Musik und Erotik in Doderers Roman »Die Dämonen«: Semantiken der ›zweiten Wirklichkeit‹ 9783110715484, 9783110715385

Doderer’s novel Die Dämonen negotiates the "second reality," a problem of perception immanent to all narrative

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Musik und Erotik in Doderers Roman »Die Dämonen«: Semantiken der ›zweiten Wirklichkeit‹
 9783110715484, 9783110715385

Table of contents :
Danksagung
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung
2 Forschungsstand
3 Die Musikalisierung von Literatur – Theoretische Vorüberlegungen zu einem intermedialen Forschungsfeld
4 Thematisierung und Imitation von Musik in Die Dämonen
5 Sexualität und Erotisierung im Kontext der ‚(Nicht-)Apperzeption‘
6 Der ‚Faden im Gewebe’ – Die Funktion von Musik und Erotik in Die Dämonen
Anhang
Literaturverzeichnis
Personenverzeichnis

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Mareike Brandtner Musik und Erotik in Doderers Roman »Die Dämonen«

Deutsche Literatur Studien und Quellen

Herausgegeben von Beate Kellner und Claudia Stockinger

Band 41

Mareike Brandtner

Musik und Erotik in Doderers Roman »Die Dämonen« Semantiken der ›zweiten Wirklichkeit‹

ISBN 978-3-11-071538-5 e-ISBN (PDF) 978-3-11-071548-4 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-071557-6 ISSN 2198-932X Library of Congress Control Number: 2020946344 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2021 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Titelabbildung: Johann Wolfgang Goethe an Johann Gottfried Herder, wahrscheinlich zwischen Mitte Januar und Mitte Februar 1786. Satz: Integra Software Services Pvt. Ltd. Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com

Danksagung Die vorliegende Studie ist eine leicht überarbeitete Fassung meiner Dissertation, die im September 2019 von der Philosophischen Fakultät der Christian-AlbrechtsUniversität zu Kiel angenommen wurde. Besonders herzlich bedanken möchte ich mich bei meinem Doktorvater Prof. Dr. Claus-Michael Ort für seine anhaltende Unterstützung, die vielen wertvollen Hinweise und inspirierenden Gespräche. Für seinen engagierten Einsatz in der Anfangsphase meiner Arbeit sowie für hilfreiche Anregungen bin ich Prof. Dr. Albert Meier sehr dankbar. Bei Prof. Dr. Hans-Edwin Friedrich bedanke ich mich herzlich für die Übernahme des Zweitgutachtens. Zudem danke ich Prof. Dr. Claudia Stockinger und Prof. Dr. Beate Kellner für die Aufnahme in die Reihe Deutsche Literatur. Studien und Quellen. Mein Dank geht auch an die Rosa-Luxemburg-Stiftung, die diese Arbeit mit einem Promotionsstipendium ermöglicht hat. Jill Thielsen und Dr. Astrid Knieß bin ich sehr dankbar für die vielen Stunden ihrer Zeit, die sie mir und dieser Arbeit geschenkt haben, indem sie mit kritischem Blick gelesen und mir vielfältige Anregungen gegeben haben. Weiterhin danke ich Dr. Ulrich Selle, Yasmin Hackert, Berenike Söllner und Paula Jirka herzlich für ihre Hilfe. Mein innigster Dank geht an meine Familie, deren ältere und jüngere Mitglieder auf unterschiedliche Weise zum Gelingen dieser Arbeit beigetragen haben und deren Zuversicht, motivierende Ablenkung und durchgehende Unterstützung mir über die Jahre eine unverzichtbare Hilfe waren. Ganz besonders dankbar bin ich meiner Mutter Christine Brandtner-Lucas, die mir auf vielfältige Weise beigestanden und meine Arbeit mit unermüdlichem Interesse begleitet hat. Ohne meinen Mann Olli Merbeth-Brandtner, der immer für mich da war und auch schwere Zeiten mit mir überstanden hat, wäre diese Arbeit nicht denkbar gewesen – danke! Den Austausch mit meinem Vater Dr. Martin Brandtner habe ich in den letzten Jahren immer wieder vermisst. Seinem Andenken widme ich diese Arbeit. Kiel, im Juli 2020

https://doi.org/10.1515/9783110715484-202

Inhaltsverzeichnis Danksagung

V

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Einleitung

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Forschungsstand

3

Die Musikalisierung von Literatur – Theoretische Vorüberlegungen zu einem intermedialen Forschungsfeld 39

4 4.1 4.1.1

Thematisierung und Imitation von Musik in Die Dämonen 53 Musikalität und Apperzeption 54 Mary K. und „die orphische Macht der Töne“ – Apperzeptionssteigerung durch Musik 56 Die Geigerin Quapp als ambivalentes „Wesen im EntwicklungsZustand“ 82 Die Eroicagasse – Quapps metaphorischer Tod und ihre „zweite Biographie“ 97 Das ‚nichtige Wort‘ – Semantische Überlagerungen zwischen Weiblichkeit und ‚zweiter Wirklichkeit‘ 111 ‚Nicht-Kunst‘ und ‚Apperzeptionsverweigerung‘ 126 ‚Unterhaltungsmusik‘ 127 „Weiblicher Müßiggang [. . .] an der Peripherie der Künste“ – Künstlerinnen im Kontext der ‚zweiten Wirklichkeit‘ 142 Musikalisierung – Imitation und Evokation von Musik 148 ‚Phrasierte Motivik‘ 150 ‚Polyphone‘ Stimmführung und musikalische Strukturen im ‚Finale‘ 172 „Eine wirklich gute Dialektik“ – Die ‚kontrapunktische‘ Konzeption des ‚Feuer‘-Kapitels 178 „Und die Wege nach links und nach rechts, sie fielen zusammen 193 jetzt“ – Synchronisierung und Multiperspektivität

4.1.2 4.1.3 4.1.4 4.2 4.2.1 4.2.2 4.3 4.3.1 4.3.2 4.3.3 4.3.4

5 5.1 5.1.1 5.1.2

1 17

Sexualität und Erotisierung im Kontext der ‚(Nicht-)Apperzeption‘ 217 Sexuelle Obsessionen als ‚zweite Wirklichkeit‘ 222 Jan Herzkas sadistische Phantasien und die „Spiegelung[en] seiner tiefen Abgeschlossenheit“ 223 „Offene Wunde war er jetzt“ – Intertextuelle Bezüge zur Erzählung Die Bresche 244

VIII

5.1.3 5.1.4

5.2 5.2.1 5.2.2 5.2.3

6

Anhang

Inhaltsverzeichnis

Voyeurismus und Sadismus „dort unten in der Tiefe der Zeiten“ – Die mittelalterliche Handschrift 258 Fetischismus und Antisemitismus: Die Chronique scandaleuse oder „eine zum System erhobene ApperzeptionsVerweigerung“ 273 Das ‚andere Geschlecht‘ – Dämonisierung und Sublimierung 299 Gefährdende Weiblichkeit – Von „hereinbauchenden Druckgebieten [und] absaugenden Leerräumen“ 300 Erotik als Schlüssel zur ‚ersten Wirklichkeit‘ – Die Heilung einer alten Wunde und die „Sprache der Fische“ 321 Das Nachtbuch der Kaps und das Haus ‚Zum blauen Einhorn‘ – Mythisierung und Sexualisierung des Kapsreiter-Komplexes 354 Der ‚Faden im Gewebe’ – Die Funktion von Musik und Erotik in Die Dämonen 383 393

Literaturverzeichnis

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Personenverzeichnis

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1 Einleitung Wahrnehmungsprozesse sind der gemeinsame Bezugspunkt aller Handlungsstränge in Heimito von Doderers Roman Die Dämonen (1956).1 Insbesondere Wahrnehmungsstörungen, die Doderer zufolge in eine ‚zweite Wirklichkeit‘, d. h. eine Scheinwirklichkeit führen, und ihre Ursache in der ‚Apperzeptionsverweigerung‘ haben, stehen dabei im Mittelpunkt.2 Die Thematisierung einer potenziell authentischen Rezeption der innerdiegetischen Wirklichkeit im Kontrast zu einem von den Figuren konstruierten Weltbild wird dabei zum Teil explizit auf die Rezeption und Produktion von Sprache und Text bzw. Kunst im Allgemeinen bezogen. Der Wahrnehmungs-Thematik liegt somit eine metapoetische Dimension zugrunde, deren selbstreflexive Verhandlung des Verhältnisses von Realität und Fiktion sich bereits am Untertitel des Romans – Nach der Chronik des Sektionsrates Geyrenhoff – andeutet. Der Verweis auf die nichtfiktionale Gattung der Chronik steht in einem Spannungsverhältnis zu dem Titel Die Dämonen, der im Gegensatz zu der scheinbar objektiv-sachlichen Ausrichtung der Chronik auf eine mythische, metaphysische Ebene deutet und zudem die Frage eröffnet, wer im Anschluss an und unter Bezugnahme auf diese Chronik schreibt und welcher Stellenwert der Chronik im Roman zukommt.3 Der Roman mit seinem über hundert Figuren umfassenden Personal, dessen Handlung im Herbst 1926 einsetzt und auf den Brand des Wiener Justizpalastes am 15. Juli 1927 zuläuft, enthält neben der Geschichte des Scheiterns dieser Chronik4 viele weitere Erzählstränge, in denen Schriftstücke gefunden, übersetzt oder geschrieben werden, Bibliotheken katalogisiert und Sprachen erlernt werden, um nur einige der Beispiele zu nennen, in denen die Wirklichkeitsproblematik mit Sprache

1 Heimito von Doderer: Die Dämonen. Nach der Chronik des Sektionsrates Geyrenhoff [1956]. München 2008. Im Folgenden abgekürzt als DD. 2 Doderers Terminologie im Zusammenhang mit der Apperzeptionsproblematik, die er u. a. in seinen Tagebüchern und Essays entwickelte, wird im Verlauf der Einleitung näher erläutert. 3 Unter Bezugnahme auf die Paratexte der Dämonen hat Rudolf Helmstetter diese „Dualität von Chronik und Roman als metatextuellen Plot“ des Romans beschrieben. Rudolf Helmstetter: Was niecht zu schreim ist. Genealogie des Romans und Theater des Schreibens in ‚Die Dämonen‘. In: Heimito von Doderers ‚Dämonen‘-Roman: Lektüren. Hrsg. v. Eva Geulen und Tim Albrecht, Berlin 2016 (= Beihefte zur Zeitschrift für Deutsche Philologie; Bd. 15), S. 87–109, hier: S. 87. 4 Der fiktive Chronist und Ich-Erzähler Geyrenhoff versucht zunächst zeitgleich mit den Ereignissen eine Art Tagebuch für seinen Freundeskreis zu führen (vgl. DD 9 f.), bis er seine trotz zahlreicher Mitarbeiter*innen und Informant*innen mangelnde Übersicht sowie die eigene Verstrickung in die Ereignisse einsehen muss und sich darauf verlegt, nur noch Notizen zu sammeln (vgl. DD 839). Diese Notizen bilden die Grundlage für seine 28 Jahre später niedergeschriebenen Berichte. In dem Roman melden sich jedoch auch andere homodiegetische Erzähler sowie eine Erzählerin zu Wort und zudem greift eine heterodiegetische Erzählinstanz kommentierend ein. Sie beansprucht die „letzte Redaktion“ für sich und weist darauf hin, dass „zuletzt nur verhältnismäßig kleine Teile seiner ‚Chronik‘, oder was es schon hätte werden sollen, hier aufgenommen [wurden].“ (DD 670). https://doi.org/10.1515/9783110715484-001

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1 Einleitung

und Schrift verknüpft wird. Auffällig ist dabei die handlungsübergreifende Präsenz der Themenbereiche Musik und Erotik, anhand derer u. a. die sinnliche Rezeption der Umwelt in der erzählten Welt dargestellt wird. Trotz der stark ausgeprägten Interferenzen wurde die Synthese dieser Bereiche in den Dämonen bisher von der Forschungsliteratur nicht zur Kenntnis genommen. Die Ausgangsfragen, denen ich in dieser Arbeit nachgehen möchte, sind, in welchen Kontexten und auf welchen Ebenen des Textes – sowohl inhaltlich als auch strukturell – Musik und Erotik eine Rolle spielen und inwiefern sie innerhalb des Spannungsfeldes der Wirklichkeits- und Wahrnehmungsproblematik funktionalisiert werden. In den Dämonen musizieren einerseits diverse Figuren selbst, wie die klavierspielende Mary K. und die ‚unmusikalische‘ Geigerin Quapp, oder sie werden als Musikrezipient*innen geschildert, wie die Opernbesucherin Friederike Ruthmayr, und andererseits stehen die sexuellen Obsessionen oder Hemmungen der zumeist männlichen Figuren im Fokus, wie die sadistischen Phantasien Jan Herzkas, die voyeuristischen Präferenzen des mittelalterlichen Burgherrn Achaz von Neudegg oder Kajetan von Schlaggenbergs fetischistische Fixierung auf ‚Dicke Damen‘. Auf der ‚histoire‘-Ebene wird daher der Zusammenhang zwischen der Musikalität und der Apperzeptionsfähigkeit der Figuren ebenso wie die Verknüpfung von Erotik, Geschlecht und Wahrnehmung untersucht. Neben diesen thematischen Aspekten wird die Frage nach der strukturellen Relevanz von Musik und Erotik in den Blick genommen. Die Erotisierung von Wahrnehmungsprozessen, die Tiefenstrukturen in der Wahrnehmungsverarbeitung zu intradiegetischen Träumen und deren Verschriftlichung werden dabei ebenso berücksichtigt wie die paradigmatische Sexualsemantik von Raumdarstellungen sowie die Überlagerungen zwischen ‚Weiblichkeit‘ und ‚zweiter Wirklichkeit‘. In Bezug auf die Musik wird die Funktion des Transfers musikalischer Formen und Techniken, wie die stark ausgeprägten Wiederholungsstrukturen, die klanglichen Annäherungen der Sprache an die Musik oder die an musikalischer Polyphonie orientierten Techniken der Mehrstimmigkeit auf der ‚discours‘-Ebene analysiert. Musik und Erotik prägen Doderers gesamtes Werk; während erotischen Kontexten in einem Großteil der Romane und Erzählungen ein wesentliches thematisches Gewicht zukommt, nehmen die Musikthematisierungen meist keine derart zentrale Stellung ein. Als Konstante zeichnet sich hier die Orientierung an Musik und die Imitation ihrer Formen und Strukturen ab, von der Doderers literarisches Œuvre geprägt ist – und zwar von seiner frühen Prosa5 über die großen Gesellschaftsromane,6 die seine bedeutende Stellung in der deutschsprachigen Literatur des zwanzigsten

5 Unter anderem die sogenannten Divertimenti der 20er Jahre, die Sieben Variationen über ein Thema von Johann Peter Hebel (1927), Die Bresche (1924) und Das Geheimnis des Reichs (1930). 6 Die Strudlhofstiege (1951) und Die Dämonen (1956).

1 Einleitung

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Jahrhunderts begründeten, bis hin zu seinen späten Romanen,7 in denen er sich dem Konzept des ‚roman muet‘ annäherte, in welchem der Erzähler verstummen sollte.8 Auch in seinen umfangreichen Tagebüchern, die größtenteils eng mit den fiktionalen Texten verwoben sind, so dass die Gattungsgrenzen verschwimmen, sowie in literaturtheoretischen Schriften stellte er die Transformation musikalischer Techniken in die Literatur als essentiell für seine Texte dar. Doderer steht damit in einer seit dem achtzehnten Jahrhundert andauernden Tradition, die sich nicht nur einer musikalischen Metaphorik bedient, sondern auch musikalische Strukturen bewusst für die Gestaltung literarischer Werke nutzt.9 Die literarische Bezugnahme auf Musik beschränkt sich in vielen Fällen nicht auf die formalen Aspekte, sondern liegt in einer Kunstauffassung begründet, die Musik Eigenschaften zuspricht, welche der Literatur scheinbar fehlen, und knüpft an die Idee der ‚absoluten Musik‘ an, mit der sich um 1800 ein „[musikästhetischer] ‚Paradigmenwechsel‘“10 vollzog, der mit der Aufwertung der Instrumentalmusik einherging: Die Idee der ‚absoluten Musik‘ – wie die selbstständige Instrumentalmusik nunmehr genannt werden darf, obwohl der Terminus erst ein halbes Jahrhundert später aufkam – besteht in der Überzeugung, daß Instrumentalmusik gerade dadurch, daß sie begriffs-, objekt- und zwecklos ist, das Wesen der Musik rein und ungetrübt ausspricht. [. . .] Instrumentalmusik steht – als bloße ‚Struktur‘ – für sich selbst.11

Bereits in den Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders (1797) von Wilhelm Heinrich Wackenroder und Ludwig Tieck, wird die Überlegenheit der nicht an Sprache gebundenen Musik thematisiert und eine ‚Kunstreligion‘ entworfen, die v. a. der Musik eine mythische Qualität zuspricht, welche sowohl göttliche als auch dämonische Aspekte in sich vereint und das in der Sprache Unsagbare auf eine andere Weise ausspricht.12 Dieser „Mythos des Musikalischen“ als „Bewältigungsform einer

7 Unter anderem der groteske Roman Die Merowinger (1962), der vierteilig angelegte aber unvollendete Roman No 7 mit dem ersten Teil Die Wasserfälle von Slunj (1963) und dem zweiten fragmentarischen Teil Der Grenzwald (1967). 8 Vgl. Henner Löffler: Doderer-ABC. Ein Lexikon für Heimitisten. München 2000, S. 354–358. 9 Die historische Entwicklung im Verhältnis von Musik und Literatur beschreibt Albert Gier stark vereinfacht als eine erste Phase, „die von der griechischen Antike bis ins 18. Jahrhundert reicht“, gefolgt von einer zweiten Phase, die „von der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts bis zur Gegenwart reicht“. In der ersten Phase sei „Musik als Sprache“ aufgefasst worden, während ungefähr ab der Romantik die „(literarische) Sprache als Musik aufgefaßt“ worden sei. Albert Gier: Musik in der Literatur: Einflüsse und Analogien. In: Literatur intermedial. Musik – Malerei – Photographie – Film. Hrsg. v. Peter v. Zima, Darmstadt 1995, S. 61–92, hier: S. 74. 10 Carl Dahlhaus: Die Idee der absoluten Musik. Kassel 1978, S. 12. 11 Dahlhaus 1978, S. 13. 12 Siehe insbesondere die in den Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders enthaltene Erzählung Das merkwürdige musikalische Leben des Tonkünstlers Joseph Berglinger. Wilhelm Heinrich Wackenroder und Ludwig Tieck: Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders

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1 Einleitung

unlösbaren poetologischen Aporie: des Versuchs, Grenzen des Sagbaren sprachlich zu überschreiten bzw. das Vergebliche dieser Anstrengung poetisch zu überspielen“,13 ist prägend für viele literarische Annäherungen an die Musik. In Doderers Roman Die Strudlhofstiege (1951),14 der inhaltlich und entstehungsgeschichtlich eng mit den Dämonen verwoben ist – sowohl das Personal der beiden Romane überschneidet sich als auch die Chronologie der Ereignisse –, findet sich ein Erzählerkommentar, der dieses Thema mit selbstreflexiver Ironie aufgreift. René Stangeler, eine der Figuren, die sowohl in der Strudlhofstiege als auch in den Dämonen eine wichtige Rolle spielen, hört in dieser Szene eine Passage aus der F-DurSymphonie von Johannes Brahms: Ein weit geöffneter klarer Akkord vom Klaviere erfüllte den Luftraum über den Kronen der alten Apfelbäume. Wie alle Menschen, die von der Musik affiziert oder infiziert sind (die Wortwahl überlassen wir hier aus guten Gründen ganz ausdrücklich dem Leser!), war für René damit auch schon irgendetwas Unwidersprechliches gesagt, das anders auszusprechen er sich gar nicht mehr im geringsten bemühte. [. . .] Stangeler indessen fühlte sich der Wahrheit in diesen Augenblicken am nächsten, ohne irgendwas zu denken, und darin besteht ja die ebenso paradoxe wie bequeme stille Übereinkunft aller musikalischen Leute. (DS 436)

Doderer postulierte in dem literaturtheoretischen Essay Grundlagen und Funktion des Romans (1959),15 dass in der Musik „neue technische Mittel“ (WdD 173) gefunden werden könnten, mit denen die Literatur einen ähnlichen Durchbruch erzielen könnte, wie ihn die Musik durch die Symphonie erlebt hatte. Diese ‚technische‘ Seite ist es aber nicht allein, die den Reiz der Musik für Doderers Werk ausmacht, und gerade in den Dämonen, die um scheinbar ‚Unaussprechliches‘ kreisen, kommt der transzendenten Seite der Musik, die „irgendetwas Unwidersprechliches“ (DS 436) übermittelt, eine entscheidende Funktion zu. In der zitierten Textstelle aus der Strudlhofstiege ist jedoch das auch in den Dämonen durchaus ambivalente Verhältnis zu solcher Mythisierung von Musik angedeutet. In der Auslassung der oben zitierten Passage wird ein Musik-Erlebnis der Figur Melzer angesprochen, in dessen Erwähnung ebenfalls mit der semantischen Offenheit der Musik gespielt wird. Die detaillierte, an einen impliziten musikalischen Leser gerichtete Takt-Angabe steht dabei im

[1797]. In: Wilhelm Heinrich Wackenroder: Sämtliche Werke und Briefe. Historisch-kritische Ausgabe. Bd. 1: Werke. Hrsg. v. Silvio Vietta und Richard Littlejohns, Heidelberg 1991, S. 51–146. 13 Christine Lubkoll: Mythos Musik. Poetische Entwürfe des Musikalischen in der Literatur um 1800. Freiburg im Breisgau 1995 (= Rombach Wissenschaften, Reihe Litterae; Bd. 32), S. 12 f. 14 Heimito von Doderer: Die Strudlhofstiege oder Melzer und die Tiefe der Jahre [1951]. München 2007. Im Folgenden abgekürzt als DS. 15 Heimito von Doderer: Grundlagen und Funktion des Romans [1959]. In: Die Wiederkehr der Drachen: Aufsätze, Traktate, Reden. Hrsg. v. Wendelin Schmidt-Dengler, München 1996, S. 149–175. Im Folgenden abgekürzt als WdD.

1 Einleitung

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ironischen Widerspruch zu der angeblichen Beliebigkeit sowohl des Instruments als auch der musikalischen Gattung: Daß es dort eine Drehorgel und ein Militärmarsch war, hier ein Klavier und der, von rückwärts gezählt, siebenundzwanzigste Takt des zweiten Satzes der Brahms’schen Symphonie in F-Dur, dies hat weit weniger zu sagen als es einem musikalischen Leser (und beinah auch dem Autor) für’s erste scheinen möchte. (DS 436)

Die Musik ist, wie die Erotik und die Thematisierung von mythischen oder phantastischen Wesen (u. a. Drachen und Riesenkraken), nur eines der Elemente, die zu der mythisierenden Geschichts- und Zeitdarstellung des Romans beitragen. Auf ein sprachlich und rational nicht erfassbares Moment verweist bereits der Titel Die Dämonen, der als überdeterminierte und deutungsbedürftige Metapher den Ausgangspunkt der Lektüre bildet.16 Übergeordnet über alle Erzählstränge und Themenfelder und stets ‚latent anwesend‘ sind diese schon im Titel erscheinenden metaphorischen Dämonen. In der Einleitung zu dem Sammelband Das Dämonische. Schicksale einer Kategorie der Zweideutigkeit nach Goethe heißt es: „Wer sich in der Moderne für die latente Anwesenheit überwunden geglaubter, verdrängter, vergessener oder auch erst noch heraufziehender Mächte interessiert, kann auf dämonische Dienste kaum verzichten.“17 Und Rudolf Helmstetter bezeichnet in seinem Beitrag zu diesem Band, in dem er sich mit Doderers Dämonen auseinandersetzt, das ‚Dämonische‘ als „Begriffslosigkeitsreservoir [. . .] und Platzhalter für Unbegriffenes, eine klangvolle Metapher oder Katachrese für Unbegreifliches“.18 Diese „dämonische Unschärferelation“19 zeige sich schon an der komplizierten Entstehungsgeschichte des Romans, die eine Zuordnung zu einem „semantischen, epistemischen, ideologischen und diskursiven Raum“20 erschwere. Hubert Kerscher spricht in seiner umfassenden Arbeit Zweite Wirklichkeit. Formen der grotesken Bewußtseinsverengung im Werk Heimito von Doderers in Bezug auf Die Dämonen von einer „gigantische[n]

16 Vgl. Rudolf Helmstetter: Tangentiale Dämonologie. Heimito von Doderer. In: Das Dämonische. Schicksale einer Kategorie der Zweideutigkeit nach Goethe. Hrsg. v. Lars Friedrich, Eva Geulen, Kirk Wetters, Paderborn 2014, S. 395–415, hier: S. 395 f. 17 Lars Friedrich, Eva Geulen, Kirk Wetters: Einleitung: Dämonen, Dämonologien und Dämonisches: Machtkämpfe, Verteilungsstrategien. In: Das Dämonische. Schicksale einer Kategorie der Zweideutigkeit nach Goethe. Hrsg. v. Lars Friedrich, Eva Geulen, Kirk Wetters, Paderborn 2014, S. 9–23, hier: S. 17 f. 18 Helmstetter 2014, S. 395. 19 Helmstetter 2014, S. 395. 20 Helmstetter 2014, S. 396. Helmstetter weist in seinem Artikel über Doderers „elliptische oder eben tangentiale Dämonie“ auf die poetologischen Implikationen der Begriffsverwendung bzw. der „strategische[n] Vermeidung des Begriffs“ (Helmstetter 2014, S. 396) bei Doderer hin.

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1 Einleitung

zentrale[n] Leerstelle“, die „auf die Spur jenes Unaussprechlichen und nur symbolisch Umschreibbaren“21 führe. In einer der wenigen Textstellen des Romans, in denen das Wortfeld ‚Dämonen‘ explizit vertreten ist, wird es von der heterodiegetischen Erzählinstanz genau mit dieser Nicht-Greifbarkeit beschrieben: Bei Spaziergängen in einer zweiten Wirklichkeit fällt nie was ab [. . .] und es ist kennzeichnend für alles Dämonische, daß es zwar ungeheures Aufhebens macht und viel Bewegungen schafft, niemals aber noch irgendwem irgendwas danach in der Hand gelassen hat. (DD 1028, Hervorhebungen von M.B.)22

Allen Anspielungen auf Dämonen und das Dämonische ist in einem Roman mit dem Titel Die Dämonen eine selbstreferentielle Bedeutungsebene inhärent, so dass diese Aussage auf den Gesamtroman übertragbar ist, dessen Umfang und Komplexität durchaus ‚ungeheures Aufheben‘ macht.23 Dessen ungeachtet soll der Versuch unternommen werden, die Analogien zwischen Erotik und Musik im Zusammenhang mit der ‚zweiten Wirklichkeit‘ und damit dem angeblich nicht greifbaren Zentrum der Dämonen aufzudecken und ihre inhaltliche und strukturelle Relevanz für den Roman darzustellen. Wenn „Mythen [. . .] Organisationsmodelle von Aporien“ sind, die „der buchstäblichen Um-Schreibung von Leerstellen“ dienen und „Unbegreifliches und Unlösbares in eine erträgliche Form [. . .] gießen,“24 wie es Claude Lévi-Strauss u. a. am Beispiel des Ödipusmythos ausgeführt hat,25 dann eröffnet sich im Anschluss daran die Frage, inwiefern Musik und Erotik zu einer Mythisierung des Romans beitragen und welche Rolle diese Komplexe im Hinblick auf die dem Titel immanente Aporie spielen, das nicht Greifbare und Unsagbare zum ‚Hauptgegenstand‘ des Romans zu machen. Doderer hat seine Weltanschauung mit einem speziellen Vokabular dargestellt, das ein oftmals schwer zugängliches und auf sich selbst verweisendes System bildet, an dem er sein Leben lang gefeilt hat, wobei viele der apodiktischen Aussagen in Variationen immer wiederkehren. Für die literaturwissenschaftliche Rezeption seiner Werke ist es unumgänglich, sich mit der Bedeutung dieser Begrifflichkeiten 21 Hubert Kerscher: Zweite Wirklichkeit. Formen der grotesken Bewußtseinsverengung im Werk Heimito von Doderers. Frankfurt am Main u. a. 1998 (= Regensburger Beiträge zur deutschen Sprach- und Literaturwissenschaft: Reihe B, Untersuchungen; Bd. 68), S. 166. 22 Hervorhebungen in Zitaten, die von mir stammen, werden auch im Folgenden gekennzeichnet durch die Angabe ‚Hervorhebung[en] von M.B.‘ 23 Als selbstbezügliche Anmerkung verstanden verweist die hier zitierte Passage aus den Dämonen auf das Ende des ebenfalls die ‚zweite Wirklichkeit‘ thematisierenden Romans Die Merowinger: Darin bestätigt der angebliche Autor des Werks – Dr. Döblinger (alias Kajetan von Schlaggenberg, der auch eine Figur aus den Dämonen ist) – es handele sich bei dem Ganzen um einen „Mordsblödsinn“. Heimito von Doderer: Die Merowinger oder die totale Familie [1962]. München 1990, S. 307. Im Folgenden abgekürzt als DM. 24 Lubkoll 1995, S. 12. 25 Vgl. Claude Lévi-Strauss: Strukturale Anthropologie I [1958]. Frankfurt a. M. 1978, S. 226–254.

1 Einleitung

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vertraut zu machen. Wendelin Schmidt-Dengler hat jedoch zurecht darauf hingewiesen, dass es wenig sinnvoll ist, innerhalb dieser begrifflichen Grenzen zu verbleiben und damit zu Zirkelschlüssen zu gelangen.26 Die vorliegende Arbeit bezieht sich auf Doderers Terminologie der ‚zweiten Wirklichkeit‘, deren Prämissen im Roman durch Figuren wie René Stangeler, Kajetan von Schlaggenberg und Geyrenhoff entwickelt und vertreten werden.27 Der Fokus liegt dabei jedoch nicht auf Doderers Theorie und deren ‚Wahrheitsgehalt‘ – auch wenn seine theoretischen Abhandlungen und Tagebuch-Eintragungen soweit es für das Verständnis der Thematik innerhalb der Dämonen sinnvoll erscheint, einbezogen werden –, sondern auf der tendenziell selbstreflexiven Wahrnehmungsthematik des Romans. Einer der durchgehenden Zentralbegriffe in Doderers Werk ist die eingangs bereits erwähnte ‚Apperzeption‘. Damit ist die Fähigkeit gemeint, die umgebende Welt nicht nur zu perzipieren, sondern sie mit allen Sinnen bewusst wahrzunehmen und richtig deuten zu können.28 Diese Unterscheidung geht auf Gottfried Wilhelm Leibniz zurück und wurde vielfach von der Philosophie und Psychologie aufgegriffen und weiterentwickelt. Spezifisch für Doderer ist jedoch der Begriff der ‚Apperzeptionsverweigerung‘, mit der viele seiner Romanfiguren zu kämpfen haben. Für diesen Zustand des ‚NichtWahrnehmen-Wollens‘ der Welt, ‚wie sie ist‘, und einer Befangenheit in Schematismen hat Doderer die Formel der ‚zweiten Wirklichkeit‘ geprägt. Dem gegenüber steht die sogenannte ‚erste Wirklichkeit‘, die als eine wahrhafte und objektiv verbindliche Wirklichkeit verstanden wird. Wer in der ‚zweiten Wirklichkeit‘ lebt kann demnach die Realität nur partiell und verzerrt wahrnehmen, da sein Denken und Fühlen durch politische Ideologien, erotische Obsessionen oder andere schematisierende oder zwanghafte Vorstellungen begrenzt wird. Da sich die ‚zweite Wirklichkeit‘ und das ‚Dämonische‘ in ihrem Kern der Darstellung entziehen, so suggeriert es Doderers Theorie, können politische Ereignisse und ideologische Zusammenhänge nur über die ganz persönliche Wahrnehmung einzelner Figuren erzählt werden. In diesem Licht steht auch die Darstellung der Arbeiteraufstände im Juli 1927 in Wien, die aus der Perspektive unterschiedlicher Figuren, deren Fokus auf privaten Problemen liegt, zusammengesetzt ist. Im Konservatismus

26 Vgl. WdD 301 [Nachwort des Herausgebers]. 27 Diese Figuren schreiben alle entweder beruflich oder privat: Stangeler ist Historiker und schreibt wissenschaftliche Texte, Schlaggenberg ist Schriftsteller und Journalist und Geyrenhoff schreibt in seiner Freizeit die fiktive Chronik, auf die der Roman angeblich aufbaut. Bei ihnen allen zeigen sich darüber hinaus starke Überschneidungen mit Doderers Biographie, so dass sie als Alter Ego-Figuren gedeutet werden können, worauf ich im Folgenden aus methodischen Gründen jedoch weitgehend verzichten werde. 28 Henner Löffler definiert Doderers Apperzeptionsbegriff als „das eigentliche Erfassen – Begreifen – Verstehen der Welt (erste Wirklichkeit) mit Verstand und Herz, ihre Durchdringung und Verinnerlichung [. . .]. Ihr Gegenbild ist die Deperzeption (= Dummheit = uneigentliche Erfassung der Welt und damit Schaffung der zweiten Wirklichkeit und von Ideologie) [. . .]. Sie wird erzeugt von Apperzeptionsverweigerung [. . .].“ Löffler 2000, S. 34.

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dieser Apperzeptionstheorie kommt „jedes Streben nach einer Veränderung der Weltordnung einer Flucht in eine ‚zweite Wirklichkeit‘ gleich“.29 Doderers Theorie geht soweit, jeden Wunsch nach einer Veränderung überhaupt, also auch der eigenen Lebensumstände, als ‚revolutionär‘ und damit verblendet zu deuten.30 In Opposition zu den ‚Apperzeptionsverweigerern‘ werden in den Dämonen Figuren, welche die jeweiligen Gegebenheiten anerkennen ohne inneren oder äußeren Widerstand zu leisten, als „schicksalsgesund“ (DD 1218) bezeichnet. Ein solcher passiv empfangender Zustand ist die Voraussetzung für die sogenannte ‚Menschwerdung‘31, die als Entwicklungsziel angestrebt wird: „Die Menschwerdung ist der Prozeß, den jemand auf dem Weg von der Apperzeptionsverweigerung zur Apperzeption durchläuft, dabei von der zweiten zur ersten Wirklichkeit gelangt und so auch frei wird von den Dämonen.“32 Die Apperzeptionstheorie und die damit verknüpften Begriffe finden sich in den meisten Werken Doderers in mehr oder weniger starker Ausprägung; in den Dämonen ist der Komplex der ‚zweiten Wirklichkeit‘ jedoch so dominant, dass er als Hauptthema bezeichnet werden kann. Da diese Wahrnehmungstrübung im Roman als eine ‚dämonische‘ Besessenheit dargestellt wird, lässt sich der Titel des Romans als direkter Verweis auf dieses Thema deuten. Als „strukturale Chiffre des Faschismus“33 stellt die Thematik der ‚zweiten Wirklichkeit‘ eine literarische Auseinandersetzung mit ideologischer Verblendung dar. Doderer hat seine anfängliche Begeisterung für den Nationalsozialismus im Nachhinein mit einer solchen ‚Verblendung‘ erklärt und – in

29 François Grosso: ‚Primum scribere, deinde vivere‘: Leben und Schreiben im Entstehen am Beispiel der Tagebücher Heimito von Doderers. Phil. Diss., Nantes/Wien 2009, S. 49. 30 Zum Einfluss von Thomas von Aquins Lehre der ‚Analogia entis‘, an welche Doderer mit seiner Apperzeptionstheorie und seinem ‚Fatologie‘-Konzept anknüpft, siehe: Torsten Buchholz: Doderer, Joyce und der heilige Thomas. Notizen zu einer Nahtstelle. In: Gassen und Landschaften. Heimito von Doderers „Dämonen“ vom Zentrum und vom Rande aus betrachtet. Hrsg. v. Gerald Sommer, Würzburg 2004 (= Schriften der Heimito von Doderer-Gesellschaft; Bd. 3), S. 180–190. „‚Fatologie‘ ist für Doderer das komplizierte Schicksalsgefüge, in dem die Bestandteile und Vorgänge des Lebens ihren Platz und somit ihren Sinn haben, also die offen gemachte Ordo-Vorstellung des Aquinaten“. Buchholz 2004, S. 184. Eine umfangreiche Studie zu diesem Thema und seinen Auswirkungen in den Dämonen ist bereits Ende der 1970er Jahre entstanden: Siegmund Kastner: Thomismus und Roman. Studien zu Heimito von Doderers Roman „Die Dämonen“ in Zusammenschau mit den „Commentarii von 1951 bis 1956“. Phil. Diss., Wien 1978. Kastner geht am Beispiel einiger Figuren aus den Dämonen auf die Apperzeptionsproblematik ein, übernimmt dabei allerdings unreflektiert die von Doderer in den Tagebüchern vorgegebenen Prämissen und bleibt bei einer inhaltlichen Zusammenstellung der entscheidenden Handlungsstränge des Romans sowie der entsprechenden Tagebucheintragungen. 31 Der Begriff, der in den Tagebüchern, aber auch in den Romanen Die Strudlhofstiege und Die erleuchteten Fenster (1950) verwendet wird, bleibt in den Dämonen ungenannt. Das sich an den Figuren abzeichnende Entwicklungsprinzip folgt jedoch immer demselben Muster. 32 Henner Löffler: Dämonen und Subdämonen. In: Gassen und Landschaften. Heimito von Doderers „Dämonen“ vom Zentrum und vom Rande aus betrachtet. Hrsg. v. Gerald Sommer, Würzburg 2004 (= Schriften der Heimito von Doderer-Gesellschaft; Bd. 3), S. 293–308, hier: S. 294. 33 Vgl. Kerscher 1998, S. 159.

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einem Eintrag in den Tangenten34 vom 5. Mai 1946 – geschrieben, dies sei ein „barbarischer Irrtum“ (T 443) gewesen. In Anspielung auf Platons Höhlengleichnis heißt es weiter: „Ich stand im Eingang der Höhle mit dem Rücken nach außen und nahm mir also jegliches Licht.“ (T 443) Auch wenn aus dem Kontext hervorgeht, dass es um seine Verstrickung in den Nationalsozialismus geht, wird es nicht explizit ausgesprochen. Ebenso verfährt Doderer mit dem Thema in den Dämonen: Die Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit findet nicht direkt statt; man muss zwischen den Zeilen lesen. Doderer vermittelt die eigene ‚Dummheit‘ oder ‚Apperceptions-Verweigerung‘ und damit seine antisemitischen Ausfälle von einst und seine Mitgliedschaft in der NSDAP: Dies alles erscheint nun unter der Signatur der ‚Zweiten Wirklichkeit‘.35

Die durch Jahrzehnte in den Tagebüchern wiederholten apodiktischen Aussagen zum Themenfeld der Wirklichkeitswahrnehmung36 wirken wie ein Mittel der Selbstkonsolidierung und liefern Argumente für die Verweigerung politischer Auseinandersetzung. Für die Genese der Dämonen und insbesondere für die Entwicklung und Veränderung bestimmter Themenkomplexe liefern diese biographischen Hintergründe wichtige Anhaltspunkte. Es wäre allerdings verkürzt, das schriftstellerische Werk als Spiegelung dieser biographischen Problematik zu deuten und seine Bedeutung auf die Verdrängung und Sublimierung politischer Verfehlungen zu beschränken.37 Doderer war im April 1933 der NSDAP in Österreich beigetreten und hatte in den darauf folgenden Jahren versucht, sich als Schriftsteller innerhalb des ‚Dritten Reichs‘ zu etablieren. Doch trotz einiger Anbiederungsversuche und Bemühungen,

34 Heimito von Doderer: Tangenten. Tagebuch eines Schriftstellers 1940–1950 [1964]. München 2006. Im Folgenden abgekürzt als T. 35 Wendelin Schmidt-Dengler: Der erlösende Finalsatz – Die Überwindung des Fragmentarischen in Heimito von Doderers ‚Die Dämonen‘. In: Die Teile und das Ganze. Bausteine der literarischen Moderne in Österreich. Hrsg. v. Bernard Fetz und Klaus Kastberger, Wien 2003 (= Profile; Bd. 10), S. 232–241, hier: S. 236. 36 François Grosso stellt für den leitmotivischen Gebrauch des Apperzeptionsbegriffs in den Tagebüchern einen Zeitraum von 1939 bis 1966 fest. Vgl. Grosso 2009, S. 46. 37 So z. B. bei Hans-Joachim Schröder: Apperzeption und Vorurteil. Untersuchungen zur Reflexion Heimito von Doderers. Heidelberg 1976 (= Beiträge zur neueren Literaturgeschichte; Folge 3, Bd. 28), S. 449; Anton Reininger: Die Erlösung des Bürgers. Eine ideologiekritische Studie zum Werk Heimito von Doderers. Bonn 1975 (= Bonner Arbeiten zur deutschen Literatur; Bd. 30), S. 183. Martin Huber bezieht sich in seiner Kritik an Reiningers Arbeit explizit auf die Funktion der Musik in Doderers Werk, die „als Experiment zur Modernisierung des Erzählens ernst genommen werden muß. Doderers Bemühen, die Komplexität des Lebens partikular erzählerisch zu fassen, indem er sich neuen ‚musikalischen‘ Organisationsformen des Erzählens zuwandte, kann nicht mit dem ideologiekritischen Vorwurf abgetan werden, Doderer benütze die musikalischen Formen nur, um die Interpretation der Gesamtheit der Wirklichkeit verweigern zu können.“ Martin Huber: Text und Musik: Musikalische Zeichen im narrativen und ideologischen Funktionszusammenhang ausgewählter Erzähltexte des 20. Jahrhunderts. Frankfurt a. M. 1992 (= Münchener Studien zur literarischen Kultur in Deutschland; Bd. 12), S. 201.

