Musikfernsehen im Wandel : MTV im Kontext des digitalen Wandels und jugendkultureller Interessensfelder [1. Aufl. 2019] 978-3-658-27730-7, 978-3-658-27731-4

Die Studie von Jasmin Kulterer über die Entwicklung und den Stellenwert des (ehemaligen) Musiksenders MTV folgt den Prin

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Musikfernsehen im Wandel : MTV im Kontext des digitalen Wandels und jugendkultureller Interessensfelder [1. Aufl. 2019]
 978-3-658-27730-7, 978-3-658-27731-4

Table of contents :
Front Matter ....Pages I-XXII
Einleitung (Jasmin Kulterer)....Pages 1-19
Zum theoretischen Rahmen der Arbeit – ein integrativer Zugang zur Erforschung und Kontextualisierung der Nutzung und Bewertung von MTV im Kontext der Lebenswelt Jugendlicher und junger Erwachsener: Verbindung praxeologischer, entwicklungspsychologischer und transkulturellerPerspektiven (Jasmin Kulterer)....Pages 21-79
Von Video killed the Radio Star zu Internet killed the Video Star? – die Entwicklung des Senders MTV im Kontext vielfältiger Wandlungsprozesse (Jasmin Kulterer)....Pages 81-133
Zur methodischen Anlage der Studie (Jasmin Kulterer)....Pages 135-190
Ergebnisse der Vorstudie: Erkenntnisse über die Nutzung von MTV und relevanter Angebote aus der Fragebogenerhebung in Österreich (Jasmin Kulterer)....Pages 191-230
Ergebnisse der qualitativen Untersuchungsschritte in Österreich und den USA (Jasmin Kulterer)....Pages 231-417
Diskussion und Fazit (Jasmin Kulterer)....Pages 419-437
Back Matter ....Pages 439-460

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Medien · Kultur · Kommunikation

Jasmin Kulterer

Musikfernsehen im Wandel MTV im Kontext des digitalen Wandels und jugendkultureller Interessensfelder

Medien • Kultur • Kommunikation Reihe herausgegeben von Andreas Hepp, Bremen, Deutschland Friedrich Krotz, Bremen, Deutschland Waldemar Vogelgesang, Trier, Deutschland Maren Hartmann, Berlin, Deutschland

Kulturen sind heute nicht mehr jenseits von Medien vorstellbar: Ob wir an unsere eigene Kultur oder ,fremde‘ Kulturen denken, diese sind umfassend mit Prozessen der Medienkommunikation verschränkt. Doch welchem Wandel sind Kulturen damit ausgesetzt? In welcher Beziehung stehen verschiedene Medien wie Film, Fernsehen, das Internet oder die Mobilkommunikation zu unterschiedlichen kulturellen Formen? Wie verändert sich Alltag unter dem Einfluss einer zunehmend globalisierten Medienkommunikation? Welche Medienkompetenzen sind notwendig, um sich in Gesellschaften zurecht zu finden, die von Medien durchdrungen sind? Es sind solche auf medialen und kulturellen Wandel und damit verbundene Herausforderungen und Konflikte bezogene Fragen, mit denen sich die Bände der Reihe „Medien • Kultur • Kommunikation“ auseinandersetzen. Dieses Themenfeld überschreitet dabei die Grenzen verschiedener sozial- und kulturwissenschaftlicher Disziplinen wie der Kommunikations- und Medienwissenschaft, der Soziologie, der Politikwissenschaft, der Anthropologie und der Sprach- und Literaturwissenschaften. Die verschiedenen Bände der Reihe zielen darauf, ausgehend von unterschiedlichen theoretischen und empirischen Zugängen, das komplexe Interdependenzverhältnis von Medien, Kultur und Kommunikation in einer breiten sozialwissenschaftlichen Perspektive zu fassen. Dabei soll die Reihe sowohl aktuelle Forschungen als auch Überblicksdarstellungen in diesem Bereich zugänglich machen.

Weitere Bände in der Reihe http://www.springer.com/series/12694

Jasmin Kulterer

Musikfernsehen im Wandel MTV im Kontext des digitalen Wandels und jugendkultureller Interessensfelder

Jasmin Kulterer Klagenfurt, Österreich Dissertation zur Erlangung des Doktorgrades an der Kultur- und Gesellschaftswissenschaftlichen Fakultät der Paris Lodron Universität Salzburg, Fachbereich Kommunikationswissenschaft, 2017

ISSN 2524-3160 ISSN 2524-3179  (electronic) Medien • Kultur • Kommunikation ISBN 978-3-658-27731-4  (eBook) ISBN 978-3-658-27730-7 https://doi.org/10.1007/978-3-658-27731-4 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen National­ bibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Springer VS © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informa­ tionen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Springer VS ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Abraham-Lincoln-Str. 46, 65189 Wiesbaden, Germany

Für Nicolas

Danksagung Von der ersten Idee eines möglichen Forschungsthemas bis zur Fertigstellung der vorliegenden Arbeit war es ein langer, nicht immer einfacher, aber sehr spannender Weg. Auf diesem Weg haben mich viele Menschen begleitet und unterstützt, ohne sie alle würde es diese Arbeit und auch dieses Buch nicht geben. Ihnen möchte ich im Folgenden meinen tiefempfundenen Dank aussprechen. Zu allererst schulde ich den größten Dank Armin und unseren Kindern Helena Marie und Alexander Iason, was sie mir bedeuten ist eigentlich nicht in Worte zu fassen. Armin, danke dafür, dass du mir nach Helena Maries Geburt immer den Rücken freigehalten hast, damit ich die Arbeit fertigstellen und dass ich sie nach Alexander Iasons Geburt zur Veröffentlichung bringen konnte. Danke für deine Engelsgeduld, die Schulter zum Anlehnen, wenn alles scheinbar zu viel wird und es dann doch wieder irgendwie geht und für deine Unterstützung, ohne dich wäre das alles nicht möglich gewesen! Helena Marie, du führst uns immer wieder vor Augen, was im Leben wirklich zählt und steckst uns immer aufs Neue mit deiner puren Lebensfreude, deiner Neugier und Begeisterungsfähigkeit an – dein kluger Blick auf die Welt ist eine Inspiration Alexander Iason, unser kleiner Sonnenschein, du erfüllst unsere Herzen mit deinem strahlenden Lachen und deinem unerschütterlichen Vertrauen mit unvorstellbarer Liebe. Ihr seid meine sprichwörtlichen Felsen in der Brandung, ich danke euch von ganzem Herzen! Ein besonderer, ebenso von Herzen kommender Dank gilt darüber hinus meiner Familie: Meinen Eltern, die immer an mich glauben und mich in meinen Vorhaben bestärken, besonders auch meinen Großeltern und speziell meiner Großmutter, sie ist eine unglaublich starke Frau und mir in vielem ein großes Vorbild. Neben meinen Eltern gilt mein Dank auch Gabi und Werner für ihre Unterstützung und für zahlreiche Stunden Babysitten. Ich hatte das Privileg, im gesamten Forschungsprozess und während des Erstellens der Arbeit von einer außergewöhnlichen Frau und Wissenschafterin begleitet zu

VIII

Danksagung

werden. Ingrid Paus-Hasebrink gilt für ihre Unterstützung mein großer Dank. Ihre Expertise und ihr kritisches Auge haben mir dabei geholfen, meinen Ideen eine Form zu geben, das Forschungsprojekt zu entwerfen und es umzusetzen. Ich bin dankbar für alles, was ich während meiner Zeit in Salzburg und noch darüber hinaus von ihr lernen konnte. Brigitte Hipfl hat maßgeblich zur Entstehung dieser Dissertation beigetragen, denn sie war es, die mein Interesse an der Forschung als junge Studentin erst geweckt, mir später einen ‚Schubs‘ zur Tür hinaus in die Welt gegeben und mir auch während des Verfassens der Dissertation als Zweitbetreuerin immer mit Rat und Tat zur Seite gestanden hat. Profitieren durfte ich auch von Uwe Hasebrinks Expertise, der immer ein offenes Ohr und einen hilfreichen Rat für mich hatte, wenn ich in bestimmten Belangen der Auswertung nicht mehr weiterwusste – und auch sonst war der Austausch mit ihm in vielen Dissertantenseminaren und darüber hinaus eine wertvolle Hilfe. Der University of Tennessee in Knoxville danke ich dafür, dass sie mir für meine Zeit in den USA einen Arbeitsplatz zur Verfügung gestellt hat. Insbesondere Peter Gross und seine Frau Vera haben mich während meines Aufenthalts in Knoxville herzlich willkommen geheißen und unterstützt. Ohne den Zugang zu Jugendlichen und jungen Erwachsenen wäre diese Arbeit nicht möglich gewesen, allen beteiligten Jugendorganisationen und Jugendzentren in Österreich und den USA möchte ich daher für ihre Unterstützung und die zur Verfügung gestellten Räumlichkeiten für Gruppendiskussionen und Interviews danken. Für das Material zur Befüllung kleiner Geschenktüten für die Teilnehmer und Teilnehmerinnen der Gruppendiskussionen, danke ich der AK4u in Salzburg und der Firma Piplan GesmbH in Kärnten. Mein Dank gilt darüber hinaus dem Landesjugendreferat Kärnten für seine Unterstützung. Ein großer Dank geht auch an das Büro für Internationale Beziehung der Universität Salzburg, für den Beitrag zur Finanzierung des Auslandsaufenthaltes sowie der KGW-Fakultät, die mit einem Förderungsstipendium geholfen hat, einen Teil der Kosten für diese aufwendige Studie aufzubringen. Ganz besonders möchte ich mich aber bei all den jungen Menschen, die an dieser Studie teilgenommen haben, für ihre Offenheit und Bereitschaft zu Diskutieren

Danksagung

IX

und zu Erzählen bedanken. Sie haben nicht davor zurückgescheut, mir tiefe Einblicke in ihr Leben, Handeln und Denken zu gewähren, ohne sie würde es diese Arbeit nicht geben. Cornelia Niesner danke ich für die Unterstützung bei der Transkription, für ihre Freundschaft, für das Mitfiebern und für unsere großartige Zeit in der Gabelsbergerstraße. Sehr wertvoll war über die Jahre der kontinuierliche Austausch mit den Dissertanten und Dissertantinnen in den Seminaren von Ingrid Paus-Hasebrink – insbesondere Cornelia, Christina, Birgit und Philip – sowie den Kollegen und Kolleginnen in der Pfeifergasse – insbesondere Nelly, Dimitri, Stefan und Ricard. Die Gespräche und der Austausch mit ihnen, ihr Feedback und die gegenseitige Motivation dranzubleiben und weiterzumachen sind genauso unbezahlbar wie die gemütlichen Abende gemeinsam beim Grillen am Balkon. In der Reihe Medien – Kultur – Kommunikation erscheinen zu dürfen ist für mich eine große Ehre, diese Möglichkeit verdanke ich dem Dissertations-Förderpreis der Fachgruppe Soziologie der Medienkommunikation der Deutschen Gesellschaft für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft und Springer VS. Für diese Würdigung bedanke ich mich bei den Fachgruppensprecher/innen, insbesondere bei Sigrid Kannengiesser sowie bei den Reihenherausgebern. Durch den Veröffentlichungsprozess begleitet haben mich bei Springer VS Sabine Schöller, Barbara Emig-Roller, Marta Schmidt und Stefanie Eggert.

Klagenfurt, im März 2019 Jasmin Kulterer

Inhaltsverzeichnis 1 1.1

1.2 1.3 1.4

Einleitung............................................................................................ 1 Zur Verwendung der Begriffe Musikfernsehen und Musik(fernseh)sender im Kontext der Untersuchung des Senders MTV und seiner Nutzung .................................................................... 2 Forschungsstand................................................................................... 5 Relevanz des Forschungsthemas, Fragestellung und Zielsetzung der Studie ........................................................................................... 14 Design der Studie und Aufbau der Arbeit .......................................... 16

2

Zum theoretischen Rahmen der Arbeit – ein integrativer Zugang zur Erforschung und Kontextualisierung der Nutzung und Bewertung von MTV im Kontext der Lebenswelt Jugendlicher und junger Erwachsener: Verbindung praxeologischer, entwicklungspsychologischer und transkultureller Perspektiven ..................................................................................... 21

2.1 2.2

Praxeologische Medien- und Kommunikationsforschung ................. 23 Das Konzept der Entwicklungsaufgaben als Schnittstelle zwischen Subjekt und Strukturen und die Rolle der Sozialisation .................... 23

2.2.1

Spannungsfeld Kultur – Individuum – Sozialisation: entwicklungspsychologische Perspektiven als Bereicherung

2.2.2

der Kommunikationswissenschaft ..................................................... 30 Das Entwicklungsaufgabenkonzept im Kontext der

2.2.3

Lebensspanne ..................................................................................... 34 Strukturen – Entwicklungsaufgaben – Lebenswelt – Kapitalien:

2.2.4

eine Integration .................................................................................. 37 Definition und theoretische Konzeption der Lebensphasen „Jugend“ und „frühes Erwachsenenalter“ und damit verbundener

2.2.4.1 2.2.4.2

Entwicklungsaufgaben ....................................................................... 42 „Jugend“ als heterogenes Feld von Anforderungen und Bewältigungsstrategien ...................................................................... 42 Das frühe Erwachsenenalter .............................................................. 51

