwähnten Bereichen der situativen und existentiellen Langeweile überdrüssige Langeweile und schöpferische Langeweile hinzufügt. – Martin Doehlemann: Langeweile? Deutung eines verbreiteten Phänomens, Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag, 1991, S. 23. 298 Ulrich Kelber: Pflanze wird blutrünstiges Monster, Mittelbayerische Zeitung, 15.01.1996. 299 Michael Seyfert: Ein Lobgesang auf die gute alte Dampflok-Zeit, Die Weltwoche Zürich, 05.04.1984. 300 Ulrike Koop: Die Pflanze des Grauens, Badische Neueste Nachrichten, 7.12.1996. 301 Wolfgang Nölter: Es rattert, raschelt, zischt und knallt, Mindener Tageblatt, 01.02.1997.

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»Es gelang der Inszenierung nicht, mit einem roten Faden durch das episodenhafte Textbuch zu führen. Die Regieeinfälle verwirrten, nach kurzer Zeit machte sich Langeweile breit.«302 Für Premierengäste der Oper Das Mädchen mit den Schwefelhölzern stellt der Rezensent fest, dass sie mit der Darbietung »wohl nichts anfangen«303 konnten. Er konstatiert: »Irritation auf der ganzen Linie über eine mehr oder minder absurde Anti-Oper von zweistündiger Langeweile, die zu einem unbehaglichen ›Störfall‹ ausuferte […] angesichts einer ›Botschaft‹, die kaum jemand enträtseln konnte.«304 Allerdings wird die empfundene Langeweile als situative Abwandlung des Nicht-Verstehens auch in dieser Rezension wieder etwas relativiert, indem der Rezensent – insgesamt zwar eher verhalten gegenüber dem Erfolg der Oper – dem komplizierten gedanklichen und musikalischen Konstrukt Lachenmanns »durchaus eine gewisse formale Faszination«305 zuspricht. Ein anderer Kritiker stellt in Bezug auf Lachenmanns Oper ebenfalls »Langeweile zwischen Knall und Gezisch«306 fest. Auch hier bezieht sich der Rezensent im Rahmen seiner negativen Kritik auf das mangelnde Verstehen der Musik Lachenmanns. Allerdings folgt der diagnostizierten Langeweile sodann ein Zugeständnis des ›großen Ausdrucks‹ mit ›hochexpressiven, musikähnlichen Architekturen‹307 als Kompensation. Es entsteht der Eindruck, dass der Rezensent sich in seinem negativen Urteil doch nicht festlegen will und statt dessen die diagnostizierte negativ konnotierte situative Langeweile in eine schöpferische Art der Langeweile umwidmet und den ›großen Ausdruck‹ als rezeptionsästhetischen Stimulus begreift.308 Es ist bemerkenswert, dass die Bedeutung der ›Langeweile‹ je nach Aussageabsicht platziert wird. Während auf der einen Seite der konstatierten Langeweile ein ästhetisches Momentum abgerungen wird, hat die Bekräftigung des ›Nicht-Langweiligen‹ in den Kritiken auf der anderen Seite teilweise den Anschein eines Werbeversprechens.309

302 B. Boronowsky: Mimi auf Gitterrost, Soester Anzeiger, 29.11.1995. 303 Matthias Frede: Schwieriger Fall von Anti-Oper, Mitteldeutsche Zeitung Halle und Saalkreis, 28.01.1997. 304 Ebd. 305 Ebd. 306 Wolfgang Nölter: Einfache Langeweile zwischen Knall und Gezisch, Badische Neueste Nachrichten, 28.01.1997. 307 Ebd. 308 Siehe Martin Doehlemann: Langeweile? Deutung eines verbreiteten Phänomens, Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag, 1991, S. 23, S. 53. – Zur schöpferischen Langeweile. 309 Patricia Meyer Spacks: Boredom. The Literary History of a State of Mind, Chicago: The University of Chicago Press, 1995, S. 251f.

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2.6 Unterhaltung II – intellektualisierte Unterhaltung Unterhaltung als ›vergnüglicher Zeitvertreib‹, wie zuvor beschrieben, wird in vielen Fällen durch eine komplementäre Argumentationsstruktur bzw. Beschreibung ergänzt bzw. aufgewertet. Spaß steht bei dieser Form der Unterhaltung nicht mehr ausschließlich im Vordergrund, sondern wird durch einen intellektuell motivierten Zusatz erweitert, der zur heiteren Unterhaltung im Widerspruch steht. Dem Tenor der Kritiken folgend, scheint der Mehrwert einer solchen Aufführung genau in dieser intellektuellen Erweiterung zu liegen: »Es erwies sich einmal mehr, daß dieses Operettenmetier auch heute noch Ausstrahlung besitzt, vorausgesetzt natürlich, man nähert sich mit der nötigen Ernsthaftigkeit.«310 Denn schließlich war »Jacques Offenbach […] ein Meister des musikalischen Zeittheaters. Was zwischen 1855 und 1870 während des zweiten Kaiserreiches in Paris passierte, beobachtete er durch den Zerrspiegel des Kultursatirikers; mit den Mitteln der Unterhaltung betrieb er Gesellschaftskritik.«311 Unterhaltung um der Unterhaltung willen erscheint in vielen Fällen zur Legitimation einer Aufführung oder eines Stücks nicht ausreichend. Die Csárdásfürstin wird »zum intelligenten Vergnügen«312 erhoben, ein Intendant setzt Orpheus und Eurydike aufs Programm um »intelligente Unterhaltung«313 zu wagen und ein Regisseur nimmt »vielschichtiges Operettentheater in Angriff.«314 In einer Kritik zu zwei Inszenierungen in Wiesbaden kommt die Rehabilitation der Unterhaltung deutlich zum Vorschein: »Weder Werner Schwabs ›Volksvernichtung‹ noch ›Der kleine Horrorladen‹ entlassen einen mit auch nur dem kleinsten Fünkchen Hoffnung. Und doch haben es die Wiesbadener fertiggebracht, daß man an beiden Abenden Tränen lachen kann. Sicher gäbe es die intellektuelle Möglichkeit, ihnen das zum Vorwurf zu machen. Aber ist es nicht die philosophischere, die humanere, die intelligentere Art, mit unserem alltäglichen Wahnsinn und mit dem alles durchwuchernden Bösen fertigzuwerden – Lachen? Tränen lachen?«315 Besonders auffällig ist in den diversen Kritiken zur Csárdásfürstin, dass je nach szenischer Umsetzung des Stücks auch die Beurteilung der Unterhaltung zwischen ›geistreichem‹ Vergnügen und ›zum Glück nur Unterhaltung und kein durchdachtes Konzept‹ changiert; rhetorisch stellt ein Kritiker etwa die Frage: »Zündet Emmerich

310 Hans Lehmann: Prächtiges Prachtstück, in: Ostthüringer Zeitung Gera, 19.01.1999. 311 Wolfgang Troyke: Orpheus in der Unterhaltungswelt, in: Bayerische Staatszeitung München, 15.03.1991. 312 Wolf-Dieter Peter: Esprit und Wehmut, in: Bayernkurier München, 09.01.1999. 313 Bernd Aulich: Ein wilder Höllenspuk mit Sex-Appeal, Recklinghäuser Zeitung, 14.10.1988. 314 Beate Kayser: Die Alten zeigen den Jungen, wie man atmet, TZ München, 22.12.1998. 315 Renate Leimsner: Der ganz alltägliche Wahnsinn, in: Main-Echo Aschaffenburg, 29.01.1993.

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Kálmáns Spätausgabe einer Operette […] immer noch? Kann sie dem ›legitimen Anspruch des Publikums auf gehaltvolle Unterhaltung‹ (Regisseur Manfred im ›Theaterblatt‹) […] entgegenkommen?«316 Und ein anderer Kritiker stellt fest: »Auf dieser Bühne herrscht das Operettenprinzip. […] Da sie nicht mehr sein will, als Bühnenspektakel ungarischer Art, schafft sie es, unterhaltsam zu sein […]. Das überschaubare Chaos zwischen Champagner und Tränen, in die Welt gesetzt, als diese gerade ihre Salonfähigkeit im ersten Weltkrieg beweist. Im Wiesbadener Programmheft wird diese Chaostheorie gründlich durchdacht, auf die Inszenierung hatte sie keinen Einfluß. Zum Glück, gibt es doch nichts Peinlicheres als eine hintersinnig angelegte Operette.«317 Besonders interessant ist auch die Strategie, das Musical für den gewöhnlich anspruchsvollen Theaterbesucher zu rehabilitieren; »superleichte, flotte Unterhaltung«318 kann nämlich »auch den Bürger amüsieren, der vom Theater, der einstmals moralischen Anstalt, eigentlich ›tiefere‹ Bedeutung erwartet, Bildung genießt und sich weiter bilden möchte. Das Musical konfrontiert ihn zumindest mit dem, was modern ist.«319 Und ein anderer Kritiker gibt zu bedenken: »Wenn der Spaß noch ein bißchen tiefsinniger wäre, hätte das Publikum sicher nichts einzuwenden.«320 Die amerikanische Musikjournalistin Anne Midgette schildert den Status zeitgenössischer Opernkompositionen in Deutschland als ›zweifelsohne florierend‹. Den Erfolg dieser Opern schreibt sie u. a. dem ›deutschen System‹ der Kulturförderung zu, auch wenn sie feststellt, dass finanzielle Engpässe die Intendanten kleiner Häuser bereits dazu bewegt haben, ›Unterhaltungstheater‹ in Form von Musicals in die Spielpläne aufzunehmen. Midgettes zentrale Beobachtung der zeitgenössischen deutschen Opernszene schlägt sich bereits im Titel ihres Anfang der 1990er Jahre erschienenen Artikels nieder: Deadly Earnest. On the Contemporary German Opera Scene, Entertainment is a Dirty Word. Unterhaltung, so stellt Midgette in Anlehnung an ein Zitat aus der Süddeutschen Zeitung fest, sei im Zusammenhang mit Kunst im deutschen Sprachraum pejorativ und somit auch innerhalb der Opernszene ein Schimpfwort.321 Die Angst zeitgenössischer Opernkomponisten, unterhaltsam zu sein, führe zu einem Misstrauen gegenüber klarer Emotionalität und einfachen Handlungen und stehe in enger Korrelation mit einem von 316

W.-E. von Lewinski: Ganz ohne Kálmán geht die Operetten-Chose nicht, Wiesbadener Tagblatt, 09.12.1996. 317 Stefan Schickhaus: Weltkugel, auffallend sinnlos, Main-Echo Aschaffenburg, 21.12.1996. 318 Antje Telgenbüscher: Mit Entsetzen Scherz treiben, in: Westfälisches Volksblatt Paderborn, 24.04.1995. 319 Ebd. 320 Otto Preu: Den Nerv getroffen, in: Thüringer Tageblatt Suhl, 12.09.1990. 321 Anne Midgette: Deadly Earnest. On the Contemporary German Opera Scene, in: Opera News/ The Metropolitan Opera Guild, New York: 1994, Juni, S. 40–42, hier S. 40.

III Legitimationsstrategien im Diskurs um das Musiktheater

vielen Komponisten verfolgten intellektuellen bzw. akademischen Kompositionsansatz.322 Diese Ablehnungshaltung auf Seiten der Opernkomponisten gegenüber ›unterhaltenden‹ Kompositionen sei für das ohnehin bereits belastete Verhältnis des Publikums zu moderner Kunst ein antagonistischer Impuls und trage genauso wenig zum selbstständigen Verständnis eines Werks bei wie der angebliche Glaube einiger Intendanten, ein Werk sei schlecht, wenn applaudiert würde.323 Auch wenn Midgette in ihrem Beitrag nicht explizit auf Legitimationsstrategien im zeitgenössischem Musiktheater eingeht, so geben ihre Ausführungen doch eindeutig Aufschluss darüber, dass die kategorische Ablehnung von ›Unterhaltung‹ als Topos im Diskurs der zeitgenössischen Musiktheaterszene existiert und auch in Relation zum Musical ein Bezugspunkt der Abgrenzung im Musiktheater bleibt. Die folgenden Beispiele zeigen die differenzierte Auseinandersetzung mit dem Gegensatzpaar ›seicht‹ – ›tiefgründig‹ auf: So gelang es beispielsweise dem Regisseur, »aus dem blühenden Unsinn der ›Csárdásfürstin‹ eine welkende Liebestragödie auch tieferen Sinnes zu filtern. Stets dann nämlich, wenn er das freche militante Verwirrspiel gleichsam anhält in berührenden, tragikomischen Momenten: wenn beispielsweise die Zigeunerseele des Feri Bacsi […] zum ›Jaj, mamam, ich kauf mir die Welt‹ von abgründiger Traurigkeit kündet. Oder wenn die vier Hauptakteure […] am düsteren Ende isoliert vor dem Graben hocken, zaghaft hoffend auf ›Tausend kleine Engel singen: Habt euch lieb!‹«324 In einer anderen Kritik wird dieser tiefere Sinn in plumpere Worte gefasst. Dort heißt es: »Mit einem Mal ist die Liebesgeschichte gar nicht so blöd.«325 Dass intellektuelle ›Arbeit‹ in Abgrenzung zur ›seichten‹ Unterhaltung ein Kriterium für Kunst ist, zeigt darüber hinaus das folgende Beispiel überaus deutlich, in dem der Kritiker beteuert, die Umsetzung des Regisseurs sei »ein in sich stimmiges Kunstwerk,

322 »The fear of being entertaining leads many composers to mistrust clear emotions and straightforward plot lines. […] The urge toward an intellectual rather than dramatic approach is also evident in works of the younger generation, even if their music is more expressive than academic.« – Ebd., S. 40f. 323 »The fact that most German composers don’t want to be ›entertaining‹ puts a particularly antagonistic spin on the already strained relationship between modern art and the twentieth-century public. […] Some German intendants believe that if the audience claps, the piece must be bad.« Ebd., S. 41. 324 Matthias Frede: Tingeltangel und Krieg, in: Mitteldeutsche Zeitung Halle und Saalkreis, 12.01.2000. 325 Roberto Becker: Volltreffer, in: Neues Deutschland, Berlin-Ost, 04.01.2000.

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das die Operette ernst nimmt und zu einem intellektuellen und musischen Erlebnis jenseits aller Klischee-Süßlichkeit macht«326 : »Mit wildem Schlagabtausch zwischen Buh- und Bravorufen ging am Stuttgarter Staatstheater die Premiere von Puccinis Dauerbrenner ›La Bohème‹ über die Bühne. Was könnte die aufgebrachten Gegner gestört haben? Daß endlich einmal keine Schnulze, sondern ein Stück knallharter Realismus vorgeführt wurde? Daß aus dem Orchester keine süßlichen Kitschmelodien à la Operettenwunschkonzert erklangen, sondern ungeschönte musikalische Kommentare zum menschlichen Drama auf der Bühne? Was der Regisseur […] hier geleistet hatte, war intelligentes und in seiner Wirkung aufrüttelndes Musiktheater […].«327 »Ganz gleich, ob Konwitschnys Inszenierung nun mit einem einzigen Totentanz steht oder fällt: In Zeiten, da sich das Musiktheater zunehmend seiner Wirkungskraft beraubt, indem es nur mehr kulinarisch sein will und süffig und schöner noch als schön, darf man für ein paar schlimme Bilder, die doch immer Theaterbilder bleiben und scheppernde Zirkustricks, durchaus dankbar sein – zumal wenn diese zeigen, dass die Zeit partout nicht alle Wunden heilt.«328

2.7 Intellekt/Anspruch/Komplexität »Dieser ›Idomeneo‹ ist packendes Musiktheater: Gezeigt werden nicht mythisch ferne Figuren, sondern sehr heutige, zerrissene Menschen.«329 Gewagte »intellektuelle Interpretationen«330 , die Beschreibung einer »intellektuell und farbig reich ausgestattete[n] Bühne«331 , die Feststellung, Orpheus in der Unterwelt sei »eines der geistreichsten Werke der Musikgeschichte«332 – unabhängig mit welcher Intention die Kritiker*innen sich eines solchen Vokabulars bedienen, sei es als Abgrenzungsmechanismus oder mit der Absicht einer Relevanzproduktion,

326 Joachim Lange: Wenn Regie-»Granaten« in die heile Operettenfassade einschlagen, in: Saarbrücker Zeitung, 08.01.2000. 327 Jörg Riedlbauer: Puccini mit schroffen Akzenten. »La Bohème« in der Neuinszenierung von Tom Cairns an der Stuttgarter Staatsoper, in: Straubinger Tagblatt, 27.11.1992. 328 Christine Lemke-Matwey: Ihr seid doch alle krank, Der Tagesspiegel Berlin, 07.01.2000. 329 Monika Beer: Zwischen Leben und Sterben wankende Figuren, in: Fränkischer Tag Bamberg, 23.05.1996. 330 Konrad Pohlmann: Schicksal der Bohème ist kein Wintermärchen, in: Westfalenpost Hagen, 20.12.1988. 331 Otto Preu: Den Nerv getroffen, in: Thüringer Tageblatt Suhl, 12.09.1990. 332 Anneliese Euler: Den Orkus hinab: Von Lust direkt zum Frust, in: Main-Echo Aschaffenburg, 04.05.1995.

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derlei Beschreibungen häufen sich in den Kritiken. Zumeist bleiben diese Verknüpfungen in ihrer Funktion dem Bestreben verhaftet, das spezifische Werk im Kanon der Kunst zu verorten, ohne indes besonders nachvollziehbar darzustellen, wie sich beispielsweise der ›Anspruch‹ oder das ›Intellektuelle‹ in der beschriebenen Aufführung oder im Werk äußert. Diese Beobachtung gilt für alle Kritiken gleichermaßen, wobei der Rekurs auf derlei Parameter besonders bei den Werken der Neuen Musik auffällt: »Nonos ›Intolleranza 1960‹ sowie seine azione scenica ›Al gran sole carico d’amore‹ (Mailand 1975) und die rebellisch ins Leise, magisch Wispernde zurückgenommene Hörtragödie ›Prometeo‹ (Venedig 1984) bezeichnen eine – selbstredend für Lachenmann die einzig gültige – Höhenlinie des intellektuellen und klangsinnlichen Anspruchs, wo Musiktheater nicht flinkes Entertainment, sondern durchaus noch ›moralische Anstalt‹ sein will. Katharsis nennt sich altmodisch sein Endzweck.«333 Und weiter schreibt ein anderer Rezensent über die Komplexität von Lachenmanns Oper: »Das gedankliche Konstrukt ist so kompliziert und unübersichtlich wie die mit riesigem Aufwand realisierte atonale Geräuschkulisse.«334 Wiederum eine andere Kritikerin betont: »Kompliziertheit spricht nicht gegen ein Kunstwerk.«335 Für das Musical Starlight Express sind Tiefgründigkeit, Komplexität und jeglicher intellektuelle Anspruch scheinbar nicht gefragt. »Für den dummen Tiefsinn sollen die anderen Musicals zuständig sein.«336 Tiefgang liegt nach Einschätzung des Kritikers in einem Bericht zum zehnten Jahr des Starlight Express nicht im Aufgabenbereich dieses Musicals, wobei durch die Einschätzung gleichzeitig deutlich wird, dass an einer grundsätzlichen Möglichkeit eines tatsächlichen Tiefsinns bei Musicals Zweifel besteht. In Bezug auf das Musical Der kleine Horrorladen wiederum stellen zahlreiche Kritiken jedoch auch auf den Tiefgang des Musicals ab.337 So lässt sich die zuvor zitierte grundsätzliche Absage an Tiefsinn für die Gattung des Musicals beispielsweise mit der Bemerkung kontrastieren: »Als bemerkenswert tiefgründige Persiflage auf Horrorfilme zog Mister Mushniks Blumenlädchen mit der menschenfressenden Phantasieblume Audrey II jetzt in Frankfurt ein.«338 Darüber hinaus wird die Sonderstellung des Musicals von Menken in Abgrenzung zu anderen 333 Heinz-Harald Löhlein: Erinnerung an einen Toten, Bremer Nachrichten, 15.01.1997. 334 Matthias Frede: Schwieriger Fall von Anti-Oper, in: Mitteldeutsche Zeitung Halle und Saalkreis, 28.01.1997. 335 Sybill Mahlke: Die Großen in der Kinderstube, in: Der Tagesspiegel Berlin, 28.01.1997. 336 Wolfram Goertz: Ein Brausen tief im Westen, in: Rheinische Post Düsseldorf, 14.08.1997. 337 Siehe bspw. Lars Wallerang: Im Schlund der Leidenschaft, in: Westdeutsche Zeitung Düsseldorfer Nachrichten, 19.02.1994. 338 Jutta W. Thomasius: Schreckenspflanze frisst sich durch, in: Frankfurter Neue Presse, 5.12.1994.

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Werken der Gattung hervorgehoben, denn es sei ein »Musical, das entgegen sonstiger Gepflogenheiten auch eine Aussage hat.«339

3. Aktualität Unter das Bezugssystem der Aktualität werden all jene Kategorien subsumiert, die spezifische Aspekte des Musiktheaters mit Schlagworten wie aktuelle Relevanz, Modernität, Postmodernität, Zeitgeist, gesellschaftliche Relevanz und deren zugehörigen Adjektive unmittelbar beschreiben. Dem Vorurteil bzw. Urteil der teils explizit herausgestellten Aura des Antiquierten und Anachronistischen soll durch »Heutigkeit«340 , also durch die Anbindung des Musiktheaters an aktuelle Fragen, widersprochen werden. Der Topos der Aktualität, um den sich unterschiedliche Legitimationsstrategien gruppieren, entfaltet sich in den Kritiken neben solch expliziten Hinweisen aber auch implizit: etwa besonders durch die Beurteilung der Inszenierungsleistung des Regisseurs bzw. der Regisseurin, durch assoziative Bezüge der Kritiker*innen zu tagespolitischen Themen oder durch eine den Werken zugeschriebene immanente Aktualität, auch in Form von ›Zeitlosigkeit‹, die aus rezeptionsästhetischer Perspektive – bisweilen auch angeregt durch die Arbeit des Regisseurs – sichtbar wird. Musiktheater wird als Raum identifiziert, in dem aktuelle Fragen durch künstlerische Mittel verhandelt werden: »Was Theater so faszinierend und spannend macht, das ist […] die Chance, akuten Fragen mit künstlerischer Hartnäckigkeit auf den Grund zu gehen, dem Zeitgeist ungestraft unter den Rock zu sehen, das ist die Genugtuung, daß hier im Reich der Musen auch die Unterdrückten zu Wort kommen, die Vergessenen, die Randgruppen. Und jetzt, gerade rechtzeitig zum versöhnlichen Weihnachtsfest, nimmt sich unser Theater in Ingolstadt mit Vehemenz und Engagement wieder einmal so einer Minderheit an.«341 Dieser Ausschnitt aus einer Kritik des Musicals Der kleine Horrorladen zeigt darüber hinaus, dass der Aktualitätsbezug gleichermaßen eine Auseinandersetzung mit gesellschaftskritischen Fragen bedeuten kann, hier explizit artikuliert durch den Blick auf ›unterdrückte Minderheiten‹. Bisweilen sind die Bezüge, die zwischen aktuellen Phänomenen und einer Aufführung bzw. einem Werk gezogen werden, recht

339 Juliane Sattler: Wuchernd wie das Musical-Genre, in: HNA, Hessisch/Nieders. Allgemeine Kassel, 22.12.1994. 340 Alfred Kirchner im Interview mit Stefan Schickhaus: Kleine Glücksmomente in der Katastrophe, in: Frankfurter Rundschau, 17.01.1998. 341 Michael Schmatloch: Horror auf allen Ebenen. Das Musical ,Der kleine Horrorladen‘ in Ingolstadt, in: Donau-Kurier, 17.12.1991.

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plump, was aber gerade die Funktion eines solchen Ausspruchs leicht mit dem im folgenden Beispiel zu exemplifizierenden Geltungsanspruch der Operette in Verbindung bringen lässt. So schreibt ein Rezensent: »›Schauen S’ doch den König Carl Gustav von Schweden an. Der hat doch eine Silvia Sommerlath zu einer Königin gemacht.‹ Die Operette lebt.«342 Im rezensierten Stück heiratet eine Bürgerliche einen Adligen, an diesem Moment und womöglich auch klanglich-assoziativ am Vornamen der Hauptfigur Sylva wird deutlich gemacht, dass das Thema dieser Operette, aber auch alle anderen Werke dieser Gattung, immer noch aktuell ist bzw. sind – zumindest scheint diese Überlegung wegen des allgemeingültigen Ausspruchs ›Die Operette lebt‹ recht plausibel. Unter das diskursive Bezugssystem der Legitimation, das in diesem Kapitel mit ›Aktualität‹ beschrieben wird, sollen all jene Legitimationsstrategien subsumiert werden, die Musiktheater mit Diskursen verknüpfen, die zur gegebenen Zeit der Aufführung bedeutsam sind und durch diese Eigenschaft den Geltungsanspruch des Musiktheaters herausstellen.

3.1 ›Eine irgendwie zeitlose Moderne‹ Das ›Zeitlose‹ als Form von anhaltender Aktualität und Bedeutung oszilliert in den Kritiken häufig um die sogenannte ›Botschaft‹ des besprochenen Stücks, insbesondere um die ›Botschaft‹ historischer Werke. Wesentliches Moment dieses Narrativs ist der Verweis auf die anhaltende Bedeutung von Themen, die bereits zur Entstehungszeit der Oper für die Zeitgenossen relevant gewesen seien und weiterhin auch für die Gegenwart Bedeutung transportierten: »Offenbachs erstes Meisterwerk war und ist ein genialer Treffer auf die Breitseite der menschlichen Schwächen.«343 Oder auch: »Da braucht es wahrlich nicht mehr an Aktualisierung, denn solche Menschen, die sich nicht anpassen können oder wollen, begegnen uns doch auf Schritt und Tritt«344 . Allgemeine Themen werden dabei entweder von der genauen Handlung des Werks abstrahiert und auf das heutige Zeitgeschehen bezogen, oder sind ohnehin auf Zeitlosigkeit ausgelegt. Einer Kritik zu Puccinis La Bohème ist etwa zu entnehmen: »Puccini ist bis heute aktuell: Sich der Gesellschaft zu verweigern und in eine selbstgeschaffene Parallelwelt zurückzuziehen statt erwachsen zu werden und Verantwortung übernehmen [sic!], sind Themen, die noch immer bewegen.«345 Die Liebesgeschichte zwischen dem in einer KünstlerWG lebenden Rodolfo und der todkranken Stickerin Mimi wird zur Folie, auf der

342 Helmuth Altinger: Die Csardasfürstin [sic!] hält in München Hof, in: Abendzeitung München, 28.06.1997. 343 Manfred Merz: Auf dem Skateboard durch die Unterwelt, in: Frankfurter Neue Presse, 28.10.1993. 344 Simon Neubauer: Bittere Erkenntnisse der Aussteiger, in: Bremer Nachrichten, 8.4.2002. 345 Jörg Zimmermann: Schöner Schein statt Risiko, ohne Angabe, Cottbus.

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allgemeine Themen wie ›Verantwortung‹ und ›die Gesellschaft‹ verhandelt werden. Regisseure »wenden die Szenen ins Allgemeine«346 , decken »Parallelen zur heutigen Gesellschaft auf«347 und zeigen dadurch die anhaltende und somit zeitlose Relevanz des Musiktheaters. »Seit der Uraufführung 1858 [der Operette Orpheus in der Unterwelt] scheinen sich die Menschen kaum geändert zu haben«348 , stellt eine Kritikerin etwa fest. Und auch ein anderer Kritiker beschreibt den zeitlosen Charakter dieser Operette, indem er feststellt: Der Regisseur »vermied Banalitäten, Albernheiten und Klamauk. Vor allem aktualisierte er nicht, sondern persiflierte die Prototypen des Menschlichen, die einfach zeitlos bleiben.«349 Es sind die großen Narrative, die den Menschen augenscheinlich immer noch beschäftigen. »Diese von Illusionen, Sentiment und Wehmut durchzogene Tragik des Stücks hat nichts von seiner Wirkung verloren […].«350 Im folgenden Beispiel überträgt der Kritiker sogar die Handlung der Oper La Bohème in eine zeitgemäße Sprache und vergleicht die Figuren des Librettos mit Prototypen einer sogenannten Bohème der heutigen Zeit. Die konstatierte Zeitlosigkeit wird durch die Übertragbarkeit der Schicksale der Figuren in der Oper und die Übersetzung des Begriffs ›Bohème‹ in aktuelle Umschreibungen der Jugendkultur ausgedrückt: »Eigentlich ist das Leben der Bohème, wir wollen sie heute vorsichtshalber Studis, dot.com.kids, Teilzeit-DJs, Jung-Autoren und Off-Performer nennen, ziemlich zeitlos. Statt im kalten Ofen, wird, ist der Strom erst abgestellt, so manches Drama im wärmenden Kochtopf verbrannt. Ältere Liebhaber waren auch in der Luderliga nie aus der Mode, in so manchen Lebensabschnittspartner verliebt man sich in Arienschnelle, und an der Zollschranke vorbei schleppen eben jetzt Asylanten ihre Sixpack-Paletten als ambulante Händler in die Pariser Fußgängerzone. Puccini ist also so peppig wie nie. Regisseure reißen sich um ›La Bohème‹, weil hinter fälschlich viel Sentiment nach wie vor – für Oper – ziemlich viel wahres Leben lauert.«351 In einer anderen Kritik bemüht die Kritikerin ebenfalls den Topos der heutigen Jugend- bzw. Lifestylekultur und bedauert die Verwendung anachronistischer Kostüme »der vorletzten Jahrhundertwende – wo doch die Figuren so wunderbar gegen-

346 Rudolf Jöckle: Die Gefühle lodern wie ein Höllenfeuer, in: Frankfurter Neue Presse, 19.01.1998. 347 O. A: Die Bohémiens von heute, in: Märkische Oderzeitung, 06.11.2006. 348 Hiltrud Leingang: Dagegen kämpfen selbst Götter vergebens, in: Fränkische Nachrichten Tauberbischofsheim, 02.11.1994. 349 Andreas Popp: Leicht angestaubt, in: Fränkische Landeszeitung Ansbacher Tagblatt, 5.10.1993. 350 Renate Klink: Überlebenskünstler unter den lausigen Dächern von Paris, in: Hildesheimer Allgemeine Zeitung, 15.09.1992. 351 Manuel Brug: Voll das Pariser Leben, in: Die Welt Hamburg, 16.12.2002.

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wärtig aufgefasst sind. Die im Programmheft nachlesbaren Texte, die Konzeption und die kleinen Zitate aus der Lifestyle-TV-Sendung ›Polylux‹ bestätigen es.«352 Eine vergleichbare Verallgemeinerung und Betonung beständig relevanter Themen wird auch durch die folgende Beschreibung einer Regiearbeit deutlich. So verzichtete ein Regisseur beispielsweise im Zusammenhang mit seiner Inszenierung von Mozarts Idomeneo »auf eine oberflächliche Aktualisierung der barocken Geschichte. Er ging das Stück von innen an und erzählte einfach vom Vater-SohnKonflikt, von der Liebe zwischen Ilia und dem Königssohn Idamantes, von der Eifersucht Elektras.«353 Überlebenssorgen, Liebeskümmernisse, Eifersuchtsdramen und zwischenmenschliche Konflikte werden also »schlicht und zeitlos gültig erzählt […].«354 Darüber hinaus werden auch inhaltliche Bezüge hergestellt, um die konkrete Aktualität des Werks zu begründen, in folgendem Fall die Aktualität der Operette Die Csárdásfürstin. In der Kritik heißt es: »Die Komödie um Standesdünkel […] spielt zwar vor fast 100 Jahren, aber wenn man an die Eskapaden der derzeitigen gekrönten Häupter denkt, ist ›Die Csárdásfürstin‹ fast schon ein wenig ›zahm‹, in jedem Falle aber hoch aktuell.«355 Der Bezugspunkt für Aktualität ist in diesem Fall vereinfacht gesprochen der Adel und seine Lebensweise. Auf wen sich dieser Bezug konkret richtet, ist zweitrangig, interessant ist jedenfalls das recht plakative In-Beziehung-Setzen der adeligen Figuren in der Operette mit aktuellen Adelsfamilien. Es scheint ein Merkmal für die Zeitlosigkeit der Werke des Musiktheaters zu sein, dass in vielen ausgewählten Inszenierungen kein expliziter Aktualitätsbezug auszumachen ist, das besprochene Werk als unvergänglich eingestuft wird und der Aktualitätsbezug diffus bleibt. So ist beispielsweise in einer Kritik zu Puccinis Oper zu lesen: »›La Bohème‹ bildet ebenso eine Legende der Liebe nach wie ›Tristan und Isolde‹ oder ›Carmen‹. Legenden aber ist Ewigkeit, nicht Jugendlichkeit eingeboren.«356 Zudem wird für die Beschreibung der Aufführungen in den Kritiken auch häufig explizit von Zeitlosigkeit im Zusammenhang mit Ausstattung und Bühnenbild gesprochen. In einer Kritik zu La Bohème beispielsweise heißt es: »Angesiedelt haben die Regisseurin und ihre Ausstatter […] das Stück in einer zeitlosen Gegenwärtigkeit irgendwo zwischen den 20er und 50er Jahren.«357 Gerade die Ausstattung, das heißt Kostüm und Bühnenbild, spielt für die Unbestimmtheit der zeitlichen Zuordnung eines Stücks eine besondere Rolle. »Frostige, abstrakte, weiß352 Irene Constantin: Mimi und die fröhlichen Gesellen, in: Lausitzer Rundschau, 07.11.2006. 353 Wolfgang Nölter: Diesmal gar nicht langweilig. Nach 103 Jahren neu inszeniert: »Idomeneo« in Hamburg, in: Aachener Nachrichten, 17.01.1990. 354 Peter Buske: Zum Heulen schön, Märkische Oderzeitung, 19.12.2001. 355 Katrin Hilger: Teufelsweib lässt bitten, in: Münchner Merkur, 28.06.1997. 356 Klaus Geitel: Wie eine Legende der Liebe im Heizungskeller endet, in: Die Welt, 27.12.1988. 357 Nikolaus Schmidt: Wie aus dem Bilderbuch, in: Badische Neueste Nachrichten Karlsruhe, 13.10.1997.

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graue Räume […] erheben den Anspruch von Zeitlosigkeit.«358 Oder auch: »Die Inszenierung rückt das Geschehen vorsichtig in eine irgendwie zeitlose Moderne.«359 Und in einer anderen Kritik ist zu lesen: »Dazu präsentieren sich die Kostüme in einem zeitlos modernen, anzug-ähnlichen Stil, der seine Symbolik durch jeweils aktweise sich ändernde gletschergrüne, weihnachtsrote, herbstgoldene und winterweiße Farbigkeit erhält – Hinweise sowohl auf Jahreszeiten wie innere Befindlichkeiten.«360 Die Dichte, in der Begriffe der Gegenwärtigkeit und Zeitlosigkeit und diverse Komposita des Begriffs Moderne im Korpus vorhanden sind, lässt keinen Zweifel daran, dass der Topos der Aktualität eine diskursive Strategie der Legitimation des Musiktheaters darstellt. Durch einige der bereits zitierten Ausschnitte wird deutlich, dass der Art und Weise der Inszenierung eines Werks hinsichtlich möglicher zeitlicher Bezüge eine besondere Rolle zugesprochen wird. Die Regie ist dabei verantwortlich, sich im Geflecht möglicher Auslegungen eines Werks zu positionieren und die Bedeutung historischer Werke für die Gegenwart herauszustellen. Der Rolle des Regisseurs wird im folgenden Abschnitt ausführlich nachgegangen.

3.2 ›Sichtbar machen‹ und ›Aktualisieren‹ »Aktualisierung besagt, dass ein explizit Gegenwärtiges auf ein historisches Datum bezogen wird, wodurch die jeweilige Gegenwart aus der angespielten Geschichte begründet erscheint.«361 Wie bereits durch einige Zitate im vorangehenden Abschnitt angedeutet, stehen allgemeine Aussagen zur Aktualität eines Werks häufig im Zusammenhang mit dem Regisseur und seinem künstlerischen Team bzw. mit dem umgesetzten Regie- und Inszenierungskonzept.362 Das künstlerische Team habe et358 Elisabeth Elling: Die Romantik auf Eis, in: Soester Anzeiger, 19.04.1994. 359 Sebastian Loskant: Herzergreifende Superstars, in: Niederelbe Zeitung Otterndorf, 27.12.2004. 360 Ekkehard Ochs: Soziale Schärfe im Gleichnis von Leben, Liebe und Tod, in: Ostsee-Zeitung Hansestadt Rostock, 22.02.1993. 361 Guido Hiß: Theater, Mythen, Medien. Ein Versuch, München: epodium Verlag, 2013 [= Aesthetica Theatralia, Band 9, hg. von Guido Hiß und Monika Woitas], S. 137. 362 Im Zusammenhang mit dem Topos der Aktualität sind Bezüge zur Musik in den Kritiken nahezu nicht existent (mit Ausnahme der Zeitlosigkeit der Musik), was wegen der rigiden Aufführungspraxis klassischer Musik nicht verwundert. Der Grad der künstlerischen Interpretationsfreiheit ist – sicherlich begünstigt durch Regisseure des sogenannten Regietheaters – bei der szenischen Umsetzung weitaus größer als bei der musikalischen Interpretation, die durch den in der Partitur fixierten Notentext keine so hohe Variabilität aufweist. Darüber hinaus ist gerade die musikalische Interpretation habituell dermaßen stark kanonisiert, dass allenfalls einzelne Arien gestrichen werden. Offensichtlich sind Eingriffe in den Notentext

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wa »das Versagen allgemein und das des Künstlers im Besonderen aufgegriffen und damit einen sehr heutigen Bezug gefunden, der sich überwiegend übers Bühnenbild und die Kostüme artikuliert.«363 Und ein anderer Regisseur befrage den Stoff »neu, nach seiner zeitübergreifenden Bedeutung«364 . Die Arbeit des Regisseurs liege also darin, das ohnehin schon aktuelle Thema des Werks herauszuarbeiten, aufzudecken und sichtbar zu machen: »Es ist erstaunlich, wie treffend es dem Regisseur Wolfgang Lachnitt gelang, in seiner Bühneneinrichtung der Opéra bouffe Jacques Offenbachs ›Orpheus in der Unterwelt‹ die Aktualität ohne Holzhammer herauszuarbeiten. […] Bei der Premiere im Stadttheater Würzburg ergaben sich zahllose Parallelen zur Gegenwart, die sich den Besuchern ohne weiteres erschlossen, Gelächter, Beifall und vielleicht auch verständnisvolles Schmunzeln hervorriefen.«365 Interessant ist bei diesem Beispiel insbesondere der metaphorische Verweis auf die Inszenierung, in der die ›Aktualität ohne Holzhammer herausgearbeitet‹ werde. Der Rekurs auf den Holzhammer als Redensart für grobe Arbeitsmethoden bezieht sich wahrscheinlich auf sogenannte plakative bzw. vordergründige Aktualisierungen durch Regisseure, die in den Kritiken immer wieder erwähnt werden.366 In der Regel werden vermeintlich oberflächliche andernorts umgesetzte Regieeinfälle jedoch nur erwähnt, um die tatsächlich begutachtete Regiearbeit durch ebensolche negative Gegenbeispiele in ein gutes Licht zu rücken. So bewertet eine Kritikerin eine Inszenierung nämlich gerade deswegen positiv, weil sie »ohne Schnickschnack, ohne irgendwelche verkrampften Adaptionen an das Heute«367 auskommt. Eine

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nicht erwünscht – ein Hinweis auf die weiterhin der Genieästhetik verpflichtete Einordnung ›großer Komponisten‹. Und Ende der 1980er Jahre wird in einer Kritik bei der Mozart-Interpretation Harnoncourts darauf hingewiesen, dass die Musiker ›nicht mal Darmsaiten‹ aufspannen müssen. Adorno bemerkte dazu: »Da nun an der Musik selbst nicht viel sich ändern läßt – nur mit sogenannten klassischen Operetten hat man das gewagt, und die Versuche, sie auf Hochglanz zu polieren, haben sich allesamt selbst gerichtet und nur für die Kulturindustrie gelohnt – so verfällt man fast notwendig auf die Mise en scène.« – Theodor W. Adorno: Fragen des gegenwärtigen Operntheaters, in: Neue Deutsche Hefte III, S. 526–535, hier S. 534. – Im Gegensatz dazu wurden beim Musical Starlight Express über die Aufführungsdauer nicht nur die Kostüme verändert, sondern auch einzelne Musiknummern abgeändert oder neu komponiert. Sylvia Obst: Liebe, Tod und Leidenschaft, in: Ostthüringer Zeitung Gera, 05.11.2001. Jürgen Otten: Köpfe ab, in: Rheinische Post, 17.03.2003. Hiltrud Leingang: Dagegen kämpfen selbst Götter vergebens, in: Fränkische Nachrichten Tauberbischofsheim, 02.11.1994. Siehe bspw. Rolf Lieberum: Ein antikes Seelendrama, in: Braunschweiger Zeitung, 30.06.1989. Susanne Geyer: Mimi und Rodolfo lieben und leiden in inniger Harmonie, in: Main-Post Würzburg, 28.09.1992.