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sich bei der Reichsschrifttumskammer beliebt zu machen, blieb der erwartete Erfolg aus.38 Auf seine sukzessive Abkehr vom Nationalsozialismus folgte die Konversion zum Katholizismus im Jahr 1939. Doderer blieb jedoch weiterhin passives Mitglied der Partei und wurde im April 1940 zur Wehrmacht eingezogen.39 Bereits im Jahr 1929 hatte Doderer angefangen, an dem Romanprojekt Die Dämonen der Ostmark zu arbeiten,40 in dem er die angebliche Spaltung und Unterwanderung der österreichischen Gesellschaft durch das Judentum darstellen wollte. Diesen Plan legte er u. a. in seinem Aide mémoire aus dem Jahr 1934 dar.41 Nach dem Kriegsende konnte Doderer die ursprünglich antisemitische Konzeption des Romans natürlich nicht beibehalten. Um den nun Die Dämonen genannten Roman dennoch veröffentlichen zu können, verwarf er einen Teil des Manuskripts, fügte einige neue Figuren und Episoden hinzu42 und verlegte den Antisemitismus in die Perspektive der Figuren: „Die antisemitischen Komplexe einer Reihe von Individuen sind Objekt der Darstellung“ (CI 67, 24.08.1951).43 Letztlich ging jedoch ein großer Teil der frühen Fassung in relativ unveränderter Form in den neuen Roman ein.44

38 Siehe auch Günther Nenning: Wenn Dichter politisch erkranken. Heimito von Doderer, Großschriftsteller Österreichs. In: „Flügel und Extreme“ Aspekte der geistigen Entwicklung Heimito von Doderers. Hrsg. v. Kai Luehrs-Kaiser und Gerald Sommer, Würzburg 1999 (= Schriften der Heimito von Doderer-Gesellschaft; Bd. 1), S. 162–170. 39 Eine ausführliche Untersuchung von Doderers Verhältnis zum Nationalsozialismus findet sich bei Alexandra Kleinlercher: Zwischen Wahrheit und Dichtung: Antisemitismus und Nationalismus bei Heimito von Doderer. Wien u. a. 2011 (= Literaturgeschichte in Studien und Quellen; Bd. 16). 40 Zur Genese der Dämonen siehe Elisabeth C. Hesson: Twentieth Century Odyssey. A Study of Heimito von Doderer’s ‚Die Dämonen‘. Columbia, SC 1982 (= Studies in German literature, linguistics and culture; Bd. 9), S. 20–53. Hesson widerspricht einer Selbstaussage Doderers, der den Beginn seiner Arbeit an den Dämonen auf das Jahr 1931 datiert. Sie vertritt die Meinung, das Romanprojekt habe bereits 1929 mit der Entwicklung des ‚Dicke-Damen‘-Themas erste Formen angenommen. Vgl. Hesson 1982, S. 21. 41 Heimito von Doderer: ‚Aide mémoire‘ zu: ‚Die Dämonen der Ostmark‘ [1934]. Hrsg. und kommentiert v. Gerald Sommer. In: Gassen und Landschaften. Heimito von Doderers „Dämonen“ vom Zentrum und vom Rande aus betrachtet. Hrsg. v. Gerald Sommer, Würzburg 2004 (= Schriften der Heimito von Doderer-Gesellschaft; Bd. 3), S. 39–72. Im Folgenden abgekürzt als AM. 42 Vgl. Kleinlercher 2011, S. 285. 43 Heimito von Doderer: Commentarii 1951–1956. Tagebücher aus dem Nachlass. Hrsg. v. Wendelin Schmidt-Dengler, München 1976. Im Folgenden abgekürzt als CI. 44 Vgl. Hesson 1982, S. 39. Die in der Österreichischen Nationalbibliothek vorliegende Fassung der 1930er Jahre umfasst 17 maschinenschriftliche Kapitel sowie ein weiteres handschriftlich vorliegendes Kapitel von 1940. Vgl. Kleinlercher 2011, S. 229 f. Zu den Streichungen, die zum Teil auch stilistisch begründet waren, siehe auch: Gerald Sommer: Der entbehrliche Dr. Hartog oder die ‚große Flut‘ überflüssigen Geredes. Anmerkungen zu ‚Die Dämonen der Ostmark‘. In: Gassen und Landschaften. Heimito von Doderers „Dämonen“ vom Zentrum und vom Rande aus betrachtet. Hrsg. v. Gerald Sommer, Würzburg 2004 (= Schriften der Heimito von Doderer-Gesellschaft; Bd. 3), S. 223–234, hier: S. 234. [= Sommer 2004a]. Kai Luehrs merkt zur Genese der Dämonen an: „Das Verblüffende an Doderers fragwürdigstem Roman bleibt der Grad seiner entstehungsgeschichtlichen Kontinuität, keineswegs die vordergründige Diskontinuität seiner Vollendung.“ Kai Luehrs: Das ausgefallene Zentrum

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Sollten Die Dämonen der Ostmark noch auf das Thema „Wasserscheide“ (TB 819, Juli 1936)45 zulaufen, mit dem ein ‚Apartheitsmodell‘ als Zielpunkt des Romans bezeichnet wurde,46 so lässt sich das Hauptthema der ‚zweiten Wirklichkeit‘ in den Dämonen als Auseinandersetzung mit der Entstehung von Ideologien verstehen. Zugleich wird jedoch eine problematische „Ideologie der Ideologielosigkeit“47 propagiert, die Wendelin Schmidt-Dengler zufolge dazu dient, die konservative Sicht zu kaschieren. Schmidt-Dengler weist auch auf die Distanzierung von antisemitischen Figuren hin, die in den Dämonen der Ostmark noch positiv gezeichnet waren.48 Auch wenn Doderer sich bemüht hat, in den Dämonen, „die antisemitischen Intentionen der 30er Jahre wahlweise als kritisierbare Objekte darzustellen oder ganz zu tilgen“,49 scheint es äußert fraglich, ob man so weit gehen kann zu behaupten, dass „die Umarbeitung der fünfziger Jahre daraus einen Roman gegen den Antisemitismus“50 gemacht habe. Die entschärften aber doch latent vorhandenen antisemitischen Tendenzen in den Dämonen können bei einer umfassenden Auseinandersetzung mit diesem Roman nicht außer Acht gelassen werden. Dies gilt insbesondere bei einem Fokus auf die Wahrnehmungsproblematik, auch wenn der ‚literarische Antisemitismus‘51 keinen Schwerpunkt dieser Arbeit bildet und es daher bei punktuellen Betrachtungen innerhalb der jeweiligen Kapitelschwerpunkte sowie Verweisen auf ausführlichere Darstellungen in der Sekundärliteratur bleiben muss. Aufgrund der erläuterten Verschiebung der Auseinandersetzung mit politischen Themen in den Bereich des (scheinbar) Privaten, wird die Thematik der ‚zweiten Wirklichkeit‘ in den Dämonen vor allem anhand persönlicher Verblendung und zwanghafter Vorstellungen verhandelt, die besonders gehäuft im Bereich der

der ‚Dämonen‘. Heimito von Doderers Studien I–III zu den ‚Dämonen der Ostmark‘. In: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch 36 (1995), S. 243–276, hier: S. 247. 45 Heimito von Doderer: Tagebücher 1920–1939. Zwei Bände. Hrsg. v. W. Schmidt-Dengler, M. Loew-Cadonna und G. Sommer, München 1996. Im Folgenden abgekürzt als TB. 46 Vgl. Gerald Sommer: In die ‚Sackgasse‘ und wieder hinaus. Über den zur Romantendenz erhobenen Antisemitismus in Heimito von Doderers ‚Aide mémoire‘. In: Gassen und Landschaften. Heimito von Doderers „Dämonen“ vom Zentrum und vom Rande aus betrachtet. Hrsg. v. Gerald Sommer, Würzburg 2004 (= Schriften der Heimito von Doderer-Gesellschaft; Bd. 3), S. 73–86 hier: S. 82. [= Sommer 2004b]. 47 Wendelin Schmidt-Dengler: Unsichtbare Grenzen. Zur Funktion eines Bildes in Heimito von Doderers ‚Die Dämonen‘. In: Gassen und Landschaften. Heimito von Doderers „Dämonen“ vom Zentrum und vom Rande aus betrachtet. Hrsg. v. Gerald Sommer, Würzburg 2004 (= Schriften der Heimito von Doderer-Gesellschaft; Bd. 3), S. 325–336, hier: S. 334. [= Schmidt-Dengler 2004b]. 48 Vgl. Schmidt-Dengler 2004b, S. 334 f. 49 Sommer 2004b, S. 86. 50 Hans-Albrecht Koch: ‚Wurzelbärte von Bedeutungen‘. Zur Sprache in Heimito von Doderers ‚Dämonen‘. In: Modern Austrian Literature 31 (1998), H. 1, S. 84–97, hier: S. 90. 51 Siehe Klaus-Michael Bogdal: Literarischer Antisemitismus nach Auschwitz. Perspektiven der Forschung. In: Literarischer Antisemitismus nach Auschwitz. Hrsg. Klaus-Michael Bogdal, Klaus Holz, Matthias N. Lorenz, Stuttgart 2007, S. 1–12.

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Sexualität angesiedelt sind. Dies erklärt sich aus Doderers Auffassung, das Erotische sei „unser wirksamstes Apperzeptions-Organ“ (T 838), welches allerdings oftmals gestört sei, so dass die Wahrnehmungsfähigkeit insgesamt beeinträchtig werde. Meine These ist, dass der Erotik, ähnlich wie der Musik in den Dämonen eine ambivalente Funktion zukommt und sie einerseits zur Verstrickung in eine ‚zweite Wirklichkeit‘ beiträgt, andererseits jedoch ebenso zu einer Befreiung von dieser führen kann, wobei erhebliche geschlechtsspezifische Differenzen in der Entwicklung der Figuren bestehen. Als entwicklungsfördernder oder entwicklungshemmender Faktor scheint der Bereich des Erotischen geschlechtsspezifisch sehr unterschiedlich besetzt zu sein, weshalb ich die textinternen Geschlechterdifferenzen in Bezug auf die Wirklichkeitswahrnehmung der Figuren sowie die Überschneidungen und Wechselwirkungen zwischen Musik und Erotik untersuchen werde. Die multiperspektivische Anlage der Dämonen ermöglicht zudem eine Betrachtung des (fiktiven) geschlechtsspezifischen Umgangs mit Erzählen und Verschriftlichung – neben diversen männlichen Erzählern und weiblichen Mitarbeiterinnen an Geyrenhoffs Chronik findet sich auch eine weibliche Erzählerin, die ihre eigene nächtliche Chronik in Form eines Nachtbuchs schreibt –, so dass in dieser Arbeit auch nach den Funktionen „der Darstellung weiblicher und männlicher Perspektiven im Rahmen des textuellen Wirkungspotenzials“52 gefragt wird. Da anhand der Bereiche Musik und Erotik die Wahrnehmungsthematik im Roman verhandelt wird, die sich oftmals auf Rezeptionsund Produktionsprozesse von Sprache und Kunst bezieht, ist damit auch die Frage nach der poetologischen Selbstreflexion im Roman verbunden und den metanarrativen Strategien, die besonders bei den vielen schreibenden Figuren und fiktiven Schriftstücken zum Tragen kommen. Unabhängig von den Figuren ist dem Komplex der Erotik in den Dämonen eine erkenntnistheoretische Ebene inhärent,53 deren Auswirkungen u. a. anhand der Raumsemantik und der Metaphorik nachgezeichnet werden sollen, wobei wiederum nach den semantischen Zuordnungen von Weiblichkeit und Männlichkeit,54 nach den intertextuellen Bezügen auf sexualwissenschaftlich-philosophische Diskurse,

52 Gaby Allrath und Carola Surkamp: Erzählerische Vermittlung, unzuverlässiges Erzählen, Multiperspektivität und Bewusstseinsdarstellung. In: Erzähltextanalyse und Gender Studies. Hrsg. v. Vera Nünning und Ansgar Nünning, Stuttgart 2004 (= Sammlung Metzler: Einführungen, Methodenlehre; Bd. 344), S. 143–179, hier: S. 160. 53 Vgl. Anja Gerigk: Erotische Strukturen – epistemologische Modernität. Zum gattungsgeschichtlichen Ort von Doderers ‚Strudlhofstiege‘. In: Modern Austrian Literature 41 (2008), H. 1, S. 23–41, hier: S. 26. 54 Zur „Geschlechtsstereotype[n] Symbolisierung von Räumen“, wie Natur/Stadt, Heimat/Fremde, Oben/Unten, vgl. Natascha Würzbach: Raumdarstellung. In: Erzähltextanalyse und Gender Studies. Hrsg. v. Vera Nünning und Ansgar Nünning, Stuttgart 2004 (= Sammlung Metzler: Einführungen, Methodenlehre; Bd. 344), S. 49–71, hier: S. 50.

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wie Otto Weiningers in Geschlecht und Charakter (1903)55 entwickelter Geschlechtertheorie, und nach gegebenenfalls den normativen Geschlechtszuschreibungen zuwiderlaufenden Tendenzen gefragt wird. Sigrid Nieberle hat darauf hingewiesen, dass „das Konzept der Menschwerdung in Doderers Œuvre [. . .][bisher] erstaunlich geschlechtsneutral diskutiert“56 wurde. Die zentralen männlichen Figuren der Dämonen, an denen unterschiedliche Formen der Bewusstseinstrübung vorgeführt werden, waren bereits des Öfteren Gegenstand literaturwissenschaftlicher Untersuchungen zu Doderers Werk,57 eher marginal wurden dagegen die weiblichen Figuren behandelt. Gerade aber die Interferenzen in der Funktionalisierung von Musik und Erotik zeigen sich besonders deutlich an einigen der weiblichen Figuren. Auch wenn es in der Sekundärliteratur nicht am Bewusstsein für die bedeutende Rolle der Erotik in Doderers Werk mangelt, gibt es doch zumindest für die Dämonen keine weiterführenden Arbeiten, welche die Geschlechterkonzeption entsprechend berücksichtigen, so dass hier eine Forschungslücke besteht, die ich mit dieser Arbeit schließen möchte.58 Dabei geht es nicht darum, Doderers misogynes Frauenbild nachzuzeichnen, welches Sigrid Nieberle zufolge „besonders reaktionär [ist][. . .], weil er den Frauenfiguren in seinen Romanen keine Entwicklung zugesteh[t],“59 sondern darum, die narrativen Strategien aufzudecken, mit denen Musik und Erotik – und damit eben auch Geschlecht – innerhalb der Wahrnehmungsproblematik funktionalisiert werden. Da ich einen gender-orientierten Ansatz zugrunde lege und davon ausgehe, dass „die Kategorie ‚Geschlecht‘ selbst bereits eine kulturell generierte Geschlechterkategorie (gendered category) [ist], die vollständig politisch besetzt, und obgleich naturalisiert, nicht natürlich ist“60, gehen die Korrelationen von biologischem mit sozialem Geschlecht und bestimmten Sexualpräferenzen, d. h. die Kategorien Geschlecht, Geschlechtsidentität und Begehren,61 als narrative Konstrukte in die Textanalyse mit ein.

55 Otto Weininger: Geschlecht und Charakter. Eine prinzipielle Untersuchung [1903]. Nachdruck der 1. Auflage, München 1980. Im Folgenden zitiert als Weininger 1903. 56 Sigrid Nieberle: Metalepsen: Heimito von Doderer: Die erleuchteten Fenster oder die Menschwerdung des Amtsrates Julius Zihal. In: Narration und Geschlecht. Texte-Medien-Episteme. Hrsg. v. Sigrid Nieberle und Elisabeth Strowick, Köln 2006 (= Literatur, Kultur, Geschlecht: Studien zur Literatur- und Kulturgeschichte; Bd. 42), S. 117–140, hier: S. 130. 57 Hier ist insbesondere Hubert Kerscher zu nennen, der u. a. die anhand sexueller Obsessionen dargestellte ‚Bewusstseinsverengung‘ in den Dämonen analysiert. Vgl. Kerscher 1998, S. 174–245. 58 Zu diesem Forschungsdesiderat sowie methodisch problematischen Ansätzen in der Sekundärliteratur siehe auch Kap. 2 Forschungsstand. 59 Nieberle 2006, S. 129. Auch wenn diese Aussage in weiten Teilen zutreffend ist, denke ich, dass man bei einigen der weiblichen Hauptfiguren dennoch eine Entwicklung verzeichnen kann, die allerdings eine andere Zielrichtung hat, als die männlichen Idividuationsgeschichten. 60 Judith Butler: Das Unbehagen der Geschlechter [1990]. Frankfurt a. M. 1991, S. 168. 61 Vgl. Buttler 1991, S. 22 f.

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Diese Arbeit ist in zwei Hauptteile zur Funktion der Musik62 und zur Funktion der Erotik63 gegliedert. Um die bisher nicht erforschten Wechselwirkungen dieser eng miteinander verknüpften Bereiche darstellen zu können, werde ich an einigen Stellen den jeweils anderen Aspekt einbeziehen, so dass beispielsweise die musizierenden Figuren Mary K. und Quapp nicht nur im Hinblick auf die Verknüpfung von Musikalität und Apperzeption, sondern auch im Kontext der ambivalenten Semantisierung von Weiblichkeit innerhalb des Themenfeldes der ‚zweiten Wirklichkeit‘ betrachtet werden. Ebenso verhält es sich mit der Binnengliederung des ersten Hauptteils in einen ersten Abschnitt, in dem die Thematisierung von Musik in den Dämonen im Fokus steht,64 und einen zweiten Abschnitt, in dem die Imitation von Musik und die Transformation musikalischer Strukturen und Techniken in diesem Roman analysiert werden.65 Auch hier wäre eine statische Abgrenzung der Aspekte nicht zielführend, da die Thematisierung und Imitation von Musik oftmals zusammenhängt. Im zweiten Teil der Arbeit werden die sexuellen Obsessionen, von denen ausschließlich die männlichen ‚Apperzeptionsverweigerer‘ betroffen sind, im Kontext der Wahrnehmungsthematik analysiert.66 Daran anschließend werden Aspekte der Dämonisierung und Sublimierung von ‚Weiblichkeit‘, deren Mortifikation innerhalb männlicher Individuationsprozesse und die Überlagerungen mit der Mythisierung des Romans untersucht.67 Es bleibt abzuklären, auf welche anderen Bereiche in den Dämonen sich die Erotisierung erstreckt und inwiefern die Erotisierung bzw. Sexualisierung von Räumen, Figuren oder auch der Darstellung von Rezeptionsprozessen sowie poetologischen Reflexionen mit einer Musikalisierung einhergeht und welche Prozesse bei dieser Literarisierung zum Tragen kommen. Eine wichtige Funktion kommt dabei den als Binnentexten in die Romanhandlung integrierten fiktiven Manuskripte zu, welche anhand der damit verbundenen Thematisierung von Prozessen der Verschriftlichung metapoetische Deutungsangebote darstellen, die im Kontext der ‚zweiten Wirklichkeit‘ erörtert werden. Doderer verknüpft in dem polyzentrischen Aufbau des Romans die Schicksale einer Vielzahl von Figuren und weit auseinander liegende Erzählstränge, die jedoch von immer wiederkehrenden sprachlichen Motiven und Bildgefügen zusammengehalten werden und auf einen gemeinsamen „Finalpunkt“68 zulaufen. Dieses Verfahren 62 Siehe Kap. 4 Thematisierung und Imitation von Musik in ‚Die Dämonen‘. 63 Siehe Kap. 5 Sexualität und Erotisierung im Kontext der ‚(Nicht-)Apperzeption‘. 64 Siehe Kap. 4.1 Musikalität und Apperzeption und Kap. 4.2 ‚Nicht-Kunst‘ und ‚ApperzeptionsVerweigerung‘. 65 Siehe Kap. 4.3 Musikalisierung – Imitation und Evokation von Musik. 66 Siehe Kap. 5.1 Sexuelle Obsessionen als ‚zweite Wirklichkeit‘. 67 Siehe Kap. 5.2 Das ‚andere Geschlecht‘ – Dämonisierung und Sublimierung. 68 Dieser Begriff, den Dietrich Weber in Bezug auf die Handlung der Strudlhofstiege verwendet, deren Handlungsstränge ebenfalls auf einen gemeinsamen ‚Finalpunkt‘ zulaufen, wird im Folgenden für die Dämonen übernommen. Dietrich Weber: Heimito von Doderer. München 1987 (= Autorenbücher; Bd. 45), S. 48.

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wird mehrmals von dem fiktiven Chronisten Geyrenhoff thematisiert, der bereits in der Ouvertüre den auf die Struktur des gesamten Romans übertragbaren programmatischen Satz äußert: „[I]n der Tat gälte es nur, den Faden an einer beliebigen Stelle aus dem Geweb’ des Lebens zu ziehen, und er liefe durchs Ganze, und in der nun breiteren offenen Bahn würden auch die anderen, sich ablösend, einzelweis sichtbar.“ (DD 11) Auf diese poetologische Metapher des Gewebes, welche nicht nur auf die linear-horizontale Verflechtung sondern auch auf die vertikalen, paradigmatischen Rekurrenzen der einzelnen Handlungsstränge und Motive verweist, werde ich im Lauf dieser Arbeit zurückkommen; insbesondere wenn es um die strukturalistisch-semiotisch inspirierte Analyse der Tiefenstrukturen geht, mit der in Anlehnung an Lévi-Strauss’ Mythenanalyse die ‚musikalischen‘ Strukturen im Text nachvollzogen werden sollen.69 Mit einem gender-orientierten Ansatz wird die Musterbildung in Bezug auf Erotik, Sexualität und Geschlecht untersucht sowie die Ambivalenzen in der narrativen Konstruktion von Geschlechtszuschreibungen70 und die damit einhergehenden Implikationen für die Wahrnehmungsthematik herausgestellt. Bisher marginalisierte Aspekte in der Sekundärliteratur zu den Dämonen sowie Leerstellen im Roman werden dabei in den Blick genommen und durch intertextuelle Bezüge erweitert. Da in den Dämonen Handlungsstränge aus der Strudlhofstiege fortgesetzt werden und die Entwicklung einiger Figuren und Motive sich über beide Romane erstreckt, wird dieser aus der Arbeit an dem Dämonen-Projekt hervorgegangene Roman einbezogen. Dies betrifft die gesamte Arbeit, da sowohl inhaltliche Aspekte, wie die Thematisierung von Musik im romanübergreifenden Handlungsstrang um Mary K., als auch formale Aspekte der Imitation von Musik wie die Wiederholungsstrukturen in der Strudlhofstiege und den Dämonen sowie die sexuell konnotierte Mythisierung bestimmter Orte und Figuren in beiden Romanen eine intertextuelle Betrachtung sinnvoll erscheinen lassen.

69 Dabei greife ich einen Ansatz Martin Brinkmanns auf, der die Methoden der strukturalistischen Mythenanalyse für die Interpretation von Doderers Divertimenti heranzieht. Siehe Martin Brinkmann: Musik und Melancholie im Werk Heimito von Doderers. Wien u. a. 2012 (= Literaturgeschichte in Studien und Quellen; Bd. 21), S. 185–194. Die methodischen Voraussetzungen zum intermedialen Forschungsfeld Musik in der Literatur werden in einem gesonderten Kapitel behandelt. Siehe Kap. 3 Die Musikalisierung von Literatur – Theoretische Vorüberlegungen zu einem intermedialen Forschungsfeld. 70 Vgl. Vera Nünning und Ansgar Nünning: Von der feministischen Narratologie zur ‚gender‘-orientierten Erzähltextanalyse. In: Erzähltextanalyse und Gender Studies. Hrsg. v. Vera Nünning und Ansgar Nünning, Stuttgart 2004 (= Sammlung Metzler: Einführungen, Methodenlehre; Bd. 344), S. 1–32, hier: S. 22.

2 Forschungsstand Die gesellschaftliche und literaturwissenschaftliche Resonanz auf Doderers Werke hat lange auf sich warten lassen. Erst die Veröffentlichung der Strudlhofstiege im Jahr 1951 brachte den schriftstellerischen Durchbruch.1 Auf diesen späten Erfolg bezieht sich die Überschrift Der Spätzünder, unter der 1957 – ein Jahr nach der Veröffentlichung der Dämonen – eine Titelgeschichte in der Zeitschrift Der Spiegel erschien. Doderers Postulat der „Priorität der Form vor den Inhalten“, durch die „der Roman zum eigentlichen Sprachkunstwerk“ (WdD 163) werde, und seine Selbstdarstellung als am Reißbrett ‚komponierender‘ Schriftsteller werden darin übernommen und die ‚architektonische‘ Vorstrukturierung seiner Werke betont.2 Die vom Autor vorgegebenen Prämissen prägen v. a. die ersten literaturwissenschaftlichen Arbeiten zu Doderers Werk. Aber auch in neueren Forschungsbeiträgen lässt sich immer wieder die methodisch problematische Tendenz feststellen, Doderers Vokabular unreflektiert zu übernehmen und gerade im Hinblick auf die Wahrnehmungsthematik sowie die erotisch-sexuellen Themenkomplexe in den Dämonen biographische Erklärungsmuster heranzuziehen. Innerhalb der Frage nach der Musik in Doderers Werk lassen sich einerseits Beiträge verzeichnen, die weitgehend undifferenziert die ‚Musikalität‘ der Dodererschen Literatur betonen, wobei häufig ein metaphorischer Gebrauch musikalischer Termini festzustellen ist; andererseits finden sich methodisch elaborierte Studien zu musikalisierenden Aspekten in Doderers kürzeren Erzählungen, wie den Divertimenti. Die differenzierte Untersuchung der musikähnlichen Strukturen in den großen Romanen wie der Strudlhofstiege und den Dämonen stellt dagegen ein Desiderat der Doderer-Forschung dar. Zudem wird in vielen Beiträgen der Sekundärliteratur zu den Dämonen zwar die zentrale Stellung der Erotik innerhalb der Wahrnehmungsthematik zur Kenntnis genommen, die Synthese der Bereiche Musik und Erotik sowie die geschlechtsspezifische Semantisierung von Wahrnehmung und ‚zweiter Wirklichkeit‘ wurden dagegen bisher nicht erforscht. Auf einige der grundlegenden Untersuchungen zu den Dämonen wurde bereits in der Einleitung hingewiesen, die konkrete Bezugnahme auf weitere Forschungsbeiträge folgt in den entsprechenden Kapiteln, so dass ich mich im Folgenden auf einen Überblick der Beiträge beschränke, die sich mit den für meine Arbeit entscheidenden Aspekten beschäftigen. Zunächst werden die einschlägigen Untersuchungen zur Musik in Doderers Werk knapp umrissen. Im Anschluss daran werden

1 Die literarischen Werke der 20er und 30er Jahre wurden dagegen lange Zeit kaum zur Kenntnis genommen und sind erst in den letzten Jahren vermehrt ins literaturwissenschaftliche Blickfeld geraten. 2 [Anonym]: Doderer. Der Spätzünder. In: Der Spiegel 23 (1957), S. 53–58, hier: S. 57. Bereits das Portraitfoto Doderers auf der Titelseite der Zeitschrift ist unterschrieben mit: „Roman vom Reissbrett“. https://doi.org/10.1515/9783110715484-002

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Beiträge zu Erotik, Sexualität und Geschlechterkonzeptionen bei Doderer sowie die Sekundärliteratur zu den Dämonen vorgestellt. Heinz Politzer ist mit seiner Gedenkrede Zeit, Wirklichkeit und Musik im Werk Heimito von Doderers (1968)3 einer der Ersten, der explizit über Musik in Doderers Werk schreibt. Allerdings bleibt es in dem kurzen Beitrag bei nicht weiter erläuterten Feststellungen, wie etwa dem leitmotivischen Charakter der Ouvertüre zu den Dämonen oder der Rondo-Form der Merowinger. Politzer stellt jedoch die Musikalisierung von Doderers Werken in den Zusammenhang mit einer Modernität, die zu Beginn der Doderer-Rezeption kaum gesehen wurde, wenn er meint, dass sich Doderer „mit der Musikalisierung seiner Epik allem eingeborenen Traditionalismus zu Trotz dem experimentellen Roman verschrieben hatte“.4 Die wichtige Stellung der Musik in Doderers Werk wurde inzwischen häufiger in der Sekundärliteratur hervorgehoben,5 ihre Funktion aber selten präzisiert. Einige Arbeiten widmen sich den weniger umfangreichen Werken wie den Divertimenti,6 der Sonatine7 und den Sieben Variationen über ein Thema von Johann Peter Hebel,8 die

3 Heinz Politzer: Zeit, Wirklichkeit und Musik im Werk Heimito von Doderers. Eine Gedenkrede. In: Das Schweigen der Sirenen. Studien zur deutschen und österreichischen Literatur. Hrsg. v. Heinz Politzer, Stuttgart 1968, S. 70–78. 4 Politzer 1968, S. 75 f. 5 Eine Arbeit über Doderer und die Musik, die hier aufgrund der methodischen Ausrichtung nicht berücksichtigt wird, ist der von Helmut Pany herausgegebene Band Des Dichters Saitenspiel. Heimito von Doderer und die Musik (Wien 1993). Pany hat darin Texte zusammengestellt, in denen Doderer nahestehende Personen ihre Erinnerungen festhalten, die biographisch-anekdotenhaft die Wichtigkeit der Musik in Doderers Leben spiegeln sollen. Wendelin Schmidt-Dengler hat auf die ausgeprägte Geräuschkulisse der Erzählungen und Romane Doderers hingewiesen, die zur Musikalisierung der Literatur beitragen kann. Wendelin Schmidt-Dengler: Posaunenklänge: Lautes und Leises bei Doderer. In: „Erst bricht man Fenster ein, dann wird man selber eines.“ Zum 100. Geburtstag von Heimito von Doderer. Hrsg. v. Gerald Sommer und Wendelin Schmidt-Dengler, Riverside, Calif. 1997 (= Studies in Austrian literature, culture, and thought), S. 93–106. Hans Winking weist in seinem Aufsatz auf die biographische Bedeutung der Musik für Doderer und auf Musik als Thema in seinen Werken hin. Die Funktion der „Musik als literarisches Konstruktionsprinzip“ wird zwar genannt, ohne jedoch näher darauf einzugehen. Hans Winking: „Lauschen – nicht Lärmen!“ Musik und Musiker bei Heimito von Doderer. In: Österreichische Musikzeitschrift 70 (2015), H. 5, S. 6–13, hier: S. 11. 6 Als Divertimento hat Doderer sieben Erzählungen betitelt, die zwischen 1924 und 1951 entstanden sind. Heimito von Doderer: Die Erzählungen. Hrsg. v. Wendelin Schmidt-Dengler, München 2006, S. 9–189. Im Folgenden abgekürzt als E. Zu den Entstehungsdaten und Erstveröffentlichungen siehe Anmerkungen des Herausgebers (E 507). 7 Heimito von Doderer: Sonatine [1959/1961]. In: Die Erzählungen. Hrsg. v. Wendelin SchmidtDengler, München 2006, S. 327–329. Die kurze Erzählung besteht aus drei Teilen, die unabhängig voneinander in den Jahren 1959 und 1961 entstanden sind. Vgl. Anmerkungen zu Heimito von Doderer: Die Erzählungen. Hrsg. v. Wendelin Schmidt-Dengler, München 2006, S. 510. 8 Heimito von Doderer: Sieben Variationen über ein Thema von Johann Peter Hebel [1927]. In: Die Erzählungen. Hrsg. v. Wendelin Schmidt-Dengler, München 2006, S. 190–207. Im Folgenden abgekürzt als E.

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den musikalischen Bezug bereits im Titel tragen.9 Der Beitrag von Klaus Heydemann zu Doderers Divertimenti (1975) liefert für die in den frühen Erzählungen entwickelte ‚phrasierte Motivtechnik‘ wichtige Hinweise, die auch für die Wiederholungsstrukturen in den Dämonen von Bedeutung sind. Mit der Musik als strukturellem Vorbild für Doderers Textproduktion setzt sich Martin Huber in dem Kapitel „Die Form als Entelechie des Inhalts. Zur Verwandtschaft von Symphonie und Roman bei Heimito von Doderer“ seiner 1992 erschienenen Dissertation Text und Musik. Musikalische Zeichen im narrativen und ideologischen Funktionszusammenhang ausgewählter Erzähltexte des 20. Jahrhunderts kritisch auseinander, wobei er ausgehend von dem literaturtheoretischen Essay Grundlagen und Funktion des Romans Doderers Musikästhetik untersucht und die metaphorische Verwendung musikalischer Termini hervorhebt. So geht Huber auch auf terminologische Ungenauigkeiten ein, die er durch „Doderers mangelndes Interesse an einer musiktheoretischen Absicherung der Kategorien seiner ‚Erzähltheorie‘“ erklärt, da die Musik für Doderer v. a. eine „poetologische Reflexionsebene“10 darstelle. Dies wird an den Begriffen des ‚Vorhalts‘ und der „sprachlichen Kadenz“ (WdD 168) verdeutlicht, die Doderer aus der Musik auf den Roman transferiert.11 Den ausgeprägten Musikbezug bei Doderer versteht Huber ebenso wie Politzer als Modernisierungsversuch im Zusammenhang mit den in Grundlagen und Funktion des Romans geforderten „neue[n] technische[n] Mittel[n] [, welche] die Kunst immer neu zu begründen [vermögen]“ (WdD 173). Da Musik „besonders deutlich das permanente dialektische Wechselverhältnis zwischen Form und Inhalt sichtbar werden“ lasse, sei sie „die hörbare Umsetzung der Form als Entelechie des Inhalts.“12 Die Funktion der Musik für modernes Erzählen liege daher in der „Priorität der Formästhetik“13 begründet, die in der ‚absoluten‘ Musik am deutlichsten sichtbar wird und auch die Literatur des zwanzigsten Jahrhunderts prägt. Den „Text als Partitur“ zu verstehen, heißt demnach, „den Text als textum, als mehrfach verwobenes

9 Zu nennen wären hier u. a. folgende Beiträge: René Tschirky: Heimito von Doderers ‚Posaunen von Jericho‘. Versuch einer Interpretation. Berlin 1971 (= Philologische Studien und Quellen; Bd. 60); Klaus Heydemann: Doderers Divertimenti. In: Sprachkunst. Beiträge zur Literaturwissenschaft 6 (1975), S. 346–361; Lech Kolago: Studien zur Literatur und Musik. Warschau 1993 (= Studien zur Deutschkunde; Bd. 9); Reinhold Treml: Doderers Sonatine. ‚List‘ des Erzählers und Tiefe der Jahre. In: „Erst bricht man Fenster ein, dann wird man selber eines.“ Zum 100. Geburtstag von Heimito von Doderer. Hrsg. v. Gerald Sommer und Wendelin Schmidt-Dengler, Riverside, CA 1997 (= Studies in Austrian literature, culture, and thought), S. 121–135; Andreas Sichelstiel: Musikalische Kompositionstechniken in der Literatur. Möglichkeiten der Intermedialität und ihrer Funktion bei österreichischen Gegenwartsautoren. Essen 2004 (= Fora: Studien zu Literatur und Sprache; Bd. 8). 10 Huber 1992, S. 196. 11 Huber 1992, S. 196–198. 12 Huber 1992, S. 200. 13 Huber 1992, S. 152.

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Gewebe wieder sichtbar [zu machen], als Konstrukt, dessen Schichten horizontal wie vertikal zu verfolgen sind.“14 Für die Bedeutung der Musik in Doderers Werk liefert Albrecht Hubers sperrige Dissertation Die Epiphanie des „Punkts“ oder ‚Die Begegnung mit einem Lichte‘. Heimito von Doderers ‚mythisch-musikalische Poetik‘ im Kern-Raum des ‚Ereignisses‘15 aus dem Jahr 1994 kaum weiterführende Erkenntnisse. Der Bezug des Titels auf die ‚mythisch-musikalische Poetik‘ verweist auf den metaphorischen Gebrauch der musikalischen Terminologie, die in diesem Werk eher zur Bedeutungsverschleierung beiträgt und als Struktur für die Gliederung der Arbeit dient, welche mit den Kapitelüberschriften „Exposition“, „Durchführung“, „Reprise“ und „Coda“ selbst die Sonatensatzform imitiert. In Bezug auf Die Dämonen stellt Albrecht Huber fest: „Aus der Steigerung des Bach-Motivs ‚erfließt‘ das verbindliche Strukturprinzip des Romans“, welches er als Vereinigung von Statik und Dynamik im „mythischen [Strömen]“16 bezeichnet. Mit dem Verweis auf die lautliche Rekurrenz des Bach-Motivs vom Beginn des Romans auf den Komponisten J. S. Bach wird diese Beobachtung in einen musikalischen Bezug gestellt,17 der jedoch nur punktuell konstatiert wird, ohne konkretere Analysen anzustellen.18 Die umfassende Arbeit zur Musik im Werk Heimito von Doderers (1996)19 von Torsten Buchholz zeichnet nach eigener Angabe eine „kleine, auch in ihren Brüchen noch erstaunlich einheitliche, Werkgeschichte [nach][. . .], die vom Anfang bis zum Ende des schriftstellerischen Weges reicht“,20 und damit die Kontinuität der Musikaffinität in Doderers Schaffen aufzeigt. Buchholz stellt die biographischen und philosophischen Einflüsse dar, die Doderers Musikverständnis geprägt haben, und untersucht ausgehend von den Divertimenti, die er als Grundlage für die Entwicklung der Musikalisierung der späten Werke sieht (insbesondere geht er dabei auf den Roman No 7 ein), Doderers Romane und Erzählungen sowohl strukturell als auch inhaltlich auf ihren musikalischen Gehalt. Während für einige der frühen

14 Huber 1992, S. 166. 15 Albrecht Huber: Die Epiphanie des „Punkts“ oder: ‚Die Begegnung mit einem Lichte‘. Heimito von Doderers ‚mythisch-musikalische Poetik‘ im Kern-Raum des ‚Ereignisses‘. Würzburg 1994 (= Epistemata, Reihe Literaturwissenschaft; Bd. 128). 16 A. Huber 1994, S. 301. 17 Vgl. A. Huber 1994, S. 302. 18 In diesem Zusammenhang kann auch Martin Mosebachs Aufsatz Stumme Musik der Geometrie genannt werden, in dem eine ähnlich vage „musikalische Wirkung“ von Doderers Romanen konstatiert wird. Martin Mosebach: Stumme Musik der Geometrie. Zur Epik Heimito von Doderers. In: „Flügel und Extreme“. Aspekte der geistigen Entwicklung Heimito von Doderers. Hrsg. v. Kai Luehrs-Kaiser und Gerald Sommer, Würzburg 1999 (= Schriften der Heimito von Doderer-Gesellschaft; Bd. 1), S. 208–219, hier: S. 218. 19 Torsten Buchholz: Musik im Werk Heimito von Doderers. Frankfurt a. M. 1996 (= Europäische Hochschulschriften, Reihe 1: Deutsche Sprache und Literatur; Bd. 1573). 20 Buchholz 1996, S. 13.

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Erzählungen entscheidende Erkenntnisse in Bezug auf die Funktion der Musikimitationen gewonnen werden, bleibt Buchholz in dem knappen Kapitel zu den Dämonen leider größtenteils bei einer inhaltlichen Beschreibung der wichtigsten Musikthematisierungen, ohne dass eine weiterführende Deutung anschließen würde. Eine Ausnahme bildet der Abschnitt über die Violinistin Quapp, auf deren musikalische Karriere etwas ausführlicher eingegangen wird. Die Dämonen bezeichnet Buchholz als „eines der größten Entschuldigungsschreiben der Weltliteratur“,21 dessen Ausrichtung er scheinbar im Gegensatz zu dem „alten und neuen neutralen Weg ‚Musik und Literatur‘“22 sieht, den Doderer v. a. im Divertimento No VII und dem Roman No 7 verfolge. Den dreiteiligen Aufbau des Romans mit der vorangestellten Ouvertüre deutet Buchholz im Zusammenhang mit dem Sonatensatz23 und der Gegenüberstellung der „Vier-Satz-Form“, die bei Doderer im Zusammenhang mit „dem Prinzip des indirekten Weges“24 stehe, und der dreiteiligen Form, die „für das Unnatürliche [die ‚zweite Wirklichkeit‘] reserviert“25 sei. Trotz der verkürzten Sicht auf Die Dämonen bietet die Arbeit einen guten Überblick als Ausgangspunkt für Fragen zur Musikalisierung von Doderers Werken, zumal sich einige der Erkenntnisse, die im Zuge der Analysen der Erzählungen gewonnen werden, durchaus auf Aspekte in den großen Romanen übertragen lassen. Hier sind insbesondere die Erläuterungen der musikalisch inspirierten Motivtechnik zu nennen, deren Entwicklungslinien Buchholz von den Divertimenti bis zu den späten Romanen nachzeichnet. Eine Untersuchung des Zusammenhangs zwischen Harmonik und dem in Doderers Werk stark ausgeprägten Proportionsdenken liefert Eugen Banauchs Arbeit zu Stifter und Doderer. Harmonik in erzählender Prosa (2001).26 Interessant sind einige Überlegungen zu Analogien zwischen der Sonatensatzform und dem Aufbau der Strudlhofstiege bzw. eine „dem vierteiligen Ganzen [übergeordnete rondoartige] Gliederung“,27 die im Zusammenhang mit der Figur Mary K. in dieser Arbeit aufgegriffen werden. Die zentrale Stellung der Figur Leonhard und des mit ihm verbundenen Pico della Mirandola-Zitates weist Banauch nach, indem er die Struktur des Romans durch Seitenzählung in Bezug zu musikalischen Proportionen setzt.28 Für

21 Buchholz 1996, S. 160. 22 Buchholz 1996, S. 161. 23 „Der dreiteilige Sonatensatz beinhaltet nun nicht [. . .] Exposition – Durchführung – Reprise, also die Sonatenhauptsatzform des ersten Satzes, sondern die Satzfolge schnell – langsam – schnell ohne den dritten Satz des Menuetts (Scherzos)“. Buchholz 1996, S. 242. 24 Buchholz 1996, S. 242. 25 Buchholz 1996, S. 243. 26 Eugen Banauch: Stifter und Doderer. Harmonik in erzählender Prosa. Wien 2001 (= Harmonikales Denken; Bd. 2). 27 Banauch 2001, S. 62. 28 Vgl. Banauch 2001, S. 80 f. Das methodische Vorgehen Banauchs ist nicht nur an dieser Stelle etwas fragwürdig. Siehe dazu Gerald Sommer: Rez. zu Eugen Banauch: Stifter und Doderer. Harmonik in erzählender Prosa. (Wien 2001). In: Gassen und Landschaften. Heimito von Doderers „Dämo-

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das Verständnis der Funktionen von Musik bzw. Musikalisierung in den Dämonen liefert Banauchs Herangehensweise kaum Erkenntnisse. Auf die Verknüpfung von Doderers Romantheorie mit musikalischer Terminologie geht Fabian Lampart in seinem Aufsatz Statik und ‚Fatologie‘. Zur Kontamination musikalischer und narrativer Strukturen in Heimito von Doderers Romantheorie (2006) ein, in dem er Doderers „Fixierung auf musikalische Begrifflichkeiten“ durch den „universalistisch-synthetischen Anspruch [. . .], den er an den modernen Roman stellt“,29 erklärt und eine angestrebte Analogie zwischen Symphonie und Roman konstatiert. Auf die musikalischen Strukturen im Werk geht er jedoch kaum ein. Die Figur Leonhard stellt Thomas Hans Petutschnig ins Zentrum seiner Arbeit Ist er die Mitte? Anmerkungen zu Funktion und Bedeutung der Figur Leonhard Kakabsa in Heimito von Doderers Roman ‚Die Dämonen‘ (2007),30 die zur Motivik des Romans und insbesondere der Komposition des ‚Feuer‘-Kapitels einige interessante Ansatzpunkte bietet. Neben der narrativen Funktion der Figur Leonhard, deren Entwicklung dem Muster des Bildungsromans folge,31 beleuchtet Petutschnig ihre Bedeutung für die Neukonzeption des Dämonen-Romanprojekts. Auch wenn die Arbeit sich nicht explizit mit musikalischen Strukturen beschäftigt, sind doch einige Aspekte in diesem Zusammenhang relevant. Hervorzuheben ist die Untersuchung der Beziehung zwischen Leonhard und Mary K., die im Hinblick auf die Motiv-Wiederholungen und -Variationen in der Erzählstruktur quasi-musikalisch gedeutet wird. Dabei wählt Petutschnig für die Abfolge der Figuren-Nennungen die fragwürdige Metaphorik eines Akkordes, „dessen Harmonie scheinbar nicht weiter ausgeführt wird, der aber schließlich einen starken Nachhall im Roman haben soll.“32 Die Analysen der motivischen Zusammenhänge, besonders die Funktion von Mary K. als Rahmen für Leonhard, aber auch die Bedeutung der ‚Generalpausen‘ in Verbindung mit Leonhard-Handlungen, sind aufschlussreich und können im Kontext der Musikalisierung vertieft werden. Petutschnig kommt zu dem Schluss, dass Leonhard die Mitte des Romans bildet, da er die Motivik des Romans zusammenhalte und alle Erzählstränge mit ihm verknüpft seien. Die detaillierteste und aufschlussreichste Arbeit zu Musik bei Doderer hat Martin Brinkmann mit Musik und Melancholie im Werk Heimito von Doderers (2012) vorgelegt. Anders als Torsten Buchholz legt er den Fokus jedoch auf die frühen nen“ vom Zentrum und vom Rande aus betrachtet. Hrsg. v Gerald Sommer, Würzburg 2004 (= Schriften der Heimito von Doderer-Gesellschaft; Bd. 3), S. 469–471. [= Sommer 2004c]. 29 Fabian Lampart: Statik und ‚Fatologie‘. Zur Kontamination musikalischer und narrativer Strukturen in Heimito von Doderers Romantheorie. In: Literatur und Musik in der klassischen Moderne. Mediale Konzeptionen und intermediale Poetologien. Hrsg. v. Joachim Grage, Würzburg 2006 (= Klassische Moderne; Bd. 7), S. 207–226, hier: S. 219. 30 Thomas Hans Petutschnig: Ist er die Mitte? Anmerkungen zu Funktion und Bedeutung der Figur Leonhard Kakabsa in Heimito von Doderers Roman ‚Die Dämonen‘. Wien 2007. 31 Vgl. Petutschnig 2007, S. 14. 32 Petutschnig 2007, S. 69.

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Werke, insbesondere die Divertimenti und kann daher eine detailliertere Textanalyse durchführen, bei der im Mittelpunkt steht, wie sich „musikalische Form (musikalisch ästhetisierte Superstruktur) und melancholischer Inhalt (depressiv getönte Stimmungslage, Thematisierung depressiver Erfahrungen) [. . .] wechselseitig bedingen“33. Neben einem kurzen Überblick über die anderen wichtigen Werke Doderers, in denen Musik thematisiert wird, beleuchtet er in einem Kapitel die biographische Bedeutung von Musik in Doderers Leben und die Entstehung der Divertimento-Form. Im Anhang ist erstmals Doderers Versuch, Texte für eine Vertonung zu schreiben, die ‚Symphonische Phantasie‘ – ‚Der Abenteurer‘ veröffentlicht, von der Doderer Teile in seine Erzählung Die Bresche (1924)34 übernommen hat. Brinkmanns Analysen der „mikrostrukturelle[n] Sprachmusikalität“35 in den Divertimenti, die er unter Bezug auf die ‚Überstrukturiertheit‘ der ‚lyrischen‘ Passagen untersucht,36 sind äußerst aufschlussreich. Bemerkenswert ist aber vor allem die Analyse der ‚phrasierten‘ Motivtechnik in den Divertimenti, bei der er auf die von Claude Lévi-Strauss geprägte Mythenanalyse zurückgreift.37 Ausgehend von dem Postulat der strukturalen Textanalyse, dass, „was ein ‚Text‘ wiederholt, ob es sich um Größen seiner ‚Oberfläche‘ oder um abstrahierbare Größen seiner ‚Tiefenstruktur‘ handelt, [. . .] vom ‚Text‘ als wichtig gesetzt [wird]“,38 analysiert Brinkmann die Wiederholungsstrukturen und macht die Rekurrenzen und Variationen in der Motivik durch die „tabellarische Erfassung rekurrenter Größen“39 sichtbar. Die dadurch ermöglichte horizontale und vertikale Rezeption – ähnlich einer Orchesterpartitur –, entspricht der strukturalistischen Methode der Analyse der Mythen, deren „[konstitutive] Einheiten“ erst als „Beziehungsbündel und [. . .] in Form von Kombinationen solcher Bündel eine Bedeutungsfunktion erlangen“.40 Im Anschluss an Brinkmanns Interpretationen der Divertimenti werde ich die bisher kaum beachteten Wiederholungsstrukturen in den Dämonen vor dem Hintergrund der Musikalisierung des Werkes analysieren. Neben der im Hinblick auf Doderers Werk innovativen methodischen Ausrichtung von Brinkmanns Arbeit sind auch seine Ausführungen zur Verwurzelung

33 Brinkmann 2012, S. 10. 34 Heimito von Doderer: Die Bresche [1924]. In: Ders.: Frühe Prosa. Hrsg. v. Hans Flesch-Brunningen, Wendelin Schmidt-Dengler und Martin Loew-Cadonna, München 2008, S. 119–205. Im Folgenden abgekürzt als FP. 35 Brinkmann 2012, S. 369. 36 Siehe Brinkmanns Kapitel zu „Jürgen Links Lyrikanalyse als Vorbild für die Feinuntersuchung“. Brinkmann 2012, S. 194–199. 37 Siehe Brinkmanns Kapitel zu „Claude Lévi-Strauss’ Mythenanalyse als Inspirationsmodell“. Brinkmann 2012, S. 185–194. 38 Michael Titzmann: Strukturale Textanalyse. Theorie und Praxis der Interpretation. München 3 1993 (= Information und Synthese; Bd. 5), S. 349. 39 Brinkmann 2012, S. 192. 40 Lévi-Strauss 1978, S. 232.