XII

Inhaltsverzeichnis

2.3

Rolle und Gebrauch von medialen Angeboten (speziell Musikfernsehen und Musik) im Kontext von Sozialisation und Entwicklungsaufgaben ....................................................................... 56

2.3.1

Zum Verhältnis von Medien, Strukturen und Subjekt vor dem Hintergrund des medialen Wandels ..................................... 56

2.3.2

2.4

2.5

Die spezielle Bedeutung audiovisueller und auditiver Medienangebote im Lebensalltag Jugendlicher und junger Erwachsener – zur Relevanz von Medienrepertoires ......................... 63 Theoretische Perspektiven zur Erforschung der Nutzung eines globalen Medienangebots in unterschiedlichen Erhebungskontexten........................................................................... 68 Fazit ................................................................................................... 75

3

Von Video killed the Radio Star zu Internet killed the Video Star? – die Entwicklung des Senders MTV im Kontext vielfältiger Wandlungsprozesse ...................................................... 81

3.1 3.2

Die Anfänge von MTV: Markteintritt, Etablierung und Expansion .......................................................................................... 82 MTV im neuen Millennium: Lifestyle, Unterhaltung und ein bisschen Musik – grundlegende Neuausrichtung angesichts der Entwicklungen in den Bereichen Internet und Neue Medien........... 100

3.2.1 3.2.2

Veränderungen auf Konzernebene ................................................... 100 Verändertes Programm für die jugendliche Zielgruppe vor dem Hintergrund der steigenden Bedeutung von Social Media und Music-/Video-on-Demand-Angeboten ............................................ 102

3.2.3

Vom Fernsehen ins Internet: MTV went digital .............................. 109

3.3

„I am my MTV“: Multiplattformen und User-generated Content als Schlüsselstrategien nach 35 Jahren Sendergeschichte ................ 113

3.3.1 3.3.2

Das Portfolio und die Strategie von MTV in den USA heute .......... 114 Umstrukturierung der Senderportfolios und rückläufige

3.3.3

Lokalisierung im deutschsprachigen Raum ..................................... 118 Rückker ins Free-TV und das Ende von VIVA ............................... 122

Inhaltsverzeichnis

XIII

3.4

Deskriptive Programmuntersuchung – das Fernsehprogramm der im Fokus stehenden Sender zum Zeitpunkt der Erhebung ............... 123

3.4.1

Die deutschsprachigen Sender: MTV Germany, VIVA Germany

3.4.2

und Austria....................................................................................... 124 Die amerikanischen Sender: MTV und VH-1 .................................. 128

3.5

Fazit ................................................................................................. 130

4

Zur methodischen Anlage der Studie ........................................... 135

4.1 4.2

Methodologische Vorüberlegungen ................................................. 136 Qualitative Sozialforschung in unterschiedlichen (nationalen) Erhebungskontexten......................................................................... 137 Erhebungsmethoden: Einordnung in den Methodenkanon, Erstellen der Instrumente und Funktionen der angewandten Methoden im Kontext der Studie ..................................................... 143

4.3

4.3.1 4.3.2

Erhebungsmethode I: der Fragebogen ............................................. 144 Erhebungsmethode II: die Gruppendiskussionen............................. 148

4.3.3 4.4

Erhebungsmethode III: die Einzelinterviews ................................... 154 Samplingverfahren und Ablauf der Erhebung ................................. 159

4.4.1

Feldphase I: Ablauf der Fragebogenerhebung

4.4.2

in Österreich..................................................................................... 162 Feldphase II: Rekrutierung von Teilnehmern und

4.4.3

Teilnehmerinnen für Gruppendiskussionenin Österreich ................ 166 Feldphase III: Rekrutierung für Einzelinterviews in Österreich..................................................................................... 169

4.4.4

Feldphase IV: Samplingstrategie und Erhebung in den USA ...................................................................................... 173

4.4.5

Theoretische Sättigung – oder: Wann hat man genug Daten? ................................................................................... 177

4.5

Datenaufbereitung, Auswertungsmethoden und Vorgehen bei der Ergebnisdarstellung ......................................................................... 178

4.5.1

Aufbereitung und Auswertung der Fragebogendaten ...................... 178

XIV

Inhaltsverzeichnis

4.5.2

Aufbereitung und Auswertung des

4.5.3

Gruppendiskussionsmaterials .......................................................... 179 Aufbereitung und Auswertung des

4.5.4

Einzelinterviewmaterials.................................................................. 181 Die Logik des transkulturellen Ansatzes bei der Auswertung der qualitativen Datenbasis .............................................................. 182

4.6

Reflexion des Erhebungsablaufs sowie der Ergiebigkeit und Reichweite der ausgewählten Methoden .......................................... 183

5

Ergebnisse der Vorstudie: Erkenntnisse über die Nutzung von MTV und relevanter Angebote aus der Fragebogenerhebung in Österreich .............................................. 191

5.1

Mediennutzung der Befragten .......................................................... 192

5.1.1 5.1.2

Häufigkeit der Nutzung einzelner Medien(geräte)........................... 192 Am häufigsten genutzte Fernsehangebote und Sendungsformate ............................................................................. 195

5.2

Nutzung von Musikfernsehangeboten ............................................. 202

5.2.1

Aspekte der Nutzung der Sender MTV, VIVA und gotv ................. 202

5.2.1.1 5.2.1.2 5.2.1.3

Häufigkeit der Nutzung der einzelnen Sender ................................. 202 Nutzung der Sender in Kombination miteinander ........................... 206 Gründe, warum die Sender nicht genutzt werden ............................ 210

5.2.2 5.2.2.1 5.2.2.2 5.2.2.3

Funktionen der Sender und Nutzungsmotive ................................... 213 Motive für die Nutzung von MTV ................................................... 213 Motive für die Nutzung von VIVA .................................................. 216 Motive für die Nutzung von gotv ..................................................... 219

5.2.3

Genannte Shows und Serien ............................................................ 222

5.2.4 5.2.5

Nutzung des Online-Angebots ......................................................... 224 Nutzung anderer Musiksender ......................................................... 227

5.3

Zwischenfazit: erkennbare Tendenzen aus der Fragebogenerhebung ........................................................................ 227

6

Ergebnisse der qualitativen Untersuchungsschritte in Österreich und den USA ............................................................... 231

Inhaltsverzeichnis

XV

6.1

Der gemeinsame Austausch über Musikfernsehen: Ergebnisse der Gruppendiskussionen ................................................................. 231

6.1.1

Zur Zusammensetzung der Gruppendiskussionen – ein Überblick über die Teilnehmer und Teilnehmerinnen und die Gesprächssituation ........................................................................... 232

6.1.2

„Mir fällt als erstes ein Veränderung.“ (Nick, 19 Jahre) – wie Jugendliche und junge Erwachsene in den Gruppendiskussionen über ehemalige und aktuelle Musikfernsehangebote sprechen ........ 239

6.1.2.1 6.1.2.2 6.1.2.3 6.1.3

Reflexion der Begrifflichkeiten und der Veränderungen auf Programmebene durch die Befragten ............................................... 240 Verhältnis von Musikfernsehen und Online-Angeboten .................. 250 Die Bedeutung von Musikvideos für die Diskussionsteilnehmer und -teilnehmerinnen .................................. 252 „Ich hab so das Gefühl, aus dem Alter bin ich so ein bisschen raus.“ (Doris, 21 Jahre) – die Nutzung von Musikfernsehen vor dem Hintergrund von Entwicklungsaufgaben und lebensweltlichen Kontexten ......................................................................................... 257

6.1.3.1 6.1.3.2 6.1.3.3

6.1.4

Altersspezifische Nutzung der Angebote durch Jugendliche und junge Erwachsene ..................................................................... 258 Geschlechtsspezifische Nutzung der Angebote durch Jugendliche und junge Erwachsene ................................................. 268 Zur Rolle der formalen Bildung und sozialen Position: Identitätsarbeit und Distinktion über Mediennutzung und Musikgeschmack ............................................................................. 274 „Ich find schon, dass es auf jeden Fall interessant gewesen wäre, wenn man auch den regionalen Bezug gehabt hätte.“ (Babsi, 22 Jahre) – Transkulturalität und die Nutzung und Beurteilung von MTV ...................................................................... 281

6.1.5 6.2

Zwischenfazit ................................................................................... 288 Synthese der Gruppendiskussionen und Einzelinterviews – gemeinsame Muster und individuelle Ausgestaltung: die Nutzertypen ................................................................................ 292

XVI

Inhaltsverzeichnis

6.2.1

Identifikation und Bildung der Nutzertypen .................................... 292

6.2.2 6.2.2.1 6.2.2.2 6.2.2.3 6.2.2.4

Beschreibung der Typen und ihrer Charakteristiken........................ 297 Typ 1 – die Enthusiasten .................................................................. 299 Typ 2 – die Opportunisten ............................................................... 303 Typ 3 – die um Distinktion Bemühten ............................................. 306 Typ 4 – die Nostalgiker ................................................................... 308

6.2.3 6.3

Zwischenfazit ................................................................................... 310 Der Blick auf das Individuelle der Nutzung von MTV und Musikfernsehangeboten im Kontext der Lebenswelt und der Medienrepertoires der Befragten – ausgewählte Fallbeispiele......... 313

6.3.1

Fallbeispiele des Typs 1 ................................................................... 315

6.3.1.1

Karola – Unsicherheiten eines Teenagers: Auseinandersetzung mit dem eigenen Aussehen und dem Thema Freundschaft mittels Show- und Serienangeboten ............................................................ 315 Fallbeispiel 2: Dejan – Streben nach Coolness und der Abgrenzung vom Kindlichen ........................................................... 325 Fallbeispiel 3: Latifa – Musikfernsehangebote als Erweiterung eines eingeschränkten Erfahrungs- und Handlungsraums ............... 335 Fallbeispiel 4: Dana – Auseinandersetzung mit Weiblichkeit und romantischen Idealen als treibende Kraft der Musikfernsehnutzung....................................................................... 346

6.3.1.2 6.3.1.3 6.3.1.4

6.3.2 6.3.2.1

6.3.2.2

Fallbeispiele des Typs 2 ................................................................... 356 Fallbeispiel 5: Xenia – Auseinandersetzung mit heteronormativen Geschlechterdiskursen als Schnittstelle zu Musikfernsehangeboten .............................................................. 356 Fallbeispiel 6: Madison – vom Programm losgelöste Nutzung von Inhalten zur Unterhaltung ........................................... 368

6.3.3

Fallbeispiele des Typs 3 ................................................................... 378

6.3.3.1

Fallbeispiel 7 – Jeremy: Distinktion vor dem Hintergrund subjektiv wahrgenommener Anforderungen an die soziale Position ............................................................................................ 378 Fallbeispiel 8 – Mo: Musiker und Freigeist mit Fokus auf Individualität .................................................................................... 383

6.3.3.2

Inhaltsverzeichnis

XVII

6.3.3.3

Fallbeispiel 9: Nick – Außenseiterposition als Ursache für die Ablehnung des Mainstreams ...................................................... 391

6.3.4 6.3.4.1

Fallbeispiel des Typs 4 .................................................................... 397 Fallbeispiel 10: Corinna – persönliche Dynamik und Veränderung führen weg von den früher gerne rezipierten Musikfernsehangeboten ................................................................... 397

6.3.5

Zwischenfazit ................................................................................... 404

6.4

Kulturelle Partikularitäten und medienkulturelle Verdichtungen der Musikfernsehnutzung................................................................. 406

6.4.1 6.4.2

MTV als transkultureller Raum und Zeichenvorrat ......................... 406 Zur Rolle von lokalen und globalen Referenzpunkten und

6.4.3

Alltagserfahrungen........................................................................... 410 Geteilte Lesarten von Reality-TV .................................................... 414

6.4.4

Zwischenfazit ................................................................................... 416

7 Diskussion und Fazit ...................................................................... 419 Bibliographie .................................................................................................... 439

Zusatzmaterialien sind auf http://extras.springer.com verfügbar.