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ähnliche Einschätzung lässt sich auch bei einer anderen Aufführung vernehmen, bei der laut Kritiker »krampfhafte Aktualisierungen vermieden«368 werden. Und an anderer Stelle heißt es: »Das Stück krampfhaft modernisieren zu wollen, wäre also fatal.«369 Was eine solche Aktualisierung bedeuten könnte, geht aus einigen anderen Kritiken hervor. An einer Stelle werden etwa ›Leuchtstoffröhren‹ und ›Turnhallenflair‹ zur Illustration genannt.370 »Bei heutigen Regisseur-Gebräuchen muß man sich durchaus darauf gefaßt machen, dass Puccinis Bohémiens als Besatzungsmitglieder des Raumschiffs ›Enterpreis‹ [sic!] oder als 2CV-motorisierte Alternativburschen vom Jahrgang ’68 auftreten.«371 Und kritisch äußert sich auch ein Rezensent über die ›halbherzigen Aktualisierungen‹372 des Regisseurs: »Eine grundsätzliche aktualisierende Umdeutung der Handlung findet nicht statt. Dafür weisen unzählige Kleinigkeiten in Text und Ausstattung unablässig und geradezu aufdringlich darauf hin, daß man sich mittlerweile im 20. Jahrhundert befindet – und auch wieder nicht: So existieren in Plutos Boudoir Grammophon und CD-Player zwanglos nebeneinander. Zwar gibt es da auch ganz witzige Einfälle, doch wirken diese ›modernen‹ Einsprengsel zumeist recht gezwungen und schlichtweg überflüssig. Und wenn dann – im ›Arkadien‹ Couplet – gar die Schlagzeilen der letzten Tage durchgequält werden, wird nur eine peinliche Kabarettnummer daraus.«373 Aus einer anderen Kritik geht deutlich hervor, dass es bei der Aktualisierung eines Werks um ›erhellende neue Dimensionen‹ und nicht um ›postmodernen Schnickschnack‹ gehen sollte: »Diese Einstudierung bleibt der Offenbach-Nostalgie verhaftet, aber sie reißt keine erhellenden neuen Dimensionen des Werkes auf. Statt dessen vermengt sie plüschige Can-Can-Erotik mit postmodernem Schnickschnack.«374 Derlei Beobachtungen sind auch deswegen interessant und bemerkenswert, weil ›Aktualisierung‹ nur dann negativ konnotiert wird, wenn der Regisseur in der besprochenen Inszenierung laut Kritiker*in entweder auf aktuelle Bezüge verzichtet oder diese zu plakativ ausfallen. Die, wie aus dem Korpus hervorgeht, weit verbreitete Praktik, Musiktheaterwerke mit aktuellen Themen zu verknüpfen, ist für den letzteren Fall nämlich kein Qualitätskriterium. Ganz 368 Georg-Friedrich Kühn: Champagner-Buffet, in: Frankfurter Rundschau, 04.01.1993. 369 Michael Dellith: So ganz und gar ohne Weiber geht die Chose eben doch nicht. Die Alte Oper Frankfurt feiert ihr »Jahresfinale« mit der »Csárdásfürstin«, in: Frankfurter Neue Presse, 27.12.1997. 370 Sylvia Obst: Liebe, Tod und Leidenschaft, in: Ostthüringer Zeitung Gera, 05.11.2001. 371 Rudolf Sewald: Opernereignis mit Glanz: ,La Bohème‘, in: Trostberger Tagblatt, 18.10.1989. 372 Andreas Popp: Leicht angestaubt. Offenbachs Operette mit halbherzigen Aktualisierungen, in: Fränkische Landeszeitung, Ansbacher Tagblatt, 5.10.1993. 373 Ebd. 374 Bernd Aulich: Ein wilder Höllenspuk mit Sex-Appeal, in: Recklinghäuser Zeitung, 14.10.1988.

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im Gegenteil wird positiv hervorgehoben, dass der Regisseur der Versuchung zu aktualisieren widersteht und sich stattdessen beispielsweise auf psychologische Aspekte der Handlung konzentriert: Der Regisseur »hat nicht gewagt und doch gewonnen: Keine spektakuläre, sondern solide Regiearbeit, die jeglicher Aktualisierung konsequent widersteht. Der Regisseur bleibt im 19. Jahrhundert, hält sich an den vorgegebenen Verismus.«375 Als Mechanismus kann diese Form der Legitimationsstrategie als Negation bezeichnet werden. In der Beschreibung einer Inszenierung ist meist explizit von ›Aktualisierung‹ die Rede, das heißt, dass der Regisseur die historische Werkvorlage durch die Herstellung von Bezügen zur Gegenwart deutet und so durch seine Inszenierung Parallelen zum aktuellen Tagesgeschehen oder zu aktuellen Themen herstellt.376 Die Betonung der Notwendigkeit der Aktualisierung oder auch die Beschreibung spezifischer gelungener Elemente einer Inszenierung vermittelt dabei gleichzeitig, dass die Stücke als historische, anachronistische Artefakte einer Bearbeitung bedürfen, um ›entstaubt‹377 in der Gegenwart rezipiert zu werden: »Offenbach ist eine Bühnen-Mumie, wenn sie nicht aktualisiert, also auf den Zeitgeist getrimmt, besser noch: lokalisiert, heißt zum Spottinstrument gegen die hiesige und heutige Szene benutzt wird.«378 Im Gegensatz dazu zeigt sich aber auch, dass die Inszenierung eines Regisseurs für die Modernisierung des Stoffs ausschlaggebend sein kann, ohne tatsächlich zu aktualisieren. Denn in einem solchen Fall sollen beispielsweise die ohnehin schon aktuell bedeutenden Themen eines historischen Werks durch den Regisseur lediglich freigelegt werden: »Friedrichs mit einer Fülle anekdotischer Geschichten angereicherte Beschreibung einer zum Scheitern verurteilten Jugend ohne Initiative braucht keine äußerlichen Aktualisierungen, um unangestrengt modern zu wirken.«379 Im untersuchten Material sind interessante Tendenzen auszumachen, die die Einschätzung der ›Aktualisierung‹ in der Regel wohlwollend an das Regiekonzept anpassen. Die Zeitlosigkeit der Werke dient den folgenden zwei Beschreibungen als Kontrastfolie, um herauszustellen, dass ›Aktualisierung‹ gerade nicht nötig ist: »Der Grundgedanke der Inszenierung besteht in der Erkenntnis, daß eine erzwungene Aktualisierung oder Konkretisierung des Inhalts seine Tragfähigkeit

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Renate Klink: Überlebenskünstler unter den lausigen Dächern von Paris, in: Hildesheimer Allgemeine Zeitung, 15.09.1992. 376 O. A.: Die Bohémiens von heute, in: Märkische Oderzeitung Frankfurter Stadtbote, 06.11.2006. 377 Stefan Schickhaus: Der Dichter friert, in: Main-Echo Aschaffenburg, 04.06.1996. 378 Udo Schirmbeck: Mit wenig Dampf in den Hades, in: Passauer Neue Presse, 18.02.1992. 379 Ingvelde Geleng: ›Bohème‹ mit Herz – ein Triumph des Ensembletheaters, in: Welt am Sonntag, 08.01.1989.

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überstrapaziert. Wie ein Mythos eine zeitlos gültige existentielle Erfahrung beinhaltet, wird diese Oper (in der Münchner Urfassung von 1780/81) in zeitlosem ›Design‹ auf die Bühne gebracht und erzählt losgelöst von jedem historischinhaltlichen Bezug ihre Geschichte.«380 Und ein anderer Rezensent bemerkt: Die Inszenierung »reizt die unabweisbare Aktualität des alten Stoffes voll aus, ohne ihn indessen läppisch zu aktualisieren.«381 Allerdings gibt es auch hier Abstufungen, denn oberflächlich soll eine Aktualisierung nicht sein und es scheint in einem solchen Fall gerade positiv bewertet zu werden, dass nicht aktualisiert wird.382 Die angeführten Beispiele verdeutlichen die Binarität des Aktuellen in der Regie. Die positive Konnotation der Aktualisierung eines historischen Werks steht der in den Kritiken vernehmbaren pejorativ gefärbten Haltung zur ›Aktualisierung‹ bzw. ›Modernisierung‹ gegenüber. Dieses sich in den Kritiken niederschlagende Spannungsverhältnis markiert gewissermaßen die beiden gegensätzlichen Standpunkte der Debatte um Funktion und Aufgaben der Regisseure seit den 1970er Jahren. Besonders aufschlussreich daran, dass der Topos der Aktualität im Zusammenhang mit Musiktheater eine Legitimationsstrategie darstellt, ist nicht nur der Umstand, dass Aktualität und Anachronismus in zahlreichen Kritiken durch das Wechselverhältnis zwischen Regie und Werk explizit hervorgehoben und verhandelt werden; etwa in Bemerkungen wie der folgenden: »Springlebendig ist sie, die schon so oft totgesagte Operette, und sie begeistert ihr Publikum noch immer.«383 Vielmehr verweist auch der jeweilige Sinnzusammenhang, mit dem auf Aktualität rekurriert wird, auf den Topos der Aktualität als Legitimationsstrategie, und zwar besonders dann, wenn der Bezug etwas fragwürdig ist: So parallelisiert eine Kritikerin etwa die im Januar zur Zeit der besuchten Aufführung vorherrschenden niedrigen Temperaturen mit den Temperaturen bzw. den Wetterbedingungen im Libretto der Oper. Die Kälte, die beispielsweise durch den Schneefall im vierten Bild der La Bohème oder auch durch Mimis Wunsch nach einem Muff manifestiert wird, führt zu folgender Beobachtung: »Manchmal gewinnt eine Oper auch eine unbeabsichtigte Aktualität. Nie konnte man die Kälte der Künstlermansarde in ›La Bohème‹ so gut nachfühlen wie jetzt.«384 Ob die Parallele inhaltlich zur Begründung eines Aktualitätsbezugs der Oper zu überzeugen vermag, kann hinterfragt werden. Insbesondere das Wetter als

380 Thomas Kahlke: Musikdrama in zeitlosem Design, in: Ost-holsteinisches Tagblatt Plön, 16.01.1990, S. 6. 381 Klaus Geitel: Theatercoups, wie das Barock sie liebte, in: Die Welt, Essen, 23.02.1987. 382 Wolfgang Nölter: Diesmal gar nicht langweilig, in: Aachener Nachrichten, 17.01.1990. 383 Gerd Bischoff: Paprika im Blut, in: Mannheimer Morgen, 30.12.1996. 384 Nike Luber: Gesangliche Glanzleistung in kalter Künstlermansarde, in: Badische Neueste Nachrichten, 13.01.2003.

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Bezugspunkt zu wählen, vermittelt den Eindruck eines oberflächlichen Bezugs, der nur genannt wird, um das Deutungsmuster der Aktualität zu bedienen.

3.3 Tagespolitik und Zeitgeschehen als Referenz »Dieser Montagmittag im September scheint ein Mittag wie viele in Paris. Auf den zehn Marmorstufen, die hinaufführen zur Opéra von Garnier, sitzen Studenten, Geschäftsleute und Touristen zwischen den Tauben und knabbern an Baguettes. Doch es ist ein Frühherbst, in dem sich die Welt verändert hat. Wer in das Foyer zu den Kassen gelangen möchte, wird durch einen Aushang vom 13. September freundlich gebeten, Verständnis für die Sicherheitskontrollen, den Einsatz von Sensorgeräten zu haben. In den Straßen meint man, das wütende Pariser Verkehrstoben gedämpft zu erleben. Den Grund für all dies zeigen die mannshohen Plakate an den Pressekiosken auf den Gehwegen des Boulevard des Italiens in makellos scharfen Bildern, die für eine Sondernummer des ›Figaro‹ werben: ein einstürzendes Hochhaus vor einem strahlenden Septemberhimmel in New York. Es ist die Stadt, der die Pariser die Freiheitsstatue schenkten, in deren Händen eine Fackel brennt. Rechts oben auf dem Palais Garnier reckt eine der beiden Musen auch so eine in die Höhe. Dieser monströse Tempel der Kunst, der dem napoleonischen Geist der Grande Nation und zugleich dem aufblühenden Bürgerselbstbewusstsein des neunzehnten Jahrhunderts entsprang, wuchtet seit einem Jahr – nach Sandstrahlpeeling und Erneuerung der Goldauflage der beiden Musen und der Leier des Orpheus – unwirklich schön wie ein Disney-Land neualt im Herzen von Paris. Hier spielt die Stuttgarter Staatsoper Helmut Lachenmanns ›Mädchen mit den Schwefelhölzern‹.«385 Dieser Wortlaut steht am Anfang einer Kritik über das Gastspiel der Staatsoper Stuttgart in Paris mit Helmut Lachenmanns Oper Das Mädchen mit den Schwefelhölzern. An jeder anderen Stelle in der Zeitung würde der erste Absatz mit dem aktuellen Bericht zu den Anschlägen in New York am 11. September 2001 vermutlich nicht deplatziert wirken, schließlich ist Aktualität in der Berichterstattung ein basales Wesensmerkmal aller Zeitungen. Das gilt im Übrigen auch für den Feuilletonteil, in dem allgemein über aktuelle Themen zur Kultur berichtet wird und insbesondere auch rezente Opernaufführungen besprochen werden. Der ausführlich zitierte Abschnitt ist deswegen so frappierend und irritierend, weil der eingehende tagespolitische Einstieg im Rahmen einer Opernkritik steht. An dieser Stelle wäre eine Besprechung der aktuellen Aufführung zu erwarten und eben nicht

385 Götz Thieme: Schnee, der aufwärts fällt. Stuttgart gastiert mit einer Lachenmann-Oper in Paris, in: Stuttgarter Zeitung, 19.9.2001, S. 30.

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eine Einführung in tagespolitische Themen – insbesondere nicht ohne offensichtliche oder erläuterte inhaltliche Bezüge zum Stück. Im ersten Abschnitt der Kritik wird über den Anschlag auf die Twin-Towers und die als Reflex darauf installierten Sicherheitskontrollen im Opernhaus berichtet, es wird die bilaterale Freundschaft zwischen Paris und New York hervorgehoben und anschließend noch die kürzlich vorgenommene Renovierung der Opéra Garnier kommentiert, bevor die Oper, um die es laut Untertitel eigentlich gehen soll, im Fließtext überhaupt genannt wird. Der Einstieg in die Kritik wirkt umso irritierender, als es sich vom Textvolumen her bereits um ein Viertel des gesamten Artikels handelt. Trivia und Nebensächlichkeiten, etwa ein bemerkenswertes Outfit eines Künstlers oder wie hier angemerkt die Renovierung des Opernhauses, sind zwar sehr häufig Teil von Musiktheaterkritiken, im vorliegenden Fall ist aber sowohl die ausführliche Beschreibung als auch die Dichte trivialer Informationen mit tagespolitischem Bezug bemerkenswert. Auch wenn der Kritiker konstatiert, dass sich durch die einstürzenden Hochhäuser ›die Welt verändert‹ habe, die globale und mediale Aufmerksamkeit des Anschlags sowie die Feststellung eines epochalen Einschnitts zunächst zwar alles andere als trivial erscheint, so lässt sich auch diese Information insbesondere mit Blick auf die Funktion einer Musiktheaterkritik in die Reihe der Nebensächlichkeiten einordnen. Der Einstieg in die Kritik, insbesondere aber die Folie des Anschlags, vermittelt eine gewisse Aktualität und Relevanz des Zeitgeschehens, das, in einem solchen Rahmen relativ lose mit der Oper verknüpft, wiederum den Eindruck vermittelt, dass auch die besprochene Oper aktuell und relevant sei. Für die informierte Leserin, der insbesondere das Stück sowie die Ästhetik und die Schriften Helmut Lachenmanns ausführlich bekannt sind – Lachenmanns Selbstverständnis ist das eines ›politischen Komponisten‹, auch der Kritiker bemerkt dies an einer späteren Stelle im Text –, können assoziative Berührungspunkte der Oper mit dem Anschlag gegebenenfalls die Trivialität des einleitenden Abschnitts etwas eindämmen. In einem Teil des Librettos der Oper wird nämlich ein Brief von Gudrun Ensslin, einer Hauptfigur der Roten Armee Fraktion und Mitverantwortliche für Anschläge auf Personen des öffentlichen Lebens in den 1970er Jahren in Deutschland, verarbeitet. Der Raum, den dieser Brief als assoziatives Symbol für Terror und Anschläge in der Oper einnimmt, ist jedoch verhältnismäßig zur Gesamtdauer des Werks nur sehr gering, was auch den ausführlichen Bericht über die Anschläge in New York in der Kritik im Verhältnis nicht sonderlich plausibel macht. Aber auch andere Kritiker äußern sich mit Bezug auf die Verarbeitung des Briefs, dass »das Stück eine politische Dimension«386 habe. Nach einer ausführlichen Beschreibung des Librettos und der Klangsprache Lachenmanns in der Besprechung gibt der Zwischentitel ›Erkenntnis durch Musik‹ Aufschluss über eine 386 Wolfgang Nölter: Avantgarde-Werk: Staatsoper reduziert die Preise, in: Münchner Merkur, 15.01.1997.

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mögliche weitere Verbindung der Einleitung zur Opernaufführung, bzw. zu den Schriften Lachenmanns: »Das Ich, jeder Einzelne, muss mit sich in Kommunikation treten, Erkenntnis durch Musik gewinnen: ›Mit Hilfe unserer zum Denken hinaufsensibilisierten Sinne auf die Struktur unseres Gegenübers, unserer Umgebung im engsten und weitesten Sinne aufmerksam zu werden, die besondere Art von Bedingtheit aller unserer Erfahrungen und darin ihr Bedeutungspotenzial zu entdecken, halte ich für eine ganz tiefe Herausforderung, die uns hilft, über unsere angestammten, unbewusst herumgeschleppten Vorurteile hinweg, uns und unsere Umgebung neu anzuschauen.‹ Worte, die in Zeiten des Krieges – Zeiten, die zunächst so unangemessen scheinen, Oper zu spielen – jeden Hörer festsetzen, sich im Gefüge dieser Welt zu betrachten.«387 Diese Kritik stellt besonders deutlich heraus, dass tages- oder zeitpolitische Bezüge nicht zwangsläufig eine dekodierte Interpretationsleistung eines Regiekonzepts durch den Kritiker bzw. die Kritikerin darstellen. Auch bezieht sich die aktualitätsbezogene Auslegung eines historischen Werks nicht unbedingt nur auf die so häufig herausgestellte werkimmanente Zeitlosigkeit des Stoffes. Bemerkenswert ist bei diesem Beispiel, dass die Verknüpfung der Oper Lachenmanns mit tagespolitischem Zeitgeschehen offensichtlich die ausschließliche Assoziationsleistung des Kritikers ist, d. h. dass die Zuschreibung des Attributs der tagespolitischen Aktualität sich hier gewissermaßen nur auf rezeptionsästhetischer Ebene abspielt. Ein ähnliches Muster, aber in der Assoziationsleistung des Kritikers weitaus plakativer, ist der Rekurs auf zwei Sänger in einer anderen Kritik, deren Nationalitäten offensichtlich russisch respektive amerikanisch sind. Es wird auf ein bi-nationales Treffen hochrangiger Politiker Bezug genommen. Es geht um eine ›Art Gipfeltreffen‹, was nicht nur in der Retrospektive absurd erscheint – selbst wenn zum Zeitpunkt der Veröffentlichung der Kritik ein solches Treffen stattgefunden haben sollte, sind die Bezüge zur Oper La Bohème überhaupt nicht vorhanden. Dennoch suggeriert die Wortwahl und Darstellungsweise dieser Trivialität gewissermaßen einen möglichen aktuellen politischen Bezug und fordert durch diese Irritation eine allgemeine Reflexion der Funktionalität von solchen zusammenhangslosen politischen Bezügen; der einzige Sinn scheint darin zu liegen, die Aufführung mit ›aktueller Relevanz‹ in Verbindung zu bringen: »Dank der beiden für die Rollen des Rodolfo und des Marcello importierten Sänger gab es eine Art amerikanisch-russisches Gipfeltreffen.«388

387 Götz Thieme: Schnee, der aufwärts fällt. Stuttgart gastiert mit einer Lachenmann-Oper in Paris, in: Stuttgarter Zeitung, 19.9.2001, S. 30. 388 Horst Koegler: Keine Chance für die Liebe, in: Stuttgarter Zeitung, 22.10.1991.

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Auch der folgende Ausschnitt spielt mit dem Topos der politischen Aktualität, wobei explizit zunächst das Regiekonzept des Regisseurs entschlüsselt wird. Allerdings – und das ist im Zusammenhang mit der zuvor dargestellten Beobachtung zum ›amerikanisch-russischen Gipfeltreffen‹ interessant – relativiert der Kritiker die durch ihn beschriebene bzw. analysierte und sogar vor der Premiere angekündigte politische Aktualität, die sich durch das Bühnenbild und die Kostüme mit Rekurs auf den Fall der Mauer in Berlin 1989 manifestiert: »Berlin – Halb abgetragene Betonwände reichen bis an die Rampe bei Harry Kupfers ›Idomeneo‹-Inszenierung an der Komischen Oper. Nach der Wende zusätzlich in den Spielplan aufgenommen, […] rechtzeitig zum Mozartjahr. Daß ›diese Hauptstadt‹ künftig ›zwei Völker friedlich vereine‹, wünscht sich gleich zu Beginn Idamante […]. Kupfer versucht, das Spiel um Macht und Verantwortung des Herrschers auf die jüngste Geschichte zu beziehen. Arabace, der Ratgeber des Königs, kommt zur allgemeinen Belustigung daher wie eine Mischung aus Honecker-Berater Schabowski und PDS-Chef Gysi. […] ›Bestürzende Aktualität‹ (Premierenankündigung) strahlt das alles reichlich nicht aus.«389 Zunächst werden – chronologisch nachvollziehbar – anhand der Betonwände, der erwähnten ›Wende‹ und der Vereinigung zweier ›Völker‹, sodann der politischen Karikatur zweier Figuren Bezugspunkte des Werks und der Inszenierung mit der deutschen Wiedervereinigung in Verbindung gebracht, nur um im Anschluss die dadurch suggerierte Aktualität wieder einzuschränken. Es scheint, als sei die ›Aktualisierung‹ des Stücks nicht geglückt. Allerdings ist der Kritiker offenbar selbst mit seiner einschränkenden Beobachtung nicht zufrieden, denn im weiteren Verlauf erwähnt er lobend die detaillierte psychologisch ausdeutende Arbeit Kupfers in Bezug auf die Figuren und fügt hinzu: »Nicht zuletzt durch die aktive Rolle, die er dabei dem glänzend geführten Chor gibt, macht er das ›Dramma per musica‹ zu einem zeitlos spannenden, vielschichtigen Abend.«390 Auch wenn die politischen Bezüge nicht überzeugen mögen, die Aufführung des Idomeneo ist dennoch ›zeitlos‹. Ähnlich wie bei der Kritik zu Lachenmanns Oper Das Mädchen mit den Schwefelhölzern in Paris schreibt auch der Rezensent zur Inszenierung der Operette Die Csárdásfürstin in Dresden durch Konwitschny zunächst einen ausführlichen Abschnitt zum tagesaktuellen Geschehen, hier zu den Begebenheiten in der Silvesternacht: »Die Partys und Lustbarkeiten sind zu Ende. Das neue Jahrhundert hat zwar nach Adam Ries noch lange nicht begonnen, aber dafür ist der Datumswechsel problemlos über die Bühne gegangen. Selbst das bisschen Streit, ob das gigantischs-

389 Ch. Kaiser: ,Idomeneo‘: Zeitloses Spiel um Macht und Verantwortung, in: Ruhr-Nachrichten, 26.11.1990. 390 Ebd.

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te Feuerwerk, die größte Show, das spektakulärste Ereignis nun in Berlin, New York oder London stattgefunden hat, ist schnell abgeebbt. Aber das ficht in Dresden ohnehin niemand an, hier ist man sich in barocker Einfalt selbst genug und anders: Der Silvesterabend hat ein Nachspiel – und wenn’s ganz dicke kommt, sogar vor Gericht. Was ist jetzt wieder los? Auf dem Altmarkt gab es zum Jahreswechsel eine Riesenfete mit dröhnender Schlagermusik, was bis auf einige mickrige Proteste von Anwohnern unbeanstandet blieb.«391 Der Topos der Aktualität steht in den Kritiken in direktem antagonistischen Spannungsverhältnis zum Topos des Anachronistischen. Dieser Gegensatz wird zwar nicht immer direkt angeführt, zieht sich aber als bestimmendes Narrativ durch das untersuchte Material. Bisweilen ist der Antagonismus zwischen ›veraltet‹ und ›aktuell‹ auch sehr explizit zu vernehmen, was beispielsweise durch das folgende Zitat deutlich zum Vorschein kommt. Die Kritik beginnt mit folgendem Einstieg: »Wie in der Operette, so im Leben: der aktuelle Bezug war und ist das Lebenselixier dieser immer wieder totgesagten, aber immer wieder auch entstaubten Kunstgattung. ›Orpheus in der Unterwelt‹, Jacques Offenbachs wohl bekanntestes Paradestück dieses Genres, ist bestens für den Beweis geeignet, daß die Operette keineswegs ins Museum gehört […].«392 Aus diesem Zitat geht das Narrativ des ›Musealen‹ besonders deutlich hervor. Aktualität und aktuelle Bezüge werden diesem vermeintlich oder tatsächlich falschen Vorwurf des musealen und damit für aktuelle Fragen bedeutungslosen Genres als Beweis gegenübergestellt. Im weiteren Verlauf der Kritik wird darüber hinaus deutlich, dass die Operette gerade durch die textliche Bearbeitung des Librettos und durch den Bezug auf allgemeine Themen wie ›Umweltverschmutzung‹ oder ›Emanzipation‹ nicht anachronistisch, sondern ganz im Gegenteil aktuell sei. Zusätzlich zu allgemeinen Themen werden auch konkrete lokal- bzw. kulturpolitische Auseinandersetzungen in der besprochenen Aufführung selbstreferenziell herangezogen und unterstreichen dadurch ebenfalls die Aktualität der Operette. Der Kritiker konstatiert: »Ein aktueller Bezug der Inszenierung traf auf jeden Fall ins Schwarze, denn er hätte nicht aktueller sein können. Gleich in zwei Kristallisationspunkten war der Text auf einen Zuhörer gemünzt, der in der ersten Reihe in der Mittelloge saß [auf den Berliner Kultursenator, Anm. CW].«393 Die Steigerung des Wortes ›aktuell‹ verleiht diesem Topos im Zusammenhang mit der Operette nochmals besonderes Gegengewicht zum zuvor angemerkten Topos des Anachronistischen, hier dargestellt

391

Gottfried Blumenstein: Immer noch im Operettentaumel, in: Freie Presse Chemnitz, 12.01.2000. 392 Andreas Richter: Klassik aus dem Reformhaus, in: Der Tagesspiegel Berlin, 29.03.1992. 393 Ebd.

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durch die Operette als ›totgesagte Kunstgattung‹. Besonders bei Kritiken zu Orpheus in der Unterwelt beziehen sich Kritiker*innen auf politisch »auf Zeitnähe zugespitzte Texte«394 , um die Operette für die heutige Zeit zugänglich zu machen. Ein interessanter Fall ist die bereits zuvor zitierte Idomeneo-Inszenierung von Neuenfels, bei der am Ende abgeschlagene Götterhäupter auf der Bühne auf Stühle drapiert werden. Die Premiere der Inszenierung im Jahr 2003 wurde zwar auch mit dem Topos der Aktualität in Verbindung gebracht, thematisierte allerdings lediglich die Frage nach der Beziehung zwischen Menschen und Göttern, die Neuenfels durch seine Inszenierung neu gestellt habe. Dezidiert auf die einzelnen Religionen und insbesondere auf die abgeschlagenen Götterköpfe, spezifisch in Bezug auf Mohamed als Prophet der Muslime, wurde erst im Zusammenhang mit dem später aufgetretenen sogenannten Karikaturenstreit eingegangen, als es an der Deutschen Oper in Berlin 2006 zu einer Wiederaufnahme der Inszenierung kam. Insbesondere entzündeten sich hitzige Diskussionen um die Entscheidung der damaligen Intendantin, die Oper wegen einer Bombendrohung vom Spielplan zu nehmen. Diese Entscheidung wurde im Medienecho als Einschränkung der Freiheit der Kunst empfunden und überregional diskutiert. Was dieses Beispiel zeigt – ähnlich wie der zu Beginn zitierte Abschnitt über die Anschläge von New York –, ist, dass tagespolitische oder sonstige politische Bezüge, die zu einer Aufführung hergestellt werden, nicht absichtsvoll von den Regisseuren herbeigeführt werden müssen. Das Beispiel zeigt außerdem offensichtlich die auf aktuelle Bezüge gerichtete Interpretationsund Verknüpfungsleistung, die das Narrativ der aktuellen Relevanz der Oper aus rezeptionsästhetischer Perspektive hervorrufen kann. Interessant ist in diesem Zusammenhang auch, dass ein Rezensent Neuenfels’ Deutung der Religionen durch das Exponieren der drei (bzw. mit Poseidon vier) Gottheiten mit einem Politikbeispiel konterkariert. So konkludiert er hinsichtlich der Inszenierung der drei Götter: »Ein Debattier-Club ohne Gewicht und Fundament. Dass das auf die aktuelle Politik an Euphrat und Tigris bezogen genau umgekehrt ist, die Religionen die einzigen sind, die sich aktiv und konsequent für den Frieden einsetzen, scheint der einstige Magier [Neuenfels] nicht mitbekommen zu haben.«395 Dass die Öffentlichkeitswirksamkeit der abgesagten Idomeneo-Aufführung in Berlin auch für die Relevanzproduktion von anderen Inszenierungen genutzt wird, zeigt ein Artikel aus dem Wiesbadener Kurier, in dem der Kritiker für eine bevorstehende Premiere ebendieser Oper am Staatstheater Wiesbaden Entwarnung gibt. Niemand müsse sich vor einer »möglichen Provokation islamistischen Gedankenguts fürchten. […] Für die Wiesbadener Aufführung sei etwas Ähnliches keineswegs zu erwarten. Zu Besorgnis gebe es keinen Anlass.«396 Was durch dieses Beispiel angedeutet wird, ist darüber 394 Günter Görtz: Im Himmel ist der Teufel los, in: Neues Deutschland Berlin-Ost, 31.03.1992. 395 Christian von Kageneck: Debattierclub ohne Gewicht, in: Mannheimer Morgen, 27.03.2003. 396 O. A.: Idomeneo in Wiesbaden auf dem Spielplan, in: Wiesbadener Kurier, 28.09.2003.

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hinaus die Interreferenzialität des Musiktheaterdispositivs durch Bezüge zwischen einzelnen Aufführungen, in diesem Fall in einer zeitgleichen Nähe zu einander. Sogar das Ausland ist betroffen, was die Brisanz der Berliner Inszenierung hervorhebt, gleichzeitig die Bedeutung des politischen bzw. gesellschaftskritischen Potenzials des Musiktheaters festigt. Einer kurzen Meldung ist zu entnehmen, dass die Wirkung der Berliner Inszenierung bis in die Türkei ausstrahlt. Das Opernhaus in Izmir sei wegen des in Deutschland entstandenen falschen Bildes über die Oper Idomeneo besorgt, die eigene Produktion dieser Oper zur Aufführung zu bringen.397 Unabhängig davon, ob diese und vergleichbare Meldungen eher aus Gründen der Brisanz und des Strebens nach Aufmerksamkeit und Auflagenzahlen abgedruckt werden oder die Sorge der Verantwortlichen in Izmir tatsächlich auch in der Türkei medienwirksam artikuliert wurde, so entsteht nichtsdestotrotz ein Bild der Wirkmächtigkeit einer Musiktheateraufführung über Grenzen hinweg, was Rückschlüsse auf die Relevanz von Musiktheater zulässt.

3.4 Sozialkritische Dimensionen Referenzen zu tagespolitischer Berichterstattung sowie allgemeinem Zeitgeschehen stellen häufig gesellschaftskritische Implikationen in den Mittelpunkt, die den Eindruck eines unmittelbaren und aktuellen Bezugs einer Aufführung vermitteln. ›Gesellschaftliche Relevanz‹ und ›Sozialkritik‹ sind Schlagworte, welche die rezensierten Werke sozusagen ›am Puls der Zeit‹ verorten. Meist geht es um die »(zeit-)kritische Sicht«398 auf bekannte Werke des Musiktheaters, um eine »in die Zeit eingreifende, engagierte Kunst«399 . Die Forderung einer ›sozialkritischen Komponente‹ ist deutlicher Ausdruck des Verständnisses, das »Musiktheater als politische, ja utopische Anstalt«400 beurteilt. ›Gesellschaftskritik‹ wird in den Kritiken regelmäßig, sofern sie in der Aufführung auszumachen ist, deutlich als Qualitätskriterium bewertet. Es ist besonders interessant, dass dieses Kriterium durch sporadische kritische Stimmen bekräftigt wird, die bei einer Aufführung explizit die ›sozialkritische Komponente‹ vermissen und deutlich auf diesen Mangel verweisen. So bemerkt eine Kritikerin beispielsweise: »Von der sozialkritischen Komponente der Oper blieb nichts«401 , in einer anderen Kritik heißt es: »Hier wäre wieder eine Chance gewesen, mit Zusatzstrophen

397 dpa: Türkei-Premiere von ,Idomeneo‘ gefährdet, in: Die Welt, 30.09.2006; oder auch dpa: »Idomeneo« auch in Türkei strittig?, in: Westfälische Rundschau, 30.09.2006. 398 Aldo Lindhorst: Operettenglückseligkeit? Nein, Krieg, in: Leipziger Volkszeitung, 03.01.2000. 399 Joachim Lange: Wenn Regie-»Granaten« in die heile Operettenfassade einschlagen, in: Saarbrücker Zeitung, 08.01.2000. 400 Christine Lemke-Matwey: Ihr seid doch alle krank, in: Der Tagesspiegel Berlin, 07.01.2000. 401 Brigitta Mazanec: So eiskalt wie Mimis Händchen, in: Wiesbadener Kurier, 09.03.1995.

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gegenwarts- und lokalkritisch zu extemporieren.«402 Wieder ein anderer Kritiker bemerkt überraschend konkret, was die Sozialkritik der Bohème ausmache: »Die gute alte Bohème lief eigentlich ab wie eh und je – Gott sei Dank möchte man meinen. Und doch fehlte Entscheidendes. Etwa der Galgenhumor, der die Freunde im letzten Bild so sehr überdrehen läßt, oder die Hintergründe, vor denen die Beziehung zwischen Musetta und dem Staatsrat Alcindoro erst begreiflich wird, Dinge, durch die die sozialkritische Komponente herausgestellt wird.«403 Im Zusammenhang mit sozialkritischen Aspekten ist zudem ein deutliches Muster zu erkennen, nach welchem Bezüge zu anderen Inszenierungen desselben Werks hergestellt werden. Obschon die Bewertung der besprochenen Inszenierung insgesamt positiv ausfällt, bemerkt ein Kritiker etwa: »Kein Gedanke an deutliche Gesellschaftskritik, wie bei Harry Kupfers ›Bohème‹.«404 Oft wird diese Art der Beschreibung dann angewandt, wenn die szenische Umsetzung einer Aufführung gesellschaftskritische Tiefe vermissen lässt. Eine vergangene Inszenierung dient in einem solchen Fall als positives Paradebeispiel. Dabei scheint häufig der Aspekt mitzuschwingen, die begutachtete Inszenierung korrigierend in den Bezugsrahmen gesellschaftlicher Relevanz zu integrieren. Ein weiteres Beispiel dafür ist etwa eine Kritik aus dem Jahr 1991, welche mit einem Rekurs auf eine längst vergangene Inszenierung – ebenfalls die einer La Bohème – im selben Opernhaus beginnt: »Der Abstieg ist unaufhaltsam. Vom Glück im Mansardenwinkel führt er über die Straße zum Sterben direkt hinab in einen Raum, in den sich allenfalls Tiere verkriechen, wenn sie ahnen, daß ihr Ende gekommen ist. Götz Friedrich hat 1974 in seiner Stuttgarter ›La Bohème‹ Leben, Leiden und Tod des Mädchens Mimi zu einer sozialen Fallstudie gemacht, die der Gesellschaft einen Spiegel vorhielt, ohne indessen mit dem erhobenen Zeigefinger aufzutreten oder Puccinis Oper besserwisserisch und sendungsbewußt zum Agitationsobjekt gegen soziale Ungerechtigkeiten zu mißbrauchen.«405 Götz Friedrichs Inszenierung aus dem Jahr 1974 dient dem Kritiker als Bezugspunkt und Maßstab für die szenische Umsetzung der rezensierten Aufführung. Erst im weiteren Verlauf der Kritik wird klar, dass der inszenierende Regisseur Tom Cairns

402 Franz A. Stein: Köpplingeriade oder: Die Bühne, ein Tollhaus, in: Mittelbayrische Zeitung Regensburg, 17.02.1992. 403 Hans-Jürgen Thiers: Liebe, Leben, Leid der Bohemiens, in: Thüringische Landeszeitung Weimar, 27.01.1997. 404 Ralph Heringlehner: Eine kleine Geschichte, in: Main-Post Würzburg, 13.01.1997. 405 Dieter Kölmel: Ein Fest der Stimmen in der Tiefkühlbox, in: Stuttgarter Nachrichten, 22.10.1991.

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mit seinem Konzept nicht überzeugen konnte.406 Bemerkenswert ist außerdem die explizite Abgrenzung zum plakativ Gesellschaftskritischen, was in der Gesamtschau des Materials im Übrigen sehr häufig als Beschreibungsmodus für eine nicht zu favorisierende Arbeitsweise aufgegriffen wird: Der Regisseur »spürt die Doppelbödigkeiten dieses Genres auf, vergrößert und -gröbert dies indes nie zur plumpen Sozialkritik.«407 Auch in den Besprechungen zur Uraufführung der Oper Helmut Lachenmanns nimmt der Aspekt der ›Sozialkritik‹ eine zentrale Rolle ein: »Lachenmann hat das bekannte Andersen-Märchen vom ›Kleinen Mädchen mit den Schwefelhölzchen‹ als Ausgangspunkt für einen total entfremdeten Aufriss genommen, um die menschliche Kälte und ›existentielle Einsamkeit‹ in einer gleichgültigen Gesellschaft zu beklagen.«408 In einer anderen Kritik wird bildlich sogar auf das Potential der Oper rekurriert, ›sozialer Sprengstoff‹ zu sein: »Die erste Oper Lachenmanns birgt sozialen Sprengstoff, der in einer Zeit zunehmender Arbeitslosigkeit und wachsender sozialer Spannungen sowie der grassierenden Angst vor Überfremdung aktueller denn je wirkt.«409 Es bleibt in diesem speziellen Fall – zumindest legt die Wortwahl es nahe – nicht bei einer kritischen Beschreibung gesellschaftlicher Missstände durch ein künstlerisches Medium, sondern die Oper selbst scheint einen Aktionismus zu aktivieren und ist in der Lage, verändernd in diese Missstände einzugreifen. Die Interpretation um das ›Zündeln‹ des kleinen Mädchens gibt darauf weitere Hinweise: »Das Anzünden der Streichhölzer hat dabei eine doppelte Bedeutung: Sie können als Synonym für eine bessere Welt verstanden werden, lassen aber auch den Schluß zu, daß damit an der Weltordnung gerüttelt wird.«410 Während die beiden hier aufgeführten Beispiele die ›Gesellschaftskritik‹ deutlich herausstellen, bemängelt ein anderer Rezensent, dass diese durch die Regiearbeit des inszenierenden Regisseurs nicht sichtbar werde. ›Sozialkritik‹ bleibt dadurch – auch wenn durch den Rezensenten nicht positiv hervorgehobenes – Deutungsmuster für die Legitimation dieser spezifischen Aufführung: »Freyers Regiemittel zielen auf Volkstheater und schließen unsägliche Manierismen ein. Gesungene wie gesprochene Worte gehen dabei unter, die ohnehin schwach ausgepräg406 Ebd. – Darüber hinaus wird im weiteren Verlauf deutlich, dass nicht nur das Sozialkritische fehlt, sondern auch die Gefühlskomponente der Oper verborgen bleibt. Deswegen auch der Begriff ›Tiefkühlbox‹ im Titel. Weder Sozialkritik noch Gefühl werde geboten. Dies erweckt den Anschein, dass beide Aspekte für diese Oper in der gleichen Aufführung zum Tragen kommen könnten. Unabhängig von der Kritik an der Inszenierung ist die Kritik insgesamt kein Verriss, weil die musikalische Seite den Kritiker überzeugen konnte. 407 Markus Thiel: Wir pfeifen auf die Weltmisere, in: Münchner Merkur, 22.12.1998. 408 Matthias Frede: Schwieriger Fall von Anti-Oper, in: Mitteldeutsche Zeitung Halle und Saalkreis, 28.01.1997. 409 O. A.: Eine Oper mit sozialem Sprengstoff, in: Leonberger Kreiszeitung, 1.2.1997. 410 Ebd.

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te Gesellschaftskritik verblasst gänzlich.«411 Diese negative Kritik richtet sich gegen die Regiearbeit des Regisseurs und bewertet diese durch Attribute wie ›Volkstheater‹ und ›Manierismen‹ negativ; gleichzeitig lässt die Formulierung vermuten, dass die Komposition grundsätzlich etwas Gesellschaftskritik transportiere. Ähnlich verfährt ein Kritiker, der, um aufzuzeigen, dass die Regie die sozialkritische Substanz des Musicals Der kleine Horrorladen verschenkt habe, diese ausführlich selbst herausarbeitet: »In diesem Blumenladen hat sich die ›weiße‹ Kultur verbarrikadiert, hier ist sie personifiziert in der grauhaarigen Vaterfigur des Chefs, in der rachitischen Gestalt des Juniorverkäufers, in der tippelnden und piepsenden Angestellten. Die Slum-Realität ringsrum, die Gesellschaft der Armen und Schwarzen wird winkend und swingend als Background-Trio oder als jubilierendes Gossen-Strandgut eingeblendet. In dieser verschlafenen Bude, in der sich die Wirtschaftsmacht Amerika als spinnwebverhangene Registrierkasse präsentiert, in der das ganze Volk bei einem lumpigen 15-Dollar-Auftrag euphorisch Freizeit und Konsum ausruft, sind Anfang und Ende aller privaten und beruflichen Wege festgelegt. Soweit die sozialkritische Substanz des Stücks.«412 Denn das Musical sei, so eine andere Kritikerin, »nämlich auch eine Geschichte des gesellschaftlichen Untergangs, eine Geschichte über die Bedrohung aller menschlichen Werte durch das Böse, das die Weltherrschaft anstrebt.«413 Die zahlreichen Beispiele belegen, dass ›Sozialkritik‹ in den Kritiken explizit genannt wird. Es ist augenfällig, dass dieses Deutungsmuster als Bezugssystem für die Legitimationsstrategie des Musiktheaters im Diskurs kursiert. Diese Form der Kritik an gesellschaftlichen Zuständen vollzieht sich in den Kritiken aber auch implizit, ohne dieses Phänomen deutlich zu benennen. Im Zusammenhang mit der medial stark rezipierten Csárdásfürstin, die durch Konwitschny in Dresden inszeniert wurde, steht folgende Interpretation des Kritikers: »Die Zeit der Uraufführung von 1915 wurde erinnert – aus dem behaglichen Jahresausklang im Dreivierteltakt gerät ein Rückblick auf das mörderische 20. Jahrhundert. Gewehrsalven knattern, Pyrotechnik blitzt und knallt, Leichenteile fliegen. Das ist auch der Wahnwitz des millionenschweren Böllerns in einer Welt, der immer noch Brot fehlt und wo an Bomben kein Mangel herrscht.«414

411 Hans Berndt: Zerstückelte Laute und Geräusche, in: Handelsblatt, 31.01.1997. 412 Jürgen Richter: Blutrünstiges Monster im Blumentopf, in: Frankfurter Allgemeine, 03.08.1990. 413 Rosalinde Riede: Filmreif ist nicht gleich Bühnenreif, in: Zollern-Alb Kurier Balingen, 11.10.1994. 414 Aldo Lindhorst: Operettenglückseligkeit? Nein, Krieg, in: Leipziger Volkszeitung, 03.01.2000.