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Doderers in der ‚Wiener Moderne‘,41 auf die Brinkmann auch in den Analysen der Einzeltexte eingeht, aufschlussreich. Die literaturhistorische Verortung von Doderer hat immer wieder zu Problemen geführt, und seine literarischen Werke, insbesondere Die Dämonen, wurden sehr unterschiedlich rezipiert. Auch wenn Brinkmanns Fokus v. a. auf den frühen Erzählungen liegt, liefert sein Vorschlag, Doderer als einen „‚Spätgeborenen‘ der Wiener Moderne“42 zu verstehen, auch Ansatzpunkte für die Interpretation der späteren Werke, z. B. hinsichtlich der Geschlechterkonzeption. Doderer selbst hatte keine Probleme damit, sich von großen Autoren seiner Zeit abzugrenzen bzw. vom „Roman des neunzehnten Jahrhunderts, zu welchem [. . .] jene drei Autoren durchaus noch gehören“ (WdD 166) – gemeint ist der „Salzburger Schnürlregen der Assoziationen bei James Joyce, die im Essayismus erstickende fadendünne Handlung bei Musil, und die geradezu gewaltige Dynamik der Langeweile bei Marcel Proust“ (WdD 165). Ohne hier weiter auf diese Abrechnung mit Teilen der sogenannten Weltliteratur oder auf die Selbststilisierung zum „Überwinder der Krise des Romans“43 einzugehen, möchte ich nun zur Erotik als einem weiteren zentralen Thema kommen, das – wie auch die Musik – nahezu alle Werke Doderers prägt und in deren Funktionalisierung sich der von Brinkmann erwähnte Einfluss der ‚Wiener Moderne‘ – bzw. etwas weiter gefasst – der Frühen Moderne abzeichnet.44 Da sich die Sekundärliteratur zu den Dämonen häufig auch auf die Thematik der sexuellen Obsessionen bezieht und zum Teil die Bedeutung der Erotik im Kontext der ‚zweiten Wirklichkeit‘ reflektiert, werden diese Arbeiten nicht gesondert aufgeführt, sondern im Folgenden chronologisch mit anderen Forschungsbeiträgen zu den Dämonen dargestellt, wobei auch einige kürzere Aufsätze zu spezifischen Aspekten einbezogen werden, denen ein besonderes Gewicht für diese Arbeit zukommt.45

41 Vgl. Brinkmann 2012, S. 12 f. 42 Brinkmann 2012, S. 301. 43 Buchholz 2004, S. 180. 44 Die Bedeutung der Musikalisierung und Erotisierung von Literatur im Kontext modernen Erzählens wird am Schluss dieser Arbeit aufgegriffen. Auf die Einflüsse der Frühen Moderne auf Doderers Werk wird im Verlauf der Arbeit auch unter Einbeziehung früher Erzählungen wie Die Bresche und einzelner Divertimenti Bezug genommen. 45 Einige weitere Beiträge, die interessante Ansätze zur Bedeutung von Erotik und Geschlecht in einzelnen Werken Doderers liefern und punktuell in dieser Arbeit einbezogen werden, seien an dieser Stelle genannt: In einer psychoanalytisch ausgerichteten Arbeit geht Jasper Mohr u. a. auf die Erzählung Die Bresche und die Funktion des Sadismus für die Entwicklung des Protagonisten Jan Herzka ein: Jasper Mohr: Verhaltensanalytische Studien zum Sadismus als Psychopathologie des Phänomens der Liebe. Eine exemplifizierende Untersuchung der literarischen Funktion der Darstellung des Sadismus. Hamburg 1983; Franziska Mayer und Vincent Kling stellen in ihren Aufsätzen zum Divertimento No I äußerst interessante Überlegungen zur Beziehung zwischen dem Protagonisten und der ‚wahnsinnigen‘ weiblichen Figur u. a. im Hinblick auf die Personengrenzen und das Lebenskonzept sowie den Wahnsinnsdiskurs in diesem Text dar: Franziska Mayer: „Zeichen gegen den Abgrund zu“ – Das Subjekt zwischen Selbstfindung und Selbstverlust in Heimito von Doderers ‚Divertimento No I‘. In: „Schüsse ins Finstere“. Zu Heimito von Doderers Kurzprosa. Hrsg. v. Gerald

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Dietrich Weber hat sich in seiner 1963 veröffentlichten Dissertation Heimito von Doderer. Studien zu seinem Romanwerk als erster ausführlich mit Doderers Werk und insbesondere mit der Strudlhofstiege und den Dämonen auseinandergesetzt.46 Seine werkimmanenten Analysen der erzähltechnischen Merkmale und der Wirklichkeitsthematik in den frühen Werken sowie in den beiden bis dahin erschienenen großen Romanen haben die Grundlage für die anschließenden literaturwissenschaftlichen Arbeiten gelegt. Insbesondere im Hinblick auf die Thematik der ‚zweiten Wirklichkeit‘ und als Gesamtüberblick über den formalen Aufbau der Dämonen sowie zu Doderers spezieller Terminologie für literarische Techniken – wie beispielsweise der „Anatomie des Augenblicks“47 oder dem „exzentrische[n] Einsatz“48– bieten Webers Studien weiterhin einen geeigneten Ausgangspunkt für vertiefende Analysen. Eine Untersuchung der Motivik und der Struktur der Dämonen hat Margarete Hauer mit ihrer Dissertation Studien zum Aufbau von Heimito von Doderers Roman ‚Die Dämonen‘ (1975)49 vorgelegt. Auch wenn die Raumsemantik zum Teil stark vereinfacht dargestellt wird, bieten einzelne Betrachtungen zur Leitmotivik sowie die Darstellung der symmetrischen Gesamtgliederung durch „Rahmung und Umklammerung“50 interessante Anschlusspunkte. Nach den werkimmanenten Arbeiten von Weber und Hauer erschienen Mitte der 1970er Jahre die ideologiekritischen Dissertationen von Anton Reininger und Hans-Joachim Schröder, in denen die politischen Verfehlungen des Autors und deren Spuren im Werk in den Fokus rückten. Reininger zufolge läuft, wie er in seiner Arbeit Die Erlösung des Bürgers. Eine ideologiekritische Studie zum Werk Heimito

Sommer und Kai Luehrs-Kaiser, Würzburg 2001 (= Schriften der Heimito von Doderer-Gesellschaft; Bd. 2), S. 63–77; Vincent Kling: Madwoman and Muse. Gender-Influenced Assessments of Sanity in Heimito von Doderers ‚Divertimento No I‘. In: Modern Austrian Literature 41 (2008), H. 1, S. 43–64; Eva Reichmann deutet die Sprachlosigkeit der weiblichen Figuren bei Doderer im Kontext einer todesähnlichen Stummheit und Statik, die den männlichen Figuren als Projektionsfläche dient: Eva Reichmann: Fische und Glasschränke. Frauenfiguren im Werk von Heimito von Doderer. In: Studia theodisca, 8 (2001), S. 81–94; Sigrid Nieberle geht in dem bereits erwähnten aufschlussreichen Beitrag zu Die erleuchteten Fenster auf „geschlechtsspezifische Fragen [. . .] im Hinblick auf das metaleptische Erzählen“ in diesem Roman ein. Nieberle 2006, S. 118; Einen bemerkenswerten Ansatz verfolgt auch Anja Gerigk in dem bereits genannten Beitrag zu ‚erotischen Strukturen‘ und deren erkenntnistheoretischer Bedeutung in der Strudlhofstiege. Vgl. Gerigk 2008; Vor dem Hintergrund sexualwissenschaftlicher Diskurse der Frühen Moderne interpretiert Petra Porto die Erzählung Die Bresche: Petra Porto: Sexuelle Norm und Abweichung. Aspekte des literarischen und des theoretischen Diskurses der Frühen Moderne (1890–1930). München 2011 (= Reihe Theorie und Praxis der Interpretation; Bd. 9). 46 Dietrich Weber: Heimito von Doderer. Studien zu seinem Romanwerk. München 1963. 47 Weber 1963, S. 158. 48 Weber 1963, S. 161. 49 Margarete Hauer: Studien zum Aufbau von Heimito von Doderers Roman ‚Die Dämonen‘. Phil. Diss., Wien 1975. 50 Hauer 1975, S. 227.

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von Doderers (1975) darstellt, der Roman Die Dämonen auf den „Sieg der bürgerlichen Normalität“51 zu. Entsprechend deutet er auch die musikalischen Formen als Ausdruck der großen Weigerung Doderers, die Gesamtheit der Wirklichkeit einer Interpretation zu unterziehen, die aus ihren Bestandteilen resultieren sollte. Statt dessen zwingt er ihr eine ästhetische Ordnung auf, die sich über die in ihrer Gesamtheit sinnleeren Elemente legt.52

In der „absoluten Privatisierung des Lebens“53 sieht Reininger die Ursache für Doderers schriftstellerischen Erfolg in den 1950er Jahren. Die Darstellung des „Antisemitismus als ein [. . .] Phänomen der zweiten Wirklichkeit“, bei der es Reininger zufolge „bei in Nebensätzen versteckten Kommentaren des Erzählers“54 bleibt, sei nicht gelungen. Die Komplexität der Erzählstruktur sowie die Selbstreflexivität der Werke bleiben bei Reininger weitgehend außer Acht. Dennoch enthält die Arbeit einige wichtige Ansatzpunkte zu den Dämonen, wie die Feststellung der Ersetzung einer „rational-historische[n] Erklärung der Zusammenhänge, die zum Justizpalastbrand geführt haben, durch eine mythisch-dämonische.“55 Schröder konzentriert sich in seiner Studie Apperzeption und Vorurteil. Untersuchungen zur Reflexion Heimito von Doderers (1976) hauptsächlich auf den Autor Doderer, dessen Versuche, die eigenen politischen Verfehlungen zu überspielen, in seiner Apperzeptionstheorie und seinem Werk zum Ausdruck kämen. Er kritisiert die „Monotonie der Wiederholung“56 und das „[metaphorische] Denken“57, in dem sich die „totale Ästhetisierung der Wirklichkeit“58 zeige. Aufgrund der methodischen Ausrichtung der Arbeit, die als einzige Bedeutung von Doderers Romanen die „Ideologie der Selbsttäuschung“59 konstatiert, bleibt Schröders Studie in der vorliegenden Arbeit weitgehend unberücksichtigt. Gabriele Kucher geht in ihrer Untersuchung Thomas Mann und Heimito von Doderer. Mythos und Geschichte (1981)60 u. a. auf die Erzählperspektiven und damit auch die Vielstimmigkeit in den Dämonen ein. Die Auflösung der chronistischen Kompetenz geht Kucher zufolge mit ihrer Wiederherstellung in der Zusammenfassung unterschiedlicher Perspektiven, wie dem „korrigierte[n] Tagebuch“61 Geyrenhoffs, dem

51 Reininger 1975, S. 177. 52 Reininger 1975, S. 183. 53 Reininger 1975, S. 210. 54 Reininger 1975, S. 140. 55 Reininger 1975, S. 164. 56 Schröder 1976, S. 432. 57 Schröder 1976, S. 436. 58 Schröder 1976, S. 437. 59 Schröder 1976, S. 449. 60 Gabriele Kucher: Thomas Mann und Heimito von Doderer: Mythos und Geschichte. Auflösung als Zusammenfassung im modernen Roman. Nürnberg 1981 (= Erlanger Beiträge zur Sprach- und Kunstwissenschaft; Bd. 65). 61 Kucher 1981, S. 113.

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Nachtbuch der Kaps, der mittelalterlichen Handschrift, sowie Kajetan von Schlaggenbergs Chronique scandaleuse einher. Die angestrebte Darstellung der ‚Lebenstotalität‘ und die verschiedenen Auflösungserfahrungen könnten Kucher zufolge das „Ende der epischen Integrationsfähigkeit“ bedeuten, was jedoch durch „den gedanklichen Zusammenhang der Thema-Abstraktion“62 verhindert und ‚formal-ästhetisch‘ durch die musikalisch geprägte „vereinheitlichte Textüberformung“63 umgesetzt werde. Kucher weist auf die musikalische Rhythmisierung der Textabschnitte anhand der Untergliederungstechnik der Kapitel hin, vertieft diesen Ansatz leider jedoch nicht weiter. Neben einigen interessanten Aspekten zur Musikalisierung, wie etwa der Feststellung einer verknappten und „auf den thematischen Hauptgedanken, nämlich die Möglichkeiten moderner Durchbruchsversuche“ konzentrierten Leitmotivik,64 sowie Überlegungen zur Stadt als mythischem Ort,65 liegen die Stärken der Untersuchung eher im Vergleich der Romanmodelle von Thomas Mann und Doderer. Die langjährige und komplexe Entstehungsgeschichte der Dämonen hat Elisabeth Hesson in der bereits erwähnten Studie Twentieth Century Odyssey. A Study of Heimito von Doderer’s ‚Die Dämonen’ (1982) dargelegt. Für die Frage nach den antisemitischen Tendenzen ist ihre Darstellung der Genese des Romans aus dem in den 1930er Jahren begonnenen Romanprojekt Die Dämonen der Ostmark weiterhin aufschlussreich.66 Hesson geht dabei auf narrative Techniken wie die ‚Reifepunkte‘ und ‚excentrische Einsätze‘ ein,67 die sie als Versuche des Autors, „to resolve tensions between form and content“,68 versteht. Bemerkenswert sind auch Hessons Anmerkungen zur Entwicklung und zur Erzähltechnik des ‚Feuer‘-Kapitels, dessen sich am Erzähltempo abzeichnende ‚Katarakt-Struktur‘ Hesson mit Bezug auf Doderers Notizen u. a. in den Commentarii darlegt.69 Zwei Arbeiten aus den 1980er Jahren, die bestimmten Motiv- und Themenkomplexen in den Dämonen nachgehen, seien hier kurz erwähnt: In ihrer textimmanenten Studie Zufall und Freiheit in Heimito von Doderers „Dämonen“ (1986),70 untersucht Ingrid Werkgartner Ryan die strukturelle und thematische Bedeutung des Zufalls. In diesem Zusammenhang macht sie einige interessante Beobachtungen zu den Wiederholungsstrukturen und zur Wahrnehmungsthematik in den Dämonen, wobei sie davon ausgeht, dass der Zufall „der formale Schlüssel zum Grundthema

62 Kucher 1981, S. 119. 63 Kucher 1981, S. 119 f. 64 Kucher 1981, S. 120. 65 Vgl. Kucher 1981, S. 141–147. 66 Im Anhang ist bei Hesson zudem das in der Einleitung bereits erwähnte Aide mémoire Doderers erstmals veröffentlicht. 67 Siehe Hesson 1982, S. 54–64. 68 Hesson 1982, S. 3. 69 Siehe Hesson 1982, S. 57 u. S. 65–78. 70 Ingrid Werkgartner Ryan: Zufall und Freiheit in Heimito von Doderers „Dämonen“. Wien u. a. 1986 (= Literatur und Leben; Bd. 32).

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des Romans, der sich in allen Teilhandlungen mit dem Problem des Wirklichkeitsbezugs befaßt“,71 sei.72 Weniger ergiebig ist dagegen Roland Kochs Untersuchung Die Verbildlichung des Glücks. Untersuchungen zum Werk Heimito von Doderers (1989),73 in der er neben der Strudlhofstiege und einigen anderen Werken Doderers auch auf die Dämonen eingeht. Da seine Feststellungen zur Bedeutung des Glücks zum Teil recht spekulativ sind und der stark eingeschränkte Blickwinkel auf diese Thematik der Komplexität des Romans nicht gerecht wird,74 zumal er die zentrale Thematik der ‚zweiten Wirklichkeit‘ außer Acht lässt, liefert diese Arbeit keine neuen Erkenntnisse für die Dämonen. Ulrike Schupp stellt in ihrer 1994 veröffentlichten Dissertation Ordnung und Bruch die Ambivalenzen und Widersprüche in den Mittelpunkt, welche Die Dämonen in Bezug auf die Entstehungsgeschichte, die Textstruktur und die Handlungsebene prägen. Die Brüche in den Entwicklungsgeschichten mehrerer Figuren deutet sie zum Teil vor den biographischen Kriegserfahrungen Doderers und seiner NS-Vergangenheit. Ihre daran anschließenden Analysen der mit der dämonischen Bedrohung verbundenen Metaphorik der Großstadt und den Variationen des Scheiterns persönlicher Ordnungsentwürfe der Figuren werden in dieser Arbeit aufgegriffen. Auch die Darstellung der „ästhetisierende[n] Faszination“, über welche scheinbar unmotivierte Verbrechen auf den „emotionalen Pol des Faschismus, der zwischen rigidem Ordnungsstreben und Ausbruch oszilliert“75 verweisen, sowie ihre Untersuchung des ‚Feuer‘-Kapitels der Dämonen bieten Anschlusspunkte für die vorliegende Untersuchung.76 Roderick H. Watt deutet in Sexual Constellations in the Novels of Heimito von Doderer (1998), seinem Beitrag zu dem von der Doderer-Gesellschaft herausgegebenen Sammelband Excentrische Einsätze, die Sexualität als Modell der Apperzeption,77 wobei er auf mehrere Erzählungen und Romane Doderers, wie Die Bresche, Ein

71 Werkgartner Ryan 1986, S. 61. 72 Zu Ergänzungen der Serialität in den Dämonen siehe auch Achim Hölter: „Das Gesetz der Serie“. Eine Notiz zu Heimito von Doderers Roman ‚Die Dämonen‘. In: „Excentrische Einsätze“. Studien und Essays zum Werk Heimito von Doderers. Hrsg. v. Kai Luehrs, Berlin/New York 1998, S. 192–205. 73 Roland Koch: Die Verbildlichung des Glücks. Untersuchungen zum Werk Heimito von Doderers. Tübingen 1989 (= Stauffenburg-Colloquium, Bd. 12). 74 Siehe beispielsweise die Ausführungen zum „Frauenglück“ in den Dämonen. Koch 1989, S. 153. 75 Ulrike Schupp: Ordnung und Bruch. Antinomien in Heimito von Doderers Roman ‚Die Dämonen‘. Frankfurt a. M.. u. a. 1994 (= Hamburger Beiträge zur Germanistik; Bd. 18), S. 239. 76 Ein Jahr später erschien Imke Henkels Arbeit Lebens-Bilder. Beobachtungen zur Wahrnehmung in Heimito von Doderers Romanwerk (1995), in der sich einige interessante Beobachtungen zur Motivik in der Strudlhofstiege finden; das Kapitel zu den Dämonen beinhaltet jedoch keine neuen Erkenntnisse. Imke Henkel: Lebens-Bilder. Beobachtungen zur Wahrnehmung in Heimito von Doderers Romanwerk. Tübingen 1995 (= Mannheimer Beiträge zur Sprach- und Literaturwissenschaft; Bd. 28). 77 Vgl. Roderick H. Watt: Sexual Constellations in the Novels of Heimito von Doderer. In: „Excentrische Einsätze“. Studien und Essays zum Werk Heimito von Doderers. Hrsg. v. Kai Luehrs, Berlin/ New York 1998, S. 64–77, hier: S. 67.

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Umweg, Die erleuchteten Fenster und Die Wasserfälle von Slunj eingeht und einzelne Aspekte aus den Dämonen einbezieht. Die Frau und die weibliche Sexualität, die stellenweise mit einer Metaphorik aus dem Bereich der Astronomie beschrieben wird, verkörpern Watt zufolge in diesen Texten das Leben an sich.78 In den Dämonen sei „the use of astronomical imagery to illuminate sexual response as a paradigm of apperception”79 besonders stark ausgeprägt. Diesen Aspekt werde ich im Kontext der erotischen Befreiung des Chronisten Geyrenhoff aufgreifen. Eine der aufschlussreichsten Untersuchungen zu Doderers Werk und insbesondere zu den Dämonen ist Hubert Kerschers Arbeit Zweite Wirklichkeit. Formen der grotesken Bewußtseinsverengung im Werk Heimito von Doderers (1998). Kerscher zeichnet die Thematik der ‚zweiten Wirklichkeit‘ in Doderers Werk nach, indem er „die ambivalente Funktion des Grotesken – als unverzichtbares Element zur drastischen Gestaltung verweigerter Apperzeption und zugleich als Instrument der Infragestellung des gesamten Schemas“80 untersucht, wobei er auch die Modernität der auf der Apperzeptionstheorie gründenden Poetik Doderers81 im Blick hat. Indem Kerscher die dämonische Leerstelle82 des Romans zum Ausgangspunkt seiner Betrachtungen nimmt, kann er die ‚zweite Wirklichkeit‘ in den Dämonen als handlungsübergreifende „strukturale Chiffre des Faschismus“83 überzeugend darlegen. Er weist darauf hin, dass sich „die Analyse irrationaler Bewußtseinsstrukturen [in den Dämonen] in umfangreicher Weise eines klassischen anti-aufklärerischen Mittels bedient: der Dämonisierung.“84 Besonders hinsichtlich der motivischen Rekurrenzen des ‚Dämonischen‘, mit denen alle Handlungsstränge miteinander vernetzt sind, kommt Kerscher zu aufschlussreichen Ergebnissen, die ich u. a. im Kontext der sexuellen Obsessionen und der sich daran abzeichnenden Bezüge zu Otto Weiningers Thesen aufgreifen und um die geschlechtsspezifische Semantisierung der ‚dämonischen Erscheinungen‘ erweitern möchte. Auch Kerschers Beobachtungen zur „Zerstörung der Bedeutungsqualität der Sprache im Zustand der zweiten Wirklichkeit“85 sowie zu den ‚mise en abyme‘-Strukturen in den Dämonen werden in den entsprechenden Kapiteln aufgegriffen. Im Zusammenhang mit der Frage nach der Korrelation von Doderers Konzept der ‚Menschwerdung‘ mit der Geschlechterkonzeption in seinen Werken enthält Daniela Baumanns Dissertation Das Frauenbild bei Heimito von Doderer (2003) einige interessante Überlegungen. Ausgehend von ihrem während der Lektüre gewon-

78 Vgl. Watt 1998, S. 77. 79 Watt 1998, S. 71. 80 Kerscher 1998, S. 13. 81 Vgl. Kerscher 1998, S. 14. 82 Vgl. Kerscher 1998, S. 166. 83 Kerscher 1998, S. 159. 84 Kerscher 1998, S. 404. 85 Kerscher 1998, S. 222.

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nenen Eindruck eines tendenziell progressiven Frauenbildes bei Doderer untersucht Baumann die weiblichen Figuren und den Einfluss Weiningers in Doderers Werk. Dabei stellt sie fest, dass es nicht die Beziehung zwischen den Geschlechtern ist, die im Mittelpunkt vieler seiner Romane steht, „sondern [die] Erotik als Grundlage für Apperzeptivität.“86 Die Funktionalisierung der weiblichen Figuren stellt Baumann u. a. anhand der frühen Erzählung Die Bresche dar, worin der „Ausbruch von Sadismus als Auslöser für die Persönlichkeitsentwicklung des Helden“87 diene und die Vergewaltigung Magdalena Güllichs essentieller Bestandteil der ‚Menschwerdung‘ Jan Herzkas sei. Durch die „Apotheose des leidenden Weibes“88 am Ende der Erzählung werde Magdalena zusätzlich entmenschlicht. Es gebe einige Ausnahmen, in denen die weiblichen Figuren keine reinen Typen seien, wie z. B. die Figur Jutta Bamberger,89 bei der jedoch als bisexuellem ‚Zwitterwesen‘ in Anlehnung an Weiningers Thesen der ‚männliche‘ Anteil im Charakter überwiege. Bei den wenigen Frauenfiguren in Doderers Werk, denen eine Entwicklung zugestanden wird, verlaufe diese meist in Richtung Ehe, Aufgabe des Berufs und einer vermeintlich eindeutiger werdenden ‚Weiblichkeit‘.90 Letzteres ist auch für die Entwicklung der Figur Quapp interessant. Aufgrund des methodischen Vorgehens, bei dem Baumann zum Teil biographische und sehr subjektive Ansätze wählt, werde ich auf diese Arbeit jedoch nur in wenigen Punkten Bezug nehmen. Erotik und Apperzeption stehen auch in David S. Lufts im gleichen Jahr erschienener Abhandlung Eros and Inwardness in Vienna. Weininger, Musil, Doderer (2003) im Mittelpunkt. An den Texten von Weininger, Musil und Doderer zeichne sich die Tendenz ab, „to come to terms with modern science in the context of a philosophical irrationalism [. . .], they expressed themselves in terms of an idiom of gender and a preoccupation with sexuality.“91 Luft stellt die geistesgeschichtliche Bedeutung der mit Sexualität und Weiblichkeit verbundenen Irrationalität dar, wobei er auf die metaphorische Verwendung dieser Begriffe hinweist.92 Die Ausführungen zu Doderers Verstrickungen in den Nationalsozialismus und der Entstehungsgeschichte der Dämonen sind zum Teil sehr aufschlussreich. Weniger ergiebig ist jedoch der Abschnitt zu den Dämonen, deren Bedeutung Luft „in the quality of Doderer’s rendering of Vienna in the early twentieth century and in the overcoming of his problematic relation to his own sexuality and to National Socialism”93 sieht. 86 Baumann 2003, S. 164. 87 Baumann 2003, S. 59. 88 Baumann 2003, S. 74. 89 Vgl. Heimito von Doderer: Jutta Bamberger [1968]. In: Ders.: Frühe Prosa. Hrsg. v. Hans FleschBrunningen, Wendelin Schmidt-Dengler und Martin Loew-Cadonna, München 2008, S. 207–329. Im Folgenden abgekürzt als FP. 90 Vgl. Baumann 2003, S. 184. 91 Luft 2003, S. ix. 92 Vgl. Luft 2003, S. 183. 93 Luft 2003, S. 168.

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Aufsätze und Materialien zu unterschiedlichen Aspekten der Dämonen sind in dem von Gerald Sommer herausgegebenen Band Gassen und Landschaften. Heimito von Doderers „Dämonen“ vom Zentrum und vom Rande aus betrachtet (2004)94 versammelt. Einen Schwerpunkt bildet darin u. a. die Auseinandersetzung mit antisemitischen Tendenzen in den Dämonen. Ergänzend zu der Neuedition des Aide mémoire zu ‚Die Dämonen der Ostmark‘, in dem Doderer 1934 in Briefen an Fritz Feldner sein antisemitisches Romanprojekt erläutert hat, analysiert Gerald Sommer in seinem bereits erwähnten Beitrag In die „Sackgasse“ und wieder hinaus auch Doderers Umsetzung bzw. Verwerfung dieser Pläne.95 Neben Aufsätzen zu intertextuellen Aspekten und Parallelen zu Autoren wie Dostojewski oder Joyce,96 finden sich in Gassen und Landschaften, zudem Beiträge zu thematisch-motivischen Aspekten97 und narrativen Fragen der Dämonen, von denen einige hier kurz genannt seien: Auf die intertextuellen Bezüge zu Dostojewskis Roman Besy (1873; dt. Die Dämonen) geht Éric Chevrel in seinem Beitrag ‚Die Dämonen‘: Doderer und der Fall Dostojewski(s) ein. Trotz Doderers späteren Versuchen, den Einfluss Dostojewskis auf seinen Roman zu relativieren, zeigt Chevrel an wesentlichen Punkten die Verbindungslinien

94 Gerald Sommer (Hg.): Gassen und Landschaften. Heimito von Doderers „Dämonen“ vom Zentrum und vom Rande aus betrachtet. Würzburg 2004 (= Schriften der Heimito von Doderer-Gesellschaft; Bd. 3). 95 Auch Sommers aufschlussreicher Beitrag zur Krakenthematik der Dämonen sei an dieser Stelle genannt: Gerald Sommer: ‚Schmatzende Geräusche (alles Bello Horizonte)‘ – Anmerkungen zu Genese und Funktion der Krakenthematik in Heimito von Doderers Roman ‚Die Dämonen‘. In: Gassen und Landschaften. Heimito von Doderers „Dämonen“ vom Zentrum und vom Rande aus betrachtet. Hrsg. v. Gerald Sommer, Würzburg 2004 (= Schriften der Heimito von Doderer-Gesellschaft; Bd. 3), S. 24–38. [= Sommer 2004d]. Es finden sich außerdem von Frank Bleker ausgewählte Diskussionsbeiträge aus dem Forum der Doderer-Gesellschaft: Friedrich Austerlitz, Eugen Banauch, Henner Löffler u. a.: Beiträge zu einer laufenden Debatte über Antisemitismus in Heimito von Doderers ‚Die Dämonen‘. Ausgewählt und bearbeitet von Frank Bleker. In: Gassen und Landschaften. Heimito von Doderers „Dämonen“ vom Zentrum und vom Rande aus betrachtet. Hrsg. v. Gerald Sommer, Würzburg 2004 (= Schriften der Heimito von Doderer-Gesellschaft; Bd. 3), S. 413–465. 96 In Torsten Buchholz’ bereits erwähntem Aufsatz Doderer, Joyce und der heilige Thomas. Notizen zu einer Nahtstelle geht es um literaturhistorische Bezüge zu einem der vielen Autoren von denen Doderer sich distanziert hat. Buchholz sieht Aspekte des mittelalterlichen ‚Ordo-Denkens‘ im Kontext künstlerischer Stoffbewältigung (vgl. Buchholz 2004, S. 187) sowohl bei Doderer als auch bei James Joyce. Die Philosophie Thomas von Aquins sei für beide Schriftsteller ein „[markanter] Orientierungspunkt ihrer ästhetischen Anschauungen und ihrer Schreibpraxis“ (Buchholz 2004, S. 181) gewesen. Die Annahme einer Ordnung hinter allen Dingen (‚Analogia entis‘), die nicht gestört, sondern erkannt werden soll, erklärt Buchholz zufolge auch die Negierung gesellschaftspolitischer Verantwortung der Literatur bei Doderer (vgl. Buchholz 2004, S. 182). 97 Der bereits genannte Beitrag Dämonen und Subdämonen von Henner Löffler möchte den Zusammenhang der Kernbegriffe ‚zweite Wirklichkeit‘, ‚Apperzeption‘, ‚Dämonen‘ und ‚Menschwerdung‘ und die verschiedenen Arten von Besessenheit klären. Dabei macht er eine fragwürdige Unterscheidung in politisch-sexuell-ideologisch geprägte ‚Dämonen‘ und ideologiefreie ‚Apperzeptionsverweigerung‘, d. h. ‚Subdämonen‘, wie z. B. bei Quapp (vgl. Löffler 2004, S. 302).

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auf. So habe Doderer in den Dämonen der Ostmark die Thematik der revolutionären Bedrohung aus Besy in die vermeintliche Bedrohung durch eine jüdische Infiltration übertragen98 und in seiner späteren Arbeit an den Dämonen in Dostojewski einen Verbündeten bei der „Literarisierung der ideologischen Verfehlungen“99 gesehen. Interessant sind Chevrels Beobachtungen zu den Parallelen zwischen den Chronisten-Figuren der beiden Romane und zu der Vielstimmigkeit des Erzählens100 sowie zur Thematisierung der „sprachlichen Pathologien“101 bzw. „[d]ie Erscheinung sprachlicher Kontamination durch Einzelpersonen oder ein Kollektiv“102 Edit Király deutet in ihrem in Gassen und Landschaften enthaltenen Aufsatz Enzyklopädist der Einzelfälle. Über das Sammeln in Heimito von Doderers Roman ‚Die Dämonen‘ die Sammlertätigkeit als Modell des Schreibens, das seinen Ausgangspunkt in der Chronique Scandaleuse als systematische Sammlung sexuell interessanter Objekte habe. Darin werde „das Serielle purer Pornographie“103 angedeutet, bei dem die Objekte des sexuellen Interesses – die ‚Dicken Damen‘ – in starren Formeln katalogisiert und in Anlehnung an Ernst Kretschmers ‚Konstitutionspsychologie‘ in Typen kategorisiert werden.104 In der Chronistentätigkeit des Sektionsrates Geyrenhoff werde das Sammeln als Technik der Textproduktion und gleichzeitig das Scheitern des distanzierten Beobachtens thematisiert. Die Analogie zwischen der Erzählfiktion um Geyrenhoff und dem sexuell motivierten fetischistischen Sammeln Kajetan von Schlaggenbergs wird bei Király nicht vertieft und soll in dieser Arbeit im Hinblick auf die Bedeutung der Erotik beleuchtet werden.105

98 Éric Chevrel: Die Dämonen und der Fall Dostojewski(s). In: Gassen und Landschaften. Heimito von Doderers „Dämonen“ vom Zentrum und vom Rande aus betrachtet. Hrsg. v. Gerald Sommer, Würzburg 2004 (= Schriften der Heimito von Doderer-Gesellschaft; Bd. 3), S. 141–168, hier: S. 168. 99 Vgl. Chevrel 2004, S. 152. 100 Vgl. Chevrel 2004, S. 164. 101 Chevrel 2004, S. 158. 102 Chevrel 2004, S. 160. 103 Edit Király: Enzyklopädist der Einzelfälle. Über das Sammeln in Heimito von Doderers Roman ‚Die Dämonen‘. In: Gassen und Landschaften. Heimito von Doderers „Dämonen“ vom Zentrum und vom Rande aus betrachtet. Hrsg. v. Gerald Sommer, Würzburg 2004 (= Schriften der Heimito von Doderer-Gesellschaft; Bd. 3), S. 235–242, hier: S. 236. 104 Vgl. Király 2004, S. 236 f. 105 Auch Királys Dissertation Drachen, Hexen und Dämonen. Heimito von Doderers Geschichtspoetik (Wien 1998), in der sie u. a. die Drachen- und Hexenthematik in den Dämonen untersucht, sei an dieser Stelle genannt. Für die vorliegende Arbeit beziehe mich vor allem auf folgende im Anschluss an bzw. im Rahmen der Dissertation entstandenen Aufsätze, in denen Teile der Arbeit aufgegriffen und vertieft werden: Edit Király: Was ernstzunehmende Autoren über Drachen zu berichten haben. Versuch über das Drachen-Motiv in ‚Die Dämonen‘ von Heimito von Doderer. In: Die Unzulänglichkeit aller philosophischen Engel. Festschrift für Zsuzsa Széll. Hrsg. v. Imre Kurdi und Péter Zalán, Budapest 1996 (= Budapester Beiträge zur Germanistik; Bd. 28), S. 167–179; Edit Király: Heimito von Doderers ‚Die Dämonen‘: Roman des Romans. In: Brüchige Welten: von Doderer bis Kehlmann; Einzelinterpretationen. Hrsg. v. Attila Bombitz, Wien 2009 (= Österreich-Studien Szeged; Bd. 4), S. 33–51.

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Dass die in den Dämonen nicht wörtlich genannte ‚Menschwerdung‘ eng mit bildungsbürgerlichen Wertevorstellungen verknüpft ist und äquivalent zur „Bibliothekarwerdung“106 zu verstehen ist, erläutert Achim Hölter in dem Aufsatz Bibliothekar beim Prinzen Croix – Heimito von Doderers Kulturideal und sein Hintergrund. „Die provozierende Geradlinigkeit von Leonhards Bildung“ versteht er als „Kontrastmittel und Kompensation für die endlose Umweghaftigkeit von Renés Leben.“107 Die literarisch untypische Schilderung von Bibliotheken bei Doderer, die oftmals „Orte [. . .] des Nicht-Geschehens“ sind, wird als der Wunsch, in der Literatur „von Anfechtungen und Belästigungen frei mit sich selbst im Reinen“ sein zu können, interpretiert.108 Auf die erzählerische Unzuverlässigkeit und „das Problem der Erzählerhierarchie“ in den „multiperspektivisch-gemischtdiegetisch strukturiert[en]“109 Dämonen geht Yvonne Wolf in ihrem Aufsatz „ . . . aus war’s mit der Chronik. Ich war jetzt Akteur.“ Zur Erzählerproblematik in Heimito von Doderers Roman ‚Die Dämonen‘ ein. Wolf zufolge scheint der Ich-Erzähler Geyrenhoff im ersten Teil des Romans „der letzte ‚Bearbeiter‘ zu sein“, wobei „[d]ie berichtenden Passagen und damit die dritte Person überwiegen, so daß der Eindruck einer heterodiegetischen Erzählsituation entsteht.“110 Im zweiten Teil des Romans werde der „quasi-homodiegetische Erzähler“ Geyrenhoff von einem „heterodiegetische[n] Erzähler als höchste Instanz“ abgelöst, um im dritten Teil wieder größere Passagen zu erzählen, jetzt allerdings den anderen Figuren gleichgeordnet „gemäß seiner eigenen Einsicht, daß er nur ‚einer von den ‚Unsrigen‘, nichts weiter‘ [DD 1078] ist“.111 Wolf korrigiert u. a. Henner Löfflers Versuch einer Zuordnung der einzelnen Romankapitel zu bestimmten Erzählern in seinem Doderer-ABC112 und macht in ihren anschließenden Analysen einzelner Textstellen aufschlussreiche Beobachtungen.113 Allerdings stellt sich die Frage,

106 Achim Hölter: Bibliothekar beim Prinzen Croix – Heimito von Doderers Kulturideal und sein Hintergrund. In: Gassen und Landschaften. Heimito von Doderers „Dämonen“ vom Zentrum und vom Rande aus betrachtet. Hrsg. v. Gerald Sommer, Würzburg 2004 (= Schriften der Heimito von Doderer-Gesellschaft; Bd. 3), S. 254–278, hier: S. 254. 107 Hölter 2004, S. 274. 108 Hölter 2004, S. 278. 109 Yvonne Wolf: „ . . . aus war’s mit der Chronik. Ich war jetzt Akteur.“ Zur Erzählerproblematik in Heimito von Doderers Roman ‚Die Dämonen‘. In: Gassen und Landschaften. Heimito von Doderers „Dämonen“ vom Zentrum und vom Rande aus betrachtet. Hrsg. v. Gerald Sommer, Würzburg 2004 (= Schriften der Heimito von Doderer-Gesellschaft; Bd. 3), S. 309–324, hier: S. 311. 110 Wolf 2004, S. 311. 111 Wolf 2004., S. 313. 112 Löffler gibt in seiner methodisch problematischen und zum Teil fehlerhaften Auflistung für einige der Kapitel Figuren wie Geyrenhoff oder Schlaggenberg, für andere Doderer als Verfasser an. Vgl. Löffler 2000, S. 430 f. 113 So vergleicht sie die erzählerische Unzuverlässigkeit „mit dem Zustand der Apperzeptionsverweigerung bzw. der Deperzeption – der gemeinsame Bezugspunkt ist das Phänomen der Selbsttäuschung.“ Wolf 2004, S. 319.

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warum sie den (fiktiven) Autor der anonymen heterodiegetischen Erzählinstanz gegenüberstellt, wenn sie meint, der Autor lasse es sich nicht nehmen, selbst in einem metaleptischen Sprung in die Welt der Erzählung einzubrechen und so vollends die Personen als Figuren zu demaskieren und damit die erzählte Welt einschließlich ihres heterodiegetischen Erzählers als Fiktion und Produkt seiner Feder zu entlarven.114

Dahinter stehe „ein Autor, der mit der Problematik des eigenen Ziels des realistischen und gegenwartsorientierten und der eigenen Möglichkeiten zur Apperzeption ein selbstironisches Spiel“115 treibe. Da der heterodiegetische Erzähler den anderen Erzählern übergeordnet ist und eigenen Angaben nach auch die spätere Chronik Geyrenhoffs redigiert, trägt er Wolf zufolge „die Verantwortung“, so dass es sich „nicht wirklich um einen Fall erzählerischer Unzuverlässigkeit“116 handle. Einen weiteren Versuch, den „doderesken Kreuzgalopp im Parcours der Narratologie“117 zu beschreiben bzw. einzelne Aspekte zu differenzieren, hat Robert Walter-Jochum in seinem Aufsatz ‚Letzte Redaktion‘ – Erzählverwirrungen und Montage in Heimito von Doderers ‚Die Dämonen‘ (2016) unternommen.118 Alexandra Kleinlerchers bereits erwähnte Arbeit Zwischen Wahrheit und Dichtung. Antisemitismus und Nationalismus bei Heimito von Doderer (2011) geht in einem ersten Teil ausführlich auf Doderers NS-Vergangenheit ein, wobei sie sich auf Wolfgang Fleischers Doderer-Biographie Das verleugnete Leben (1996)119 stützt. Im zweiten Teil der Arbeit untersucht Kleinlercher Die Dämonen der Ostmark und geht auf den Antisemitismus innerhalb der Gruppe der ‚Unsrigen‘ sowie auf die Bedeutung zentraler Motive ein. Aufschlussreich sind die Bemerkungen zu „Anspielungen und Unausgesprochene[m] im Roman“120– beispielsweise die Vermeidung der Begriffe ‚Arier‘ und ‚Jude‘, die bereits in dem Manuskript der 1930er Jahre festzustellen ist und durch zeittypische Attribute und Charakterisierungen ersetzt wird. Auch wenn 114 Wolf 2004, S. 314. Siehe DD 1112: „Der Autor erhebt sich hier, als Ehrenbezeigung vor seiner Figur, für einen Augenblick vom Schreibtische.“ 115 Wolf 2004, S. 323. 116 Wolf 2004, S. 318. 117 Wolf 2004, S. 323. 118 Walter-Jochum geht u. a. auf die Überlagerungen durch verschiedene Perspektiven und Überarbeitungen mehrerer fiktiver Erzähler ein: „Die Figurensprache verschiedener homodiegetischer Erzähler [. . .] bleibt über die ‚letzte Redaktion‘ hinaus erhalten, so daß hier Zuordnungen möglich sind. [. . .] Neben direkten Kommentaren des heterodiegetischen obersten Erzählers bleibt [. . .] insbesondere das Mittel der Montage der verschiedenen Figurenerzählungen, das auf die zentrale (nicht als psychologisches Bewußtsein wahrzunehmende) Erzählinstanz verweist.“ Robert Walter-Jochum: ‚Letzte Redaktion‘ – Erzählverwirrungen und Montage in Heimito von Doderers ‚Die Dämonen‘. In: Doderer-Gespräche. Mit einer Grundlegung zu Paul Elbogen. Hrsg. v. Achim Hölter u. a., Würzburg 2016 (= Schriften der Heimito von Doderer-Gesellschaft; Bd. 7), S. 45–58, hier: S. 57 f. [= Walter-Jochum 2016b]. 119 Wolfgang Fleischer: Das verleugnete Leben. Die Biographie des Heimito von Doderer. Wien 1996. 120 Kleinlercher 2011, S. 238.

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Die Dämonen nicht im Fokus der Untersuchung stehen, fallen die Hinweise zu den Änderungen der Thematik, zur „Abschwächung der antisemitischen Haltung der Romanfiguren“ und der „Kritik an faschistischen Positionen“ sowie zum „Rollenwechsel für die Romanfiguren jüdischen Ursprungs“ sehr knapp aus.121 Zur Genese des Werks und zur Thematik des Antisemitismus bei Doderer stellt Kleinlerchers Arbeit jedoch einen wesentlichen Beitrag der Doderer-Forschung dar. Stefan Winterstein stellt in seiner Untersuchung Versuch gegen Heimito von Doderer. Über ‚Ordnungspein‘ und Faschismus (2014) den Pedanterie-Diskurs, der in Doderers Werken zwar nicht explizit benannt wird, der aber in Form der zwanghaften ‚Ordnungsliebe‘ bzw. der titelgebenden ‚Ordnungspein‘ vieler Figuren zutage tritt, in den Zusammenhang mit faschistischen Tendenzen. Ausführlich werden v. a. Die erleuchteten Fenster behandelt. Neben den Dämonen und einigen anderen Romanen und Erzählungen Doderers, die in die Untersuchung einbezogen werden, geht Winterstein auch auf Doderers Essay Sexualität und totaler Staat122 ein und bezieht sich neben dem schriftstellerischen Werk auf die biographischen Wurzeln des ‚Faschismus-Problems‘ bei Doderer. Er plädiert dafür, „das verdeckt Faschistoide und die unerkannten Vorbedingungen des Barbarischen, die der Autor irrtümlicherweise oft gar als Schutzmaßnahmen gegen das Barbarische imaginiert, in seinem vorgeblich sauber gebliebenen literarischen Werk“123 wieder verstärkt wahrzunehmen, ohne den Werken damit die literarische Relevanz abzusprechen, wie es zum Teil in den ideologiekritischen Studien der 1970er Jahre der Fall war. Der von Eva Geulen und Tim Albrecht herausgegebene Sammelband Heimito von Doderers ‚Dämonen‘-Roman: Lektüren (2016) nimmt die Ambivalenzen des Romans, in dem sich ‚realistische‘ und (post-) moderne Schreibweisen überlagern, zum Ausgangspunkt für die Untersuchung einzelner Aspekte der Dämonen in meist textnahen Analysen.124 Eva Geulen geht in ihrem Beitrag Zerschlagung oder Zersetzung? Das

121 Kleinlercher 2011, S. 286–290. 122 Heimito von Doderer: Sexualität und totaler Staat [1948/1951]. In: Die Wiederkehr der Drachen: Aufsätze, Traktate, Reden. Hrsg. v. Wendelin Schmidt-Dengler, München 1996, S. 275–298. Im Folgenden abgekürzt als WdD. 123 Stefan Winterstein: Versuch gegen Heimito von Doderer. Über ‚Ordnungspein‘ und Faschismus. Würzburg 2014, S. 211. 124 Vgl. Eva Geulen und Tim Albrecht (Hg.): Heimito von Doderers ‚Dämonen‘-Roman: Lektüren. Berlin 2016 (= Beihefte zur Zeitschrift für Deutsche Philologie; Bd. 15), S. 8 f. Zwei Aufsätze, auf die an dieser Stelle nicht näher eingegangen wird, seien hier erwähnt (auf weitere Beiträge aus diesem Sammelband wird in den entsprechenden Kapiteln hingewiesen): Tim Albrecht geht dem Begriff der Evidenz in den Dämonen nach und kommt zu dem Schluss, „dass das Evidenzverfahren der Chronik nicht zu Gunsten der Wirklichkeit verabschiedet wird, sondern zugunsten eines neuen Darstellungsverfahrens, nämlich des epischen.“ Daher werde „aus dem Chronisten [. . .] ein Romancier [. . .], der ganz andere Formen der Evidenz herstellen“ könne. Tim Albrecht: Chronische Klarheit. Heimito von Doderers Evidenzverfahren. In: Heimito von Doderers ‚Dämonen‘-Roman: Lektüren. Hrsg. v. Eva Geulen und Tim Albrecht, Berlin 2016 (= Beihefte zur Zeitschrift für Deutsche Philologie; Bd. 15), S. 25–41, hier: S. 40 f.; Kirk Wetters geht anhand der Entwicklungsgeschichte der Figur

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Ende Zweiter Wirklichkeiten in Doderers ‚Die Dämonen‘ auf die Funktion der thematisierten Verschriftlichungen ein. Nicht der Kontakt mit der ‚Realität‘, sondern das Aufschreiben innerhalb des „multiperspektivischen und polyphonen Erzählens“125 führe zu einer Befreiung von den „häufig an schriftliche Dokumente und quasi-literarische Fiktionen“126 geknüpften ‚zweiten Wirklichkeiten‘. Innerhalb dieser Logik sei der Roman selbst eine Art ‚zweite Wirklichkeit‘,127 der sich einzig das Nachtbuch der Kaps entziehe, das mit seinem „[unverfügbaren] Sprechen [. . .] Einspruch gegen den dämonischen Roman und seine Verfahren“128 erhebe. Auf diese bemerkenswerten, wenn auch in Teilen fragwürdigen Thesen, werde ich im Rahmen der Betrachtung der fiktiven Manuskripte zurückkommen. Einen aufschlussreichen Beitrag zur Diskussion des Erzähler-Komplexes bildet Rudolf Helmstetters Aufsatz Was niecht zu schreim ist. Genealogie des Romans und Theater des Schreibens in ‚Die Dämonen‘, worin er ausgehend von den Paratexten der Dämonen den Untertitel – Nach der Chronik des Sektionsrates Geyrenhoff – als Inszenierung des eigenen Prätextes129 deutet und „die Dualität von Chronik und Roman als metatextuellen Plot der ‚Dämonen‘“130 beschreibt. Die Beziehungen zwischen der Chronik, sowie den fiktiven Schriftstücken innerhalb des Romans mit ihren jeweiligen ‚Autoren‘ und der heterodiegetischen Erzählinstanz stellt Helmstetter als „Kampf um die Texthoheit“ dar, der „den Erzähldiskurs selbst zu einer Handlung, einem Drama [. . .] werden [lässt]“,131 bei dem am Ende zu fragen wäre, ob „die Autorschaft der ‚Letzten Redaktion‘ ebenso ein Nicht-Singular [ist][. . .], ein nicht-mehr-personales Personal“, welches sich als „‚Das Dämonische‘ oder ‚Die Dämonischen‘ oder ‚Die Dämonen‘“ deuten lässt, so dass der Titel des Romans zugleich „auch die Angabe der Autorschaft“ wäre.132 Die vielen ‚Schreibszenen‘ in den Dämonen hat Andrea Reisner zum Anlass für eine Untersuchung des Romans „aus einer mediengeschichtlichen bzw. -theoretischen

Quapp auf die „Mechanik der Verundeutlichung auf der bzw. den Erzählerebene(n)“ ein. Kirk Wetters: Konjunktivisches Erzählen in Heimito von Doderers ‚Die Dämonen‘. In: Heimito von Doderers ‚Dämonen‘-Roman: Lektüren. Hrsg. v. Eva Geulen und Tim Albrecht, Berlin 2016 (= Beihefte zur Zeitschrift für Deutsche Philologie; Bd. 15), S. 125–139, hier: S. 128. 125 Eva Geulen: Zerschlagung oder Zersetzung? Das Ende Zweiter Wirklichkeiten in Doderers ‚Die Dämonen‘. In: Heimito von Doderers ‚Dämonen‘-Roman: Lektüren. Hrsg. v. Eva Geulen und Tim Albrecht, Berlin 2016 (= Beihefte zur Zeitschrift für Deutsche Philologie; Bd. 15), S. 13–23, hier: S. 15. 126 Geulen 2016, S. 15. 127 Vgl. Geulen 2016, S. 15. 128 Geulen 2016, S. 22 f. 129 Vgl. Helmstetter 2016, S. 87. 130 Helmstetter 2016, S. 87. 131 Helmstetter 2016, S. 107. 132 Helmstetter 2016, S. 109.