Abbildungsverzeichnis Abbildung 1: Anlage der Studie. Quelle: eigene Darstellung. .................... 144 Abbildung 2: Gliederung und Themenblöcke des Gruppendiskussionsleitfadens. Quelle: eigene Darstellung. ...................................................................................... 153 Abbildung 3: Themenblöcke und Beispielfragen aus dem Leitfaden für Jugendliche (unter 18 Jahre). Quelle: eigene Darstellung. ............... 158 Abbildung 4: Beruf und Ausbildung nach Geschlecht (n = 443). Quelle: eigene Berechnung. .......................................................................... 165 Abbildung 5: Ablauf des Rekrutierungsverfahrens in Österreich. Quelle: eigene Darstellung. .......................................................................... 171 Abbildung 6: Ablauf des Rekrutierungsverfahrens in den USA. Quelle: eigene Darstellung. .......................................................................... 175 Abbildung 7: Nutzungshäufigkeit einzelner Medien(geräte). Quelle: eigene Berechnung. .......................................................................... 193 Abbildung 8: Häufig genutzte Angebote im Fernsehen, Mehrfachantwort (n = 427). Quelle: eigene Berechnung. ............................................ 196 Abbildung 9: Nutzungshäufigkeit der Sender MTV, VIVA und gotv in Prozent auf einer Skala von 1 (= Nie) bis 6 (= Täglich) (n = 443). Quelle: eigene Berechnung. ............................................................. 203 Abbildung 10: Häufigkeit der Nutzung von MTV nach Alter in Prozent auf einer Skala von 1 (= Nie) bis 6 (= Häufig) (n = 443, davon 14–18 Jahre = 83, 19–23 Jahre = 224, 24–29 Jahre = 136). Quelle: eigene Berechnung. ............................................................. 204 Abbildung 11: Häufigkeit der Nutzung von VIVA nach Alter in Prozent (n = 443, davon 14–18 Jahre = 83, 19–23 Jahre = 224, 24–29 Jahre = 136). Quelle: eigene Berechnung. ............................ 205 Abbildung 12: Häufigkeit der Nutzung von gotv nach Alter in Prozent (n = 443, davon 14–18 Jahre = 83, 19–23 Jahre = 224, 24–29 Jahre = 136). Quelle: eigene Berechnung. ............................ 206 Abbildung 13: Nutzungsmotive MTV, Häufigkeit in Prozent (n schwankt zwischen 152 und 156). Quelle: eigene Berechnung. ...................... 214

XX

Abbildungsverzeichnis

Abbildung 14: Nutzungsmotive MTV nach Altersgruppen, Vergleich der Mittelwerte (n für die einzelnen Antworten schwankt zwischen 152 bis 156, davon 14–18 Jahre: zwischen 32 und 33, 19–24 Jahre: 73 bis 75 und 25–29 Jahre: 47 bis 49). 0 = gar nicht, 6 = sehr häufig. Quelle: eigene Berechnung. ................................... 215 Abbildung 15: Nutzungsmotive VIVA, Häufigkeit in Prozent (n schwankt zwischen 216 und 225). Quelle: eigene Berechnung. ...................... 217 Abbildung 16: Nutzungsmotive VIVA nach Altersgruppen, Vergleich der Mittelwerte (n für die einzelnen Antworten schwankt zwischen 216 und 225, davon 14–18 Jahre: 50–56, 19–24 Jahre: 109–115 und 25–29 Jahre: 55–57), 0 = gar nicht, 6 = sehr häufig. Quelle: eigene Berechnung. ............................................................. 218 Abbildung 17: Nutzungsmotive gotv, Häufigkeit in Prozent (n schwankt zwischen 214 und 229). Quelle: eigene Berechnung. ...................... 220 Abbildung 18: Nutzungsmotive gotv nach Altersgruppen, Vergleich der Mittelwerte (n für die einzelnen Antworten schwankt zwischen 214 und 229, davon 14–18 Jahre: 29–31, 19–24 Jahre: 118–129, 25–29 Jahre: 67–69), 0 = gar nicht, 6 = sehr häufig. Quelle: eigene Berechnung. ............................................................. 221 Abbildung 19: Nutzung des Online-Angebots der Sender nach Alter (n = 443, davon 14–18 Jahre = 83, 19–23 Jahre = 224, 24–29 Jahre = 136). Quelle: eigene Berechnung. ............................ 225 Abbildung 20: Merkmale und Dimensionen der Typen. Quelle: eigene Darstellung. ...................................................................................... 294 Abbildung 21: Typen und Rezeptionsweisen. Quelle: eigene Darstellung. ...................................................................................... 296

Tabellenverzeichnis Tabelle 1:

Tabelle 2:

Tabelle 3:

Tabelle 4:

Tabelle 5: Tabelle 6: Tabelle 7: Tabelle 8: Tabelle 9:

Tabelle 10:

Tabelle 11:

Liste der Entertainment-Shows und Serien auf MTV Germany, VIVA Germany und VIVA Austria mit Anzahl der Ausstrahlungen (KW 18/2013). Quelle: eigene Auszählung. .......................................................................... 126 Liste der Musikstrecken und musikbezogenen Sendungen auf MTV Germany, VIVA Germany und VIVA Austria mit Anzahl der Ausstrahlungen (KW 18/2013). Quelle: eigene Auszählung. ......................... 128 Liste der Entertainment-Shows und Serien auf MTV US und VH-1 mit Anzahl der Ausstrahlungen (KW 32/2013). Quelle: eigene Auszählung. ......................... 130 Liste der Entertainment-Shows und Serien auf MTV US und VH-1 mit Anzahl der Ausstrahlungen (KW 32/2013). Quelle: eigene Auszählung. .................................. 164 Anzahl und Zusammensetzung der Diskussionsgruppen, chronologisch nummeriert. Quelle: eigene Darstellung. ...... 167 Samplezusammensetzung der Interviews in Österreich. Quelle: eigene Darstellung.. ................................................. 172 SamplezusammenSamplezusammensetzung USA – Gruppendiskussion. Quelle: eigene Darstellung. .................. 175 Samplezusammensetzung USA – Gruppendiskussion und Einzelinterviews. Quelle: eigene Darstellung. ...................... 176 Häufig im Fernsehen genutzte Angebote nach Geschlecht (Spaltenprozente; Prozent der Fälle; n = 427, davon männlich = 134, weiblich = 293). Quelle: eigene Berechnung. .............................................................. 198 Häufig im Fernsehen genutzte Angebote (Spaltenprozente, in Prozent der Fälle; n = 427, davon 14–18 Jahre = 81, 19–23 Jahre = 220, 24–29 Jahre = 126). Quelle: eigene Berechnung. .......................................................................... 200 Kombinationen genutzter Sender in Prozent (n = 443). Quelle: eigene Berechnung. .................................................. 208

XXII Tabelle 12:

Tabelle 13:

Tabelle 14:

Tabelle 15: Tabelle 16: Tabelle 17: Tabelle 18:

Tabellenverzeichnis Senderkombination nach Alter und Geschlecht (Spaltenprozent; n = 43, davon 14–18 Jahre = 83, 19–23 Jahre = 224, 24–29 Jahre = 136; männlich = 141, weiblich = 302). Quelle: eigene Berechnung. ....................... 209 Gründe, warum die Sender MTV, VIVA und/oder gotv nicht genutzt werden in Prozent. Quelle: eigene Berechnung. .......................................................................... 212 Ranking genannter Shows und Serien für MTV (n = 167 Nennungen von 94 Befragten) und VIVA (n = 274 Nennungen von 138 Befragte). Quelle: eigene Berechnung. .............................................................. 223 Zuordnung der Befragten zu den identifizierten Nutzertypen. Quelle: eigene Darstellung. ............................. 298 Übersicht der von Typ 1 genutzten Angebote. ..................... 302 Übersicht der von Typ 2 genutzten Angebote. ..................... 305 Übersicht über die ausgewählten Fallbeispiele. .................... 314

1 Einleitung Einst galt der Musiksender MTV als Ikone der Populärkultur und als Inbegriff der Jugendkultur der 80er- und 90er Jahre des vergangenen Jahrhunderts. Die verschiedenen Logos, der Moonman, die Awards, legendäre Moderationen bzw. Moderatoren und Moderatorinnen sowie die Shows erlangten allesamt Kultstatus. MTV verkörperte die Musik und das Lebensgefühl einer Jugendgeneration weit über den amerikanischen Kontext hinaus. MTV hat der Popkultur seinen Stempel aufgedrückt: Pop-Karrieren wurden auf MTV geschmiedet und zahlreichen Künstlern und Künstlerinnen wurde eine Plattform geboten, um sich und ihre Musik mittels kurzer Videoclips der Öffentlichkeit zu präsentieren. Der hohe Stellenwert des Senders MTV für die Jugend- und Popkultur, die zentrale Rolle, die er sowohl in der Musikindustrie, in der Fernsehlandschaft und ebenso auf gesellschaftspolitischer und kultureller Ebene einnahm, weckte auch das Interesse der Wissenschaft. Mehr als 35 Jahre nach seinem Sendestart blickt MTV auf eine turbulente Geschichte zurück, vieles hat sich in den vergangenen Jahrzehnten verändert. Es ist nicht zu leugnen, dass MTV und damit auch die Forschung zu MTV in dieser Zeit in mancher Hinsicht an Popularität – vor allem aber an Präsenz – verloren haben. Ebenso wenig wie der Sendestart von MTV 1981 das Ende des Radios bedeutet – der Video Star hat den Radio Star entgegen allen Befürchtungen nicht umgebracht –, markiert die Erfolgsgeschichte von Plattformen wie YouTube nach der Jahrtausendwende auch nicht das Ende von MTV; vielmehr ist sie als Ausdruck und Antrieb für viel größere Wandlungsprozesse zu sehen, die auch MTV betreffen. Im Angesicht stetigen technologischen, ökonomischen und gesellschaftlichen Wandels hat MTV in den letzten drei Jahrzehnten seine eigene Wandlungsfähigkeit immer wieder unter Beweis gestellt, Zeichen der Zeit gedeutet und sich veränderten Bedingungen angepasst – und Veränderungen sogar des Öfteren selbst angestoßen. Die Tatsache, dass es MTV als Teil eines weitverzweigten Networks in zahlreichen Ländern der Welt noch gibt, ist ein erstes Indiz dafür, dass der Sender noch ein Publikum und damit aus Sicht des dahinterstehenden Medienkonzerns eine Daseinsberechtigung hat. Wie sieht es aber auf der Seite des (potenziellen) Publikums aus? Wer nutzt MTV heute noch? Wie wird der Sender genutzt?

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 J. Kulterer, Musikfernsehen im Wandel, Medien • Kultur • Kommunikation, https://doi.org/10.1007/978-3-658-27731-4_1

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Wie fügt er sich in ein vielfältiges Medienrepertoire ein? Diese Fragen stellen sich imKontext der Nutzung des Senders und seiner konkreten Bedeutung im Lebensalltag von Individuen. Um die Frage nach der Nutzung der Angebote, deren Bedeutung und ihres (sich mitunter verändernden) Stellenwerts für Mediennutzer und -nutzerinnen zu klären, muss der Blick auf diese selbst gerichtet werden. Die vorliegende Arbeit hat es sich zum Ziel gesetzt, den subjektiven Bedeutungszuschreibungen aufseiten der Nutzer und Nutzerinnen MTVs nachzuspüren und wissenschaftlich aufzuarbeiten. Die vorligende Studie knüpft damit dort an, wo die medien- und kommunikationswissenschaftliche Forschung vor einiger Zeit das Interesse verloren hat, wie im Lauf der Arbeit gezeigt wird. Die Arbeit erörtert in diesem Zusammenhang die Ursachen und Folgen technologisch-medialer Wandlungsprozesse an einem konkreten Beispiel, einer Ikone der Popkultur, und lenkt die Aufmerksamkeit dorthin, wo es gerade aufgrund zahlreicher Veränderungen Interessantes zu entdecken gibt. Vor allen Dingen möchte die Arbeit den Nutzern und Nutzerinnen eine Stimme geben und ihre Lesarten populärkultureller Angebote sichtbar machen. Im Folgenden werden die zentralen Begriffe, die für die Auseinandersetzung mit MTV und Musikfernsehen im aktuellen Kontext notwendig sind, bestimmt, das Forschungsfeld zu MTV und Musikfernsehen wird abgesteckt und die forschungsleitenden Fragen sowie der Aufbau der Arbeit werden dargelegt. 1.1

Zur Verwendung der Begriffe Musikfernsehen und Musik(fernseh)sender im Kontext der Untersuchung des Senders MTV und seiner Nutzung

Vor dem Hintergrund der vielen Veränderungen, die MTV in den vergangenen Jahrzehnten durchlaufen hat, steht der Begriff Musik(fernseh)sender als Bezeichnung des Senders auf dem Prüfstand. Es stellt sich die Frage, ob es sich dabei noch um eine adäquate Beschreibung des Spartenkanals und seiner Ableger handelt, zumal MTV diese Bezeichnung 2011 selbst aus seinem Logo entfernte (siehe Kapitel 3). Im ersten Moment scheint die Antwort auf diese Frage somit sehr einfach zu sein. Dennoch kommen die Begriffe Musikfernsehen und Musik(fernseh)sender in der vorliegenden Arbeit allen Imageveränderungen sowie Veränderungen

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auf programminhaltlicher und Firmenebene von MTV zur Beschreibung der für die Studie relevanten Angebote zum Tragen. Es gilt zu klären, was die Begriffe noch in der Lage sind zu leisten. Musik(fernseh)sender lassen sich ursprünglich als Distributionskanäle mit einer spezifischen Programmausrichtung definieren (vgl. Schmidt/Neumann-Braun/Autenrieth 2009a: 9 ff.). Konkret definieren sie die Besonderheit von Musikfernsehen wie folgt: „Ähnlich wie im Falle anderer Spartenkanäle (wie etwa Sport- oder Nachrichtenkanäle) gruppieren sie Inhalte und Programmgestaltung um ein zentrales Thema, hier: die Pop(uläre)musik resp. ihre (damals neue) visuelle Erscheinungsweise: das Musikvideo.“ (Schmidt/Neumann-Braun/Autenrieth 2009a: 11) MTV (Akronym von MusicTeleVision) stellte Anfang der 1980er Jahre den ersten Spartenkanal dar, der sich der Distribution von Musikvideos verschrieb und durch sein damals innovatives Agieren zu einer Ikone der Pop(ulär)kultur aufstieg (vgl. Schmidt/Neumann-Braun/Autenrieth 2009a: 11; siehe auch Kapitel 3 in dieser Arbeit). Seine Entwicklung und seine Nutzung in den USA und in Österreich stehen im Zentrum der vorliegenden Arbeit. Das Augenmerk liegt in weiterer Folge aus einer Vielzahl von Gründen, die im Lauf der Arbeit erörtert werden, auch auf der Nutzung der Fernsehkanäle VIVA (Deutschland und Österreich) und VH-1 (USA), bei ihnen handelt es sich um die wichtigsten Ableger bzw. Schwestersender von MTV. Alle diese Sender haben sich von dem ursprünglichen Charakter des Musikfernsehens, wie er in der Definition von Schmidt beschrieben wird, zum Teil weit wegentwickelt. Sie weisen untereinander zahlreiche Unterschiede, aber auch Gemeinsamkeiten auf. Wenn auch die Programmausrichtung und Programminhalte der Sender durchaus unterschiedliche Schwerpunkte haben, verbindet sie dennoch eine langjährige, gemeinsame Geschichte, die im Musikfernsehen ihren Anfang nimmt – alle genannten Sender gehören demselben Fernsehnetwork – dem früheren MTV Network und heutigen Viacom Media Network – an. Gemeinsam ist den Sendern, dass auf allen – zum Zeitpunkt der Erhebung – im Vergleich zu anderen Fernsehsendern noch ‚zu viel‘ Musik läuft, um ihnen den Status des Musikfernsehens gänzlich abzusprechen (siehe Kapitel 3): Sie orientieren sich hinsichtlich gezeigter Shows und Serien an einer sehr ähnlichen Logik, die vor allem