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In der besprochenen Inszenierung wurde das Bühnenbild – zumindest ergibt sich das aus den Beschreibungen innerhalb des Untersuchungsmaterials – im Verlauf der Aufführung sukzessive durch inszenierte Bombeneinschläge zerstört, um den Entstehungszeitraum des Werks – die Uraufführung lag im Zeitraum des ersten Weltkriegs – herauszustellen. Der Kritiker wiederum assoziiert den Überfluss an Bomben mit zeitnäherem Kriegsgeschehen, bezieht sich auf die verschwenderische Haltung in Bezug auf Feuerwerkskörper (die Aufführung fand in zeitlicher Nähe zum Jahreswechsel statt) und parallelisiert diese Verschwendung mit Hungersnöten in der heutigen Zeit. Das Paradigma der ›Sozialkritik‹ im Musiktheater lässt sich nicht auf eine Gattung oder auf die Handschrift einzelner Regisseure zurückführen. Gerade weil die Kritiker*innen, teils auch nur in einem Nebensatz, auf den Mangel der sozialkritischen Komponente verweisen, zeigt sich, wie sehr sich das Paradigma im Diskurs verfestigt hat. Legitimitätserzeugung vollzieht sich offenbar durch das Aufzeigen von gesellschaftlicher Relevanz durch sozialkritische Bezüge, die durch die Komponist*innen und Regisseur*innen vermeintlich oder tatsächlich induziert wurden und durch Rezipient*innen hergestellt oder dekodiert werden. Zahlreiche Opern übten zu ihrer Entstehungszeit Kritik an den jeweiligen gesellschaftlichen Verhältnissen – ein Allgemeinplatz, der sich bei der Betrachtung des Materials sofort als Erklärungsversuch für die Dichte dieses Attributs in den Kritiken aufdrängte. Allerdings – so bemerkt es auch ein Rezensent selbst – stellt sich die Frage nach der Übertragbarkeit der im historischen Werk angelegten ›Sozialkritik‹ oder nach Allusionen an den Zeitgeist, da sie, gewissermaßen aus der Zeit gefallen, für die heutige Gesellschaft womöglich nicht mehr relevant seien.415 Eine weitere Überlegung führt zu intellektuellen Strömungen und Künstler*innen der 1960er und 70er Jahre, die sich mit der Rolle der Kunst und ihrer Möglichkeiten innerhalb der Gesellschaft auseinandersetzten.416 Für die Beschreibung von Kunst als Verhaltensweise und gesellschaftlichem Phänomen ist Adornos Ästhetische Theorie in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine prominente Referenz: »Kunst ist die gesellschaftliche Antithesis zur Gesellschaft, nicht unmittelbar aus dieser zu deduzieren.«417 Nicht »stoffgläubige Sozialästhetik«418 sieht Adorno als gesellschaftlich kritischen Reflex, nicht »bloß Äußerliches, Heteronomes«419 , sondern Material

415

Dieter Schnabel: Operette im Zweiten Kaiserreich, in: Haller Tagblatt, Schwäbisch-Hall, 6.2.1992. 416 Siehe bspw.: Martin Schmid: Kunst als Utopie und Sozialkritik, in: Der Monat, Berlin: November 1968, 20. Jahrgang, Heft 242, Berlin: SFV, S. 37–46. 417 Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie, Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag, 1970, S. 19. 418 Theodor W. Adorno: Philosophie der neuen Musik, Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag 1978, S. 40. 419 Ebd.

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und Struktur des Kunstwerks seien entscheidend. Anhand von Franz Kafkas Werk beschreibt Adorno eben diese Ausdruckskraft der Kunst: »Gesellschaftlich entscheidet an den Kunstwerken, was an Inhalt aus ihren Formstrukturen spricht. Kafka, in dessen Werk der Monopolkapitalismus nur entfernt erscheint, kodifiziert am Abhub der verwalteten Welt getreuer und mächtiger, was den Menschen unterm totalen gesellschaftlichen Bann widerfährt, als Romane über korrupte Industrietrusts.«420 Auf Musik bezogen bedeutet die Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Verhältnissen in erster Linie also eine strukturelle Auseinandersetzung der Komponist*innen mit dem ihnen überlieferten Material und der Form: »Gesellschaftliche Kämpfe, Klassenverhältnisse drücken in der Struktur von Kunstwerken sich ab; die politischen Positionen, die Kunstwerke von sich aus beziehen, sind demgegenüber Epiphänomene, meist zu Lasten der Durchbildung der Kunstwerke und damit am Ende auch ihres gesellschaftlichen Wahrheitsgehalts.«421 Angelehnt an die übergeordnete historisch motivierte Idee gesellschaftskritischer Opernkompositionen in Verbindung mit der Forderung Adornos aus den 1930er Jahren nach einer ›gesellschaftskritischen Kunst‹ erscheint es plausibel, dass sich das Denkmuster bzw. die Legitimationsstrategie der ›Sozialkritik‹ im Diskurs des Musiktheaters verfestigt hat. Die Idee Adornos, die von ›Kunst für ihre Zeit‹ ausgeht, d. h. für die der zeitliche Entstehungskontext eines Werks die Voraussetzung für ›gesellschaftliche Relevanz‹ darstellt, scheint sich von eben diesem Wechselverhältnis der ursprünglichen Bedeutung entkoppelt zu haben und dient nunmehr als Fluchtpunkt, der sich nicht mehr ausschließlich auf die Form, sondern symbolisch auf Kunst allgemein bezieht. Für das historische Repertoire an Opernhäusern steht die Inszenierung als künstlerische Interpretation mit Ausstattung, Bühnenbild und Regie als Substitut für die Form ein. So stellt sich ›Gesellschaftskritik‹, wenn nicht im Werk angelegt und für das heutige Publikum dekodierbar, in der Regel durch die Szene dar. Adorno äußert sich an anderer Stelle sehr deutlich zu den Möglichkeiten der Oper: »Gerade wo die Oper um Identifikation mit jener Realität, um die handfeste Darstellung etwa sogenannter sozialer Probleme sich bemüht […] verfällt sie hilflosem und kitschigem Symbolisieren.«422 Derart direkt gegen gesellschaftskritische Auslegungen bemühen sich gelegentlich auch Kritiker*innen einer solchen Rhetorik: »Gezeigt wurde eine Inszenierung […] erfreulicherweise ohne die üblich gewordenen modernistischen Experimente – 420 Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie, Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag, 1970, S. 342. 421 Ebd., S. 344. 422 Theodor W. Adorno: Bürgerliche Oper, S. 36.

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etwa im Sinne einer Anklage gegen gesellschaftliche Zustände, die das kulinarisch idealisierte Sterben Mimis […] anprangerten.«423 Und in einer anderen Kritik wird beispielsweise positiv bemerkt, dass der Regisseur sich nicht an einer »Pseudo-Sozialkritik«424 versuche. Abgesehen von diesen abwertenden Beschreibungen ›gesellschaftskritischer Salven‹ bzw. einer ›Anklage gegen gesellschaftliche Zustände‹ wird das Narrativ in der Regel mit positiver Konnotation versehen und damit in legitimierender Wirkung eingesetzt. Und auch bei den zuletzt genannten beiden Beispielen dienen die Beschreibungen nur dazu, als ausgespielter Gegensatz zum ›Gefühl‹ bzw. dem ›Kulinarischen‹ oder dem ›Menschlichen‹ genannt zu werden und diese Seite des Werks prominenter erscheinen zu lassen. Etwas milder und reflektiert-distanzierter als die zuvor zitierte ›Pseudo-Sozialkritik‹ schätzt eine andere Kritikerin ihre Interpretation des Musicals Der kleine Horrorladen ein: »Bernd Seidel sucht die Metaebene. In seiner Inszenierung des ›Kleinen Horrorladens‹ […] soll das Musical auch Zivilisationskritik transportieren, erscheint das Kannibalengewächs Audrey 2 als der Ableger einer geschändeten Natur, die zurückschlägt. Aber vielleicht deuteln wir da auch zuviel hinein, denn was es auf der Bühne zu sehen gibt, ist alles andere als hintergründig.«425

3.5 Ein Potpourri der Gegenwart »›La Bohème‹, wie wir sie noch nie gesehen haben – höchst erfrischend! Puccini-Opern mit ihrem fatalen Verismo und ihrer Larmoyanz entzogen sich bisher hartnäckig jeder symbolisierenden Signal- und Zeichensprache. In der Stuttgarter Oper […] wird das schwer Vorstellbare nun Ereignis«426 . Das Bezugssystem der Aktualität als Legitimation integriert ein differenziertes Wissen des Geltungsanspruchs des Musiktheaters und stellt ein Potpourri dar, das unterschiedliche Diskursstränge bedient, die sich mit Werk, Regieleistung und Interpretation der Rezipient*innen befassen. Aktualität dient als Verteidigungshaltung und Gegengewicht zum Vorwurf des Anachronistischen: »Man war von der Inszenierung ergriffen, die eine verstaubte Handlung auch heute interessant macht […].«427 Der Aspekt der Aktualität manifestiert sich dabei nicht ausschließlich durch offensichtliche Bezüge zur Gegenwart, die Legitimationsstrategie zeigt

423 Erich Rappl: Zwei Frauen zauberten Poesie, in: Nordbayerischer Kurier, 27.09.1993. 424 Günter Zschake: Großer Erfolg für Mimi, die aus Lübeck stammt, in: Lübecker Nachrichten, 25.03.1990. 425 Christine Dössel: Überzüchtetes treibt keine Blüten, in: Süddeutsche Zeitung München, 27.07.1994. 426 Christoph Müller: Im Bilderrahmen, in: Haller Tagblatt, 22.10.1991. 427 Jürgen Helfricht: Bravos für Csardasfürstin [sic!], in: Bild Dresden, 16.10.2000.

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sich besonders deutlich, wenn gewissermaßen zusammenhangslos oder assoziativ Aktualität hergestellt, festgestellt, aber nicht weiter kommentiert wird: »Ein aktualisierter Offenbach in Nürnberg«428 lautet etwa die Überschrift einer Kritik. Aber auch eingeflochtene Ausdrücke wie ›postmoderne Glühbirnen-Installation‹, ›postmoderne Instrumentalisierung‹ eines Werks oder dergleichen vermitteln eine Aura der aktuellen Bedeutsamkeit des Musiktheaters.429 Wie unbestimmt und fluid aber die Argumentationen bezüglich der Bewertung von Aktualität oder Sozialkritik sind, kommt nicht nur in der Gesamtschau unterschiedlicher Kritiken zum Vorschein, sondern schlägt sich bisweilen auch in einzelnen Dokumenten nieder. Dabei zeigen sich Argumente, Beobachtungen und Bewertungen, wie bei der folgenden Kritik zu einer Aufführung der La Bohème zu beobachten ist, sehr widersprüchlich. Zunächst heißt es beispielsweise, den Regisseur beschäftige mit seiner Inszenierung der ›Werteverfall‹, obwohl die Oper La Bohème keine ›brisante soziale Anklage‹ sei und dann wiederum sei der Regisseur ›heute üblichen Deutungen‹ nicht aufgesessen und erzähle nur die Geschichte: »Bekanntlich ist diese Oper weder sentimentales Rührstück noch brisante soziale Anklage. Die Aufgabe des Regisseurs Matthias Pohl bestand im Suchen nach dem Weg, der den Niedergang von Werten beschreibt […], so wird die Oper in dem Augenblick zum ›Lehrstück‹ mit brennender Aktualität, wenn sie den Vergleich zum gegenwärtigen Werteverfall assoziiert. Es steckt also weit mehr dahinter, als ein Versenken in die blühende Melodik darstellen kann. […] Allein diese ersten Überlegungen könnten einem Regisseur Ursache sein, heute übliche ›Deutungen‹ einzuführen. Dieser Gefahr ist Matthias Pohl zum Glück nicht erlegen. Und da stellt sich heraus, daß im ›Stück an sich‹ alles drinsteckt, daß eigentlich nur die Geschichte zu erzählen ist.«430 Unabhängig von der Argumentationsstruktur und ihrer immanenten Widersprüchlichkeit bleiben gewisse Signalwörter und metaphorische Beschreibungen assoziative Bezugspunkte für die Oper: Niedergang von Werten und brennende Aktualität sind bereits im Stück, in dem ohnehin ›alles drinsteckt‹, angelegt. In Bezug auf die Widersprüchlichkeit, bzw. zumindest in Bezug auf die Variabilität in der Bewertung, zeigen sich auch folgende zwei Ausschnitte zweier Kritiken desselben Autors aufschlussreich. Während die eine Kritik einen mehr oder weniger neutralen Bericht liefert und der Gesamteindruck der Kritik auf eine gelungene Verknüpfung des Werks mit gegenwärtigen Gegebenheiten hindeutet, so scheint

428 Wolfgang Troyke: Orpheus in der Unterhaltungswelt, in: Bayerische Staatszeitung München, 15.03.1991. 429 Vgl. Günter Scheinpflug: Und alles wird eins, in: Heilbronner Stimme, 22.10.1991. 430 Hans Peter Altmann: Geradlinig und deshalb überzeugend, in: Dresdner Neueste Nachrichten, 27.05.1993.

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der Rezensent die Aktualität im zweiten Ausschnitt weitaus kritischer zu bewerten. Einerseits kokettiere die Inszenierung »mit eingestreuten aktuellen Themen: Merkur kreuzt auf der Bühne mit Skateboard und Flügel-Helm; Höllen-Faktotum Hans Styx singt sein Couplet ›Als ich noch Prinz war von Arkadien‹ mit aufgemotztem Text: Opel-Chef Lopez und die Berlin-Niederlage bei der Olympia-Vergabe werden durch den Kakao gezogen; um aus der politischen Brise ein gediegen Stürmchen zu machen, hält das Volk im Olymp Jupiter Transparente mit Parolen à la ›Finger weg vom Ladenschlussgesetz‹ unter die Nase.«431 Andererseits ist zu lesen: »Um den Text aufzupeppen, finden sich zahlreiche Einschübe moderner Natur (Jupiter sei dank), weitgehend getrennt vom Original-Text. Gern genommene, meist nervtötende neuzeitliche Verquickungen bleiben dem Publikum erspart. Ob’s allerdings nötig war, in der Umbaupause vom dritten zum vierten Bild […] das Couplet ›Als ich noch Prinz von Arkadien war‹ anzureichern mit aktuellen Themen vom Opel-Überläufer Lopez oder der vertanen Chance Berlins, die nächsten olympischen Spiele zu ergattern (zumindest thematisch gab’s hier eine ferne Verwandtschaft) – das bleibt Geschmackssache.«432

4. Akteure »Das ›Opernpublikum‹ ist ja auch ein Kapitel für sich selbst. Ich will damit sagen, die Oper ist mit einem muffigen Schrank zu vergleichen.«433 Die Musiktheaterkritik als Textgattung richtet sich stets auf die Bewertung der künstlerischen Leistung der ausführenden Musiker, der inszenierenden Regisseure oder des Ausstattungsteams. So gelingt etwa einem spezifischen Dirigenten »manches Schöne […] im Bereich der Übergänge und der […] Rezitative«, ein bestimmter Sänger »ist ein sehr kraftvoller, nur in den Verzierungen nicht immer sicherer« Darsteller oder es wird die »Mezzo-Tiefe« einer Sängerin wohlwollend 431

Manfred Merz: Auf dem Skateboard durch die Unterwelt, in: Frankfurter Neue Presse, 28.10.1993. 432 Manfred Merz: Pluto als Macho, Merkur als Skateboard-Fahrer, in: Wetterauer Zeitung, 28.10.1993. 433 Pierre Boulez im Interview: »Sprengt die Opernhäuser in die Luft!«. SPIEGEL-Gespräch mit dem französischen Komponisten und Dirigenten Pierre Boulez, in: Der Spiegel, 40/1967, S. 166–174.

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mit den Adjektiven ›weich‹ und ›gut verankert‹ beschrieben.434 In nahezu jeder untersuchten Kritik wird sowohl die Interpretation der beteiligten Sänger und des Orchesters kommentiert als auch das Konzept der Inszenierung und der Ausstattung zusammengefasst und anhand einzelner Regieeinfälle des Regisseurs durch den Rezensenten begutachtet. Eine Auseinandersetzung mit der Leistung der beteiligten Künstler und die damit einhergehende Bewertung der künstlerischen Qualität des Dargebotenen als Legitimationsstrategie liegen der zeitgenössischen Musiktheaterkritik somit genuin zugrunde. Darüber hinaus finden wiederholt auch weitere Akteure Berücksichtigung in den Kritiken: Bemerkenswert ist der regelmäßige Rekurs auf das Publikum mit Beschreibungen seiner Reaktionen und seiner Beschaffenheit,435 da es dadurch einerseits als integraler Bestandteil einer Aufführung anerkannt wird und andererseits vom Kritiker gewissermaßen für seine Bewertung der Darbietung instrumentalisiert wird. Dabei reichen die Darstellungen von allgemeinen Aussagen zum Kollektiv der Zuschauer über die Wiedergabe der Meinung einzelner Musiktheaterbesucher bis hin zu abgedruckten Zitaten von Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens oder von Experten. Nicht nur die Leistung der Künstler auf der Bühne, sondern auch die Wirkung auf das Publikum und dessen Verhaltensweise im Zuschauerraum werden demnach durch die Rezensenten herangezogen, um ein Ereignis zu beschreiben, aber auch um Wertungen vorzunehmen und diese plakativ zu stützen.

4.1 Das Publikum »Die Menschen gehen ins Theater, um mitgerissen, gebannt, beeindruckt, erhoben, entsetzt, ergriffen, gespannt, befreit, zerstreut, erlöst, in Schwung gebracht, aus ihrer eigenen Zeit entführt, mit Illusionen versehen zu werden.«436 Wer die Menschen sind und ob die von Brecht angeführten Beweggründe für den Gang ins Theater

434 Benda, Susanne: Götter ohne Himmel, Engel mit Fahrrad. Hans Neuenfels’ und Lothar Zagroseks ,Idomeneo‘ an der Deutschen Oper in Berlin, Stuttgarter Nachrichten 15.3.2003. 435 Es soll hier nicht der Eindruck erweckt werden, dass die Beschreibung des Publikums und anderer Akteure ein Alleinstellungsmerkmal der Musiktheaterkritik des vorliegenden Untersuchungszeitraums wäre. Bereits zur Anfangszeit der musikalischen Fachpresse in Deutschland wurde auch über das Publikum berichtet: »Erwähnenswert ist außerdem, daß der Patriot die erste, aber in der Folge nicht die einzige deutsche moralische Wochenschrift blieb, welche die Oper hauptsächlich nach dem Verhalten des Publikums, dann aber auch ihrer Einrichtungen, die Dekoration, die Akteurs, die Täntze [sic!] usw. in den engeren Kreis ihrer Betrachtung zieht.« – Kurt Dolinski: Die Anfänge der musikalischen Fachpresse in Deutschland. Geschichtliche Grundlagen, Berlin: Hermann Schmidt’s Buch- und Kunstdruckerei, S. 55. [Tag der Promotion: 16. Januar 1940; Tag der Prüfung: 16. Dezember 1937]. 436 Bertolt Brecht: Über das experimentelle Theater, in: Schriften, Berlin: Aufbau-Verlag, 1981, S. 263–284, hier S. 279.

III Legitimationsstrategien im Diskurs um das Musiktheater

denen der Theaterbesucher tatsächlich entsprechen, darüber ist wenig bekannt.437 In den jährlich erscheinenden Werkstatistiken des Deutschen Bühnenvereins werden zwar unter anderem auch die Besucherzahlen der privaten und öffentlichen Theater in Deutschland als quantitative Größe berücksichtigt, um etwa über die Anzahl der verkauften Sitzplätze Rückschlüsse auf die Auslastung einer einzelnen Aufführung ziehen zu können oder um über die Summe der jährlichen Besucher eines Werks eine Bestenliste der meistbesuchten Opern oder Musicals im deutschsprachigen Raum zu erstellen;438 in den Werkstatistiken werden allerdings weder Aussagen zur Häufigkeit eines Opernbesuchs (die absolute Zahl der besuchten Vorstellungen entspricht nicht zwangsläufig auch der absoluten Zahl der Besucher) noch zur sozialen bzw. qualitativen Struktur des Publikums getroffen. Über die qualitative Struktur des Musiktheaterpublikums gibt es nur wenige Informationen, was auf den ersten Blick an der Vielzahl unterschiedlicher Erscheinungsformen der jeweiligen Gattungen liegt. Intuitiv lässt eine Opernaufführung im Vergleich zu einer Musicaldarbietung eine stark divergierende Publikumsstruktur erwarten. Nolte et al. stellen zwar Unterschiede zwischen den zwei exemplarisch gewählten Beispielen fest – sie vergleichen in ihrer Studie die Publikumsstruktur von La Traviata mit Evita am Staatstheater Bremen –, die Differenzen sind aber nicht herausragend, was möglicherweise auf die identische Spielstätte und damit auf einen ähnlichen Adressatenkreis des Publikums zurückzuführen ist. Bedenkt man, dass sich Opernstoffe und ihre szenischen sowie ästhetischen Umsetzungen teilweise sehr stark voneinander unterscheiden, dass selbst innerhalb der einzelnen Gattungen kein homogenes Publikum zu erwarten ist und die Übergänge zwischen den Gattungen fließend sind, so ist nachvollziehbar, dass allgemeine gattungsspezifische Aussagen zum Publikum kaum möglich und vor allen Dingen auch nicht sinnvoll sind. Beispielsweise werden Stücke, welche in der gängigen enzyklopädischen Literatur etwa dem Musical zugerechnet werden, in die Spielpläne von Opernhäusern integriert (zum Bei-

437 Einen Überblick über die Forschung zum Kulturpublikum mit Berücksichtigung der Musikund Theaterpublika findet sich im ›Handbuch Kulturpublikum‹ (Patrick Glogner-Pilz und Patrick S. Föhl (Hg.): Handbuch Kulturpublikum. Forschungsfragen und -befunde, Wiesbaden: Springer 2016). – In historischer Perspektivierung ist folgender rezenter Beitrag erwähnenswert, der sich mit dem Wandel des Publikums von Musik(theater) auseinandersetzt. Der Autor geht der Frage nach, wie und warum sich das Verhalten des Publikums in Paris im Zeitraum von ca. 1750 bis 1850 geändert hat. – James H. Johnson: Listening in Paris, A Cultural History, 1995, Berkeley and Los Angeles: University of California Press. 438 Beispielsweise kann der Werkstatistik für die Spielzeit 1997/98 entnommen werden, dass das Musical Starlight Express als Werk mit den meisten Zuschauern in Erscheinung tritt. Für die Gattung Oper nimmt Die Zauberflöte von Wolfgang Amadeus Mozart mit 434494 Besuchern den ersten Platz als meistbesuchte Oper ein (Deutscher Bühnenverein – Bundesverband Deutscher Theater: Wer spielte was? 1997/98. Werkstatistik, Bensheim: Mykenae Verlag, S. 23 und S. 69).

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spiel Alan Menkens Der kleine Horrorladen oder Andrew Lloyd Webbers Evita). Stücke, die in der Literatur unter die Kategorie ›Oper‹ subsumiert werden, werden wiederum aus dem klassischen Veranstaltungsort des Opernhauses herausgelöst und auf alternativen Bühnen – auch auf genuinen Musicalbühnen – gespielt. Die meisten Studien differenzieren zwischen den Gattungen und nehmen für die Analyse der Publikumsstruktur von Opern und Musicals punktuelle Besucherbefragungen einzelner Aufführungen vor. Die Ergebnisse geben ausschnittsweise Aufschluss über demographische Parameter der Besucher, wie Alter, Geschlecht oder Bildungsgrad, oder – gestützt auf individuelle Angaben der Zuschauer – auch die Frequenz der Opern- oder Musicalbesuche.439 Der Soziologe Karl-Heinz Reuband etwa forscht regelmäßig zur Besucherstruktur der Theater und Opern in Deutschland und konnte unter anderem einen Trend des ›Alterns‹ des Opernpublikums auf Grundlage der Beobachtung eines Zeitraums von ca. 50 Jahren nachweisen. In seinen Untersuchungen stellte er den Trend fest, dass sich jüngeres Publikum immer weniger für Opern interessiert, älteres Publikum sich hingegen vermehrt der Oper zuwendet.440 Im Zusammenhang mit dem Parameter der Bildung bemerkt Reuband eine Dominanz gymnasial gebildeter Personen bei den Opernbesuchern und stellt fest: »Man könnte hier gar geneigt sein, – in Anlehnung an Pierre Bourdieu (1982) – im Opernbesuch eine Art Distinktionsmechanismus der höheren sozialen Schichten zu sehen, mit dessen Hilfe sie sich gegenüber den unteren sozialen Schichten abgrenzen.«441 Seine Studien setzen sich zwar differenziert mit Besucherzahlen auseinander, geben aber über das in seinem Fall einleuchtende Beispiel der Distinktion hinaus über die Beweggründe eines Opernbesuchs und Werte des Publikums keinen Aufschluss. Die Tatsache, dass Nolte et al. wiederum zwischen Opernpublikum und Musicalpublikum keine wesentlichen Differenzen im Bildungsstand feststellen, zeigt deutlich, dass die Beschreibung des Publikums von weiteren Faktoren als nur generischen abhängig sein muss. Das Argument der Distinktion, welches Reuband anhand des Bildungsstands herleitet, ließe sich bei den Ergebnissen von Nolte et al. somit nicht halten. Winfried Gebhardt und Arnold

439 Nolte et al. verweisen beispielsweise neben ihrer eigenen Erhebung durch Publikumsbefragungen auf Erhebungen das statistischen Landesamtes Bremen. – Nolte et al.: Opernpublikum – Musicalpublikum. Eine Studie zur Soziologie des Musiktheaters, Bremen 2001: http:/ /elib.suub.uni-bremen.de/edocs/00101657-1.pdf (zuletzt aufgerufen am 3.12.2015). 440 Karl-Heinz Reuband: Der Besuch von Theatern und Opern in der Bundesrepublik. Verbreitung, Trends und paradoxe Altersbeziehungen, in: Kulturpolitische Gesellschaft, Hg., Jahrbuch für Kulturpolitik 2014. Thema: Neue Kulturförderung. Essen: Klartext Verlag 2015, S. 359–374, hier S. 372f. 441 Karl-Heinz Reuband: Opernbesuch als Teilhabe an der Hochkultur: Vergleichende Bevölkerungsumfragen in Hamburg, Düsseldorf und Dresden zum Sozialprofil der Besucher und Nichtbesucher, in: W. Heinrichs und A. Klein (Hg.): Deutsches Jahrbuch für Kulturmanagement 2001, Baden-Baden: Nomos, S. 42–55, hier S. 52.

III Legitimationsstrategien im Diskurs um das Musiktheater

Zingerle konzentrieren sich in ihrer Untersuchung »Pilgerfahrt ins Ich« auf das Publikum der Bayreuther Festspiele und stellen durch ihre ausführliche Analyse fest, dass Motive, Erwartungen, ästhetische Standards sowie darauf beruhende Urteile des Publikums trotz seiner sozialen und demographischen Homogenität sehr heterogen sind.442 Die Ergebnisse der Studie zeigen, dass das – zumindest in Bezug auf einen Spielort homogen geglaubte – Kollektiv des Publikums sich aus Individuen mit sehr unterschiedlichen, teilweise sogar diametralen Haltungen zusammensetzt. Diese Beobachtung, gepaart mit den Ergebnissen der vorab zitierten Studien, zeigt deutlich, dass die Zusammensetzung und Qualität des Publikums von multikausalen Interdependenzen abhängig ist und dass die Reduktion auf einzelne Parameter immer eine Schräglage provoziert. Gerade weil das Publikum in vielerlei Hinsicht eine abstrakte Größe darstellt und eine systematische Typologie der Musiktheaterbesucher nach demographischen Gesichtspunkten oder nach der Motivation des Theaterbesuchs immer nur in Ausschnitten möglich ist, erstaunt es, dass das Publikum auf der Ebene der Beschreibung und Bewertung einzelner Vorstellungen regelmäßig thematisierter Gegenstand durch den Rezensenten bzw. die Rezensentin in der Musiktheaterkritik ist: So äußern sich Kritiker häufig über die im Zusammenhang mit einer Vorstellung stehenden Reaktionen des Publikums. Auch die Beschreibung der Auslastung des Theaters hat eine für den Rezensenten in seinem Urteil über die betrachtete Aufführung bestärkende Funktion. Die Heterogenität der Motivation eines Musiktheaterbesuchs der Zuschauer, wie sie Gebhardt und Zingerle nachweisen, lässt vermuten, dass die Reaktionen des Publikums ebenfalls heterogen sind.443 Die Vermutung ist jedoch nur bedingt richtig, da in den Kritiken allenfalls bei einer sogenannten ›umstrittenen‹ Aufführung von divergierenden Reaktionen berichtet wird. In diesem Zusammenhang ist äußerst bemerkenswert, dass die Kategorie des Publikums, ganz unabhängig von seinen qualitativen Eigenschaften und Reaktionen, symbolisch stets für eine gelungene Musiktheateraufführung steht und im Legitimationsdiskurs einen Nexus darstellt, von dem aus sich unterschiedliche Diskursstränge entfalten. Das Publikum erhält, durch seine Reaktionen oder als

442 W. Gebhardt, A. Zingerle: Pilgerfahrt ins Ich. Die Bayreuther Richard-Wagner-Festspiele und ihr Publikum. Eine kultursoziologische Studie, Konstanz: Universitätsverlag Konstanz (UVK), 1998 [= Passagen 6 Transzendenzen. Studien zur materialen Religions- und Kultursoziologie, hg. von Michael N. Ebertz, Band 5]. 443 Zwar beschäftigen sich Gebhardt und Zingerle mit dem Publikum der Bayreuther Festspiele, was zunächst einen Spezialfall des Musiktheaters darstellen mag. Wenn nun aber schon bei den Bayreuther Festspielen, bei denen man ein homogenes Publikum erwarten würde, ein solches nicht vorzufinden ist, so ist die Vermutung plausibel, dass die Ergebnisse auch für Publika weniger spezialisierter Veranstaltungsorte, d. h. beispielsweise auf Publika in Opernhäusern, übertragbar sind.

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quantitative Größe, unmittelbaren Eingang in die Bewertung der besprochenen Darbietung. Die folgenden drei Unterkapitel rücken das Publikum als Kollektiv in den Fokus. Im Ergebnis ist besonders bemerkenswert, dass die in den Kritiken angeführten Publikumsreaktionen – unabhängig davon wie sie ausfallen – allesamt zur Legitimation des Musiktheaters instrumentalisiert werden. Als Zeichen einer extremen Publikumsreaktion fungiert auch der Topos des Skandals als Legitimationsstrategie, obwohl die Kategorie und Merkmale des Skandals im Diskurs durchaus polyvalent verwendet werden. Darüber hinaus stellt das Publikum auch als statistische Größe eine Legitimationsstrategie dar.

4.1.1 Publikumsreaktionen als Projektionsfläche disparater Legitimationsfiguren »Viel Beifall belohnte am Ende alle Mitwirkenden«444 und es »flogen Blumensträuße«445 – die uneingeschränkte Zustimmung des Publikums in Bezug auf eine Musiktheateraufführung lässt sich durch die Beschreibung des Beifalls in den Kritiken messen. Applaus ist bei künstlerischen Darbietungen affirmativer Ausdruck dafür, dass dem Publikum die Vorstellung gefallen hat. Der deskriptiven Ausdifferenzierung des Beifalls in den Kritiken durch unterschiedliche Adjektive sind dabei kaum Grenzen gesetzt: Das Spektrum reicht von »starkem Beifall«446 über »Ensemble [gelangte] in den Genuß rauschenden Beifalls […]«447 , »Szenenapplaus«448 für ausgewählte Darsteller bis hin zu »frenetischem«449 oder »orkanartigem«450 Applaus am Ende einer Vorstellung. Auch die Beschreibung von über den Beifall hinausgehenden affirmativen Praktiken, etwa bestätigendes Pfeifen, kurze jubelnde Ausrufe oder Standing Ovations, stellen die Begeisterung des Publikums dar und verstärken die bereits durch Applaus ausgedrückte Zustimmung. Im Zusammenhang mit einer Kritik zu Starlight Express wird die Begeisterung des Publikums beispielsweise wie folgt ausgeführt: »Mit kaum enden wollendem Beifall und Standing Ovations

444 Barbara Schwarz: Wieder geöffnet: Der kleine Horrorladen, in: Wilhelmshavener Zeitung, 05.10.1998. 445 Karla Langehein: ›Idomeneo‹: Am Ende flogen die Blumensträuße, in: Schaumburg-Lippische Landeszeitung, 30.06.1989. 446 Albrecht Schmidt: Vom Amüsement zur Katastrophe, in: Darmstädter Echo, 4.6.1996. 447 Hubertus Heiser: Grusel-Story im Horrorladen um menschenfressende Blut-Primel, in: Westfalenpost Hagen, 18.5.1990. 448 Ralph Schipke: Da fehlt der ›Grüne Daumen‹, in: Nordkurier Neubrandenburg, 26.09.1994. 449 Dagmar Rockel: Ein Kulturereignis an der Reeperbahn, in: Harburger Anzeigen und Nachrichten, 03.02.1990. 450 Marlott Persijn-Vauz: Zum Fürchten gruselig! Josef Köpplinger inszeniert das Musical ›Der kleine Horrorladen‹ in Kaiserslautern, in: Die Rheinpfalz, 07.03.1994.

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dankten die Besucher in der ausverkauften Halle den Darstellern, den guten Musikern des Orchesters und natürlich … den Technikern.«451 Gleichermaßen bei ausgewählten Aufführungen des Musicals Der kleine Horrorladen dankt das Publikum den Ausführenden mit Standing Ovations.452 Der Rekurs auf die begeisterten Reaktionen des Publikums soll nicht nur die rezensierte Aufführung als gelungen und somit positiv bewerten, sondern er erfüllt ebenso den Zweck, das Interesse potentieller Zuschauer zu wecken: Applaus und Standing Ovations sind kulturelle Praktiken, die mittelbar den Eindruck erwecken, ein bemerkenswertes Ereignis verpasst zu haben. Unmittelbar hat Applaus aber auch eine sich selbst bestätigende Funktion: Je stärker die Ovationen, die man als Teil des Publikums auch selbst beeinflussen kann, desto stärker die eigene Affirmation, einem besonderen Erlebnis beigewohnt zu haben. Dass Applaus als kulturelle Praktik einen hohen Stellenwert in der Außenwirkung hat, wird beispielsweise durch die Wiedergabe des Beifalls einer Produktion an der Oper Bonn auf der Internetplattform ›soundcloud‹ zum Nachhören deutlich.453 Den Applaus einer Aufführung im Nachhinein auditiv erfahren zu können, bietet den Besuchern die Möglichkeit, das vergangene Erlebnis wieder in Erinnerung zu rufen. Die Aufnahme dient dem Opernhaus darüber hinaus auch als auditiv erfahrbare Werbung, die sich durch Unmittelbarkeit in der Perzeption auszeichnet. Die Bedeutung von Applaus wird bei dieser Aufnahme besonders deutlich, denn ihm wird exklusiv eine Spieldauer von nahezu acht Minuten eingeräumt, während Auszüge aus dem zugehörigen Stück in der Aufnahme überhaupt nicht vorgestellt werden. In den Kritiken wird der affirmative Publikumsapplaus ebenfalls genutzt, um eine positive Einschätzung des Gesamterlebnisses zu illustrieren. Lediglich in einer einzigen Kritik des untersuchten Korpus schließt sich der Rezensent in seiner Begutachtung der Aufführung nicht den positiven Reaktionen des Publikums an, sondern resümiert: »Der Fakt, daß sich einige bekennende Floristen und Blumenfreunde im Saal zu Szenenapplaus und maßlos-andauernden Schlußovationen hinreißen ließen, wertet diesen Premierenabend leider nicht mehr auf.«454 Diese negative Ein-

451 O. A.: ,Starlight Express‘ auf Rollschuhen ohne Tempolimit, in: Siegener Zeitung, 23.7.1988. 452 Carola Kunst: »Füttere keine Pflanzen!«, in: Harburger Anzeigen und Nachrichten, 22.09.1988 oder auch Sigrid Schuer: Wildwuchernde fleischfressende Pflanze, in: Weser Kurier, 13.10.2007. 453 Auf soundcloud kann man den Beifall an der Oper Bonn für Evita nachhören: https://sound cloud.com/user-533026670/evita-premiere-applaus, zuletzt aufgerufen am 29.09.2017. – Im konkreten Fall handelt es sich um Applaus nach einem Musical. Da dieses in der Oper aufgeführt wurde, wird die Publikumsbegeisterung unmittelbar auch der Oper als Institution zugeschrieben. Das Zurverfügungstellen einer Applaus-Aufnahme kann ebenso als Strategie der Legitimation bewertet werden. 454 Ralph Schipke: Da fehlt der ›Grüne Daumen‹, in: Nordkurier Neubrandenburg, 26.09.1994.

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schätzung trotz deutlicher positiver Reaktionen der Zuschauer stellt für das Korpus allerdings eine absolute Ausnahme dar. Der Ausdruck des ausnahmslosen Nichtgefallens einer Darbietung durch das Publikum, beispielsweise durch ausbleibenden oder nur kurzen Beifall oder gar Zeugnisse von Indifferenz durch stoische Reaktionslosigkeit des Publikums sind in den Kritiken nicht zu finden, was einerseits daran liegen mag, dass solche Parameter nur schwierig messbar sind und Applaus am Ende einer Aufführung ohnehin eine selbstverständliche internalisierte kulturelle Praktik im Repertoire der Publikumsreaktionen darstellt. Andererseits ist die Dichte pauschal-negativer Kritiken ohnehin nicht groß. Dem Nichtgefallen einer Aufführung oder vielmehr eines integralen Bestandteils der Vorstellung, etwa der Inszenierung, Ausstattung oder der musikalischen Interpretation, wird allenfalls durch punktuelle verbale Äußerungen (»Aufhören!«, »Vorhang!«, »Buh!«) oder durch das Verlassen des Zuschauersaals Ausdruck verliehen. Bisweilen ist in einigen wenigen Kritiken auch von einem enttäuschten und verärgerten Publikum die Rede.455 Es ist jedoch besonders bemerkenswert, dass negative Publikumsreaktionen, also die Illustration des ›Nichtgefallens‹ einer Aufführung, weniger für eine tatsächliche negative Bewertung stehen, als vielmehr dem Zweck dienen, eine ›gute‹ Aufführung zu charakterisieren. Dies geht so weit, dass Applaus ohne abwertende Zwischenrufe aus dem Zuschauerraum bisweilen gar kein positives Bewertungskriterium mehr darstellt. Unter den wenigen negativen Kritiken findet sich beispielsweise der Passus: Die »Inszenierung reichte nicht einmal für ein anständiges Buh-Gewitter.«456 Es wird hier besonders deutlich, dass ›Buh-Rufe‹ und ähnliche abwertende Reaktionen für eine ›gute‹ Vorstellung vorausgesetzt werden und diese paradoxerweise dadurch eher aufgewertet wird. Das zu erwartende Kontinuum von ablehnender Haltung bis hin zu emphatischer Begeisterung durch das Publikum als Reaktion auf eine Musiktheateraufführung weist quantitativ eine deutliche Schräglage zugunsten der affirmativen Publikumsreaktionen auf, die auch durch die Rezensenten als solche zu Gunsten einer ›gelungenen‹ Aufführung angeführt werden. Ungeachtet dieser Beobachtung gibt es neben den diametralen Kategorien ›begeistert‹ und ›ablehnend‹ an den jeweiligen Peripherien eine verbindende dritte Kategorie in den Kritiken, die als ›umstritten‹ charakterisiert wird und keine klare Beschreibung der Positionierung bzw. der Haltung des Publikums zulässt. ›Umstritten‹ zeichnet sich gerade durch die widersprüchlichen Reaktionen etwa zwischen Bravo- und Buh-Rufen aus. Die Differenz in der Wahrnehmung des Publikums ein und derselben Veranstaltung dient dem

455 Lorenz Tomerius: Die Komtesse Staatssicherheit. Premiere mit Trillerpfeifen: Peter Konwitschny löst mit Kálmáns ,Cscárdasfürstin‘ [sic] an der Semperoper Dresden einen Skandal aus, in: Berliner Morgenpost, 31.12.1999. 456 Peter Korfmacher: Liebesbekümmerter Teenager, in: Leipziger Volkszeitung, 29.01.1998.

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Rezensenten bei der Bewertung wiederum als positives Indiz für eine gelungene Aufführung: Im Zusammenhang mit der Erstaufführung der Komposition Das Mädchen mit den Schwefelhölzern. Eine Musik mit Bildern von Helmut Lachenmann verweist der Rezensent explizit auf den positiven Effekt der störenden Irritation des Publikums durch eine Oper: »Gut ist, daß über Oper gestritten wird, daß Musiktheater den routinierten Kulturbetrieb aufstört.«457 Auch wenn diese Äußerung sich ganz allgemein auf die Oper als Gattung bzw. auf das Musiktheater als Kunstform bezieht, so stehen strittige Reaktionen des Publikums häufig im Zusammenhang mit der Arbeit der Regisseure. Explizit zitierte Zwischenrufe einzelner Besucher verleihen der ablehnenden Haltung des Publikums deutliches Gewicht: »›Pfui!‹ und ›Nein, Herr Neuenfels!‹ erscholl es […] zum Auftakt einer Buh- und Bravo-Schlacht«458 , schreibt etwa ein Rezensent. Dennoch – oder gerade wegen dieser Reaktion – war es ein »großer Abend mit Mozarts ›Idomeneo‹ an der Deutschen Oper Berlin […] – vom Publikum mit Bravo-Begeisterung und Buh-Tadel fürs Regieteam leidenschaftlich widerspruchsvoll aufgenommen.«459 Passionierter Protest steht stellvertretend für eine gelungene Aufführung. Grundsätzlich spiegelt ein wohlwollendes und begeistertes Publikum innerhalb der Kritiken unabhängig von Musiktheaterform, Aufführungsort und Inszenierungsstil eine ›gute‹ und ›gelungene‹ Aufführung wider.460 Die Unterschiede zwischen einzelnen Musiktheaterformen, Aufführungsorten und Inszenierungsstilen werden besonders hinsichtlich der ablehnenden bzw. umstrittenen Publikumsreaktion sichtbar, die sich nahezu ausschließlich auf die Inszenierungsästhetik einiger Regisseure des ›Regietheaters‹461 und – im Falle von Neukompositionen – verstärkt auch auf die Kompositionsästhetik zeitgenössischer Komponisten bezieht. Die beschriebenen drei Kategorien der Publikumsreaktionen werden je nach Aufführungs- und Inszenierungskontext wirksam, zielen aber alle – trotz der disparaten Strategien – auf eine positiv konnotierte Bewertung der jeweiligen Aufführung ab.