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Perspektive“133 mit Fokus auf die Darstellung und Funktion der Medien sowie des Schreibens genommen. Aufschlussreich ist ihre Analyse zur Darstellung journalistischer Arbeit in Opposition zum Schreiben einzelner Figuren, die sich zeitweise als Historiker und Schriftsteller mit Zeitungsartikeln finanzieren und insofern „gegen ein übermächtig erscheinendes Kollektiv aus Schreibmaschinen und Rotationspressen“134 anzukämpfen haben. Im Zusammenhang mit der Darstellung des Zeitungskonzerns ‚Allianz‘ geht Reisner auf die implizite Kritik an der „massenhafte[n] technische[n] Reproduktion, die in diesem Fall durch die Rotationspresse vorgenommen wird [und][. . .] die ‚Echtheit‘ des Kunstwerks [gefährdet]“135 ein, die auf Walter Benjamins Thesen zum Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit (1936) rekurriert. Im Kontext der Dämonisierung von Weiblichkeit werde ich an die semantischen Überlagerungen zwischen Weiblichkeit und Masse und einige Beobachtungen zur „Verknüpfung von Sexualität, Gewalt und Schrift“136 sowie einer „Parallelisierung von weiblichem Körper und Schreibunterlage“137 in den Dämonen anknüpfen, die Reisner beispielsweise anhand des mittelalterlichen Manuskripts aufzeigt. Die Selbstreferentialität der Dämonen, die sich an dieser gehäuften Thematisierung von Schriftstücken, von Lesen, Schreiben und weiteren literarischen Produktionsprozessen abzeichnet, wird in einigen der in diesem Kapitel genannten Forschungsbeiträge aufgegriffen. Weniger offensichtlich ist diese Selbstbezüglichkeit des Romans, wenn es um die Thematisierung von Wahrnehmungsprozessen im Allgemeinen, die Wirkung von Musik oder auf der ‚discours‘-Ebene um die Annäherung an musikalische Strukturen geht, die in dieser Arbeit untersucht werden. Mit einigen theoretischen Vorüberlegungen zum Verhältnis von Literatur und Musik werden im nächsten Kapitel die unterschiedlichen Aspekte der Musikalisierung von Literatur erläutert, die eine Grundlage für die folgenden Textanalysen bilden.

133 Andrea Reisner: „Hier lag die warme schreibende Hand.“ Schreibszenen in Heimito von Doderers ‚Dämonen‘. Wien 2017, S. 16. 134 Reisner 2017, S. 26. 135 Reisner 2017, S. 62. 136 Reisner 2017, S. 153. 137 Reisner 2017, S. 163.

3 Die Musikalisierung von Literatur – Theoretische Vorüberlegungen zu einem intermedialen Forschungsfeld Die wissenschaftliche Beschäftigung mit den Überschneidungen von Musik und Literatur, die zunächst in das Gebiet der vergleichenden Literaturwissenschaft bzw. der Komparatistik fiel,1 bildet inzwischen einen wichtigen Teil der Intermedialitätsforschung.2 In wissenschaftlichen Arbeiten, die sich mit der Musikalisierung von Literatur im Allgemeinen oder anhand eines spezifischen Werks beschäftigen, wird meist mehr oder weniger ausführlich auf die prinzipiellen Probleme der Vergleichbarkeit der Medien Musik und Literatur/Sprache eingegangen. Ich werde mich vorerst auf einige Anmerkungen zur Übertragung der musikalischen Terminologie auf literarische Texte beschränken und anschließend die Möglichkeiten der Musikalisierung von Literatur darstellen.3 Neben den in Bezug auf die ‚Sprachähnlichkeit‘ der Musik4 unterschiedlich bewerteten Differenzen im Bereich der Semantik,5 lassen die technischen Möglichkeiten von Musik und Literatur nur bis zu einem gewissen Grad Vergleiche zu. Hier ist es besonders die Simultanität mehrerer Stimmen in der Musik, die literarisch nicht

1 Vgl. Ulrich Weisstein: Die wechselseitige Erhellung von Literatur und Musik: Ein Arbeitsgebiet der Komparatistik? In: Literatur und Musik. Ein Handbuch zur Theorie und Praxis eines komparatistischen Grenzgebietes. Hrsg. v. Steven Paul Scher, Berlin 1984, S. 40–60. 2 Zum Begriff der ‚Intermedialität‘ siehe auch Werner Wolf: Intermedialität: Ein weites Feld und eine Herausforderung für die Literaturwissenschaft. In: Literaturwissenschaft: intermedial – interdisziplinär. Hrsg. v. Herbert Foltinek und Christoph Leitgeb, Wien 2002, S. 163–192, hier S. 163. [= Wolf 2002a]. Eine umfassende Systematisierung der unterschiedlichen Formen der Intermedialität, ausgehend von der Unterscheidung zwischen „Inter-, Intra- und Transmedialität“ findet sich bei Irina O. Rajewsky: Intermedialität. Tübingen/Basel 2002 (= UTB für Wissenschaft: Medien- und Kommunikationswissenschaft; Bd. 2261), S. 11–15 u. S. 157. 3 Auf die sich gegebenenfalls aus dem Vergleich der unterschiedlichen Medien ergebende Problematik wird an entsprechender Stelle in den jeweiligen Kapiteln dieser Arbeit eingegangen. 4 Vgl. Theodor W. Adorno: Fragment über Musik und Sprache [1953]. In: Ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 16: Musikalische Schriften I–III. Hrsg. v. Rolf Tiedemann, Frankfurt a. M. 1978, S. 251–256, hier: S. 251. Carl Dahlhaus geht u. a. auf den „[Unterschied] zwischen Präsentem und Repräsentiertem“ ein, welcher genüge „um die Charakterisierung der Musik als ‚Sprache‘ zu rechtfertigen“. Carl Dahlhaus: Das ‚Verstehen‘ von Musik und die Sprache der musikalischen Analyse. In: Ders.: Gesammelte Schriften in 10 Bänden, Bd. 5.: 19. Jahrhundert II. Theorie/Ästhetik/Geschichte: Monographien. Hrsg. v. Hermann Danuser, Laaber 2003, S. 676–686, hier: 680. [= Dahlhaus 2003a]. 5 Zu den differierenden Konzeptualisierungen des Verhältnisses von Sprache und Musik, in denen die Sprachähnlichkeit der Musik je nach historischem und geistesgeschichtlichem Kontext ganz unterschiedlich gedeutet wird, siehe Gunnar Hindrichs: Sprache und Musik. In: Handbuch Literatur & Musik. Hrsg. v. Nicola Gess und Alexander Honold, Berlin/Boston 2017 (= Handbücher zur kulturwissenschaftlichen Philologie; Bd. 2), S. 19–38. https://doi.org/10.1515/9783110715484-003

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umsetzbar ist. Dennoch gibt es Versuche, polyphone Strukturen sprachlich zu imitieren, ‚kontrapunktisch‘ zu schreiben oder einen ‚Basso Continuo‘ nachzuahmen. Meistens sind die Ähnlichkeiten bei solchen Versuchen jedoch metaphorischer Natur. Daher fragt Irmgard Scheitler in ihrem Aufsatz Musik als Thema und Struktur in deutscher Gegenwartsprosa: „Warum schreibt man ‚Kontrapunkt‘ statt Antithetik, ‚Duett‘ statt Dialog, ‚Reprise‘ statt Wiederholung, warum ‚Engführung‘, ‚Ostinato‘, ‚Coda‘, ‚Umkehrung‘?“6 Und sie meint, es handle sich dabei größtenteils um Irreführungen, da die Begriffe meist in vager undefinierter Analogie gehalten würden und nicht selten „interpretatorische Ratlosigkeit angesichts unkonventioneller Texte überdecken“7 sollen.8 Auch Werner Wolf konstatiert, dass von den „three major constituents of (Western) music, rhythm, melody and harmony, only rhythm has a relatively close counterpart in (metric) literature, whereas the other two constituents can have no more than vague analogies.”9 Der intermediale Vergleich fordert demnach eine gründliche Überprüfung der Begrifflichkeiten, da es bei der Übertragung wissenschaftlicher Termini von einem Fachgebiet auf ein anderes leicht zu Ungenauigkeiten kommt und Begriffe wie z. B. Leitmotiv oder Kontrapunkt als musikalische Metaphern an Präzision verlieren können. Die entsprechenden Begriffe müssen in ihrem neuen Geltungsbereich geprüft und neu definiert werden,10 um eine unreflektierte „[metaphorische] Übertragung von Termini von einem Tätigkeitsgebiet auf das andere“11 sowie subjektive Vergleiche, die nicht wissenschaftlich nachvollziehbar sind, zu vermeiden. Zu solch einer subjektiven Herangehensweise gehört auch der ‚sentimentale‘ Gebrauch12 des auf Literatur angewandten Begriffs ‚musikalisch‘. Steven Paul Scher plädiert in seinem Aufsatz How Meaningful is „Musical“ in Literary Critisism? dafür, diesen Begriff in Anlehnung an Northrop Frye auf „a quality in literature denoting a substantial

6 Irmgard Scheitler: Musik als Thema und Struktur in deutscher Gegenwartsprosa. In: Euphorion. Zeitschrift für Literaturgeschichte 92 (1998), S. 79–102, hier: S. 84. 7 Scheitler 1998, S. 84. 8 Vgl. auch Horst Petri: Literatur und Musik. Form- und Strukturparallelen. Göttingen 1964 (= Schriften zur Literatur; Bd. 5), S. 23. 9 Werner Wolf: The Musicalization of Fiction. A Study in the Theory and History of Intermediality. Amsterdam/Atlanta 1999 (= Internationale Forschungen zur Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft; Bd. 35), S. 22. 10 Vgl. Gier 1995, S. 73. Sowie Christoph Vratz: Die Partitur als Wortgefüge. Sprachliches Musizieren in literarischen Texten zwischen Romantik und Gegenwart. Würzburg 2002 (= Epistemata, Reihe Literaturwissenschaft; Bd. 371), S. 41. 11 Calvin S. Brown: Theoretische Grundlagen zum Studium der Wechselverhältnisse zwischen Literatur und Musik. In: Literatur und Musik. Ein Handbuch zur Theorie und Praxis eines komparatistischen Grenzgebietes. Hrsg. v. Steven Paul Scher, Berlin 1984, S. 28–39, hier: S. 31 f. 12 Vgl. Steven Paul Scher: How Meaningful is „Musical“ in Literary Critisism? In: Yearbook of Comparative and General Literature 21 (1972), S. 52–56, hier: S. 56.

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analogy to, and in many cases an actual influence from, the art of music“13 einzuschränken. In den folgenden methodischen Vorüberlegungen sollen anhand des Begriffs der ‚musikalisierten‘ Literatur Kriterien für den ‚unsentimentalen‘ Umgang mit ‚musikalischen‘ Texten aufgezeigt werden. Dabei gehe ich zunächst von dem von Steven Paul Scher herausgegebenen grundlegenden Handbuch Literatur und Musik (1984) sowie einer Weiterentwicklung der von Scher entwickelten Systematik in Werner Wolfs bereits erwähnter Arbeit The Musicalization of Fiction. A Study in the Theory and History of Intermediality (1999) aus, die sich mit den unterschiedlichen Formen der musikliterarischen Intermedialität beschäftigen. Die von Scher entworfene Systematik der Wechselbeziehungen zwischen den beiden Künsten wurde inzwischen vielfach weiterentwickelt und teilweise kritisiert; sie bildet jedoch die Grundlage, auf der die meisten Systematisierungen aufbauen und definiert zentrale Begriffe. Eine aktuelle und umfassende Neubearbeitung des Forschungsfeldes, in der sowohl der systematische als auch der historische Zusammenhang zwischen Musik und Literatur dargestellt werden, bildet das von Nicola Gess und Alexander Honold herausgegebene Handbuch Literatur & Musik (2017), auf das ich mich im Anschluss an die genannten Arbeiten hauptsächlich beziehe. Scher entwickelte ein dreiteiliges Schema, das zwischen 1. ‚Literatur in der Musik‘, 2. ‚Musik und Literatur‘ und 3. ‚Musik in der Literatur‘ unterscheidet. Jeder dieser Bereiche kann Gegenstand eines musikliterarischen Studiums sein, wobei die erste Kategorie hauptsächlich einen Untersuchungsgegenstand der Musikwissenschaft darstellt, da sie musikalische Literarisierungsversuche der sogenannten Programmmusik bezeichnet, in der Text/Sprache meist nur in Form eines programmatischen Titels enthalten ist, der sich auf ein literarisches Werk oder eine literarische Gattung bezieht.14 Zudem kann Instrumentalmusik „Erwartungsaufbau, Spannung und Überraschung [. . .] generieren“ und enthält damit „narrative Elemente, obwohl sie nicht narrativ ist.“15 Die ‚Zuständigkeiten‘ der Disziplinen überschneiden sich in der zweiten Kategorie, da sich das mehr oder weniger gleichberechtigte Zusammenspiel von Musik und Literatur auf die Vokalmusik bezieht, in der es sowohl um die Interpretation von Musik als auch um die Lied- und

13 Northrop Frye: Lexis and Melos. In: Literatur und Musik. Ein Handbuch zur Theorie und Praxis eines komparatistischen Grenzgebietes. Hrsg. v. Steven Paul Scher, Berlin 1984, S. 169–179, hier: S. 170. 14 Vgl. Steven Paul Scher: Einleitung: Literatur und Musik – Entwicklung und Stand der Forschung. In: Literatur und Musik. Ein Handbuch zur Theorie und Praxis eines komparatistischen Grenzgebietes. Hrsg. v. Steven Paul Scher, Berlin 1984, S. 9–25, hier: S. 11. 15 Matthias Schmidt: Literatur in (Instrumental-)Musik. In: Handbuch Literatur & Musik. Hrsg. v. Nicola Gess und Alexander Honold, Berlin/Boston 2017 (= Handbücher zur kulturwissenschaftlichen Philologie; Bd. 2), S. 114–128, hier: S. 116 f.

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Oratorientexte, Opernlibretti und andere zu singende Texte geht.16 Die dritte Kategorie – ‚Musik in der Literatur‘ – ist aus literaturwissenschaftlicher Perspektive besonders von Interesse, da der Ausgangspunkt die Literatur ist und die verschiedenen Formen der sprachlichen Imitation und Evokation von Musik im Vordergrund stehen. Diese Kategorie gliedert Scher wiederum in die Teilbereiche ‚Wortmusik‘, ‚Form- und Strukturparallelen‘ und ‚verbal music‘.17 Der Begriff ‚Wortmusik‘ bezeichnet „dichterische Nachahmungsversuche der akustischen Qualität der Musik“,18 z. B. durch Onomatopoesie sowie hervorgehobenen Rhythmus und Dynamik. Damit geht eine Schwerpunktverlagerung vom semantischen Gehalt der Sprache auf die Ausdrucksseite der sprachlichen Zeichen einher.19 Diese Tendenz wird auch durch die der Musik selbst inhärente Autoreflexivität20 verstärkt, so dass durch die verschieden Formen der Musikalisierung ein Akzent auf die poetische Funktion der Sprache21 gesetzt wird.22 Kurt Schwitters Gedicht Ursonate23 ist ein Beispiel für die „totale Musikalisierung von Literatur“24 durch ‚Wortmusik‘ in Kombination mit paratextuellen Hinweisen auf die Musikanalogie. 16 Zur Kritik an der Kategorie ‚Musik und Literatur‘ siehe Nicola Gess und Alexander Honold: Einleitung. In: Handbuch Literatur & Musik. Hrsg. v. Nicola Gess und Alexander Honold, Berlin/Boston 2017 (= Handbücher zur kulturwissenschaftlichen Philologie; Bd. 2), S. 1–14, hier: S. 4 f. 17 Wie allgemein in der deutschsprachigen Intermedialitätsforschung üblich, übernehme ich hier den englischsprachigen Begriff von Scher. Siehe Steven Paul Scher: Verbal Music in German Literature. New Haven/London 1968. 18 Scher 1984, S. 12. 19 Die Annahme, dass besonders wohlklingende sprachliche Passagen Musik nachahmen würden, trifft Northrop Frye zufolge nicht zu, da es gerade die Dissonanzen seien, die musikalische Energie erzeugten. Demzufolge weisen „sharp barking accents, long cumulative rhythms sweeping lines into paragraphs, crabbed and obscure language, mouthfuls of consonants, the spluttering rumble of long words, and the bite and grip of heavily stressed monosyllables“ eher auf einen musikalischen Einfluss hin. Frye 1984, S. 171. 20 Vgl. Gier 1995, S. 67. 21 Vgl. Gier 1995, S. 68. 22 Dies wird in stark musikalisierten Texten, besonders ausgeprägt in der Lyrik, aber auch in musikalisierten Prosatexten spürbar. Durch die übereinander gelagerten lautlichen, metrisch-rhythmischen und semantischen Ebenen, wird „die Aufmerksamkeit für die denotierte Bedeutung verringert [. . .]. Es läßt sich also sagen, daß der Semantisierung der Signifikant-Ebenen eine Desemantisierung der Ebene der Denotation entspricht.“ Jürgen Link: Elemente der Lyrik. In: Literaturwissenschaft. Ein Grundkurs. Hrsg. v. Helmut Brackert und Jörn Stückrath, Hamburg 1992 (= Rowohlts Enzyklopädie; Bd. 523), S. 86–101, hier: S. 97; vgl. auch S. 94. Die Übertragung des Begriffs der ‚Überstrukturiertheit‘ von der Lyrik auf entsprechende Prosatextstellen, wie Martin Brinkmann sie für seine Analyse der Dodererschen Divertimenti nutzt, ist daher hilfreich. Siehe Brinkmann 2012, S. 194–199. 23 Kurt Schwitters: Ursonate. In: Ders.: Das literarische Werk. Bd. 1: Lyrik. Hrsg. v. Friedhelm Lach, Köln 1973, S. 214–242. 24 Vgl. Werner Wolf: Musik in Literatur: ‚Showing‘. In: Handbuch Literatur & Musik. Hrsg. v. Nicola Gess und Alexander Honold, Berlin/Boston 2017 (= Handbücher zur kulturwissenschaftlichen Philologie; Bd. 2), S. 95–113, hier: S. 104.

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In den Dämonen finden sich besonders im Zusammenhang mit Natur- und Musikbeschreibungen Passagen, die als ‚Wortmusik‘ beschrieben werden können. Häufig sind es ins Lyrische tendierende Zustandsbeschreibungen, welche implizit die Sprache und den Roman selbst thematisieren. Die Strukturierung literarischer Texte in Analogie zu musikalischen Formen und Gattungen sowie die Adaption musikalischer Techniken fasst Scher als ‚Formund Strukturparallelen‘ zusammen. Horst Petri hat in seiner gleichnamigen Arbeit einige prominente literarische Beispiele für die Transformation musikalischer Formen und Strukturen untersucht. Die sprachliche Imitation der Sonatensatzform illustriert er anhand Thomas Manns Tonio Kröger (1903), wobei der dreiteilige Aufbau und die Struktur der Erzählung zwischen Statik und Dynamik (Kindheit/ ‚Exposition‘ – Aufbruch und Künstlerleben/‚Durchführung‘ – Rückkehr des Helden in die Heimat/‚Reprise‘ + Brief/‚Coda‘) nicht ausreichen, um die Nachahmung einer Sonate zu belegen. Bei einem solchen Aufbau handelt es sich „um eine sehr allgemeine Strukturbildung dynamischer Künste [. . .], die es fragwürdig macht, dafür nun explizit eine musikalische Formbezeichnung zur Beschreibung zu verwenden.“25 Entscheidend tritt hinzu, dass „die Sprache nicht nur [. . .][als] Träger der Handlung, sondern [. . .] darüber hinaus die einmal gewählte Wortfolge als Konstruktionselement“26 verwendet wird. Die Wiederholung und Variation ganzer Textabschnitte, die Doderer als „[phrasierte] Motivtechnick [sic]“ (TB 346, Februar 1926) bezeichnet hat, sind ein wesentliches Element der Musikalisierung seines Werks.27 Die strukturellen und inhaltlichen Funktionen dieser Rekurrenzen innerhalb der Dämonen werden in dieser Arbeit im Kontext der Apperzeptionsthematik analysiert.28 Analogien zur Sonatensatzform finden sich in den Wiederholungsstrukturen der Strudlhofstiege. Auf die damit verknüpfte Charakterisierung und Entwicklung einzelner Romanfiguren in Anlehnung an das musikalische Haupt- und Seitenthema im Sonatenhauptsatz gehe ich im Zusammenhang mit der Figur Mary K. ein,29 da die Entwicklung dieser Figur in den Dämonen fortgeführt wird und sich die beiden Romane in mehrfacher Hinsicht aufeinander beziehen. Auch literarische Versuche, musikalische Strukturen und Techniken sprachlich umzusetzen, fallen in

25 Sichelstiel 2004, S. 110. 26 Petri 1964, S. 44. 27 Ein signifikantes Beispiel für die Übernahme musikalischer Formen ist auch Doderers Erzählung Sonatine, an der sich die „Devianz von literarischen Kohärenzprinzipien und Dereferentialisierung“ als „wesentliche Markierung von formal-imitativen literarischen Musikalisierungsexperimenten [zeigt].“ (Wolf 2017, S. 106) Durch den Titel der Erzählung, deren drei Teile – als Exposition, Durchführung und Reprise – jeweils analog zu den Teilen der Sonatensatzform gestaltet sind (vgl. Treml 1997, S. 124 f.), wird das „[ästhetisch-formale] Prinzip von Kontrast und Ähnlichkeit“ (Wolf 2017, S. 108) in einen musikalischen Kontext gestellt. 28 Siehe Kap. 4.3.1. 29 Siehe Kap. 4.1.1.

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die Kategorie ‚Form- und Strukturparallelen‘30 und finden sich in den Dämonen als literarische Referenzen auf die Polyphonie und den Kontrapunkt, die anhand des als ‚Finale‘ gestalteten ‚Feuer‘-Kapitels analysiert werden.31 Neben ‚Wortmusik‘ und ‚Form- und Strukturparallelen‘ nennt Scher auch die ‚verbal music‘ als mögliche Umsetzung der ‚Musik in der Literatur‘. Mit diesem Begriff wird die sprachliche Darstellung eines bestimmten fiktiven oder realen Musikstückes bezeichnet:32 By verbal music I mean any literary presentation (whether in poetry or prose) of existing or fictitious musical compositions: any poetic texture which has a piece of music as its ‚theme‘. [. . .] Although verbal music may, on occasion, contain onomatopoeic effects, it distinctly differs from word music, which is exclusively an attempt at literary imitation of sound.33

Die Thematisierung des Musikstücks steht im Mittelpunkt, doch in den meisten Fällen wird zur Beschreibung von Musik auch auf Elemente der ‚Wortmusik‘ zurückgegriffen, so dass neben der Thematisierung auch Klangeindrücke imitiert werden, um eine der erzählten Musik analoge bzw. ähnliche Vorstellung zu erzielen. Damit rücken „die poetischen Gestaltungsmöglichkeiten, durch die reale und fiktive Musik mittels Sprache nachvollziehbar, erlebbar und vernehmbar gemacht werden soll“,34 in den Fokus. Die Beschreibung konkreter Musikstücke durch ‚verbal music‘ findet sich in den Dämonen nur vereinzelt im Kontext der Opernmusik.35 Interessant ist in diesem Zusammenhang jedoch auch die Thematisierung der Unbeschreibbarkeit der Musik (vgl. DD 719) im Vergleich mit ‚verbal music‘ in der frühen Erzählung Die Bresche, auf die im Hinblick auf die intertextuellen Beziehungen zu den Dämonen in dieser Arbeit eingegangen wird.36 Neben Elementen der Musik wie Melodie, Rhythmus, Tempo, Dynamik, Harmonik, Tonlage, Instrument, Sprache und Gattungsform, die in der ‚verbal music‘ geschildert und z. T. imitiert werden, führt Christoph Vratz in Anlehnung an Scher

30 Andreas Sichelstiel hat eine Umbenennung in „[musikalische] Kompositionstechniken [. . .], zu denen sich Parallelen und Analogien in der Form und Struktur von Literatur finden lassen“ vorgeschlagen, um „musikalische Großformen [und][. . .] kleinere musikalische Kompositionsschemata mit ein[zuschließen]“ und zugleich zwischen inneren Strukturen, die beiden Medien inhärent sind (Parallelen) und literarischen Nachahmungen von Musik (Analogien) zu differenzieren. Sichelstiel 2004, S. 15. Er bezieht sich mit diesen Begrifflichkeiten auf Werner Wolf: „The musicalization of fiction“. Versuche intermedialer Grenzüberschreitung zwischen Musik und Literatur im englischen Erzählen des 19. und 20. Jahrhunderts. In: Intermedialität. Theorie und Praxis eines interdisziplinären Forschungsgebiets. Hrsg. v. Jörg Helbig, Berlin 1998, S. 133–164, hier: S. 133. 31 Siehe Kap. 4.3.2; Kap. 4.3.3; Kap. 4.3.4. 32 Vgl. Scher 1984, S. 13. 33 Scher 1968, S. 8. 34 Vratz 2002, S. 70. 35 Siehe Kap. 5.2.2. 36 Siehe Kap. 5.1.2.

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auch die „‚physische‘ Komponente“ an.37 Diese ‚physische Komponente‘, d. h. die Beschreibung der körperlichen Reaktionen, die beim Aufführen und Rezipieren von Musik an den Beteiligten wahrzunehmen ist, wird ebenso wie die Schilderung der akustischen Dimension für die sprachliche Wiedergabe eines Musikstückes verwendet, wenn im Rahmen der ‚verbal music‘ z. B. den Bewegungen, Körperhaltungen oder der Mimik von Dirigierenden, Musizierenden oder Rezipierenden Aufmerksamkeit geschenkt wird. Eine interessante Erweiterung erfährt der Begriff ‚verbal music‘ bei Martin Brinkmann, der vorschlägt, auch die Schilderung von Naturgeräuschen, sofern sie wie ein Musikstück behandelt werden, als ‚uneigentliche‘ ‚verbal music‘ zu interpretieren.38 Diese Anregung ist auf Doderers Werke bezogen äußerst reizvoll, da die Musikalisierung seiner Texte oft mit ausgiebigen ‚Natur-Klang-Konzerten‘ einhergeht, denen er „mittels Parallel- und Wiederholungsstrukturen mitunter etwas ‚Musikalisches‘ [verleiht], [. . .] also um sprachliche Momente bemüht [ist], in denen die Reizwirkung der Klangkombination den Sinnzusammenhang übertönt“.39 Allerdings verwischt die Grenze zwischen den Kategorien ‚verbal music‘ und ‚Wortmusik‘ bei einer solchen Definitionserweiterung. In den meisten Fällen sind Schilderungen von Naturklängen nur durch Onomatopoesie und andere Elemente der ‚Wortmusik‘ geprägt, ohne den Eindruck eines spezifischen Musikstücks erwecken zu wollen; dennoch gibt es Text-Passagen, die als ‚uneigentliche verbal music‘ verstanden neue Deutungsmöglichkeiten zulassen. Die hier nachgezeichnete und um einige Anregungen aus der jüngeren Forschung ergänzte Systematisierung der musikliterarischen Beziehungsebenen von Steven Paul Scher wurde wie gesagt von Werner Wolf in seiner 1999 erschienenen Arbeit The Musicalization of Fiction weiterentwickelt und ausdifferenziert. Anders als Scher, der von den Künsten Musik und Literatur sowie den dazugehörigen Wissenschaften ausgeht, macht Wolf die (musikliterarische) Intermedialität zum Ausgangspunkt seiner Untersuchung. Die von Wolf aufgestellten Kriterien zur Untersuchung von verschiedenen Formen der Intermedialität sind 1. die involvierten Medien, 2. die Ausprägungen der Dominanz eines Mediums oder auch das gleichberechtigte Nebeneinander verschiedener Medien, 3. die quantitative Ausbreitung intermedialer Teile und 4. die Genese der Intermedialität, d. h. ob sie vom Urheber selbst geschaffen und damit als primäre Intermedialität besteht, oder wie z. B. bei der posthumen Vertonung eines Gedichts, erst sekundär und nicht autorisiert hinzukommt. Als wichtigstes Kriterium spielt 5. die Qualität der Intermedialität eine Rolle, die Wolf als direkte/offene und indirekte/verdeckte Intermedialität differenziert.40 „[The] Terms ‚overt‘ vs. ‚covert‘ 37 Vratz 2002, S. 79. 38 Brinkmann 2012, S. 431 u. S. 438. 39 Brinkmann 2012, S. 438. 40 Vgl. Wolf 1999, S. 37–44.

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intermediality are devised to allow, among other things, a re-conceptualization of Scher’s typology within a general theory of intermediality.“41 Direkte Intermedialität liegt vor, wenn sowohl musikalische als auch sprachliche Zeichen genutzt werden, wie es in der Oper und allgemein in der Vokalmusik der Fall ist, und umfasst daher die Kategorie ‚Musik und Literatur‘. Selten findet sich auch in literarischen Texten direkte Intermedialität in Form von wiedergegebenen Notenbildern, wie z. B. in James Joyce’ Ulysses,42 in Arthur Schnitzler Fräulein Else43 oder bei Doderer in Die Merowinger (DM 125). Weitaus verzweigter sind dagegen die Gebiete der indirekten Intermedialität von Musik und Literatur. Entscheidend ist hierbei, dass nur ein Medium in seiner charakteristischen Form erscheint und somit das dominante Medium ist, während ein anderes Medium innerhalb des Zeichensystems des dominanten Mediums indirekt präsentiert wird. Der Teilbereich der ‚Literatur in der Musik‘, d. h. die Programmmusik, erfüllt dieses Kriterium ebenso wie die Kategorie ‚Musik in der Literatur‘. Von anderen Ausgangspunkten kommend trifft sich die Gliederung von Scher und Wolf somit auf der Ebene der Kategorien ‚Musik und Literatur‘, ‚Literatur in der Musik‘ und ‚Musik in der Literatur‘. Die verschiedenen Gestalten von musikalischer Präsenz in der Literatur unterteilt Wolf vorerst in die Thematisierung und die Imitation von Musik, als zwei Pole eines Kontinuums mit vielen Abstufungen.44 Zu diesen Formen der indirekten Intermedialität, die im Folgenden erläutert werden, gehört als eine weitere Möglichkeit der Musikalisierung die ‚Evokation von Vokalmusik durch assoziative Zitate‘.45 Derartige Zitate können sich sowohl generell auf Vokalmusik beziehen, als auch auf eine Gattung oder ein Musikstück. Diese spezifischen Referenzen auf eine Komposition, die z. B. durch Liedtextzitate die entsprechende Musik potenziell evozieren, schließen die ‚verbal music‘ mit ein, wobei für diese eine über das reine Zitieren hinausgehende Thematisierung des Musikstückes nötig ist und zudem meist auch Elemente der Imitation genutzt werden.

41 Wolf 1999, S. 39. 42 James Joyce: Ulysses [1922]. In: Ders.: Werke 3.I.: Frankfurter Ausgabe. Hrsg. v. Klaus Reichert, Frankfurt a. M. 1975, S. 277. 43 Arthur Schnitzler: Fräulein Else [1924]. In: Ders.: Ausgewählte Werke in acht Bänden, Bd. 3: Spiel im Morgengrauen. Erzählungen 1923–1931. Hrsg. v. Heinz Ludwig Arnold, Frankfurt a. M. 4 1999, S. 7–73, hier: S. 62 u. S. 64. 44 Vgl. Wolf 1999, S. 45. 45 Vgl. Wolf 1999, S. 67–69, hier: S. 67: Die Möglichkeit, ein anderes Medium durch assoziative Zitate zu evozieren, besteht nur dann, wenn das zitierte Medium selbst ein direkt intermediales Medium (wie z. B. Vokalmusik) ist: „this is technically done by transferring material of the medial component that both media share (in the case of vocal music: verbal text), by means of [. . .] quotation from the medially hybrid ‚source‘ work into the ‚target‘ work, so that the source work, including its other, non-quoted medial component, is thereby evoked through association.“

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Yet there is another possibility, as, for instance, in cases in which syllables such as ‘la, la, la’ or ‘the sweet chorus of ha, ha, he’ in Blake’s ‘Laughing Song’ [. . .] occur as utterance of a literary character or of several characters and are meant to be read as (fragments of) unspecified vocal music. In this case the reference to a song is combined with a general reference to the genre ‘song’ or even to the mere concept of ‘songfulness’ [. . .].46

Durch die Wiederholung von typischen Silbenfolgen kann demnach Gesang evoziert werden, ohne dass ein konkreter Liedtext wiedergegeben wird. Die Evokation von Musik durch das Zitieren von Vokalmusik findet sich mehrfach in den Dämonen; einerseits wenn Romanfiguren singen, andererseits durch leitmotivisch wiederkehrende Versatzstücke von Liedern, welche als Kommentar zur Befangenheit der Figur in der ‚zweiten Wirklichkeit‘ gelesen werden können und zugleich eine musikalisierende und strukturierende Funktion haben.47 Für die Thematisierung von Musik unterscheidet Wolf drei Formen, je nachdem in welcher Position sie sich befinden, d. h. ob sie innerhalb des literarischen Textes, in dazugehörigen Paratexten oder außerhalb des betreffenden Werkes, in seinem Kontext erscheinen. Alle drei Formen lassen sich in Bezug auf Die Dämonen wiederfinden: Abgesehen von der den Roman durchziehenden intratextuellen Thematisierung von Musik, findet sich auch im Paratext als Kapitelüberschrift Ouvertüre ein Verweis auf musikalische Formen, wie die Symphonie, die Doderer als Vorbild für den Roman ansah (vgl. WdD 173). Besonders stark betont Doderer selbst in vielfältigen kontextuellen Thematisierungen in Tagebüchern, Interviews oder theoretischen Abhandlungen die herausragende Rolle der Musik in seinem Werk. Nicola Gess greift die schon bei Wolf verwendeten Begriffe des ‚telling‘ und ‚showing‘48 für die Bereiche Thematisierung und Imitation auf. Auch die sprachlichen Beschreibungen von Musik, die sie dabei im Blick hat, gehen jedoch über eine reine Thematisierung hinaus, so dass sowohl ‚telling‘ als auch ‚showing‘ als „Medientransformation“49 verstanden werden: Unter den Modus des telling fallen demnach Beschreibungen von Musik und Musikwerken, inklusive des von Scher als ‚verbal music‘ bezeichneten Phänomens der Beschreibung fiktiver

46 Wolf 1999, S. 68. Siehe auch Wolf 1999, S. 13 f. zu dem im Zitat erwähnten Gedicht Laughing Song von William Blake. 47 Siehe Kap. 5.1.1. 48 Vgl. Wolf 1998, S. 133. Siehe auch Abb. 1: „Main Areas of Musico-Literary Intermediality“ zur Übersicht der musikliterarischen Intermedialität bei Wolf 1999, S. 70. 49 Diesen Begriff schlägt Gess in Abgrenzung zu dem problematischen Begriff des ‚Medienwechsels‘ u. a. bei Rajewsky vor (vgl. Rajewsky 2002, S. 157). „Es geht bei musik-literarischer Intermedialität nicht um den Wechsel eines medienunabhängigen etwas von einem Medium ins andere, sondern um die Transformation des Mediums selbst im Sinne der Transformation medienspezifischer Eigenschaften und Verfahren.“ Nicola Gess: Intermedialität. Vom Paragone bei Hoffmann bis zum Inneren Monolog bei Schnitzler. In: Poetica 42 (2010), S. 139–168, hier: S. 142.

48

3 Die Musikalisierung von Literatur

Musikwerke [. . .]. Unter den Modus des showing fallen literarische Phänomene, die die Musik entweder evozieren, simulieren oder (teil)reproduzieren.50

Die hauptsächliche Musikalisierung von Literatur im Sinne einer angestrebten ‚musikalischen‘ Wirkung des Textes findet innerhalb der verschiedenen technischen Formen der Imitation (‚showing‘) statt. Diese intermedialen Bezugnahmen können je nach Ausgangspunkt des Erkenntnisinteresses verschieden kategorisiert werden, so dass Bereiche wie die ‚Medienkombination‘ unterschiedlichen Oberbegriffen zugeordnet werden, was beispielsweise durch die oben zitierte Einteilung bei Nicola Gess deutlich wird. Werner Wolf teilt den Bereich Imitation in die ‚Wortmusik‘, in formale und strukturelle Analogien und als eine weitere Kategorie in die ‚imaginary content analogies‘ ein. Der Begriff ‚Wortmusik‘ und die ‚Form- und Strukturparallelen‘ sind auch in Schers Einteilung der ‚Musik in der Literatur‘ enthalten und wurden bereits erläutert. Im Zusammenhang mit den ‚Form- und Strukturparallelen‘ führt Wolf die Differenzierung in Mikroformen wie Echo, Ostinato, thematische Variationen, Modulationen, Polyphonie usw. und Makroformen, d. h. musikalische Gattungen, wie die Fuge oder die Sonate51 ein. Mit Mikroformen sind demnach die musikalischen Techniken gemeint, während als Makroformen die Transformation von musikalischen Großformen, wie bereits Horst Petri sie beschrieben hat, bezeichnet sind. Im Zusammenhang mit der Imitation von spezifischen Musikstücken taucht erneut die Frage nach der konkreten Definition der ‚verbal music‘ auf. Anders als Scher, der nur partielle Überschneidungen annimmt, und die ‚verbal music‘ in seinem Schema neben die ‚Wortmusik‘ und die ‚Form- und Strukturparallelen‘ stellt, sieht Wolf die ‚verbal music‘ als optionalen Teilbereich aller Formen der ‚Musik in der Literatur‘: Consequently, verbal music cannot typologically be located in the same set of forms as word music and structural analogies but must be conceived of as a part of a separate typological set, in which the criterion of reference is the dominant aspect. Inside this sub-category verbal music as a specific reference to music is opposed to a general reference which is inherent in all covert musico-literary intermediality.52

Wie durch die ‚Evokation von Vokalmusik durch Zitate‘ kann auch durch die Thematisierung und durch Techniken der Imitation ‚verbal music‘ entstehen, wenn ein spezifisches Musikstück im Fokus steht. ‚Verbal music‘ ist somit selbst keine unabhängige Technik, sondern immer an diese Formen der ‚Musik in der Literatur‘ gebunden,53 da sie die jeweilige Musik nur mit Hilfe von Thematisierung und Imitation evozieren kann.

50 Gess 2010, S. 143 f. 51 Wolf 1999, S. 58. 52 Wolf 1999, S. 60. 53 Vgl. Wolf 1999, S. 62.

3 Die Musikalisierung von Literatur

49

Ich komme nun zu der letzten noch nicht erläuterten Kategorie der literarischen Imitation von Musik. Die Beschreibung eines Musikstückes durch einen vom Erzähler oder einer seiner Figuren imaginierten Inhalt, durch innere Bilder also, die während der Musikrezeption entstehen, nennt Wolf ‚imaginary content analogies‘. Diese Bilder sind einerseits subjektiv und beschreiben nicht eigentlich die Musik, andererseits hängen die Vorstellungen aber mit Eigenschaften der Musik zusammen und stellen einen Versuch dar, das musikalische Erlebnis durch Metaphern und Vergleiche nachvollziehbar zu machen.54 Auch diese Verbalisierung von Musik bzw. ihrer Wirkung überschneidet sich mit Aspekten der ‚verbal music‘. Statt jedoch die charakteristischen Merkmale des Musikstückes, wie den Tonhöhenverlauf, die Tonart, das Tempo, den Rhythmus, eventuell den Einsatz verschiedener Instrumente usw. zu beschreiben, liegt der Fokus bei den ‚imaginary content analogies‘ auf der ‚Stimmung‘ und den dadurch evozierten inhaltlichen Vorstellungen. So wird beispielsweise in den Dämonen ein vierstimmig gesungenes ungarisches Lied mit Bildern der Landschaft „des gewaltigen ungarischen Vaterlandes“ mit seinen „durchsonnten Seen und Teichen, darin die ungarischen Bäuerinnen baden“ (DD 550) beschrieben. Diese Bilder ersetzen die direkte Beschreibung der Musik. Das von Wolf entwickelte Diagramm in Abb. 1 schließt an Schers Kategorisierung der beschriebenen musikliterarischen Teilbereiche an und macht ihre Neuverortung deutlich. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die beschrieben Kategorien der Musikalisierung in der Praxis oftmals in Mischformen auftreten. Die Thematisierung von Musik innerhalb eines literarischen Werks ebenso wie paratextuelle Bezugnahmen können ein Hinweis auf strukturelle Referenzen auf Musik sein. Wiederholungsstrukturen in literarischen Texten können – müssen aber nicht – in einem musikalischen Kontext stehen. Ob es sinnvoll ist, von einer Musikalisierung eines Werks zu sprechen, hängt neben der Intensität der Musikreferenzen auf verschiedenen Ebenen auch von der quantitativen Ausbreitung der Thematisierung und Imitation des anderen Medium ab. Sichelstiel betont zudem die Relevanz der kontextuellen Hinweise durch Aussagen des Autors oder der Autorin zur strukturellen Bedeutung der Musik in dem entsprechenden Text. Solche Aussagen über die musikalischen Kompositionsprinzipien der Werke, wie Heimito von Doderer sie in großer Zahl hinterlassen hat, können als Rezeptionslenker verstanden werden, die den intermedialen Bezugsrahmen sichtbar werden lassen, die allerdings ebenso zu Fehlinterpretationen führen können. So stellt Martin Huber in Bezug auf Thomas Manns Novelle Tonio Kröger (1903) fest, indem diese „in ein Analogieverhältnis zur streng durchkomponierten Sonatenhauptsatzform gestellt wird, suggeriert dies auch für den Text ein Kompositionsprinzip, das wie in der Musik

54 Vgl. Wolf 1999, S. 63.

50

3 Die Musikalisierung von Literatur

A) ‘MAIN AREAS OF MUSICO-LITERARY STUDIES’ according to Scher, ed. 1984:14 (translation mine)

music

literature

musicology

literary studies Literaturwissenschaft musico-literary studies

literature in music

music and literature

music in literature

programme music

vocal music

word music formal and verbal music structural parallels to music

B) MUSICO-LITERARY INTERMEDIALITY basic forms

overt/direct intermediality

covert/indirect intermediality

use of musical and verbal signifiers

use of verbal or musical signifiers only; the other (non-dominant) medium present in the first (dominant) medium as signified (and referent)

music and literature

literature in(to) music

(e.g. vocal music)

(e.g. programme music)

music in(to) literature

main forms of covert musical presence in literature

thematization (‘telling’)

evocation of vocal music through associative quotation

imitation (‘showing’) (core area of) MUSICALIZATION OF FICTION/LITERATURE position/occurrence: always textual

positional forms

referential forms

technical forms

textual

para textual

(contextual)

general reference to music

specific reference to a musical genre or composition (including ‘verbal music’)

imaginary content analogies

‘formal and ‘word music’ structural analogies’ (micro- and macroforms)

Abb. 1: „Main Areas of Musico-Literary Intermediality“.55

55 Wolf 1999, S. 70. Eine überarbeitete, noch stärker auf die verschiedenen Ausprägungen der intermedialen Zusammenhänge ausgerichtete Systematisierung, in der die musikliterarischen

3 Die Musikalisierung von Literatur

51

schon vor Beginn festgestanden haben muß.“56 Die Eigenart Doderers, seine zum großen Teil erst im Nachhinein angelegten ‚Kompositionsskizzen‘ zu seinen Romanen und Erzählungen als seinen literarischen Texten vorausgehende formale Struktur auszugeben, zeigt deutlich, wie fragwürdig solche Selbstaussagen sind. Dennoch können kontextuelle Hinweise Teil einer „explizite[n] referentielle[n] Stützung der intermedialen Lesart“ sein, die nötig sein kann, um bestimmte Formen der „impliziten intermedialen Referenz“57 zu kennzeichnen. In den folgenden Analysen der musikalisierenden Elemente in den Dämonen gehe ich zunächst von einem ‚close reading‘ aus, um an den entsprechenden Stellen, insofern es für die Interpretation sinnvoll erscheint, kontextuelle Hintergründe miteinzubeziehen.