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auf die Ausstrahlung sehr spezieller Real-Life-Angebote abzielt, und konzentrieren sich auf die Distribution populärkultureller Angebote, die teils eng in Verbindung zu den Spielarten populärer Musik stehen, vor allem aber zu jenen, die Musik ‚machen‘, den Künstlern und Künstlerinnen. Aus Sicht der Nutzer und Nutzerinnen selbst zeigt sich eine Ambivalenz (siehe dazu ausführlich Kapitel 6): Obwohl von vielen das Überhandnehmen von Shows und Serien gegenüber den Musikvideos thematisiert und deshalb diesen Sendern der Charakter des Musikfernsehens abgesprochen wird, ist die Assoziation zwischen dem Begriff Musikfernsehen und den genannten Sendern bei den meisten Befragten noch sehr stark ausgeprägt; daher wird Musikfernsehen von vielen Befragten synonym für MTV/VIVA/VH-1 verwendet. In den Augen der Befragten stellen diese populärkulturellen Angebote eine Art Gattung dar, die – unabhängig von der subjektiven Bewertung – für eine ganz besondere Form und Ästhetik der Gestaltung und Distribution von LifestyleInhalten, Popmusik und populären Shows und Serien steht (siehe dazu Kapitel 6). Vor diesem Hintergrund ist es schwierig, einen alternativen Begriff zu finden, der alle Sender zufriedenstellend zusammenfasst, der gleichzeitig nicht irreführend oder zu umständlich wirkt und der dennoch als Abgrenzung zu anderen Fernsehangeboten funktioniert. Die Begriffe Musikfernsehen und Musik(fernseh)sender als Sammelbegriffe für die relevanten Sender, die im Fokus der Untersuchung stehen, stellen damit den kleinsten gemeinsamen Nenner dar und werden deshalb im Lauf der Arbeit als Überbegriffe herangezogen, wenn ein einzelnes Aufzählen aller Sender – auch aus stilistischen Gründen – nicht sinnvoll erscheint und auf die Sender als untersuchte Gruppe verwiesen wird. Die Musikfernsehsender, auf die in der Arbeit Bezug genommen wird, sind dezidiert jene Sender in den USA und im deutschsprachigen Raum, die dem früheren MTV Network und heutigen Viacom Media Network angehören, die die längste Geschichte im Network verbindet bzw. die darin eine zentrale Rolle gespielt haben und die unter der Vielzahl an anderen Nischenangeboten des Networks heute noch zu den wichtigsten gezählt werden können. Die Sender sind daher in der vorliegenden Arbeit von anderen Angeboten wie dem Deutschen Musik Fernsehen 1, Deluxe Music oder dem österreichischen Sender gotv abzugrenzen, die der Definition

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Der Sender wurde 2008 gegründet und ist auf die Verbreitung von Volks- und Schlagermusik spezialisiert (vgl. KEK Online 2017: o. S.).

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von Musikfernsehen heute mehr entsprechen als MTV, VIVA und VH-1, aber aufgrund ihrer Geschichte, Entwicklung und Ausrichtung weniger Relevanz für diese Studie haben. Gotv stellt für Österreich mittlerweile ein wichtiges Angebot dar und kann somit im Kontext der Erforschung von Musikfernsehen nicht gänzlich vernachlässigt werden. Zu gotv wird in der vorliegenden Arbeit, wo sich dies anbietet, ein Bezug hergestellt; außerdem wird sein Stellenwert in Relation zu den Angeboten des Networks diskutiert, er steht aber nicht dezidiert im Fokus der Studie. 1.2

Forschungsstand

Als MTV 1981 auf dem Bildschirm erschien und in den darauffolgenden Jahren – zuerst in den USA und in weiterer Folge international zu einer Ikone der Pop- und Jugendkultur heranwuchs, die einem bis dahin wenig populären audiovisuellen Produkt – dem Musikvideo – eine Plattform bot, dauerte es nicht lange, bis auch die Wissenschaft Interesse an dem Thema zeigte. MTV stellte ein neues, revolutionäres Fernsehangebot dar, das sich radikal von anderen Sendern der 1980er Jahre unterschied, nicht nur durch die Programminhalte, sondern auch durch die Programmstruktur. Der Sender und das spätere Network verfolgten zudem für die damalige Zeit unorthodoxe Geschäfts- und Werbepraktiken und fokussierten eine Zielgruppe, die bis zum damaligen Zeitpunkt von den Werbetreibenden tendenziell vernachlässigt worden war (siehe dazu ausführlicher Kapitel 3). MTV prägte damit nicht nur die „Sehgewohnheiten einer ganzen Generation“, wie es Neumann-Braun und Mikos (2006: 13) nennen, sondern beeinflusste auch die Musikindustrie nachhaltig. Diese Entwicklungen warfen eine Vielzahl an Fragen von gesellschaftspolitischer, ökonomischer, aber auch medienpolitischer Relevanz auf, denen man sich vor allem in den 1990er Jahren in unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen intensiv widmete. MTV im weitesten Sinn ist daher, das zeigt die Auseinandersetzung mit dem Forschungsstand, ein viel beforschtes Thema. Vorwiegend im englischsprachigen, aber auch im deutschsprachigen Raum existieren zahlreiche Arbeiten, die sich dem Phänomen bzw. besonderen Facetten des Phänomens aus unterschiedlichen Perspektiven widmen. In nunmehr 35 Jahren Sendergeschichte ist somit ein beachtlicher Kanon an Arbeiten zu MTV, seiner Geschichte, seinen spezifischen Inhalten und seinen Rezipienten und

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Rezipientinnen entstanden, der von kulturwissenschaftlichen über soziologische, kommunikationswissenschaftliche, medienwissenschaftliche bis hin zu medienökonomischen und sozialpsychologischen Fragestellungen reicht2. Eine Auswahl relevanter Arbeiten wird hier mit dem Ziel vorgestellt, die Frage zu klären, wo sich die vorliegende Studie im Forschungskanon einordnet und welchen Forschungslücken sie sich widmet. Für die vorliegende Arbeit und insbesondere für die nachfolgende Darstellung des Forschungsstandes wurde bei der Recherche nach folgenden Kriterien vorgegangen: Es wurde speziell nach einschlägiger Literatur gesucht, die sich mit MTV und Musikfernsehen bzw. mit den für diese Arbeit relevanten Themenbereichen (1) Entwicklung und Geschichte des Senders MTV und des MTV bzw. Viacom (International) Media Networks, (2) Jugendkultur und Musikfernsehnutzung, (3) Beziehung von Musikfernsehnutzung und der Entwicklungen rund um das Internet beschäftigt; einbezogen wurden sowohl Arbeiten mit empirischer als auch mit nicht-empirischer Grundlage bzw. theoretische Auseinandersetzungen. Der Fokus lag dabei in erster Linie auf Arbeiten aus dem deutschsprachigen und US-amerikanischen/angelsächsischen Raum und speziell auf den Arbeiten nach der Jahrtausendwende. Ältere Arbeiten werden hier nur sehr kurz angerissen, da sie zum einen auf vielfache Weise in neueren Arbeiten diskutiert werden und ihnen als Basis dienen, zum anderen für die Frage nach der aktuellen Bedeutung von MTV weniger relevant sind. Die Forschung in den ersten Jahren nach dem Markteintritt des Senders MTV war gekennzeichnet von der Auseinandersetzung mit dessen zentralem Inhalt: dem Musikvideoclip. Wichtige zu nennende Arbeiten in diesem Bereich stammen im englischsprachigen Raum beispielsweise von Frith/Goodwin/Grossberg (1993), Frith (1993) und Goodwin (1993a), im deutschsprachigen Raum von Altrogge/Amann (1991), Quandt (1997) und Bechdolf (1999), um nur einige wichtige zu nennen (ein breiterer Überblick zu diesem Thema findet sich bei NeumannBraun/Mikos 2006). Wer sich mit Musikvideos beschäftigte, für den führte aber lange Zeit kaum ein Weg an der Beschäftigung mit MTV vorbei. Die Geschichte

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Umfangreiche Literatursichtungen zum Thema Musikfernsehen liegen beispielsweise von NeumannBraun/Barth/Schmidt (1997) und von Neumann-Braun/Mikos (2006) vor; siehe dazu auch Schuegraf (2008).

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des Musikvideos und die Geschichte von MTV – der zuerst einzigen Plattform zur Rezeption von Clips und später eine der wenigen, aber bei weitem die wichtigste – sind in den frühen Jahren fast untrennbar miteinander verwoben; deshalb lassen sich in zahlreichen Arbeiten zu Musikvideos Bezüge zur Geschichte und Entwicklung des Senders bzw. zu dessen historischer, gesellschaftspolitischer und kultureller Relevanz finden.3 Man befasste sich aber auch grundlegend mit dem eigentlichen Aufstieg des Senders, konkret mit den Geschäftsstrategien, der Firmenpolitik oder mit den breiteren kulturellen Implikationen des Projekts MTV und speziell seiner Bedeutung für die (internationale) Jugendkultur. Nennenswert sind hier die Arbeiten von Kaplan (1987)4 und Goodwin (1993b). Pionierarbeit leisteten in diesem Bereich McGrath mit MTV The Making of a Revolution (1996), einer Chronologie des Aufstiegs des Senders, und insbesondere Banks mit Monopoly Television (1997), der sich als Erster intensiv mit den Anfängen des Musikvideogeschäfts, mit dem Aufstieg MTVs vom Spartenkanal zur transnationalen Popkulturikone und den dahinterstehenden Strategien des Senders, seiner Geschäftspolitik sowie mit der Rolle von MTV als Gatekeeper in der Musik(video)industrie befasste. Die umfangreichsten Arbeiten zu MTV bzw. Musikfernsehen im deutschsprachigen Raum entstanden Ende der 1990er Jahre rund um Neumann-Braun (1999) und Schmidt (1999). Beide Autoren prägen die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit MTV durch ihre Beiträge bis heute. Der Sammelband VIVA MTV! (NeumannBraun 1999) stellt die erste und bis heute wichtigste Publikation im deutschsprachigen Raum dar, die sich dem Themenkomplex aus einer breiten Perspektive annähert. Die Beiträge setzen sich mit der Entstehung und (gesellschaftlichen wie ökonomischen und politischen) Bedeutung des Musikfernsehens (Schmidt 1999; Hachmeister/Lingemann 1999), mit den Inhalten von Clips (z. B. Altrogge 1999;

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Wie beispielsweise bei Quandt (1997), der sich mit der Rolle von Musikvideos im Alltag Jugendlicher befasst, aber einen nicht unbedeutenden Teil der Arbeit den ökonomischen Rahmenbedingungen und – darin eingelagert – MTV widmet. 4 Das Buch wurde allerdings von Denisoff als „sloppy“ und „murky“ kritisiert, da Kaplan sich oft auf fragwürdig recherchierte Sekundärquellen beziehe und zahlreiche historische Falschinformationen liefere (vgl. Denisoff 1988: 63).