457 Mathias Döpfner: Zum Streit um eine moderne Oper. Rechte Gesinnung?, in: Hamburger Morgenpost, 03.02.1997. 458 Lorenz Tomerius: Ein großer Wurf mit durchdachtem Konzept, Märkische Oderzeitung, 15.03.2003. 459 Ebd. 460 Solange es sich nicht um einen Regisseur handelt, dessen Image das eines ›enfant terrible‹ ist oder es sich nicht um einen Komponisten handelt, der einer ›radikalen‹ Kompositionsästhetik zugerechnet wird, die ohnehin auf Ablehnung stößt, ist Publikumsbeliebtheit ein positives Kriterium. Hier können alle durchgesehenen Referenzereignisse mit repräsentativen Beispielen kumulativ zitiert werden. 461 ›Regietheater‹ steht hier in einfachen An- und Abführungszeichen, um die Distanz der Verfasserin zu diesem im Musiktheater pejorativ verwendeten Begriff zu verdeutlichen. – Zu ›Regietheater‹ als ›Schimpfwort‹ siehe beispielsweise Gerhard Stadelmaier: Regisseurstheater. Auf den Bühnen des Zeitgeistes, Springe: zu Klampen Verlag, 2016, insbesondere S. 83ff.

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Die jeweilige Publikumsreaktion wird demnach ungeachtet ihrer Qualität für die in den meisten Fällen positive und damit legitimierende Bewertung der besprochenen Aufführung instrumentalisiert, was besonders bei negativen oder umstrittenen Reaktionen überrascht. Der Rekurs auf negative Publikumsreaktionen als Qualitätsmerkmal für eine Musiktheateraufführung knüpft an ein Narrativ der musikalischen Moderne an, in dem erinnerungswürdige Meisterwerke der Musik oder des Musiktheaters als zur Entstehungszeit heftig umstrittene und ausgebuhte Ereignisse dargestellt werden, die dann erst im Laufe der Zeit als bemerkenswerte Werke in den musikgeschichtlichen Kanon aufgenommen wurden.462 Im Zusammenhang mit der Beschreibung der Opern des Komponisten Hans Werner Henze im Spiegel der Musikkritik führt Deborah Hochgesang im Rahmen ihrer Studie den Ausdruck ›Sacre-Trugschluß‹ ein, der – in Anlehnung an die überlieferte Schlägerei im Publikum der Uraufführung von Igor Strawinskys Ballett Sacre du Printemps im Jahr 1913 – das Verhältnis von Publikumsreaktion und Anerkennung als Schlüssel- bzw. Meisterwerk durch Experten beschreiben soll.463 Für den ›Sacre-Trugschluß‹, der vom beschriebenen Narrativ eines vom Publikum abgelehnten Werks als Meisterwerk ausgeht, gilt die logisch falsche Folgerung, dass ein vom Publikum wohlwollend aufgenommenes Werk deshalb kein Meisterwerk sein könne. Hochgesang bezieht sich bei ihren Überlegungen

462 Dieses Narrativ bezieht sich selbstverständlich nicht exklusiv auf Werke der Musik. Max Epstein bemerkt etwa im Kapitel ›Theater und Presse‹ seiner 1911 erschienenen Publikation Das Theater als Geschäft: »Das aber wissen wir alle, dass grosse Werke und grosse Künstler, die Werte von bleibender Dauer geschaffen haben, oft von der Theaterkritik verkannt worden sind.« – Max Epstein: Das Theater als Geschäft, Berlin: Fannei & Walz Verlag, 1996, S. 101. 463 Deborah Hochgesang: Die Opern von Hans Werner Henze im Spiegel der deutschsprachigen zeitgenössischen Musikkritik bis 1966, Trier: WVT Wissenschaftlicher Verlag Trier, 1995, S. 47. – Hochgesangs Überlegungen zur Haltung des Publikums beziehen sich explizit auf Henze und die Einschätzung seiner Musik durch Kritiker seiner Zeit. Hochgesang suggeriert in ihrer Studie, dass die Kritiker bei positiven Publikumsreaktionen und einem damit verbundenen Urteil über das gehörte Werk als nicht meisterwerkwürdig in ihrer Einschätzung irren. Der beschriebene ›Sacre-Trugschluss‹ soll sozusagen die fehlende Anerkennung für Henzes Werke mit positiver Publikumsresonanz heilen. Am Ende der Studie untersucht Hochgesang, ob die Kritiker den Erwartungen Henzes entsprechen. Sie begeht damit den Fehler, der häufig in der Forschung zur Neuen Musik unterläuft: Komponisten der Neuen Musik tendieren zu einer erhöhten Dichte an Kommentaren und Erläuterungen zum eigenen Werk, welche häufig als Sammelband publiziert werden. Diese Publikationen zeichnen sich durch theoretische Reflexionen oder beispielsweise durch Erklärungen zu Relationen der eigenen Komponistenpersönlichkeit zur Musikgeschichte aus und verkörpern unter konservativen Anschauungen ähnlich wie Urtexte der Kompositionen autoritäre Pamphlete zu Eigeninterpretationen der Komponist*innen. Dass diese Texte maßgeblich der Selbstinszenierung des Komponisten in einem bestimmten Kreis dienen, wird verkannt.

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auf Hans Heinz Stuckenschmidt, der in seinem Aufsatz von 1955 »Musik gegen jedermann« versucht, die Korrelation zwischen Meisterwerk und Ablehnung herzuleiten und Strawinskys Sacre du Printemps als Beispiel anführt: »Gewisse Erfahrungen der Kulturgeschichte zeigen, daß Abstoßung verhältnismäßig oft von sehr bedeutenden künstlerischen Schöpfungen ausgeübt wird. Es scheint, daß bei den Uraufführungen von Schönbergs Pierrot Lunaire und Strawinskys Sacre du Printemps niemand indifferent blieb, wenige sich angezogen, viele abgestoßen fühlten. Der Schreck ist häufig das Seismographenzeichen für Begegnungen mit Kunstwerken, die die Welt erschüttern.«464 Der von Hochgesang eingeführte ›Sacre-Trugschluss‹ steht symptomatisch für das Narrativ der musikalischen Moderne, welches sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts vor allem durch die Aufgabe der Tonalität formierte.465 Dieser Bruch ging im Kreis der Neuen Musik mit einer Entfremdung der Bühne vom Publikum einher und etablierte Kunst als etwas, das nur einem kleinen Kreis ›anspruchsvoller Kenner‹ zugänglich blieb. Paradigmatisch hierfür steht Schönbergs häufig zitierter Ausspruch: »Wenn es Kunst ist, dann ist es nicht für die Menge. Wenn es für die Menge ist, dann ist es nicht Kunst«466 . Dieses Motiv der musikalischen Moderne macht sich auch Stuckenschmidt in seinem Aufsatz zu eigen und positioniert sich explizit gegen gewinnorientierte ›schlechte Operetten‹, die den Massengeschmack befriedigen: »Das demokratische Ideal, musikalisch die Millionen zu umschlingen, geht neuerdings verdächtig Hand in Hand mit dem gewinnsüchtigen, Millionen einzuheimsen. Aber das Beispiel schlechter Operetten und Schlagerlieder zeigt, daß es nicht ehrenvoll ist, der Masse zu gefallen. Ehrenvoll ist vielmehr, im Kreise an-

464 H. H. Stuckenschmidt (1955): Musik gegen jedermann, in: Melos, Zeitschrift für Neue Musik, Heft 9, 22. Jahr, S. 245–248, hier S. 248. 465 Das hier beschriebene Narrativ wurde im Sinne der Genieästhetik von Komponisten der Neuen Musik und auch den zeitgenössischen Kritikern besonders gepflegt, geht aber im Prinzip bereits auf dessen Entstehung um 1800 zurück. So schrieb beispielsweise Johann Gottfried Herder: »Der wahre Künstler arbeitet daher nicht für den gemeinen Geschmack, ist auf das Urtheil des Pöbels nie stolz; das Lob des Narren beschämt ihn, und der Beifall, die Aufmunterung Eines Kenners gilt ihm statt Vieler, statt Aller.« – Herder 1800: Kalligone. Von Kunst und Kunstrichterei. 2. Teil, in: Ders.: Sämtliche Werke, Bd. 22, Hildesheim 1967, S. 152. 466 Arnold Schönberg: Ausgewählte Briefe, hg. von Erwin Stein, Schott’s Söhne: Mainz 1958, S. 248. – Zur Kunstanschauung der Moderne und Arnold Schönberg siehe auch Bodil von Thülen (1996): Arnold Schönberg: Eine Kunstanschauung der Moderne, Würzburg: Königshausen & Neumann [= Epistemata. Würzburger wissenschaftliche Schriften, Reihe Philosophie, Bd. 196].

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spruchsvoller Kenner geschätzt zu werden; und der ist notwendigerweise eng gezogen.«467 Auch wenn Hochgesang keine konkreten Kritiken nennt, so stellt sie für ihr Korpus aus Rezensionen zu Kompositionen von Henze fest: »Einige Musikpublizisten aus der Zeit bis 1966 waren dieser Denkweise verfallen, obwohl keiner von ihnen diese Regel so plump formulierte […]. In den meisten Fällen geisterte sie unerkannt im Hinterkopf einiger Fachkundiger jener Zeit umher.«468 Die Beobachtung der Denkweise von Kritikern ist sehr interessant, da sie unabhängig von der Singularität der zitierten Ballettaufführung verdeutlicht, dass sich gesellschaftlich objektiviertes Wissen zu Publikumsreaktionen im Diskurs tradiert und sich in Kritiken niederschlägt. Beide Implikationen des ›Sacre-Trugschlusses‹ wiederum verdichten sich durch die Kritiken – insbesondere im Zusammenhang mit Aufführungen des ›Regietheaters‹ oder Aufführungen von Neukompositionen – zur Legitimationsstrategie: Die Publikumsreaktion als soziologischer Parameter verweist auf den ästhetischen Wert eines Musiktheaterwerks bzw. die ästhetische Qualität einer Musiktheateraufführung. Theodor W. Adorno wendet sich in seinem Aufsatz »Warum ist die neue Kunst so schwer verständlich?«469 mit – wie er selbst betont – soziologischer, nicht ästhetischer Motivation an das Publikum und versucht zu ergründen, warum es im Zusammenhang mit ›fremder und rätselhafter Kunst‹ zu negativen Publikumsreaktionen kommt.470 Er bezieht sich also ausdrücklich auf die Wirkung von Kunst, das heißt auf Voraussetzungen der Rezeption und nicht auf die Kunst selbst. Adorno stellt fest, dass »der älteren Kunst eine gewisse Unmittelbarkeit in der Wirkung zukomme, die sie verständlich mache, während diese Unmittelbarkeit bei neuer Kunst nicht mehr vorliege«471 und verortet diese Beobachtung in gesellschaftlichen Verhältnissen, vornehmlich in der immer größer werdenden Differenz von Produkti-

467 H. H. Stuckenschmidt (1955): Musik gegen jedermann, in: Melos, Zeitschrift für Neue Musik, Heft 9, 22. Jahr, S. 245–248, hier S. 248. – Überspitzt ironisch und in seiner Grundhaltung sehr elitistisch (Es ist »nicht ehrenvoll […], der Masse zu gefallen. Ehrenvoll ist vielmehr, im Kreise anspruchsvollster Kenner geschätzt zu werden; und der ist notwendigerweise eng gezogen.« – Ebd.), schlägt Stuckenschmidt an anderer Stelle vor, den Wert von Musik anhand der Publikumsbeliebtheit festzumachen und rein statistische Größen sprechen zu lassen. Durch diese Methode würden dann auch Kritiker nicht mehr vonnöten sein. – Ebd., S. 246. 468 Deborah Hochgesang (1995): Die Opern von Hans Werner Henze im Spiegel der deutschsprachigen zeitgenössischen Musikkritik bis 1966, Trier: WVT Wissenschaftlicher Verlag Trier, S. 47. 469 Theodor W. Adorno: Warum ist die neue Kunst so schwer verständlich?, in: Theodor W. Adorno: Musikalische Schriften V, 1984, S. 824–831, hier S. 824. 470 Ebd. 471 Ebd., S. 825.

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on und Konsumtion.472 Diese ist wiederum für das Unverständnis gegenüber neuer Kunst, das heißt für den Schock, den die neue Kunst auslöst, verantwortlich: »Der Choc […] ist der Ausdruck dafür, daß der Sprung zwischen Produktion und Konsumtion radikal ward; daß darum der Kunst nicht mehr die Aufgabe zufällt, eine allen gemeinsam vorgegebene Wirklichkeit abzubilden, sondern in ihrer Isoliertheit eben die Risse aufzudecken, die die Wirklichkeit verdecken möchte, um sicher bestehen zu können; und daß sie dadurch die Wirklichkeit von sich abstößt.«473 Im Gegensatz zur neuen, schwer verständlichen Kunst, der eine enthüllende Funktion zukommt, habe Kunst, die »Allgemeinverständlichkeit und Gemeinschaftsmäßigkeit unmittelbar beansprucht […] ideologische [und] verhüllende Funktion.«474

4.1.2 Skandal Für die ablehnende Haltung des Publikums, für den ausgelösten ›Choc‹, der von einem Theaterereignis ausgeht, das auf Unverständnis stößt, wird in den Kritiken häufig plakativ das Motiv eines Skandals bemüht. Skandale gelten als Barometer der Überschreitung normativer moralischer und ästhetischer Grenzen, denn sie beruhen auf Tabubrechung und Nichterfüllung allgemein anerkannter Werte oder spezifischer Erwartungen an künstlerische Werke. Die Überschreitung des gesellschaftlichen Konsenses über darstellende Mittel und über die Funktion des Theaters und damit gewissermaßen die einhergehende ›Fortentwicklung der ästhetischen Wertewelt‹475 ist ein wesentliches, historisch gewachsenes Strukturprinzip des Theaterskandals, der sich anhand von Publikumsreaktionen messen lässt.476 Bekannte Theaterskandale der Musikgeschichte zeichnen sich durch die Überlieferung einer zugespitzt ablehnenden Haltung des Publikums aus, das sich durch das rezipierte Werk oder dessen Umsetzung durch den Regisseur besonders verärgert, verstört

472 Damit ist gemeint, dass die Kunstproduktion sich am künstlerischen Fortschritt orientiere und sich gemäß den gesellschaftlichen Verhältnissen weiterentwickle. Kunstkonsumtion wiederum stagniere in ihrer Entwicklung, da sie in den künstlerischen Produktionsprozess nicht eingebunden, sondern in vergangenen gesellschaftlichen Verhältnissen verortet sei. Ein Aufdecken dieses Missverhältnisses würde diese Form der Konsumtion bedrohen. – Ebd., S. 828. 473 Ebd., S. 829. 474 Ebd., S. 828. 475 Robert Sollich: Theater als Skandal. Einige Fußnoten zu einer Ästhetik des Performativen, in: Strahlkräfte. Festschrift für Erika Fischer-Lichte, hg. von Jens Roselt et al., Berlin: Theater der Zeit, 2008, S. 101–115, hier, S. 114. 476 Peter Kelting: Theaterskandal, in: Theaterlexikon. Begriffe und Epochen, Bühnen und Ensembles, hg. von Manfred Brauneck und Gérard Schneilin, Reinbek: Rowohlt, 1990, S. 953–955, hier S. 954.

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oder schockiert zeigte und sowohl physisch als auch verbal reagierte. Die bereits erwähnte Uraufführung von Igor Strawinskis Ballett Sacre du Printemps im Jahr 1913 wird häufig zur plakativen Illustration dieser Grenzüberschreitungen gewählt. Einerseits habe der Komponist Igor Strawinski die musikästhetischen Erwartungen des Publikums hinsichtlich der Komposition nicht erfüllt, andererseits habe sich der Choreograf Waslaw Nijinski eines für die damalige Zeit neuartigen und den gängigen ästhetischen Vorstellungen nicht entsprechenden Bewegungsrepertoires der Tänzer bedient. Zumindest ist dies die verbreitete Erklärung für den Eklat und die ›Schlägerei im Parkett‹. James H. Johnson schlägt jedoch vor, die Gründe für die tradierte Erzählung der Schlägerei bei der Uraufführung des Sacre du Printemps im Théâtre des Champs-Élysées eher in politischen und gesellschaftlichen Zusammenhängen zu verorten und verweist über den Wandel ästhetischer Vorstellungen hinaus auf den Wandel des von Kultur geformten Publikumsverhaltens. Johnson spricht von ›riot‹, also von einem Aufstand im Theater und verweist ferner auf ›fighting‹, also auf ausgetragene Kämpfe bei der Premiere. Der entscheidende Punkt ist, dass diese Merkmale zwar für die besagte Aufführung und darüber hinaus auch allgemein zur Illustration eines stattgefundenen Skandals angeführt werden, Johnson allerdings feststellt, dass ein Aufstand im Theater zu dieser Zeit einer gängigen Handlungsmöglichkeit aus dem Portfolio des damaligen Reaktionsrepertoires entsprach,477 was wiederum die Uraufführung des Sacre du Printemps als skandalös relativiert. Die Einschätzung Johnsons zeigt deutlich, dass die Einordnung eines Theaterereignisses als Skandal erst mit gewissem zeitlichen Abstand konstruiert wird. Für die besagte Uraufführung des Sacre du Printemps zeigt sich, dass diese ein derart breit rezipiertes Medienecho nach sich zog, das wiederum die Konstitution des Skandals erst möglich machte. Der Skandal um die Uraufführung des Sacre du Printemps wurde als solcher tradiert, verfestigt und konnte sich als paradigmatisches Beispiel im kulturellen Gedächtnis einschreiben. Somit nehmen die Medien gewissermaßen die Rolle eines Akteurs ein, der für die Konstruktion eines Skandals elementar ist.478 Neben dem breiten Medienecho, das für die Konstruktion eines Skandals notwendig ist, zeichnen sich Theaterskandale also dadurch aus, dass sie performative Handlungen des Publikums herbeiführen. Neil Blackadder greift in seiner Untersuchung »Performing Opposition« das Kreative bzw. Performative des Theaterskandals der Moderne und damit gewissermaßen die körperliche Gestalt des Protests des Publikums als Merkmal eines Skandals für den Zeitraum zwischen 1889 und 1931

477 James H. Johnson: Listening in Paris. A Cultural History, 1995, S. 3f. 478 Martin Eybl: Neun Thesen zu einer Theorie des Skandals, in: Österreichische Musikzeitschrift (ÖMZ), Bd. 57, 2002, S. 5–15, hier S. 12.

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auf.479 Im Vergleich zum Untersuchungszeitraum der Studie, in welcher Blackadder ein physisch aktives Publikum vorfindet, das eine teilweise vorab organisierte Störung einer Theatervorführung durch eigene performative Akte (etwa mitgebrachte Trillerpfeifen) während der Vorstellung zu verantworten hat, stellt Blackadder für das gegenwärtige Theater ein passives Publikum fest, das nie durch physische Störungen, sondern allenfalls durch gelegentliche verbale Äußerungen, meist aber auch erst nach der Vorstellung, opponiert.480 Protest bzw. Kontroversen seien insbesondere im gegenwärtigen deutschsprachigen Theater auf den Zeitraum nach der Aufführung verlagert, etwa durch Debatten in Zeitungen, durch Stellungnahmen der involvierten Institutionen oder durch Leserbriefe.481 Diese Einschätzung Blackadders kann durch die Darstellung in den untersuchten Kritiken nahezu ausnahmslos bestätigt werden. Die Vehemenz der verbalen Störung einer Aufführung wird lediglich in einer Kritik als grenzwertig beschrieben: »Die Vorstellung geriet immer wieder an den Rand des Abbruchs.«482 Für dieselbe Inszenierung findet sich darüber hinaus unter allen untersuchten Kritiken lediglich eine mit explizitem Verweis auf physische Störungen der Musiktheateraufführung jenseits verbaler Äußerungen – und bereits im Titel wird der Skandal angekündigt: »Premiere mit Trillerpfeifen: Peter Konwitschny löst […] einen Skandal aus«483 ; im Fließtext der Kritik heißt es weiter: »Gereizter Protest steigert sich, zumal im Schutz der Dunkelheit, zu Buhgebrüll, Türenschlagen und wütendem Abgang. Mitgebrachte Trillerpfeifen finden Einsatz.«484 Seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts konzentrieren sich sogenannte Skandale im Musiktheater meistens um inszenierende Regisseure und seltener um Neukompositionen, was ohne Zweifel u. a. an der abnehmenden Dichte zeitgenössischer Opernkompositionen liegt. Die Provokation des Publikums liegt dabei in der Regel in der Interpretation des Regisseurs, verbunden mit Requisiten und Kostümen, die den Publikumserwartungen nicht entsprechen. Ein Beispiel für einen Skandal durch Regie ist der von Patrice Chéreau inszenierte Ring des Nibelungen von Richard Wagner bei den Bayreuther Festspielen 1976, auf den wegen seiner ›skandalösen‹ Wirkung bis heute als ›Jahrhundertring‹ rekurriert wird. Am 479 Neil Blackadder: Performing Opposition. Modern Theater and the Scandalized Audience, 2003 Westport, Connecticut: Praeger. 480 Blackadder spricht zwar durchaus von Kontroversen im Theater der Nachkriegszeit, bei nur wenigen bis kaum einer Aufführung belegt er jedoch Protest aus dem Auditorium. – Ebd., S. 186. 481 Ebd. 482 Georg-Friedrich Kühn: Mesalliance mit der Stasi, in: Frankfurter Rundschau, 31.12.1999. 483 Lorenz Tomerius: Die Komtesse Staatssicherheit. Premiere mit Trillerpfeifen: Peter Konwitschny löst mit Kálmáns »Cscárdasfürstin« [sic!] an der Semperoper Dresden einen Skandal aus, in: Berliner Morgenpost, 31.12.1999. 484 Ebd.

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Beispiel des ›Jahrhundertrings‹ und von Sacre du Printemps kann die positive Konnotation, die einem Theaterskandal innewohnt, exemplifiziert werden. Denn in der Retrospektive, d. h. mit einem gewissen zeitlichen Abstand, wird dann das zuvor skandalisierte Werk als herausragendes Schlüsselwerk bezeichnet. Diese Transformation lässt sich etwa auch für die zuvor als Skandal eingestufte Inszenierung der Operette Csárdásfürstin durch Konwitschny nachzeichnen. Rund zehn Monate nach der Premiere ist nämlich in der Zeitung zu lesen: »Nach Monaten bösen Streits ist Kalmans [sic!] Operette von Regiegenie Peter Konwitschny (54) nun der große Bühnenerfolg des Jahres.«485 Und auch am Beispiel einer Inszenierung von Hans Neuenfels wird deutlich, dass ›Skandal-Höhepunkte‹ im Diskurs gemeinhin als ›Meilensteine der Opernregie‹ gelten: »Buhstürme für die Ewigkeit: Bei Premieren des Opernregisseurs Hans Neuenfels ist es kein gutes Zeichen, wenn die Buhs allzu müde ausfallen. Saalschlachten bei den Premieren sind das, was seinen Ruf international ausmacht. An der Deutschen Oper Berlin hat Neuenfels […] die wohl größten Opernerfolge seiner Karriere hingelegt: Panzerpatrouillen in der ›Macht des Schicksals‹ (1983), ein schweinchen-farbener ›Rigoletto‹ (1986) und zuletzt ›Nabucco‹ (2000) im Biene MajaOutfit [sic!]. Das waren Skandal-Höhepunkte nicht nur der Verdi-Aufführungstradition. Es waren […] Meilensteine der Opernregie überhaupt.«486 Die Verbindung von Skandal und erinnerungswürdigem Meilenstein der Theatergeschichte beeinflusst auch aktuelle wissenschaftliche Überlegungen zum Theaterskandal: Robert Sollich versteht den Theaterskandal als ›produktives Krisenphänomen‹487 , durch das sich ein überkommenes Verständnis einer Gattung performativ zu aktualisieren vermöge.488 Problematisch erscheint jedoch, dass Sollich diese grundsätzliche Annahme im Hinblick auf die Änderung des theatralisch Möglichen im Verlauf des letzten Jahrhunderts nicht differenziert. Das Argument für seinen Standpunkt, zwischen den, wie Blackadder feststellt, gewandelten Publikumsreaktionen nicht zu unterscheiden, überzeugt nicht. So schreibt Sollich, dass »im mitteleuropäischen Operntheater kaum die Rede davon sein kann, dass spektakuläre Protestkundgebungen aus den Theatern verschwunden seien«489 , ein Beispiel wird

485 Jürgen Helfricht: Bravos für Csardasfürstin. Die Leiche tanzt wieder in der Semperoper, in: Bild, 16.10.2000. 486 Luehrs-Kaiser, Kai: Oma Oper kann noch beißen, in: Bremer Nachrichten, 15.03.2003. 487 Robert Sollich: Theater als Skandal. Einige Fußnoten zu einer Ästhetik des Performativen, in: Strahlkräfte. Festschrift für Erika Fischer-Lichte, hg. von Jens Roselt et al., Berlin: Theater der Zeit, 2008, S. 101–115, hier S. 114. 488 Ebd., S. 112. 489 Ebd., S. 110.

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jedoch nicht angeführt.490 Blackadder geht es aber ohnehin nicht darum, dass es in den Theatern keinen Protest mehr gebe, sondern lediglich um einen Wandel der performativen Ausdrucksform des Publikums. Die Überlegungen Sollichs deuten darauf hin, dass der Skandal unabhängig davon, nach welchen Kriterien er sich tatsächlich bestimmen lässt, eine Legitimationsstrategie darstellt. Diese Vermutung wird auch dadurch gestützt, dass der für einen Skandal notwendige Überraschungseffekt häufig ausbleibt und die Erwartungshaltung des Publikums bereits auf das Erleben eines Skandals abzielt: »Das Ende der Skandalfähigkeit des Theaters ist […] in einem Moment erreicht, in dem das Publikum den Skandal als Bestandteil seiner Erwartungshaltung antizipiert hat.«491 In diesem Fall kann es rein praktisch gar nicht mehr zum Skandal kommen, es sei denn, der tatsächliche Skandal der Darbietung übersteigt die vorhandene Skandal-Erwartungshaltung. Das Phänomen des Skandals bleibt allerdings auch bei der erfüllten Erwartungshaltung als Etikett erhalten, ohne im Wesentlichen die Wirkung zu erzielen, für die es steht. Die Antizipation einer als Skandal bezeichneten Aufführung – zumeist Inszenierung – ist, sofern man den Kritikern folgt, stets vorhanden: »Ein Skandal. Wer ein wenig auf- und abgeklärt ist, sah ihn kommen.«492 Dass der Überraschungseffekt, der als Wesensmerkmal eines Skandals gilt, nicht mehr vorhanden ist, zeigt auch folgende Beschreibung der Erwartungshaltung in Bezug auf eine Inszenierung des Regisseurs Hans Neuenfels: »Sitzt man vor dem geschlossenen Vorhang einer bevorstehenden NeuenfelsPremiere, so erwartet man mindestens einen nackten Priesterchor, sodomitische Diktatoren und einen onanierenden Kastraten. Und man wird nie enttäuscht! Freilich, Mozarts ›Idomeneo‹, eine Sandalenoper vom Ende des Trojaner-Krieges, bietet mit Menschenopfern, See-Ungeheuern und politischen Orakeileien [sic!]

490 Außerdem setzt er Politikskandale mit dem Theaterskandal gleich, weil es sich bei beiden angeblich um ›Grenzverschiebungen zwischen erlaubt und unerlaubt‹ handele. Politikskandale zeichnen sich aber in erster Linie durch den Machtmissbrauch derer aus, die in einer Demokratie als Repräsentanten gewählt worden sind. Der Machtmissbrauch gestaltet sich durch politische Vertreter oder politische Entscheidungen auf Kosten der Allgemeinheit. Im Gegensatz zu Grenzverschiebungen im Theater, die ästhetischer Natur sind und die durch Wiederholung anerkannt werden, wird Machtmissbrauch in einem demokratischen Gefüge immer zum Skandal führen. 491 Peter Kelting: Theaterskandal, in: Theaterlexikon. Begriffe und Epochen, Bühnen und Ensembles, hg. von Manfred Brauneck und Gérard Schneilin, Reinbek: Rowohlt, 1990, S. 953–955, hier S. 955. – Unter der Intendanz von Klaus Weise warb die Oper Bonn in der Bonner Innenstadt mit Bannern mit der Aufschrift: ›Das wird ein Skandal‹. Die genaue Formulierung ist der Verfasserin nicht mehr erinnerlich. Der ›Skandal‹ wurde durch das Opernhaus zu Werbezwecken vorab angekündigt, was der Idee des Skandals widerspricht. 492 Aldo Lindhorst: Operettenglückseligkeit? Nein, Krieg, in: Leipziger Volkszeitung, 03.01.2000.

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auch genug der barocken Verwicklung, um die Provokationsmaschine eines Neuenfels anzuheizen.«493 Gewissermaßen werden Skandale, so auch die ›skandalversessene Mozart-Deutung‹ des Regisseurs, zur Routine im Opernhaus: »Idomeneos sardonistisches Lachen nach dieser Tat [dem Abhacken der Köpfe] beschließt den Abend und zettelt ein Buhkonzert an, das freilich diesmal abgeklärter, routinierter, ja gutgelaunter ablief als in den zurückliegenden Jahren.«494 Der Verweis auf ein ›gut gelauntes‹ Publikum zeigt abermals deutlich, dass das Bühnengeschehen tatsächlich nicht als skandalös eingestuft wird, weil der Inszenierungsstil von Neuenfels erwartbar geworden ist. Gleichzeitig bleibt der Skandal der Inszenierung symbolisch verbunden. Auffällig ist in diesem Zusammenhang auch, dass beispielsweise das Bild einer ›Saalschlacht‹ zunächst illustriert wird, um sogleich wieder relativiert zu werden: »Dann der mit Spannung erwartete Schluss: heftiger Protest provozierte heftiges Bravo, eine Saalschlacht pro und contra […]. Allerdings dauerten die Leidenschaftsausbrüche nur kurz.«495 Ein gutes Beispiel, das die Funktion des Skandals als vielschichtige Legitimationsstrategie aufzeigt, sind die folgenden in chronologischer Reihenfolge zitierten Ausschnitte eines Artikels, der weniger als Rezension, sondern mehr als Reflex auf – wie der Rezensent im Untertitel schreibt – »[a]ltbackenes Provokationstheater«496 zu verstehen ist. Zu Beginn des Artikels ist zu lesen: »Rollende Köpfe, nackte Priesterchöre, onanierende Kastraten. Die Einfälle von Opernregisseuren sind heute vor allem eines: Zumutungen für die gute Erziehung des Publikums. Vermögen die Zuschauer höflich die Contenance zu wahren und die Sache auszusitzen? Oder gehen den Leuten bei erster Gelegenheit die Nerven durch? Das sind Fragen, die heute den Ausgang einer Opernpremiere mehr bestimmen als alles andere. Rufe wie ›Halt die Schnauze‹, die bei der jüngsten Festtags-Premiere der Berliner Staatsoper (›La Traviata‹) vom Rang schallten, zeigen, dass nach den guten Manieren der Regisseure inzwischen auch die Umgangsformen des Publikums flöten sind. Das ist die grausame Wahrheit: Nicht auf der Bühne, sondern im Auditorium ist mittlerweile die Hölle los! Jeder wird sich hüten, die Buh-Kultur, die Tendenz zur Saalschlacht in Oper und Schauspiel, in Frage zu stellen. Erkundigt man sich bei Beteiligten alter Skandale – zum Beispiel des berüchtigten ›Heldenplatz‹-Krawalls (Thomas Bernhards Uraufführung wurde 1988 im Wiener Burgtheater umtost), so verklären sich die Gesichter. Zwar

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Kai Luehrs-Kaiser: Oma Oper kann noch beißen, in: Bremer Nachrichten, 15.03.2003. Ebd. Aldo Lindhorst: Operettenglückseligkeit? Nein, Krieg, in: Leipziger Volkszeitung, 03.01.2000. Kai Luehrs-Kaiser: Buh-Stürme für die Ewigkeit, in: Die Welt, 17.04.2003.

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war damals vor lauter Zwischenrufen nicht klar, ob man die Aufführung zu Ende bringen könne. Mitwirkende wie Marianne Hoppe aber schwärmen noch zehn Jahre danach: ›Wie schön war das!‹ Da war Theater noch wichtig! Freilich: Der erste Protestruf gegen Bernhards Gleichsetzung von Österreichern und Nazis lautete damals: ›Gott schütze Österreich!‹ Immerhin ein vollständiger, wohlartikulierter Satz. Er markiert Reflexionshöhe und Temperament einer inzwischen verflossenen Diskussionskultur im Theater. Und rechtfertigt noch heute den Allgemeinplatz: So lange im Theater gestritten wird, so lange ist es lebendig wie nie.«497 In diesem Ausschnitt wird der Skandal differenziert in ›früher‹ und ›heute‹ als mehr oder weniger geschlossenes Bezugssystem dargestellt. Der Rückgriff auf den Allgemeinplatz, der das Theater als Ort der ›gepflegten‹ respektive ›verrohten‹ Auseinandersetzung charakterisiert, verweist auf dessen Geltungsanspruch durch ›Streitigkeiten‹ zwischen Bühne und Publikum und rechtfertigt über die Institution eines Theaters hinaus dadurch auch die Arbeit der Regisseure. Da aber zwischen den Zeilen eine gewisse Routine der Regisseure abzulesen ist, ›Skandale‹ durch ihre Inszenierungspraxis hervorzurufen – die Regisseure »wissen heute genau, wo der Klingelzug hängt, der das Publikum zur Raserei bringt – und ziehen […] kokett an dieser Strippe« – verweist der Journalist im Verlauf des Artikels auch auf zweifelhafte und beliebig anmutende Inszenierungskonzepte, um im Anschluss die Frage stellen zu können, »ob man wegen misslungener Bilder das Regietheater-Kind mit dem Bade ausschütten soll? Oder ob man sich umgekehrt an den überkochenden Buhs des ›Gefühlskraftwerks Oper‹ schlicht freuen darf?«498 Hier ist besonders eindrücklich, dass das ›Regietheater‹ als Korrektiv des geläufigen Schemas (›Gefühlskraftwerk‹ gewissermaßen als zweite Stufe der Legitimation) herangezogen wird. Während es zunächst als notwendiges Moment für den der Legitimation verpflichteten Skandal gilt, räumt der Journalist zum Ende des Artikels ein: »Dass die Mittel des Regietheaters um so fragwürdiger werden, als sie inzwischen müde Reflexe eines altbackenen Provokationstheaters geworden sind, steht außer Frage. Doch damit ist die Diskussion ums Regietheater noch nicht am Ende. Damit geht sie erst los.«499 Eine – zumindest für Zwecke der Legitimation des Musik- bzw. Regietheaters im Musiktheater – strategisch aufgebaute Textdramaturgie des Kritikers, die vorangehenden Ausführungen zusammenzufassen. Der letzte Satz zementiert ein unhinterfragtes Faktum: ›So lange im Theater gestritten wird, so lange ist es lebendig wie nie.‹ Nahezu widersprüchlich, aber nicht minder nachdrücklich stehe diese Diskussion, obwohl zuvor von ›altbacken‹ gesprochen wurde, erst am Anfang.

497 Ebd. 498 Ebd. 499 Ebd.

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Dass der Skandal als Legitimationsstrategie fungiert, zeigt in diesem Zusammenhang auch die Tatsache, dass der Skandal oder die damit verbundenen Provokationen häufig im Diminutiv dargestellt werden. Die Eigenschaft des Absoluten, die dem Skandal eingeschrieben ist, wird dadurch unterlaufen. Eine Aufführung als ›ein wenig skandalös‹ und ›ein wenig provokativ‹ zu beschreiben, scheint schon allein dem Wortsinn des Skandals zu widersprechen und weckt deshalb den Eindruck, einen über die Begriffe des Skandals und der Provokation hinausgehenden Aspekt, nämlich den der Legitimation, zu bedienen. So schreibt ein Rezensent über eine Inszenierung etwa: »Neuenfels’ Provokationen und Provokatiönchen werden abgerufen wie Tricks,«500 oder »da hatte Regisseur Hans Neuenfels endlich seinen MiniSkandal.«501 Und auch mit »der Inszenierung der ›Csárdásfürstin‹ von Emmerich Kálmán ist der Dresdener Semperoper ein kleiner Skandal gelungen.«502 Hier vom Gelingen eines Skandals zu sprechen zeigt abermals deutlich, dass ein Skandal – und sei er noch so klein – als positives Qualitätskriterium angesehen wird und daher auch explizit erwünscht ist. Der ›kleine‹ Skandal äußerte sich durch Zwischenrufe und durch Zuschauer, welche die Aufführung vorzeitig verließen. ›Kleine Skandale‹ ereignen sich nicht nur im Zusammenhang mit Konwitschny und Neuenfels, die als Prototypen für den vermeintlichen oder tatsächlichen Skandalregisseur stehen. Beispielsweise wurde in Hagen der »andernorts respektierte Regisseur« ausgezischt und der Rezensent beginnt seine Kritik der Vorstellung mit den Worten: »Nun hat auch das Hagener Theater seinen kleinen Skandal.«503 Auffällig ist darüber hinaus, dass die Bewertung ein und derselben Inszenierung in Bezug auf das ›Skandalöse‹ in den Kritiken stark divergiert. Während etwa die Inszenierung der Csárdásfürstin in Dresden durch Konwitschny in vielen Kritiken als Skandal hervorgehoben wird, so sind auch einige den Skandal relativierende Aussagen zu finden, die sich zwar am Skandal als Emblem einer ›bedeutenden‹ Aufführung orientieren, die Inszenierung aber nicht als sonderlich skandalös einstufen: »Der ganz große Skandal freilich blieb vorerst aus.«504 Eine andere Zeitung führt im

500 Kai Luehrs-Kaiser: Oma Oper kann noch beißen, in: Bremer Nachrichten, 15.03.2003. 501 Markus Thiel: Angezogene Handbremse. Berlin: Hans Neuenfels inszeniert ,Idomeneo‘, in: Münchner Merkur, 15.03.2003. 502 Stephan Speicher: Man sollte manchmal sich lieb haben, in: Berliner Zeitung, 31.12.1999. 503 Michael Stenger: Kann keine Liebe sein, in: WAZ Westdeutsche Allgemeine Essen, 29.11.1995. – Ob das Verlassen einer Vorstellung tatsächlich als Skandal zu bewerten ist, sei dahingestellt, denn durch das Verlassen des Zuschauerraums verweigert sich der Zuschauer gewissermaßen der Partizipation, die für einen Skandal konstitutiv ist. Das ist hier aber nicht die Frage. Der Punkt ist, dass das Verlassen des Zuschauerraums als Merkmal für einen Skandal von den Kritikern herangezogen wird und demnach im Diskurs als Merkmal für den Skandal etabliert ist. 504 Christine Lemke-Matwey: Das Roulette der echten und der falschen Gefühle, Süddeutsche Zeitung, München, 31.12.1999.