Untersuchungsgebiete ausgehend von der prinzipiellen Unterscheidung zwischen werkübergreifender und werkinterner Intermedialität dargestellt werden, findet sich in Werner Wolf: Intermediality Revisited. Reflections on Word and Music Relations in the Context of a General Typology of Intermediality. In: Word and Music Studies. Essays in Honor of Steven Paul Scher and on Cultural Identity and the Musical Stage. Hrsg. v. Suzanne M. Lodato, Suzanne Aspden, Walter Bernhard, Amsterdam/New York 2002 (= Word and music studies; Bd. 4), S. 13–34, hier: S. 28. [= Wolf 2002b] In seinem Beitrag zum Handbuch Literatur & Musik findet sich zudem eine überarbeitete Version der Abbildung, bei der die imitativen Verfahren aufgeschlüsselt sind in die Bereiche ‚Evokation‘, ‚formale Imitation‘ und ‚Teilreproduktion‘. Vgl. Wolf 2017, S. 98. 56 Huber 1992, S. 133. 57 Wolf 2017, S. 99.

4 Thematisierung und Imitation von Musik in Die Dämonen Musik spielt in den Dämonen auf verschiedenen Ebenen der ‚histoire‘ und des ‚discours‘ eine Rolle. Es gibt musizierende Figuren wie die Geigerin Quapp, die Klavier spielende Mary K., den Pianisten Bill Frühwald oder den Gitarristen Oki Leucht. Einige Figuren besuchen Opernvorstellungen, andere hören Musik in Nachtcafés oder sprechen über das Musizieren. Neben diesen Thematisierungen auf der Handlungsebene finden sich eine Vielzahl von Metaphern aus dem musikalischen Bereich sowie Passagen, in denen die Sprache als ‚Wortmusik‘ u. a. durch rhythmische und onomatopoetische Betonungen der Ausdrucksseite eine musikalische Wirkung erzielt. Ebenso wird die ‚Klangkulisse‘ eingesetzt, sowohl was den Lärm der Stadt als auch die Naturgeräusche auf dem Land betrifft, um akustische Sinneseindrücke zu evozieren. Zudem findet ein Transfer musikalischer Techniken in die Literatur statt, indem mit Wiederholungen und Variationen sowie mit Mehrstimmigkeit experimentiert wird. In den folgenden Kapiteln 4.1 und 4.2 stehen die thematische Verknüpfung von Musik und Wahrnehmungsfähigkeit sowie die darüberhinausgehende Funktionalisierung von Musik innerhalb der Thematik der ‚zweiten Wirklichkeit‘ in den Dämonen im Vordergrund. Zunächst wird der Frage nachgegangen, inwieweit der Grad der Musikalität einer Romanfigur und die Authentizität ihrer Beziehung zur Musik auf ihre Apperzeptionsfähigkeit hindeuten. Dabei gehe ich von den Figuren Mary K. und Charlotte von Schlaggenberg (genannt Quapp) aus, die beide eine enge und zum Teil problematische Beziehung zur Musik haben. Darauf folgt eine Untersuchung der negativ konnotierten und als ‚Nicht-Kunst‘ dargestellten Bereiche der Musik und des Kunsthandwerks im Zusammenhang mit der Wirklichkeitsproblematik. Nach diesen von den Musik-Thematisierungen ausgehenden Analysen steht anschließend die Ebene der Musikimitation – resp. die verschiedenen Formen des Transfers musikalischer Strukturen und Techniken in den Dämonen – im Fokus. In Kapitel 4.3 geht es um die indirekt intermediale Verknüpfung von Musik und Literatur. Für diesen Bereich der literarischen Imitation und Evokation von Musik gehe ich von zwei Hauptuntersuchungsfeldern aus: 1. Die sogenannte ‚phrasierte Motivik‘, d. h. die Wiederholung und Variation längerer äquivalenter Textpassagen. Ausschlaggebend für die musikalisierende Funktion sind, neben der ornamentalen Wirkung der Wiederholung dieser oft ins Lyrische tendierenden Sequenzen, die onomatopoetischen und rhythmisierenden Gestaltungsmittel – d. h. Elemente der ‚Wortmusik‘ –, sowie die Metaphorik aus dem Bereich der Musik. Die vor- und zurückweisende Symbolik, die den Sequenzen z. T. leitmotivische Eigenschaften verleiht, trägt zu einer Verdichtung der semantischen Interferenzen bei und überdies zur Strukturierung des gesamten Romans. 2. Die multiperspektivische Struktur insbesondere des Romankapitels Das Feuer. Die Parallelführung diverser Handlungsstränge in diesem als ‚Finale‘ des Rohttps://doi.org/10.1515/9783110715484-004

54

4 Thematisierung und Imitation von Musik in Die Dämonen

mans gestalteten Kapitel, die sich an der musikalischen Polyphonie orientiert, ist u. a. verbunden mit Versuchen der Synchronisierung und der ‚kontrapunktischen‘ Kontrastierung. Die Trennlinie zwischen Thematisierung und Imitation von Musik in der Literatur lässt sich nicht immer scharf ziehen, da sich zumeist mehrere Bereiche überschneiden. Die Aufteilung der Kapitel dieser Arbeit in einen ersten Teil, der zunächst thematische Aspekte der Musik in den Dämonen untersucht, gefolgt von einem zweiten Teil, der die literarischen Transformationen musikalischer Strukturen in den Blick nimmt, bildet daher die Grundlage der Analysen, schließt jedoch keineswegs die Einbeziehung relevanter Aspekte aus dem jeweils anderen Bereich aus. Ebenso werden auch die zwei Ausgangspunkte meiner Arbeit – Musik und Erotik – an vielen Stellen zusammen verhandelt, so dass beispielsweise die Thematisierung von Opernmusik, die wiederum Tendenzen zur ‚verbal music‘ aufweist, erst am Ende der Arbeit untersucht wird.1 Dies ergibt sich aus der übergeordneten Frage nach der Funktion dieser Bereiche in Bezug auf die Wirklichkeitsproblematik.

4.1 Musikalität und Apperzeption Der Zusammenhang zwischen einem positiv oder negativ konnotierten Verhältnis zur Musik und der Wahrnehmungsfähigkeit zeigt sich in den Dämonen besonders prägnant an den musizierenden Figuren Mary K. und Quapp. In den folgenden Kapiteln wird es einerseits um die im Zusammenhang mit ihnen thematisierte Musik und andererseits um ihr Verhältnis zur Erotik bzw. die Darstellung ihrer Geschlechtlichkeit gehen, da diese Bereiche entscheidend für die Wahrnehmungsthematik des Romans sind. Sowohl Mary K. als auch Quapp sind durch ‚Bewusstseinsverengungen‘2 geprägt, die aufgrund ihres zwanghaften Festhaltens an Vorstellungen davon, wie ihr Leben zu verlaufen habe, entstehen. Dennoch verläuft ihre Entwicklung in Bezug auf die Musik konträr zueinander. Musik, Geschlechtlichkeit und Wahrnehmungsfähigkeit sind bei beiden eng korreliert, so dass sich die Figuren aufgrund der Parallelen und Differenzen in ihrer Entwicklung für eine vergleichende Betrachtung anbieten. Anhand dieser Figuren lassen sich einige der Funktionen nachvollziehen, welche Musik und Erotik im Zuge der ‚Menschwerdung‘, d. h. der Entwicklung und gegebenenfalls einer Emanzipation aus Wahrnehmungsstörungen und -verengungen, zukommen und wie diese sich gegenseitig beeinflussen.

1 Vgl. Kap. 5.2.2. 2 Unter dem Begriff der ‚Bewußtseinsverengung‘ fasst Kerscher verschiedene Formen der ‚Apperzeptionsverweigerung‘ und Wahrnehmungsstörungen in Doderers Werk zusammen. Vgl. Kerscher 1998, S. 12–14.

4.1 Musikalität und Apperzeption

55

Die „orphische Macht der Töne“ (DS 24), die Mary K. in der Strudlhofstiege anfangs noch für sich nutzen kann und deren Fehlen am Ende dieses Romans zum Verlust ihres Beines führt, bildet in Kapitel 4.1.1 den Ausgangspunkt der Analysen ihrer Beziehung zur Musik in den Dämonen, so dass dieses Kapitel stark auf die intertextuellen Verknüpfungen der beiden Romane ausgerichtet ist. Dabei wird auch die Schnittstelle zwischen der Strudlhofstiege, in der Mary in Analogie zu einem musikalischen Thema der Exposition und der Reprise eines Sonatensatzes behandelt wird, und der Dämonen, in denen ebenfalls musikalisierende Wiederholungsstrukturen an Mary geknüpft sind, unter dem Gesichtspunkt der Funktion dieser Figur innerhalb der Wahrnehmungsthematik betrachtet. Größtenteils sind die Musikthematisierungen in den Dämonen an die Figur Quapp gebunden, deren qualvolle Übungseinheiten mit der Geige und ihr letztliches Scheitern bei einem entscheidenden Vorspielen analog zu den Befangenheiten anderer Figuren in der ‚zweiten Wirklichkeit‘ beschrieben werden. Während einige Aspekte paradigmatisch für die Darstellung dieser Bewusstseinsverengungen sind, verläuft die Zielrichtung der Entwicklung jedoch konträr zu anderen ‚Apperzeptionsverweigerern‘ in den Dämonen. In den Kapiteln 4.1.2, 4.1.3 und 4.1.4 wird die Entwicklung der zunächst androgyn gezeichneten Figur Quapp anhand der für die Darstellung der ‚zweiten Wirklichkeit‘ typischen Raumsemantik, der Todes- und Krankheitsmetaphorik sowie des genealogischen Erbes der Figur, die über ihre Mutter implizit mit der Drachenthematik der Dämonen assoziiert ist, interpretiert. Die Semantisierung von Weiblichkeit innerhalb des Kontextes der ‚zweiten Wirklichkeit‘ wird im Anschluss an Hubert Kerschers Interpretation der Figur Quapp als „Chiffre für die [. . .] dämonische Leerstelle“3 und somit auch als Chiffre für die ‚zweite Wirklichkeit‘ nachgezeichnet, wobei die Parallelen zu den von Otto Weininger in Geschlecht und Charakter entworfenen Geschlechterkonzeptionen als ursächlich für die Überlagerung von Weiblichkeit und Nichtigkeit herausgestellt werden.

3 Kerscher 1998, S. 342.

56

4 Thematisierung und Imitation von Musik in Die Dämonen

4.1.1 Mary K. und „die orphische Macht der Töne“ – Apperzeptionssteigerung durch Musik URWORTE ORPHISCH ΔΑΙΜΩΝ Wie an dem Tag der Dich der Welt verliehen Die Sonne stand zum Gruße der Planeten, Bist alsobald und fort und fort gediehen Nach dem Gesetz wonach du angetreten. So mußt Du sein, Dir kannst Du nicht entfliehen, Das ändern nicht Sibyllen, nicht Propheten; Und keine Zeit und keine Kraft zerstückelt Geprägte Form die lebend sich entwickelt.4 Johann Wolfgang von Goethe

Mary K. ist eine der Figuren, die sowohl in der Strudlhofstiege als auch in den Dämonen auftreten. In beiden Romanen werden Wendepunkte in ihrer Entwicklung durch ihr Verhältnis zur Musik angezeigt. Die Thematisierung ihres Klavierspiels betrifft dabei nicht nur ihre eigene Apperzeptionsfähigkeit, sondern wirkt sich auch auf andere Figuren aus, so dass René Stangelers ‚Menschwerdung‘ sowie Dwight Williams Wahrnehmungsvermögen in den Dämonen entscheidende Impulse durch Marys wiederaufgenommenes Klavierspiel erfahren. Die Wahrnehmungsproblematik wird bei Mary an die Musikalität der Figur geknüpft, die einen ‚richtigen‘ Zugang zur Musik finden muss, um eine apperzeptive Haltung zu erreichen. Neben den Thematisierungen von Musik finden sich im Zusammenhang mit der Figur Mary K. auch musikalisierende Wiederholungsstrukturen, die sowohl intertextuell beide Romane miteinander verbinden, als auch intratextuelle Verweisstrukturen bilden, wie beispielsweise eine leitmotivisch wiederholte Formel in den Dämonen, deren Ausgangspunkt Marys Klavierspiel bildet. Auch die Analogien zur Sonatensatzform in der Strudlhofstiege, die durch Wiederholung und Variation einzelner Textpassagen und durch die Charakterisierung der Figuren in Anlehnung an musikalische Themen entstehen, werden in die Analyse der Musikfunktionen für die Entwicklungsgeschichte Marys einbezogen. Da die Strudlhofstiege, die bei ihrem Erscheinen vom Verlag als „Rampe“5 zu den Dämonen bezeichnet wurde, für die Darstellung der Figur in besonderem Maße von Bedeutung ist, werde ich zunächst auf Marys ‚Vorgeschichte‘ aus der Strudlhofstiege eingehen und einige der intertextuellen Verknüpfungen der beiden Romane erläutern.

4 Johann Wolfgang von Goethe: Urworte orphisch. In: Ders.: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. Bd. 24: Schriften zur Morphologie. Hrsg. v. Dorothea Kuhn, Frankfurt a. M. 1987, S. 429. 5 Zit. nach Weber 1963, S. 77.

4.1 Musikalität und Apperzeption

57

Der einleitende Satz der Strudlhofstiege antizipiert in Parenthese das finale Ereignis, auf das die Geschichte zuläuft6 und spannt zudem in dem vorangestellten Nebensatz den Bogen von Marys Rolle als Ehefrau zu der einer Witwe:7 Als Mary K.s Gatte noch lebte, Oskar hieß er, und sie selbst noch auf zwei sehr schönen Beinen ging (das rechte hat ihr, unweit ihrer Wohnung, am 21. September 1925 die Straßenbahn über dem Knie abgefahren), tauchte ein gewisser Doktor Negria auf, ein junger rumänischer Arzt, der hier zu Wien an der berühmten Fakultät sich fortbildete und im Allgemeinen Krankenhaus seine Jahre machte. (DS 9)

In den Dämonen werden Marys Rückkehr in die Gesellschaft nach dem Verlust ihres Beines und der Prozess der Findung eines neuen Selbstbildes sowie einer neuen Liebesbeziehung erzählt. Ihre Entwicklung aus der Befangenheit in einer ‚zweiten Wirklichkeit‘ hin zu einer weiblichen Heldengestalt in den Dämonen wird nur auf Grundlage beider Texte verständlich.8 Bereits auf den ersten Seiten der Strudlhofstiege, in denen Marys ‚Apperzeptionsverweigerung‘ im Mittelpunkt steht, wird die Bedrohung durch eine „gespannt wartende Dämonie der ruhenden Umgebung“ (DS 22) erwähnt. Ihr labiler Zustand wird durch gehäufte Hinweise auf das Ungleichgewicht zwischen Innen und Außen deutlich, das zu mehreren kleinen Unfällen bzw. Missgeschicken führt, die als warnende Vorausdeutungen den entscheidenden Straßenbahnunfall ankündigen, der somit als Folge ihrer ‚Apperzeptionsverweigerung‘ erscheint. Das geschlossene Fenster und das „möbelhafte polierte Schweigen“ (DS 21) in ihrer

6 Die Handlung der Strudlhofstiege setzt zu Beginn des Romans im Spätsommer 1923 ein und endet im Herbst 1925. In den ersten beiden Teilen des Romans springt sie v. a. zwischen den Jahren 1925 und 1911 hin und her, so dass eine Spannung zwischen den Ereignissen dieser Jahre entsteht, auf die sich „die Tiefe der Jahre“ im Untertitel des Romans bezieht. Vgl. Weber 1963, S. 95. 7 Zur metapoetischen Bedeutung dieses Satzes, der auf das Umweg-Prinzip des Romans verweist und das „Muster von Antrieb und Verzögerung“ veranschaulicht, vgl. Wendelin Schmidt-Dengler: Antrieb und Verzögerung. Zur Funktion der Parenthese in Doderers Epik: Anmerkungen zur ‚Strudlhofstiege‘ und zu den ‚Dämonen‘. In: „Excentrische Einsätze“. Studien und Essays zum Werk Heimito von Doderers. Hrsg. v. Kai Luehrs, Berlin/New York 1998, S. 136–147, hier: S. 138 u. S. 142. [= Schmidt-Dengler 1998a]. 8 Gerald Sommer hat eine umfassende Untersuchung der Figuren Mary K. und Melzer für die Strudlhofstiege vorgelegt. Daher beschränke ich mich, was die Handlung um Mary in der Strudlhofstiege betrifft, auf die Textstellen, die für die weitere Entwicklung in den Dämonen von Bedeutung sind. Gerald Sommer: Vom „Sinn aller Metaphorie“. Zur Funktion komplexer Bildgestaltungen in Heimito von Doderers Roman „Die Strudlhofstiege“ – dargestellt anhand einer Interpretation der Entwicklung der Figuren Mary K. und Melzer. Frankfurt a. M. 1994 (= Europäische Hochschulschriften, Reihe 1: Deutsche Sprache und Literatur; Bd. 1452).

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4 Thematisierung und Imitation von Musik in Die Dämonen

Wohnung weisen auf die Statik ihres Zustandes und Marys deperzeptive Haltung hin, in der sie sich nicht auf das Leben einlässt, sondern die Ereignisse von außen betrachtet und selbst Regie führen will. In Doderers Werken ist das Fenster der „sinnbildlich[e] [. . .] Ort grenzenloser Apperzeption“, wodurch „die Brücke vom Innen ins Außen geschlagen [wird].“9 Den „offene[n] Hohlraum der Erwartung“, mit dem „ein warmer Spätsommermorgen an den Scheiben [lehnt], ein freundliches und gelindes Geöffnetsein allen Umkreises“ (DS 20), hält Mary in ihrer Wohnung jedoch von sich fern, ebenso wie ihren im Eingangssatz des Romans erwähnten Verehrer Dr. Negria. Es findet sich in dieser Gegenüberstellung von ‚offen‘ vs. ‚geschlossen‘ bzw. ‚Geöffnetsein‘ vs. ‚Verschlossensein‘ eine der wesentlichen semantischen Oppositionen, die in den Dämonen die ‚erste‘ und die ‚zweite Wirklichkeit‘ bzw. Apperzeption und Deperzeption kennzeichnen und sowohl äußere Räume als auch die Figurenpsyche strukturieren. Marys zeitweilige Isolation zeigt sich auch daran, dass sie sich nicht unter die Gäste in einem großen Café mischt, „das den wenigen Lesern einer späterhin noch zu erwähnenden sektionsrätlich Geyrenhoff’schen handschriftlichen Chronik genauer bekannt geworden ist“ (DS 20). Mit der Erwähnung der Chronik wird der Bogen von der heterodiegetischen Erzählinstanz der Strudlhofstiege zu dem homodiegetischen Erzähler Geyrenhoff – als einem von mehreren fiktiven Erzählern, die ihrerseits einer heterodiegetischen Erzählinstanz untergeordnet sind – in den Dämonen geschlagen. Auf motivischer Ebene sind es die Dämonen bzw. die „Dämonie“ (DS 22), die auf das titelgebende Thema des ‚Folgeromans‘ verweisen und auf die zu bewältigende Aufgabe der Figur Mary, bei der es im Grunde darum geht, sich in das eigene Schicksal zu fügen bzw. der inneren Stimme zu folgen. Neben den bisher genannten intertextuellen Rekurrenzen zwischen den beiden Romanen – in Bezug auf die Chronologie, die Figuren und fiktive Erzähler sowie die Motivik – wird die Handlung um Mary auch durch die wörtliche Wiederholung und Variation ganzer Textabschnitte romanübergreifend verknüpft. Die hier nebeneinander gesetzten Zitate stammen aus einer Szene kurz vor ihrem Unfall und damit relativ

9 Weber 1963, S. 42.

4.1 Musikalität und Apperzeption

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weit am Ende der Strudlhofstiege und aus der Zeit nach dem Unfall zu Beginn der Dämonen: Sie muß sehr schön gewesen sein in diesen Augenblicken. Das Licht, wenn auch ohne Sonnenschein, fiel durch’s hohe breite Fenster direkt auf sie. Ein kluges, wahrhaft wohlgeratenes Weib, die jetzt fast ehrwürdig wirkenden Züge uralter Rasse, das kupfrig leuchtende schwere Haar um die Schläfen, deren Haut schimmerte, wie das Innere einer Perlmuschel: und dies alles, die nun verhüllten Glieder, das tunneltief beseelte Aug’, die kleinen Hände, die schlanken, aber kräftigen Beine, auf denen sich recht gut stehen ließ, die winzigen Füße, welche treu und brav das ganze Werk trugen: dies alles auf dem Anstiege, wo jenes erst seine Vollendung erleben sollte, zur wahren fraulichen Pracht, welche doch die wenigsten schon um Vierzig, die meisten aber, wenn jemals, dann erst um’s Fünfzigste erreichen. Tochter, Enkelin, Urenkelin! Die so himmelweit von mir sproßte und in der sich doch dieselbe, immer gleiche Mechanik des Geistes bewegte wie in dir, in mir, im Leser. Die den Anruf vom Fenster her empfing, den konzentrischen Angriff der Stille empfand; die Bereitschaft der glänzenden, geisterhaften Schlachtreihen der Leere fühlte, Regimenter von Kraft [. . .]. Aber Mary gab es nicht. (DS )

Sie muß sehr schön gewesen sein in diesen Augenblicken. Das Licht, wenn auch ohne Sonnenschein, fiel durch’s hohe breite Fenster direkt auf sie. Ein kluges, wahrhaft wohlgeratenes Weib, die jetzt fast ehrwürdig wirkenden Züge uralter Rasse, das kupfrig leuchtende Haar um die Schläfen, deren Haut schimmerte wie das Innere einer Perlmuschel: und dies alles schwer getroffen mitten im Anstiege zur wahren fraulichen Pracht der vierzig und fünfzig; ihr war jetzt so, als hätt’ ihr das Unglück nicht nur ein Bein über dem Knie, sondern alle beide weggerissen, und die Arme dazu, einen sinnlosen, unbeweglichen Klumpen übrig lassend. [. . .]

Sie erfaßte plötzlich die Größe ihrer Lage, und damit ihre Stunde: und so wurde sie fähig, deren Befehl zu empfangen. Ihre Augen blitzten auf. „Mary!“ sagte sie laut. Sie sprach sich selbst an. (DD  f.)

Durch die nahezu wörtliche Wiederholung des Beginns dieser Passage in den Dämonen, werden die abweichenden Textstellen markiert und die Entwicklung Marys in den Mittelpunkt gerückt. Nach ihrem Unfall ist sie fähig geworden, sich mit den Tatsachen abzufinden und sich entsprechend zu verhalten. Auch wenn sie beim Anblick ihres Beinstumpfes für „Augenblicke [. . .] selbst zu einem klumpigen, stumpigen Klotz, einem Knollengewächs, einem Gnomen“ (DD 37) wird, überwindet sie die Krise.10 Während sie vor ihrem Unfall zwar „den Anruf, sich zu erheben [. . .][und] 10 Die Selbstwahrnehmung verändert sich auch im weiteren Verlauf der Dämonen und insbesondere nachdem Mary Leonhard kennengelernt hat. Dies zeigt sich u. a. in einer sinnlich geschilderten Selbstberührung: „Mary empfand einen Schmerz, eigentlich nur ein Unbehagen, dort wo nichts mehr war, wo sich einst das rechte Knie befunden hatte. Sie tastete mit der Hand unter die Decke. Sie umfaßte den warmen Stumpf des Oberschenkels. Diese Bewegung war keine ungewohnte: meistens gelang es sogar auf solche Weise, den gleichsam in der Luft hängenden Schmerz zu vertreiben, ihn als bloße Einbildung zu erweisen. Auch jetzt war das so. Der Stumpf war glatt. Sie ertastete kaum noch Narben. Der Stumpf war glatt und warm.“ (DD 984) Vgl. dazu und zu den erotischen Konnotationen der Amputationsthematik bei Doderer auch Lorenz Jäger: Beschädigte Schönheit. Eine Ästhetik des Handicaps. Springe 2014, S. 103–108.

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an’s Fenster zu treten“ (DS 781) fühlt, aber nicht in der Lage ist, darauf einzugehen, da sie sich hinter einer „unsichtbare[n] Mauer“ (DS 781) befindet, ist sie in der darauf rekurrierenden Textstelle in den Dämonen fähig, den an sie ergehenden „Befehl zu empfangen“ (DD 37), d. h. die ihr auferlegte Aufgabe anzunehmen und sich selbst anzusprechen. Anstatt sich, wie vor dem Unfall, mit dem Schicksal anderer Menschen zu befassen und Telefongespräche zu führen, kann sie mit dieser Selbstansprache endlich „sich selbst in die Mitte setzen“ (DS 781). Fremdreferenz wird demnach durch Selbstreferenz abgelöst. Auf diese neu gewonnene Fähigkeit bezieht sich die spätere Aussage René Stangelers, Mary habe „sich wie der berühmte Baron Münchhausen sozusagen am eigenen Zopf aus dem Sumpf gezogen“ (DD 821).11 Die sich an den hier zitierten Textstellen aus den beiden Romanen abzeichnende Technik der Wiederholung und Variation prägt Die Strudlhofstiege und Die Dämonen insgesamt und dient nicht nur der intertextuellen Verknüpfung der Romane, sondern wirkt auch intratextuell strukturbildend und musikalisierend.12 Besonders auffällig ist das in der Szene in Marys Wohnung vor ihrem Unfall am 21. September 1925, die neben den textübergreifenden Wiederholungen auch viele Parallelen zu der eingangs bereits erwähnten Ausgangssituation der Strudlhofstiege aufweist. Dietrich Weber hat die Figur Mary K. als „Klammer des Romans“13 bezeichnet und die „Spannung zwischen Exposition und Finalisierung“14 dargestellt, die u. a. durch die vielen antizipierenden Elemente des ersten Romanteils entsteht. Deutlicher noch als in den Dämonen bedient sich Doderer bei dem vierteiligen Aufbau der Strudlhofstiege musikalischer Formen. Allerdings „zwängt Doderer [weder] das [. . .] epische Werk in irgendein musiktheoretisches System, noch versucht er, musikalische Formen unmittelbar nachzugestalten.“15 Vielmehr werden mu-

11 Dies äußert René in einem Gespräch mit Dwight Williams, in dem allerdings auch der „[fade] Nachgeschmack“ (DD 821) den ein solcher Triumph hinterlässt, thematisiert wird. Zunächst wird ihre Leistung vom heterodiegetischen Erzähler deutlich positiv als Marys „Tigersprung“ (DD 37) bezeichnet, womit der Wendepunkt in ihrer Entwicklung markiert wird. Zudem wird die nach ihrem Unfall veränderte Selbstwahrnehmung mit diesem auf mentale Prozesse bezogenen Begriff an die ‚Menschwerdung‘ der Figur Melzer in der Strudlhofstiege geknüpft. Bei Marys Unfall hatte dieser nämlich einen „wahren [Tigersatz]“ (DS 845) gemacht, um sie vor dem Verbluten zu retten und damit implizit auch sich selbst gerettet. Vgl. Sommer 1994, S. 89. 12 Da ich im weiteren Verlauf der Arbeit auf Doderers Technik der ‚phrasierten Motivik‘ eingehen werde, zu der auch einige der hier zitierten Textstellen gezählt werden können (siehe Kap. 4.3.1), beschränke ich mich an dieser Stelle auf die Funktion der Wiederholung und Variation einiger Passagen in der Strudlhofstiege, ohne dabei auf die spezielle Terminologie Doderers einzugehen. Eine ausführliche Darstellung der folgenden Ausführungen findet sich bei: Mareike Brandtner: Musik und Musikalisierung in Heimito von Doderers Roman ‚Die Strudlhofstiege‘. Typoskript, Kiel 2010, S. 67–76. 13 Weber 1963, S. 82. Die Klammer-Funktion Marys sieht Thomas Hans Petutschnig auch in Bezug auf die Rolle Marys in den Dämonen in der Rahmen-Funktion um den im Mittelpunkt stehenden Leonhard. Vgl. Petutschnig 2007, S. 79. 14 Weber 1963, S. 104. 15 Heydemann 1975, S. 355.

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sikalische „Termini aus ihrem ursprünglichen Zusammenhang gelöst und bekommen einen neuen, nur aus dem Bezug auf die erzählerischen Verhältnisse zu rechtfertigenden Stellenwert.“16 Ohne den gesamten Roman dieser Form zuordnen zu wollen oder hier näher auf die durchaus unterschiedlichen Deutungen in der Sekundärliteratur einzugehen,17 lassen sich Analogien der Strudlhofstiege zur musikalischen Sonatensatzform18 konstatieren. Es handelt sich bei dieser Art der Transformation musikalischer Formen in die Literatur nach Werner Wolf um Makroformen, während andere Funktionen der Wiederholung in den Bereich der Mikroformen fallen, da sie musikalische Techniken nachahmen.19 Die Sonatensatzform definiert sich durch ihren Aufbau in die voneinander getrennten Teile der Exposition, Durchführung, Reprise und ggf. einer Coda. Diese Teile sind charakterisiert durch die Darstellung mindestens zweier, in ihrem Charakter gegensätzlicher Themen (oder Themenkomplexe) auf verschiedenen tonalen Ebenen in der Exposition [. . .], das Aufzeigen von Bezügen und Gegensätzlichkeiten zwischen den Themen in der Durchführung (oft gleichzeitig mit Modulation in entlegene Tonarten) und das Zusammenfassen und Vereinheitlichen des mus[ikalischen] Geschehens der Exposition in der Reprise.20

Im ersten Teil der Strudlhofstiege werden verschiedene Figuren eingeführt, denen akustische Phänomene zugeordnet werden und die durch ihre antagonistische Charakterisierung als ‚Haupt- und Seitenthema‘ der Exposition fungieren.21 So sind die Figuren Mary und Melzer durch Monotonie und Stille gekennzeichnet, was durch das leitmotivisch wiederkehrende Motiv der langsam vorrückenden Taxis versinnbildlicht wird: „Die Erscheinung war lautlos und das machte ihr Wesen aus; sie war lautlos, völlig gleichmäßig, ruhig; sie war von monumentaler Langweiligkeit und Monotonie“ (DS 14). Diese Monotonie stellt für Mary „die Beziehung dieses Bildes zu den Erinnerungen an den Leutnant Melzer“ (DS 14) her. Durch die semantischen Überlagerungen in der Beschreibung der Figuren, lassen sich Mary und Melzer zu-

16 Heydemann 1975, S. 355. 17 Helmstetter spricht von einer Ähnlichkeit zu „den Sätzen einer klassischen Symphonie“. Rudolf Helmstetter: Das Ornament der Grammatik in der Eskalation der Zitate. „Die Strudlhofstiege“, Doderers moderne Poetik des Romans und die Rezeptionsgeschichte. München 1995 (= Theorie und Geschichte der Literatur und der schönen Künste; Bd. 92, Neue Folge, Bd. 9), S. 309. Und auch Torsten Buchholz weist auf die Parallelen zur symphonischen Form hin und sieht besonders in der 3. Symphonie von Johannes Brahms, die als ‚verbal music‘ innerhalb des Romans Thema ist, ein Vorbild für die Romanstruktur. Vgl. Buchholz 1996, S. 127. 18 Eugen Banauch meint, dass zwar Elemente der Sonatensatzform in der Strudlhofstiege vorhanden seien, „aber nicht unbedingt dort, wo man sie ‚erwartet‘.“ Banauch 2001, S. 63. Gleichzeitig spricht er von „einer dem vierteiligen Ganzen übergeordneten rondoartigen Gliederung“ (Banauch 2001, S. 62), bei der das Motiv der Strudlhofstiege als Refrain fugiere. Vgl. Banauch 2001, S. 75. 19 Vgl. Wolf 1999, S. 58. 20 Sonatensatzform [Art.]. In: Brockhaus Riemann Musiklexikon. In vier Bänden und einem Ergänzungsband. Bd. 4. Hrsg. v. Carl Dahlhaus und Hans Heinrich Eggebrecht, Mainz 21989, S. 173. 21 Vgl. Banauch 2001, S. 63–76.

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nächst einem gemeinsamen ‚musikalischen‘ Thema zuordnen. Marys Verehrer Dr. Negria ist auf akustischer Ebene das Gegenteil von Melzer und Mary: „Sein Klingeln klang kurz und scharf.“ (DS 12) Er hat „[e]ine fordernde, eine postulierende, eine fuchtelnde Natur“ (DS 11) und ist durch Aggressivität gekennzeichnet, „ein Durchbrecher [. . .], ein Interventionist, Einer, der kurz beiseite zu schieben versuchte, was ihn störte und empört als unerhört empfand, was ihn zu bremsen versuchte.“ (DS 11) Der Verkehrsmetaphorik entsprechend ist Negria nicht den sich in einer Reihe einfädelnden Taxis zugeordnet, sondern fährt am Ende der Erzählung in der Straßenbahn, die Marys Bein ‚durchbricht‘ bzw. abtrennt und die dadurch der „Durchbruchs-Interventionistik“ (DS 59), mit der Negria seine sexuellen Interessen verfolgt, entspricht.22 Auch akustisch rekurriert die Straßenbahn mit ihrem „kurzen bellenden Klingeln“ (DS 48) auf Dr. Negrias Klingeln an der Haustür.23 Die Szene in Marys Wohnung kurz vor ihrem Unfall ist wie gesagt in vielerlei Hinsicht parallel zu dem Anfang der Strudlhofstiege gestaltet. Ganze Textpassagen werden wiederholt und deuten – wie auch die vermehrten Missgeschicke – durch leichte Variationen das nahende Unheil voraus. Marie hatte das Fenster gegen die lange Gasse zum Kanal hinunter zwar zugemacht, damit kein Staub hereinfliege und sich auf die Polituren der Möbel lege; aber draußen lehnte ein warmer Spätsommermorgen an den Scheiben, ein freundliches und gelindes Geöffnetsein allen Umkreises, leicht wasserdunstig und milchig neblig noch von der Morgenfrühe am Kanal her, ein Wetter mit viel Raum, offenem Hohlraum der Erwartung; und in der Mitte solchen Umkreises, der gedämpft die Geräusche städtischen Lebens ausbreitete, saß nun Frau Mary hinter ihrer Teetasse [. . .]. (DS , Hervorhebungen von M.B.)

Die Marie hatte zwar das Fenster gegen die lange Gasse zum Kanal hinunter eben zugemacht, damit kein Staub hereinfliege und sich auf die Polituren der Möbel lege; von draußen jedoch lehnte ein erster, ein noch fast sommerlich warmer Herbstmorgen an den Scheiben, ein freundliches und gelindes Geöffnetsein allen Umkreises, wasserdunstig und milchig-neblig noch von der Frühe am Kanal her, ein Wetter mit viel Raum, offenem Hohlraum der Erwartung; und in der Mitte solchen Umkreises, der gedämpft die Geräusche städtischen Lebens ausbreitete, saß nun Frau Mary hinter ihrer Tee-Tasse. (DS , Hervorhebungen von M.B.)

22 Ulla Lidén bezieht in ihrer Darstellung der antagonistischen Charakterzüge Melzers und Negrias auch die Ableitungen des Eigennamens mit ein: „Als Melzer aber am Ende des Romans die schöne Frau Mary K. bei ihrem schweren Straßenbahnunfall rettet, wird er vom Autor gelobt und ‚der reinste Aktivist, fast ein Negrianer!‘ genannt ([DS] 856). Der plötzlich ‚aufgetretene Negrianismus unseres auf neue Art aktivierten Majors‘ ([DS] 903) wird bei ihm ein bleibender Charakterzug. Er ist jetzt also würdig, die Menschwerdung zu erreichen. Mit leichter Ironie läßt der Autor zusätzlich den wirklichen Dr. Negria [. . .] in der unglücksbringenden Straßenbahn vorbeifahren.“ Ulla Lidén: Der grammatische Tigersprung. Studien zu Heimito von Doderers Sprachterminologie. Umeå 1990 (= Umeå studies in the Humanities; Bd. 98), S. 235. 23 Gerald Sommer weist darauf hin, dass dem „Klingeln eine signifikante Rolle im Vorfeld einer Katastrophe“ zukommt und dass es vor Marys Unfall in vielfachen Variationen thematisiert wird. Gerald Sommer: Heimito von Doderer: „Technische Mittel“. Fragmente einer Poetik des Schreibhandwerks. Wien 2006 (= Zur neueren Literatur Österreichs; Bd. 21), S. 12. [= Sommer 2006a].

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Eine dieser Variationen, die auf die bevorstehende Abtrennung ihres Beines verweisen, betrifft die Schreibweise einzelner Wörter mit Bindestrich. Im Kontext der Thematisierung einer „Stufe, die beides [trennt], das Innen und das Außen“, so dass Mary alles „zu stehen und zu stocken“ scheint und „ein Fließen und Verfließen“ (DS 772) verhindert wird, lassen sich die Bindestriche als typographische Zeichen der psychischen Dissoziation und der physischen Amputation lesen.24 Neben solchen Wiederholungen,25 welche im Zusammenhang mit den Parallelen zur Sonatensatzform gesehen eine musikalisierende Funktion erfüllen und den Anfang und das Ende des Romans in ein Verhältnis von Exposition und Reprise stellen, finden sich auf der inhaltlichen Ebene aufeinander bezogene Textstellen, in denen die Funktion des Musizierens für Mary deutlich wird. Zu Beginn des Romans ist es die Musik, die Mary aus ihrer Erstarrung verhilft und zumindest zeitweise das gestörte Gleichgewicht zwischen Innen und Außen wiederherstellt. Dass Mary „Chopin’sche Etüden und einiges von Schumann“ (DS 24) spielt, erklärt Gerald Sommer mit der Beurteilung dieser Komponisten durch den von Doderer hochgeschätzten und vielzitierten Otto Weininger, „der Chopin bzw. Schumann ‚überwiegenden‘ resp. ‚großen‘ weiblichen Anteil in Person und Werk attestiert. Mary spielt folglich ihr als Frau angemessene Werke weiblicher Komponisten und befindet sich somit lebensgemäß im Einklang mit der Welt.“26 Da sitzt sie also am Klavier, diese seit heute Morgen eigentlich recht einsame Frau und läßt die silbernen Meditationen erklingen; die Umgebung ordnet sich, es kommt ein System in diese Einsamkeit, von welchem man beinahe glauben könnte, daß es sogar in die chaotische Stadtmasse ringsum auszustrahlen vermöchte, mindestens aber die nahen Dämonen zu bändigen durch die orphische Macht der Töne. (DS 24, Hervorhebung von M.B.)

Diese systematische Seite der Musik gliedert nicht nur das Chaos im Leben der Romanfigur; sie lässt sich auch selbstreferentiell auf die Fülle des Erzählmaterials – also die ‚chaotische Textmasse‘ – beziehen, die Doderer in diesen beiden WienRomanen ausbreitet und durch musikalisierende Techniken strukturiert. Die „orphische Macht der Töne“ (DS 24) beschwört auf der anderen Seite den Orpheus-Mythos 24 Zur Funktion des Bindestrichs vgl. Sommer 1994, S. 118. Martin Loew-Cadonna zufolge „dokumentieren die kunstvollen Iterationen der Motive bei Doderer oft die Absicht, über die jeweilige Story ein Netz der Querbezüge und gestischen Ketten zu spannen, um die Insistenz der Erinnerungslücken der Hauptakteure und die Penetranz der davon abhängigen seelischen Defekte anzudeuten. Die motivischen Serien sind erst dann aufgebraucht, wenn die korrelierten Wiederholungszwänge oder -anläufe der Helden durch Mündigkeit, Aufklärung oder aber [. . .] Tod zum Abschluß gelangen. [. . .] Auch in dieser Hinsicht können also die Rekurrenzen als Zeichen eines Defizits verstanden werden.“ Martin Loew-Cadonna: Vom Soda-Whisky zum Whisky-Soda. Anmerkungen zum Wiederholungskünstler Heimito von Doderer. In: Internationales Symposion Heimito von Doderer. Ergebnisse. Hrsg. v. der Niederösterreich-Gesellschaft für Kunst und Kultur, Wien 1988, S. 59–77, hier: S. 69. 25 Vgl. u. a. DS 19 u. DS 769 (in der Badewanne) sowie DS 48 u. DS 831 (Überqueren der Straße). 26 Sommer 1994, S. 99. Vgl. auch Weininger 1903, S. 82 f.

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und damit eine mythische Vorzeit, in der Musik und Dichtung noch nicht voneinander getrennt waren und die Macht hatten, Menschen und Tiere, Pflanzen und Steine, Götter und Geister in ihren Bann zu ziehen.27 In der oben zitierten Passage aus der Strudlhofstiege werden die Oppositionen Chaos vs. System und dem zugeordnet Dämonen vs. Musik/Dichtung aufgestellt. Es wäre allerdings ein Trugschluss anzunehmen, im Dodererschen Erzählkosmos schütze Systematisierung insgesamt vor dämonischen Erscheinungen. Oftmals sind es gerade die zu starren Systeme, wie das Chronik-Projekt Geyrenhoffs und die systematische Erfassung der ‚Dicken Damen‘ in den Dämonen oder die Katalogisierung der Voyeurs-Freuden in Die erleuchteten Fenster (1950)28, die in dämonische ‚zweite Wirklichkeiten‘ führen.29 Diese Ambivalenz zeigt sich auch an dem intertextuellen Verweis der oben zitierten Textstelle (DS 24) auf die Dämonen-Thematik der fünf Jahre nach der Strudlhofstiege erschienenen aber zu einem großen Teil davor verfassten Dämonen. Mit Blick auf die vielen Schriftstücke und Manuskripte in den Dämonen, in denen die jeweiligen ‚dämonischen‘ Zwänge und Besessenheiten schriftlich fixiert werden, lässt sich die ‚orphische Macht‘ als poetologischer Hinweis auf die Funktion der Schrift und der Dichtung in den Dämonen deuten. Während Mary am Anfang der Strudlhofstiege die Macht der Musik für sich nutzen kann, schafft sie es in der dem Straßenbahnunfall vorhergehenden Szene am Ende des Romans nicht mehr, die Dämonen durch Musik zu bändigen. Die von Mary empfundene latente Gefährdung ist gesteigert und „das Außen und das Innen“ (DS 772) noch stärker voneinander getrennt, was durch die Bindestriche symbolisiert wird. Grete Siebenschein, die im selben Haus wie Mary am Althanplatz wohnt und ihr Klavierstunden gibt, spricht Mary eine halbe Stunde vor dem Unfall30 darauf an, dass sie sie nur noch selten Klavier spielen höre. Daraufhin entsteht eine Pause, in der die sich ausbreitende Stille „wie Wasser“ steigt, „bis zum Hals, bis zum Ohr, darin sie jetzt mit einem inneren Summen stand“ (DS 826). Das amorphe Element des

27 In einem Gespräch mit seiner Schwester Astri äußerte Doderer: „die Musik hat für mich etwas so gefährlich Bannendes, daß ich sie bei meiner epischen Arbeit nicht betreiben darf!“ Zit. nach Pany 1993, S. 33. 28 Heimito von Doderer: Die erleuchteten Fenster oder Die Menschwerdung des Amtsrates Julius Zihal [1950]. München 2006. Im Folgenden abgekürzt als EF. 29 In seinem wörterbuchartigen Repertorium schreibt Doderer unter dem Eintrag „Wirklichkeit, Zweite“: „Nicht das leblos und ungeordnete Umherliegen des Materials macht die zweite Wirklichkeit, sondern daß man es in eine Gegen-Ordnung bringt, welche jene des Lebens ausschließt, so im Politischen wie im Erotischen.“ Heimito von Doderer: Repertorium: ein Begreifbuch von höheren und niederen Lebens-Sachen. Hrsg. v. Dietrich Weber, München 1969, S. 269. Im Folgenden abgekürzt als REP. 30 Die Zeitangaben werden immer gehäufter, je näher der Unfall um 17:40 Uhr (vgl. DS 842) rückt. Dieses zeitdehnende Erzählen, bei dem die Erzählzeit im Verhältnis zur erzählten Zeit immer stärker ausgeweitet wird, findet sich auch in der ‚Finalszene‘ der Dämonen. Vgl. Löffler 2000, S. 67. Zu den ‚polyphonen‘ Strukturen im ‚Finale‘ der beiden Romane siehe Kap. 4.3.2 bis 4.3.4.