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Barth/Neumann-Braun 1999; Doderer/Neumann-Braun 1999) sowie mit dem Publikum und der Nutzung und Rezeption von Musikfernsehen (Schmidbauer/Löhr 1999) auseinander. Kurp/Hauschild/Wiese (2002) widmen sich nach der Jahrtausendwende der Untersuchung der politischen, soziologischen und medienökonomischen Dimensionen des Musikfernsehens in Deutschland. Als erste beziehen sie dabei die damals neue Entwicklung von Raubkopien im Internet und deren Auswirkung auf die Musikindustrie in die Analyse ein und beschäftigen sich sowohl mit dem Nutzungsaspekt als auch mit Marktmechanismen und Aspekten der Kommerzialisierung von Popmusik und deren Implikationen für das Musikfernsehen. Von Neumann-Braun und Mikos (2006) stammt eine umfangreiche Analyse der Forschungsliteratur zum Themenkomplex Videoclips und Musikfernsehen vor, die im Auftrag der Landesanstalt für Medien erstellt wurde. Der Fokus dieser Literaturanalyse liegt in erster Linie auf den Inhalten und Präsentationsformen von Musikvideos (mit speziellem Blick auf Gewaltdarstellungen und Geschlechterrollen). Die Autoren widmen sich aber auch der Frage nach den Veränderungen von Musiksendern auf Programmebene und berücksichtigen Arbeiten, die sich mit der Nutzung von Musiksendern und den Nutzungskontexten (inklusive der lebensweltlichen Kontexte jugendlicher Nutzer und Nutzerinnen) befassen; einbezogen wurden Arbeiten aus dem deutschsprachigen sowie aus dem angelsächsischen Raum. Die Aufarbeitung zeigt deutlich, dass es zum Zeitpunkt der Erhebung zwar eine beachtliche Anzahl von Untersuchungen gab, die sich diesen Themen auf unterschiedliche Weise widmeten. Allerdings konstatieren die Autoren, dass die Arbeiten bereits damals größtenteils veraltet waren und es kaum neuere Forschung gab. Zudem stellen sie fest, dass die meisten Untersuchungen aus dem angelsächsischen Raum stammen, deren Ergebnisse häufig auch für den deutschsprachigen Raum als gültig erachtet und unreflektiert aufgegriffen werden, obwohl die Angebote und deren Nutzungskontexte nicht identisch sind (vgl. Neumann-Braun/Mikos 2006: 69). Speziell in Bezug auf die Forschung zu Nutzung und Rezeption stellen die Autoren fest, dass es kaum neuere Arbeiten jenseits der Mitte der 1990er Jahre gibt. Das von Neumann-Braun, Barth und Schmidt (1997) formulierte Desiderat, viel mehr noch die „‚natürliche‘ Rezeptionssituation von Jugendlichen und jungen Erwachsenen [zu] erfassen“, war in den Augen der Autoren auch 2006 unerfüllt, hatte gleichzeitig aber aufgrund des Wandels, den Musikfernsehen weiterhin erlebte, noch mehr an Relevanz gewonnen (ebd.: 87).

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Auf Basis ihrer intensiven Auseinandersetzung mit der bestehenden Forschung formulieren die Autoren einige Forschungsfragen, die ihrer Ansicht nach zukünftig eingehender Erforschung bedürfen; die für die Einordnung der vorliegenden Arbeit werden hier kurz vorgestellt: „(1.) Wie hat sich die Programmstruktur des Musikfernsehens in Deutschland in den letzten Jahren gewandelt? […] (9.) Wie werden Musikvideos und andere Formate in der Lebenswelt der Jugendlichen angeeignet? (10.) Welche Rolle spielen dabei die Peer Groups und lassen sich in diesen markante geschlechtsspezifische Unterschiede erkennen? (11.) Welche Bedeutung hat die Unterscheidung von Fiktion und Realität, Künstlichkeit und Authentizität für das Selbstverständnis der Jugendlichen und ihre Bewertung und Aneignung von Gewalt, Gender und Sexualität? (12.) Wie unterscheiden sich lokale Aneignungen der globalen Bilderwelt von Musik und Star-Welt? (13.) Gibt es Unterschiede zwischen der spielerischen und der gleichsam ernsten Aneignung von Musikvideos und anderen Sendeformaten? (14.) Welche Bedeutung haben Musikvideos für Jugendliche vor dem Hintergrund der veränderten Programmstrukturen: Wie wichtig sind Clips, wie wichtig Reality-Soaps? (15.) Welches generelle Verständnis von Videoclips und Musikfernsehen haben Jugendliche heute?“ (Neumann-Braun/Mikos 2006: 133 f.) Betrachtet man den Forschungsstand nach der Veröffentlichung dieser Literaturanalyse lässt sich festhalten, dass immer noch zu wenig in diesem Bereich geforscht wird, um die postulierten Lücken zu schließen. MTV und das Musikfernsehen verändern sich kontinuierlich weiter, die Aufmerksamkeit der wissenschaftlichen Community liegt aber mittlerweile augenscheinlich in anderen Bereichen. Die Forschung zu MTV in den vergangenen zehn Jahren ist somit überschaubar. Christina Schoch beschäftigt sich in ihrer 2006 veröffentlichten Dissertationsschrift mit der „Konstruktion des ‚Anderen‘“ in Musikvideos und befasst sich im Zuge einer in der Systemtheorie zu verortenden Analyse unter anderem mit den ökonomischen Rahmenbedingungen der Musikvideoproduktion und mit MTV als zentralem Verbreitungssystem populärer Musik(videos). Die Veränderungen der Programmstruktur werden in diesen Ausführungen nur kurz angerissen; die Rolle von MTV als Gatekeeper und der Einfluss des Senders auf die Produktion und

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bildästhetische Gestaltung von Musikvideos mit dem Ziel der größtmöglichen Attraktivität für die MTV-Programmverantwortlichen und das MTV-Publikum werden zwar ausführlich diskutiert, allerdings werden die Auswirkungen der Entwicklungen im Online-Bereich auf diese Vormachtstellung und Gatekeeper-Funktion sowie auf die Musikindustrie noch nicht berücksichtigt, da sie zum Erhebungszeitpunkt noch nicht in vollem Ausmaß spürbar waren. Der Fokus der Arbeit liegt auf der quantitativen Inhaltsanalyse 402 ausgewählter Musikvideos (produziert zwischen 1979 und 2003) und der nachfolgenden qualitativen Analyse der zuvor gebildeten Cluster mit dem Ziel, Erklärungsmuster für Darstellungspraxis und vorherrschende Diskurse von Ethnizität und Gender in den Musikvideos aufzudecken (vgl. Schoch 2006: 155). In erster Linie findet die Autorin in ihrer Analyse stereotypisierende und hierarchisierende Darstellungen (vgl. ebd.: 230), deren Persistenz sie zentral auf den Einfluss von Gatekeepern wie MTV zurückführt, die im Zuge ihrer im Selektionsprozess angewandten Kriterien dazu beitragen, in ihrer Rolle als „diskurskonstituierende, -bedingende und regulierende Systeme“ bestimmte Repräsentationsmuster zu reproduzieren und zu verfestigen. Für den deutschsprachigen Raum kann die Arbeit von Martina Schuegraf (2008) als eine der wenigen eingestuft werden, die sich intensiv und vor allem aus Nutzerperspektive mit der Beziehung von Musikfernsehen und Internet im konkreten Nutzungskontext befasst. In ihrer Analyse rückt die Autorin mithilfe von qualitativen Interviews mit jungen Leuten zwischen 16 und 24 Jahren und dem gemeinsamen Nachzeichnen ihres typischen „Surfweges“ auf den Webseiten der Musiksender „die medienkonvergenten Interaktionen der Jugendlichen und jungen Erwachsenen“ in den Mittelpunkt (Schuegraf 2008: 16). Die Autorin nähert sich dem Forschungsthema mit dem Fokus auf das performative und interaktive Handeln an: „Die Mediennutzung als performatives Handeln bzw. Interagieren zu begreifen, ermöglicht darüber hinaus allerdings, die Konstitutionen von Wirklichkeit der Mediennutzenden und die daran gebundene Subjektkonstitution ins Blickfeld zu rücken. Dies eröffnet eine Perspektive auf die Vielfältigkeit und Komplexität der Wirkungszusammenhänge in der Mediennutzung und die damit einhergehenden subversiven, affirmativen und dekonstruktiven Ausformungen.“ (Schuegraf 2008: 301 f.; Hervorh. i. O.) Die Autorin betont damit zum einen die aktive und mitunter eigensinnige Komponente der individuellen Mediennutzung und Sinngebung, zum anderen weist sie auf den Einfluss von Medien im Subjektivierungsprozess hin, der nicht als deterministisch verstanden wird, sondern in gewisser

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Weise als Angebot von Optionen, die über die dargebotenen Möglichkeiten zur „Ermächtigung“ führen können (vgl. ebd.: 302). Die Autorin betont die Bedeutung des Lebensalltags und der sozialen Kontexte für die Mediennutzung (vgl. ebd.: 16), vernachlässigt aber tendenziell in ihrer Analyse jugendkulturelle Kontexte und die komplexeren lebensweltlichen Hintergründe zugunsten der Interpretation der konkreten Praktiken und subjektiven Erfahrungen der Befragten. Die lebensweltlichen Kontexte, in denen sich der Subjektivierungsprozess, aber auch die (konvergente) Mediennutzung vollziehen, werden in diesem Zugang somit eher am Rande mitgedacht. Für den deutschsprachigen Raum relevant ist nach der Jahrtausendwende vor allem das Nachfolgewerk zu Neumann-Brauns VIVA MTV! (1999): VIVA MTV! reloaded von Schmidt/Neumann-Braun/Autenrieth (2009a), welches an den Erkenntnissen der bereits diskutierten Literaturanalyse (Neumann-Braun/Mikos 2006) anknüpft und sich den Veränderungen der Sender MTV und VIVA bzw. der Musikfernsehlandschaft im deutschsprachigen Raum im crossmedialen Kontext widmet. In diesem Band werden vor allem die programminhaltlichen (zentral der Aufstieg der Real-Life-Formate), aber auch die ökonomischen und firmenpolitischen Entwicklungen sowie die Angebotsstruktur der Sender dokumentiert und vor dem Hintergrund der Entwicklungen in der Fernsehlandschaft und der zunehmenden Bedeutung des Internets diskutiert. Im selben Jahr erscheint ein Beitrag von Schmidt/Neumann-Braun/Autenrieth (2009b) im Handbuch „Musik und Medien“ (Schramm 2009). In diesem Beitrag bieten die Autoren neben einer „historisch informierte[n] Begriffsbestimmung der Phänomene ‚Musikfernsehen‘ und ‚Musikvideo‘“ (Schmidt/ Neumann-Braun/Autenrieth 2009b: 209) einen Überblick über den Werdegang des Senders und die Verschränkungen von Produktion, Distribution und Produkten sowie Eckdaten zur Nutzung der Vollprogramme vor dem Hintergrund sich verändernder (kultureller wie technologischer) Rahmenbedingungen. Im angelsächsischen Kontext wird man auf der Suche nach fundierter Forschung zur Bedeutung von MTV nach der Jahrtausendwende hingegen kaum fündig. Immer wieder tauchen Bücher auf, die sich der historischen Aufarbeitung der Sendergeschichte widmen, wie Prato (2011) mit MTV Ruled the World: The Early Years of Music Video, der sich aus der Perspektive eines Musikjournalisten mit den Anfängen des Musikfernsehens befasst, die Aufarbeitung ist allerdings nicht wissenschaftlich fundiert. Auch Tannenbaum und Marks (2012) verschreiben sich

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der Dokumentation der Geschichte des Senders: Sie tun dies in der Neuauflage ähnlich wie in der 1994 erschienenen Erstpublikation (siehe Marks/Tannenbaum 1994) wiederum auf Basis nicht wissenschaftlich fundiert durchgeführter/gesammelter Interviews mit Zeitzeugen (Künstler und Künstlerinnen, Verantwortliche etc.). Damit legen sie eine ‚oral history‘ und – wie der Titel des Buchs nahelegt – , eine „unzensierte“ Sammlung von persönlichen Anekdoten vor, die besondere Aspekte der Geschichte aus Perspektive der jeweiligen Personen veranschaulichen. Aktuelle Forschung sowohl im deutschsprachigen als auch im angelsächsischen Raum bezieht sich häufig konkret auf spezifische Inhalte von MTV und deren Analyse bzw. deren Rezeption. Speziell die Reality-Shows des Senders werden dabei in den Fokus gerückt wie bei Guglielmo (2013), die dem Themenkomplex MTV und Teenagerschwangerschaft einen Sammelband widmet. Die Beiträge darin befassen sich in erster Linie aus (post)feministischer Perspektive mit den Inhalten und den Diskursen (z. B. über Mütter- und Väterrollen) in diversen Shows; der thematische Schwerpunkt liegt auf ‚Teen Pregnancy‘ (z. B. Teen Mom, 16 and Pregnant). Andere Untersuchungen wie von Bond/Drogos (2014) zielen auf den Nachweis von Wirkungszusammenhängen zwischen sexualisierten Darstellungen in RealityShows wie Jersey Shore und dem Sexualverhalten bzw. den sexuellen Einstellungen von Heranwachsenden ab. Zuletzt soll auf den 2017 neu erschienenen Band „Medien und Musik“ von Schramm/Spangardt/Ruth (2017) hingewiesen werden. Die Autoren befassen sich in einem Kapitel mit der Entwicklung „Von MTV zu YouTube“, konzentrieren sich dabei aber stärker auf die Geschichte von Musikvideos und ihre sich verändernde Bedeutung und Nutzung; die eng damit verknüpfte Geschichte des Musikfernsehens wird in diesem Kontext ebenfalls beleuchtet. Die Autoren setzen sich mit der Verlagerung der Rezeption von Musikvideos ins Internet auseinander und diskutieren zumindest in Ansätzen MTVs Reaktionen und angepasste Strategien. Allerdings muss darauf hingewiesen werden, dass im gesamten Text nicht auf Quellen Bezug genommen wird; der Beitrag sowie die gesamte Publikation präsentieren sich somit eher als eine subjektiv wiedergegebene Perspektive der Autoren auf „die Geschichte der medialen Musik“ (Schramm/Spangardt/Ruth 2017: 5), Aussagen und Feststellungen sind somit nicht oder nur schwer nachprüfbar. Eines stellen aber auch diese Autoren heraus: Beide Entwicklungen – sowohl die