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Untertitel auf: »Fast ein Eklat«505 und an anderer Stelle heißt es: »Einige Zuschauer räumen das Feld, andere brüllen ›Vorhang‹ und ›Geld zurück‹. Der mittlere Theaterskandal hätte eine bessere Sache verdient. Das Umstrittene als künstlerischer Sieg, als Kunstwerk der Zukunft – in diesem Fall fehlt der Glaube.«506 Die derart unterschiedlichen Einschätzungen untergraben abermals den bereits dargestellten absoluten Charakter, der einen Skandal ausmacht. Jegliche Publikumsreaktionen, vom frenetischen Applaus bis hin zum ausgerufenen Skandal, verweisen also auf eine erfolgreiche Aufführung eines Musiktheaterwerks. Die Beschreibung der Publikumsreaktionen sowie der Rekurs auf den Skandal vermitteln den Eindruck, dass das Publikum an der Aufführung partizipiert. Publikumsreaktionen und diskutierte Skandale dienen der Legitimation der jeweiligen Aufführung und verweisen verdichtet auf das Dispositiv des Musiktheaters. Eine weitere Beobachtung der legitimierenden Wirkung des Skandals drängt sich insofern auf, als für das Opernhaus als Kulturinstitution ein Skandal nicht nur ästhetisches Qualitätsmerkmal,507 sondern auch verkaufsfördernd ist. Im Zusammenhang mit dem Skandal um Konwitschnys Inszenierung der Csárdásfürstin an der Semperoper in Dresden wird festgestellt: »Die Semperoper freut es: Sie profitiert vom Operettenkrieg. Bis Mai ist die ›Csárdásfürstin‹ ausverkauft: Alle wollen den ›Skandal‹ live miterleben. Und auch Peter Konwitschny hat keinen Grund zur Klage: ›Nach der Premiere kamen gleich mehrere aufregende Angebote.‹«508

4.1.3 Publikum als messbare Größe Jenseits der beschriebenen Publikumsreaktionen wird deutlich, dass das Kollektiv der Zuschauer für die Quantifizierbarkeit des künstlerischen Erfolgs einer Aufführung funktionalisiert wird. Diese Beobachtung veranschaulicht bereits das vorangegangene Zitat, das auf die hohe Nachfrage der ›skandalösen‹ Inszenierung Konwitschnys abzielt.509 505 Sybill Mahlke: Die kopflose Leiche tanzt den Totentanz, Der Tagesspiegel Berlin, 31.12.1999. 506 Ebd. 507 Hans Neuenfels zeigt sich z.B. auch durch die Buhs für seine Inszenierung »sichtlich zufrieden«. – Christian von Kageneck: Debattierclub ohne Gewicht, in: Mannheimer Morgen, 27.03.2003. 508 Jochen Breiholz: Operetten-Krieg in Dresden, in: Die Welt, 07.01.2000. 509 In der Regel sind die in Tageszeitungen veröffentlichten Kritiken Besprechungen der Premiere einer Produktion und behandeln in seltenen Fällen eine Aufführung aus dem regulären Spielbetrieb. An dieser Stelle soll lediglich darauf hingewiesen werden, dass das Premierenpublikum in der Regel eine Sonderstellung einnimmt, da sich die Publikumsstruktur der Premiere von der des Repertoirebetriebs unterscheidet; so werden Premieren maßgeblich von geladenen Gästen, Mitarbeitern des Theaters, oder Personen aus dem unmittelbaren Bekanntenkreis der Mitwirkenden besucht. Wenn eine Premiere als ›ausverkauft‹ beschrieben wird, so stelle ich keine Nachforschungen an, was der Begriff für die spezifische Aufführung bedeutet, ob die Karten tatsächlich verkauft wurden, es sich um Mitarbeiter-Tickets

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Darüber hinaus ist beispielsweise die Dichte, mit der über konkrete Besucherzahlen des Musicals Starlight Express berichtet wird, in den untersuchten Meldungen und Artikeln sehr hoch, was für sich genommen bemerkenswert und darüber hinaus ein Indiz für die Relevanz des Publikums als statistische Größe ist. Im Zentrum solcher – teilweise nur kurzen – Mitteilungen stehen einerseits imposante Zahlen im siebenstelligen Bereich, andererseits werden stets Abgrenzungen zu anderen Musicals gezogen:510 So wird etwa im Bielefelder Tagblatt über die überschrittene »magische Besucherzahl von 7 Millionen«511 berichtet und darauf verwiesen, dass Starlight Express das erfolgreichste Musical mit bereits nahezu 4500 Vorstellungen sei. Nicht zuletzt habe Starlight Express schon zu Beginn »dreimal so viele Kartenvorbestellungen wie einst bei ›Cats‹ in Hamburg«512 und sei acht Monate zu Beginn der ersten Spielzeit ausgebucht gewesen.513 An anderer Stelle wird der Andrang zum Tag der offenen Tür des Starlight Express durch einen Stau vor dem Parkhaus der Veranstaltungshalle verdeutlicht: »Auf den Abbiegerspuren stehen die Autos Stoßstange an Stoßstange.«514 Und auch der Hinweis auf die »Auslastung des Theaters von annähernd 98 Prozent [spreche für den] Publikumserfolg«515 des Musicals. Diese Beispiele, die sich fast ausschließlich auf die Quantifizierung des Publikums und die Präsentation der Besucherzahlen als rekordverdächtig stützen, lassen keinen Zweifel daran, dass der beschriebene Publikumsandrang für das Musical der Legitimation handelt, oder Plätze unbesetzt blieben. – Siehe bspw. Epstein zum Phänomen des Premierenapplauses: »Es ist aber die Frage, zu erwägen, ob man die Kritik nicht abschafft und an ihre Stelle die reine Berichterstattung setzt. […] Ich verweise auf die englischen Zeitungen, die sich […] fast immer nur im lobenden Sinne äussern. Das hat jedenfalls seine ›guten‹ Seiten. Durch das Lob kann nicht geschadet werden, und wenn das Stück nichts taugt, spricht es sich noch schnell genug herum. Es wäre allerdings das Beste, wenn der Berichterstatter über eine Theateraufführung sich darauf beschränkte, über die Aufnahme durch das Publikum zu sprechen. Natürlich wird diese letztere Tätigkeit kaum möglich sein, ohne dass gewisse kritische Bemerkungen einfliessen. Denn auf der einen Seite ist es erstaunlich, wie verschieden die einzelnen Kritiker und Berichterstatter hören, wie sie gleichsam ihre eigenen Gefühle in das Publikum hineinhören, und auf der anderen Seite haben die Direktoren seit Jahren durch die Veranstaltung eines schon üblich gewordenen Premierenrummels die öffentliche Meinung des Publikums tatsächlich verfälscht. Sie haben sich gewöhnt, mehr und mehr bei Erstaufführungen nur Freunde des Theaters einzuladen; und man weiß jetzt nicht mehr, wer eigentlich wirklich eine ehrliche Meinung abgibt.« – Max Epstein: Das Theater als Geschäft, Berlin: Fannei & Walz Verlag, 1996, S. 106. 510 Siehe bspw. Klaus Bröking: Auf den Spuren von ›Cats‹: 2 Mio. Besucher bei ›Starlight Express‹, in: Westfälische Rundschau Dortmund, 12.04.1991. 511 O. A.: Rekord bei Starlight: Schon 7 Mio. Besucher, in: Neue Westfälische (Bielefelder Tagblatt), 05.11.1998. 512 O. A.: Schon zehn Mio DM in der Kasse für Reservierungen, in: WAZ Wattenscheid, 23.01.1988. 513 Ebd. 514 O. A.: Auch Fans geben Autogramme, in: Ruhr Nachrichten Bochum, 09.08.2006. 515 Ute Krebs: Sternenlicht über dem Ruhrpott, in: Freie Presse Chemnitz, 12.06.1998.

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desselben dient. Für das nach marktwirtschaftlichen Prinzipien operierende Unternehmen Mehr-Entertainment GmbH, welches das Musical Starlight Express produziert, steht jede verkaufte Karte in direktem Zusammenhang mit der Erwirtschaftung eines Gewinns.516 Über die große Nachfrage hinaus wird bisweilen außerdem der geographische Wirkungskreis des Musicals hervorgehoben: »Welch hohe Wellen der Rummel um den ›Starlight Express‹ schlägt, bewiesen die vielen Besucher, die zum Teil aus größerer Entfernung angereist waren.«517 Das große Interesse des Publikums an der Oper La Bohème von Giacomo Puccini scheint ebenso ungebrochen: »Ausverkauft. Vor der Kasse des Würzburger Stadttheaters ballt sich eine Menschentraube, die auf zurückgegebene Karten hofft. Nicht einmal für’s [sic!] Ensemble waren genügend Billets da […]. ›La Bohème‹ zieht immer noch.«518 Die detaillierte Beschreibung des Kritikers verdeutlicht die starke Nachfrage symbolisch durch die ›Menschentraube‹, die sich aufgrund mangelnder Verfügbarkeit von Eintrittskarten vor dem Theater gebildet hat. Die starke Nachfrage nach Eintrittskarten kann durch das begrenzte Angebot nicht bedient werden. Sogar die Ausführenden selbst konnten sich offensichtlich keine Eintrittskarten mehr für interessierte Bekannte sichern. Im Zusammenhang mit diesem Beispiel wird deutlich, dass eine gut besuchte Veranstaltung, bei der die Nachfrage die verfügbare Kartenanzahl übersteigt, von großem Publikumsinteresse zeugt und die Aufführung dadurch legitimiert. Das heißt, dass Angaben zur Quantität der Zuschauer als Barometer für die Qualität eingesetzt werden und somit als Legitimationsstrategie für die Aufführung fungieren. Dieses implizite Indiz, dass eine starke Nachfrage für künstlerische Qualität und damit auch für künstlerische Legitimität steht, bringt folgendes Zitat explizit auf den Punkt. Denn auf die Frage »Wo sehen Sie denn heute die künstlerische Legitimität von Theater?«519 , antwortet der damalige Intendant des Hamburger Thalia-Theaters Jürgen Flimm in einem Interview zur finanziellen Krise des Theaters 1988 unter anderem schlicht: »Die Legitimität liegt einfach darin, daß Leute kommen und sich das Theater ansehen. Das Publikum ist also da.«520 Eine starke Nachfrage schlägt sich mithin einerseits durch Feststellungen wie ›ausverkauft‹ oder beispielsweise in der redundanten Steigerung »restlos ausver-

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Es muss weiterhin bedacht werden, dass die Präsentation einer starken Nachfrage – das gilt auch für alle anderen Musiktheaterproduktionen – eine geläufige Methode des Marketings darstellt. 517 O. A.: »Starlight Express« auf Rollschuhen ohne Tempolimit, in: Siegener Zeitung, 23.07.1988. 518 Heringlehner, Ralph: Eine kleine Geschichte, in: Main-Post Würzburg, 13.01.1997. 519 O. A.: »Ich finde Goethe wichtiger als ein Flugzeug«. Das Theater in der finanziellen Krise: Ein Gespräch mit Jürgen Flimm, in: Frankfurter Neue Presse, 08.06.1988. 520 Ebd.

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kauft«521 oder gar ›rappelvoll‹522 nieder, andererseits durch die Beschreibung von vor dem Theater wartenden Zuschauern, die aus Platzgründen nicht mehr eingelassen werden können. Darüber hinaus findet das Publikumsinteresse auch Ausdruck im Hinweis auf Restkarten für Folgeveranstaltungen, wobei die Betonung des Präfixes ›Rest‹ ein knappes Kontingent suggeriert. Äußerst bemerkenswert, aber in ihrer Art innerhalb des Korpus eine Ausnahme, ist folgende Beschreibung eines Rezensenten. Ganz im Gegenteil zum Gros der Kritiken äußert er sich explizit zur niedrigen Auslastung einer Premiere: »Daß Weihnachten und Pfingsten zusammenfallen, hat noch kein Kalendermacher geschafft, doch Coburgs Theatermachern gelang das ohne Schwierigkeiten, indem sie Giacomo Puccinis Lovestory ›La Bohème‹, die am Weihnachtsabend beginnt, am vergangenen Pfingstsamstag in Coburg aus der Taufe hoben. Dieser ungewöhnliche Termin für eine Opernpremiere wurde von sonstigen ständigen Opernbesuchern ignoriert, sodaß, besonders auf den Rängen, zahlreiche Plätze unbesetzt blieben.«523 Die Tatsache, dass der Publikumsandrang bei einer Musiktheaterproduktion eine affirmative Funktion hat und legitimierend wirkt, gilt für das gesamte Korpus der untersuchten Kritiken. Allerdings fällt im Zusammenhang mit Kompositionen aus der Szene der Neuen Musik auf, dass der Publikumsandrang gewissermaßen im Widerspruch zum avantgardistischen Selbstverständnis der Szene steht.524 Beispielhaft zeigt dies Stuckenschmidts überzeichnete Diskussion der Kriterien für ein ›bedeutendes‹ Kunstwerk. Denn Popularität kann nach seinem Verständnis kein Kriterium für Qualität sein. In Bezug auf die häufig angeführte Argumentation, dass ein Kunstwerk schön sei entsprechend der Anzahl der Personen, die Interesse an diesem Werk zeigen, listet Stuckenschmidt eine Reihe von Komponisten auf, die jeweils ›besser‹ als der andere seien. Polemisch hält er anschließend fest: »Kritiker brauchen wir nicht mehr; die Statistik macht es zuverlässiger. Sie weist nach, um wieviel Lehár besser ist als Mozart, von Schönberg nicht zu reden.«525 Gewissermaßen bedienen sich die Kritiker dieser von Stuckenschmidt angeführten

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O. A.: Lachenmanns erste Oper erfolgreich, in: Landeszeitung, niedersächsisches Tagblatt, 07.02.1997. Roland Schell: Ausfälle übertrafen Einfälle, in: Heilbronner Stimme, 04.02.1992. Hans Höfer: Wehmut blühender Kantilenen, in: Coburger Tageblatt, 05.06.1990. Wie schon im Zusammenhang mit der ablehnenden Haltung des Publikums als positives Bewertungskriterium unter 4.1.1 gezeigt wurde, stellt Publikumserfolg in der Regel für Neue Musik nämlich kein positives Merkmal der Bewertung dar. H. H. Stuckenschmidt (1955): Musik gegen jedermann, in: Melos, Zeitschrift für Neue Musik, Heft 9, 22. Jahr, S. 245–248, hier S. 246. – Diese Aussage ist ironisch gemeint und soll seinen eigenen elitaristischen Standpunkt stützen. – Stuckenschmidt steht hier in der Tradition des bereits beschriebenen Narratives der Moderne, welches durch den Ausspruch Schönbergs verdeutlicht wird.

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›Statistik‹, wenn auch nur rudimentär, denn genaue Zahlen werden – mit Ausnahme des Starlight Express – nur selten genannt. In Bezug auf die Auslastung eines Spielorts ist in den analysierten Kritiken ein Kontinuum zu erkennen, das sich vom Hinweis auf Restkarten über ausverkauft bis hin zu Theaterbesuchern erstreckt, die in der Hoffnung, noch eine Karte ergattern zu können, vor dem Theater ausharrten, nur um wieder nach Hause geschickt zu werden. Jede Beschreibung erfolgt mit positiver Konnotation und suggeriert Popularität des Stücks oder der Aufführung. Wie zuvor hervorgehoben, sind die Beobachtungen zur Publikumsbeliebtheit bei Kompositionen aus der Szene der Neuen Musik besonders interessant. Sehr eindrücklich entfaltet sich der angesprochene Widerspruch zwischen dem avantgardistischen Selbstverständnis und dem erfolgten Publikumsandrang bei der Oper Das Mädchen mit den Schwefelhölzern von Helmut Lachenmann. Laut Kritikerberichten erfuhr die Dernière der Uraufführung in Hamburg eine große Publikumsnachfrage und ähnlich wie im Beispiel der ›Menschentraube‹ vor der Oper in Würzburg wegen einer Aufführung der La Bohème konstatiert der Kritiker zu Lachenmanns Oper: »Viele waren gekommen zur Dernière von Helmut Lachenmanns Hörspektakel ›Das Mädchen mit den Schwefelhölzern‹, doch längst nicht alle fanden Einlaß.«526 Vor dem Hintergrund, dass es sich bei der Komposition Lachenmanns um ein Werk der Neuen Musik handelt, erstaunt diese Aussage. Insbesondere Kompositionen der Neuen Musik gelten als speziell, dadurch nur schwierig zugänglich für ein breites Publikum und wenig nachgefragt. Ein anderer Rezensent nimmt gerade dieses Phänomen zum Anlass, die Besonderheit von Lachenmanns Komposition herauszustellen, indem er schreibt: »Das Vorurteil weiß doch folgendes: Wenn ein Opernhaus eine avantgardistische Musiktheaterproduktion herausbringt, [herrscht] bei der Premiere Publikumsandrang […]. Doch schon bei der zweiten Vorstellung macht die teure Halle einen recht verlassenen Eindruck. Nicht so bei dem ›Mädchen mit den Schwefelhölzern‹, […] hundert, ja zweihundert Interessenten mußten Abend für Abend nach Hause geschickt werden.«527 In der Aussage scheint sich ein unauflöslicher Widerspruch darzustellen: Einerseits handelt es sich bei der Oper um ein ›avantgardistisches‹ Werk. Es wird in die Reihe anderer avantgardistischer Musiktheaterkompositionen eingereiht, welche im regulären Spielbetrieb keine Beachtung finden und allenfalls bei der Premiere als Spektakel für Aufsehen sorgen. Im Subnarrativ dieser Beschreibung der ›avantgardistischen‹ Werke schwingt also das bereits ausgeführte, für ein ›avantgardistisches

526 O. A.: Neue Brandlegung in Stuttgart? »Das Mädchen mit den Schwefelhölzern« in der Publikumsdiskussion, in: Die Welt, 26.02.1997. 527 O. A.: Das letzte Schwefelholz. Lachenmann-Dernière in Hamburg, Süddeutsche Zeitung, 8.2.1997.

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Meisterwerk‹ erforderliche Desinteresse des Publikums mit.528 Andererseits stellt der Rezensent Das Mädchen mit den Schwefelhölzern durch die explizite quantitative Benennung der Interessenten, die Abend für Abend keinen Einlass fanden, als Publikumserfolg dar. Hinsichtlich der Publikumsreaktion bzw. des Publikumserfolgs legitimiert sich Lachenmanns Oper gewissermaßen durch zwei antagonistische Positionen, was dem Stück bzw. der Aufführung nichtsdestotrotz eine doppelte Legitimation verleiht. Besonders interessant ist, dass gerade das Qualitätsmerkmal, welches für ›Kunstmusik‹ gilt, gegen die statistische Größe eingetauscht wird, die gemäß Stuckenschmidt eher als Indiz für Musik jenseits der Kunst steht. Es scheint also, als ob eine Aufführung – zumindest für den Bereich der Beschreibung des Publikums der Uraufführung Lachenmanns lässt sich das sagen – mit den herrschenden Deutungsmustern und Strukturen des Gegenteils zu rechtfertigen versucht wird.

4.2 Einzelne Personen und Bezugsgruppen im Dienst der Legitimation Dem Publikum als kollektive Stimme, die der Kritiker in der Regel stets für seine positive Beurteilung einer Aufführung instrumentalisiert, stehen zahlreiche Zitate einzelner Zuschauer gegenüber: Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, Spezialisten mit fachlicher Expertise aus dem Bereich des Musiktheaters oder zufällig herausgegriffene Besucher geben der jeweiligen Bewertung des Kritikers – etwa durch namentliche Nennung einer Person, wörtliche Wiedergabe einzelner Meinungen oder gar durch ein abgedrucktes Foto – besonderes Gewicht. Diese Einbindung einzelner Zuschauer verleiht der Darstellung und Position des Kritikers einerseits den Eindruck der Authentizität. Andererseits zeigt der Rückgriff auf Individuen, dass sich eine Vielzahl unterschiedlicher Personen für das Musiktheater interessieren; das Publikum als kollektive Identität wird gewissermaßen durch die Konkretisierung einzelner Identitäten greifbar. Auch wenn durch die namentliche Nennung in vielen Fällen auf eine spezifische Person zu schließen ist, die Zuordnung bei Politikern oder auch dem Kritiker als Experten in der Regel als Repräsentationsinstanz außer Frage steht, so bleibt die spezifische Person nichtsdestotrotz symbolische Vertreterin einer Personengruppe. Einer solchen Bezugsgruppe liegt durch das mögliche Gefühl der rationalen oder emotionalen Zugehörigkeit ein Identifikationspotential zugrunde, das sich wiederum als Legitimationsstrategie entfalten kann. Die unterschiedlichen Bezugsgruppen erfüllen etwa die Funktion der Repräsentation, die Funktion eines Experten

528 Außerdem werden in den Besprechungen die gemischten Publikumsreaktionen hervorgehoben.

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oder dienen dazu, identifikationsbildende Prozesse als Kopplungsmanöver anzustoßen.529

4.2.1 Experten, Prominenz, ›Durchschnittsbürger‹ und andere Akteure In der Hamburger Morgenpost werden im Zusammenhang mit der letzten Vorstellung von Helmut Lachenmanns Oper Das Mädchen mit den Schwefelhölzern drei Stimmen besonders herausgestellt. Unter der Zwischenüberschrift »Drei, die auch gern dabei gewesen wären« sind Personen abgelichtet, die für die Dernière keine Karten mehr erhalten haben. Es handelt sich um einen ›Ex-Feuilletonchef‹, einen ›Komponisten‹ und eine ›Musik-Studentin‹, also allesamt Personen, die sich mit klassischer, bildungsbürgerlicher Musik auskennen und die Besonderheit der Oper Helmut Lachenmanns herausstellen.530 Studierende und junges Publikum Über die Studentin Susanne Schubert, die die Oper von Helmut Lachenmann besuchen wollte, ist zu lesen: »Sie wartete am letzten Abend vor der Kasse: ›Wenn ich wieder keine Karten bekomme, werde ich ziemlich ärgerlich. Ich bin Sängerin und würde hier und sofort notfalls auch ein Solo für die Karten singen. Ehrlich.‹«531 Auch, wenn der Rekurs in diesem Beispiel sicherlich zu einem großen Teil auf die Expertise als Sängerin abzielt, so ist das Muster, Studierenden eine Stimme zu verleihen, eine prominente Methode, einer Aufführung durch das Interesse einer jungen Publikumsschicht Bedeutung zu verleihen: »Der Student Jürgen Endres spricht von einer ›genialen Komposition‹.«532 Die Beurteilung des Studenten wird nicht begründet, sondern steht und spricht als Zitat isoliert für sich. Darüber hinaus äußert sich beispielsweise eine ›Musikstudentin‹, die ebenfalls zitiert wird, negativ über die Inszenierung.533 Durch die Zitate von Studierenden wird einerseits suggeriert, dass ein Studium der künstlerischen Einschätzung besonderes Gewicht verleiht. Studierende werden hier als Repräsentanten einer jungen, gebildeten Besucherschicht angeführt, um die Qualität der Aufführung durch ihre universitär erworbene Expertise zu untermauern. Andererseits hat es den Anschein, dass die konkrete Benennung junger Zuschauer dem Topos der ›Überalterung‹ des Opernpublikums entgegenwirken kann. Insbesondere im Zusammenhang mit Neuer Musik oder mit dem 529 Es ist an dieser Stelle abermals notwendig hervorzuheben, dass es nicht um die jeweilige Meinung oder konkrete Äußerung der Personen geht, sondern darum, wie sie innerhalb des Legitimationsdiskurses verdichtet auftreten und welche Bezugsgruppe dadurch bedient wird. 530 G. Krieger/Ch. Löwer: Die »Krach-Oper« kommt ins Archiv, in: Hamburger Morgenpost, 06.02.1997. 531 Ebd. 532 Ebd. 533 Ebd.

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Regietheater finden junge Zuschauer*innen verstärkt Erwähnung. Ein junges Publikum vermittelt den Eindruck eines progressiven Charakters einer Aufführung: Beispielsweise wird einer Inszenierung Konwitschnys laut Kritiker gerade von den jüngeren Zuschauern eine reinigende Kraft zugesprochen, wodurch die Arbeit des Regisseurs positiv bewertet und ihre Progressivität anerkannt wird. Dies geschieht dabei in deutlicher Abgrenzung von den Befindlichkeiten ›älterer Menschen‹, über die berichtet wird.534 Im Gegensatz zu dieser Differenz zwischen Jung und Alt zeigen sich einige wenige Kritiken auch vermittelnd zwischen den Generationen: Die Qualität einer Aufführung bestimmt sich beispielsweise dadurch, dass ›Jugendliche nicht zu kurz kommen‹ und auch das ›reife Theaterpublikum nicht überfordert‹ werde.535 Im Zusammenhang mit dem Musical Starlight Express liegt die Benennung von Jugendlichen, Kindern536 oder Familien in den Kritiken und Meldungen in deutlich höherer Quantität vor, als dies für den Rest des Korpus gilt. Starlight Express sei ein ›Familienstück‹, das ›Jungvolk‹ anzieht,537 so die Aussage des Produzenten. »Das Ziel sei es, auch Jugendliche, die den Weg ins Theater nicht finden, anzusprechen.«538 Ausschlaggebend für die Legitimation des Musicals ist also die Differenz der Publikumsstruktur zwischen Theatern und Musical-Veranstaltern. Im weiteren Verlauf des Artikels wird abermals deutlich, dass die sichtbare Abgrenzung zum Klischee eines alten Theaterpublikums zu Gunsten des Musicals legitimierend aufgegriffen wird: Das Musical sei wegen der großen Beliebtheit bei Jugendlichen nämlich als »Ergänzung zu den staatlichen Theatern«539 zu sehen. Ausschlaggebend für die Beliebtheit des Starlight Express beim ›jugendlichen Publikum‹ seien insbesondere »die rasanten Rollschuhfahrten, die rockige Musik und vor allem die verschiedensten Lichteffekte«540 , aber auch »die Geschichte von Rusty und Pearl, zwei verliebten Zuganhängern, […] scheint genau den Teenager-Geschmack zu treffen.«541

534 Bernd Klempnow: Denk-Mal »Csárdásfürstin«, in: Sächsische Zeitung, 19.01.2000. 535 O. A.: Eine mickrige Pflanze wird zum Monster, in: Freie Presse Chemnitz, 13.08.1992. 536 »Auch Kinder haben viel Spaß« – O. A.: »Starlight Express« auf Rollschuhen ohne Tempolimit, in: Siegener Zeitung, 23.07.1988. 537 O. A.: Kohle für den Ruhrpott, in: Spiegel 1988 (Ausgabe 23), S. 194–204, hier S. 200f. 538 O. A.: Buchungen für 10 Mio. DM, in: WAZ, 23.01.1988. 539 Ebd. 540 Nina Jeglinski: Im Expreß nach London, in: Thüringer Allgemeine, 12.09.1998. 541 Ebd. – Dass es sich bei Jugendlichen um eine nicht zu vernachlässigende Zielgruppe handelt, die dem Stück jenseits von ökonomischen Größen Legitimität verleiht, zeigt sich auch durch die touristischen Angebote, etwa die Möglichkeit, einen Besuch im Musical mit einem Besuch in einer Diskothek zu kombinieren (O. A.: Theater-Karte als Fahrkarte, in: WAZ, 11.04.1988).

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Durchschnittsbürger Neben Jugendlichen, Familien und Kindern besuchen auch weitere explizit genannte Personen oder Personengruppen das Musical Starlight Express. In der Recklinghauser Zeitung ist eine kurze Meldung mit dem Titel »Liebe wartet beim ›Starlight Express‹« abgedruckt. Neben einem Portraitfoto eines Paars mit Blumenstrauß (Mann im Nadelstreifenanzug, Halbglatze, randlose Brille, Krawatte; Frau trägt offenes, blondes Haar und Blazer) steht folgende Mitteilung: »Sabrina Strakerjahn und Daniel Baumgärtner besuchten vor genau einem Jahr eine Vorstellung von ›Starlight Express‹ zusammen mit Freunden. Dort liefen sich die beiden kaufmännischen Angestellten über den Weg und tauschten die ersten verliebten Blicke. Jetzt wurde geheiratet. Die Hochzeitsreise hat das Paar schon vollzogen. Geflittert wurde in Luxemburg.«542 Die Beschreibung dieser zwei Besucher spiegelt gewissermaßen eine Art Durchschnittsbürger543 wieder. Die Personen repräsentieren in ihrem äußerlichen Erscheinungsbild und ihrer beruflichen Tätigkeit in besonders geeigneter Weise breite Bevölkerungsschichten. Das Paar gestaltet zudem seine Freizeit mit Freunden, heiratet und macht anschließend Flitterwochen; die beiden Personen stehen somit als Teil für all die anderen ›normalen‹ Menschen, die das Musical besuchen. Zu den gewöhnlichen Durchschnittsbesuchern gehören beispielsweise ebenso »Landfrauen aus Hohenlohe«544 wie auch »44 Mitglieder der Volksbank Westrhauderfehn«545 , die mit Gruppenfoto im Zuschauerraum in einer Zeitungsmeldung abgelichtet sind. Ähnlich verhält es sich beispielsweise mit der Benennung der ›Kauffrau‹ oder der ›älteren Dame aus Mühlheim‹: »›Starlight Express‹ hat begeisterte Fans. Der offizielle Fanclub zählt 220 Mitglieder. ›Manche macht unser Musical richtig süchtig‹, weiß Christiane Peters. Und sie erzählt von einer Kauffrau vom Bodensee, die schon knapp 180mal das Stück gesehen habe. Eine ältere Dame aus dem benachbarten Mühlheim sei schon über 100mal in der Show gewesen.«546 Kulturschaffende: Komponisten, Musiker und Intendanten Regelmäßig werden auch Kulturschaffende, das heißt einzelne Komponisten, Musiker, Intendanten und andere zitiert, um eine Aufführung oder einen die Aufführung 542 O. A.: Liebe wartet beim »Starlight Express«, in: Recklinghauser Zeitung, 27.06.2006. 543 Der Begriff Durchschnittsbürger ist etwas befremdlich, er wird aber aus Ermangelung einer Alternative trotzdem verwendet. Der Durchschnittsbürger steht als Stellvertreter für eine abgrenzbare Bevölkerungsgruppe mit vergleichbaren Charakteristika. 544 Roland Schell: Ausfälle übertrafen Einfälle, in: Heilbronner Stimme, 4.2.1992. 545 O. A.: »Starlight Express« besucht, in: General Anzeiger Rhauderfehn, 15.09.2006. 546 Ute Krebs: Sternenlicht über dem Ruhrpott, in: Freie Presse Chemnitz, 12.06.1998.

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begleitenden Sachverhalt zu kommentieren und zu bewerten. Ihre Stimmen kommen denen von Experten gleich, da sie eine Situation oder künstlerische Darbietung aus der künstlerischen, gewissermaßen aus einer internen Perspektive beurteilen und bewerten können. Der Kritiker bedient sich in der Darstellung einer Aufführung häufig solcher Einzelstimmen, um seine eigene Position zu stützen, oder sich einfach der Position des zitierten Künstlers anzuschließen. Der »Komponist Prof. Oskar Gottlieb Blarr kam mit Ehefrau Margret aus Düsseldorf – mit nur einer Karte: ›Damit haben wir nicht gerechnet, daß die Karten ausverkauft sind. Daß wir die letzte Gelegenheit verpassen, diese Oper zu sehen.‹«547 Auffällig ist in den Kritiken auch die beiläufige Erwähnung bekannter Namen aus der Musiktheaterszene: Luciano Pavarotti, Harry Kupfer, Ruth Berghaus und andere. In den meisten Fällen sind die Beweggründe für dieses name-dropping inhaltlich unbegründet. So ist beispielsweise in einer Kritik der Inszenierung der Oper La Bohème zu lesen: »Die Premiere im Grazer Opernhaus, in dem sowohl der frühe Harry Kupfer wie die späte Ruth Berghaus inszeniert haben, zeigte grundsolides Handwerk«548 . An keiner Stelle in der Kritik, aus der das Zitat stammt, kann ein ästhetischer oder im allgemeineren Sinne nachvollziehbarer inhaltlicher Bezug zu den beiden Regisseuren hergestellt werden. Denkbar ist allenfalls der Bezug zwischen dem regieführenden Konwitschny und den genannten Regisseuren; die Gemeinsamkeit beläuft sich allein auf die Tatsache, dass alle drei Künstler am Grazer Opernhaus inszeniert haben. Politiker »Alles, was Rang und Namen […] hat, war vertreten, auch diejenigen, die noch jüngst lautstark nach dem Rotstift für das Theater gerufen hatten.«549 – Politiker sind regelmäßig Gegenstand von Musiktheaterkritiken. Die Berichte sind dabei stets ähnlich aufgebaut – ganz unabhängig, ob die Politiker in einem explizit politischen Auftrag oder als private Gäste zugegen sind. Im Münchner Merkur ist beispielsweise zu lesen: »Der Herr Präsident liebt die Operette«550 . Weiter heißt es: Ex-Präsident Walter Scheel gesteht, er sei ein ›Operettenfan‹.551 Neben der Nennung des Politikers und

547 G. Krieger/Ch. Löwer: Die »Krach-Oper« kommt ins Archiv, in: Hamburger Morgenpost, 06.02.1997. 548 Wolfgang Schreiber: Der Himmel über Paris, in: Süddeutsche Zeitung, 27.12.1996. – Dass es sich bei sogenanntem ›name-dropping‹ um einen nicht zu übersehenden Habitus des Bildungsbürgertums handelt, soll die legitimierende Funktion, die die genannten Regisseure hier weitestgehend bezugslos einnehmen, nicht schmälern. 549 Alfred Beaujean: Glanzvoller Auftakt [Titel nicht vollständig lesbar], in: Aachener Volkszeitung, 05.09.1989. 550 Fritz Woock: Der Herr Präsident liebt die Operette, in: Münchner Merkur, 30.08.1997. 551 Ebd.

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der wörtlichen Wiedergabe seiner Leidenschaft für die Operette ist Scheel mit anderen prominenten Gästen auf einer Photographie abgelichtet. Die Bildunterschrift nennt die Namen und die gesellschaftliche Funktion der Abgebildeten; meist handelt es sich zusätzlich um in der Stadt einflussreiche, wohlhabende Prominenz, die in Gesellschaft eines namhaften Politikers abgebildet sind. Diese Form der politischen Präsentation verleiht der besprochenen Aufführung einerseits eine elitäre Aura und stellt andererseits das Opernhaus bzw. den Spielort auch als Zentrum eines – meist gehobenen – gesellschaftlichen Ereignisses dar. Ohne näher auf die genauen Umstände einzugehen oder die Beziehung der abgelichteten Personen zum Opernhaus näher auszuführen, werden im Zusammenhang mit einer Idomeneo-Premiere in Hamburg 1990 beispielsweise zwei Bilder mit prominenten Besuchern abgelichtet. Auf dem ersten Bild sind Kultursenator Ingo von Münch und Finanzsenator Hans-Jürgen Krupp zu sehen, die mit ihren Ehefrauen Eva-Marie und Ilse die Premierenfeier besuchten.552 Die Unterschrift des zweiten Bildes lautet: »Hermann Schnabel und Frau Else tranken mit Eberhard-Rainer Luckey (links, Vereins- und Westbank) ein Glas Taittinger-Champagner.«553 Der Champagner kann hier zweifelsohne als Hinweis auf ein gehobenes gesellschaftliches Ereignis interpretiert werden. Und auch die Funktion der abgelichteten Personen hebt die Veranstaltung auf ein elitär anmutendes Niveau. Es steht außer Frage, dass die Anwesenheit von Politikern als demokratisch gewählten Repräsentanten einer staatlichen Ordnung der jeweiligen Aufführung, aber darüber hinaus auch der Gattung oder Institution kraft ihrer offiziellen Autorität Legitimität verleiht. Beispielsweise besucht Johannes Rau als Ministerpräsident 1987 die sich noch im Bau befindende Starlight-Halle, von der »Rau sichtlich begeistert«554 war. Zur geplanten Premiere im Mai 1988 äußerte er: »Natürlich komme ich!«555 Stars und Prominenz Kurz vor der Premiere von Starlight-Express im Londoner Apollo-Victoria-Theater besuchten Königin Elizabeth II. und ihr Mann eine ›exklusive Galavorstellung‹, der weitere ausgewählte Zuschauer beiwohnten.556 Abgedruckt ist ein Foto, auf dem die Queen das Ehepaar Webber durch Händedruck begrüßt. »Noch ein paar Stimmen aus Prominentenmund:«557 Neben Politikern und Industriellen werden häufig wei-

552 O. A.: Staatsoper im Mozart-Rausch. Glanzvolle Premiere von »Idomeneo«, in: Bild Hamburg, 17.1.1990. 553 Ebd. 554 O. A.: Starlight Premiere mit Rau, in: WAZ, 03.10.1987. 555 Ebd. 556 O. A.: Verliebte Eisenbahnen, in: Kieler Nachrichten, 24.03.1984. 557 Fritz Woock: Der Herr Präsident liebt die Operette, in: Münchner Merkur, 30.08.1997.

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tere prominente Gäste genannt. Etwa Fernsehmoderatoren, bekannte Professoren, Sänger und Adlige. So z.B. Christine Westermann (WDR-Moderatorin)558 , Prinz Edward (Sohn von Königin Elizabeth)559 , Thomas Gottschalk und Mick Jagger560 sowie Prof. Habermehl.561 Eine Sonderstellung nehmen prominente Zuschauer und prominente Künstler auf der Bühne ein, denen entweder die Aura eines Stars anhaftet oder die explizit als solche charakterisiert werden. An dieser Stelle irrelevant ist die Frage der Abgrenzung einer prominenten Persönlichkeit von Star zu Nicht-Star; ausschlaggebend ist allein die mediale Referenz oder der allgemeine Bekanntheitsgrad der Person als Star, auf den in den Zeitungsartikeln rekurriert wird. Darüber hinaus ist auch nicht von Bedeutung, ob eine bestimmte Person Merkmale aufweist, die für die Klassifizierung als Star notwendig sind. Der Annahme folgend, dass die Produktion eines Stars auf einer wechselseitigen Beziehung von Zuschreibung und Reflexion beruht, ist ein Star, vereinfacht ausgedrückt, also zunächst einmal jemand, der als solcher bezeichnet wird.562 Die jeweiligen situativen Besonderheiten um den Star-Topos innerhalb der untersuchten Kritiken sind sehr heterogen, da es sich sowohl um die Darstellung von Stars handelt, die sich innerhalb des Musiktheaterdiskurses ausbilden, als auch um Stars, die ihre Aura aus anderen, zumeist popkulturellen Diskursen beziehen – in letzterem Fall als Zuschauer einer Aufführung. So kann Luciano Pavarotti beispielsweise als Sinnbild für Stars auf der Bühne gelten, während Mick Jagger und Tina Turner die Stars auf der Besucherseite einer Musiktheateraufführung repräsentieren.563 Denn in der Regel sind es Sänger und Sängerinnen, die in den Artikeln als international gefeierte Stars im Mittelpunkt stehen. So wird etwa berichtet, dass »Hamburgs Oper […] im Begeisterungsrausch über die Legende Luciano«564 erschauerte, während gleichermaßen international bekannte MusicalSänger hervorgehoben werden, die ihre erfolgreiche Karriere bereits in einem anderen Musical begründet haben. Wenn in die Jahre gekommene ›Weltstars‹ als gefeierte »Operettengeschichte« auf der Bühne stehen und »nur ein paar zittrige

558 O. A.: Prominenter Gast bei Starlight Express, in: Westdeutsche Allgemeine Zeitung, 12.08.2006. 559 Valentine A. Mortimer: Für Königin Elizabeths jüngsten Sohn hat ein völlig neues Leben begonnen, in: Neue Post, Mai 1988. 560 O. A.: Mick Jagger zur Premiere, in: Westdeutsche Allgemeine Zeitung, ohne Datum. 561 Susi Röder: Pavarotti in der Staatsoper. Riesen-Jubel um eine glanzvolle »La Bohème«, 02.03.1989. 562 Siehe bspw. Werner Faulstich: Medienkulturen, 2000, München: Fink, S. 201–212. 563 O. A.: Mick Jagger zur Premiere, in: WAZ 6.6.1988 respektive Regina Willnecker: Wie Mimi zum Model wurde, in: Die Welt, 01.08.1994. 564 Christa Knauer: Luciano Pavarotti verzauberte Hamburg, in: Harburger Anzeigen und Nachrichten, 02.03.1989.

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Töne singen, dann tobt schon das Publikum.«565 Neben ›großen Namen‹ oder etablierten Starfiguren kommt der Rekurs auf weitere Stars hinzu, die sich jedoch erst im Entwicklungsprozess ihrer Star-Aura befinden, das heißt, deren Anerkennung als Star noch nicht vollzogen ist, denen aber Star-Potential zugeschrieben wird. Obwohl sie eben den Bekanntheitsgrad, der für einen Star vonnöten ist, noch nicht erreicht haben, werden sie als so genannte ›Entdeckung‹ vorgestellt, die dem Zuschauer gewissermaßen die Möglichkeit gibt, bei der Produktion eines Stars zugegen zu sein: »Die erst 27jährige Amerikanerin Kallen Esperian gilt als Luciano Pavarottis Entdeckung«566 . Und in einer anderen Kritik heißt es in vergleichbarem Duktus: »Die größten Ovationen auf offener Szene ersang sich Kurt Streit […] – ein Mozartsänger der Sonderklasse meldet hier erneut Anspruch auf eine noch ganz große Karriere an.«567 Unter Berücksichtigung der Feststellung Konstanze Krieses,568 dass nämlich ›Star‹ als Begriff in den Medien inflationär genutzt werde, verwundert es auch nicht, dass der Wirkungskreis und die Popularität der genannten Stars innerhalb des Korpus sehr stark divergiert. Aufgrund dieser diffusen Heterogenität erschließt sich auf den ersten Blick keine eindeutige Funktion der Benennung von sogenannten Stars in den Kritiken. Was jedoch auffällt, ist, dass die Verwendung der prominenten, mit einer Star-Aura bzw. mit dem Star-Emblem besetzten Figuren in den Berichten durchweg positiv genutzt wird und die kulturpessimistische Auslegung, die den wissenschaftlichen Diskurs zum Star – zumindest im Fachbereich der Musikwissenschaft in Anlehnung an die Ausführungen zur Kulturindustrie von Adorno und Horkheimer – lange Zeit bestimmt hat, überhaupt nicht zur Sprache kommt. Im Gegensatz zur Prominenz, wie sie als mögliches Moment der Repräsentation bereits dargestellt wurde, ist dem Emblem des Stars durch die Reflexivität immer auch der Fan eingeschrieben, der den Star als identitätskonstruktivistisches Moment nutzt.569 Katrin Keller plädiert dafür, »Star-Nutzungs-Prozesse […] als funktional äquivalent zu identitätsbildenden Prozessen«570 zu begreifen. Allerdings ist

565 Manuel Brug: Operette auf dem Silbertablett, in: Die Welt, 30.12.1998. 566 Ingvelde Geleng: Ein vitales Wunder, in: Nürnberger Zeitung, 27.12.1988. 567 Christa Knauer: Opulente Reise in die Sagenwelt, in: Harburger Anzeigen und Nachrichten, 15.01.1990. 568 Konstanze Kriese: Inflation der Stars. Industrialisierung der göttlichen Einmaligkeit, in: Konstanze Kriese (Hg.): Zwischen Rausch und Ritual, 1994, Berlin: Zyankrise, S. 100–124. 569 Die Abgrenzung zwischen Prominenz und Star für die identitätswirksame Nutzung ist sicherlich fließend und die hier vorgenommene Unterscheidung soll insbesondere der Illustration unterschiedlicher Funktionen dienen. Das heißt jedoch nicht, dass prominente Personen, die nicht als Stars bezeichnet werden, nicht auch identitätskonstruktiv genutzt werden könnten. 570 Katrin Keller: Der Star und seine Nutzer. Starkult und Identität in der Mediengesellschaft, 2008, Bielefeld: transcript Verlag, S. 19.

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die Differenz zwischen dem parasozialen Star und dem Star-Nutzer nicht in allen Fällen vorhanden. Deutlich wird dies beispielsweise durch den regionalen Bezug im Bericht über den Darsteller des russischen Schnellzugs ,Turnov‘ im Starlight Express. Stephan Monzel, der von seinem Heimatdorf als Star gefeiert wird, ist für den Mangel einer parasozialen Differenz ein gutes Beispiel: »Das ganze Dorf […] rollte in Bochum an, um dem ›verlorenen‹ Sohn im Lokomotiven-Kostüm zuzujubeln. […] In Föhren ist der neue ›Turnov‹ jetzt ein Star.«571 Identitätskonstruktion durch vermeintliche Star-Differenz nähert sich in diesem Fall sehr stark an Identitätskonstruktion durch Identifikation. Die Kritiker*innen Der ehemalige Feuilletonchef der Zeit, Ulrich Greiner, konnte für den letzten Vorstellungsabend von Lachenmanns Oper auch keine Eintrittskarte mehr bekommen. Er gehört ebenso wie die Studentin und der herausgestellte Komponist zu den ›Drei, die auch gern dabei gewesen wären‹. Greiner beteuert: »[S]olche Stücke sind seltene Gelegenheiten, neue, ungewöhnliche Musik zu hören, die man nicht verpassen darf.«572 Die Stellungnahme Greiners erhält gerade durch seine ausgeübte Funktion als ehemaliger Feuilletonchef besonderes Gewicht. Der Kulturjournalismus im Feuilleton, zu dem insbesondere auch Musiktheaterkritiken gehören, gehört zweifelsohne »zum spezialisierten Journalismus, an dessen Ausübung gewisse Qualifikationserwartungen geknüpft werden.«573 Die Expertise Greiners, die durch die Ressortleitung des Kulturteils einer überregionalen Zeitung zum Ausdruck kommt, unterstreicht die Einmaligkeit der Oper Lachenmanns. Dies verwundert nicht, denn Expertise ist eine Voraussetzung, um in einem bestimmten fachlichen Umfeld als Autorität zu gelten. Der Feuilletonchef, aber besonders der Kritiker selbst, bezieht als Experte auf dem Gebiet des Musiktheaters Stellung zu einer kollektiven künstlerischen Leistung. Die Expertise (durch Wissen und Argumente – also gewissermaßen Wissenschaftlichkeit) in seinem Fachgebiet verleiht dem Kritiker Legitimität, die letztendlich auch auf die Bewertungen ausstrahlt. Was in diesem Zusammenhang auffällt, ist die bisweilen sehr persönliche und emotionale, auf den eigenen Geschmack rekurrierende Einordnung der Aufführungen, was zur sachlichen und objektiven Bewertung in starkem Widerspruch steht. »Und es soll Menschen geben, die diese Oper furchtbar finden. Ich finde sie auch furchtbar. Aber furcht-

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O. A.: Stephan aus Föhren – ganzes Dorf feiert seinen Starlight-Star, in: Neue Westfälische, 03.09.1998. 572 G. Krieger/Ch. Löwer: Die »Krach-Oper« kommt ins Archiv, in: Hamburger Morgenpost, 06.02.1997. 573 Ulrich Saxer: Kunstberichterstattung. Analyse einer publizistischen Struktur, Zürich: Seminar für Publizistikwissenschaft der Universität Zürich, 1995, [= Diskussionspunkt, Bd. 29], S. 7.