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Wassers entspricht der in der ersten Klavierszene erwähnten „chaotische[n] Stadtmasse“ (DS 24). Marys Bitte, Grete möge etwas am Klavier spielen, scheint dem Bedürfnis zu entspringen, die gliedernde Funktion der Musik zu verspüren, mit der zuvor sie selbst „ein System in [die] Einsamkeit“ (DS 24) gebracht hatte. Die Einbettung der Frage nach Marys Klavierspiel in ein Gespräch über „linke Hände“ und „[linke] Füß’“ (DS 826), welche die Ursache von Missgeschicken seien, gefolgt von der Feststellung, man müsse „einfach [. . .] mit dem rechten Fuß fest auftreten“ (DS 827), deutet auf die entscheidende Funktion der Musik hin. Denn auch Gretes Klavierspiel bricht nach einigen „klar[en] und korrekt[en]“ (DS 828) Tönen ab und kann seine Wirkung nicht entfalten, da es durch die Türklingel unterbrochen wird. Nur 20 Minuten später verliert Mary ihr rechtes Bein. Da sie am Ende der Strudlhofstiege selbst nicht mehr Klavier spielt und Gretes Spiel unterbrochen wird, kann sich Mary nicht aus der deperzeptiven Haltung befreien und es kommt zum Verlust ihres Beines, das auf die dominierende Vernunft und damit die ‚Apperzeptionsverweigerung‘ verweist. Gerald Sommer kommt in seiner Analyse der Beinsymbolik in der Strudlhofstiege zu folgendem Ergebnis: Das linke Bein als Repräsentanz lebensgemäßer Gefühle versinnbildlicht [. . .] den ganzen Bereich von Emotion, Inspiration, Körper und Lebensgemäßheit sowie zusätzlich mit dem Stand die Passivität. Dagegen versinnbildlicht das rechte Bein Vernunft, Ratio, Kopf und Denkensgemäßheit sowie durch das Spiel die Aktivität.31

Innerhalb der Apperzeptionsthematik erscheint der Unfall daher als unausweichliche Folge der Wahrnehmungsstörung. Buchholz konstatiert zurecht, dass „Mary K.’s nachlassendes Klavierspiel [. . .] ein Zeichen für ihre kommende Krise [ist], wie dessen verstärkte Wiederaufnahme in den ‚Dämonen‘ ihre Besserung anzeigt.“32 Die hier behandelten Textstellen thematisieren Musik und stellen das Musizieren in den Kontext der Wahrnehmungsproblematik, da der ‚richtige‘ Zugang zur Musik die Apperzeption scheinbar befördert. Die thematische Präsenz von Musik verweist nicht zwangsläufig auf eine Imitation musikalischer Formen. In diesem Fall tritt jedoch beides zusammen auf. Das Verhältnis von Exposition und Reprise ergibt sich einerseits durch die statischen Elemente der Wiederholungen, bei denen „die einmal gewählte Wortfolge als Konstruktionselement“33 dient, und andererseits durch das Verhältnis der in Analogie zu musikalischen Themen gestalteten Figuren zueinander. Während Marys Zustand sich durch die mangelnde musikalische Betätigung verschlechtert hat, hat Melzer im ‚Durchführungsteil‘ des Romans eine Entwicklung durchlaufen, die ihm aktiv eingreifendes Handeln bei Marys Unfall ermöglicht. Der drängende Doktor Negria erfüllt im vierten Teil des Romans seine Bestimmung, indem die metaphorische Bezeichnung ‚Durchbrecher‘ in eine wörtliche Bedeutung übergeht.

31 Sommer 1994, S. 105 f. 32 Vgl. Buchholz 1996, S. 129 sowie Sommer 1994, S. 99. 33 Petri 1964, S. 44.

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Die von Weber konstatierte ‚Klammer-Funktion‘34 der Figur Mary K. in der Strudlhofstiege findet sich auch in ihrer Funktion als Verbindungsglied der beiden Romane wieder. In den Dämonen ist Mary K. von Anfang an – d. h. ab dem ersten Kapitel nach der Ouvertüre – in der Erinnerung der Figur Dwight Williams präsent. Dwight ist ein Zoologie-Professor aus Amerika, der zeitweise in London bei Marys Freundin, Frau Libesny, gewohnt hat und später nach Wien zieht. In Wien lernt er Emma Drobil kennen und erinnert sich bei einem Ausflug im Herbst des Jahres 1926 an Mary, von deren Schicksal ihm Frau Libesny – einen Monat nach dem Straßenbahnunfall im Herbst 1925 – erzählt hatte. Seine Erinnerungen haben ihren Ausgangspunkt bei einem Portrait Marys, welches er in Frau Libesnys Wohnung betrachtet hatte. Dieses Portrait hatte ein obsessives Verlangen nach der abgebildeten Frau ausgelöst, das Dwights Wahrnehmungsvermögen nachhaltig beeinflusst. Erst die Begegnung mit der musizierenden Mary K. befreit ihn aus diesem Zustand. Die folgenden Beobachtungen sollen die Einführung der Figur Mary K. in den Dämonen in diesem Kontext der Wahrnehmungsthematik und die damit einhergehenden motivischen Verschränkungen mit der Strudlhofstiege darstellen. Während Mary zu Beginn der Strudlhofstiege ihr „Exponiertsein“ fühlt, – „in dieser von allen Seiten heranstehenden Gegenwart, gleichsam auf diesem Präsentierteller sitzend, der als hell angestrahltes Scheibchen zwischen den Dunkelheiten des Vergangenen und des Zukünftigen dahin wandelte“ (DS 22, Hervorhebungen von M.B.) – erscheint sie in den Dämonen tatsächlich zuerst in Form eines ‚Exponates‘. Das gerahmte Bild Marys wird bereits auf den ersten Seiten des Romans aus der Figurenperspektive Dwights beschrieben (vgl. DD 29 u. DD 30). Hervorgehoben wird das Medium, durch dessen Beschreibung sie in den Roman eingeführt wird, mit einem betont nebensächlich eingeleiteten Zusatz: „Übrigens stand das Bild in einem glatten braunen Holzrahmen auf einem Wandtischchen neben dem großen und bis auf den letzten Winkel gefüllten Bücherschrank“ (DD 30). Das Bild steht demnach neben der als Masse wahrgenommenen Bücher wie auf dem ‚Präsentierteller‘ auf einem eigenen Wandtischchen. Der metaphorische ‚Präsentierteller‘ aus der Strudelhofstiege hat sich somit in den Dämonen materialisiert. Die Zweidimensionalität des Bildes verweist auf den ‚Scheibchencharakter‘, den Mary mit ihrem Zustand auf dem ‚Präsentierteller‘ verbindet und der die Schnittstelle zwischen Vergangenheit und Zukunft bildet. Diese Schnittstelle zwischen der Strudlhofstiege und den Dämonen bildet nun das Bild Marys, da es einen Handlungsstrang des zuerst erschienenen Romans in den folgenden integriert und weiterführt.35

34 Vgl. Weber 1963, S. 82–86. 35 Petutschnig sieht die Figur Dwight Williams als das Verbindungsglied zwischen der Strudlhofstiege und den Dämonen, da er die Erzählung über Mary K.s Unfall in die Dämonen-Handlung einführt. Vgl. Petutschnig 2007, S. 70. Ausgelöst wird Dwights Interesse jedoch durch das Bild Marys.

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Die erotische Aura, die Marys Bild umgibt, weckt ein starkes sexuelles Verlangen in Dwight Williams, das er in den Armen Madame Libesnys zu stillen versucht: [D]as Gelöste war Mary, die aufgebrochene Frucht, das zurückgesunkene Haupt, das dunkle Haar auf dem Kissen. Aber auch die Schärfe kam aus Marys Bild, sie biß mit süßem Zahne; und sie war in manchen Augenblicken von einer trockenen, heißen Gewalt, von der ihre Eignerin offenbar wußte: dies obendrein noch: ein wild zuckender Körper – und dabei voll Verständigkeit, voll wissender Unterordnung dem eigenen Zustande gegenüber. (DD 31, Hervorhebung von M.B.)

In seiner vorangegangenen Beschreibung von Marys Gesicht, das „weich [war], in der Art einer aufgebrochenen Frucht“ (DD 30) zeigt sich die Sexualisierung und Funktionalisierung des (Frauen-)Bildes,36 das sich als statisches, in einem Rahmen fixiertes Abbild für den männlichen Betrachter als Projektionsfläche anbietet. Dwight Williams’ sexuelles Begehren, das sich auf ein zweidimensionales Objekt bezieht, für welches er einen vorläufigen Ersatz in Madame Libesny findet, beeinflusst auch andere Wahrnehmungsbereiche, so dass er nicht nur im visuellen Bereich der Tiefendimension der Wirklichkeit beraubt ist, sondern auch im auditiven Bereich nur noch bestimmte Frequenzen wahrnehmen kann. Während er an Mary denkt, hört er nicht mehr die differenzierten Geräusche des Baches, an dem er im ersten Kapitel der Dämonen mit seiner zukünftigen Geliebten und späteren Ehefrau Emma Drobil sitzt: „sein Ohr [nahm] nur mehr die schrillsten Diskante aus dem Wasser auf. Alle Bässe hatten gänzlich ausgesetzt“ (DD 31). Dwight gehört zwar grundsätzlich zu den sogenannten ‚schicksalsgesunden‘ (vgl. DD 672) Figuren, die sich unbefangen in der Umwelt bewegen, dennoch kennt auch er die – zumindest kurzzeitige – Fixierung auf ein Wunschobjekt und damit einen Aspekt der Grundproblematik, mit welcher fast alle Romanfiguren der Dämonen zu kämpfen haben. Die Korrelation von Raumwahrnehmung und ‚Menschwerdung‘ beschreibt Doderer in dem Roman Die erleuchteten Fenster als Notwendigkeit, „sein Leben in eine andere Dimension zu verschieben, aus der plattgedrückten Planimetrie [. . .] in die Stereometrie“ (EF 11), d. h. von der flächenhaften Wahrnehmung zu einer umfassenderen räumlichen Wahrnehmung zu gelangen. Dies vollzieht Dwight Williams, als er auf die echte ‚dreidimensionale‘ Mary K. trifft und sich von seinem Bild von ihr lösen kann (vgl. DD 675).37 Der Aspekt einer mangelnden Wahrnehmung der Tiefendimension als Ausdruck der ‚zweiten Wirklichkeit‘ findet sich in den Dämo-

36 Das Bild einer aufgebrochenen Frucht bzw. eines aufgebrochenen Ackers wird in den Dämonen wiederholt zur Beschreibung weiblicher Figuren und metaphorischer Geburts- und Geschlechtsakte verwendet (vgl. DD 168, 503, 1335). 37 Mary erkennt den Sachverhalt später in einem anderen Zusammenhang selbst: „[Mary] erkannte dabei, daß jemandem ein Bild vorausgetragen werden könne, welches von der Wirklichkeit einer Person völlig unabhängig existiert, von anderen entworfen und propagiert ist, und von der Realität durch eine so tiefe Kluft getrennt, daß es durch diese zum Unsinn nur werden kann für jemand, der sich mindestens in gleicher Distanz von einer solchen Darstellung und ihrem Objekte befindet.“ (DD 1250).

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nen auch als Charakteristikum politischer Ideologien. Die Figur Géza von Orkay kritisiert im Zusammenhang mit Zeitungsberichten über die Schattendorfer Morde, die zu den Ausschreitungen am 15. Juli 1927 führen, die „Auswertung der Ermordung eines unschuldigen Kindes für klassenkämpferische, also politische Zwecke“ (DD 980): „[D]ie Plattheit kann abgründig sein, ja, das ist ihr eigentliches Geheimnis: daß sie so platt ist und dabei doch am Leben bleibt! Zweidimensional mitten in der Dreidimensionalität!“ (DD 980) Die Analogie zwischen der sexuellen und der politischen ‚Befangenheit‘ entspricht Doderers Darstellung in seinem Essay Sexualität und totaler Staat (1951), in dem er die ‚Apperzeptionsverweigerung‘, die in eine ‚zweite Wirklichkeit‘ führt, als gemeinsamen Ursprung von Ideologien und Obsessionen annimmt.38 Der dabei errichtete „pseudologische Raum ist zweidimensional“, in ihm existieren keine „stereometrischen Körper [. . .] sondern nur deren Abbildungen in der darstellenden Geometrie“ (WdD 285).39 Marys Straßenbahnunfall liegt zu dem Zeitpunkt, als ihre Freundin Frau Libesny Dwight Williams in London davon erzählt, erst einen Monat zurück. Allerdings werden die Ereignisse in London nur analeptisch als Dwights Erinnerung erzählt, während er mit Emma Drobil an einem Bach in der Nähe von Wien sitzt. Dwight weiß, dass Mary in Wien lebt. Sie ist für ihn jedoch „nicht lokalisierbar, daher in diffuser Weise fast überall anwesend“ (DD 34). Einige Textzeilen später ist sie für die Leser*innen der Dämonen sehr wohl lokalisierbar, nämlich in München, wo sie mit ihrer neuen Prothese laufen lernt. Dennoch trifft der zweite Teil der Aussage, sie sei „in diffuser Weise fast überall“, auch auf den ersten Teil der Erzählung zu, da die Handlungsstränge sich vielfach kreuzen und so Figuren miteinander verknüpft werden, die sich entweder noch nicht kennen oder gar nicht aufeinandertreffen.40 Auch Marys späterer Geliebter Leonhard Kakabsa wird – eingebettet in Dwights Erinnerung an Mary – schon zu Beginn des Romans als Figur eingeführt (vgl. DD 29). Thomas Petutschnig beschreibt diese Konstellation mit musikalischen Termini: „Es erklingt ein Akkord (einbeinige Mary K. – Leonhard geht es gut – einbeinige Mary K.), dessen Harmonie scheinbar nicht weiter ausgeführt wird, der aber schließlich einen starken Nachhall im Roman haben soll.“41 Auch wenn die gewählte Metaphorik nicht weiter erläutert wird, stellt Petutschnig im Anschluss daran die Rahmenfunktion Marys für die im Mittelpunkt stehende Figur Leonhard aufschlussreich an weiteren Textstellen dar.42

38 Siehe Kap. 5. 39 Über Dwights durch das Bild Marys initiierte Affäre mit Frau Libesny heißt es in den Dämonen dementsprechend: „[H]ier [erhielt] diese Lebensgeschichte eine neue und dritte Dimension, geriet also aus der Planimetrie in die Stereometrie; allerdings blieb’s doch immer noch euklidisch“ (DD 28). 40 Während Marys Abwesenheit finden beispielsweise einige entscheidende Zusammenführungen von Figuren in ihrer Wohnung in Wien statt (vgl. DD 525). 41 Petutschnig 2007, S. 69. 42 Vgl. Petutschnig 2007, S. 79.

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Als aktive Figur erscheint Mary in den Dämonen (abgesehen von dem Einschub über den ‚Kampf‘ mit der Prothese in München) erst im Zuge der Nachforschungen Emma Drobils, die von Dwight Williams Obsession weiß und sich selbst ein Bild von Mary machen will. Eingeleitet wird diese Sequenz durch die Wiederholung von Dwights Empfinden, für den Mary „eben in diffuser Weise fast überall anwesend [war] und daher gar nicht lokalisierbar“ (DD 635). Dwight versucht nicht, diesen Zustand zu beenden, da er als sogenannte ‚schicksalsgesunde‘ Figur intuitiv erfasst, dass es falsch wäre, zu versuchen, das Wunschbild in der Wirklichkeit zu konkretisieren. „Anders, versteht sich, die Drobila. Die Frauen sind ordinärer. Man schreie nicht gleich. Es ist eben doch so. Es ist ‚aktsbekannt‘ (wie das in der österreichischen Amtssprache so schön heißt).“ (DD 635) Einige Seiten später, während des Zusammentreffens von Emma und Mary, wird diese Aussage der heterodiegetischen Erzählinstanz durch ein weiteres Postulat ergänzt: „Das Lügen geht ja bei den Frauen wie am Schnürchen. Man schreie nur nicht gleich. Auch das ist aktsbekannt.“ (DD 641) Gerald Sommer hat darauf hingewiesen, dass diese Textstellen auf Otto Weiningers Thesen zu den weiblichen Charaktereigenschaften in Geschlecht und Charakter verweisen.43 Bei ihrem ersten öffentlichen ‚Auftritt‘, bei dem Mary sich alleine aus ihrer Wohnung begibt, wird sie von Emma Drobil vor einem weiteren Unfall beim Überqueren der Straße bewahrt. Mary bewegt sich diesmal zwar problemlos durch den dichten Verkehr, sie rutscht aber beinahe mit ihrem Stock auf einem Öl-Fleck aus. Die Szene erinnert sowohl in der räumlichen Bewegung der Figuren als auch in der Wortwahl an die Unfallszene in der Strudlhofstiege.44 Mary verdankt ihre Rettung der vorangegangenen Observierung ihres Hauses am Althanplatz durch Emma Drobil. „Man kann nun eigentlich nicht behaupten, dass Frau Mary K. zu den Wiener Sehenswürdigkeiten gehörte. Gleichwohl ward sie von der Drobila besichtigt“ (DD 637, Hervorhebungen von M.B.). Die ‚Besichtigung‘ verweist auf das oben besprochene „Exponiertsein“ (DS 22) Marys und ihre Einführung in die Dämonen in Form eines Bildes, das zumindest für Dwights Williams sehr wohl als ‚Wiener Sehenswürdigkeit‘ fungiert; im übertragenen Sinne, d. h. uneigentlich stimmt diese Aussage somit doch. Ebenso drückt sich auch Eulenfeld aus, der Dwight einige Zeit später in den Kreis um Mary K. einführen will, da sie „geradezu eine Wiener Sehenswürdigkeit“ sei (DD 667). Auch in einem anderen Kontext, in dem es um die Wahrnehmung einer Figur geht, die Mary betrachtet, wird der Begriff ‚eigentlich‘ in Kombination mit einer Verneinung verwendet, und somit der entsprechende Terminus der ‚Uneigentlichkeit‘ aufgerufen: Kajetan von Schlaggenberg kann aufgrund seiner sexuellen Obsession, die sich auf ‚Dicke Damen‘ richtet, Mary K. „nicht eigentlich sehen“ (DD 1083). Durch diese Verwendung des Wortes ‚eigentlich‘ in Bezug auf die Wahrnehmung Marys und die gleichzeitige ‚Ikonisierung‘ in Form des Bildes, wird auf die durch Mary verkör-

43 Sommer 1994, S. 178. 44 Vgl. Schmidt-Dengler 1998a, S. 139–144.

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perte und in ihrem Namen angelegte Heilsidee verwiesen, die eben nur „in diffuser Weise“ (DD 34 u. DD 635), weil uneigentlich zu erkennen ist. So kommt Emma Drobil während ihres Zusammentreffens mit Mary zu der Einsicht, diese habe „durchaus zur Selbst-Rettung ihr kleines Heldenwerk begonnen [. . .], um es endlich, jetzt, in diesen erhellteren Tagen, bereits um der anderen willen zu vollenden.“ (DD 641) Nachdem nun die Integration der Mary-Handlung aus der Strudlhofstiege in die Handlung der Dämonen dargestellt wurde, die von den Erinnerungen Dwight Williams‘ bis hin zur ‚Rettung‘ durch Emma Drobil, in einer auf den Straßenbahnunfall rekurrierenden Szene reicht, soll es im Folgenden um die Funktion der Musik und die Wiederholungsstrukturen im Zusammenhang mit der Figur Mary in den Dämonen gehen. Das aus der Strudlhofstiege bekannte Thema des Klavierspielens wird mit der Begegnung zwischen Mary und Leonhard wiederaufgegriffen: Das erste Treffen findet in dem „Raume, dort, wo das Klavier stand“ (DD 648) statt. Während die sich entwickelnde Liebesbeziehung zwischen Friederike Ruthmayr und Geyrenhoff mehrfach mit Opernmusik und großen Auftritten in Gesellschaft verknüpft wird,45 ist für Mary und Leonhard die Stille bzw. das Schweigen der Musik bezeichnend, welches durch das Klavier betont wird: „Plötzlich war Raum gegeben worden um Mary und Leonhard, sie standen isoliert in der Mitte des großen Zimmers [. . .]“ (DD 648). Dieses Innehalten in der Stille wird im Motiv des plötzlich einhaltenden Vogelgesangs mehrfach mit Leonhard und seiner Beziehung zu Mary verknüpft.46 Natur- und Kunstmusik schweigen und lassen die Figur selbst metaphorisch zum Instrument bzw. Resonanzraum werden: Die plötzliche Einsicht in die Schicksalshaftigkeit der Begegnung wird von Leonhard als Paukenschlag wahrgenommen, dem in der Stille eine besondere Intensität zukommt. „Der Paukenschlag, mit welchem dieser Abend für Leonhard begonnen hatte, klang nach, kehrte wieder, rührte neuerlich die gespannte Membran des Inneren“ (DD 649). Das Gespräch zwischen Mary und Leonhard ist von diesem Gefühl beherrscht: „Der ganze Boden dröhnte, schwang, summte“ (DD 651). Die gedankliche Verbalisierung dieses Paukenschlags ist der formelhaft in Leonhards Gedanken wiederkehrende Satz: „So ist das also“ (DD 648, 649, 650). Durch die Wiederholung und Variation des Satzes in Marys Gedanken – „So war das jetzt also“ (DD 651) – wird die starke Verbindung der beiden Figuren betont. Weitere Parallelen in der sprachlichen und motivischen Gestaltung verweisen auf die schicksalhafte Zusammengehörigkeit der Figuren. Die im Zusammenhang mit Leonhards Entwicklung besonders ausgeprägte ‚phrasierte‘ Motivtechnik, die Doderer in

45 Vgl. u. a. die aus Geyrenhoffs Sicht wiedergegebene Szene im Palais Ruthmayr, in der sich Friederike und Geyrenhoff auf der großen Treppe begegnen: „Der Augenblick schoss zu Kristall und wurde zum Auftritt. Es war ein Zufall, daß sich vor uns niemand auf den roten Stufen befand; ein Zufall auch, daß gerade jetzt eine Musikkapelle, die ich nicht sehen konnte, mit jenem schäumenden Marsch einsetzte, der in ‚Hoffmanns Erzählungen‘ den Einzug der Gäste im Hause des Professors Spalanzani begleitet.“ (DD 1127). Siehe auch Kap. 5.2.2. 46 Vgl. Petutschnig 2007, S. 83–85.

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Anlehnung an musikalische Kompositionstechniken entwickelt hat, wird in Kapitel 4.3.1 ausführlich analysiert. Dabei geht es um Textabschnitte, die mehr oder weniger stabil in ihrer Form über weite Textstrecken verteilt wiederholt werden. Diese äquivalenten Sequenzen der zu Phrasen ausgeweiteten Motive verweisen aufeinander und reichern sich bei jeder Wiederholung durch Variationen und durch den jeweiligen Kontext mit Bedeutung an. Eine der nahezu wörtlichen Wiederholungen, die von Leonhard auf Mary übergehen, soll bereits hier erläutert werden, da sie für die Entwicklung Marys von einem statischen, todesäquivalenten Zustand zu einem dynamischen, ‚wiederbelebten‘ Dasein eine besondere Bedeutung hat. Die bekannten Worte – ‚So ist das also‘ – leiten einige hundert Seiten nach ihrem ersten Erscheinen eine längere Passage ein, die von Leonhard auf Mary übertragen wird: So ist das also. Er begriff plötzlich, ganz weißleuchtend hell, daß jede wirkliche Veränderung nicht im Wegfallen von irgendwas allein bestehen kann. (DD )

So ist das also. Sie begriff plötzlich, ganz weißleuchtend hell, daß jede wirkliche Veränderung nicht im Wegfallen von irgendwas allein bestehen konnte. Jetzt, in fast unbegreiflicher Verquickung, durchdrang Leonhard geradezu den Raum, wo sich einst das fehlende Glied befand. (DD )

Marys Unfall in der Strudlhofstiege hatte zur Amputation eines Körperteils geführt, welches später durch ein künstliches Glied ersetzt wurde. Erst in der Verbindung mit Leonhard wird der „Raum, wo sich einst das fehlende Glied befand“ (DD 985), wieder belebt. Diese Belebung der unbelebten Prothese durch Leonhard kommt darin zum Ausdruck, dass er später vor ihr auf die Knie sinkt und „ihre beiden Füße“ küsst, auch „den unechten“ (DD 1322).47 Scheinbar oder tatsächlich abgestorbene bzw. abgetrennte Körperteile sind in den Dämonen Zeichen für die Wahrnehmungsstörungen der Figuren innerhalb der ‚zweiten Wirklichkeit‘. Die vielfältigen Variationen der Mortifikation, zu der das Absterben, Abtrennen, Versteinern oder die Vergleiche mit anorganischem Material zählen, stehen den Bildern der Wiederbelebung bei der Befreiung aus zwanghaften Wirklichkeitsvorstellungen gegenüber. Besonders prägnant formuliert es der Burgherr Achaz von Neudegg in der spätmittelalterlichen bzw. frühneuzeitlichen Handschrift, die René Stangeler auf Burg Neudegg findet: „Undt mir ist, als wuerdt ich aus zweien halbeten mannern wyder ain ainiger gantzer; undt war von den halbeten der ain von holtz“ (DD 805).48

47 Petutschnig geht in diesem Zusammenhang auch auf die „Parallelsetzung“ der ‚So ist das also‘Sätze und den zeitlich versetzten Erkenntnisvorgang bei Leonhard und Mary ein, was in der Variation der Zeitebenen zum Ausdruck komme. Vgl. Petutschnig 2007, S. 128 f. 48 Das Motiv, zur Hälfte aus Holz zu bestehen, findet sich auch im Zusammenhang mit anderen Figuren in den Dämonen und wird von René Stangeler zitiert, als er über die Grenze zwischen ‚erster‘ und ‚zweiter Wirklichkeit‘ spricht (vgl. DD 1023). Siehe dazu auch Kap. 5.1.3. Das Manuskript steht auf der Schwelle zwischen Mittelalter und Frühneuzeit; der Einfachheit halber wird es im Folgenden als ‚mittelalterliches Manuskript‘ bezeichnet.

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Die ‚So ist das also‘-Formel kennzeichnet einen Erkenntnisvorgang, der weniger ein rationales Verstehen als vielmehr ein emotionales ‚Begreifen‘ und eine Hingabe an die Lebensumstände bezeichnet. Diese passiv-apperzeptive Haltung, die dem Geschehen gegenüber eingenommen wird, bildet einen Gegensatz zu Marys ‚interventionistischen‘ Aktionen, die zu dem Straßenbahnunfall geführt hatten.49 Die romanübergreifende Persönlichkeitsentwicklung Mary K.s von der Strudlhofstiege zu den Dämonen kann als intertextueller Verweis auf die mit Daimon betitelte erste Strophe von Goethes Gedicht Urworte orphisch gedeutet werden, die diesem Kapitel vorangestellt ist. Zu Beginn der Strudlhofstiege hatte noch das Klavierspiel Mary dazu verholfen, eine apperzeptive Haltung einzunehmen und die „nahen Dämonen zu bändigen durch die orphische Macht der Töne“ (DS 24). Während Mary sich in der Strudlhofstiege weigert, den Tod ihres Gatten zu apperzepieren50 und das heilsame Klavierspiel am Ende aufgibt, musiziert sie in den Dämonen wieder und nimmt ihr Schicksal an, wodurch sie fähig wird, den „Befehl [der Stunde] zu empfangen“ (DD 37) und sich selbst mit ihrem Namen anzusprechen. Auch wenn der Begriff ‚Dämonen‘ im Roman Die Dämonen tendenziell negativ konnotiert ist und auf eine Art ‚Besessenheit‘ deutet, schwingt hier die aus der griechischen Antike hervorgegangene Vorstellung des ‚Daimon‘ mit,51 der jedem Menschen als „mitgegebene Persönlichkeitsprägung“52 innewohnt und als Stimme zu ihm spricht. Einen solchen Dämon, dem man sich nicht entziehen kann, beschreibt auch die erste Strophe der Urworte Orphisch.53 Unter dem Eintrag „Charakter – Dämonologie“ schreibt Doderer im Repertorium: „Jeder Mensch, der nur seinen Charakter realisiert, ist dämonisch.“ (REP 45). Kirk Wetters zufolge gibt es Anhaltspunkte, „that

49 So führt Mary diverse Telefongespräche, um Termine zu verschieben und so Zeit zu gewinnen, damit sie Lea Fraunholzer besuchen kann, in deren Eheleben sie eingreifen will. Die verschiedenen Formen des ‚Interventionismus‘ kurz vor Marys Unfall, analysiert Gerald Sommer ausführlich. Siehe Sommer 1994, S. 89–101. 50 Vgl. Sommer 1994, S. 88. 51 Vgl. Manfred Lurker: Lexikon der Götter und Dämonen. Namen, Funktionen, Symbole/Attribute. Stuttgart 1984, S. 96 f. 52 Cornelia Zumbusch: Dämonische Texturen. Der durchkreuzte Wunsch in Goethes ‚Wilhelm Meisters Wanderjahren‘. In: Das Dämonische. Schicksale einer Kategorie der Zweideutigkeit nach Goethe. Hrsg. v. Lars Friedrich, Eva Geulen, Kirk Wetters, Paderborn 2014, S. 79–95, hier: S. 80. 53 Zu den „Inkongruenzen in Goethes Begriffsverwendung“ des ‚Dämonischen‘ siehe Zumbusch 2014, S. 80; Roland Borgards geht in seinem ebenfalls in dem Sammelband Das Dämonische. Schicksale einer Kategorie der Zweideutigkeit nach Goethe auf die Bedeutung der Veröffentlichung der Urworte. Orphisch in zwei unterschiedlich ausgerichteten Zeitschriften ein, so dass „eine morphologisch-zoologische Lektüre“ „einer anthropozentrischen Argumentation“ gegenüberstehe, deren ambivalente Spannung für die Deutung der ‚lebensbestimmenden Prinzipien‘ entscheidend sei. Roland Borgards: Morphologischer Dämon. Zur ersten Strophe von Goethes ‚Urworte. Orphisch‘. In: Das Dämonische. Schicksale einer Kategorie der Zweideutigkeit nach Goethe. Hrsg. v. Lars Friedrich, Eva Geulen, Kirk Wetters, Paderborn 2014, S. 65–78, hier: S. 66 u. S. 68.

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Goethe’s idea of the Dämon may have been a part of the earliest phase of Doderer’s Demons.“54 Auch Rudolf Helmstetter bezieht Doderers Dämonen-Begriff auf Goethes Urworte orphisch und meint, Doderer verhalte sich „skeptisch gegenüber der euphorischen Prämisse, die ‚Entwicklung‘ realisiere sich gesetzmäßig und unaufhaltsam, ohne Störungen und Ablenkungen; skeptisch gegenüber dem an der Pflanze abgelesenen Modell ‚organischer‘, endogener Entwicklung [. . .].“55 Vor dem Hintergrund der inneren Stimme, der Mary sich nach ihrem Unfall stellt und der sich daraufhin einstellenden Schicksalsergebenheit, die sich in der leitmotivischen ‚So ist das also‘-Formel zeigt, lässt sich auch das Ende der mit Daimon betitelten Strophe auf Mary beziehen: „Und keine Zeit und keine Kraft zerstückelt / Geprägte Form die lebend sich entwickelt.“56 Mary wird zunächst als Folge ihrer ‚Apperzeptionsverweigerung‘, d. h. auch der Entwicklungsverweigerung und der Statik ihres Zustands, im wörtlichen Sinne zerstückelt, indem ihr ein Bein abgetrennt wird. Die Figur Dr. Negria kritisiert zu Beginn der Strudlhofstiege Marys Haltung in Gedanken: „Ein Gegenstand mit Eigenbeweglichkeit, also ein lebendes Wesen zum Unterschied von einem Ding, darf sich der Trägheit nicht überlassen.“ (DS 14) Da Mary in den Dämonen ihr Schicksal annimmt und sich daraufhin ‚lebend entwickelt‘ kommt es zu einer Heilung – die Zerstückelung wird in ein Zeichen der Ganzheit überführt, indem die Prothese einen Belebungsprozess erfährt.57 Mary ist in den Dämonen wieder „ein entwicklungsfähiger Mensch [, der] mit dem Ungeheuer [nie] wieder ganz intim [wird]“ (DD 1055). Das an Mary vorgeführte psychische und physische Ungleichgewicht und die darauf einsetzende Entwicklung lässt sich auf Doderers Romantheorie beziehen, wie er sie in Grundlagen und Funktion des Romans entwickelt und auf seine Forderung, der Dichter habe „lebensgemäß zu denken, nicht denkensgemäß zu leben“ (WdD 173), um dem „universalen Anspruch“ (WdD 168) des Romans gerecht zu werden. Mit diesem Universalitätsanspruch verweist Doderer explizit auf „den Griff nach Goethes Erbe“ (WdD 168). Dietrich Weber zufolge erklärt sich Doderers Postulat der Form als „Entelechie jedes Inhaltes“ (WdD 172) durch „Goethes Wesensbestimmung der Entelechie [. . .]: als ‚geprägte Form, die lebend sich entwickelt‘.“58 Die Verknüpfung der Entwicklung der Figur Mary mit dem intertextuellen Bezug zu Goethes Urworte orphisch lässt sich demnach auch als Verweis auf die Entstehungsgeschichte des Dämonen-Romans beziehen, der sich als ‚ge-

54 Kirk Wetters: Demonic history. From Goethe to the present. Evanston, IL 2014, S. 174. Wetters bezieht sich auf Doderers Tagebucheintragungen aus dem April 1933: „Doderer notes – in quotation marks – the decisive words of the Dämon stanza of Goethe’s ‚Urworte‘: ‚imprinted form‘ (geprägte Form). This minimal citation is set next to the words ‚the pure types‘ (die reinen Typen) [. . .]“. Wetters 2014, S. 174. 55 Helmstetter 2014, S. 405. 56 Goethe 1987, S. 429. 57 Zur Amputationsthematik bei Doderer siehe Kap. 5.2.2. 58 Weber 1963, S. 28.

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prägte Form‘ entwickelt hat, nachdem ihm einige ideologische Auswüchse gekürzt resp. ‚amputiert‘ wurden und er eine innerhalb dieser Logik ‚lebensgemäße‘ Richtung eingeschlagen hat. Der Übergang von der Statik zur Dynamik in Marys Entwicklung zeigt sich nun daran, dass Mary, nachdem sie Leonhard (im Raum mit dem Klavier!) kennengelernt hat, die Unterrichtsstunden bei Grete Siebenschein wieder aufnimmt. Die erste Textstelle in den Dämonen, in der Marys Klavierspiel erwähnt wird, knüpft an die Frage nach dem nur noch selten zu hörenden Klavierspiel an, die Grete Mary am Tag des Straßenbahnunfalls in der Strudlhofstiege gestellt hatte. Wieder studiert Mary unter Grete’s Leitung einiges von Chopin, sowie Werke des zeitgenössischen spanischen Tonsetzers Albeniz (deutsche oder österreichische Musik ward von Grete eher vermieden). Die Siebenschein erblickte gerade in dieser Wiederaufnahme der musikalischen Studien bei Mary ein ganz wesentliches Zeichen der neu erlangten Gesundheit, in jeder, auch in seelischer Hinsicht. (DD 664)

Grete scheint um die heilende Kraft der Musik zu wissen, mit der Mary zu Beginn der Handlung in der Strudlhofstiege die „nahen Dämonen [gebändigt]“ (DS 24) und die Ordnung wiederhergestellt hatte, die jedoch am Tag des entscheidenden Unfalls gefehlt hat. Daher empfindet sie „einen tieferen Frieden: als sei dort oben nun alles getan, alles überwunden, alles vorbei und gut“ (DD 664), immer wenn sie die Klänge des Klaviers aus Marys Wohnung hört. Als René Stangeler sich vor seiner Abreise auf die Burg Neudegg zärtlich von Grete verabschiedet und gerade dabei ist, seine Geliebte zu entkleiden, hört man ein Klavier anschlagen: „‚Es ist Mary‘, sagte Grete Siebenschein lächelnd, ‚sie spielt wieder‘“ (DD 700). Dieser Satz wird zur leitmotivisch wiederholten Formel für die Befreiung aus zwanghaften Verhaltensweisen. Verstärkt wird diese Funktion durch die darauffolgende Einbettung des Satzes in die zugespitzten Folterphantasien Jan Herzkas und Renés Gedanken über Obsessionen. Der Akzent der Wiederholungen liegt hier auf der „symbolischen Bedeutung [. . .], weniger auf ihrer musikalischornamentalen Funktion“,59 und wird durch die oben zitierten Gedanken Gretes zum fortschreitenden Heilungsprozess Marys sowie die semantischen Verknüpfungen durch die Wiederholung in Renés Gedächtnis, zur „vor- und zurückdeutende[n] magische[n] Formel“.60 Der Kommentar zu Marys wieder aufgenommenem Klavierspiel verbindet auf struktureller und inhaltlicher Ebene als Leitmotiv alle anderen Textstel-

59 Brinkmann 2012, S. 364. Brinkmann bezieht sich mit dieser Aussage allerdings auf die Leitmotivik in Doderers Divertimenti. 60 Thomas Mann: Einführung in den Zauberberg. Für Studenten der Universität Princeton [1939]. In: Ders.: Gesammelte Werke in zwölf Bänden, Bd. 11: Reden und Aufsätze 3. Hrsg. v. Hans Bürgin, Ernst Bürgin, Peter de Mendelssohn, Berlin u. a. 1960, S. 602–617, hier: S. 603. Vgl. auch Brinkmann 2012, S. 364.

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len, in denen er vorkommt, und schafft damit semantische Überlagerungen, während gleichzeitig das Anschlagen eines Klaviers evoziert wird.61 Die Klänge des Klaviers dringen in der oben beschriebenen Abschiedsszene durch die Wände der Wohnung aus dem oberen Stockwerk. Direkt im Anschluss denkt René über seine neue emotionale Offenheit Grete gegenüber nach: „Die Kristallwand seiner Vorbehalte, die zwei auf jeder Seite vorhandene Welten und Wirklichkeiten trennte, war durchdrungen, sie hatte sich aufgelöst“ (DD 701, Hervorhebungen von M.B.). Die neu eingetretene „Unverstelltheit“ (DD 701) schärft auch seinen Blick für die Korrelationen der Befangenheiten anderer Figuren, wobei er an den ideologisch dem Nationalsozialismus nahestehenden Körger, an den Fetischisten Schlaggenberg und den Sadisten Herzka denkt. Die Fähigkeit der Klavierklänge, äußere und innere bzw. reale und metaphorische Mauern zu durchdringen und somit zu einem tiefgreifenden Verständnis für die Beschaffenheit der ‚zweiten Wirklichkeiten‘ beizutragen, verbindet diese Szene mit einer späteren, in der die leitmotivisch gebrauchte Formel in Verbindung mit Glockenläuten wiederkehrt.62 Nach seiner Abreise aus Wien findet René auf Burg Neudegg, wo er im Auftrag von Jan Herzka die Bibliotheksbestände sichten soll, ein mittelalterliches Manuskript über einen fingierten Hexenprozess. Es packt ihn ein umfassender Ekel, der sich ausgehend von dem „furchtbare[n] Dunst“ (DD 730) aus dem Manuskript auch auf andere in Wahnvorstellungen befangene Figuren der Dämonen erstreckt: Ohne Unterbrechung und von allen Seiten kroch das Üble heran. Vielleicht war auch Herr Achaz 1464 bereits wahnsinnig gewesen. Sowohl Jan wie Achaz. Jeder im Stile seiner Zeit.

61 Zum Begriff des Leitmotivs in musikalischem und literarischem Zusammenhang siehe Kap. 4.3.1. 62 Bereits in einer vorangegangenen Textstelle sind die Klänge des Klaviers aus Marys Wohnung in der Wohnung der Familie Siebenschein zu hören, wo René alleine an einem wissenschaftlichen Text arbeitet und die Gelegenheit zu einem Seitensprung mit der Nachbarin Käthe Storch ergreift. Die sexuelle Begegnung zwischen Käthe und René wird durch Gretes Heimkehr abrupt beendet. Während diese sich um die angeblich kranke Käthe kümmert, hört der von der Lüge belastete René in der Stille „aus dem oberen Stockwerk [. . .] ein Klavier, dessen Töne gläsern und einsam wirkten“ (DD 512). Torsten Buchholz interpretiert diese Szene im Zusammenhang mit der Abschiedsszene folgendermaßen: „Die Beschreibungen von Mary’s Spiel sind gleichzeitig Kommentare zu den Vorgängen ein Stock tiefer bei den Siebenscheins. Nachdem dort Stangeler Grete mit Frau Professor Storch betrogen hat, klingen Mary’s Töne ‚gläsern und einsam‘ [. . .]. Später, als er nun wieder Gretes Kleider löst, also in einem Moment ‚richtiger‘ Sexualität, ist ein ‚klarer Anschlag‘ zu hören. (Buchholz 1996, S. 173) Die kommentierende Funktion der Klavierklänge scheint eindeutig zu sein, allerdings ist es diesmal eben nicht, wie Buchholz annimmt, Mary, die spielt: Direkt im Anschluss an die Seitensprung-Szene gehen Grete und René ins obere Stockwerk zu Marys Tochter Trix K., bei der „bereits eine Art kleiner Tanzunterhaltung im Gange [war], wofür Bill Frühwald, welcher am Klaviere saß, der Dank gebührte“ (DD 513). Es stellt sich also heraus, dass es gar nicht Marys Klavierspiel sein kann, das da erklingt, da sie sich zu diesem Zeitpunkt noch immer in München aufhält (vgl. DD 514). Im Gegensatz zu Marys Klavierspiel, das eine verbindende und heilsame Funktion hat, ist Frühwalds Musik rein auf Unterhaltung und eine angenehme Geräuschkulisse ausgerichtet.

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Ebenso Körger. Wahrscheinlich auch Schlaggenberg. Ein Klavier schlägt an. Wie sie lächelt! ‚Mary spielt wieder.‘ (DD 731)

In die Reihe der Wahnsinnigen nimmt René neben den von sexuellen Obsessionen beherrschten Figuren – Jan Herzka, Achaz von Neugegg und Kajetan von Schlaggenberg – wie zuvor auch den nationalsozialistisch gesinnten Kurt Körger auf. Geyrenhoffs Neffe Körger gehört, wie René selbst, zum Freundeskreis der ‚Unsrigen‘.63 Überraschend endet die Auflistung der ‚Wahnsinnigen‘ mit dem Gedanken an das anschlagende Klavier und dem Zitat „Mary spielt wieder“ (DD 731). Damit wird nicht nur Gretes Aussage zitiert, sondern der gesamte Kontext evoziert: Das Anschlagen des Klaviers, das Lächeln Gretes, sowie ihre wörtliche Rede. Es scheint, als könne sich René mit dieser Erinnerung aus dem Sumpf der negativen Gefühle befreien, die ihn auf der Burg durch den engen Kontakt zur ‚zweiten Wirklichkeit‘ zu überwältigen drohen, so wie sich Mary selbst „am eigenen Zopf aus dem Sumpf gezogen [hat]“ (DD 821). Eine weitere Szene spricht für diese Deutung: Als René aus den Kavernen der Burg hinauf auf den Turm steigt, hört er „von sehr schwachem Südwinde getragen, das Ave-Läuten“ (DD 753). René erahnt hier oben das omnipotente Lebensgefühl des mittelalterlichen Burgherrn. Gleichzeitig hat er aber auch das befreiende Gefühl, „Herzka und Mörbischer dort unten“ (DD 754) zu lassen zusammen mit den negativen Seiten seines eigenen Charakters, der „wichtigtuerisch, einmal auch beinahe infam“ (DD 754) war. Die Oben-Unten-Antinomie, die den gesamten Roman prägt, zeigt sich hier räumlich (unten in den Kavernen vs. oben auf dem Turm), zeitlich (die Vergangenheit als „dort unten in der Tiefe der Zeiten“ (DD 753)) und auch moralisch, indem die negativen Eigenschaften dem Unten zugeordnet werden. Während diese Strukturierung des ethischen Raumes anhand einer räumlichen vertikalen Achse64 innerhalb der Dämonen in weiten Teilen traditionellen Zuschreibungen entspricht, ist die einfache Zuordnung topologischer Oppositionen wie oben/unten zu semantischen Räumen – beispielsweise Moral vs. Abweichung oder Apperzeption vs. Deperzeption – zwar vorhanden, sie wird jedoch auch immer wieder unterlaufen.65 René befindet sich oben auf dem Turm und dort hört er das verklingende Glockenläuten „zart, abgefangen, wie durch Mauern, wie man ein fernes Klavier hört, in einem weitläufigen Hause. ‚Es ist Mary. Sie spielt wieder‘“ (DD 754). Mit diesem wiederholten Zitat endet der Textabschnitt. Die befreiende Wirkung von Marys Kla-

63 Zum Antisemitismus, der diesen Freundeskreis spaltet siehe Kap. 4.1.2. 64 Vgl. Jurij M. Lotman: Die Struktur des künstlerischen Textes. Hrsg. v. Rainer Grübel, Frankfurt a. M. 1973 (= Edition Suhrkamp; Bd. 582), S. 333 sowie S. 340. 65 So stellt sich beispielsweise die wiederholt auch räumlich inszenierte Übersicht des Chronisten Geyrenhoff als illusionär heraus. Im Gegenzug hat die im tief gelegenen Stadtteil Wiens lebende Anna Kapsreiter einen intuitiven Zugang zu verschiedenen Wirklichkeitsebenen, so dass eine Umkehrung der Zuordnungen Oben – Apperzeption (männlich) vs. Unten – Deperzeption (weiblich) stattfindet. Siehe Kap. 5.2.3.