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von Musikvideos als auch die des Musikfernsehens – sind eng miteinander verwoben, daher werden sie auch in der vorliegenden Arbeit zusammengedacht. Aus der Auseinandersetzung mit dem Forschungsstand wird deutlich, dass das Interesse an der Erforschung des populärkulturellen Phänomens MTV während der 90er Jahre des letzten Jahrhunderts am größten war. Nach der Jahrtausendwende nahm das Interesse ab, die Veränderungen von MTV werden zwar vielfach festgehalten und vor allem im öffentlichen Diskurs von den älteren, ehemaligen Nutzern und Nutzerinnen nicht erfreut zur Kenntnis genommen, der Gegenstand wird aber nicht mehr so ausführlich beforscht wie in den Anfängen, als das Thema einen großen Neuigkeitswert besaß. Wie die Sichtung des Forschungsstandes zeigt, geht die (intensive) Beschäftigung mit den neueren Entwicklungen und der Bedeutung des (ehemaligen) Musikfernsehens für die heutige Jugendkultur in der aktuellen Forschung tendenziell unter. Aufgrund seiner Geschichte und speziellen Rolle im Kontext von Globalisierung und Internationalisierung medialer Angebote und der Entstehung und Verbreitung transnationalen Fernsehens wird auf MTV zwar des Öfteren in entsprechenden einschlägigen Werken exemplarisch Bezug genommen (z. B. bei Straubhaar 2007); das gilt auch im Zusammenhang mit der Erforschung und Diskussion der Entwicklungen im Bereich von Internet / Social Media und Musik(video)nutzung (beispielsweise bei Schorb 2012; Mjøs 2012). Das Phänomen MTV wurde aber längere Zeit nicht mehr aus einer ganzheitlichen Perspektive und speziell mit Blick auf die Bedeutung der Angebote – sowohl des Fernsehkanals an sich als auch der Online-Angebote – für Jugendliche und junge Erwachsene beleuchtet. Darüber hinaus gibt es kaum Studien zur Nutzung der global verbreiteten Inhalte in unterschiedlichen lokalen Kontexten. Da MTV über Jahrzehnte prägend für die Pop(ulär)kultur und ganze Jugendgenerationen war, erscheint es trotz oder gerade wegen vieler Veränderungen – zu erwähnen wären hier speziell die Entfernung des Schriftzugs ‚Music Television‘ aus dem Logo oder der Eintritt des deutschen Ablegers ins Pay-TV-Segment (beides 2011) – relevant, sich den Fragen zu widmen, was diese Veränderungen für die Nutzer und Nutzerinnen tatsächlich bedeuten; in der Folge können ihre Einschätzungen im Kontext übergeordneter technischer und sozialer Wandlungsprozesse eingeordnet werden und es lässt sich ermitteln, für wen MTV und seine Angebote heute noch in welcher Form Relevanz haben und welche Bedeutung ihnen von Jugendlichen und jungen Erwachsenen zugewiesen wird.

14 1.3

1 Einleitung Relevanz des Forschungsthemas, Fragestellung und Zielsetzung der Studie

In den letzten Jahren hat MTV viele Veränderungen vor allem auf inhaltlicher Ebene durchlaufen, die eine neue und aktuelle Auseinandersetzung mit dem Gegenstand lohnenswert erscheinen lassen. MTV ist auch heute noch Gesprächsthema, wenn auch oft nur im Zusammenhang damit, dass die früheren Nutzer und Nutzerinnen und ehemaligen Fans oder auch Medienkritiker und -kritikerinnen das mittlerweile stark veränderte Programm und die Abwendung des Senders vom reinen Musikcontent beklagen oder dass über die Verlagerung des Geschäfts von MTV in den Pay-TV-Sektor gesprochen wird. Vielfach wird im öffentlichen Diskurs Musikfernsehen für zumindest überholt, vielleicht aber sogar tot erklärt (vgl. Schramm/Spangardt/Ruth 2017: 78) – wer soll auch in Zeiten ständiger Verfügbarkeit von Musik(videos) im Internet noch Verwendung für MTV haben? Die heutigen Generationen, so die Annahme, sind schließlich daran gewöhnt, alles zu jeder Zeit und überall über das Internet aufrufen zu können. In Anbetracht der gestiegenen Bedeutung des Internets zur Nutzung und Rezeption von Musik(videos) wird MTV somit heute vielfach als obsolet und nicht mehr relevant erachtet; das scheint auch für Forschung zu MTV zu gelten. Viele verkennen dabei die Tatsache, dass MTV heute weit mehr als nur ein Fernsehsender ist, die Tätigkeitsbereiche sind weit verzweigt und reichen mittlerweile weit in die Welt von Social Media und mobilen Nutzungsmöglichkeiten hinein, zudem sind diverse von MTV vergebene Awards beispielsweise die MTV Video Music Awards nach wie vor begehrt in der Popmusikwelt und mitunter karriereweisend (siehe dazu Kapitel 3). Die häufig anzutreffende Einschätzung, MTV sei heute bedeutungslos für die Jugend- und Popmusikkultur und in Anbetracht der neuen Programminhalte in keiner Weise mehr Musikfernsehen, stützt sich zwar auf wichtige und diskussionswürdige Punkte, greift aber letztlich zu kurz, denn MTV existiert nach wie vor, wird genutzt und erfüllt für seine Nutzer und Nutzerinnen unterschiedliche Funktionen, wie die vorliegende Studie zeigt. Der oft angenommene lineare Kausalzusammenhang zwischen dem Aufstieg von Plattformen wie YouTube und dem (oft als solchen unterstellten) Verfall von MTV ist dabei nur auf den ersten Blick in seiner Einfachheit dazu geeignet, die komplexen Bedingungsgeflechte, in die eine Vielzahl von Akteuren eingebunden ist, zu erklären. Wichtige Akteure sind in diesem Kontext neben jenen auf Produktions- und Distributionsebene vor allem die Nutzer und Nutzerinnen selbst.

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Je mehr MTV die Programminhalte (auch der anderen zum Network gehörenden Sender) in den letzten Jahren dem klassischen Fernsehen anpasste, desto wichtiger wurde es, gleichzeitig eine neue Nische zu finden, um den ehemaligen Musikfernsehsender, der sich nun (nicht ausschließlich, aber zum Großteil) auf die Ausstrahlung von Shows und Serien verlagert hat, von anderen Fernsehangeboten abzuheben. Die Entscheidung fiel bei den Programmverantwortlichen zugunsten günstiger Eigenproduktionen im Bereich Real Life und Scripted Reality mit jugendspezifischen Themen und einer besonderen ‚Ästhetik‘, die sich mittlerweile als (vielfach negativ konnotiertes) neues Markenzeichen des Senders MTV etabliert haben. Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen und der zuvor skizzierten Forschungslücken zielt die vorliegende Studie auf die Beantwortung der folgenden Forschungsfrage: Welche Bedeutung weisen Jugendliche und junge Erwachsene zwischen 14 und 29 Jahren in Österreich und den USA MTV und seinen Inhalten vor dem Hintergrund ihres lebensweltlichen Kontexts und der für sie jeweils relevanten Entwicklungsaufgaben zu? An diese Forschungsfrage sind Unterforschungsfragen geknüpft, die sich auf unterschiedliche relevante Bereiche im Kontext der Auseinandersetzung mit dem Themenfeld beziehen und zur Präzisierung beitragen: x

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Welche Stellung nehmen MTV und seine wichtigsten Schwestersender sowie deren konkrete Angebote im Medienrepertoire von Jugendlichen und jungen Erwachsenen in Österreich und den USA ein? Welche unterschiedlichen Funktionen kommen aus Sicht der Nutzer und Nutzerinnen den Sendern und ihren verschiedenen Inhalten, wie (Reality)Shows, Serien und musikbezogenen Inhalten, zu? Welche Rolle spielen lebensweltliche Faktoren und – darin eingelagert – die für eine Person relevanten Entwicklungsaufgaben im Prozess der Bedeutungszuschreibung durch die Jugendlichen und jungen Erwachsenen? Welche Rolle spielt vor dem Hintergrund der globalen Verbreitung der Inhalte der regionale lebensweltliche Kontext der Jugendlichen und

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1 Einleitung jungen Erwachsenen – zum einen im ursprünglichen Entstehungskontext der Sender, den USA, zum anderen in einem Kontext wie Österreich, in den die Inhalte importiert werden?

Das Ziel der vorliegenden Arbeit ist es, konkrete Nutzungspraktiken zu identifizieren und vor dem Hintergrund übergeordneter Wandlungsprozesse wie dem technologischen und medialen Wandel, die MTV in entscheidender Weise betreffen, einzuordnen. Der Fokus liegt auf dem Mediengebrauch der Jugendlichen. In ihren Mediengebrauch sind die Nutzung und Bewertung konkreter Angebote eingelagert und in seinem Kontext verleihen die Jugendlichen und jungen Erwachsenen MTV und seinen Inhalten – auch – im Rahmen der Auseinandersetzung mit Entwicklungsaufgaben alltagspraktischen Sinn. Die Studie soll in diesem Zusammenhang Erkenntnisse darüber liefern, welche Aspekte der Angebote angesichts unterschiedlicher lebensweltlicher Kontexte für die Bedeutungszuschreibung und Bewertung durch Jugendliche und junge Erwachsene – im lokalen wie auch im transkulturellen Kontext – relevant sind. 1.4

Design der Studie und Aufbau der Arbeit

Um die formulierten Ziele zu erreichen und die Forschungsfrage zu beantworten, bedient sich die Studie eines integrativen Zugangs der Erforschung von audiovisuellen- und online-Kommunikationsphänomenen, der sich sowohl auf der Ebene der theoretischen Verortung als auch auf der Ebene der empirischen Untersuchung in Form eines Mehrmethodendesigns niederschlägt. Die Studie geht davon aus, dass die Nutzung und Bewertung von MTV und von Musikfernsehen nicht nur von persönlichen Faktoren, sondern auch von strukturellen Bedingungen des alltäglichen Lebens in unterschiedlichen Erfahrungswelten mitbestimmt wird. Zur Beantwortung der sozialwissenschaftlich verorteten Fragestellung wird ein theoretisches Fundament vorgeschlagen, das in Bourdieus Theorie der Praxis seinen Ausgang nimmt und in weiterer Folge auf die Integration von Konzepten aus der Kommunikationswissenschaft, der Entwicklungspsychologie, den Cultural Studies sowie eines transkulturellen Zugangs abzielt (Kapitel 2). Die Nutzung des Angebots von MTV und seiner Schwestersender VH-1 und VIVA, die gemeinsam als Inbegriff des Musikfernsehens galten und sich vor allem seit der Jahrtausendwende stark verändert haben, kann nicht losgelöst vom Kontext der Entstehung der Sender verstanden werden. Über den Wandel des Musikfernsehens und der

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Sender als seinen bedeutendsten Vertretern, gibt es viele Spekulationen und Meinungen; hinreichend dokumentiert wurden die jüngsten Entwicklungen bisher aber nicht. Um ein besseres Verständnis für die aktuelle Ausrichtung und Beschaffenheit von MTV und seinen Schwestersendern zu erlangen sowie die Nutzung und Bedeutungszuschreibung durch Jugendliche und junge Erwachsene kontextualisieren zu können, wird die Geschichte des Senders MTV und seiner Schwestersender aufgearbeitet (Kapitel 3). Dabei wird der Blick auf die Verschränkungen unterschiedlicher, sich gegenseitig bedingender Wandlungsprozesse gerichtet, die die Entwicklung von MTV mitgeprägt haben. In diesem Zusammenhang werden auch die internationale Verbreitung der Angebote und die Rolle von Globalisierungs- und Lokalisierungsstrategien auf der Seite der Produktion und Distribution von Inhalten mit beleuchtet und diskutiert. Zudem wird die weite Verzweigung der vielen Tätigkeitsbereiche von MTV verdeutlicht und argumentiert, warum MTV in seiner Rolle für die Populärkultur nach wie vor Relevanz hat. Die gesamte Studie ist in einer Forschungsperspektive verortet, die die Verbindung unterschiedlicher Methoden zur Erforschung eines komplexen Phänomens als notwendig erachtet. Diese Perspektive ermöglicht es, einen vielfältigen Blick auf den Forschungsgegenstand zu werfen und simplifizierende Erklärungen zu vermeiden. Um der Frage nach der Bedeutung des Senders MTV und seiner Schwestersender für Jugendliche und junge Erwachsene in zwei verschiedenen Erhebungskontexten – zum einen in den USA, die den ursprünglichen Entstehungskontext sowohl des Senders MTV als auch der meisten darüber distribuierten Inhalte darstellen, zum anderen in Österreich als ein Land, in das die Inhalte des Senders exportiert werden – nachgehen zu können, wird in der Studie ein Methodenmix aus quantitativen und qualitativen Methoden eingesetzt. Die Verbindung qualitativer Methoden, nämlich Gruppendiskussionen und Einzelinterviews, mit einer quantitativen Vorstudie in Form eines Online-Fragebogens ermöglicht den Zugang zu unterschiedlichen Erkenntnisebenen. Die Auswahl der Erhebungsmethoden und das genaue Vorgehen bei der Erstellung des Instrumentariums sowie die Auswertungsmethode werden ausführlich diskutiert (Kapitel 4). Anschließend (Kapitel 5) werden die Ergebnisse der quantitativen Vorstudie vorgestellt. Sie ermöglichen den Einstieg in die Beantwortung der Frage nach der konkreten Nutzung der Sender MTV und VIVA durch Jugendliche und junge Erwachsene in Österreich, liefern also einen Überblick über die Nutzungshäufigkeit und die Rolle von Faktoren wie Alter und Geschlecht im Zusammenhang mit der