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bar schön.«574 Eine Begründung bleibt im weiteren Verlauf der Kritik aus. Die Einschätzung des Kritikers gilt als gesetztes Wort, für das es keiner weiteren Erklärung bedarf, und das der Oper ganz allgemein Legitimität zuspricht. Denn obwohl der Abend wegen der Inszenierung, die nach seiner Maßgabe nicht gelungen sei, nicht besonders gut war, konstatiert er: »Macht nichts, so leicht läßt sich der wahre Opernfreund seinen Puccini nicht vergraulen, denn er trägt seine Vorstellung von ›La Bohème‹ im Herzen, und in dieser, seiner Idee ist die Oper wunderschön. […] Trotz dieses Abends: ›La Bohème‹ bleibt meine Lieblingsoper.«575 Die Expertise des Kritikers kommt auch dann deutlich zum Vorschein, wenn er bisweilen die kollektiven Publikumsreaktionen kommentiert bzw. korrigiert und feststellt, dass »die Buhs für sie [die Sängerinnen, Anm. CW] eher ungerecht«576 waren. Und die ›Buhs‹ gegen »den Chordirektor zeugten von Verwechslung mit dem Regisseur, der, wenn überhaupt, das richtige Feindbild war.«577 Dies ist bemerkenswert, aber selten, weil sich der Kritiker in seiner Bewertung des Dargebotenen in der Regel an den Publikumsreaktionen orientiert.

4.2.2 Partizipation Die rezipierbare performative Partizipation des Publikums beschränkt sich während einer Aufführung weitgehend auf den Skandal als Form der aktiven Teilhabe, das heißt auf Zwischenrufe und hörbare Geräusche durch das Verlassen des Zuschauerraums einzelner Besucher bei einer Aufführung.578 Die Aufführung dient darüber hinaus »als Forum für diejenigen Zeitgenossen, die gesehen werden wollen«579 , was in logischer Konsequenz bedeutet, dass der Garderobe des Publikums in den Kritiken regelmäßig Aufmerksamkeit geschenkt wird. Ein Kritiker beklagt sich etwa darüber, dass Placido Domingo die besuchte Vorstellung aus gesundheitlichen Gründen absagen musste und schreibt: »[U]nd in einer anderen Kritik wird über die Kleidung gesprochen (Domingo fällt aus – oder so ähnlich – und dafür hat man sich in Smoking und Abendgarderobe geworfen?).«580 In einem Artikel über ei574 Bernd Hielscher: »Erbärmlicher Pinsel«, schimpft Marcel. Passauer Oper präsentiert Puccinis »La Bohème« im Punk-Look, in: Straubinger Tagblatt, 19.11.1993. 575 Bernd Hielscher: »Erbärmlicher Pinsel«, schimpft Marcel. Passauer Oper präsentiert Puccinis »La Bohème« im Punk-Look, in: Straubinger Tagblatt, 19.11.1993. 576 Aldo Lindhorst: Operettenglückseligkeit? Nein, Krieg, in: Leipziger Volkszeitung, 03.01.2000. 577 Ebd. 578 Eine »beträchtliche Zahl [Zuschauer verschwand] schon während der Aufführung.« – Wolfgang Nölter: Es rattert, raschelt, zischt und knallt, in: Mindener Tagblatt, 01.02.1997. 579 Brigitta Mazanec: Im Reich der singenden Puppen, in: Mannheimer Morgen, 09.03.1995. 580 In einer einzigen Kritik zum Starlight Express wird auch über Kleidung gesprochen. Der Unterschied zu den bereits angeführten Zitaten ist deutlich. Während der Rekurs auf Abendgarderobe ausschließlich bei Aufführungen im Opernhaus bemüht wird, ist einer Aufführung zu Starlight Express folgende Bemerkung zur Garderobe zu entnehmen: »Verschämt hängt ein einsames Sakko über einer noch einsameren Schulter. Da will jemand auf den Kulturtrip,

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nen Galaabend mit Luciano Pavarotti in der Rolle des Rodolfo aus der Oper »La Bohème« von Giaccomo Puccini wird von »festlich gekleideten Opernbesuchern (die Damen fast alle in kurzen Kleidern, ein Teil der Herren im Smoking)«581 berichtet, in einer anderen Kritik auch über den Schmuck der Witwe Emmerich Kálmáns: Sie sei »mit Klunkern reich bestückt«582 . Gelegentlich wird auch über Partizipation des Publikums in Diskussionsrunden im Opernhaus berichtet.583 Insbesondere aber im Zusammenhang mit dem Musical Starlight Express fällt die performative Partizipation des Publikums in den Artikeln und Meldungen stark auf. Die Einbindung des Publikums erfolgt durch unterschiedliche Handlungsmöglichkeiten jenseits der passiven Rezeption, der Repräsentation von Kleidung oder des verbalen Protests. In den Artikeln zum Starlight Express wird insbesondere vermehrt über einzelne Fans berichtet. Darüber hinaus stehen Aktionen im Mittelpunkt, an denen Besucher aktiv teilgenommen haben oder teilnehmen können. Der Rezipient in seiner passiven Rolle wird zum handelnden und teilhabenden, gewissermaßen performativen Akteur transformiert. Darüber hinaus verleiht die Einbindung einzelner Zuschauer auch dem restlichen Publikum die Möglichkeit, sich stärker mit dem Musical zu identifizieren. Ein gutes Beispiel für die deutlich sichtbare Rollentransformation ist der Assistenzarzt Carsten Hullermann, dessen Wunsch, im Musical Starlight Express mitzuwirken, im Rahmen einer Aktion des Westdeutschen Rundfunks erfüllt wurde: »Einmal Star beim Starlight Express sein«584 . Verkleidet als Zugwagen Rusty, der Hauptrolle des Musicals, fuhr Hullermann auf Rollschuhen einige Runden in Begleitung von zwei Darstellern durch die Starlight-Halle. Abgelichtet ist der – dem Gesichtsausdruck nach zu urteilen sehr glückliche – Arzt als Wagon Rusty. In regelmäßigen Abständen feiert Starlight Express den erreichten Besucherrekord und präsentiert die Person, deren Eintrittskarte zufällig den Rekord bestimmt.

unterm Hemd starrt der Feinripp. Der Rest brütet in Freizeithose und T-Shirt.« – Wolfram Goertz: Ein Brausen tief im Westen, in: Rheinische Post Düsseldorf, 14.08.1997. Im Gegensatz zu allen anderen in dieser Arbeit aufgeführten diskursiven Strategien ist in Bezug auf die Kleidung des Publikums eine Abnahme der Berichterstattung zu verzeichnen. Berichte über einzelne Kleidungsstücke der Zuschauer treten deutlich häufiger in den Kritiken der späten 1980er und 1990er Jahre auf. Außerdem ist der Einfluss des Mediums, in dem die Kritik publiziert wurde, im Fall der Kleidung sehr deutlich. Die Dichte mit Berichten zu einzelnen Kleidern überwiegt in der Bildzeitung im Vergleich zu anderen Medien. 581 Susi Röder: Pavarotti in der Staatsoper: Riesen Jubel um eine glanzvolle »La Bohème«, in: Bild Hamburg, 02.03.1989. 582 Fritz Woock: Der Herr Präsident liebt die Operette, in: Münchner Merkur, 30.08.1997. 583 Bernd Klempnow: Operettenstreit. ›Csárdásfürstin‹ und kein Ende, in: Süddeutsche Zeitung, 08.03.2000. 584 O. A.: Einmal auf der Bühne von Starlight, in: Münstersche Zeitung, 29.07.2006.

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Prämiert wird der Besucher nicht nur mit medialer Aufmerksamkeit, sondern regelmäßig auch mit einer Reise. Die namentlich genannte siebenmillionste Besucherin gewann beispielsweise eine Reise nach London585 und der 11.111.111. Zuschauer eine Reise nach Los Angeles.586 Die Auszeichnung eines einzelnen Zuschauers aus dem Publikum zeigt einerseits die ihm entgegengebrachte Wertschätzung. Andererseits hätte auch jeder andere Zuschauer der oder die glückliche Gewinner*in sein können, was die Besucher*innen mehr einbindet und dadurch mehr Identifikationspotential schafft. Ein weiteres interessantes Beispiel für die Partizipation des Publikums ist außerdem, dass Schülerinnen einer Realschule die Gelegenheit erhalten, eine von ihnen besuchte Aufführung des Starlight Express zu rezensieren. Die Begeisterung der beiden Rezensentinnen lässt sich deutlich an der ausführlichen Rezension ablesen: »Am Sonntag, 10. September, durften wir, zwei echte Starlight-Express-Fans, das Rennen mal wieder miterleben. Als wir die kühle Halle betraten, klappte uns der Mund auf, denn vor uns lag die atemberaubende ›Rennstrecke‹. […] Wir haben das Musical ganz bestimmt nicht zum letzten Mal gesehen.«587 Starlight Express schreibt darüber hinaus häufig Preisrätsel aus.588 Zu gewinnen gibt es in der Regel kostenlose Eintrittskarten für den Besuch einer Vorstellung des Musicals. Die Preisausschreiben rücken die Gewinner, das heißt einzelne Personen – oft auch namentlich genannt – in den Vordergrund und vermitteln durch die Vielzahl der Einsendungen den Eindruck eines starken Interesses der Bevölkerung an der Vorstellung. Besonders interessant sind auch die unterschiedlichen Kooperationspartner, die deutlich zeigen, dass die Ausschreibungen eine große Anzahl an Personen erreicht: »Essener Bürger kennen sich mit Glasrecycling aus: Knapp 94 Prozent der Einsender beantworteten bei einem Preisrätsel des Dualen Entsorgungssystems Karnap-Städte die Fachfragen richtig. Jeweils zwei Eintrittskarten für das Musical ›Starlight Express‹ in Bochum gewannen Dr. Wolfgang Herich und Karl-

585 O. A.: Rekord bei Starlight: Schon 7 Mio. Besucher, in: Neue Westfälische, 05.11.1998. 586 O. A.: Ein kleiner Ostfriese mit der richtigen Schnapszahl, in: Da Capo, 06/2010. 587 Julia Baumgart/Julia Mahltig: Starlight Express: Darsteller humpelte von der Bühne, in: Westfälische Rundschau Dortmund, 15.09.2006. 588 O. A.: Der große Ratespaß, in: Welt der Frau, 12. Juli 2006. – Mit dem richtigen Lösungswort des Kreuzworträtsels haben die Einsender die Chance, zwei Eintrittskarten für das »Erfolgsmusical« zu gewinnen.

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Heinz Lüttringhaus. Insgesamt beteiligten sich 1883 Bürger aus Essen und den Nachbarstädten an dem Wettbewerb der Umweltzeitung ›Perspektiven‹.«589 Darüber hinaus wird durch diverse Zeitungsmeldungen deutlich, dass das Musical Starlight Express in die Stadtgesellschaft eingebunden ist. So wird über Darsteller berichtet, die kostümiert bei diversen Veranstaltungen in Bochum teilnehmen. Beispielsweise durch eine Show-Einlage bei der Gesundheits-Aktion »Deutschland bewegt sich – Bochum macht mit!«590

4.2.3 Künstler und Konflikte Der Theaterskandal bildet in der Regel einen Konflikt zwischen Publikum und Bühne ab. Bemerkenswerte Konflikte entstehen immer dann, wenn vermeintliche oder tatsächliche Grenzen überschritten werden. Darüber hinaus entstehen weitere Konflikte, wenn sich einzelne Akteure ihrer künstlerischen Freiheit beraubt sehen. Die daraus resultierende Evokation der künstlerischen Freiheit hat legitimierende Funktion. Bisweilen kommen konfliktbehaftete Auseinandersetzungen unter Künstlern, zwischen Künstlern und organisatorischem Personal oder einzelnen Zuschauern vor. Die Konflikte werden sogar gelegentlich vor Gericht bestritten, rücken dabei meist die künstlerische Leistung des inszenierenden Regisseurs in den Fokus und sind eng verknüpft mit seinen urheberrechtlichen Ansprüchen.591 Aber auch enttäuschte Publikumserwartungen sind Teil gerichtlicher Verfahren: Weil ein Besucher der Salzburger Festspiele die besuchte Operette Die Fledermaus in der Inszenierung von Hans Neuenfels nicht als das Werk Johann Strauss’ wiedererkannte und seiner Meinung nach getäuscht wurde, forderte er vor Gericht das Eintrittsgeld zurück.592 Ein Paradebeispiel für eine juristische Auseinandersetzung ist der Prozess zwischen dem Regisseur Peter Konwitschny und dem Intendanten der Dresdner Semperoper Christoph Albrecht, der ohne Absprache mit dem Regisseur in der Spielzeit 1999/2000 eine Änderung der Inszenierung der Csárdásfürstin durch die Strei589 O. A.: Essener kennen sich aus mit Glasrecycling, in: Westdeutsche Allgemeine Zeitung (Essen), 16.07.1998. 590 O. A.: Der Boulevard verwandelt sich in eine Freiluftarena, in: Westdeutsche allgemeine Zeitung Bochum, 23.8.2006. 591 Von Konflikten wird auch zwischen Musikern und Lachenmann berichtet, da sogenannte ›neue Spieltechniken‹ bei der Umsetzung der Klangvorstellung Lachenmanns bei den Proben zu seiner Oper als unmöglich eingestuft werden; Lachenmann habe »immer unter den Widerständen der Chorsänger und Orchestermusiker gelitten« – O. A.: »Der Erfolg hat mich überrascht«, in: Hamburger Abendblatt, 29.1.1997. 592 Entscheidung des Landesgerichts Salzburg vom 10.03.2003, 53 R 417/02h, Medien und Recht 2003, 391–394. – Siehe dazu auch Erik Jayme: Regietheater als Rechtsproblem, in: Kulturgüterschutz – Künstlerschutz, Baden-Baden: Nomos, 2009 [= Schriften zum Kunst- und Kulturrecht, Bd. 4, hg. von Matthias Weller et al.], S. 135–146.

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chung dreier Szenen vorgenommen hatte.593 Der Regisseur sah sich in seiner künstlerischen Freiheit beschnitten und forderte eine Rückgängigmachung mit sofortiger Wirkung oder das Absetzen der Inszenierung vom Spielplan. Da die Theaterleitung den Wünschen Konwitschnys nicht nachkam, sondern die Operette mit geänderter Inszenierung zur Aufführung brachte, erwirkte der Regisseur eine einstweilige Verfügung und beschritt den juristischen Weg. Konwitschny bekam in erster Instanz als Kläger Recht vor dem Landgericht Leipzig. Das Gericht begründete die Entscheidung maßgeblich durch die ›Werkqualität‹ der Inszenierung und durch die damit einhergehende urheberrechtliche Schutzwürdigkeit der Arbeit Konwitschnys. Außerdem besaß der Intendant Albrecht Kenntnis über die Konzeption der Inszenierung.594 Die Semperoper Dresden als Verfügungsbeklagte ging in zweiter Instanz vor dem Oberlandesgericht Dresden in Berufung. Diese wurde abgewiesen, da nach Ansicht des Gerichts die vorgenommenen »Änderungen eine Beeinträchtigung [der] Regieleistung darstellen, die geeignet ist, [das] Ansehen oder [den] Ruf als ausübender Künstler zu gefährden, und deshalb [das schutzwürdige Interesse des Regisseurs] an der Integrität der Interpretation verletzen.«595 Der Rechtsstreit zwischen Konwitschny und der Semperoper im Anschluss an die Aufführung der durch die Opernleitung abgeänderten Fassung wurde durch diverse Zeitungsartikel begleitet und kommentiert. Der Skandal durch die Inszenierungsarbeit Konwitschnys, der die Handlung der Operette mit ihrer Entstehungszeit während des ersten Weltkriegs verknüpfte, wurde durch den nach der Premiere vollzogenen und ebenfalls als skandalös bezeichneten Eingriff des Intendanten abgelöst, der seine Entscheidung während des Verfahrens regelmäßig verteidigte und auch bei Diskussionen zur »Freiheit der Kunst? Freiheit der Interpretation?« Stellung zu seiner Entscheidung nahm.596 Die juristische Auseinandersetzung um Fragen zum Urheberrecht zwischen dem Regisseur und dem Intendanten erlangte in diesem Fall besondere Aufmerksamkeit, gerade wegen möglicher Folgen für die gesamte Theaterlandschaft.597 Die Entscheidung des Landgerichts Leipzig bzw. die

593 Folgende Streichungen wurden auf Anweisung von Albrecht vorgenommen: (1) 2. Akt, 4. Szene: der Vater Edwins wirft aus Wut eine Stabhandgranate, die im Schützengraben explodiert. Aus dem Graben fliegen dann für das Publikum sichtbar Körperteile heraus. (2) Während des Quartett Nr. 10 (12. und 13. Szene des 2. Aktes) tanzt Sylva mit einer kopflosen Leiche, deren abgetrennter Kopf (3) in der 14. Szene während eines Gesangsduettes auf einer Bahre transportiert wird. – Siehe das Urteil des OLG Dresden vom 16.05.2000, 14 U 729/00, juris. 594 LG Leipzig, Urteil vom 23.02.2000, 5 O 556/00, juris. 595 OLG Dresden, Urteil vom 16.05.2000, 14 U 729/00, juris. 596 Bernd Klempnow: Operettenstreit. »Csárdásfürstin« und kein Ende, in: Süddeutsche Zeitung, 08.03.2000. 597 Siehe beispielsweise den detaillierten Bericht zur Entscheidung des Landgerichts Leipzig: O. A.: Gericht untersagt Eingriff in Konwitschny-Inszenierung, in: Leipziger Volkszeitung, 24.02.2000.

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erwartete Entscheidung des Oberlandesgerichts Dresden wurden hinsichtlich eines umfassenden Urheberrechts für Regiearbeiten als Präzedenzfall angesehen und öffentlich diskutiert. So schreibt etwa ein Journalist: »Sollte Konwitschny das Urheberrecht an seiner Inszenierung zuerkannt werden, dann muss die Leitung der Semperoper die Original-Regie wiederherstellen oder die Produktion absetzen. Ein Urteil, das bedenkliche Folgen auf die Spielplanpolitik der Opernhäuser, der Theater überhaupt hätte. Jeder Intendant würde sich zwei Mal überlegen, einen Regisseur zu engagieren, dessen Arbeit auf unerwünschten Protest stoßen, oder ›änderungsbedürftig‹ sein könnte.«598 Mit Verweis auf bereits geführte urheberrechtliche Gerichtsverfahren wird trotz der allgemeinen Bedenken des Journalisten deutlich, dass dieser im konkreten Fall die Position Konwitschnys unterstützt. Denn »nicht jeder Regisseur hat das Format eines […] Konwitschny.«599 Dem Regisseur wird gewissermaßen eine Sonderstellung hinsichtlich seiner künstlerischen Expertise zuerkannt. Im Zentrum der medialen Dokumentation und Diskussion des Rechtsstreits bleibt jedoch Artikel 5 des Grundgesetzes, unterstrichen durch ein Zitat von Konwitschnys Anwalt: »Dort steht ›Kunst ist frei‹. Einfacher und schöner kann man es nicht formulieren.«600 Das aus Artikel 5 des Grundgesetzes hergeleitete Persönlichkeitsrecht des Regisseurs, auf das sich Konwitschnys Rechtsanwalt unter anderem beruft, wird in einem anderen Zeitungsartikel jedoch polemisch als ›Eitelkeitsparagraph‹ bezeichnet. Mit Verweis auf vorangegangene gescheiterte Verfahren, ein »Copyright für die Regie«601 zu erwirken, werden hier die Folgen eines zugestandenen Urheberrechts für Regiearbeiten dargestellt. Gestützt durch zahlreiche Beispiele resümiert ein anderer Journalist: »Im Theateralltag werden Inszenierungen immer wieder und immer neu an die momentanen Möglichkeiten und die agierenden Darsteller angepasst. Und jede Anpassung ist ein Eingriff in die Regie. Wer diese unter den Schutz des Urheberrechts stellt, verhindert den Repertoirebetrieb des Theaters.«602 Die öffentlichen Diskussionen um das Ideal der Freiheit der Kunst im Zuge einer Auseinandersetzung zwischen künstlerischem und organisatorischem Personal eines Opernhauses sind kein Einzelfall. Vergleichbare Diskussionen wurden beispielsweise auch geführt, nachdem die Intendantin Kirsten Harms die Inszenierung des Idomeneo von Neuenfels 2006 vorübergehend – wegen einer

598 599 600 601 602

Jochen Breiholz: Im Namen der Csárdásfürstin, in: Die Welt, 12.01.2000. Ebd. Ebd. Reinhard Beuth: Eitelkeitsparagraph, in: Berliner Morgenpost, 21.01.2000. Ebd.

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Bombendrohung – vom Spielplan nahm. Obwohl es nicht zu einer gerichtlichen Auseinandersetzung kam, richtete sich die mediale Aufmerksamkeit insbesondere auf die Entscheidung der Intendantin und den Aspekt der Kunstfreiheit. Anhand des Rechtsstreits und der medialen Aufmerksamkeit im Zuge von Konwitschnys Inszenierung der Csárdásfürstin wird deutlich, dass Konflikte im Musiktheater bzw. in der Musiktheaterregie zwischen einzelnen Personen ein übergeordnetes künstlerisches Ideal in den Fokus rücken, welches sich in der Floskel ›Kunstfreiheit‹ oder ›Freiheit der Kunst‹ niederschlägt: »Bei dem Krach, mit folgender Trennung zwischen Regisseur und Intendant, geht es nicht um Überspanntheiten eines Künstlers. Hier geht es um die Freiheit von Kunst, die ja bekanntlich alles kann, wenn sie es kann.«603 Kunstfreiheit steht bei öffentlich oder auch gerichtlich ausgetragenen Konflikten als Legitimationsstrategie im Mittelpunkt und zeichnet sich durch ihren absoluten Geltungsanspruch aus, der zwar nicht näher ausgeführt wird, aber unantastbar bleibt. Kunstfreiheit verweist in solchen Fällen auf die künstlerische Bedeutung des Musiktheaters. Der spezifische Konflikt um künstlerische Freiheit strahlt als Einzelfall auf die Gattung oder die Institution allgemein ab und legitimiert diese quasi doppelt: Einerseits durch den diskursiv postulierten verfassungsrechtlichen Anspruch der Kunstfreiheit und andererseits durch die Durchführung eines Gerichtsverfahrens mit abschließend gefällten normativen Urteilen. Der Skandal bei Konwitschnys Inszenierung der Csárdásfürstin erfolgte zusätzlich auf zwei Ebenen: Zunächst durch die Empörung des Publikums über die Inszenierung, maßgeblich über einige bestimmte Szenen (etwa die Szene der kopflosen tanzenden Leiche), anschließend durch den Eingriff des Intendanten.

5. Ökonomische Positionen »Gegenwärtig dagegen gilt der Markt mehr und mehr als legitime Legitimationsinstanz.«604 Ticketpreise, Subventionen, Gewinne – in den untersuchten Berichten und Kritiken geht es häufig um Geld. Dabei orientieren sich die Themenschwerpunkte innerhalb der Artikel deutlich an der jeweiligen Wirtschaftsform des produzierenden Unternehmens bzw. Theaters. Es ist nicht verwunderlich, dass insbesondere

603 Joachim Lange: Wenn Regie-›Granaten‹ in die heile Operettenfassade einschlagen, in: Saarbrücker Zeitung, 08.01.2000. 604 Pierre Bourdieu: Über das Fernsehen, Suhrkamp Verlag Frankfurt a. M., 1998, S. 36.

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marktwirtschaftlich funktionierende, gewinnorientierte Faktoren im Zusammenhang mit dem Musical Starlight Express hervorgehoben werden und legitimierend wirken, während Aufführungen an Opernhäusern den Aspekt der staatlichen Kulturförderung herausstellen. Die Analyseergebnisse der unterschiedlichen ökonomischen Positionen innerhalb des Korpus legen es nahe, dem Diskurs zu wirtschaftlichen Aspekten um das Musical Starlight Express zunächst gesondert Rechnung zu tragen, da es sich bei diesem Musical um eine von den anderen betrachteten Produktionen abweichende Wirtschaftsform handelt und die Verweise auf marktwirtschaftliche Parameter überproportional häufig im Vordergrund stehen.605

5.1 Starlight Express als Wirtschaftsfaktor: Attraktivitätssteigerung einer Region Der Beginn der sogenannten Kohlekrise Ende der 1950er Jahre läutete im Ruhrgebiet einen Strukturwandel ein. Das Land Nordrhein-Westfalen ergriff zahlreiche Maßnahmen, um der Region den Strukturwandel zu erleichtern und der wirtschaftlichen Strukturschwäche, herbeigeführt durch die kontinuierliche Schließung von Zechen, entgegenzuwirken. Seit den 1980er Jahren wurden im Ruhrgebiet durch politische Maßnahmen alternative Industriezweige angesiedelt, um den Dienstleistungssektor zu stärken. Die Förderung von Umnutzungen ehemaliger Zechen sowie die Einrichtung von entsprechenden Museen und sonstigen Kultureinrichtungen sollten das Ruhrgebiet als Standort sowohl wirtschaftlich sanieren als auch zu einer Imageverbesserung führen. Die Ansiedlung des Musicals Starlight Express im Ruhrgebiet wurde als Teil dieses Strukturprogramms verstanden: Denn einerseits sollte Starlight Express mit der eigens für das Musical gebauten Veranstaltungshalle »Bochums Wirtschaft ankurbeln«606 und »auf die Schnelle Kaufkraft in die Stadt«607 holen. Andererseits stand der unmittelbare wirtschaftliche Aspekt nicht ausschließlich im Vordergrund. Vielmehr sah man das Musical »für Bochum und die Region [als Chance,] die Atmosphäre und das Ambiente zu verbessern«608 , das heißt die Lebensqualität und damit auch das Image des Standorts zu heben, wodurch sich die verantwortlichen Politiker*innen wiederum eine Attraktivitätssteigerung für die Ansiedlung neuer Unternehmen erhofften. Ein Journalist erläutert beispielsweise, dass der Besuch des Musicals durch Manager und Kunden den Standort Bochum 605 Marktwirtschaftlich veranstaltete Opernproduktionen können an dieser Stelle vernachlässigt werden, da sie einen äußerst geringen Anteil innerhalb des Korpus und auch im Vergleich zu Produktionen an Stadt-, Landes- oder Staatstheatern ausmachen. 606 O. A.: Rennbahnen im Zuschauerraum, in: Fuldaer Zeitung, 08.06.1988. 607 Zimmermann, Horst: Eisenbahn-Musical soll Massen ins Revier locken. Stadt Bochum baute dafür eigens ein Theater, in: Jülicher Volkszeitung (u. a.), 26.01.1988. 608 O. A.: Erfolg mit der Dampflok. Neue prestigeträchtige Theater im Ruhrgebiet, in: Westfälische Nachrichten, 1.6.1988.

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für das Anwerben von Firmen und Industrie attraktiv machen solle.609 Der Bau der Veranstaltungshalle wurde unter anderem durch ein öffentliches Wirtschaftsförderprogramm finanziert; die wirtschaftliche Motivation für die Ansiedlung des Musicals ist schon allein durch diesen Umstand offensichtlich. Was im Detail mit ›Wirtschaftsförderung‹ gemeint ist, erschließt sich insbesondere aus zahlreichen Verweisen auf die sogenannte Umwegrentabilität.

5.2 Umwegrentabilität Der Aspekt der Umwegrentabilität, das heißt die indirekten Einnahmen der Region, die in unmittelbarem Zusammenhang mit einem Besuch des Musicals stehen etwa durch Übernachtungen, Gastronomie usw., wird im Fall des Starlight Express zumeist dann dargestellt, wenn die durch die Stadt bewilligten Zuschüsse für den Bau der Halle gerechtfertigt werden sollen. So habe beispielsweise »die Bochumer Stadtverwaltung […] errechnet, daß die Musicalbesucher der heimischen Wirtschaft eine jährliche Umsatzsteigerung von rund 32 Millionen Mark bescheren könnten.«610 Nahezu alle Berichte, in denen sich die Kritiker*innen oder Journalisten entweder dem Bau der Halle widmen oder in denen sie die ersten Aufführungen des Starlight Express rezensieren, führen die erwartete Umwegrentabilität an. »Zu den TicketUmsätzen von 600 Mio. Mark kommt das Geschäft der Busunternehmer, der Hotels, der Gastronomie, der Taxifahrer.«611 Und in einer anderen Kritik wird festgestellt: »Die Übernachtungszahlen sind bei uns bis 30 Prozent gestiegen.«612 Im Zusammenhang mit privatwirtschaftlich organisierten Musicalproduktionen wurden pauschale Reiseangebote mit integriertem Musicalbesuch als ›Marktlücke‹ entdeckt und massiv beworben.613 Auch für das Musical in Bochum wurde bereits vor der Premiere ein »Tourismusboom«614 erwartet. Neben etablierten Touristikdienstleistern wie Ameuropa, dem Tochterunternehmen der Deutschen Bahn, wurden Pauschalreisen auch von kleinen Vereinigungen konzipiert und angeboten.615 Umwegrentabilität nach streng volkswirtschaftlichen Maßstäben zu berechnen, ist nicht möglich. Über diesen Sachverhalt lassen auch genaue Zahlen und prozentuale Zuwachsraten nicht hinwegtäuschen. Allenfalls handelt es sich bei diesen um spekulative 609 Klaus Bröking: Auf den Spuren von ,Cats‘: 2 Mio. Besucher bei ,Starlight Express‘, in: Westfälische Rundschau, 12.04.1991. 610 O. A.: Rennbahnen im Zuschauerraum, in: Fuldaer Zeitung, 08.06.1988. 611 O. A.: Musicals sind ein Millarden-Markt, in: Iserlohner Kreisanzeiger und Zeitung, 13.08.1998. 612 Klaus Bröking: Auf den Spuren von ,Cats‘: 2 Mio. Besucher bei ,Starlight Express‘, in: Westfälische Rundschau, 12.04.1991. 613 Doris Bürger: Mit 60 Sachen über die Bühne, in: Quick München, S. 42–44, hier S. 44, 8.6.1988. 614 O. A.: Richtig rasant. ,Starlight Express‘ als Wirtschaftsmotor, in: Rhein-Zeitung, 09.06.1988. 615 »Das Gymnastik-Ballett-Studio Bernadette Wacht, Trier […] lädt ein zum Musical ›StarlightExpress‘ nach Bochum […].« – O. A.: Starlight-Express, in: Trierischer Volksfreund, 10.6.88.

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Schätzungen. Sie sind ein Instrument der Rechtfertigung politischer Entscheidungen und Maßnahmen, bei denen Mittel der öffentlichen Hand eingesetzt wurden. Röper widmet sich in seinem Handbuch Theatermanagement neben Betriebsführung, Finanzen und der Unternehmensstruktur von Theatern auch den möglichen bzw. häufig angeführten volkswirtschaftlichen Legitimationsstrategien im Kontext der wirtschaftlichen Theaterkrise und stellt fest, dass »volkswirtschaftliche Argumentationsansätze keine überzeugende Lösung für das Legitimationsproblem der öffentlichen Theater darstellen […].«616

5.3 Wirtschaftsform und Maßnahmen des Marketings Das Material zu Starlight Express unterscheidet sich vom restlichen Teil des Korpus schon allein wegen zahlreicher Ausschnitte aus Illustrierten.617 Auch fällt auf, dass das Musical in der Wirtschaftswoche thematisiert wird. Im Mai 1988 wird dort ausführlich über die Vorpremiere in Bochum berichtet. Die zahlreichen Angebote der Reiseveranstalter seien Teil eines größeren Marketing-Mix des Musicals. Neben Werbung für ganze Urlaubspakete samt Reise, Verpflegung, Übernachtung und zusätzlichem Rahmenprogramm spielten Product-Placement, Merchandising und Kooperationen mit anderen Unternehmen eine vergleichbare Rolle innerhalb der Marketingstrategie.618 Im Fall der Vorpremiere kooperierte Starlight Express mit dem Reemtsma-Konzern, der eine gesamte Vorstellung aufkaufte. Aber auch andere Unternehmen sind für das Musical als Kooperationspartner von Interesse: 616 Henning Röper: Handbuch Theatermanagement. Betriebsführung, Finanzen, Legitimation und Alternativmodelle, Köln: Böhlau, 2001, S. 539. – Röper führt sodann Legitimationsstrategien ins Feld, die »für eine weiterhin wichtige Rolle der öffentlichen Theater« (ebd.) stehen, ohne den Theatern grundsätzlich die Notwendigkeit einer betriebswirtschaftlichen Reform abzusprechen. Gewissermaßen als Leitfaden führt er folgende kulturpolitische Legitimationsstrategien an: 1. Öffentlich institutionalisierte Theater gewährleisten ein flächendeckendes und kontinuierliches Theaterangebot; 2. Öffentliche Theater können durch das breite Programm theaterästhetische Neuerungen vorantreiben. Zentrales Argument für theaterästhetische Neuerungen und Alleinstellungsmerkmal der öffentlichen Theater sei die Möglichkeit, wegen der gesicherten Kontinuität der Einrichtungen Risiken in der Programmplanung einzugehen. Damit ist gemeint, dass der Verkaufserfolg einer Veranstaltung aufgrund etwaiger Kompensation durch andere Veranstaltungen im Einzelfall nicht entscheidend ist (vgl. ebd.). In der Gesamtanlage der Publikation überrascht dieses Argument, da Prinzipien der Querfinanzierung oder gar Quersubventionierung in nahezu jedem Unternehmen aus marktstrategischen Gründen vorgenommen werden. – Interessant sind außerdem Wirtschaftlichkeitsstudien, die von Kulturinstitutionen in Auftrag gegeben worden sind, die über die sogenannte Umwegrentabilität Aufschluss geben: https://artbutfair.org/modelle-best-p ractice-vorbilder/n, zuletzt aufgerufen am 05.03.2018. 617 Dieser Umstand geht auf das Sammelkonzept der Presseabteilung des Musicals zurück. 618 Preisrätsel wurden bereits in einem vorangehenden Kapitel genannt, sie zählen selbstverständlich auch zum Bereich der Werbung.

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Beispielsweise wirbt der ADAC mit einem Preisnachlass für spezifische Veranstaltungen des Starlight Express exklusiv für ADAC-Mitglieder619 oder aber der Saal wird an andere Unternehmen vermietet.620 Darüber hinaus sind aber auch weitere Maßnahmen und Kooperationen mit anderen Dienstleistern von Bedeutung: Die kostenlose Anreise mit der Eintrittskarte (Kooperation der Kartenagentur Teleticket mit dem Verkehrsverbund Rhein-Ruhr) oder einem kostenlos zur Verfügung gestellten Shuttle-Bus soll Zuschauer aus entlegenen Orten motivieren, das Musical zu besuchen.621 Besonders aufschlussreich sind insbesondere jene Artikel, die in zeitlicher Nähe zur Premiere des Musicals veröffentlicht wurden. Zentral ist bei der Beschreibung stets die Wirtschaftsform des Musicalunternehmens, bisweilen auch in Abgrenzung zu Theatern der öffentlichen Hand: »Nicht irgendein Musical steht bevor, sondern ein Theaterspektakel von gigantischem Ausmaß: 24,5 Millionen Mark zahlten die Stadt Bochum und das Land Nordrhein-Westfalen für den maßgeschneiderten Bau, zwölf Millionen Mark verschlang allein die Produktion. Das Ereignis markiert überdies eine neue Epoche in der deutschen Unterhaltungsindustrie: Das private Finanzierungssystem setzt sich durch – mit allen Risiken, gegen allen politischen Widerstand, unbeeindruckt von den Mahnungen der Kulturkritiker und Theaterleute.«622 Was die Finanzierungsform angeht, so zeigt sich, dass Friedrich Kurz, der Produzent des Musicals, selbst eine hohe Rendite erwartet, denn er investierte 12 Millionen Mark in die Produktion des Musicals Starlight Express. Darüber hinaus suchte er »private Investoren, die bei hohem Risiko schönes Geld verdienen wollten […]: ›So eine Anlage ist nur für Leute geeignet, die es sich leisten können, auch mal 200 000 Mark zu verlieren‹ – und die mit dem Erfolg oder Mißerfolg von Bühnenstücken spekulieren wie mit Schweinehälften oder Schiffsbeteiligungen.«623 Nicht zuletzt lassen sich im untersuchten Material immer wieder Spendenaktionen ausmachen, bei denen sich Starlight Express für Menschen in Not einsetzt, beispielsweise durch eine Spende an die gemeinnützige Organisation Welthungerhilfe. Dies zeigt insbesondere, dass das Musical jenseits betriebswirtschaftlicher Gewinnma-

619 O. A.: Tempo, Action, Spannung, ADAC-Clubzeitschrift k. A. – Vergünstigungen gibt es z.B. auch für die Leser der ,Welt der Frau‘: Der große Ratespaß, in: Welt der Frau, 12. Juli 2006. 620 O. A.: Ein Theater zum Mieten, in: Ruhrnachrichten, 24.10.1998. 621 O. A.: ,Starlight‘-Clou: Theater-Karte als Fahrkarte. Kostenlose Revier-Anreise, in: WAZ, 11.4.1988. 622 O. A.: Kohle für den Ruhrpott, in: Spiegel 1988 (Ausgabe 23), S. 194–204, hier S. 194f. 623 Ebd., S. 198.

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ximierung auch an humanitären Projekten interessiert ist oder aber dieses Image zu Marketingzwecken funktionalisiert.

5.4 Kulturförderung: marktwirtschaftliche Denkstruktur als Leerstelle Während der Fokus in Artikeln zum Starlight Express sehr häufig auf der Wirtschaftlichkeit des Musicals liegt, finden wirtschaftliche Aspekte vergleichsweise selten Eingang in die Musiktheaterkritiken. Eintrittspreise werden zwar hin und wieder genannt, allerdings meistens nur dann, wenn die Besucher nach Ansicht des Rezensenten oder der Rezensentin für das Dargebotene zu viel bezahlt haben. In solchen seltenen Fällen liegt das übergeordnete Ziel eher in einer Wertermittlung und dient in der Regel dazu, die besprochene Aufführung negativ zu bewerten. Einen ähnlichen Zweck verfolgt auch der Rekurs auf Kulturfördermittel, wenn die Aufführung in den Augen des Rezensenten bzw. der Rezensentin kein Erfolg war. Derlei Anmerkungen sind allerdings relativ selten und können bei der großen Menge des Materials vernachlässigt werden. Hin und wieder werden in den Kritiken auch Kommentare zu angekündigten oder bereits vollzogenen Sparmaßnahmen gegeben, die die Kulturlandschaft bzw. das jeweilige Theater oder Opernhaus betreffen, an dem das rezensierte Stück gespielt wurde. Lobende Worte findet der Rezensent beispielsweise für eine Inszenierung des Musicals Der Kleine Horrorladen, denn gerade in Sparzeiten seien überzeugende Lösungen bei der Gestaltung der Programme rar.624 Spannend gestaltet sich die Auseinandersetzung mit Kulturförderung und Sparmaßnahmen allerdings dann, wenn betriebswirtschaftliches Denken, so wie dies für den Fall des Starlight Express dargestellt wurde, thematisiert wird, allerdings ex negativo: Dabei wird sowohl direkt als auch indirekt stets hervorgehoben, dass betriebswirtschaftliches Denken gerade für Neues Musiktheater schädlich sei und somit Kulturförderung für das Neue – aufwändig, teuer und wenig nachgefragt – unabdingbar. In einem ausführlichen Bericht zur Oper Das Mädchen mit den Schwefelhölzern von Helmut Lachenmann werden beispielsweise die finanziellen Verluste beschrieben, die mit der Uraufführung und den weiteren Vorstellungen des Bühnenerstlings Lachenmanns in Zusammenhang stehen. Da die Probenarbeit bereits vor der Premiere die große Bühne der Oper in Anspruch nahm und ein Umbau wegen der organisatorischen Komplexität des Stücks nicht möglich war, konnte der reguläre Spielbetrieb während der Probenphase nicht aufrecht erhalten werden, was zu Einnahmeeinbußen bei gleichbleibenden Kosten führte. Hinzu kam, dass die Eintrittskarten für Das Mädchen mit den Schwefelhölzern zu »extra niedrigen Sonderpreisen«625 angeboten 624 Oliver Reinhard: Ein Blumentopf für Seymour, in: Süderländer Volksfreund, 25.04.1995. 625 Matthias Frede: Schwieriger Fall von Anti-Oper, in: Mitteldeutsche Zeitung Halle und Saalkreis, 28.01.1997.