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vierspiel, die von ihr auf andere Figuren ausstrahlt, wird hier mit dem Ave-Läuten, das heißt dem Ruf zum Angelusgebet, welches das dreimalige Ave-Maria-Gebet beinhaltet, verwoben. Es liegt daher nahe, die Anrufung der heiligen Muttergottes mit der Evokation ihrer Namensvetterin Mary zu assoziieren. Ebenso wie nach der Abschiedsszene mit Grete sind auch hier die heilenden Klänge wie durch Mauern hindurch zu hören, was René an Gretes Aussage „‚Es ist Mary‘ [. . .], ‚sie spielt wieder‘“ (DD 700) erinnert. Die religiös aufgeladene Semantik dieser Szene erweitert sich durch einen Vergleich mit den schicksalhaften Umständen um Marys Unfall in der Strudlhofstiege. Nach dem Unfall weiß Melzer „ohne jeden Zweifel, daß sie [Mary] darüber würde siegen. Es war nicht irgendeine. Es war Mary. Unaufhörlich läuteten die Kirchenglocken“ (DS 847). Da der Unfall aufgrund der extrem detaillierten Zeitangaben dieser Szene um 17:40 Uhr verortet werden kann (vgl. DS 831 u. DS 842) und die ErsteHilfe-Maßnahmen einige Zeit in Anspruch nehmen, ist dieses Glockenläuten mit Sicherheit das 18-Uhr-Läuten, d. h. das Angelus-Läuten, auch Ave-Läuten genannt. Der Hinweis, dass das Läuten wahrscheinlich von der Liechtenthaler Kirche zu den vierzehn Nothelfern herkomme, ist eine weitere Anspielung auf die Identifikation Marys mit der heiligen Muttergottes, da diese die Königin der vierzehn Nothelfer ist. Mary K. muss gewissermaßen als Märtyrerin ein Bein opfern, nicht nur um zu sich selbst und damit zu Leonhard zu finden, sondern auch um mit der Überwindung ihres Leidens für andere Figuren zum Vorbild zu werden. Den religiösen Metatext der Unfallszene in der Strudlhofstiege analysiert Gerald Sommer detailliert in seiner auf die Figuren Mary K. und Melzer fokussierten Arbeit Vom „Sinn aller Metaphorie“. Darin zeichnet Sommer die Gestaltung der Figur Mary K. nach, die durch Doderers Affinität zu Weiningers Thesen in Geschlecht und Charakter geprägt ist. Da ich im Zusammenhang mit der Figur Quapp ausführlicher auf die Weininger-Bezüge in den Dämonen eingehen werde, sei hier nur kurz auf Sommers Interpretation des Unfalls verwiesen: Vor dem Hintergrund der Weiningerschen Auslegung des Todes Christi als Überwindung des Judentums, das „weder zu ‚Liebe‘ noch zu ‚Opfer‘ befähige“,66 deutet Sommer Mary als „Christus-Imago“.67 Mit ihrem mehrfach determinierten Opfer zugunsten von Melzer und Thea überwindet Mary die stärksten ‚Negationen‘ in sich, ihr ‚W‘-Sein und ihr ‚Judentum‘. Die Herrschaftsübernahme ihres Körpers führt zur Überwindung der Infektion, zur Selbstüberwindung ihrer persönlichen und per se jüdischen ‚Geistesrichtung‘, der apperzeptions-verweigernden Ratio zugunsten der Inspiration und zur Selbstheilung der in ihr präsenten und durch sie repräsentierten Zeitkrankheit.68

66 Sommer 1994, S. 174. Vgl. Weininger 1903, S. 433. 67 Sommer 1994, S. 174. 68 Sommer 1994, S. 174.

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Ihr Unfall ist als eine Rettungstat gestaltet, gleich dem Tod Christi am Kreuz, wobei Marys „Hütchen“ (DS 846) auf die Dornenkrone des gekreuzigten Christus [verweist], da sie ‚mit [einem] kurzen Reiher‘ (DS 821) versehen ist. Im christlichen Symbolkanon ist der Reiher ein Bild für die Buße und ein Symbol des in Gethsemane Blut schwitzenden und sich schließlich in sein Schicksal ergebenden Christus.69

Dieses Hütchen bzw. ein ähnliches Modell ebenfalls mit „Reiherpinselchen“ (DD 639), trägt Mary auch bei ihrem analog zu dem Straßenbahnunfall beschriebenen Auftreten in den Dämonen, als sie von Emma Drobil beobachtet wird. Dort wird der Kopfbedeckung, von der fast zu erwarten gewesen wäre, dass sie „klinge wie eine kleine silberne Glocke, ein Klang und Glanz gewordener erreichter Punkt, ein Spitzenpunkt im Leben, ein Pünktchen auf dem i“ (DD 640), ein ganzer Textabschnitt gewidmet, in dem onomatopoetisch das Glockenklingen evoziert wird. Mit dem von Sommer als ‚Dornenkrone‘ interpretierten Hütchen setzt sich Mary nach ihrem Schicksalsschlag somit selbstironisch in Szene: „Es war ein großartiges Modell. Es war am Rande der Clownerie, es war ironisch“ (DD 639). Nachdem sie sich mit ihrem Schicksal abgefunden und den Kampf mit der Prothese bestanden hat, kann sie wieder von einem distanzierten Standpunkt auf ihr Leben blicken, der es ihr erlaubt, sich ‚lächerlich‘ zu machen, ohne dabei ihre Würde zu verlieren. Auch Sommer weist darauf hin, dass die Dämonen „von einer selbstironisch-fröhlichen Mary K. [erzählen], die das Lachen, das ihr ‚vergangen‘ war, wiedergefunden hat [. . .].“70 Auch wenn die Feststellung der Parallelen zur Christus-Gestalt aufschlussreich ist, lassen etliche der oben genannten Elemente Mary zugleich als eine erotisch aufgeladene Personifikation der heiligen Maria erscheinen. Die katholischen Märtyrerinnen oder Figuren, die mit entsprechenden Attributen ausgestattet sind, werden in Doderers literarischen Werken und in seinen Tagebüchern stets mit stark ausgeprägter Erotik verknüpft. In seinen Tagebüchern schreibt Doderer: „In diesen Wachslichtern und halb verhüllten Gestalten der katholischen Kirchen liegt für mich eine ganz infernalische Erotik, in den Gewandfalten und der Demut dieser heiligen Frauen.“ (TB 1043, 26.08.1937) Darüber hinaus wird Mary auch mit anderen biblischen Frauengestalten wie Rahel, Rebekka, Judith und Ruth (vgl. DD 639 u. DD 651) direkt verglichen. Mit den vielfachen alt- und neutestamentarischen Bezügen, die sie in die Reihe ‚großer Frauen‘ stellen, mit ihrer erotischen Ausstrahlung, ihrer Klugheit und Schicksalsergebenheit wird Mary zu einer Ideal-Figur der Dämonen. Zusammen mit Leonhard, der als männliche Heldengestalt des Romans im Kontext von römischer und griechischer Antike steht, bilden die beiden ein vorbildliches Paar. Marys wiedergewonnene Musikalität ist die Voraussetzung für die Entwicklung hin zu diesem Ideal. Die auditiven Signale und Erlebnisse des Klavierspielens und

69 Sommer 1994, S. 160. 70 Sommer 1994, S. 122.

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des Glockenläutens sind entscheidend für die Entwicklung der Figur Mary K. zu einer erotisch konnotierten Madonnengestalt. Die vorangegangenen Überlegungen waren durch die Verknüpfung der leitmotivisch fungierenden ‚Es ist Mary‘-Formel mit dem Glockenläuten motiviert. Daran anschließend möchte ich nun eine letzte Szene betrachten, die in diese Reihe gehört: Als René zum zweiten Mal auf die Burg Neudegg fährt, nimmt er Grete mit sich. Die beiden besichtigen die Kavernen der Burg, wobei sie angesichts der Vorstellung der hier von Jan Herzka geplanten ‚Peinigungen‘ und der scherzhaft angedachten „Probe-Peinigung“ (DD 1054) Gretes durch René in Lachen ausbrechen. Mit ihrem ‚unangemessenen‘ Benehmen – hinsichtlich der von Herzka angestrebten Authentizität der Folterkammer71 – lassen sie alle „Reize und Schrecken [der Unterwelt] einfach platzen wie Wursthäute und gänzlich wirkungslos und nur mehr lächerlich“ (DD 1054) erscheinen. Der Humor schafft eine Distanz, durch welche die ‚Lächerlichkeit‘ der ‚zweiten Wirklichkeit‘ erkennbar wird und ihr somit der Realitätsstatus genommen wird. Grete und René steigen aus den Kavernen auf den Turm hinauf: „Der Sommertag lag gewaltig da, kühlte und distanzierte sich zugleich durch die enormen Entfernungen, in welche man sah. Es war fast mehr geographisch als landschaftlich oder gar poetisch. Kein Ave-Läuten (vier Uhr nachmittags)“ (DD 1055). Die analoge Konstellation zu der oben beschriebenen Szene mit René auf dem Turm ist unschwer zu erkennen und evoziert die Erinnerung an das Ave-Läuten. Die äußerst verkürzte Syntax, des rein informativen „kein Ave-Läuten“, deren ernüchternde Wirkung mit der in Parenthese eingefügten Zeitangabe noch verstärkt wird, scheint ironisch an eifrige, implizite Rezipient*innen gerichtet, die sich in anderen Szenen die Uhrzeit umständlich herleiten mussten und deren Erwartung nun potenziell enttäuscht wird. Der lyrische Modus des Eingangssatzes mit dem expliziten Hinweis auf die ‚poetische‘ Qualität entsteht u. a. durch Assonanzen, Alliterationen, Endreim (Sommertag – lag, da – sah), die Wortwahl mit besonders ausdrucksstarken und synonymen Adjektiven (gewaltig/enorm) sowie rhythmische Parallelismen. Durch den Kontrast zu diesem vorangegangenen Satz sticht der plötzliche Nominalstil besonders hervor. In Gestalt der Worte Kyrill Scolanders72 wird Renés Zustand ausdrücklich als „‚Gedärm-Symbolik‘ ironisiert“, wobei der fiktive Erzähler mit einem eigenen Terminus aufwartet: „Wir nennen es ‚unorthographisches Denken‘“ (DD 1055). Diese Art des ‚regelwidrigen‘ Denkens, in dem die Umwelt zum Zeichen der eigenen inneren Verfassung wird, korrespondiert mit der geographischen bzw. poetischen

71 So plant Jan Herzka zwar die Beheizung der Kavernen, will die Heizkörper jedoch verdeckt anbringen lassen und reagiert empfindlich auf alle Gegenstände (wie Zigarettenstummel und abgelegte Jacken), die nicht zu dem mittelalterlichen Schauplatz passen (vgl. DD 747 u. DD 751 f.). 72 Die Figur Kyrill Scolander ist ein Maler und Schriftsteller, dem Doderer die Züge seines Lehrers Albert Paris Gütersloh verliehen hat (vgl. AM 71 f.) und der im Roman als Kajetan von Schlaggenbergs ehemaliger Lehrer nur einmal selbst auftritt (DD 1158–1164), jedoch mehrfach als geistige Autorität zitiert wird (DD 66, 447, 941, 1020, 1075, 1083, 1084, 1157, 1199, 1291).

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Wahrnehmung der Landschaft und der Burg. René empfindet die „Hohlräume dieser Burg [. . .] bis hinab zu den untersten Kavernen“ (DD 1055) als Teil seiner Selbst und den Aufstieg auf den Turm „als wär’ er hier aus den Tiefen der eigenen Leibeshöhle emporgestiegen, um nunmehr oben herauszuschauen“ (DD 1055). Er erreicht nun ohne pseudoreligiöse Hilfsmittel wie die Erinnerung an Marys Klavierspiel oder das die Muttergottes anrufende Glockenläuten, einen ‚Weitblick‘, der eine „endgültig vollzogene Wendung“ (DD 1055) anzeigt, wobei er jedoch „die verhältnismäßige Wichtigkeit dieser Augenblicke“ (DD 1055) nicht erfasst. Die in der vorhergehenden Turmszene integrierte ‚Mary-Motivik‘ fehlt diesmal. Sie wird jedoch durch den darauffolgenden Absatz über einen ebenso entscheidenden Wendepunkt bei Mary – das Eingehen einer Liebesbeziehung mit Leonhard – an die Szene angefügt, wobei deutliche Reminiszenzen zur Entwicklung Renés vorhanden sind. Eng verknüpft mit der „verhältnismäßige[n] Wichtigkeit“ (DD 1055) von Renés Wandel, wird die „verhältnismäßige Größe“ (DD 1055) ihres Leides angesprochen. Analog zu Renés neuem Weitblick, der durch die Befreiung von vorgegebenen Denkmustern hin zu einem intuitiv-poetischen Denken führt, hat auch Mary „Distanz gewonnen vom Leben“ (DD 1055) und ist „endgültig aus den Schmalspur-Geleisen [sic] besorgter Richtlinien geworfen worden“ (DD 1055). Dennoch „[klopft] manches mahnend an bei Mary“ (DD 1055), und ähnlich wie im Fall des Ave-Läutens, wird erneut durch motivische Bezüge und Zitate der Bogen zur Strudlhofstiege geschlagen: „Das Frühstückszimmer war hell. Die Fenster geschlossen, wegen des Staubes, der sonst allzu sehr sich auf die Polituren der Möbel legte“ (DD 1055). Diese Situation, in der Mary auf Leonhard wartet, zitiert in variierter Form den Beginn eines der exponiertesten ‚phrasierten‘ Motive, das sowohl am Anfang der Strudlhofstiege als auch in der Szene vor dem Unfall am Ende des Romans eingefügt ist: „Marie hatte das Fenster [. . .] zugemacht, damit kein Staub hereinfliege und sich auf die Polituren der Möbel lege [. . .]“ (DS 20). Den Kontext dieses Zitates und die Bedeutung für die Wahrnehmungsthematik habe ich bereits oben ausgeführt. Durch die Wiederaufnahme des Zitats an dieser Stelle in den Dämonen kommt es zu einer Parallelisierung der Handlung um René und Mary, wodurch Renés Entwicklung verdeutlicht wird. Hatte es vor Marys Unfall „zwischen jener Umwelt und ihrem Inneren, der Welt innerhalb ihrer Körperwand also, [. . .] so etwas wie eine Stufe [gegeben], die beides trennte, das Außen und das Innen, und so beidem viel von seiner Wirklichkeit nahm“ (DS 772), so ist bei René gerade der Umstand entscheidend, dass die „Kristallwand seiner Vorbehalte, die zwei auf jeder Seite vorhandene Welten und Wirklichkeiten trennte, [. . .] sich aufgelöst [hat]“ (DD 701). Die Grenze zwischen Innen und Außen ist somit nicht mehr statisch, sondern fließend, wovon die Wahrnehmung der Landschaft und der Burg als Ausdruck des eigenen Innenlebens zeugt. Eine ähnliche befreiende Wirkung hat die musizierende Mary auch auf Dwight Williams, der ihr bei einer Feier begegnet, während der sie das Wiener Trinklied Es wird ein Wein sein in der lateinischen ad-hoc-Übersetzung der anwesenden Gymnasiasten am Klavier begleitet. Bezeichnenderweise tritt Dwight „noch während des lächerlichen

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Gesangs“ (DD 675) ein und erblickt Mary, den Gegenstand seiner Sehnsucht zum ersten Mal leibhaftig, „während Mary weiterspielte, bis der Gesang mit Gelächter sein Ende fand“ (DD 675).73 Der Liedtext, „s’wird schöne Maderl geben / und mir wer’n nimmer leb’n“ (DD 673), wird dabei in einer Lateinisch-Griechischen Mischung mit „Et erunt puellae bellae / nobis iam stante stele“ (DD 674) übersetzt. Analog zu diesem Liedtext empfindet Dwight in der Konfrontation mit der echten Mary, diese als „[Meilenstein] seiner Sehnsucht, vor dem er jetzt stand, als am Grabsteine der Sehnsucht zugleich“ (DD 675, Hervorhebung von M.B.), und mit einen „tiefen Schmerz“ erkennt er, „daß es ja in Wahrheit das Amt der Drobila sei (die er noch immer nicht erblickte), wirklich da zu sein, und nicht das Mary’s“ (DD 675), und er ist schlagartig von seiner Obsession befreit. Die Thematisierung der Übersetzung durch die Gymnasiasten, welche meinen, „man muß halt hier sagen ‚wenn schon unser Grabstein steht‘, und das griechische Wort ‚stele‘ verwenden“ (DD 674, Hervorhebung von M.B.), deutet auf die Analogie zwischen dem Liedtext und der Handlung auf der Figurenebene. Dwights metaphorischer Grabstein der Sehnsucht eröffnet zugleich eine Zukunft mit neuen ‚schönen Maderln‘ – in diesem Falle mit Emma Drobil, welche Dwight, nachdem er zu Beginn nur Augen für Mary hatte, nun wahrnimmt und „Hand in Hand“ mit ihr die „entscheidenden Sekunden“ dieses Zusammentreffens besteht (DD 676). Es gelingt ihm, nachdem er Mary am Klavier erlebt hat, sich von seiner Befangenheit zu lösen und seine zukünftige Frau Emma Drobil wahrzunehmen. Die katalysatorische Funktion, die Mary und ihr Klavierspiel für andere Figuren haben,74 zeigt sich in dieser Szene ebenso wie in den zuvor dargestellten Erinnerungen Renés an Marys Klavierspiel. Die mit Mary verbundene Klavierspiel-Motivik durchläuft in den Dämonen eine Entwicklung, in der die heilsame Funktion der Klavierklänge auf andere Figuren übergreift. Die Abfolge der hier behandelten Szenen, in denen Marys Klavierspiel leitmotivisch an Renés Wahrnehmung geknüpft wird, lässt sich folgendermaßen zusammenfassen: In der Abschiedsszene zwischen René und Grete wird die Funktion des Motivs erstmals dargestellt. Das wieder aufgenommene Klavierspiel zeigt zunächst die Heilung Marys an, es dringt durch Wände und verhilft René zu einem unverstellten Blick, der ihn die ‚zweite Wirklichkeit‘ erkennen lässt. In den zwei folgenden Szenen hilft der Gedanke an Marys Klavierspiel René, den Wahnsinn, der ihn auf Burg Neudegg zu umgeben scheint, abzuwehren und die den ‚zweiten Wirklichkeiten‘ gemeinsame Natur zu erkennen. In der ersten Turmszene wird das Motiv mit dem Ave-Läuten verbunden und schlägt damit den Bogen zur Unfallszene in der Strudlhofstiege. Die abschließende Sequenz vereint wie die erste Szene Grete und René

73 Die ‚Lächerlichkeit‘ des Gesangs, rekurriert auf Marys Hut „am Rande der Clownerie“ (DD 639) sowie die durch Renés und Gretes Verhalten „lächerlich“ (DD 1054) gemachten Kavernen der Burg. 74 Zu diesen Figuren wäre auch Kajetan von Schlaggenberg zu zählen, der seine ‚Apperzeptionsverweigerung‘ erst erkennt, als er Mary K. begegnet: „Als ich Frau Mary zum ersten Mal erblickte, erkannte ich eine tiefe Trübung meines Auges.“ (DD 1082).

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und zeigt die von René durchlaufene Entwicklung auf, indem er sich nun aus eigener Kraft zumindest in Anwesenheit Gretes aus seinen Verstrickungen lösen und einen unbefangenen Blick auf die ‚Wirklichkeit‘ erlangen kann. Renés Empfänglichkeit für die Wirkung der Musik zeigt sich schon in der Strudlhofstiege, wo die befreiende Wirkung, die für ihn von der Musik ausgeht, mehrmals anhand seiner Haltung als Musik-Rezipient geschildert wird. So weckt „das Vorspiel zu der großen Klaviersonate in Fis-moll von Robert Schumann“ (DS 106) in René die Empfindung, als fasse der „emporsteigende und sanft kaskadierende Hauptgedanke des Tondichters das gesamte hier gegenwärtige Sein gebändigt zusammen“ (DS 108). Indem der Komponist als ‚Tondichter‘ bezeichnet wird, verweist diese Textstelle auf die Analogien zwischen Dichtung und Musik und rekurriert durch die Wortwahl zudem auf die den Urdichter Orpheus evozierende „orphische Macht der Töne“ (DS 24), durch welche ‚Dämonen‘ resp. die Wahrnehmung gefährdende Erscheinungen ‚gebändigt‘ werden können. Die Wahrnehmung von Musik bzw. die wiedererlangte Musikalität ist ein Indikator für die Apperzeptionsfähigkeit der Figuren und geht mit einer erotischen Befreiung einher. In der Strudlhofstiege findet sich ein weiteres positives Beispiel für den Umgang mit Musik und Musikalität, das als Erklärung für den unterschiedlichen Zugang zur Musik – wie er an Mary und Quapp dargestellt wird – dienen kann. Neben der semantischen Offenheit der Musik wird hier auch die potenzielle Gefahr der „Musik-Monomanie“ (DS 462) angedeutet: Über die musikalische Figur Teddy Honnegger heißt es, sie sei „musikgeboren, also reiner Herkunft“ (DS 462). „Die Pforten der Musik stehen allzu weit offen“ und Honnegger „wanderte [. . .] aus der Musik immer mehr heraus“ (DS 462), anstatt „in diese hineinkriechend wie in den sich verengenden Mund eines Trichters, innerhalb der mathematisch-musikalischen Formenwelt alles Vage und Unkontrollierte [des][. . .] Lebens [zu] deponieren“ (DS 462). Dieses Beispiel verdeutlicht, dass der ‚richtige‘ Umgang mit der Musik zu gesteigerter Apperzeptivität führen kann, ebenso wie die Möglichkeit besteht, sich auf die Musik zu fixieren und damit eine Verengung der Wahrnehmung zu erfahren. Die Figur Honnegger gehört, wie in der Strudlhofstiege erwähnt wird, „nicht zu jenen [. . .], die, von der Musik unschöpferisch zur Musik-Monomanie [vorschreiten]“ (DS 462). Die folgenden Kapitel handeln von einer solchen Figur in den Dämonen, die von der zwanghaften Idee, eine Geigen-Virtuosin zu werden, besessen ist.

4.1.2 Die Geigerin Quapp als ambivalentes „Wesen im Entwicklungs-Zustand“ Charlotte von Schlaggenberg, genannt Quapp, ist eine der Figuren, an denen die Mechanismen, die in eine ‚zweite Wirklichkeit‘ führen und die Auswirkungen derselben vorgeführt werden. Während die Wahrnehmungsproblematik der männlichen Figuren in den Dämonen sich überwiegend im sexuellen Bereich zeigt, wird bei Quapp ein Lebensentwurf zum Ausgangspunkt der Wahrnehmungsstörung:

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Trotz extremer Abneigung gegen das tägliche Üben auf der Violine und nicht endenden Ausreden, um diesem zu entgehen, sowie dem Wissen um ihre Unfähigkeit beim Vorspielen, hält sie an der Vorstellung fest, eine Virtuosenlaufbahn einzuschlagen. Das unkontrollierbare Zittern beim Vorspielen, das wie ein ‚Dämon‘ von ihr Besitz ergreift, ist das deutlichste Zeichen dieses falschen Selbstbildes: Die Erfahrung des Tremas war die tiefsitzendste, die dunkelste in Quapp’s bisherigem Leben, eine schwarze Narbe im Kern der Person, ein Dämon zugleich, der wie ganz von außen, wie ein Objekt der äußeren Welt auf sie zukam, sobald sie ihre Kunst zeigen sollte. Sie schwieg darüber. Sie wußte immer vom Trema, bei Tag und bei Nacht, bei jedem Atemzuge fast, und, vor allem: in jedem Traum. Es war eine Schmach, eine Scham, eine Angst, eine Geschlagenheit; alles das zusammen wurde erlitten beim bloßen Daran-Denken: wie ihre Finger der linken Hand gallertig wurden und mürbe in den Knöcheln und geradezu pelzig und schwammig an den Spitzen; und wie der Bogenhand plötzlich das Gelenk fehlte und zwischen Unterarm und Bogenhand nur eine Art Schlauch voll Übelkeit hing. (DD 943)

Neben Quapps Unvermögen, öffentlich zu spielen, ist die fehlende Musikalität ihr Hauptproblem. Sie ist unfähig „zu einem eigentlichen, mit Sicherheit immer wiederkehrenden und leicht provozierbaren geigerischen Affekt“ (DD 943). Sie geigte korrekt, genau – las übrigens ausgezeichnet vom Blatt – sie geigte mit Ernst und tiefer Entschlossenheit; aber solches hat noch niemanden berauscht. Die Geige hatte keine Macht über Quapp, und deshalb hatte Quapp mit der Geige keine Macht über Menschen. (DD 943)

Die Bedeutung der Figur Quapp und ihre Beziehung zur Musik wurden bereits in der Forschungsliteratur hervorgehoben75 und die Dämonen gar als „die eingekleidete Geschichte Quapps“76 gelesen, da der Erzählstrang um ihre Erbschaft mit nahezu allen Figuren verknüpft ist.77 Die eklatanten Unterschiede zu den männlichen ‚Apperzep-

75 So zum Beispiel bei Brinkmann 2012, S. 99–106 zur Musikthematik, sowie S. 244–248 zur QuappThematik im Hinblick auf den Melancholie-Aspekt des Romans. Auch Torsten Buchholz widmet Quapp besondere Aufmerksamkeit, wobei er Quapps Vorstellung von „In-Form-Sein“ (DD 234 u. DD 876), um Geige spielen zu können, mit Doderers theoretischen Überlegungen zum Verhältnis von Form und Inhalt im Roman verbindet: „Für Doderer ist dagegen Form (technisch korrektes Spiel) und Inhalt (Empfindung/Gefühl) durch die Entelechie-Formel untrennbar.“ Buchholz 1996, S. 166–172, hier: S. 167. Die aufschlussreichste Analyse zur Figur Quapp findet sich bei Hubert Kerscher, der die Überlagerungen zwischen Quapp und der ‚zweiten Wirklichkeit‘ herausstellt. Vgl. Kerscher 1998, S. 342. 76 Peter Dettmering: Zwillings- und Doppelgängerphantasie. Literaturstudien. Würzburg 2006, S. 158– 168, hier S. 164. An anderer Stelle vergleicht Dettmering das ‚Entfremdungserleben‘ der Figuren Geyrenhoff und Quapp und meint Quapps Geschichte sei „als ‚novellistischer Kern‘ des Romans – von pathognomischer Bedeutung für das ganze Werk und [eigne] sich in besonderer Weise für die Herausarbeitung der ihm zugrundeliegenden Ambivalenz- und Trennungsproblematik.“ Peter Dettmering: Zum Entfremdungserleben in Heimito von Doderers ‚Dämonen‘. In: Perspektiven psychoanalytischer Literaturkritik. Hrsg. v. Sebastian Goeppert, Freiburg im Breisgau 1978, S. 9–22, hier: S. 22. 77 Daher stellt Thomas Petutschnig die Geschichte Quapps „als eine Art Gerüst des Gesamtwerks“ vor. Vgl. Petutschnig 2007, S. 18–20.

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tionsverweigerern‘ und die geschlechtsspezifische Semantisierung von Phänomenen der ‚zweiten Wirklichkeit‘ blieben dabei jedoch weitgehend unbeachtet. Vor diesem Hintergrund wird Quapps Geschichte ausgehend von der Korrelation zwischen Musikalität und Geschlechtlichkeit mit Blick auf die Apperzeptionsproblematik in den Dämonen untersucht. Dabei werden die Parallelen und Divergenzen in der musikalischmenschlichen Entwicklung der Figuren Quapp und Mary K. einbezogen. In diesem Kapitel steht die für Quapp charakteristische Ambiguität und die narrative Integration der Figur in die Handlung im Fokus,78 wobei ihre durch antisemitische Einflüsse zerrüttete Beziehung, die mit der Figur verbundene Klangkulisse sowie ihre Kommunikationsprobleme betrachtet werden. In einem zweiten Kapitel werden raumsemantische Aspekte und motivische Interferenzen zwischen Quapp und Mary sowie ihr Verhältnis zur Musik analysiert.79 In einem dritten Kapitel wird schließlich die Entwicklung der Figur vor dem Hintergrund des mythologischen Bezugsrahmens, der hauptsächlich über die genealogische Verbindung zu Quapps Mutter hergestellt wird, interpretiert.80 Dabei werden Bezüge zu dem von Otto Weininger in Geschlecht und Charakter gezeichneten Geschlechterkonzept hergestellt. Da der „glorreiche Weininger“ (DD 659) mehrfach in den Dämonen erwähnt wird, ist es naheliegend, nicht nur die Figur Leonhard Kakabsa, die direkt mit seinem Buch in Kontakt kommt, sondern auch die Geschlechterverhältnisse im Roman auf Parallelen zum Weiningerschen Weltbild zu untersuchen.81 Zunächst wird es nun um die Charakterisierung Quapps als unfertiges, geschlechtlich uneindeutiges ‚Wesen‘ und ihre Einführung in die Romanhandlung gehen. Ein Handlungsstrang der Dämonen dreht sich um die durch den Kammerrat Levielle unterschlagene Erbschaft, die Quapp als unehelichem Kind des verstorbenen Rittmeisters Georg Ruthmayr und der ebenfalls verstorbenen Gräfin Charagiel geb. Neudegg zusteht. Da Quapp jedoch vom Ehepaar Schlaggenberg aufgezogen 78 Kirk Wetters hat darauf hingewiesen, dass „Quapps Metamorphose [. . .] von zwei Erzählinstanzen ausdrücklich debattiert“ wird, wobei sich folgende Fragen stellen: „Hat sie dabei eine sozusagen biologisch angelegte Prädisposition zum Reichsein und Reichwerden eingelöst (wie ihr Bruder Kajetan von Schlaggenberg es nahelegt)? (DD 1077) Ist die Entwicklung Quapps also als Erlösung vom Dämonischen [. . .] zu bezeichnen? Oder ist die Verwirklichung ihres wirklichen Talents (des Beerbens, des Reichseins) nicht vielmehr (nach Geyrenhoffs Deutung) eine Wende zum Dämonischen (d. h. ein Anknüpfen an den dämonischen Charakter ihrer leiblichen Mutter, der Gräfin Charagiel)?“ Wetters 2016, S. 127 f. 79 Siehe Kap. 4.1.3. 80 Siehe Kap. 4.1.4. 81 Doderer weist in seiner 1963 entstandenen Rede auf Otto Weininger auf diese Formulierung in den Dämonen hin. Weininger stehe „an der Schwelle dieses fragwürdigen Jahrhunderts [. . .] als ein Denkmal für die Realität des Geistes, dessen Starkstrom in ihm furchtbar genug war, um den Jüngling, der eben die Rennbahn des Ruhmes betreten hatte, durch einen Kurzschluß zu töten.“ Heimito von Doderer: Rede auf Otto Weininger [1963]. In: Der Fall Otto Weininger. Wurzeln des Antifeminismus und Antisemitismus. Mit einer Erstveröffentlichung der ‚Rede auf Otto Weininger ‘ von Heimito von Doderer. Hrsg. v. Jacques Le Rider, Wien/München 1985, S. 247–249, hier: S. 247.

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wurde, die sie in dem Glauben beließen, sie sei ihr leibliches Kind und somit die Schwester Kajetans, ahnt sie nichts von dem ausstehenden Erbe. Dieser Handlungsstrang wird bereits in der Ouvertüre eingeführt, zieht sich durch den gesamten Roman und bringt den Chronisten Geyrenhoff in die Rolle des Detektivs, der auch im Sinne seines Interesses für die verwitwete Friederike Ruthmayr, die unrechtmäßigen Machenschaften ihres Vermögensverwalters Levielle aufdecken will. Quapp selbst tritt erst mit einiger Verzögerung in die Handlung des Romans ein, wobei dem Tag nach ihrer Rückkehr nach Wien ein eigenes Kapitel gewidmet ist, das dem Titel Ein Winter mit Quapp zufolge, die Essenz des gesamten Winters enthält. Diese Divergenz des Titels und der in dem Kapitel erzählten Zeit wird von Dietrich Weber im Sinne der von Doderer vielfach beschworenen „Anatomie des Augenblicks“ (T 528 u. T 680) gedeutet, in dem „wie in einem Hohlspiegel ein ganzes Leben als horizontale wie als vertikale Totalität, d. h. als Ausführlichkeit in der Breite und als Wesentlichkeit in der Tiefe, versammelt [ist]“.82 Dieses Prinzip wird bereits in der Ouvertüre zu den Dämonen mit den Worten „im kleinsten Ausschnitte jeder Lebensgeschichte ist deren Ganzes enthalten, ja man möchte sagen dürfen: in jedem einzelnen Augenblicke steckt es“ (DD 11) vorgestellt. Quapps Einstieg in das Romangeschehen, dessen ‚allererste Augenblicke‘ (vgl. DD 164) akzentuiert werden, sind daher besonders aufschlussreich für die Charakterisierung der Figur. Noch bevor Quapp selbst in Erscheinung tritt, wird sie durch die Gedanken ihres ‚Bruders‘ Kajetan von Schlaggenberg charakterisiert: „In den allerersten Augenblicken, als die Schwester seine Vorstellung betrat, und damit, wenn auch nur als eine Angekündigte, dieses helle Zimmer, waren es zunächst zwei verschiedene, ja entgegengesetzte Bilder ihres Antlitzes und Wesens, die in Kajetan schwebten“ (DD 164). Die hier bereits angedeutete „Doppelgesichtigkeit“ (DD 165) ist ein Motiv, das Quapp zugeordnet ist und als „[Bildvorstellung] [. . .] die Existenzproblematik der [. . .] Figur [veranschaulicht]“.83 Die „[metaphorische] Namensgebung“84 ist im Fall Charlotte von Schlaggenbergs somit verdoppelt: Die Ambiguität ihres Charakters spiegelt sich im Motiv der ‚Doppelgesichtigkeit‘, während ihre Unreife als Mensch und als Frau im Spitznamen ‚Quapp‘ als Abkürzung für Kaulquappe zum Ausdruck kommt, „weil dieser Name eben ein Wesen im Entwicklungs-Zustand oder in einem Vor-Stadium andeutet“ (DD 165). Die erschreckende andere Seite Quapps zeigt sich bei Auseinandersetzungen durch eine „plötzliche ganz sinnlose Anmaßung“ (DD 165), die auf ihrem sich verhärtenden Gesicht erscheint, „eine geradezu ungeheuerliche Anmaßung, eine Arroganz bis zur Sinnlosigkeit“ (DD 411) aus der „ein Maximum an kalter Frechheit“ (DD 1076) spricht. In einer Tagebucheintragung Doderers werden die unterschiedlichen Ein-

82 Weber 1963, S. 158. 83 Weber 1963, S. 172. 84 Weber 1963, S. 172.

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flüsse, die Quapp geprägt haben, dafür verantwortlich gemacht, „daß dies einen disparaten Menschen ergeben [muß]“ (CI 436, 21.07.1955). In der Charakterisierung Quapps klingt das im Roman vielfach variierte Motiv des ‚Dimorphismus‘ an, das im Zusammenhang mit der Figur Dwight Williams eingeführt wird, der über den „Saison-Dimorphismus“ (DD 27) bei Schmetterlingen promoviert hat. In Dwights Imagination wird der Begriff von Schmetterlingen auf Frauen übertragen, indem sich seine Vorstellungen von Mary K. und Madame Libesny beim Anblick von Marys Bild überlagern (vgl. DD 34). Peter Dettmering kommt zu der Schlussfolgerung, dass „der ‚Dimorphismus‘ der anderen Figuren [Quapps] Adoptionsroman [grundiert] und [. . .] in seiner Gesamtheit ein System oder, angemessener vielleicht, ein knapp gemeistertes Chaos von Verdoppelungen [bildet].“85 Die geschlechtliche Zugehörigkeit Quapps lässt sich, zumindest für Kajetan, der sie mit „Bruder“ anspricht, nur über ihre Kleidung erschließen. Das „seltsame Brüderpaar“ (DD 166) wohnt zeitweise gemeinsam in einem Zimmer. Eine pseudoinzestuöse Verbindung ist keine Option, da Quapp für Kajetan „nicht eigentlich weiblich“ (DD 605), sondern nur ein „der Kleidung nach weibliche[r] Mensch“ (DD 165 und 1071) ist.86 Auch René sieht in Quapp keine Frau, sondern ein „liebes Tramperl“, das manchmal „wie ein Maurer in der Mittagspause [dasitzt und] die Arme zwischen die Knie hinein“ (DD 222) hängen lässt, und er schiebt ihre „Weiblichkeit [. . .] als einen ganz unerheblichen und nicht in Anschlag zu bringenden Umstand einfach beiseite“ (DD 943).87 Das scheinbar geschlechtlose Wesen Quapp wirkt auf Geyrenhoff „wie ein wohlerzogener junger Mann“ (DD 830) oder auch wie „ein junger, gerader Ritter“ (DD 831). Durch diese Wortwahl wird sowohl auf die genealogische Verbindung zum Adelsgeschlecht der Neudeggs verwiesen, als auch auf die Ähnlichkeit der Befangenheit Quapps zu den Obsessionen ihres Vorfahren, des mittelalterlichen Burgherrn Achaz von Neudegg, der im fiktiven Hexenmanuskript als „ein grader junger Ritter“ (DD 759) bezeichnet wird. Dieses Motiv findet sich auch in einem für die Vertonung gedachten Text, den Doderer im Jahr 1927 verfasst hat – dem als „Symphonische Phantasie“ bezeichneten Libretto Der Abenteurer. Martin Brinkmann hat „die mythische Erscheinung des Androgynen“ in dieser von ihm erstmals veröffentlichten dramatischen Dichtung88 Doderers als „Integrationssymbolik“89 gedeutet. Ähnlich wie in dem Fragment Jutta

85 Dettmering 2006, S. 168. 86 Quapps geschlechtliche Sonderrolle unterstreicht Kajetan mit der Aussage, dass sie, als Frau zumindest „innerhalb des Denkmöglichen“ (DD 1073) liege. Seine sexuellen Vorlieben richten sich jedoch auf mütterliche Frauen, die er in Gestalt der „allerweiblichste[n] Frau“ (DD 257) sucht. 87 Auch bei ihrem großen Streit mit Imre von Gyurkicz sitzt Quapp wie ein Arbeiter in der Mittagspause: „die Füße breitspurig hingestellt und den gebeugten Oberkörper auf die Arme gestützt, die mit verschränkten Händen zwischen die auseinanderfallenden Knie hineinhängen“ (DD 411). 88 Vgl. Brinkmann 2012, S. 120. 89 Brinkmann 2012, S. 126.

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Bamberger durch die Androgynität der Figur „heimliches Begehren, heimliche Wünsche“ thematisiert würden,90 werde in der „Symphonischen Phantasie“ „allgemein die ungestillte Sehnsucht des Individuums nach Selbstergänzung [. . .] symbolisier[t]“.91 Der motivische Bezug zu Quapp ergibt sich aus der dreimaligen Wiederholung der Formulierung „einen jungen geraden Ritter“92, den Brinkmann feststellt, wobei seine ansonsten schlüssige Interpretation für Quapp nicht zutreffend erscheint. Denn auch wenn die Androgynität Quapps eine ungezwungene Freundschaft mit Männern ermöglicht,93 muss sie diese überwinden, um zu ihrer ‚eigentlichen Biographie‘ zu gelangen. Die ‚männlichen‘ Elemente ihres Charakters werden zum Teil positiv dargestellt und erst im Lauf des Romans rücken vermehrt negative Aspekte ihres Charakters, die sie von ihrer leiblichen Mutter geerbt hat, in den Vordergrund, bis sie am Ende durch die Heirat vollends ‚zur Frau wird‘.94 Bereits in der Ouvertüre wird ihre wechselhafte Physiognomie und die Ähnlichkeit zu dem Rittmeister Ruthmayr von Geyrenhoff im Gespräch mit Levielle thematisiert: „Übrigens sieht das Fräulein von Schlaggenberg nicht immer so aus, einmal mehr, einmal weniger und mitunter auch ganz anders“ (DD 15).95 Auch an dieser Stelle wird Quapps Erscheinen angekündigt und Geyrenhoff vermeint schon, sie zu sehen, was sich jedoch als Irrtum erweist. Durch diese Szene in der Ouvertüre und die Gedanken Kajetans wird Quapp somit zweifach angekündigt. Die „Einführung neuer, bisher nicht oder kaum bekannter Personen oder Themenkreise in einem späteren Teil“ lässt sich Dietrich Weber zufolge mit der „symphonischen Kompositi-

90 Zur Deutung der Androgynität in Jutta Bamberger als „Allegorie paratextueller Entgrenzung“ siehe Annette Runte: „Ein Mädchen fast“. Heimito von Doderers ‚Jutta Bamberger‘ als metapoetische Figur der Entgrenzung. In: Forum Homosexualität und Literatur 43 (2003), S. 5–24, hier: S. 14. 91 Brinkmann 2012, S. 125. 92 Heimito von Doderer: Symphonische Phantasie, 1927. ‚Der Abenteurer‘. In: Brinkmann 2012, S. 655–673, hier: S. 657, 659 u. 671. 93 Dies zeigt sich u. a. daran, dass die ‚Unsrigen‘ Quapp in ihre männliche Gemeinschaft einschließen und trotz ihrer Anwesenheit meinen: „Am schönsten ist’s immer, wenn wir Burschen unter uns sind!“ (DD 387). Die Frage, ob eine ‚reine‘ Freundschaft zwischen Mann und Frau überhaupt möglich ist, wird bei dem Gründungsfest der ‚Unsrigen‘ diskutiert, wobei sich die Spaltung der Gruppe bereits abzeichnet (vgl. DD 247 f.). 94 Vgl. Elisabeth Kató: Harponnage. Sexe et langage chez Heimito von Doderer. In: L’Actualité de Doderer. Actes du Colloque International tenu à Metz (Novembre 1984). Hrsg. v. Pierre Grappin und JeanPierre Christophe, Paris u. a. 1986, S. 27–35, hier: S. 32. Auf den Zusammenhang zwischen Geschlecht und Sprache bei Quapp geht Elisabeth Kató in dem Kapitel „Von Weibern und spirituellen Menschen – Geschlecht und Sprache bei Heimito von Doderer“ in ihrer Dissertation ein: Elisabeth Kató: Grammatischer Kosmos. Sprachen und Sprache bei Heimito von Doderer. Phil. Diss., Wien 1985, S. 217–235. 95 Die Vater-Tochter-Verwandtschaft zwischen Ruthmayr und Quapp ist außer den Adoptiveltern Schlaggenberg sowie später Kajetan von Schlaggenberg nur Levielle bekannt. Die Erkenntnis Geyrenhoffs versetzt Levielle in extreme Unruhe, da er das Quapp zustehende und von ihm unterschlagene Erbe Ruthmayrs verwaltet.

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onsweise“96 des Romans erklären. Demzufolge wäre Quapp, als sie nach dem imaginierten Auftreten mit erheblicher Verzögerung tatsächlich in der erzählten Welt eintrifft, als retardiertes Thema zu deuten, das vor allem über die Schilderung von Klangeindrücken charakterisiert wird. Der Textabschnitt, in dem es um Quapps Ankunft mit dem Zug geht, wird von „laute[m] Verkehr“ (DD 169) eingeleitet. Mit den Quapp umgebenden oft unangenehmen und lauten Geräuschen übereinstimmend, werden auch ihre eigenen klanglichen Äußerungen geschildert: Wenn sie „unmäßig [lacht][. . .] wobei ihr breiter Mund von einem Ohre bis zum anderen [klafft]“ (DD 170), „vor Vergnügen laut das Wort ‚famos‘ [trompetet]“ und „vor Vergnügen [schreit]“ (DD 171), ist ihr Habitus fürs Erste festgelegt.97 Die negative Klangkulisse98 durchdringt ihre Umwelt, ihre eigene Ausdrucksweise und bezeichnenderweise auch ihr Geigenspiel. Nachdem Quapp sich mit äußerster Willensanstrengung dazu gebracht hat „stumpfsinnig[e] Fingerübungen“ (DD 174) zu spielen, freut sie sich geradezu über das Summen eines Elektromotors, da sie meint „wenigstens hier zur Not noch dazugehören zu dürfen [, . . . ] wenn es auch außer Zweifel stand, daß die Beschäftigung dieser Leute an ihrem Elektromotor dort unten weit zweckmäßiger und sinnvoller war, als jene Art von Geigenstudium, die sie hier betrieb“ (DD 175). Als sie sich der Strichtechnik zuwendet, hat sie unversehens eine Vision von dem „Metallstück [. . .] am Frosch ihres Bogens“ (DD 175) verbunden mit der Erinnerung an einen von ihr auf der Geige erzeugten „Ton, wie sie ihn vorher kaum jemals hatte ziehen können“ (DD 176). Trotz der mechanischen Übungen, die wieder von dem Elektromotor begleitet werden, gelingt ihr an diesem Vormittag ein weiterer ‚Durchbruch‘: Ein Ton erfüllte das Zimmer, der jeden geigerisch gewitzten Musikanten hätte aufhorchen machen. Die Italienerin, endlich an der richtigen und innersten Stelle ihres Wesens berührt und getroffen, jauchzte auf und strömte ihr geheimnisvolles Leben in Fülle aus. (DD 177)

Auf diesen ‚richtigen‘ Ton reagiert auch die Umwelt gewissermaßen mit respektvoller Stille. Waren zuvor Geräusche von Draußen, wie „die Glocke eines Radfahrers“ (DD 174) und die Stimme der Hausfrau hereingedrungen, so ist es jetzt „vollkommen still“ (DD 177) und auch das Geräusch des Motors „als klangliches Symbol für ihre ‚Musikferne‘“99 setzt aus. Nach einer Pause hört sie „den Elektromotor im Unterstock summend anspringen“ (DD 178) und muss erst wieder eine Weile mechanisch üben, bevor „die wahre Stimme der Italienerin wieder aus dem hohlen Leib des Instrumentes“ (DD 178) erklingt.

96 Weber 1963, S. 168. 97 Schreien, Trompeten und lautes Lachen sind ihr über weite Teile der Erzählung zugeordnet (vgl. DD 982 u. DD 1144). 98 Vgl. Buchholz 1996, S. 170. 99 Brinkmann 2012, S. 101.