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Nutzungshäufigkeit und den Nutzungsmotiven der Befragten. Darüber hinaus lässt die Auswertung der Vorstudie erste Erkenntnisse über die Funktionen zu, die die Sender maßgeblich für ihre Nutzer und Nutzerinnen erfüllen. Ausgehend von der qualitativen Datenbasis wird anschließend (Kapitel 6) rekonstruiert, welche Bedeutung den Sendern und ihren zentralen Angeboten in den durchgeführten Gruppendiskussionen im Zuge des diskursiven Austauschs von Jugendlichen und jungen Erwachsenen in Österreich und den USA Bedeutung zugeschrieben wird. Auf Basis einer Synthese der Ergebnisse der Gruppendiskussionen und Einzelinterviews wird schließlich eine Typologie von Nutzern und Nutzerinnen vorgestellt, die eine Verbindung schafft zwischen den Aspekten der Nutzung – im weitesten Sinn – und der Bewertung von MTV und seinen Schwestersendern durch die Jugendlichen und ihren markanten persönlichen Merkmalen sowie den strukturellen Bedingungen der Nutzung. Als strukturelle Bedingungen sind dabei sowohl die konkreten lebensweltlichen Hintergründe der Jugendlichen und jungen Erwachsenen als auch die ihnen zugänglichen Angebote gemeint. Im nächsten Schritt werden ausgewählte Fallbeispiele im Detail behandelt, um die Sender als Teil des individuellen Medienrepertoires und des individuellen Medienhandelns vor dem Hintergrund der lebensweltlichen Bedingungen der Befragten zu diskutieren. Dabei wird gezeigt, wie Jugendliche und junge Erwachsene die Angebote auf unterschiedliche Weise als symbolischen Zeichenvorrat wahrnehmen, welchen sie heranziehen, um für sie wichtige Entwicklungsaufgaben zu bearbeiten und ihre soziale Position zu verhandeln. Schließlich erfolgt ein Blick auf die kulturellen Partikularitäten der Nutzung und die Bedeutung von MTV für die Befragten sowie auf übergreifende Muster, die sich jenseits des lokalen Nutzungskontexts identifizieren lassen. In diesem Teil der Arbeit wird somit neben der Nutzung der Angebote – verstanden als jegliche Kontakte mit den medialen Inhalten MTVs – vor allem der auf MTV gerichtete Mediengebrauch der Jugendlichen und

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jungen Erwachsenen – verstanden als Teil des sozialen Handelns, als spezifische, subjektive Weise des Umgangs mit den Angeboten5 – in den Blick genommen. Abschließend werden die in der Arbeit gewonnenen Erkenntnisse diskutiert, kritisch eingeordnet, in Bezug auf ihre Leistungen, aber auch Einschränkungen reflektiert und ein Fazit gezogen (Kapitel 7). Darin werden auch Konsequenzen für weitere Forschungen benannt.

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Die Verwendung der Begriffe Mediennutzung und Mediengebrauch orientiert sich in der vorliegenden Arbeit an folgender Definition: „Dabei dient der Begriff Mediennutzung alsOberbegriff (englisch media use); jeglicher Kontakt mit Medien wird darunter erfasst. Die Begriffe Medienhandeln sowie Mediengebrauch (media usage) sind als Synonyme zu verstehen; sie beschreiben wie Individuen oder Gruppen auf spezifische Weise mit Medien umgehen und wie sie Medien als Teil sozialen Handelns einsetzen, um ihren Alltag zu leben. Der Begriff der kommunikativen oder medialen Praktiken (communicative or media practices) weist auf die jeweiligen Ausprägungen des medialen Handelns hin und erfasst die spezifischen Umgangsweisen, die zusammengenommen den Mediengebrauch bzw. das Medienhandeln kennzeichnen.“ (Paus-Hasebrink 2017: 17)

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Zum theoretischen Rahmen der Arbeit – ein integrativer Zugang zur Erforschung und Kontextualisierung der Nutzung und Bewertung von MTV im Kontext der Lebenswelt Jugendlicher und junger Erwachsener: Verbindung praxeologischer, entwicklungspsychologischer und transkulturellerPerspektiven

2 Zum theoretischen Rahmen der Arbeit Die vorliegende Arbeit beleuchtet die Nutzung und den Gebrauch von MTV und verwandten Angeboten durch Jugendliche und junge Erwachsene in unterschiedlichen Lebenskontexten und deckt die Relevanz von Musikfernsehen in der heutigen Jugendkultur auf. Dies erfolgt über eine Annäherung aus unterschiedlichen Richtungen: Einerseits wird der Entstehungskontext von MTV und seinen Inhalten im Sinne einer Auseinandersetzung mit den relevanten Momenten des technologischen, medialen sowie gesellschaftlichen Wandels nachgezeichnet, andererseits wird die konkrete Einordnung und Bedeutungszuweisung durch Jugendliche und junge Erwachsene, also ihre subjektive Perspektive im Kontext ihrer jeweiligen Lebensbedingungen, ihrer sozialen und kulturellen Einbettung, analysiert. Als Ausgangspunkt dafür dient ein Programm integrativer Audiovisueller und Online-Kommunikationsforschung, wie es von Paus-Hasebrink (2013) skizziert wird (vgl. dazu auch Trültzsch/Wijnen/Dürager 2013). Die Grundpfeiler bzw. zentralen Anliegen dieses Programms bestehen in der Forderung, einem integrativen Forschungsgedanken zu folgen, der sich in der Auseinandersetzung mit und Analyse von kommunikationswissenschaftlichen Fragestellungen auf unterschiedlichen Ebenen umsetzen lässt: in der Integration auf Theorieebene, im Zusammendenken von Makro-, Meso- und Mikroperspektive, in der Berücksichtigung von Produktions-, Produkt-/Angebots- und Rezeptionsebene audiovisueller und online-Produkte sowie nicht zuletzt auf Methodenebene im Sinne einer Integration qualitativer und quantitativer Methoden bzw. unterschiedlicher qualitativer Methoden oder unterschiedlicher quantitativer Methoden miteinander. Dieser integrative Gedanke ermöglicht es, den Anforderungen, die sich durch den technologischen wie auch gesellschaftlichen Wandel an die Kommunikationswissenschaft (aber auch andere, verwandte Disziplinen) in der Forschung stellen, gerecht zu werden und © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 J. Kulterer, Musikfernsehen im Wandel, Medien • Kultur • Kommunikation, https://doi.org/10.1007/978-3-658-27731-4_2

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2 Zum theoretischen Rahmen der Arbeit

durch die Anwendung einer multidimensionalen Perspektive einen Erkenntnisgewinn zu ermöglichen, denn bislang muss eher eine eindimensionale Betrachtungsweise konstatiert werden: „Notwendig erscheint mehr denn je eine interdisziplinär und integrativ angelegte Mehr-Ebenen-Forschung, um Prozesse sowohl auf der Ebene der Produktion und des Produkts als auch der Nutzung und der Rezeption in ihren von konvergenten und crossmedialen Veränderungen geprägten Berührungspunkten und Schnittstellen erfassen und analysieren zu können.“ (Paus-Hasebrink 2013: 61) In welcher Verbindung das Subjekt zu den Strukturen steht, in die es eingebettet ist, und wie sich die Rezeption medialer Inhalte in diesem Kontext vollzieht, stellt ein immer wichtigeres Thema in der kommunikationswissenschaftlichen Forschung dar. Dies führt zu einer traditionsreichen epistemologischen Kernfrage, die die Sozialwissenschaften und andere Disziplinen spaltet – jener nach dem Verhältnis und der Integration von Makro-, Meso- und Mikro-Ebene, der sich Paus-Hasebrink in ihren Arbeiten eingehend widmet (siehe dazu beispielsweise Paus-Hasebrink 2013: 87–91). Dieser Grundfrage nach dem Verhältnis vom Subjekt und Struktur und einer möglichen Antwort auf diese Dialektik wird im Folgenden über die auf Bourdieu zurückgehende praxeologische Perspektive nachgegangen. Anschließend daran wird das entwicklungspsychologische Konzept der Entwicklungsaufgaben als Bereicherung für eine kommunikationswissenschaftliche Forschung vorgeschlagen, die sich dem Verhältnis von Subjekt (also konkret den Nutzern und Nutzerinnen) und Strukturen sowie der Integration von Makro- und Mikro-Perspektive annähert. Abschließend wird für den Aspekt der ländervergleichenden Anlage der Studie der Zugang über das Konzept der transkulturellen Kommunikation als Weg vorgeschlagen, um sich in Zeiten globalisierter Medienflüsse mit der Rezeption medialer Angebote in unterschiedlichen Kontexten adäquat auseinandersetzen zu können. Im Rahmen der Frage nach dem Kulturverständnis und der Rolle des Subjekts in der Mediennutzung erfolgt ein Rückgriff auf Ansätze aus den Cultural Studies. Über die Integration dieser, sich auf unterschiedliche Ebenen beziehenden, theoretischen Bausteine wird das Fundament der Studie gelegt, auf dem das methodische Design und die Interpretation der gesammelten Daten aufbauen.

2 Zum theoretischen Rahmen der Arbeit 2.1

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Praxeologische Medien- und Kommunikationsforschung

Die praxeologische Perspektive wurde für die Kommunikationswissenschaft unter anderem durch Weiß (2000) und durch Paus-Hasebrink (2013; siehe auch PausHasebrink/Kulterer 2014; Paus-Hasebrink 2017) fruchtbar gemacht. Die nachfolgenden Ausführungen nehmen dort ihren Ausgang, gehen jedoch zuerst zu Bourdieu zurück und zielen darauf ab, seine Vorstellung der Integration von subjektivistischen und objektivistischen Positionen, von Phänomenologie und Strukturalismus sowie von Makro- und Mikroperspektive mit ihren Implikationen für die vorliegende Studie zu durchleuchten und mit den für sie weiteren relevanten Ansätzen und theoretischen Konzepten wie Entwicklungsaufgaben und Transkulturalität weiter zu denken. Die Spaltung in objektivistische und subjektivistische Positionen ist eine der umkämpftesten in den Sozialwissenschaften. Bourdieu weist in seiner Arbeit auf die „verderbliche“ Spaltung der Sozialwissenschaften in diese beiden Lager hin (vgl. Schwingel 1995: 41) und eröffnet seine Kritik der theoretischen Vernunft mit folgender Feststellung: „Von allen Gegensätzen, die die Sozialwissenschaften künstlich spalten, ist der grundlegendste und verderblichste der zwischen Subjektivismus und Objektivismus.“ (Bourdieu 1993: 49). Bourdieus Arbeiten zielen darauf ab, diesen Antagonismus zu überwinden und das, ohne dabei die Grundannahmen und Errungenschaften beider Erkenntnisweisen gänzlich zu verwerfen (vgl. ebd.). Vielmehr plädiert er dafür, beide Erkenntniszugänge in der praxeologischen Position zu integrieren. Er fügt damit den beiden klassischen Erkenntnisweisen eine dritte hinzu. Die beiden Grundpositionen, die subjektivistische und objektivistische, lassen sich wie folgt im Kern umreißen: Der Subjektivismus fokussiert in seinem Erkenntnisinteresse ausschließlich darauf, subjektive Gegebenheiten zu erfassen, stellt also das Subjekt und seine Praktiken und Intentionen in den Mittelpunkt der Forschung und sucht Zugang zu diesen praktischen Erfahrungen anhand der Analyse der Primärerfahrungen sozialer Akteure und Akteurinnen (vgl. Schwingel 1995: 41); Bourdieu bezeichnet diese Position auch als die phänomenologische und nennt als Vertreter dieses Zugangs die interaktionistische sowie die ethnomethodologische Schule (vgl. Bourdieu 2009: 147).