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wurden: »Avantgarde-Werk: Staatsoper reduziert die Preise«626 titelt eine Rezension und erläutert den Grund für die Reduktion, denn damit die Vorstellungen auch nach der Premiere noch besucht würden, habe man die »Preise drastisch auf 40 und 25 Mark reduziert.«627 Und ein Kritiker referiert: »Ein Opern-Insider brachte den Sinn der Produktion, bei der jede Kosten-Nutzen-Rechnung versagt, auf den Punkt: ›Da hat sich die alte Intendanz noch was gegönnt.‹«628 Im Zusammenhang mit Kulturförderung klingt die bereits im einleitenden Kapitel dieser Arbeit angeführte Legitimationsstrategie an, dass ›finanzielle Unabhängigkeit‹ künstlerische Qualität oder ›Neuerungen‹ fördere. Zur Einstellung der Musiktheaterreihe, in der Hölzskys Tragödia produziert wurde, schreibt ein Rezensent: »Wegfallen dürfte freilich der Charakter der musikalischen Wundertüte, den der Dramaturg Klaus-Peter Kehr stets bewahrt hat: der Geist des künstlerisch Ungesicherten auf der Grundlage finanzieller Absicherung.«629 Und im Zusammenhang mit mangelndem neuen Repertoire auf den Bühnen wird beispielsweise ein Intendant beschrieben als »Verwalter und Verwerter von Museums-Stücken, um ja immer Kasse zu machen«630 . Dass die Förderung der öffentlichen Hand häufig differenzierter Bezugspunkt in den Kritiken ist, zeigt sich auch im Zusammenhang mit einer Operetten-Aufführung; der Kritiker verweist auf die aktuellen und lokalen kulturpolitischen Bezüge im Stück und diskutiert das abgeänderte Libretto der Operette Orpheus in der Unterwelt. Seine Kritik stellt als dramaturgische Pointe und rhetorische Frage die Aussage der Jupiter-Figur an den Schluss der Kritik: »›Klassik ist gut, Klassik ist Kultur, Klassik ist Kunst, so was wird subventioniert!‹ Wird es?«631 Die zitierten Textstellen lassen vermuten, dass es für Kunst bzw. Musiktheater an öffentlichen Opernhäusern und Theatern gerade von Bedeutung ist, dass betriebswirtschaftliches Denken keine Rolle spielen darf. Kunst braucht Geld, sonst ist es keine Kunst. Dass in den Kritiken keine Kommentare zu marktwirtschaftlichen Finanzierungsmodellen gemacht werden, mag einerseits daran liegen, dass die Kritik kein neutrales Medium der Vermittlung darstellt, sondern gewissermaßen im Dienst der Musiktheater steht. Das Selbstverständnis der Musiktheater und Theater in Deutschland als ›öffentliche Einrichtungen‹ tut ihr übriges dazu: »Welches öffentliche Institut steht schon auf seinen eigenen Füßen. Es gibt keine einzige 626 Wolfgang Nölter: Avantgarde-Werk: Staatsoper reduziert die Preise, in: Münchner Merkur, 15.01.1997. 627 Wolfgang Nölter: Avantgarde-Werk: Staatsoper reduziert die Preise, in: Münchner Merkur, 15.01.1997. 628 G. Krieger/Ch. Löwer: Die »Krach-Oper« kommt ins Archiv, in: Hamburger Morgenpost, 06.02.1997. 629 Michael Struck-Schloen: Surreale Irritationen aus der Wundertüte, in: Bremer Nachrichten, 30.05.1997. 630 Christoph Müller: Nicht nur Mimi hustet, in: Südwest Presse, 28.11.1997. 631 Andreas Richter: Klassik aus dem Reformhaus, in: Der Tagesspiegel Berlin, 29.03.1992.

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Stadtverwaltung, die sich alleine trägt. Nur bei der Kunst und bei der Kultur wird das immer unterstellt,«632 äußert sich beispielsweise Jürgen Flimm in einem Interview. Aus diesen Beispielen geht der Aushandlungsprozess um Kulturpolitik deutlich hervor. Als Legitimationsstrategie wird Kunst und Kultur als absolutes ›öffentliches Gut‹ dargestellt und gewissermaßen durch die Deutungshoheit über Kunst und Nicht-Kunst des Staates legitimiert.

5.5 Musiktheater »stiftet Zinsen in unserem Kopf« – eine synthetische Rückschau auf die Gattungen Es wird sehr deutlich, dass Starlight Express seine Legitimation aus der erfolgreichen betriebswirtschaftlichen Unternehmensführung erhält. Die Wirtschaftsförderung ist dabei ein Argument, das im Falle des strukturschwachen Ruhrgebiets in den späten 1980er Jahren innerhalb der Artikel nicht sonderlich hinterfragt wird und im Wissensvorrat anerkannt ist. Auch wenn der Bau der Halle teilweise als umstrittenes Projekt dargestellt wird, die Halle auch in der Kritik stand, steht die Stärkung der Wirtschaft als positiv aufgenommene Attraktivitätssteigerung des Standorts im Vordergrund.633 Besonders aufschlussreich hinsichtlich der Funktion der unterschiedlichen Wirtschaftsformen und anknüpfenden Diskurse sind zahlreiche Stellungnahmen, die sowohl den Bau der Starlight Express-Halle als auch den Bau des Essener Opernhauses thematisieren.634 So titelt die Westfalenpost: »Mit finanziellem Wahnsinn und nüchternem Wirtschaftskalkül. Essen und Bochum hoffen auf die neuen Millionen-Objekte«635 . Aber »trotz der zu erwartenden rauschenden Eröffnungsfeiern schlagen die Intendanten [im Ruhrgebiet und insbesondere in Essen] Alarm«636 : Vor dem Hintergrund der kostspieligen Bauprojekte, allen voran des 150 Millionen Mark teuren Opernhauses, wird in diesen Artikeln vor den geplanten Kürzungen der Zuschüsse des Kulturetats in Essen gewarnt. Gerade das augenfällige Missverhältnis eines sehr teuren, prestigeträchtigen und bis ins kleinste Detail vom Architekten durchgeplanten Bauprojekts mit edlen Materialien und der geplanten weiteren Kürzung der Zuschüsse für den Betrieb des Opernhauses (die Zuschüsse wurden laut Zeitungsbericht bereits von 65 Millionen auf 49,5 Millionen D-Mark gekürzt) wird in den Artikeln thematisiert. Spannend ist die Gegenüberstellung des 150 Millionen D-Mark teuren Opernbaus und der 21 Millionen D-Mark 632 O. A.: »Ich finde Goethe wichtiger als ein Flugzeug«. Das Theater in der finanziellen Krise: Ein Gespräch mit Jürgen Flimm, in: Frankfurter Neue Presse, 08.06.1988. 633 Birgit Klausmann: Eine ganze Halle nur für Musicals, in: Neue Ruhrzeitung, 23.01.1988. 634 O. A.: Im Ruhrgebiet öffnen neue, prestigeträchtige Theater ihre Pforten, in: Weilburger Tageblatt, 1.6.1988. 635 O. A.: Mit finanziellem Wahnsinn und nüchternem Wirtschaftskalkül. Essen und Bochum hoffen auf die neuen Millionen-Objekte, in: Westfalenpost, 2.6.1988. 636 Ebd.

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teuren Starlight Express-Halle sowie der Starlight Express-Produktion, die 12 Millionen Mark kostet. Die Situation für das Musical in Bochum gestalte sich ›ganz anders‹, denn die Stadt unterstütze die Unternehmung finanziell. Der entscheidende Unterschied zur Situation in Essen im Vergleich zur Situation in Bochum: »Hier geht es nicht um Kunst, sondern um Wirtschaftsförderung.«637 Damit wird direkt ein Aspekt angesprochen, der für Aufführungen an kommunalen bzw. subventionierten Theatern in öffentlicher Trägerschaft gilt: Betriebswirtschaftliches Denken spielt für Kunst keine Rolle, oder im Umkehrschluss, Kunst zeichnet sich gerade dann als Kunst aus, wenn sie nicht nach den Regeln des Marktes funktioniert. Im Bericht des Spiegel wird die Differenzierung zwischen der mit privatem Geld verknüpften Kulturindustrie und als Gegenstück dazu der öffentlich geförderten Kunst deutlich. Zum Starlight Express kommentiert der Journalist wie folgt: »Diese neue Form von Bühnenspektakel wird finanziert sein mit privatem Geld, produziert für ein breites Millionenpublikum und den Deutschen mit beispiellosem Werbe- und Publicity-Aufwand nahegebracht, ein vollkommenes Exempel für das, was die Philosophen Theodor W. Adorno und Max Horkheimer als ›Kulturindustrie‹ vorausahnten, was Hans Magnus Enzensberger als ›Bewußtseinsindustrie‹ kritisierte.«638 Sieht man von der offensichtlich starken Abneigung Adornos gegenüber der ›Massenkultur‹ ab, so stellt er zumindest in Bezug auf die Legitimationsstrategie treffend fest, dass die ›Wirtschaftlichkeit‹ als legitimierender Faktor im Vordergrund steht. Über Massenkultur schreibt Adorno: »Lichtspiele und Rundfunk brauchen sich nicht mehr als Kunst auszugeben. Die Wahrheit, daß sie nichts sind als Geschäft, verwenden sie als Ideologie, die den Schund legitimieren soll, den sie vorsätzlich herstellen. Sie nennen sich selbst Industrien, und die publizierten Einkommensziffern ihrer Generaldirektoren schlagen den Zweifel an der gesellschaftlichen Notwendigkeit der Fertigprodukte nieder.«639 Zwar ist beim Musical Starlight Express Wirtschaftlichkeit nicht ausschließliche Legitimationsstrategie, aber sie steht ganz offensichtlich kommuniziert häufig im Vordergrund, denn »Glamour und High Culture [gelten zweifelsohne] als Wirt-

637 O. A.: Im Ruhrgebiet öffnen neue, prestigeträchtige Theater ihre Pforten, in: Weilburger Tageblatt, 1.6.1988. 638 O. A.: Kohle für den Ruhrpott, in: Spiegel 1988 (Ausgabe 23), S. 194–204, hier S. 195. 639 Max Horkheimer und Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag, 1981 [= Theodor W. Adorno: Gesammelte Schriften, Bd. 3], S. 142.

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schaftsfaktoren. ›Erlaubt ist, was sich auszahlt.‹«640 Und der Kulturdezernent in Bochum stellt fest: Kultur sei zwar »nicht mit betriebswirtschaftlichen Maßstäben zu messen«, doch sie »stiftet Zinsen in unserem Kopf«. Das kommerzielle Rollschuh-Musical Starlight Express ordnet Küppers als Kulturwirtschaft ein: »Es hat sich bewährt und ist deshalb zu akzeptieren.«641 In der Gesamtschau auf das Untersuchungsmaterial zeigen sich nur im Zusammenhang mit dem Aspekt der Wirtschaftlichkeit deutliche Unterschiede zwischen Starlight Express und den übrigen Stücken. Diese Feststellung könnte verleiten, Rückschlüsse auf Gattungsunterschiede zu ziehen. Allerdings erweist sich dies mit Blick auf beide Musicals als nicht stichhaltig; denn der zentrale Aspekt, um den es hier geht, ist die Wirtschaftsform.

640 O. A.: Umbau der Rumpelkammer, in: Wirtschaftswoche Düsseldorf, Ausgabe 2/88. 641 Werner Streletz: Küppers will Kultur ohne Gängelband. Neuer Dezernent für Bochum, in: Westdeutsche Allgemeine Zeitung (Essen), 11.09.1998. – Es handelt sich um eine Aussage des neuen Kulturdezernenten.

IV Schlussbetrachtung »So lange im Theater gestritten wird, so lange ist es lebendig wie nie.«1

Ziel dieser Arbeit ist es gewesen, diskursiven Legitimationsstrategien im zeitgenössischen Musiktheater nachzuspüren und den sich um diese Strategien legenden Wissensbestand innerhalb der typologisierten Bezugssysteme freizulegen sowie Mechanismen zu benennen, die zur Legitimation eingesetzt werden. Das erste Kapitel der Schlussbetrachtung wird als Resümee der Analyse verstanden. Im zweiten Kapitel wird das Musiktheaterdispositiv als symbolische Sinnwelt perspektiviert und der Versuch unternommen, Erklärungen für den so häufig konstatierten ›erhöhten Legitimationsdruck‹, d. h. für die vermeintliche oder tatsächliche Notwendigkeit der Rechtfertigung des Musiktheaters zu geben. Im dritten Kapitel werden mögliche Anknüpfungspunkte für weitere Fragen aufgezeigt.

1. Universalität durch Widerspruch »Die Oper ist ein unmögliches Kunstwerk.«2 – Oskar Bie, der diesen Ausspruch zu Beginn des 20. Jahrhunderts formte, findet durch diesen vielzitierten Satz Eingang in nahezu jede Publikation, die Musiktheater zum Gegenstand hat; unabhängig vom Adressat*innenkreis und von der Publikationsform. Wenn nicht als Direktzitat, so lauert die beschworene ›Unmöglichkeit‹ als Eigenschaft der Kunstform mit hoher Wahrscheinlichkeit als eingeflochtenes Adjektiv im Text, ohne expliziten Nachweis.3 Bisweilen wird der Satz auch umgekehrt. Aus ›unmöglich‹ wird ›möglich‹, die jeweiligen Autor*innen hebeln die rhetorische Figur spielerisch aus, indem sie korrigierend in das Oxymoron eingreifen.4 Der Ausspruch bleibt dabei meist nur eine Phra1 2 3 4

Kai Luehrs-Kaiser: Buh-Stürme für die Ewigkeit, in: Die Welt, 17.04.2003. Oskar Bie: Die Oper, Berlin: S. Fischer Verlag, 1923, S. 9. Siehe z.B. den zitierten Klappentext von Knauer und Krause im ersten Kapitel der vorliegenden Arbeit. Siehe bspw. Jens Malte Fischer: Oper – das mögliche Kunstwerk. Beiträge zur Operngeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, Salzburg: Verlag Ursula Müller-Speiser, 1991.

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se und ist zum geflügelten Wort für die Beschreibung des Musiktheaters geworden. An anderer Stelle seines Buches schreibt Bie, »man ist verpflichtet, sie [die Oper] zu erhalten, weil man mit Inbrunst Paradoxien zu pflegen auf der Erde ist. Ein Fürst küßt seine Primadonna – die Oper erhält sich. Es kommt die Revolution. Statt der Galanterien, die der Maître des Plaisirs vermittelt, setzt der Staat die budgetgeregelte Subvention ein. […] Aus einem Ressort der Vergnügungen und Mätressen wird ein öffentliches Obligo der Unterhaltung, schließlich der Erziehung. Aber nichts ist schwerer zu demokratisieren als die Oper, das uneheliche Kind der Feudalzeit. Finanzprobleme zerbrechen an ihr. Das Volk wird zugelassen, es soll bezahlen. […] Das Rechenexempel geht niemals auf. Niemals erhält sich eine vollkommene, musterhafte Oper von selbst. […] An der Oper haben nicht nur Künstler, sondern auch Zuhörer mitgearbeitet. Der Konflikt, die Beziehung zwischen beiden, sind Fluidum ihres Lebens.«5 Die Struktur des ersten Teils seines Buches orientiert sich an den Paradoxien der Oper. Sie sei, so Bie, »die Kunst der Widersprüche«6 . Dass Oper allerdings trotz dieser angeführten Widersprüche ästhetischer Art und anderer Widersprüchlichkeiten innerhalb des Musiktheater-Dispositivs zur Zeit Bies alles andere als ›unmöglich‹ war – im Übrigen genügt auch für unsere heutige Zeit der Hinweis, dass an Opernhäusern auf der ganzen Welt Musiktheater weiterhin existiert – zeigt sodann der zweite Teil des Buches, in dem Bie eine detaillierte Systematik der Opernkultur vorlegt und diverse Werke der kanonischen Operngeschichte beschreibt und interpretiert. Die Struktur des ersten Teils des Buches, Bies Typologie der Widersprüchlichkeiten der Oper, und auch den der Dramaturgie des Buches inhärenten Widerspruch möchte ich als Inspiration und Ausgangspunkt nehmen, die herausgearbeiteten diskursiven Legitimationsstrategien mit dem Topos der Widersprüchlichkeit zu verknüpfen. Denn das Bild, das sich durch die Analyse in der Gesamtschau entfaltet, ist auf mehreren Ebenen paradox; beispielhaft seien hier drei Aspekte aufgeführt: (1) So kann die Bewertung zweier Kritiker*innen zu einer spezifischen Aufführung divergieren, obwohl sich beide an einem vergleichbaren Bewertungsschema orientieren, was auf die Wandelbarkeit und Elastizität von Legitimationsstrategien verweist. Innerhalb des Portfolios an Aufführungskritiken eines Werks wiederum zeigt sich, dass die Beschreibungs- und insbesondere die Bewertungsmodi je nach Einschätzung der Kritiker*innen – so scheint es – beliebig angepasst werden können. (2) Die Legitimationsstrategien entfalten sich durch ein Repertoire differenzierten Wissens um gegensätzliche und bisweilen in der Verbindung inkonsistente 5 6

Oskar Bie: Die Oper, Berlin: S. Fischer Verlag, 1923, S. 62f. Ebd., S. 13.

IV Schlussbetrachtung

Bezugssysteme. Wie gezeigt wurde, wird der Geltungsanspruch des Musiktheaters beispielsweise paradigmatisch durch eine ›traditionell‹ sowie gleichzeitig durch eine ›aktualisiert‹ inszenierte La Bohème gefestigt. Zwischen diesen widersprüchlichen Polen alternieren die Einschätzungen der Kritiker*innen. (3) Die Auswahl der Werke nach Gattungszuschreibungen, wie sie in dieser Arbeit vorgenommen wurde, ließe vermuten, dass – insbesondere wegen der immerzu proklamierten Differenz in den Musikwissenschaften zwischen sogenannter Ernster Musik und Unterhaltungsmusik – gerade zwischen Musical und Operette sowie Oper und Musiktheater der Neuen Musik sich eine deutliche Differenz in den Legitimationsstrategien erkennen ließe. Dies ist nicht der Fall. Der einzige deutliche Unterschied konnte lediglich auf der Ebene der Wirtschaftlichkeit zwischen den zwei unterschiedlichen Finanzierungsformen (privatwirtschaftliche vs. öffentliche Trägerschaft) ausgemacht werden; das heißt zwischen dem Musical Starlight Express und den restlichen ausgewählten Werken. Für das historische Repertoire an Opernhäusern, also einschließlich des Musicals von Menken, stehen die Legitimationsstrategien vergleichbar paradox nebeneinander und lassen sich nicht auf die Gattungen zurückbeziehen. Die zuvor als Mechanismen bezeichneten Legitimationsstrategien unterstützen die Formation von Widersprüchlichkeiten, indem sie als Instrumente flexibel eingesetzt werden können. Je nach Bedarf werden Abgrenzungs- und Kopplungsmanöver wirksam eigesetzt, etwa durch historische Vergleiche, historische Kontextualisierung und Bezugnahme.7 Widersprüche sind Gegensätze, die einerseits als dialektische Komplemente, andererseits als logische Inkonsistenzen dargestellt werden können. Für die Legitimationsstrategien, die sich sowohl auf inhaltlicher diskursiver Ebene8 als auch auf der diskursiven Ebene eines Mechanismus9 bewegen, sind beide Arten des Widerspruchs im Korpus auszumachen. Jürgen Habermas merkt in Bezug auf Gesellschaftsformationen an, dass ›Widerspruch‹ zwar häufig als Synonym für ›Antagonismus‹, ›Gegensatz‹ und ›Konflikt‹ verwendet werde, aber letztendlich lediglich das Ergebnis eines tiefer liegenden ›Grundwiderspruchs‹ einer Gesell-

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Michael Schwab-Trapp: Diskurs als soziologisches Konzept. Bausteine für eine soziologisch orientierte Diskursanalyse, in: Handbuch Sozialwissenschaftliche Diskursanalyse. Band I: Theorien und Methoden, hg. von Reiner Keller et al., Opladen: Leske + Budrich, 2001, S. 261–283, hier S. 274. Siehe die vier Ebenen der Legitimation bei Berger und Luckmann, beschrieben in Kapitel II 3.1 der vorliegenden Arbeit. Siehe die Beschreibung diskursiver Legitimationsstrategien bei Michael Schwab-Trapp: Diskurs als soziologisches Konzept. Bausteine für eine soziologisch orientierte Diskursanalyse, in: Handbuch Sozialwissenschaftliche Diskursanalyse. Band I: Theorien und Methoden, hg. von Reiner Keller et al., Opladen: Leske + Budrich, 2001, S. 261–283, hier S. 261–283.

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schaftsformation (er spricht dann von Klassengesellschaften) sei.10 Es ist äußerst aufschlussreich, diesen Gedanken auf die vorliegende Untersuchung des Musiktheaters zu übertragen. Denn während im vorliegenden Fall zwar Widerspruch sowohl Komplement als auch Inkonsistenz integriert, lassen sich, zumindest ist das meine Hypothese, sämtliche Legitimationsstrategien auf zwei dem ›Organisationsprinzip‹ des Musiktheaterdispositivs zugrundeliegende ›logische Grundwidersprüche‹ beziehen. Einerseits handelt es sich um die sich hartnäckig haltende Trennung zwischen U- und E-Musik, andererseits um die Auseinandersetzung um das Primat der Musik, der Sprache, respektive der Szene. Die diskursiven Legitimationsstrategien im zeitgenössischen Musiktheater, die je nach Bedarf angepasst werden können und dadurch polyvalente Interpretationsmöglichkeiten und Argumentationsmuster zulassen, werden als Widersprüche zum Zwecke der Legitimation des Musiktheaters in einen universellen Geltungsanspruch integriert. Universalität bedeutet einen Anspruch auf Geltung, der sich unabhängig von Raum und Zeit entfaltet, wobei auf ein überindividuelles und für das Dispositiv des Musiktheaters universalgültiges Prinzip Bezug genommen wird. Während sich die Widersprüche in dieser Makroperspektive in einem universellen Geltungsanspruch des Musiktheaters auflösen, zeigt sich Universalität auch bereits in der Mikroperspektive einzelner Kritiken. Beispielsweise beschreibt ein Rezensent das Musical Der kleine Horrorladen wie folgt: »Es ist ein bißchen so, als hätte der Autor augenzwinkernd Weltliteratur und Trivialmythen geplündert, die Faust-Legende und das Märchen vom Zauberlehrling, den amerikanischen Traum vom Erfolg des kleinen Mannes und die Klatschspalte einer Frauenzeitschrift kombiniert.«11 Eine andere Aufführung vermag zwei gegensätzlich Pole, sowohl den Verstand als auch Emotionen, anzusprechen: »Die Charaktere sind konsequent herausgearbeitet, in einer szenischen Unmittelbarkeit, die in Herz und Hirn trifft.«12 Starlight Express wiederum wird als Publikumsmagnet für einen Querschnitt der Bevölkerung dargestellt und zieht Politiker, ›Durchschnittsbürger‹,13 Mediziner, Hausfrauen, Prominente aus dem Fernsehen, Lehrerinnen, Kinder, Jugendliche und Erwachsene an. Und besonders interessant, weil mit einer gewissen Skepsis

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Jürgen Habermas: Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus, Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag, 2015, S. 43ff. Peter M. Kruchten: Wenn Woody Allen Marilyn Monroe trifft, in: Die Rheinpfalz Ludwigshafen, 03.02.1992. Monika Beer: Zwischen Leben und Sterben wankende Figuren, in: Fränkischer Tag Bamberg, 23.05.1996. Siehe bspw. O. A.: Liebe wartet beim »Starlight Express«, in: Recklinghauser Zeitung, 27. Juni 2006.

IV Schlussbetrachtung

versehen, ist auch folgendes Zitat, durch das der ›universelle Geltungsanspruch‹ des Musiktheaters deutlich wird: »Es kann einem Angst werden, wenn Puccinis ›Bohème‹ auf dem Spielplan steht. […] Wird abermals ein Regisseur hinter der traurigen und – pardon – trivialen Liebesgeschichte irgendeinen Gedanken von philosophischer Weltgeltung suchen und vermeintlich entdecken? Das Saarländische Staatstheater hatte ja bereits angekündigt, nicht die Armut der Pariser Bohème darstellen zu wollen, sondern die soziale Armut schlechthin.«14 Diese Beschreibung ist insbesondere deswegen so bemerkenswert, weil der Kritiker – im Korpus ist eine solche kritisch-distanzierte Äußerung eine Ausnahme – den regelmäßig propagierten universellen Geltungsanspruch gewissermaßen vorführt. Der Gedanke der Universalität zeigt sich außerdem sehr dominant im Zusammenhang mit dem Musiktheater der Neuen Musik und mit Inszenierungsarbeiten, die dem sogenannten ›Regietheater‹ zugeschrieben werden. Die Kritiken suggerieren, dass beispielsweise Das Mädchen mit den Schwefelhölzern widersprüchliche Legitimationsstrategien in sich vereine, was dazu führt, dass über die Legitimation durch die jeweiligen widersprüchlichen Bezugssysteme hinaus die Legitimation über den aus der Polyvalenz der Widersprüchlichkeiten folgenden universellen Geltungsanspruch vollzogen wird. An dieser Stelle soll der zu Beginn ausführlich zitierte Artikel Besser als Sex 15 aus dem Kulturspiegel aufgegriffen werden, bzw. die Antwort Peter Weibels auf die Frage, warum man in der Oper stundenlang herumsitzt, wenn doch nur altbekannte Geschichten erzählt werden. Zur Erinnerung: Die Personenbeschreibung unter der Antwort hebt nicht nur die berufliche Tätigkeit des Befragten hervor, nämlich seine Tätigkeit als Direktor des Zentrums für Kunst und Medientechnologie, sondern auch, dass Weibel ein »großer Opernfan«16 sei. Seine Antwort lässt daran keinen Zweifel; sie zeigt deutlich, wie sich der Gedanke der Universalität durch angeführte Widersprüche speist: »Nicht die Oper ist konventionell, nur unsere Ansichten über die Oper sind es. Weder ewig gestrig wie die Operette noch ewig künftig wie die Religion, ist sie

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Horst-Dieter Veek: Vom Glück der Unauffälligkeit, in: Rheinpfalz Ludwigshafen, 12.12.1992. O. A. (Hg.): »Besser als Sex«. Opernaufführungen sind verstaubt, langweilig, endlos – so lautet das Vorurteil. Falsch! Daniel Barenboim, Anna Netrebko, und fünf weitere Experten erklären eine Kunst mit Zukunft, KulturSPIEGEL, 7/2005, S. 14–17. Peter Weibel über studenlanges Rumsitzen in der Oper trotz altbekannter Geschichten, in: O. A. (Hg.): »Besser als Sex«. Opernaufführungen sind verstaubt, langweilig, endlos – so lautet das Vorurteil. Falsch! Daniel Barenboim, Anna Netrebko, und fünf weitere Experten erklären eine Kunst mit Zukunft, KulturSPIEGEL, 7/2005, S. 14–17, hier S. 17.

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die endliche Option der Kunst des Unendlichen. Zur Stummheit reduziert, erfinden wir Sprache. Zur Sprache reduziert, erfinden wir Gesang. Dies ist das Geheimnis der Oper, des Musiktheaters, wiederzufinden, was wir nicht verloren haben, zurückzubekommen, was wir nie besessen haben. Sie ist ein Sieg über Limitierungstheoreme, die uns die Sinne rauben. Daher spricht sie alle Sinne an, vom Ohr zum Gehirn, vom Auge zur Seele. Sie adressiert sich an alle Sinne, und damit erlöst sie uns von den Sinnen. Im Sinnesrausch taucht das Bewusstsein in andere Zustände, ›altered states of consciousness‹, ein Ticket, das nicht unkontrolliert explodiert, sondern, einmal eingeworfen, einen Höhenflug, einen Tiefenrausch der besonderen Art erzeugt. Wer singt, wo er reden könnte, wer tanzt, wo er sitzen könnte, mit Bildern und Tönen, Bewegung und Licht, das Schauspiel der Natur parodiert und überbietet, zeigt uns die Natur und ihre Folgen als bloßes Schauspiel. Wer uns die Natur und ihre Regeln zeigt und sie überflüssig scheinen lässt, begründet das Spiel der Kultur als Medium der Erlösung, nicht zuletzt von Widersprüchen. Die Geburt der Mathematik aus dem Geist der Musik, die Geburt der Musik als Beginn der Naturwissenschaft, der Naturbeherrschung und -überwindung, zeigt die Oper als Geburt der Kunst. Die Liebe zur Oper ist der Traum der universellen Maschine, als welche Alan Turing sich einst den Computer vorstellte. Deswegen ist die Oper so geeignet, die Welt nicht als Schicksal, sondern als System zu zeigen, das uns vor Probleme stellt, die wir lösen können, und uns daher so viele Erkenntnisse über die seelischen und sozialen Apparate verschafft. Als gespenstische Verschränkung der Sinne und Medien ist die Oper eine Quantenphysik der Seele und des Sozialen. Die Oper ist das erste Multimediakonzept, eine Kunstform, die alle Sinne anspricht. Sie definiert erstmals die Kunst als Medium und ist damit der Beginn der Medienkunst. Die Musikvideos von heute sind nur Fast-Food-Opern. Besser als Alkohol, weil toxischer in der Wirkung, besser als Alkaloide, weil ohne gefährliche Nebenwirkungen, besser als Sex, weil sie ein Verbrechen ist, für das man nicht nur einen, sondern viele Komplizen braucht, ist die Oper von Monteverdi bis Rihm, von Wagner zu Stockhausen, von Nyman zu Zykan eine Kunstform, die alle Formen, Genres und Medien der Künste in sich vereinigt und die daher nicht ihre Vergangenheit hinter sich, sondern, im Gegenteil, ihre Zukunft erst vor sich hat. Von Baden-Baden über Paris bis Salzburg wird mit aller Macht verdrängt, dass die Oper eine revolutionäre Kunstform ist.«17

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Ebd.

IV Schlussbetrachtung

2. Das Musiktheater als symbolische Sinnwelt – gesellschaftlich konstruierte Wirklichkeit einer großen Erzählung Die im gesellschaftlichen Wissensvorrat verdichteten Legitimationsstrategien versammeln sich zu einem Ensemble, das durch die ihm immanente Widersprüchlichkeit der Strategien eine universelle Gültigkeit erlangt und zwar unabhängig von den einzelnen Gattungen und bisweilen unabhängig vom einzelnen Werk. Dabei sind die unterschiedlichen Legitimationsstrategien als verstetigtes Wissen für die Kritiker*innen Wirklichkeit, unabhängig davon, ob die Strategien dem kritischen analytischen Blick einer Forschenden standhalten oder nicht. Mit anderen Worten bedeutet dies, dass all das Wissen, das zur Argumentation und Bedeutungsproduktion herangezogen wird, für die Akteure Wirklichkeit im Sinne Bergers und Luckmanns ist; Wirklichkeit ist so, wie uns die Welt vorkommt. Das Dispositiv des Musiktheaters als ›symbolische Totalität synoptischer Traditionsgesamtheiten‹18 bzw. als Sinnwelt ist Teil der gesellschaftlich konstruierten Wirklichkeit. »Wenn […] erst einmal eine symbolische Sinnwelt da ist, so können widersprüchliche Ausschnitte des Alltagslebens durch direkten Bezug auf die symbolische Sinnwelt integriert werden.«19 Das übergeordnete Narrativ, das durch die Integration der widersprüchlichen diskursiven Legitimationsstrategien entsteht, nämlich die Universalität des Musiktheaters, suggeriert überzeitliche Geltung desselben; »Legitimation erfolgt nun mit Hilfe symbolischer Gesamtheiten«20 , d. h. durch das übergeordnete Narrativ der Universalität. In der Moderne dienen derlei Metaerzählungen der Legitimation. Für die Postmoderne hingegen scheinen solche ›großen Erzählungen‹ keine Gültigkeit mehr zu besitzen. Jean-François Lyotard stellt sich, um sein Konzept der Postmoderne in Bezug auf die Moderne zu spezifizieren, auf den Standpunkt, dass »die Moderne mit den ›großen Erzählungen‹ beschäftigt war und noch ist, während die Postmoder-

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Peter Berger und Thomas L. Luckmann: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissensoziologie, Frankfurt a. M.: Fischer Taschenbuch Verlag, 2013, S. 102. Ebd., S. 106. – Berger und Luckmann haben die Absicht, das Alltagswissen des ›Jedermann‹ zu untersuchen. Auch wenn das Dispositiv ›Musiktheater‹ mit den basalen Beispielen, die in der Publikation gegeben werden, nur schwierig verglichen werden kann, so ist der Diskurs um Legitimation des Musiktheaters doch für das, was Berger/Luckmann als ›Jedermann‹ bezeichnen, sichtbar. Den Autoren geht es um eine Erklärung wirklichkeitsbildender Wissensprozesse unter besonderer Berücksichtigung des dialektischen Verhältnisses von subjektivem und objektiviertem Wissen. Damit entfernen sie sich (zwar nicht ganz, aber dennoch maßgeblich) von dem ideologiekritischen Standpunkt einer von Machtverhältnissen bestimmten Wissensproduktion. Ebd., S. 102.

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ne das Gefühl vermittelt, daß jene nicht mehr funktionieren.«21 Sehr allgemein gesprochen lehnen Vertreter*innen einer postmodernen Haltung das Konzept ›universeller‹ Ideen oder Werte ab und heben stattdessen Vielfalt und Differenz hervor. Die Begriffe Moderne und Postmoderne spiegeln nach Lyotard keine Epoche wider, sondern einen ›Geisteszustand‹, d. h. eine Haltung. Die Postmoderne jedoch sei, so Lyotard, immer auch als der Moderne inhärent zu verstehen, »nämlich jedesmal, wenn die moderne Erzählung und/oder der Zielpunkt jeweils der Kritik, Skepsis, Perspektivierung und Antizipation überantwortet werden […]. Insofern sollten wir unter Postmoderne entweder ein Anwachsen der Skepsis oder einen größeren Vorbehalt gegenüber den großen Erzählungen und ihren Zielen […] verstehen.«22 Ungeachtet der steilen Karriere des in vielen Bereichen instrumentalisierten und dadurch in vielen Richtungen anschlussfähigen Begriffs der ›Postmoderne‹ könnte diese Differenz eine Erklärung für die zu Beginn gestellten Fragen sein. Es sei zweitrangig, ob das Musiktheater tatsächlich legitimiert werden muss oder gar neue Formen der Legitimation entwickelt werden sollten und warum überhaupt die Notwendigkeit bestünde, Musiktheater zu legitimieren. – So grenzte ich die Forschungsfrage nach Legitimationsstrategien, d. h. die Frage, ›wie und wodurch‹ legitimiert wird, von weiteren Fragen ab. Das ›offensichtliche Legitimationsproblem‹ des Musiktheaters – zumindest das Wissen darüber, dass ein solches besteht – wird in der Einleitung der vorliegenden Arbeit entfaltet. Die Feststellung eines erhöhten Legitimationsdrucks erweckt in ihrer ständigen Repetition einerseits eine Art der Legitimation durch Relevanzproduktion. Sie könnte aber andererseits auf eine tatsächlich erhöhte Notwendigkeit der Legitimation des Musiktheaters hindeuten. Diese Vermutung ließe sich durch den sogenannten ›cultural lag‹ erklären. Das Dispositiv des zeitgenössischen Musiktheaters stellt sich als ›Wirklichkeit‹ mit universellem Geltungsanspruch dar und erfährt trotz widersprüchlicher Legitimationsstrategien keine normative Destabilisierung, weil die Widersprüche Teil der großen Erzählung sind. Allerdings entstehen besondere »Schwierigkeiten [dann], wenn Institutionen und Subsinnwelten sich nicht im Gleichschritt verändern«23 ; in Anlehnung an den sogenannten ›cultural lag‹, d. h. an eine kulturelle Phasenverschiebung, meinen Berger und Luckmann damit eine unterschiedlich schnelle Entwicklung von gesellschaftlichem Wissen (beim ›cultural lag‹ geht es um eine

21

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Jean-François Lyotard: Eine post-moderne Fabel über die Postmoderne oder: In der Megalopolis, in: Robert Weimann und Hans Ulrich Gumbrecht (Hg.): Postmoderne – globale Differenz, Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag, 1991, S. 291–304, hier S. 293. Ebd., S. 294. Peter Berger und Thomas L. Luckmann: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissensoziologie, Frankfurt a. M.: Fischer Taschenbuch Verlag, 2013, S. 94.

IV Schlussbetrachtung

langsamere Entwicklung von Normen und Werten im Verhältnis zum technischen Fortschritt einer industrialisierten Gesellschaft). Diese Phasenverschiebung kann in unterschiedlichen Gesellschaftsbereichen selbstverständlich auch in Analogie umgekehrt ablaufen, etwa wenn Normen und Werte sich schneller verändern als eine institutionelle Anpassung an diese Verschiebung. Durch kulturelle Phasenverschiebungen »werden sowohl die allgemeinverbindlichen Rechtfertigungen der institutionalen Ordnung als auch die Speziallegitimationen besonderer Institutionen oder Subsinnwelten empfindlich gestört.«24 Der regelmäßig proklamierte Rechtfertigungsdruck könnte also auch ein Indiz dafür sein, dass dem Dispositiv die ursprüngliche Klarheit hinsichtlich ihrer Funktion abhandengekommen ist. Gleichzeitig ließe sich der universelle Geltungsanspruch des Musiktheaters als Festhalten an der Moderne interpretieren.

3. Ausblick Diese Arbeit trägt mit einem wissenssoziologischen Zugriff auf Musiktheaterkritiken wesentlich zur Kritikenforschung im Bereich des Musiktheaters bei, die insbesondere für die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts stark unterbelichtet ist. Weitere Anknüpfungspunkte böte eine Untersuchung der Musiktheaterkritik der Zeit um 1920 im Umfeld der Musiktheaterkompositionen der neuen Sachlichkeit sowie des damaligen Repertoiretheaters. Während der Arbeit an diesem Buch sind bei ›Ausflügen‹ in die rezente Theatergeschichte immer wieder Parallelen aufgetaucht, die einen übergreifenden gesellschaftlichen Zusammenhang vermuten lassen. Die »Zukunftsfähigkeit«25 des Musiktheaters etwa, die von vielen Autoren konstatiert wird und die als Legitimationsstrategie für die Kunstform angeführt wird, beschreibt Christopher Balme bereits für die Zeit um 1900 als ideologisch. So schreibt er in der Einleitung eines Readers mit Originaltexten zur deutschen Theaterreform 1870–1920: »›Ein Theater von Morgen‹ oder ›Theater der Zukunft‹ ist wohl die beliebteste Etikettierung jener Programmschriften, Manifeste und Reformvorschläge zum Theater, die um 1900 in großer Zahl herauskamen.«26 Anknüpfend an diese Parallele könnte durch Analysen von Kritiken um 1900 erforscht werden, ob und wenn ja inwiefern der Diskurs der Legitimation seitdem einem Wandel unterlegen hat. Eine bereits erfolgte stichprobenhafte Analyse einiger Kritiken zur Oper Jonny spielt auf von Ernst Křenek legt die Vermutung nahe, dass ein großer Teil

24 25 26

Ebd. Bettina Knauer und Peter Krause (Hg.): Von der Zukunft einer unmöglichen Kunst. 21 Perspektiven zum Musiktheater, Bielefeld, Aisthesis Verlag, Klappentext. Christopher Balme: Das Theater von Morgen, 1988, Würzburg: Königshausen u. Neumann, S. 11.

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der hier dargelegten Legitimationsstrategien bereits während der 1920er Jahre fest im gesellschaftlichen Wissensvorrat verankert war. Ein interessanter Anknüpfungspunkt für weitere Forschung wäre die Untersuchung, ob sich die aktuelle ›öffentliche Meinung‹ jenseits etablierter Printmedien mit vergleichbaren Strategien darstellt; etwa könnten online-Kommentarspalten zu Texten analysiert werden, die das Musiktheater betreffen. Dies gilt ebenso für Meinungsäußerungen auf Social Media wie bspw. Facebook oder auf anderen Foren, die als Untersuchungsgegenstand gewählt werden könnten. Bei Facebook gibt es zum Beispiel eine Gruppe »Against Modern Opera Productions«, in der neben Kommentaren zu spezifischen Opernproduktionen auch Videoclips und Bilder von Inszenierungen gezeigt werden. Eine vergleichbare Gruppe ist zum Beispiel auch »Gegen Regietheater in der Oper«27 . Möglicherweise sind die Legitimationsstrategien im Internet für die Zeit nach dem hier analysierten Untersuchungszeitraum vergleichbar mit den für die hier analysierten Kritiken herausgestellten Strategien. Zumindest legt das der Blick auf die Konstante der Universalität und Widersprüchlichkeit nahe. Eine stichprobenhafte Betrachtung einiger sich im Internet niederschlagender Phänomene innerhalb des Dispositivs weisen auf diese Vermutung hin. Auch der Befund Balmes kann in Verbindung mit der auch in dieser Untersuchung nachgezeichneten ›Zukunftsfähigkeit‹ des Musiktheaters als konstantes Narrativ darauf hindeuten, dass sich in unmittelbarer Zukunft daran nichts ändern wird. Allerdings muss einschränkend erwähnt werden, dass das Internet als Plattform neben der Übernahme der Funktion von Zeitungen als Medium der Öffentlichkeit nunmehr auch die Möglichkeit bietet, unmittelbar auf die Rezensionen von Kritiker*innen oder innerhalb von Lobbygruppen für bestimmte Formen des Musiktheaters zu reagieren – etwa durch die Präsenz und Reaktion in Kommentarspalten oder durch Kommentare und Reaktionen in sozialen Netzwerken. Das heißt, dass die Möglichkeiten der Partizipation am Aushandlungsprozess über den Geltungsanspruch des Musiktheaters gewissermaßen weiter demokratisiert werden, da nun sowohl die Zuschauer*innen als auch sonstige Personen relativ barrierefrei die Möglichkeit haben, sich zu äußern. Ethel Matala de Mazza zeigt in ihrer Studie Der populäre Pakt auf, dass Genres wie die Operette und das Feuilleton zu Beginn des 20. Jahrhunderts einen vergleichbaren Anteil am Durchbruch der Moderne hatten wie Genres, die der sogenannten

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»Against Modern Opera Productions« (https://www.facebook.com/Against-Modern-Opera -Productions-146292958770872/?hc_ref=ARSLvxz1xEEO9qRRqafSU42BrIQbme8PJBgy_m1L 0jLoqkplmwuncjhNodfbjLoqkpl&fref=nf, zuletzt aufgerufen am 6.6.2018) und »Gegen das Regietheater in der Oper« (https://www.facebook.com/Gegen-Regietheater-in-der-Oper-51 0344335671989/, zuletzt aufgerufen am 6.6.2018).

IV Schlussbetrachtung

Hochkultur zugeschrieben werden.28 Diese Beobachtung ist einerseits deswegen interessant, weil auch im Rahmen der vorliegenden Arbeit gezeigt werden konnte, dass die binäre Trennung zwischen sogenannter Unterhaltungssparte und ernstem Musiktheater sich als nicht haltbar erweist. Andererseits stellt sich in diesem Kontext die Frage, ob und inwiefern der Diskurs zur Legitimation des zeitgenössischen Musiktheaters in einen größeren Kontext um Aushandlungsprozesse der Moderne einzubetten ist.