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2 Zum theoretischen Rahmen der Arbeit

Die Phänomenologie, die wörtlich als ‚Lehre von den Erscheinungen‘ zu verstehen ist, widmet sich allem, was einer wissenschaftlich oder auch alltäglich gearteten Erkenntnis direkt zugänglich ist, also den Primärerfahrungen von sozialen Akteuren und Akteurinnen (vgl. Schwingel 1995: 45). Dahinter steht die Grundannahme, dass eine diesem Paradigma verhaftete Wissenschaft (beispielsweise die Soziologie) nur die Erfahrungen der Akteure und Akteurinnen explizit zu registrieren und zu systematisieren brauche, um zur erwünschten Erkenntnis zu gelangen. Dabei bleibt man jedoch einer oberflächlichen Reproduktion von Alltagserfahrungen verschrieben und verharrt lediglich auf Ebene der Wiedergabe vorwissenschaftlicher Erfahrungen (vgl. ebd.: 45 f.). Bleibt man also nur auf die „Rekonstruktion des subjektiv gemeinten Sinnes“ (Schwingel 1995: 46, Hervorh. i. O.) fokussiert, wird ein entscheidender Aspekt übersehen: Das Handeln der Akteure und Akteurinnen hat zumeist mehr Sinn, als sie sich selbst bewusst sind; dieses „‚Mehr‘ an Sinn“ (ebd.) gilt es durch eine objektivierende Methode zu erfassen, nur damit könne man sich von einer Art Spontansoziologie abheben. Bourdieu kritisiert dabei im Kern an der Phänomenologie, dass hierbei nicht nach den Bedingungen der Möglichkeiten gefragt wird, die dem Subjekt zur Verfügung stehen (vgl. Bourdieu 2009: 147). In Opposition dazu und am Ende des anderen Extrems steht die objektivistische Position, in deren Kern der Versuch steckt, Strukturen und Gesetzmäßigkeiten jenseits des Einflusses der handelnden Subjekte zu erfassen (vgl. Bourdieu 2009: 147). Bourdieu weist die ultimativen Ansprüche beider Positionen zurück und bezeichnet sowohl die unmittelbare Erkenntnis als auch das absolute Wissen als erkenntnistheoretische Ziele als illusorisch (vgl. Schwingel 1995: 51). Die tatsächliche Zuschreibung von Theoretikern und Theoretikerinnen sowie Forschern und Forscherinnen zu nur einer der beiden Positionen scheint seiner Meinung nach in der Realität allerdings nicht trennscharf zu funktionieren. Bourdieu schlägt demgegenüber einen praxeologischen Zugang vor: „Gegenstand der Erkenntnisweise schließlich, die wir praxeologische nennen wollen, ist nicht allein das von der objektivistischen Erkenntnisweise entworfene System der objektiven Relationen, sondern des weiteren die dialektischen Beziehungen zwischen diesen objektiven Strukturen und den strukturierten Dispositionen, die diese zu aktualisieren und reproduzieren trachten; ist mit anderen Worten der doppelte Prozeß der Interiorisierung

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der Exteriorität und der Exteriorisierung der Interiorität. Diese Erkenntnisweise setzt den Bruch mit der objektivistischen Erkenntnis, setzt die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit und darin nach den Grenzen des objektiven und objektivierten Standpunkts voraus, der, statt aus den verschiedenen Praxisformen das generative Prinzip zu entwickeln, indem er sich auf deren Wirkungen selbst einläßt, sie nur von außen, als faits accomplis erfaßt.“ (Bourdieu 2009: 147–148, Hervorh. i. O.) Bourdieu äußert darin seine zentrale Kritik am Objektivismus, sieht die praxeologische Erkenntnisweise aber nicht als einfache Rückkehr zum Subjektivismus, auch wenn dies zuerst so scheinen mag. Ebenso wenig soll der praxeologische Erkenntnisweg die Ergebnisse, die aus objektiven Herangehensweisen entstanden sind, annullieren, vielmehr „bewahrt und überschreitet“ er diese durch die Integration dessen, was die objektive Erkenntnis erst zur Beantwortung ihrer Fragen ausschließen musste – die primäre Erfahrung der Subjekte, also die „praktische Auffassung der sozialen Welt“ durch jene Individuen, die innerhalb der Bedingungen ihrer Möglichkeiten handeln und agieren (vgl. Bourdieu 2009: 148). Dies bedeutet, dass die Aufdeckung von objektiven Strukturen nicht das alleinige Ziel der Sozialwissenschaften sein kann und sollte; zugleich dürfen diese Strukturen aber nicht vernachlässigt werden, da sie den Rahmen der Möglichkeiten an Erfahrungen spannen (vgl. ebd.: 149 f.). Wo also der Subjektivismus die Rahmenbedingungen vernachlässigt, vernachlässigt der Objektivismus die Primärerfahrungen, das tatsächliche Handeln der Subjekte, das wiederum Einfluss auf die Strukturen hat (vgl. Bourdieu 2009: 159) – beides sollte aber zusammen und nicht voneinander losgelöst betrachtet werden. Mit den von Bourdieu genannten Extrempositionen gehen unterschiedliche Vorstellungen des Subjekts und seiner Rolle einher. Zum einen gibt es voluntaristische, zum anderen strukturalistische Subjektmodelle: Erstgenannte stellen die völlige Entscheidungsfreiheit und soziale Ungebundenheit des Subjekts in den Mittelpunkt – es hat die Übersicht über die eigene Situation, zweitgenannte betonen die Dominanz der Strukturen gegenüber der Handlung und dem Subjekt (vgl. Diaz-Bone 2010: 24 f.). Der Kern der praxeologischen Perspektive liegt darin, diese blinden Flecken beider Positionen zu benennen und eine Alternative anzubieten, die diese blinden Flecken vermeidet. Sie lässt sich nun wie folgt herunterbrechen: Es wird danach ge-

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fragt, in welchen Strukturen Subjekte agieren, also welche Strukturen die Bedingungen der Möglichkeiten schaffen, und wie die Subjekte in ihrem praktischen Handeln wiederum selbst die Strukturen hervorbringen, prägen und verändern. Bourdieu fragt in seinem Zugang nun also nach dem Erzeugungsprinzip, nach dem Erzeugungsmodus der Praxisformen sowie der Praxis selbst (vgl. Bourdieu 2009: 164 f.). Der Begriff der Praxis ist mehr als isoliertes soziales Handeln; der Begriff ist als vermittelndes Element zwischen dem individuellen Handeln und den gesellschaftlichen Bedingungen zu verstehen: Über die Praxis beteiligen sich Menschen aktiv an der Produktion und Reproduktion der Gesellschaft und der Strukturen, die ihr Handeln ermöglichen (vgl. Münch 2004: 420). Über den Begriff des Habitus bzw. über die Habitustheorie versucht Bourdieu, die Erzeugungsmodi der Praxisformen zu erklären. Die Habitustheorie spürt dem Prozess nach, wie soziale Praxis zustande kommt und – anknüpfend an die Theorie der Praxis – wie die gesellschaftliche Praxis von den Akteuren und Akteurinnen, die darin integriert sind, wahrgenommen, erfahren und erkannt wird (vgl. Schwingel 1995: 60). In den Habitus, verstanden als Dispositionssystem, werden vergangene Erfahrungen (auch im historischen Sinne) eingebunden; er übernimmt die Funktion eines Schemas, einer Handlungs-, Wahrnehmungs- und Denkmatrix (vgl. Bourdieu 2009: 169). Diese den Akteuren innewohnenden, systematisch strukturierten Anlagen prägen deren Denken und Handeln über und in der Praxis, was entgegen den Annahmen voluntaristischer Handlungstheorien steht, welche die (uneingeschränkte) Entscheidungsfreiheit der Akteure und Akteurinnen betonen (vgl. Schwingel 1995: 61). Die Idee einer gewissen Determiniertheit des Subjekts schwingt in dieser Vorstellung mit. Bourdieu leugnet dies nicht, relativiert seine Aussagen aber stark: Der Habitus überbrückt in seinen Ausführungen den Dualismus von Freiheit und Determiniertheit, indem er im Grunde wie eine Art generative Grammatik im Sinne Chomskys verstanden werden kann – grammatikalische Regeln gibt es zwar und diese geben vor, wie ein Satz sinnvoll gebildet werden kann, mit ihrer Hilfe kann aber eine Vielzahl an potenziell sinnvollen und verständlichen Sätzen gebildet werden; so verhält es sich auch mit dem Habitus, der den Akteuren und Akteurinnen als Rahmen- und Bezugssystem dient, das nicht den Inhalt sozialer Praktiken bestimmt, sondern nur deren Ausführung (vgl. Schwingel 1995: 71). Der Habitus

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lässt sich ähnlich dem Regelwerk eines Schachspiels verstehen, welches zwar die regelkonforme Art und Weise vorgibt, wie Figuren bewegt werden können, nicht jedoch die potenziell möglichen Kombinationen von Spielzügen determiniert, die ein Spieler oder eine Spielerin im konkreten Spiel praktisch umsetzt (vgl. Schützeichel 2015: 208). In der von Bourdieu vertikal und horizontal gegliederten sozialen Welt, verstanden als Feld, mit ihren zahlreichen Akteuren und Akteurinnen führen ähnliche Existenzbedingungen, wie Bourdieu sie nennt, zur Entstehung von Systemen mit ähnlichen Dispositionen (vgl. Bourdieu 2009: 172). Durch sein Lebensumfeld und durch seine Position in der Gesellschaft (Schicht, Klasse etc.) erlernt oder eignet sich das Subjekt somit einen bestimmten Habitus an. Der Habitus seiner Klasse/Schicht/Gruppe (mit Gruppe kann auch eine Altersgruppe gemeint sein) steckt dem Subjekt nun bestimmte Grenzen des möglichen/tolerierten Handelns. Gruppenidentität und -zugehörigkeit entstehen in der Gesellschaft somit durch einen gemeinsamen Habitus, der sich wiederum vom Habitus anderer Gruppen abgrenzt (vgl. Bourdieu 2009: 172). Das Subjekt wird zum Träger eines Habitus (Reckwitz 2012: 39). Erst durch die Praxis der Akteure und Akteurinnen werden Klasse/Schicht/Gruppe zu realen Tatsachen; vor dem Handeln sind sie quasi nur ein in der Sozialstruktur vorhandenes Potential (vgl. Münch 2004: 426). Der Habitus ist bei Bourdieu also nicht nur gesellschaftlich, sondern vor allem sozialstrukturell geprägt. Im Laufe der Sozialisation und durch das Hinzufügen neuer Erfahrungen verfeinert oder modifiziert das Subjekt seinen Habitus – dies jedoch immer unter der Restriktion dessen, was ihm an ökonomischen, sozialen und kulturellen Ressourcen zur Verfügung steht, aus welchem Kapital es also schöpft. Das kulturelle Kapital mit seiner Verteilung und Ausprägung weist dabei auf klassenspezifische Vorlieben und Geschmäcker hin (vgl. Roose/Schäfer/Schmidt-Lux 2010: 38 f.). Diese Kapitalien sind in der Gesellschaft, im sozialen Feld, ungleich verteilt und stark abhängig von der Position des Subjekts darin (vgl. Paus-Hasebrink/Kulterer 2014: 40). Aus Bourdieus Perspektive bleibt es nicht bei einer rein deterministischen Vorstellung von der Beziehung zwischen Subjekt und Struktur, wie es in strukturalistischen Subjektmodellen dominiert, denn der Eigensinn des Subjekts bleibt erhalten, obwohl gleichzeitig von bis zu einem gewissen Grad determinierend wirkenden Strukturen ausgegangen wird; das Subjekt ist de facto nicht völlig frei in dem,

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was es tut und wird, wie voluntaristische Perspektiven nahelegen. Dies geschieht, indem jedes Subjekt der Habitustheorie zufolge einen ganz eigenen und individuellen Verinnerlichungsprozess der es umgebenden Strukturen durchläuft, aus dem heraus sich die Persönlichkeit und die je individuelle Variante des sozialen Habitus entwickeln (vgl. Münch 2004: 422). Es kommt damit zu einer andauernden Fortschreibung zumindest von Teilen des Habitus (auch zu modifizierten und aktualisierten Formen); er ist somit nicht nur das Vergangene, das sich in der Gegenwart realisiert, sondern gleichzeitig das Zukünftige (vgl. Bourdieu 2009: 182). Um sich fortschreiben zu können und auch in die Zukunft hinein wirksam zu bleiben, ist der Habitus auf eine beständige Einprägungs- und Aneignungsarbeit angewiesen: „Der Habitus stellt das Produkt der Einprägungs- und Aneignungsarbeit dar, die erforderlich ist, damit die Hervorbringungen der kollektiven Geschichte (Sprache, Wirtschaftsform usw.) sich in Form dauerhafter Dispositionen in allen, den gleichen Bedingungen auf Dauer unterworfenen, folglich den gleichen materiellen Existenzbedingungen ausgesetzten Organismen – die man, so man will, Individuen nennen kann – erfolgreich reproduzieren können.“ (Bourdieu 2009: 187) Je stabiler diese Strukturen sind bzw. von den Individuen einer Gruppe wahrgenommen werden, umso natürlicher und selbstverständlicher scheinen sie zu sein: „Der Umfang des Feldes der Doxa, also dessen, was stillschweigend als selbstverständlich hingenommen wird, ist desto größer, je stabiler die objektiven Strukturen einer jeweiligen Gesellschaftsformation sind und je vollständiger sie sich in den Dispositionen der Handlungssubjekte reproduzieren.“ (Bourdieu 2009: 327, Hervorh. i. O.) Für die Forschung stellt sich die Herausforderung, die Schnittstellen zwischen dem Subjekt und den Strukturen zu finden und diese vor allem theoretisch so zu konzipieren, dass sie sich in weiterer Folge empirisch fassen lassen. Vorgeschlagen wird dafür im Weiteren ein Zugang über das Konzept der Entwicklungsaufgaben.

2 Zum theoretischen Rahmen der Arbeit 2.2

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Das Konzept der Entwicklungsaufgaben als Schnittstelle zwischen Subjekt und Strukturen und die Rolle derSozialisation

Alltägliche Denk- und Wahrnehmungsstrukturen werden selten hinterfragt, denn sie treffen meist in ihrem Milieu, in ihrer Klasse auf genau jene Praxisverhältnisse, die denen ihrer Entstehung ähnlich sind, was Bourdieu als die „doxische“ Erfahrung der sozialen Welt bezeichnet (vgl. Schwingel 1995: 79 f.). In ähnlicher Weise spricht Hall (2004: 74 f.) von „>Common-Sensedeterminierten< Moment bedient sich die Struktur eines Kodes und bringt eine >Nachricht< hervor: In einem anderen determinierten Moment hält die >Nachricht