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Ethel Matala de Mazza: Der populäre Pakt. Verhandlungen zwischen Operette und Feuilleton, 2018, Frankfurt a. M.: Fischer.

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Kritikenverzeichnis

Adam, Klaus: Kreta versinkt in einer Flut von wilden Bildern, in: Frankfurter Neue Presse, 30.07.1990 Altinger, Helmuth: Die Csárdásfürstin hält in München Hof, in: Abendzeitung München, 28.06.1997 Altmann, Hans Peter: Geradlinig und deshalb überzeugend, in: Dresdner Neueste Nachrichten, 27.05.1993 Angheloff, Tonka: Von kalter Mansarde in triste Hütte, in: Die Harke, Nienburg, 22.11.1991 Arndt, Stefan: Volles Risiko, in: Hannoversche Allgemeine Zeitung, 20.11.2003 Arndt, Stefan: Mario Barth mit versteckter Kamera im Opernhaus, in: Hannoversche Allgemeine Zeitung, 30.11.2016, http://www.haz.de/Hannover/Aus-der-St adt/Uebersicht/Mario-Barth-mit-versteckter-Kamera-im-Opernhaus-Hannov er, zuletzt aufgerufen am 4.3.2017 Aulich, Bernd: Ein wilder Höllenspuk mit Sex-Appeal, in: Recklinghäuser Zeitung, 14.10.1988 Baruch, Gerth-Wolfgang: Alle gehen sich auf die Nerven, in: Badische Neueste Nachrichten, 23.10.1991 Barz, Paul: Ein Triumph bittersüßer Nostalgie. Puccinis ›La Bohème‹ an der Deutschen Oper Berlin, in: Trierischer Volksfreund, 30.12.1988 Bauer, Hanns-Horst: An der Rampe stehen und schön singen, in: Südwestpresse Ulm, 02.04.1994 Baumgart, Julia und Mahltig, Julia: Starlight Express: Darsteller humpelte von der Bühne, in: Westfälische Rundschau Dortmund, 15. September 2006 Beaujean, Alfred: Glanzvoller Auftakt [Titel nicht vollständig lesbar], in: Aachener Volkszeitung, 05.09.1989 Becker, Roberto: Volltreffer, in: Neues Deutschland, Berlin-Ost, 4.1.2000 Beer, Monika: Zwischen Leben und Sterben wankende Figuren, in: Fränkischer Tag Bamberg, 23.05.1996 Benda, Susanne: Götter ohne Himmel, Engel mit Fahrrad. Hans Neuenfels’ und Lothar Zagroseks »Idomeneo« an der Deutschen Oper in Berlin, in: Stuttgarter Nachrichten, 15.3.2003

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Musiktheater und Legitimation im Diskurs

Benda, Susanne: Von wegen Blume – Böses Pflänzchen!, in: Stuttgarter Nachrichten, 21.03.2003 Berndt, Hans: Zerstückelte Laute und Geräusche, in: Handelsblatt, 31.01.1997 Beßling, Rainer: Klopfen, Rascheln, in: Verdener Aller-Zeitung, 06.02.1997 Beuth, Reinhard: Eitelkeitsparagraph, in: Berliner Morgenpost, 21.01.2000 Bischoff, Gerd: Paprika im Blut, in: Mannheimer Morgen, 30.12.1996 Blumenstein, Gottfried: Immer noch im Operettentaumel, in: Freie Presse Chemnitz, 12.01.2000 Boronowsky, B.: Mimi auf Gitterrost, in: Soester Anzeiger, 29.11.1995 Boser, Volker: Wenn göttliche Köpfe rollen, in: Abendzeitung München, 15.03.2003 Brandner, Christoph A.: Die Romantik des leisen Todes, in: Kinzigtal-Nachrichten Schlüchern, 07.03.1997 Brandt, Ellen: Üppig sei die Kunst. ,La Bohème‘ in der deutschen Oper in Berlin, Frankfurter Rundschau, 31.12.1988 Breiholz, Jochen: Operetten-Krieg in Dresden, in: Die Welt, 07.01.2000 Breiholz, Jochen: Im Namen der Csárdásfürstin, in: Die Welt, 12.01.2000 Bröking, Klaus: Auf den Spuren von ,Cats‘: 2 Mio. Besucher bei ,Starlight Express‘, in: Westfälische Rundschau, 12.04.1991 Brug, Manuel: Operette auf dem Silbertablett, in: Die Welt Berlin, 30.12.1998 Brug, Manuel: Die letzten Tage der Operetten-Menschheit, in: Die Welt, 31.12.1999 Brug, Manuel: Sanftes aus der Mozart-Lounge in Lachsrosa, in: Die Welt, 15.03.2003 Brug, Manuel: Voll das Pariser Leben, in: Die Welt Hamburg, 16.12.2002 Brug, Manuel: Sanftes aus der Mozart-Lounge in Lachsrosa, in: Die Welt Hamburg, 15.03.2003 Bürger, Doris: Mit 60 Sachen über die Bühne, in: Quick München, S. 42–44, 8.6.1988 Bumann, Ulrich: Der öffentliche Tod, in: General-Anzeiger Bonn, 2.10.2007 Büning, Eleonore: Geschüttelt, nicht gerührt: Puccinis ,La Bohème‘ an der Berliner Lindenoper macht Musik in der Schneekugel, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 18.12.2001 Buske, Peter: Eiskaltes Händchen mit Frischegarantie, Berliner Zeitung, 29.12.1992 Buske, Peter: Zum Heulen schön, in: Märkische Oderzeitung, 19.12.2001 Constantin, Irene: Mimi und die fröhlichen Gesellen, in: Lausitzer Rundschau, 07.11.2006 Dellith, Michael: In den Pariser Studentenbuden geht es immer noch hoch her, in: Frankfurter Neue Presse, 17.05.1994 Dellith, Michael: So ganz und gar ohne Weiber geht die Chose eben doch nicht, in: Frankfurter Neue Presse, 27.12.1997 Diederichs, Curt J.: Kantiger Puccini, in: Kölnische Rundschau, 28.11.1990 Döpfner, Mathias: Zum Streit um eine moderne Oper. Rechte Gesinnung?, in: Hamburger Morgenpost, 03.02.1997

Kritikenverzeichnis

Dössel, Christiane: Überzüchtetes treibt keine Blüten, in: Süddeutsche Zeitung München, 27.07.1994 Dworzak, M. W.: Sieg auf der ganzen Linie, in: Mittelbayrische Zeitung Regensburg, 17.12.1993 Ebel, Martin: Mimi stirbt, und ihr Sopran leuchtet, in: Badische Zeitung, 19.12.1992 Elling, Elisabeth: Die Romantik auf Eis, in: Soester Anzeiger, 19.04.1994 Ertegl, Orhan: O. T., in: start. 4/98, S. 56 Euler, Anneliese: Den Orkus hinab: Von Lust direkt zum Frust, in: Main-Echo Aschaffenburg, 04.05.1995 Finkelmeier, Rolf: Intimer Rahmen für das Musical über fleischfressende Pflanze, in: Ruhr- Nachrichten Dortmund, 28.02.1990 Fischer, Ulrich: Giacomo Puccini – nur ein Lügner?, in: Oldenburgische Volkszeitung Vechta, 12.02.1993 Frede, Matthias: Stiller Tod im Schnee, in: Die Welt Hamburg, 18.12.1991 Frede, Matthias: Dieser Charme von Melancholie, in: Dresdner Neueste Nachrichten, 03.01.1992 Frede, Matthias: Schwieriger Fall von Anti-Oper, in: Mitteldeutsche Zeitung Halle und Saalkreis, 28.01.1997 Frede, Matthias: Tingeltangel und Krieg. Peter Konwitschny will nach ,Csárdásfürstin‘-Skandal nicht mehr in Dresden arbeiten, in: Mitteldeutsche Zeitung Halle und Saalkreis, 12.01.2000 Freyeisen, Renate: Hausbacken-unkritisches ,Musical-Grusical‘, in: Main-Echo Aschaffenburg, 22.02.1994 Fühner, Ruth: Die Liebe in frivolen Zeiten, in: Handelsblatt Düsseldorf und Frankfurt, 23.01.1998 Geitel, Klaus: Theatercoups, wie das Barock sie liebte, in: Die Welt, Essen, 23.02.1987 Geitel, Klaus: Wie eine Legende der Liebe im Heizungskeller endet, in: Die Welt, 27.12.1988 Geleng, Ingvelde: ,La Bohème‘ der jungen Stimmen begeistert aufgenommen, in: Schwarzwälder Bote, 27.12.1988 Geleng, Ingvelde: Eine verjüngte ,La Bohème‘ in Berlin zu Weihnachten, in: Badisches Tagblatt, 27.12.1988 Geleng, Ingvelde: ,La Bohème‘ an der Deutschen Oper in Berlin: Ein vitales Wunder. Götz Friedrich inszenierte Puccini mit einer jungen Sängergarde, in: Nürnberger Zeitung, 27.12.1988 Geleng, Ingvelde: ,Bohème‘ mit Herz – ein Triumph des Ensembletheaters, in: Welt am Sonntag, 08.01.1989 Geyer, Susanne: Mimi und Rodolfo lieben und leiden in inniger Harmonie, in: MainPost Würzburg, 28.09.1992 Glasenapp von, Katharina: Fern aller gelangweilten Routine, in: Aalener Volkszeitung, 22.02.1994

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Goertz, Wolfram: Ein Brausen tief im Westen, in: Rheinische Post Düsseldorf, 14.08.1997 Gojowy, Detlef: Zwei Möpse trauern, und wir wissen nicht, um wen, in: Die Welt Berlin, 29.05.1997 Görtz, Günter: Im Himmel ist der Teufel los, in: Neues Deutschland, Berlin-Ost, 31.3.1992 Gruber, Klaus: Verblüffende Bilder retten Spannung, in: Mittelbayerische Zeitung, Regensburg, 30.07.1990 Hagedorn, Volker: Operngeister auf Durchreise, in: Hannoversche Allgemeine Zeitung, 10.02.1993 Hammer, Johann W.: Vom ausgeflippten Olymp, in: Die Woche, Regensburg, 20.02.1992 Hampel, Helmut: Gala der charaktervollen Stimmen, in: Wiesbadener Kurier, 16.05.1994 Heiser, Hubertus: Grusel-Story im Horrorladen um menschenfressende Blut-Primel, in: Westfalenpost Hagen, 18.05.1990 Helfricht, Jürgen: Bravos für Csardasfürstin [sic!]. Die Leiche tanzt wieder in der Semperoper, in: Bild Dresden, 16.10.2000 Heringlehner, Ralph: Eine kleine Geschichte, in: Main-Post Würzburg, 13.01.1997 Hielscher, Bernd: »Erbärmlicher Pinsel«, schimpft Marcel. Passauer Oper präsentiert Puccinis ,La Bohème‘ im Punk-Look, in: Straubinger Tagblatt, 19.11.1993 Hilger, Katrin: Teufelsweib läßt bitten, in: Münchner Merkur, 28.06.1997 Höfer, Hans: Wehmut blühender Kantilenen, in: Coburger Tageblatt, 05.06.1990 Hoffmann, Stephan: Schwer und doch ganz leicht. Helmut Lachenmanns ,Das Mädchen mit den Schwefelhölzern‘ in Hamburg uraufgeführt, in: Schwäbische Zeitung, 28.01.1997 Hoffmann, Stephan: Gediegenheiten genügen nicht, in: Die Welt, Hamburg, 14.01.2003 Hußlein, Dorothea: Hausmütterchen trifft netten Nachbarn, in: Münchner Merkur, 23.09.2002 Jeglinski, Nina: Im Expreß nach London, in: Thüringer Allgemeine, 12.9.98 Jeitschko, Marieluise: Pessimistisch wie nie, in: Neue Westfälische Bielefeld, 9.2.1993 Jöckle, Rudolf: Die Gefühle lodern wie ein Höllenfeuer, in: Frankfurter Neue Presse, 19.01.1998 Kaiser, Ch.: ,Idomeneo‘: Zeitloses Spiel um Macht und Verantwortung, in: RuhrNachrichten, 26.11.1990 Kageneck von, Christian: Debattierclub ohne Gewicht, in: Mannheimer Morgen, 27.03.2003 Kahlke, Thomas: Musikdrama in zeitlosem Design, in: Ost-holsteinisches Tagblatt Plön, 16.01.1990

Kritikenverzeichnis

Kahlcke, Thomas: Gefräßiges Gemüse wächst ans Herz, in: Kieler Nachrichten, 26.09.1994 Kallensee, Frank: Aller schlechten Dinge sind Drei, in: Märkische Allgemeine Potsdam, 18.12.2001 Kaumanns, Armin: Viel Bein tritt auf und ab, in: WZ, Düsseldorfer Nachrichten, 02.12.1996 Kayser, Beate: Die alten zeigen den Jungen, wie man atmet, in: TZ München, 22.12.1998 Kehrmann, Boris: In diesem ›Horrorladen‹ geht es müde zu, in: Saarbrücker Zeitung, 08.03.1994 Kelber, Ulrich: Pflanze wird blutrünstiges Monster, in: Mittelbayerische Zeitung, 15.01.1996 Kelber, Ulrich: Ein Monster, das zum Lachen reizt, in: Mittelbayerische Zeitung, 08.10.1996 Kienzle, Siegfried: Vorgestrige Heiterkeit. Manfred Schnabel inszeniert Kálmáns ›Csárdásfürstin‹ in Wiesbaden, in: Darmstädter Echo, 09.12.1996 Kienzle, Siegfried: Aus der nachtschwarzen Welt Kafkas, in: Allgemeine Zeitung Mainz, 19.01.1998 Klausmann, Birgit: Eine ganze Halle nur für Musicals, in: Neue Ruhrzeitung, 23.01.1988 Klee, Gerd: Nichts perlt, es tröpfelt nur, in: Wiesbadener Kurier, 09.12.1996 Klempnow, Bernd: Denk-Mal ,Csárdásfürstin‘, in: Sächsische Zeitung Dresden, 19.01.2000 Klempnow, Bernd: Operettenstreit. ,Csárdásfürstin‘ und kein Ende, in: Süddeutsche Zeitung, 08.03.2000 Klink, Renate: Überlebenskünstler unter den lausigen Dächern von Paris, in: Hildesheimer Allgemeine Zeitung, 15.09.1992 Knauer, Christa: Opulente Reise in die Sagenwelt, in: Harburger Anzeigen und Nachrichten, 15.01.1990 Koch, Hans-Martin: Das Geschäft muss brummen, in: Landeszeitung für die Lüneburger Heide, 04.04.1992 Koch, Stefan: Spielarten der Liebe oder: Tod im Narzissenfeld, in: Mannheimer Morgen, 6.11.2001 Koegler, Horst: Keine Chance für die Liebe, in: Stuttgarter Zeitung, 22.10.1991 Kölmel, Dieter: Ein Fest der Stimmen in der Tiefkühlbox, in: Stuttgarter Nachrichten, 22.10.1991 Köhl, Rainer: Die Komödie eines Künstlerlebens, in: Badische Neueste Nachrichten, 25.09.1996 Koop, Ulrike: Die Pflanze des Grauens, in: Badische Neueste Nachrichten, 7.12.1996 Korfmacher, Peter: Liebesbekümmerter Teenager, in: Leipziger Volkszeitung, 29.01.1998

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Musiktheater und Legitimation im Diskurs

Krebs, Ute: Sternenlicht über dem Ruhrpott, in: Freie Presse Chemnitz, 12.06.1998 Krieger, G./Löwer, Ch.: Die »Krach-Oper« kommt ins Archiv, in: Hamburger Morgenpost, 06.02.1997 Kruchten, Peter M.: Wenn Woody Allen Marilyn Monroe trifft, in: Die Rheinpfalz Ludwigshafen, 03.02.1992 Kühn, Georg-Friedrich: Champagner-Buffet, in: Frankfurter Rundschau, 04.01.1993 Kühn, Georg-Friedrich: Mesalliance mit der Stasi, in: Frankfurter Rundschau, 31.12.1999 Kunst, Carola: »Füttere keine Pflanzen!«, in: Harburger Anzeigen und Nachrichten, 22.09.1988 Lange, Joachim: Wenn Regie-»Granaten« in die heile Operettenfassade einschlagen, in: Saarbrücker Zeitung, 08.01.2000 Langehein, Karla: ,Idomeneo‘: Am Ende flogen die Blumensträuße, in: SchaumburgLippische Landeszeitung, 30.06.1989 Lehmann, Hans: Prächtiges Prachtstück, in: Ostthüringer Zeitung Gera, 19.01.1999 Leimsner, Renate: Der ganz alltägliche Wahnsinn, in: Main-Echo Aschaffenburg, 29.01.1993 Leingang, Hiltrud: Dagegen kämpfen selbst Götter vergebens, in: Fränkische Nachrichten, Tauberbischofsheim, 02.11.1994 Lemke-Matwey, Christine: Das Roulette der echten und der falschen Gefühle, in: Süddeutsche Zeitung, München, 31.12.1999 Lemke-Matwey, Christine: Ihr seid doch alle krank, in: Der Tagesspiegel Berlin, 07.01.2000 Lewinski von, W.-E.: Ganz ohne Kálmán geht die Operetten-Chose nicht, in: Wiesbadener Tagblatt, 09.12.1996 Lieberum, Rolf: Ein antikes Seelendrama, in: Braunschweiger Zeitung, 30.06.1989 Lieberum, Rolf: Viel Liebesleid in der Künstlermansarde, in: Wolfsburger Nachrichten, 20.09.1994 Lindhorst, Aldo: Operettenglückseligkeit? Nein, Krieg, in: Leipziger Volkszeitung, 03.01.2000 Löhlein, Heinz-Harald: Erinnerung an einen Toten. Im Vorfeld von Helmut Lachenmanns Oper »Das Mädchen mit den Schwefelhölzern«, in: Bremer Nachrichten, 15.01.1997 Lorenz, Gabriella: Das Kuhmaul bleckt die Haifischzähnchen, in: Abendzeitung München, 15.03.1997 Loskant, Sebastian: Herzergreifende Superstars, in: Niederelbe Zeitung Otterndorf, 27.12.2004 Luber, Nike: Gesangliche Glanzleistung in kalter Künstlermansarde, in: Badische Neueste Nachrichten, 13.01.2003 Luehrs-Kaiser, Kai: Oma Oper kann noch beißen, in: Bremer Nachrichten, 15.03.2003

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Luehrs-Kaiser, Kai: Buh-Stürme für die Ewigkeit, in: Die Welt, 17.04.2003 Mahlke, Sybill: Die Großen in der Kinderstube. Helmut Lachenmanns ,Mädchen mit den Schwefelhölzern‘ unter Achim Freyers Regie an der Hamburgischen Staatsoper, in: Der Tagesspiegel Berlin, 28.01.1997 Mahlke, Sybill: Die kopflose Leiche tanzt den Totentanz, in: Der Tagesspiegel Berlin, 31.12.1999 Matthes, Werner: Fast wie ein szenisches Oratorium, in: Nordwest-Zeitung Oldenburg, 06.02.1993 May, Ursula: Einfach, ehrlich und süß. ,Little Shop of Horrors‘ im English Theater, in: Frankfurter Rundschau, 06.12.1994 Mazanec, Brigitta: Im Reich der singenden Puppen, in: Mannheimer Morgen, 09.03.1995 Mazanec, Brigitta: So eiskalt wie Mimis Händchen, in: Wiesbadener Kurier, 09.03.1995 Meier, Manfred: und theatralisch rumpelt der Leichenwagen, in: Märkische Allgemeine Potsdam, 24.01.1995 Merz, Manfred: Auf dem Skateboard durch die Unterwelt, in: Frankfurter Neue Presse, 28.10.1993 Merz, Manfred: Pluto als Macho, Merkur als Skateboard-Fahrer, in: Wetterauer Zeitung, 28.10.1993 Mielke, Ursula: Italienische Opernträume erfüllten sich, in: Thüringer Allgemeine, 13.12.1993 Mielke, Ursula: Plädoyer für die Liebe, in: Thüringer Allgemeine Erfurt, 5.11.2001 Mortimer, Valentine A.: Für Königin Elizabeths jüngsten Sohn hat ein völlig neues Leben begonnen, in: Neue Post, Mai 1988 Müller, Christoph: Im Bilderrahmen, in: Haller Tagblatt, 22.10.1991 Müller, Christoph: Nicht nur Mimi hustet, in: Südwest Presse Ulm, 28.11.1997 Naumburg, Laura: Liebe in einer Mansarde aus Eis, in: Neues Deutschland BerlinOst, 20.12.2001 Neubauer, Hans: Künstler, die im Wohlklang hungern, in: Fränkischer Tag, 09.12.1993 Neubauer, Simon: Menschendrama auf Kreta, in: Bremer Nachrichten, 30.06.1989 Neubauer, Simon: Bittere Erkenntnisse der Aussteiger, in: Bremer Nachrichten, 08.04.2002 Neubauer, Simon: Das Höllenfaktotum kommt aus Sachsen. Studierende der Hochschule für Künste entdecken ,Orpheus in der Unterwelt‘/Premiere im Schauspielhaus, in: Weser Kurier, 01.07.2008 Nölter, Wolfgang: Jubelstürme um Luciano Pavarotti, in: Heilbronner Stimme, 03.03.1989 Nölter, Wolfgang: Diesmal gar nicht langweilig. Nach 103 Jahren neu inszeniert: ›Idomeneo‹ in Hamburg, in: Aachener Nachrichten, 17.01.1990

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Musiktheater und Legitimation im Diskurs

Nölter, Wolfgang: Avantgarde-Werk: Staatsoper reduziert die Preise, in: Münchner Merkur, 15.01.1997 Nölter, Wolfgang: Einfache Langeweile zwischen Knall und Gezisch, in: Badische Neueste Nachrichten, 28.01.1997 Nölter, Wolfgang: Es rattert, raschelt, zischt und knallt, in: Mindener Tageblatt, 01.02.1997 O. A.: Tempo, Action, Spannung, ADAC-Clubzeitschrift, k. A. O. A.: Verliebte Eisenbahnen, in: Kieler Nachrichten, 24.03.1984 O. A.: Starlight Premiere mit Rau, in: WAZ, 03.10.1987 O. A.: Kohle für den Ruhrpott, in: Spiegel 1988 (Ausgabe 23), S. 194–204 O. A.: Buchungen für 10 Mio. DM, in: WAZ, 23.01.1988 O. A.: Schon zehn Mio DM in der Kasse für Reservierungen, in: WAZ Wattenscheid, 23.01.1988 O. A.: Umbau der Rumpelkammer, in: Wirtschaftswoche Düsseldorf, Ausgabe 2/88 O. A.: »Starlight«-Clou: Theater-Karte als Fahrkarte. Kostenlose Revier-Anreise, in: WAZ, 11.4.1988 O. A.: Erfolg mit der Dampflok. Neue prestigeträchtige Theater im Ruhrgebiet, in: Westfälische Nachrichten, 1.6.1988 O. A.: Im Ruhrgebiet öffnen neue, prestigeträchtige Theater ihre Pforten, in: Weilburger Tageblatt, 1.6.1988 O. A.: Mit finanziellem Wahnsinn und nüchternem Wirtschaftskalkül. Essen und Bochum hoffen auf die neuen Millionen-Objekte, in: Westfalenpost, 02.06.1988 O. A.: Mick Jagger zur Premiere, in: WAZ 6.6.1988 O. A.: Rennbahnen im Zuschauerraum, in: Fuldaer Zeitung, 08.06.1988 O. A.: Richtig rasant. ,Starlight Express‘ als Wirtschaftsmotor, in: Rhein-Zeitung, 09.06.1988 O. A.: »Starlight Express« auf Rollschuhen ohne Tempolimit. Bochumer MusicalInszenierung spricht alle Sinne an – Enormer technischer Aufwand, in: Siegener Zeitung, 23.7.1988 O. A.: Naturgeschichte der Pariser Bohème, in: Süddeutsche Zeitung München, 30.12.1988 O. A.: Staatsoper im Mozart-Rausch. Glanzvolle Premiere von »Idomeneo«, in: Bild Hamburg, 17.1.1990. O. A.: Verdi läuft Mozart in Salzburg den Rang ab, in: Westfälische Nachrichten, 30.07.1990 O. A.: Eine mickrige Pflanze wird zum Monster, in: Freie Presse Chemnitz, 13.08.1992 O. A.: Eine Oper mit sozialem Sprengstoff, in: Leonberger Kreiszeitung, 1.2.1997 O. A.: »Der Erfolg hat mich überrascht«, in: Hamburger Abendblatt, 29.1.1997 O. A.: Lachenmanns erste Oper erfolgreich, in: Landeszeitung, niedersächsisches Tagblatt, 07.02.1997

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O. A.: Das letzte Schwefelholz. Lachenmann-Dernière in Hamburg, Süddeutsche Zeitung, 8.2.1997 O. A.: Neue Brandlegung in Stuttgart? ,Das Mädchen mit den Schwefelhölzern‘ in der Publikumsdiskussion, in: Die Welt, 26.02.1997 O. A.: Essener kennen sich aus mit Glasrecycling, in: Westdeutsche Allgemeine Zeitung, (Essen), 16.07.1998 O. A.: Stephan aus Föhren – ganzes Dorf feiert seinen Starlight-Star, in: Neue Westfälische, 03.09.1998 O. A.: Verzauberte Gesamtschüler, in: Andernacher Kurier u. a., 12.08.1998 O. A.: Musicals sind ein Millarden-Markt, in: Iserlohner Kreisanzeiger und Zeitung, 13.08.1998. O. A.: Bildungswerk fährt zum Starlight Express, in: Ruhr-Nachrichten, 08.09.1998 O. A.: Ein Theater zum Mieten, in: Ruhrnachrichten, 24.10.1998 O. A.: Rekord bei Starlight: Schon 7 Mio. Besucher, in: Neue Westfälische, 05.11.1998 O. A.: Gericht untersagt Eingriff in Konwitschny-Inszenierung, in: Leipziger Volkszeitung, 24.02.2000 O. A.: Idomeneo in Wiesbaden auf dem Spielplan, in: Wiesbadener Kurier, 28.09.2003 O. A.: Liebe wartet beim ,Starlight Express‘, in: Recklinghauser Zeitung, 27.06.2006 O. A.: Der große Ratespaß, in: Welt der Frau, 12.07.2006 O. A.: Einmal auf der Bühne von Starlight, in: Münstersche Zeitung, 29.07.2006 O. A.: Auch Fans geben Autogramme, in: Ruhr Nachrichten Bochum, 09.08.2006 O. A.: Prominenter Gast bei Starlight Express, in: Westdeutsche Allgemeine Zeitung, 12.08.2006 O. A.: Der Boulevard verwandelt sich in eine Freiluftarena, in: Westdeutsche allgemeine Zeitung Bochum, 23.8.2006 O. A.: ,Starlight Express‘ besucht, in: General Anzeiger Rhauderfehn, 15.09.2006 O. A.: Türkei-Premiere von »Idomeneo« gefährdet, in: Die Welt, 30.09.2006 O. A.: ,Idomeneo‘ auch in Türkei strittig?, in: Westfälische Rundschau, 30.09.2006 O. A: Die Bohémiens von heute, in: Märkische Oderzeitung, 06.11.2006 O. A.: Ein kleiner Ostfriese mit der richtigen Schnapszahl, in: Da Capo, 06/2010 O. A.: Mick Jagger zur Premiere, in: Westdeutsche Allgemeine Zeitung, ohne Datum Obiera, Pedro: Viel Beifall für ›La Bohème‹, in: Aachener Nachrichten, 05.09.1989 Obst, Sylvia: Liebe, Tod und Leidenschaft, in: Ostthüringer Zeitung Gera, 05.11.2001 Ochs, Ekkehard: Soziale Schärfe im Gleichnis von Leben, Liebe und Tod, in: OstseeZeitung Hansestadt Rostock, 22.02.1993 Ossenberg, Heide: Harmlos turbulent, in: Coburger Tageblatt, 25.03.1995 Otten, Jürgen: Köpfe ab, in: Rheinische Post Düsseldorf, 17.03.2003 Persijn-Vauz, Marlott: Zum Fürchten gruselig! Josef Köpplinger inszeniert das Musical »Der kleine Horrorladen« in Kaiserslautern, in: Die Rheinpfalz, 07.03.1994 Peter, Wolf-Dieter: Esprit und Wehmut, in: Bayernkurier München, 09.01.1999

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Musiktheater und Legitimation im Diskurs

Pick, Jörn: Bravissimo Milano!, in: Hanauer Anzeiger, 21.11.1992 Pohlmann, Konrad: Schicksal der Bohème ist kein Wintermärchen, in: Westfalenpost Hagen, 20.12.1988 Pommer, Frank: Nackte Venus mit Hummer auf Klavier, in: Die Rheinpfalz Ludwigshafen, 06.11.2001 Popp, Andreas: Leicht angestaubt. Offenbachs Operette mit halbherzigen Aktualisierungen, in: Fränkische Landeszeitung Ansbacher Tagblatt, 5.10.1993 Preu, Otto: Den Nerv getroffen, in: Thüringer Tageblatt Suhl, 12.09.1990 Rappl, Erich: Zwei Frauen zauberten Poesie, in: Nordbayerischer Kurier, 27.09.1993 Rebstock, Walter: Blutrünstige Superblume, in: Stuttgarter Nachrichten, 07.12.1999 Reinhard, Oliver: Ein Blumentopf für Seymour, in: Süderländer Volksfreund, 25.04.1995 Reininghaus, Frieder: Mimis nichtiges Bühnenleben im Bretterverschlag, in: Frankfurter Allgemeine, 16.02.1996 Richter, Andreas: Klassik aus dem Reformhaus, in: Der Tagesspiegel Berlin, 29.03.1992 Richter, Jürgen: Blutrünstiges Monster im Blumentopf, in: Frankfurter Allgemeine, 03.08.1990 Rickert, Jürgen: Ein Hauch von Aufklärung, in: Landeszeitung für die Lüneburger Heide, 01.07.1989 Riede, Rosalinde: Filmreif ist nicht gleich Bühnenreif, in: Zollern-Alb Kurier Balingen, 11.10.1994 Riedlbauer, Jörg: Puccini mit schroffen Akzenten, in: Hallertauer Zeitung, 25.10.1991 Riedlbauer, Jörg: Puccini mit schroffen Akzenten. ,La Bohème‘ in der Neuinszenierung von Tom Cairns an der Stuttgarter Staatsoper, in: Straubinger Tagblatt, 27.11.1992 Riedlbauer, Jörg: Tenorglanz aus Italien, in: Donau-Kurier Ingolstadt, 05.04.1994 Rockel, Dagmar: Ein Kulturereignis an der Reeperbahn, in: Harburger Anzeigen und Nachrichten, 03.02.1990 Röder, Susi: Pavarotti in der Staatsoper: Riesen Jubel um eine glanzvolle ,La Bohème‘, in: Bild Hamburg, 02.03.1989 Rühle, Arnd : Oper : ,La Bohème‘ . Schranke zwischen Leben und Tod. Die PucciniInszenierung von Alfred Kirchner wird wieder ins Programm genommen, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 02.12.2001 Sandner, Michael: Nicht viel fürs Auge, aber einiges mehr fürs Ohr, in: Der neue Tag Weiden, 08.04.1992 Sattler, Juliane: Wuchernd wie das Musical-Genre, in: HNA, Hessisch/Nieders. Allgemeine Kassel, 22.12.1994 Schäfer, Michael: Liebe, Tod und Tränen, in: Göttinger Tagblatt, 12.01.1989 Scheinpflug, Günter: Und alles wird eins, in: Heilbronner Stimme, 22.10.1991 Schell, Roland: Ausfälle übertrafen Einfälle, in: Heilbronner Stimme, 04.02.1992

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Schipke, Ralph: Da fehlt der »Grüne Daumen«, in: Nordkurier Neubrandenburg, 26.09.1994 Schmidt, Albrecht: Vom Amüsement zur Katastrophe, in: Darmstädter Echo, 04.06.1996 Schmidt, Nikolaus: Wie aus dem Bilderbuch, in: Badische Neueste Nachrichten Karlsruhe, 13.10.1997 Schnabel, Dieter: Idomeneo – streng, dramatisch. John Eliot Gardiner dirigiert die Mozart- Oper in Ludwigsburg, in: Aalener Volkszeitung, 18.05.1990 Schnabel, Dieter: Operette im Zweiten Kaiserreich, in: Haller Tagblatt, SchwäbischHall, 06.02.1992 Schickhaus, Stefan: Der Dichter friert, in: Main-Echo Aschaffenburg, 04.06.1996 Schickhaus, Stefan: Weltkugel, auffallend sinnlos, in: Main-Echo Aschaffenburg, 21.12.1996 Schickhaus, Stefan: Kleine Glücksmomente in der Katastrophe, in: Frankfurter Rundschau, 17.01.1998 Schirmbeck, Udo: Mit wenig Dampf in den Hades, in: Passauer Neue Presse, 18.02.1992 Schleicher, Fritz: Vom Himmel zur Hölle, in: Nürnberger Nachrichten, 11.03.1991 Schmatloch, Michael: Horror auf allen Ebenen. Das Musical »Der kleine Horrorladen« in Ingolstadt, in: Donau-Kurier, 17.12.1991 Schrauzer, Elisabeth: Vergnügliches aus Olymp und Hades, in: Reichenhaller Tagblatt, 10.11.1994 Schrauzer, Elisabeth: ,La Bohème‘ im Großen Festspielhaus, in: Reichenhaller Tagblatt, 26.10.1989 Schreiber, Wolfgang: Der Himmel über Paris, in: Süddeutsche Zeitung München, 27.12.1996 Schreiber, Wolfgang: Phantom einer Oper, in: Süddeutsche Zeitung, 30.05.1997 Schreiber, Wolfgang: Die wilden Bilder der Aufklärung, in: Süddeutsche Zeitung, 15.03.2003 Schuer, Sigrid: Wildwuchernde fleischfressende Pflanze, in: Weser Kurier, 13.10.2007 Schulte im Walde, Chr.: Bittersüßes Weihnachtsmärchen. Von Münster nach Aachen: Ewa Teilmans inszeniert eine rührende ,La Bohème‘, in: Westfälische Nachrichten, 6.11.2006 Schwarz, Barbara: Wieder geöffnet: Der kleine Horrorladen, in: Wilhelmshavener Zeitung, 05.10.1998 Sewald, Rudolf: Opernereignis mit Glanz: ,La Bohème‘, in: Trostberger Tagblatt, 18.10.1989 Seyfert, Michael: Ein Lobgesang auf die gute alte Dampflok-Zeit, in: Die Weltwoche Zürich, 05.04.1984

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Musiktheater und Legitimation im Diskurs

Söll, Reinhard: La Bohème: Der Triumph des Olafur Bjarnason, in: Mittelbayrische Zeitung Regensburg, 07.04.1992 Speicher, Stephan: Man sollte manchmal sich lieb haben, in: Berliner Zeitung, 31.12.1999 Spindler, Georg: Blutbad im Blumenladen, in: Mannheimer Morgen, 13.06.1990 Spinola, Julia: Klanganalyse auf der Couch, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 15.11.2001 Stein, Franz A.: Köpplingeriade oder: die Bühne, ein Tollhaus, in: Mittelbayrische Zeitung Regensburg, 17.02.1992 Stenger, Michael: Kann keine Liebe sein, in: WAZ Westdeutsche Allgemeine Essen, 29.11.1995 Stiehr, Joachim: Leider manchmal etwas albern, in: Main-Echo Aschaffenburg, 22.04.1991 Stockamp, Robert: Gesang und Spiel ganz wunderbar, in: Wolfsburger Nachrichten, 16.12.1996 Stoll, Dieter: Fenster zu, Mimi singt!, in: Abendzeitung Nürnberg, 04.10.2000 Stoll, Michael: »Etwas Neues bricht in Koblenz an«, in: Rhein-Zeitung Koblenz, 29.08.1996. Struck-Schloen, Michael: Rasch ein Abenteuer, in: Kölner Stadt-Anzeiger, 11.02.1992 Struck-Schloen, Michael: Surreale Irritationen aus der Wundertüte. Adriana Hölszkys »Tragödia« in Bonn uraufgeführt, in: Bremer Nachrichten, 30.05.1997 Struck-Schloen, Michael: Die Spur führt ins Nichts, in: Stuttgarter Zeitung, 31.05.1997 Struck-Schloen, Michael: Harsche Schnitte, in: Rheinische Post, 04.06.1997 Struck-Schloen, Michael: Was Zerfall ist, in: Süddeutsche Zeitung, 02.01.1998 Telgenbüscher, Antje: Mit Entsetzen Scherz treiben, in: Westfälisches Volksblatt Paderborn, 24.04.1995 Terschüren, H. D.: Auf rätselhafter Blutspur, in: Kölnische Rundschau, 30.05.1997 Thiel, Markus: Wir pfeifen auf die Weltmisere, in: Münchner Merkur, 22.12.1998 Thiel, Marcus: Angezogene Handbremse. Berlin: Hans Neuenfels inszeniert »Idomeneo«, in: Münchner Merkur, 15.03.2003 Thiel, Sara: Gar grausiges grelles grünes Gewächs, in: Freie Presse Chemnitz, 31.03.1998 Thielen, Hugo: Des Gottes Zorn besänftigt, in: Hannoversche Allgemeine, 06.07.1989 Thielen, Hugo: Verkühlte Künstler vor dem brennenden Manuskript, in: Hannoversche Allgemeine Zeitung, 16.09.1992 Thieme, Götz: Schnee, der aufwärts fällt. Stuttgart gastiert mit einer LachenmannOper in Paris, in: Stuttgarter Zeitung, 19.9.2001 Thieme, Götz: Wo man Götterköpfe rollen lässt, in: Stuttgarter Zeitung, 15.03.2003 Thiers, Hans-Jürgen: Von südlichem Charme, in: Thüringische Landeszeitung Weimar, 18.02.1992

Kritikenverzeichnis

Thiers, Hans-Jürgen: Liebe, Leben, Leid der Bohemiens, in: Thüringische Landeszeitung Weimar, 27.01.1997 Thiers, Hans-Jürgen: Nippeskabinett wurde entstaubt, in: Thüringische Landeszeitung, 23.02.1999 Thomasius, Jutta W.: Schreckenspflanze frißt sich durch, in: Frankfurter Neue Presse, 05.12.1994 Tomerius, Lorenz: Die Komtesse Staatssicherheit, in: Berliner Morgenpost, 31.12.1999 Tomerius, Lorenz: Wenn das Dunkel die Sinne öffnet, in: Märkische Oderzeitung Frankfurt/Oder, 15.11.2001 Tomerius, Lorenz: Ein großer Wurf mit durchdachtem Konzept, in: Märkische Oderzeitung, 15.03.2003 Trapp, Klaus: Fliegende Hüte, Große Gefühle, in: Darmstädter Echo, 04.05.1993 Troyke, Wolfgang: Orpheus in der Unterhaltungswelt. Ein aktualisierter Offenbach in Nürnberg, in: Bayerische Staatszeitung München, 15.03.1991 Tschechne, Wolfgang: Puccinis musikalischer Bestseller, in: Lübecker Nachrichten, 10.01.1989 Veek, Horst-Dieter: Vom Glück der Unauffälligkeit, in: Rheinpfalz Ludwigshafen, 12.12.1992 Wallerang, Lars: Im Schlund der Leidenschaft, in: Westdeutsche Zeitung Düsseldorfer Nachrichten, 19.02.1994. Wallerang, Lars: Rot-Gold liebt sich’s in Ungarn, in: Düsseldorfer Nachrichten, 14.08.2000 Weißenborn, Olaf: Speicher-Spielzeugpuppe, in: WZ Düsseldorfer Nachrichten, 19.12.1997 Willnecker, Regina: Wie Mimi zum Model wurde, in: Die Welt, 01.08.1994 Wolf, Werner: Beklemmendes Finale im dunkel-dumpfen Kellerloch, in: Leipziger Volkszeitung, 23.01.1998 Woock, Fritz: Der Herr Präsident liebt die Operette, in: Münchner Merkur, 30.08.1997 Zimmermann, Horst: Eisenbahn-Musical soll Massen ins Revier locken. Stadt Bochum baute dafür eigens ein Theater, in: Jülicher Volkszeitung (u. a.), 26.01.1988 Zimmermann, Jörg: Schöner Schein statt Risiko, ohne Angabe, Cottbus Zschacke, Günter: Im Himmel ist die Hölle los. Bejubelter Premieren-Erfolg in Lübeck: Offenbachs ,Orpheus in der Unterwelt‘, in: Lübecker Nachrichten, 16.10.1988 Zschacke, Günter: Großer Erfolg für Mimi, die aus Lübeck stammt, in: Lübecker Nachrichten, 25.03.1990 Zschacke, Günter: Götterfest mit Augenzwinkern, in: Kieler Nachrichten, 2.12.2007

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Musikwissenschaft LJ Müller

Hearing Sexism Gender in the Sound of Popular Music. A Feminist Approach August 2022, 208 p., pb. 25,00 € (DE), 978-3-8376-5851-4 E-Book: PDF: 21,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5851-8

Vera Grund, Nina Noeske (Hg.)

Gender und Neue Musik Von den 1950er Jahren bis in die Gegenwart 2021, 370 S., kart., 21 SW-Abbildungen, 8 Farbabbildungen 40,00 € (DE), 978-3-8376-4739-6 E-Book: PDF: 39,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4739-0

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Die Kunst der Dauer Transformative Erhabenheit in der zeitgenössischen Musik Oktober 2022, 280 S., kart., 21 SW-Abbildungen, 1 Farbabbildung 45,00 € (DE), 978-3-8376-6498-0 E-Book: PDF: 44,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-6498-4

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Musikwissenschaft Alexander Lederer

Die Narrativität der Musik im Film Audiovisuelles Erzählen als performatives Ereignis Dezember 2022, 306 S., kart., 3 SW-Abbildungen 49,00 € (DE), 978-3-8376-6392-1 E-Book: PDF: 48,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-6392-5

Martin Eybl

Sammler*innen Musikalische Öffentlichkeit und ständische Identität, Wien 1740–1810 September 2022, 590 S., kart., 25 Farbabbildungen, 5 SW-Abbildungen 59,00 € (DE), 978-3-8376-6267-2 E-Book: PDF: 58,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-6267-6

Frédéric Döhl

Zwischen Pastiche und Zitat Die Urheberrechtsreform 2021 und ihre Konsequenzen für die künstlerische Kreativität August 2022, 294 S., kart. 46,00 € (DE), 978-3-8376-6248-1 E-Book: PDF: 45,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-6248-5

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