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Die Bedeutung, die Quapp intuitiv mit dem ‚Bogenfrosch‘ verbindet, verfestigt sich, als sie René Stangeler kennenlernt, der sich im Zusammenhang mit seinen Kriegserlebnissen an eine scheinbare Nebensächlichkeit erinnert, die für ihn zum Symbol der „Vielfältigkeit des Nebeneinanders im Leben“ (DD 221) geworden ist. Dabei handelt es sich um ein „Brunnenhäuslein“, unter dem er im Vorbeireiten den „ruhigen Silberblick des Wassers“ (DD 221) wahrgenommen hat. Bei Quapp, die Renés Erzählung lauscht, „schnappte das ‚Gelenk‘ ein“ (DD 221), da sie René ganz in ihrem Sinne versteht und meint, ihr eigenes privates „Kurz-Zeichen“ (DD 446) sei aus einem ebensolchen Erlebnis hervorgegangen. Quapp deutet die Analogie, die sie zwischen diesen Erlebnissen erahnt, Torsten Buchholz zufolge jedoch falsch. Statt zu erkennen, dass der „Ton, die Musik [. . .] ebensowenig mit ihrem Leben zu tun [hat], wie der Weltkrieg mit dem natürlichen Leben (Brunnenhäuslein)“,100 fühlt sie sich befeuert, ihren musikalischen Weg fortzusetzen. Neben der Tatsache, dass sie ein falsches Lebensziel verfolgt, begibt sich Quapp zusätzlich in eine falsche Beziehung. Als sie den Ungarn Imre von Gyurkicz kennenlernt, wird schnell ersichtlich, dass dieser mehr Wert auf seine Außenwirkung als auf Inhalt und Authentizität legt.101 Quapps Leichtgläubigkeit kommt diesem Charakterzug zugute, da sie zunächst bereitwillig glaubt, was Andere vorgeben zu sein. Hatte Kajetan zuvor von seiner „ehrliche[n] Kameradschaft“ mit Imre gesprochen, die jedoch „nicht mit dem Maße einer geistigen Verwandtschaft [zu] messen [sei]“ (DD 230 f.), so wird ihm nun klar, welche Fülle von Mißverständnissen hier in Quapp erzeugt werden konnte, und daß sie nahe daran war, etwas wie Ehrfurcht vor Möglichkeiten zu empfinden, die jeder dritte kleine Talentinger und Leichtfinger besaß und die einfach durch Absenz des besseren Stoffes im Menschen frei werden. (DD 232)

Die Dialoge zwischen dem zueinander findenden Paar weisen auf die unüberbrückbare Fremdheit zwischen ihnen hin, die kontinuierlich thematisiert wird. Während Imre oberflächlichen Smalltalk macht, kann Quapp kaum folgen, da sie fortwährend mit scheinbar existentiellen Gedanken beschäftigt ist und auf jede seiner Fragen eine tiefgründige Antwort sucht, wodurch sie meist nur ein „Ja . . .“ zustande bringt, bevor er zum nächsten Thema springt. Quapps „neue Schuhe, deren Sohlen noch sehr glatt waren“ (DD 234), so dass sie unsicher auf der glitschigen Straße neben Imre herläuft, symbolisieren ihre Unsicherheit auf diesem für sie neuen Terrain. Imre versucht Quapp aufzuziehen, indem er sie mit „Zigeunern, die fabelhaft Geige spielen, ohne jemals studiert zu haben“ (DD 234) vergle-

100 Buchholz 1996, S. 167. 101 „Immerhin aber hätte man bei einigem Feingefühl bemerken können, daß Gyurkicz über die Wirkung, welche mit derlei Augen unter Umständen zu erzielen war, sich nicht im unklaren befand, ja diese Wirkung in seinem Leben schon viele Male bewußt angewandt haben mochte . . .“ (DD 231).

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icht, woraufhin Quapp den „Unterschied zwischen einem zigeunerischen Naturgeiger und einem wirklichen Musiker“ (DD 235) zu erklären sucht und seine scherzhafte Frage, ob sie überhaupt Talent habe, verneint. Es ist ihr nicht möglich, diese Ernsthaftigkeit abzulegen, während Imre nicht fähig ist, die Gesprächsebene zu wechseln oder zu erkennen, welche Kämpfe sich in Quapps Innerem abspielen. Geyrenhoff empfindet dieses Aneinander-vorbei-reden des neuen Pärchens als so quälend, dass es ihn vor Quapp ekelt, weil sie „schon bis über beide Ohren in dieser Gyurkicz-Suppe drin“ (DD 248) steckt und nicht erkennt, wie Imre sich mit einem „unechten Naturburschentum“ (DD 251) schmückt. Imres zweifelhafte Herkunft102 und sein aus Minderwertigkeitsgefühlen entspringender Selbstdarstellungszwang kennzeichnen ihn als Fremden in der an sich schon gespaltenen Gruppe der ‚Unsrigen‘,103 die Kerscher als „kryptofaschistische Gruppierung“104 bezeichnet. Bei einem Streit zwischen Imre und Quapp wirft sie ihm neben mangelnder ‚Männlichkeit‘ auch sein fehlerhaftes Sprechen vor105 und grenzt sich in brutaler und arroganter Deutlichkeit von ihm, der die Weltanschauung der ‚Unsrigen‘ nicht verstehen könne, weil er „nicht genug deutsch“ (DD 410) könne, ab. Damit zeigt sich der rassistisch bzw. antisemitisch motivierte Riss, der durch den Freundeskreis verläuft, auch innerhalb dieser Beziehung.106 Als Quapp später mit Géza von Orkay zusammenkommt, empfindet sie seinen Tonfall als heimatlich, vertraut und rein, während ihr „Imre’s Sprech-Tonart wie getrübt vorkam, aus ir-

102 „Von Beginn an wird Gyurkicz der Name streitig gemacht, die nationale Zugehörigkeit in Frage gestellt [. . .] und damit eine zerrissene, undurchsichtige Person, eben ein ‚Dämon‘ der Zwischenkriegszeit gezeichnet, der, folgt man den obligaten antisemitischen Strategien, insbesondere hier der ‚Namensattacke‘ und der angedeuteten ‚Vaterlandslosigkeit‘, als ‚Zersetzer‘, als Propagandist zu sich selbst findet [. . .].“ Dieter A. Binder: Die ‚Dämonen der Ostmark‘. Bemerkungen zur kulturellen Situation der Zwischenkriegszeit. In: Justizpalast in Flammen. Ein brennender Dornbusch. Das Werk von Manès Sperber, Heimito von Doderer und Elias Canetti angesichts des 15. Juli 1927. Hrsg. v. Thomas Köhler und Christian Mertens, München 2006, S. 55–69, hier: S. 63. 103 Nach dem ersten Aufeinandertreffen zwischen Imre und Géza, in dem Géza deutlich seine Geringschätzung des Anderen zeigt, heißt es aus der Perspektive des Ich-Erzählers Geyrenhoff: „Auch hier trat wieder ein Gegensätzliches in unseren Kreis, eine innere Einheit störend, die ohnedem fragwürdig genug war [. . .]“ (DD 282). 104 Kerscher 1998, S. 253. 105 Aufgrund der Beleidigungen, die Quapp ihm entgegenschleudert und seiner damit einhergehenden Erregung, versagt ihm „jetzt ernstlich aus Kränkung die Sprache zusammt der deutschen Grammatik“ (DD 412). 106 Ähnlich funktioniert auch die Erklärung der angeblichen Fremdheit zwischen René Stangeler und der jüdischen Grete Siebenschein, sowie zwischen Kajetan von Schlaggenberg und seiner jüdischen Frau Camy. Zur ursprünglichen Konzeption der Beziehung zwischen Quapp und Imre in den Dämonen der Ostmark, dem Romanprojekt der 1930er Jahre, wo das Scheitern dieser Beziehung noch explizit antisemitisch motiviert ist, siehe Kleinlercher 2011, S. 247 ff.

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gendeiner minderen, ja, fast unappetitlichen Quelle [. . .], fremd und dubios“ (DD 1013).107 Der Streit zwischen Imre und Quapp findet bezeichnenderweise am Abend des „Tischtennis-Fünfuhrtee[s]“ (DD 419) statt. Die Bedeutung dieser Position im Text soll nun in einem kurzen Exkurs zu der ideologisch bedingten Spaltung der Freundesgruppe verdeutlicht und das Zustandekommen dieses Zusammenseins erläutert werden, da die Ambiguität der Figur Quapp sich auch an ihrer Positionierung innerhalb dieses Prozesses abzeichnet. Bei einem Spaziergang der ‚Unsrigen‘ kommt es zu einem verdeckten antisemitischen Ausbruch, der durch das bewusste Vertuschen des eigentlich Gemeinten von mehreren der Freunde mitgetragen wird. Nachdem ein blondes Mädchen zwischen den 14 Menschen hindurchgegangen ist und sie damit in zwei Gruppen geteilt hat, bleibt die Spaltung bestehen. Dieses „getrennte Marschieren“ wird von dem nationalsozialistisch gesinnten Kurt Körger als „Vision einer besseren Zukunft“ (DD 309) bezeichnet. Bei dem Gespräch darüber, wer aus der hinteren Gruppe noch in die vordere wechseln könnte, wird Grete, die einen Teil des Gesprächs gehört hat und nun dazukommt, von Körger abgewiesen. Um den antisemitischen Affront Grete gegenüber zu vertuschen, erfindet der ebenfalls dem nationalsozialistischen Gedankengut nahestehende, aber höflichere Géza von Orkay schnell die Geschichte eines „Tischtennis-Herren-Tournier[s]“ (DD 309). Perfiderweise klärt niemand den Sachverhalt auf, auch als Grete sich freudig dazu bereit erklärt, diese Gesellschaft, bei der dann auch Frauen mitspielen würden, bei sich zu Hause zu organisieren. Somit werden die anderen Figuren, auch wenn sie nicht alle die Diskriminierung uneingeschränkt unterstützen,108 durch die „geduldete, ja gutgeheißene Lüge Orkay`s auf seltsame Art zu einer wissenden Gemeinschaft zusammengeschlossen, der sie [Grete] nun als Fremde gegenüberstand“ (DD 310). Auf die eine Lüge folgen notwendigerweise weitere und so setzt das Tischtennis-Tournier, das von Körger und Eulenfeld als „Eintopf“ bezeichnet wird, den sie

107 Kucher zufolge verkörpert Géza „noch die selbstverständliche kulturelle Zusammengehörigkeit zwischen Ungarn und Österreich“, während Imre „das durch künstlich geschaffene Gegensätze belastete Nachkriegsverhältnis [verkörpert]“. Kucher 1981, S. 118. 108 Die antisemitischen Intentionen, die Doderer in den 1930er Jahren mit dem Romanprojekt Die Dämonen der Ostmark verfolgte, versuchte er in den Dämonen der 1950er Jahre, nachdem er seinen ‚Irrtum‘ bezüglich des Nationalsozialismus erkannt hatte, „wahlweise als kritisierbare Objekte darzustellen oder ganz zu tilgen“. Sommer 2004b, S. 86. Auch Robert Walter-Jochum weist unter Bezug auf Kleinlercher darauf hin, dass „[d]ie Codierung der zugrunde liegenden Konflikte mit rassentheoretischem Vokabular im ersten Teil des Romans [. . .][getilgt wurden], ohne jedoch an der Zuordnung der Figuren zu den beiden Parteien [Juden und Nicht-Juden] zu rütteln.“ Robert WalterJochum: Jenseits der „Wasserscheide“. Robert Schindels Panorama österreichisch-jüdischen Lebens in ‚Der Kalte‘ als Gegenentwurf zu Doderers ‚Dämonen‘. In: Keime fundamentaler Irrtümer. Beiträge zu einer Wirkungsgeschichte Heimito von Doderers. Hrsg. v. Roland Innerhofer, Matthias Meyer, Stefan Winterstein, Würzburg 2018 (= Schriften der Heimito von Doderer-Gesellschaft; Bd. 10), S. 85–105, hier: S. 95.

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„auf das herrlichste [. . .] servier[t]“ (DD 462) hätten, die verlogene Geselligkeit fort. Große Textpassagen dieser Szene stammen noch aus den Dämonen der Ostmark, in denen u. a. anhand der Spaltung der ‚Unsrigen‘ ein „Apartheidsmodell“109 als gesellschaftliche Zukunftsvision vorgeführt werden sollte, in dem der Kreis der ‚Unsrigen‘ am Ende „wirklich geschlossen und frei von allen wesensfremden Elementen“ (AM 56) gewesen wäre. Doderer „eliminierte [. . .] den antisemitischen Tenor aus der Generalperspektive, nicht aber völlig aus der Figurenperspektive“,110 und selbst in der Figurenrede wird das Wort ‚Jude‘ oder explizite Verweise auf die ideologische Zugehörigkeit der Figuren ausgespart.111 Durch die Reflexionen Geyrenhoffs, aus dessen Perspektive der Spaziergang beschrieben ist, wird die ‚Nichtbenennbarkeit‘ der zum Teil unbewussten und alles durchdringenden Ideologisierung deutlich, durch die er sich „beinahe unheimlich berührt“ (DD 321) fühlt. Die sich im weiteren Verlauf des Spaziergangs bietende freie Aussicht auf die „[heimatliche] Umwelt“ löst die zuvor empfundenen Widersprüche innerhalb der Gruppe auf, so dass sie auch räumlich wieder „leichthin und ganz durcheinander gemischt“ (DD 328) in eine Schenke einkehren. Dort spielen die Musikanten einen „jener weichen und verschliffenen ‚Ländler‘: Tänze unserer Urgroßeltern, eine recht innige und gescheite Musik“ (DD 328). Mit dieser versöhnlichen Kraft der Musik endet die Schilderung des spannungsgeladenen Ausflugs der ‚Unsrigen‘. Ein verklärtes Vergangenheits- und Heimatbild, das Authentizität und Gesundheit impliziert, wird der Großstadt mit den „zahl- und endlosen scharfen und trüben, kranken und zuckenden Sternen“ (DD 328)112 und der politischen Ideologisierung der Gegenwart gegenübergestellt. Die Polarität von gesund und krank auch in Bezug auf Musik stellt eines der vielfach variierten strukturbildenden Elemente in den Dämonen dar. Die hier dargestellte Volksmusik lässt sich als „Gegensatz zu den als fremd und entartet empfundenen amerikanisierten Musik- und Musizierformen“113– wie es in dem Artikel Unterhaltungsmusik des Musiklexikons Die Musik in Geschichte und Gegenwart aus den 1960er Jahren heißt – 114 deuten.

109 Vgl. Sommer 2004b, S. 82. 110 Kerscher 1998, S. 188. 111 So bricht z. B. Kajetan seinen Satz ab, in dem er Levielle im Gespräch mit Grete als „Hausjuden“ seiner Familie bezeichnen wollte, wie es in Die Dämonen der Ostmark heißt, und sagt stattdessen „Manager“ (DD 313). Allerdings scheinen die anderen Figuren sehr gut zu wissen, was er eigentlich hatte sagen wollen und setzten das Gespräch entsprechend fort. Vgl. Sommer 2004b, S. 85. 112 „Dieses leitmotivische Bild [vgl. DD 20, 328, 1343] für die menschliche Einsamkeit gewinnt vor dem Hintergrund der latenten faschistischen Tendenzen eine zusätzliche Bedeutungsebene.“ Kerscher 1998, S. 273. 113 Anton Würz: Unterhaltungsmusik [Art.]. In: Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Allgemeine Enzyklopädie der Musik. Bd. 13, hrsg. v. Friedrich Blume, Kassel u. a. 1966, Sp. 1138–1152, hier: Sp. 1143. 114 Zur tendenziell negativen Konnotation englischsprachiger Musik in den Dämonen siehe Kap. 4.2.1.

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Auch in einem anderen Kontext, in dem die „Gruppenbildung in Wien“ (DD 549) und damit implizit auch die Spaltung der ‚Unsrigen‘ erwähnt wird, löst der Gesang eines volkstümlichen Liedes in versöhnlicher Weise Gegensätze miteinbeziehend den politischen Kontext ab: Es war, als zöge das Lied den Süden und Osten in den engen Raum hier herein, als wanderte herwärts das Land jenseits des Neusiedler See’s, mit seinen Sümpfen und mit den vielen kleinen bis auf den reinen Sandboden durchsonnten Seen und Teichen, darin die ungarischen Bäuerinnen baden, indem sie mitsamt ihren Kleidern hineingehen. Aber diese Hingelehntheit an den dunstigen Himmel [. . .] [bildete] ja bloß des Ostens Schwelle und Vor-Raum; jener aber zog dort hinten davon, in sich selbst verloren, bis zum Plattensee, bis zum Bakonyerwald: und da erst begann des gewaltigen ungarischen Vaterlandes innerer Teil. Und die Zigeuner verkündeten im süßen Spiel das gleiche, was Franz Schubert einmal gesagt haben soll: ‚Es gibt keine lustige Musik.‘ (DD 550)

In der Beschreibung des Liedes wird auf Angaben zu musikalischen Parametern verzichtet; stattdessen werden landschaftliche Bilder, die scheinbar durch die Musik evoziert werden, als Vergleiche herangezogen. Diese sprachliche Beschreibung von Musik hat Werner Wolf als ‚imaginary content analogies‘ bezeichnet.115 Zudem sagt die Musik der als ‚Zigeuner‘ bezeichneten Sänger scheinbar das gleiche aus, was Franz Schubert, einer der – zumindest Doderers Ansicht nach – bedeutendsten europäischen Komponisten geäußert hat.116 Der im letzten Abschnitt nachgezeichnete Riss, der durch die Gruppe der ‚Unsrigen‘ verläuft, ist für Quapps Entwicklung entscheidend, da sie die getrennten Welten im Wechsel zwischen ihren Freunden und ihrer Beziehung überwinden muss: Auch sie lebte, wie Stangeler, in Stücke zerrissen, auch sie bewechselte ständig jenes Niemandsland, wo der jeweils erforderte Verrat rasch und im Halbdunkel der Seele geübt wird, und bei vorschreitender Übung sogar mit einer gewissen Fixigkeit: sie eilte fast jeden zweiten Tag,über den Berg‘ [. . .]. (DD 311)

Ebenso muss auch Renés Beziehung mit Grete durch die antisemitisch motivierte Spaltung der Gesellschaft eine solche Kluft überwinden. Allerdings scheint sich der Antisemitismus, der Grete entgegenschlägt nicht auf die Wahrnehmung Renés durch die anderen Gruppenmitglieder auszuwirken, anders als bei Quapp, die als Frau durch ihre Beziehung viel stärker determiniert ist: „Die Abwertung, welche sogar die beste und schönste Frau aus solchen Gründen erfahren kann, ist eine tiefe und [. . .] irreparable, ja, für’s ganze Leben: und nicht vollends ungerecht, in letzter Konsequenz“ (DD 1010). Diese geschlechtsspezifische Differenz in der Bewertung einer Person aufgrund ihrer Liebesbeziehung verweist auf Weiningers These,

115 Vgl. Wolf 1999, S. 63. 116 Brinkmann stellt die Musik in Doderers Werk in den Kontext der Melancholie-Thematik und meint in Bezug auf das Schubert-Zitat, „die melancholische Stimmung, die die Musik zuverlässig verursacht,“ werde „durch einen über alle üblichen Maße hinaus sozusagen musikalisch ästhetisierten Text natürlich ebenfalls [vermittelt].“ Brinkmann 2012, S. 272.

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die Frau könne „keinen Wert an sich besitzen, [. . .] [da] ihr der Eigenwert der menschlichen Persönlichkeit“117 fehle. Daher erhalte sie jeden Wert ausschließlich über den Mann, der sie liebt und der damit „sein Ideal eines absolut wertvollen Wesens auf [sie projiziert].“118 Räumlich wird die Hürde, die Quapp überwinden muss, durch ihre Wohnsituation ‚hinter dem Berg‘ illustriert, wo sie mit Imres Hilfe eine Wohnung in der Eroicagasse, in der auch er wohnt, gefunden hat. Der soziale Abstieg, der mit ihrer Beziehung zu Imre einhergeht, ist raumsemantisch in dem ‚Bergabgehen‘ von dem höhergelegenen Stadtteil, in dem die Unsrigen wohnen, angelegt. Explizit wird die übertragene Bedeutung des ‚über-den-Berg‘-Motivs an späterer Stelle im Roman thematisiert. In Bezug auf Imres dubiose Geschichten zu seiner Vergangenheit und seinen Papieren, die auf den vermeintlich jüdischen Namen Friedmann seines (wie er sagt) Stiefvaters lauten, heißt es: „Denn er befand sich auch im übertragenen Sinne auf einer Art von Weg, und in einem ebensolchen Sinne auch war er übersiedelt, und nicht nur räumlich, vom zweiten in den neunten Wiener Gemeindebezirk; nein, er hatte da wirklich ‚über den Berg‘ gelangen wollen [. . .]“ (DD 920, Hervorhebung von M.B.). Für ihn stellt die Beziehung zu Quapp, der vermeintlichen Tochter der Schlaggenbergs, deren ‚eigentlicher‘ Name auch nicht in ihren Papieren steht (vgl. DD 1065), eine Überwindung seiner Vergangenheit und einen gesellschaftlichen Aufstieg dar. Quapp dagegen muss Imre, die Eroicagasse und die Musik hinter sich lassen, um den entscheidenden Wendpunkt ihres Leben zu erreichen, damit es analog zu der zuvor zitierten Textstelle heißen kann: „Sie war in jedem Sinne übersiedelt“ (DD 1208, Hervorhebungen von M.B.). Erst als Quapp durch eine Erbschaft finanziell unabhängig geworden ist,119 gewinnt sie ihrer Umgebung und ihrer Beziehung gegenüber eine neue Distanz und ist damit sprichwörtlich „überm Berg“ (DD 862), wie auch die Überschrift des entsprechenden Kapitels lautet. Sie geht „über den Berg hinab, wie eigentlich noch nie, seit sie da unten wohnte: wie neben einer aufgerissenen Kluft entlang [. . .]: nicht einsam, sondern isoliert“ (DD 880). Kommunikatives Versagen prägt nicht nur die Beziehung zwischen Quapp und Imre; auch für Quapps musikalische Laufbahn ist ihre Unfähigkeit, situationsgerecht adäquat zu kommunizieren, neben ihrer Fehleinschätzung der eigenen musikalischen Fähigkeiten, ein zusätzliches Hindernis. Bei der Tischtennis-Gesellschaft verpasst sie daher die Gelegenheit, beruflich wichtige Kontakte zu knüpfen, als

117 Weininger 1903, S. 261. 118 Weininger 1903, S. 323. 119 Bevor Quapp das Erbe ihres leiblichen Vater erhält, erbt sie einen im Vergleich dazu kleineren Betrag aus dem Nachlass des Achaz von Neudegg (ein gleichnamiger Nachfahre des Achaz von Neudegg aus dem mittelalterlichen Manuskript, das René Stangeler auf Burg Neudegg findet), dessen Tochter Claire Charagiel, die leibliche Mutter Quapps, war. Da Charagiel einige Monate vor ihrem Vater verstorben ist, geht das Haupterbe an Jan Herzka, dessen Mutter eine Cousine des Achaz von Neudegg war (vgl. DD 679).

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Irma Siebenschein ihr den Musik-Kritiker Hofrat Tlopatsch vorstellt. Irma, die Mutter Grete Siebenscheins, hat selbst früher professionell Musik gemacht und wird vom Ich-Erzähler Geyrenhoff als ein „zäher Bissen“ bezeichnet: „Die bewegliche intelligente kleine schlanke Dame war eine fertige Klavier-Virtuosin, las vorwiegend Memoiren- und Brief-Literatur, von Schriftstellern jedoch mit besonderer Vorliebe den Fritz Reuter, und zwar im plattdeutschen Original“ (DD 58). Als ehemals professionelle weibliche Musikerin könnte sie ein Vorbild für die junge Quapp abgeben, die bei dem Tischtennistee im Hause Siebenschein zu Gast ist. Der Dialog zwischen den beiden Frauen gründet jedoch sogleich auf einem Missverständnis bzw. einer als Ausrede erfundenen Verletzung Quapps. Irma bestärkt sie darin, ihre Hand zu schonen „mit schönem Nachdrucke, der aus ihrem Wissen um die Verantwortung dem ‚Künstlerischen‘ gegenüber kam“, und meint, „man muß ein Vergnügen opfern können, und Ihnen muß die Kunst über alles gehen“ (DD 420). Weder opfert Quapp jedoch aus Verantwortungsbewusstsein ein Vergnügen (es geht ihr ja gerade um eine Ausrede, um nicht Tischtennis spielen zu müssen), noch stellt sie die Kunst wirklich an erste Stelle. Aber auch Irma hat sich scheinbar zugunsten der Hausfrauenrolle gegen ihren Beruf entschieden, da es später heißt: „Frau Irma war Pianistin gewesen und Absolventin der Akademie“ (DD 187). Die „bewegliche Intelligenz“ (DD 1021) Irmas ist auffällig, da nicht viele intelligente Frauenfiguren in Doderers Romanen auftreten. Positiv dargestellt wird diese „schätzungsweise mit mehreren Hundert Flimmer-Tentakeln ausgestattet[e] [Intelligenz]“ (DD 1021) jedoch keineswegs. Mehrmals wird Irma mit einer Ratte verglichen,120 und die ‚Tentakel‘ ihrer Intelligenz verweisen auf die bedrohliche Kraken-Thematik der Dämonen. In diesen Zuschreibungen drückt sich u. a. die Angst Renés aus, in die ‚Fangarme‘ der Familie zu geraten und in eine Ehe mit Grete gedrängt zu werden.121 Die Verknüpfung von Kraken- und Rattenmetaphorik mit der überspitzt gezeichneten Intelligenz Irmas, vereint antisemitische Stereotype.122 Da im Hause Siebenschein Vertreter aus Wirtschaft, Presse und Kulturbetrieb verkehren, die explizit in diesen Bereichen ‚die Fäden ziehen‘ (vgl. DD 1003), erinnern diese Aspekte an Dode-

120 Vgl. DD 185, 1021, 1320. 121 Zu den biographischen Vorlagen für diese Figuren siehe Fleischer 1996, S. 131 und 137: René Stangeler kann als Doderers Alter Ego gedeutet werden, Doderers Verlobte und spätere Frau Gusti Hasterlik als Vorbild für die Figur Grete, sowie ihre Mutter Irma (!) geb. Regenstreif, die eine Virtuosenausbildung hatte, als Vorlage für Irma Siebenschein. 122 Gerald Sommer verweist in einem Beitrag zur Debatte über Antisemitismus bei Doderer darauf, dass die Krakenmetaphorik nicht auf antisemitische Verschwörungs-Theorien beschränkt ist. Vgl. Austerlitz u. a. 2004, S. 437 f. Dennoch ist die Häufung der stereotypen Zuschreibungen, was die jüdische Figur Irma Siebenschein betrifft, nicht zu leugnen, und sie wird über die ‚Tentakel‘ mit der Kraken-Thematik verknüpft. Auch die zum Teil wörtlichen Wiederholungen in der Beschreibung des Kraken und der kriminellen Figur Meisgeier (vgl. DD 817 u. DD 913) bedienen sich antisemitischer Stereotype. Meisgeier verkörpert zudem den „schmierige[n] Geist des Ortes“ (DD 911) in ‚Freud’s Branntweinschank‘, einer Wirtstube, die ein „guter alter Hebräer“ (DD 912) führt.

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rers ursprünglichen Plan, in den Dämonen der Ostmark, ein „Theatrum Judaicum“ darzustellen, in denen die jüdischen Einflüsse in allen Gesellschaftsbereichen „auf der Ebene des familiären und erotischen Lebens, auf der Ebene der Presse und der Öffentlichkeit, und endlich auf der Ebene der Wirtschaft in der Welt der grossen Banken“ (TB 820, 23.07.1936)123 aufgezeigt werden sollten. Was Musik betrifft, ist der tschechische Musik-Kritiker Hofrat Tlopatsch die unumstrittene Autorität in Wien bzw. „eine Instanz“, bei der „die Fäden wirklich [. . .] zusammen[liefen]“ (DD 428).124 Dieser „Siebenschein’schen Hausgottheit“ (DD 1003) wird Quapp von Irma vorgestellt. Quapp ist mit der Kommunikationssituation jedoch gänzlich überfordert und verpasst so ihre Chance, einen guten Eindruck zu hinterlassen. Brinkmann deutet ihre Unfähigkeit zu kommunizieren als Ausdruck einer bevorstehenden „schweren depressiven Verstimmung“.125 Der Zustand der Entfremdung, dessen Facetten über den gesamten Roman „treffsicher, detailgetreu und klinisch genau“126 zu einem Bild zusammengefügt werden, wird in dieser Szene durch die Konfrontation Quapps mit der Pianistin Wiesinger in Zusammenhang mit psychischen Erkrankungen gebracht. Wiesinger ist „nicht dumm, nur ganz und gar verschroben, unheilbar aber erst durch den Umstand, daß sie einmal einem Psychoanalytiker in die Hände geraten war, noch dazu als Halbwüchsige [. . .]“ (DD 432). Damit habe sie „für alles in der Welt [. . .] einen gutpassenden Schlüssel“ (DD 432) mit der jeweiligen Benennung des Sachverhalts erhalten. Dieser „Magie der Namengebung“ (DD 432), d. h. einer „sich omnipotent wähnende[n] Sprache, [werden die] Erfahrungen, die nur allmählich und unter Anstrengung aller Kräfte ins Sprachliche gehoben werden können“127 entgegengesetzt. Dettmering zufolge nähert sich Geyrenhoff „mit der Langsamkeit, wie sie auch den analytischen Prozeß charakterisiert [ . . . ,] der sich selbst entfremdeten Quapp“, wobei es zu Über-

123 Im Anhang von Stiegs Untersuchung zur literarischen Rezeption des Wiener Justizpalastbrandes ist ein von Doderer ausgefüllter Fragebogen der Reichsschrifttumskammer sowie die ihm beigelegte ‚Wesentliche Lebensbeschreibung‘ abgedruckt. Diese Anbiederungsversuche eines „rein deutschen Autor[s]“, der die „jüdische Welt im Osten deutschen Lebensraumes“ darstellen will, finden sich bereits einige Monate zuvor in Doderers Tagebüchern (TB 820, 23.07.1936). Siehe Gerald Stieg: Frucht des Feuers. Canetti, Doderer, Kraus und der Justizpalastbrand. Wien 1990 (= Edition Falter im ÖBV). 124 Seine beruflichen und gesellschaftlichen Verbindungen werden u. a. in einem Gespräch mit Beppo Draxler deutlich, bei dem er verspricht, diesem bei der regelmäßig stattfindenden Hausmusik, Kontakte zu angesehenen Rechtsanwälten zu verschaffen. Der Erzähler (in diesem Fall hat Kajetan das Gespräch belauscht, um dann dem Chronisten Geyrenhoff davon zu berichten) merkt an, dass Draxlers spätere „recht [bedeutende] Laufbahn [. . .] also – ‚typisch-wienerisch-graziös‘ – in der Musik ihre ersten Würzelchen geschlagen“ (DD 442) habe. 125 Brinkmann 2012, S. 103. „Am Beispiel der Musikerin Quapp [. . .] stellt der Roman eindrücklich jene ‚verkrümmende Qual im Herzen‘ (DD 176) dar, die immer dann auftritt, wenn Menschen zwanghaft falsche Vorstellungen von sich selbst haben (die klassische Definition der Depression).“ Brinkmann 2012, S. 101 f. 126 Dettmering 2006, S. 161. 127 Dettmering 2006, S. 164.

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tragungen kommt. Er sieht „Doderers Modernität [. . .] weitgehend auf dieser Anwendung der Psychoanalyse, die [. . .] sehr wohl mit einer Ablehnung der offiziellen Psychoanalyse Hand in Hand gehen kann“, begründet.128 Quapps fehlende Bereitschaft, eine kommunikative Brücke zu dem sie umgebenden „musikalischen Geplauder“ (DD 439) zu schlagen, wird an späterer Stelle in drastischen Worten von Kajetan beschrieben: „Ihr Mißerfolg bei Tlopatsch ist übrigens vernichtend. Man dürfte sie ab da am Anfange eines Abstieges sehen, und sie meiden wie eine Pestkranke.“ (DD 1073). Auch das Motiv der ‚Geschwulst‘ stellt die Szene in einen pathologischen Kontext: „Der restliche Abend lag wie eine Geschwulst in ihr, unter deren Druck alles aufquoll“ (DD 439). Auf dieses Motiv krankhafter Wucherungen, das sowohl auf die Außenwelt als auch auf imaginäre körperliche Auswüchse bezogen wird, wird im folgenden Kapitel eingegangen.

4.1.3 Die Eroicagasse – Quapps metaphorischer Tod und ihre „zweite Biographie“ Die ‚Apperzeptionsverweigerung‘ der Figur Quapp wird über raumsemantische Zuschreibungen und motivische Überlagerungen, durch welche Äquivalenzbeziehungen zwischen Quapp und ihrer Geige hergestellt werden, als metaphorischer Tod gekennzeichnet. Zugleich wird ihr dissoziativer Zustand über musikalisch konnotierte Orte und Gegenstände, wie die Eroicagasse und den Geigenkasten, mit dem statischen Zustand Marys in der Strudlhofstiege parallelisiert, so dass die beiden als Spiegel- und Kontrastfigur fungieren. Von diesen Aspekten ausgehend werden im Folgenden die Umstände, die zum Wendepunkt in Quapps Leben und damit zu ihrer „zweiten Biographie“ (DD 1077) führen, untersucht. Quapp wird über ihre räumliche Verortung in der Eroicagasse mit dem „semantische[n] Feld ‚Heldentum‘“,129 konfrontiert, das Thomas Petutschnig anhand der Figuren Mary K. und Leonhard Kakabsa untersucht hat, und das in negativer Hinsicht auch für Quapp bedeutsam ist. Während in Leonhard ein „dumpfer Entwurf zum Helden“ (DD 1335) angelegt ist, der mit den Begriffen ‚Marathon‘ und ‚Ithaka‘ verknüpft ist, besteht Mary heldenhaft „ihre ‚Aristeia‘, wie Homer in der Ilias die großartigsten und preiswürdigsten Kämpfe seiner Helden nennt“ (DD 36) und genießt zurück in Wien ihren ‚Triumph‘.130 Auch Quapp erlebt einen „miniaturen Tri-

128 Dettmering 2006, S. 164. 129 Petutschnig 2007, S. 152. 130 Das Motiv des Helden, u. a. in den Dämonen, untersucht auch Edit Király, wobei sie anhand des Geschichtsbildes in Kajetan von Schlaggenbergs ‚Dicke-Damen-Rede‘ die Struktur einer Gralslegende konstatiert. Durch die vielfache Überarbeitung des Romans, der „seine eigene Entstehungsgeschichte mitschreibt“ sei ein „Palimpsest“ entstanden, bei dem der „‚Zusammenhang mit der Historie‘ auch buchstäblich vollzogen“ werde. Edit Király: Späte Abenteuer. Variationen über das Motiv des Helden in ‚Die Dämonen‘ und ‚Das letzte Abenteuer‘. In: „Erst bricht man Fenster, dann

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umph“ (DD 180) beim Geigespielen, der jedoch als isoliertes Ereignis nur als Betonung ihrer nicht endenden Niederlagen fungiert. Zudem folgt auf den geigerischen ‚Durchbruch‘ ein „Angstgefühl [. . .], als würde die Luft dünn und alles wieder arm und tot“ (DD 177). Durch ihren Umzug in die Eroicagasse ist auch Quapp mit dem Wortfeld ‚Heldentum‘ konfrontiert, sowohl über die Verbindung zu Ludwig van Beethoven, der als die am stärksten heroisierte Komponistengestalt der Musikgeschichte gelten kann,131 als auch über den Namen seiner heroischen Symphonie No. 3 – der sogenannten Eroica –, die ursprünglich Napoleon gewidmet war.132 Die genieästhetischen Konnotationen des Straßennamens wirken auf Quapp bedrückend, da sie zwar „Prätentionen wie ein Genie“ (DD 412) hat, ihr aber weitgehend der musikalische Affekt fehlt (vgl. DD 943). Das Fenster in der Eroicagasse, hinter dem der Komponist schöpferisch tätig war, ist daher stets dunkel und verschlossen und symbolisiert ihren mangelnden Zugang zur Musik. „Quapps musikalische Existenz findet in den Beschreibungen der Gasse ihr räumliches Pendant.“133 Ein breiter Hof zeigt ein Fenster, von dem bekannt ist, daß dahinter Beethoven einst über die ‚Eroica‘ gebeugt war, manchmal ist das Fenster offen, es gibt Blumen, Wäschestücke und sonstige Lebenszeichen, das Zimmer scheint aber dunkel und nicht eben freundlich. (DD 361, Hervorhebung von M.B.)

Bezeichnenderweise findet sich jedoch keine Textstelle, in der das offenstehende Fenster beschrieben wird. Stattdessen wird es als „verschlossen und [schwarzglänzend] und nichtssagend“ (DD 407) beschrieben oder es ist in der Dunkelheit „noch nicht zu erkennen“ (DD 1000). Als Symbol der Zugänglichkeit bzw. Unzugänglichkeit der Musik findet es ausschließlich in seiner negierenden Funktion Verwendung. Der musikhistorisch bedeutungsvolle Ort bildet einen starken Kontrast zu Quapps alltäglichem Scheitern im Kampf mit der Musik. Quapps Wunschvorstellung, eine Virtuosin auf der Violine zu werden, erscheint absurd angesichts der beschriebenen Übungseinheiten, zu denen sie sich täglich zwingen muss. Auch die von Quapp empfundene Trennung in Arbeit und Freizeit macht deutlich, dass sie nicht für die Musik lebt, sondern das Üben als Pflichterfüllung ansieht: „Solche Begriffe wie ‚Wochenende‘ drängten sich auch schon allzutief in Quapp’s bereits etwas zerrüttetes geigerisches Berufs- und Innenleben“ (DD 405). Quapps Dissoziation von der sie umgebenden Umwelt und der Atmosphäre der ‚Eroica-Gasse‘, wird durch den Bindestrich symbolisiert, der in den Dämonen bis

wird man selbst eines“. Zum 100. Geburtstag von Heimito von Doderer. Hrsg. v. Gerald Sommer und Wendelin Schmidt-Dengler, Riverside, CA 1997 (= Studies in Austrian literature, culture, and thought), S. 137–152, hier: S. 152. 131 Vgl. Rainer Cadenbach: Mythos Beethoven: Ausstellungskatalog. Bonn 1986. 132 Zur Bedeutung Beethovens als Vorbild für Doderer siehe auch Buchholz 1996, S. 31–33; 148– 155 und in weiteren Kapiteln zur Bedeutung Beethovens im jeweiligen Werk Doderers. Siehe auch Brinkmann 2012, S. 84–90. 133 Vgl. Buchholz 1996, S. 168.

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auf einige Ausnahmen die ‚Eroica‘ von der ‚Gasse‘ trennt. Insgesamt wird die Eroicagasse vierzehn Mal mit Bindestrich und nur viermal ohne Bindestrich geschrieben. Solche oder ähnliche orthographische Variationen nutzt Doderer des Öfteren, um inhaltliche Veränderungen anzuzeigen und im Schriftbild abzubilden. Die Textstellen mit der Schreibweise ohne Bindestrich sind somit akzentuiert: Einmal taucht diese Schreibart in einer versöhnlichen wenn auch resignierten Szene zwischen Quapp und Imre auf, in der Quapp bereit ist, eine „dünne Haut über den offen bleibenden Spalt des Gegensatzes zu spannen“ (DD 864), so dass ein verbindendes Element die Trennung zeitweise überbrückt. Ein anderes Mal weist die Schreibweise auf Quapps Einsicht hin, dass sie ihren bisherigen Lebensweg verlassen muss, da die „Eroicagasse [. . .] nichts als ein bestechender Traum“ (DD 1087) gewesen sei. Und ein weiteres Mal zeigt die Orthographie Quapps endgültige Lösung von dieser Lebensphase an, als sie „übersiedelt; von der „Eroicagasse in die Hietzinger Fichtnergasse“ (DD 1153).134 Der Bindestrich zeigt, um in Doderers Terminologie zu sprechen, die Trennung zwischen Ich und Welt in der ‚zweiten Wirklichkeit‘ bzw. die Scheidewand zwischen diesen an. Diese Technik habe ich bereits im Zusammenhang mit Mary K.s gefährdeter Situation in der Strudlhofstiege erläutert, wo ein nahezu wörtlich wiederholter Textabschnitt ihren Bewusstseinszustand zu Beginn und am Ende des Romans charakterisiert.135 Die entscheidende Veränderung bzw. Verschlechterung ihres Zustandes, die von der emotionalen Dissoziation zu einer physischen Abtrennung ihres Beines führt, wird auf der sprachlichen Ebene u. a. mit der Trennung einzelner Wörter durch Bindestriche bzw. durch Trennungsstriche angezeigt: [Der] Bindestrich symbolisiert, da er noch mehrfach in diesem Sinne eingesetzt wird, – Form und Inhalt in einem ‚Kurz-Zeichen‘ (S537) vereinigend – sowohl Marys denkensgemäße Trennung in Kopf und Körper als auch die Abtrennung ihres rechten Beins und die damit einhergehende Aufhebung ihrer denkensgemäßen Getrenntheit.136

Die Darstellung der Dissoziation als ein Kennzeichen der ‚zweiten Wirklichkeit‘, weist in Bezug auf Mary und Quapp einige Analogien auf. Die Vereinzelung der Gegenstände und die Empfindung der Abgetrenntheit wird auch anhand von ‚musikalisch‘ konnotierten Gegenständen deutlich. So beginnt der vierte Teil der Strudlhofstiege mit der Schilderung der Stille und Statik in der Wohnung Marys nach dem Tod ihres Mannes, wobei „der spiegelnde Glanz auf einem einsamen Notenständer oder einem verlassenen Klavier“ (DS 559, Hervorhebungen von M.B.)137 auf die Leblosigkeit dieser

134 Nur in der späteren Erinnerung, in der Quapp die Gasse bereits befremdlich erscheint, wird wieder auf die gewohnte Schreibart mit Bindestrich zurückgegriffen (DD 1260 u. DD 1261). 135 Siehe Kap. 4.1.1. 136 Sommer 1994, S. 118. 137 In variierter Form werden die Motive nochmals in Zusammenhang mit der lautlos vergehenden Zeit aufgegriffen anhand des „tief in sein spiegelndes möbelhaftes Schweigen abgestürzten Klavier

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Gegenstände verweist, die zu Beginn des Romans an der Bändigung der „Dämonie der ruhenden Umgebung“ (DS 22) teilhatten. Ganz ähnlich findet auch Quapps gemindertes Wahrnehmungsvermögen in den ihrer musikalischen Funktion beraubten Gegenständen Ausdruck: „Das Zimmer lag still in seinen meist bräunlichen Farben, der Stutzflügel beim Fenster spiegelte fleckig, das zusammenlegbare magere Geigenpult stocherte schräg daneben wie ein kahles Bäumchen“ (DD 407, Hervorhebungen von M.B.). Durch die analoge Kombination der einzelnen Elemente – das Motiv der Stille, das Adjektiv bzw. Verb ‚spiegelnde‘/‚spiegelte‘, das Geigenpult/der Notenständer und das Klavier/der Stutzflügel – verweisen diese Szenen romanübergreifend aufeinander. In der Szene, die den Tief- und Endpunkt von Quapps Karriere bedeutet, werden diese Motive aus der Strudlhofstiege und den Dämonen zusammengeführt, als sie vor einem Orchester-Dirigenten vorspielt: „Dem Maestro zunächst stand ein einzelnes, ja, einsames Pult, eines von den zusammenlegbaren, wie sie [Quapp] es auch besaß, aus Metall. Es war ein wenig schief“ (DD 1006, Hervorhebungen von M.B.). Auch über die Badewannenmotivik, die sich in Bezug auf Quapp zu einer Sargmetaphorik ausweitet, wird eine semantische Verknüpfung der beiden Figuren erreicht. Ebenso wie die bereits beschriebene Szene mit Mary am Teetisch wird auch die Badewannenszene zu Beginn der Strudlhofstiege und vor Marys Unfall am Ende des Romans leicht variiert wiederholt. Imke Henkel zufolge bildet die „Eingeschlossenheit des Badewassers in der Wanne [. . .] Marys Eingeschlossenheit ab“.138 Obwohl sie nackt im Wasser liegt, bleibt die Wirkung ihres prachtvollen Körpers aus, da ihre sexuelle Empfänglichkeit auch in Bezug auf die eigene Körperwahrnehmung blockiert ist. Diese Aspekte des umschließenden wassergefüllten Beckens zusammen mit der ‚Apperzeptionsverweigerung‘ in Bezug auf die eigene Weiblichkeit legt den Vergleich mit der ‚geschlechtslosen‘ Quapp, dem ‚Wesen‘ in der Eroicagasse, nahe,139 zumal die enge Eroicagasse wie mit Wasser gefüllt beschrieben wird, das zum Bade einlädt (DD 868 u. DD 1009), und zweimal „wie ein Bett“ (DD 874 u. DD 1000).140 Für Quapp, die keine Verbindung zu ihrer Umwelt herstellen kann, scheint diese beengte Gasse einem Sarg und damit einem metaphorischen Tod gleichzukommen. Nach einem zu tiefen Schlaf, von dem es heißt, „die Tiefsee des Schlafens mit ihrem

[s] und dem polierten Notenständer“ (DS 560). Auch diese Textstelle bezieht sich auf den Beginn der Strudlhofstiege, wo das „möbelhafte polierte Schweigen“ (DS 21) dargestellt wird. 138 Henkel 1995, S. S. 113. 139 Das Badewannenmotiv als Bild für die ‚zweite Wirklichkeit‘ rekurriert auf die eine andere weibliche Figur charakterisierende Aquariumsmotivik (siehe Kap. 5.2.2) sowie auf das Motiv des Embryos, der sich mit den Händen die Augen zuhält (DD 498, 736, 851, 1275). Alle diese Motive sind über das Merkmal des Eingeschlossenseins in einem engen mit Wasser gefüllten Raum verbunden, das die sinnliche Wahrnehmung hemmt. Der Embryo entspricht zudem in seinem Entwicklungszustand der Kaulquappe, von der Quapp ihren Namen hat. 140 Das umschließende grüne Wasser der Eroicagasse verbildlicht auch die Benommenheit Imres nach der Trennung von Quapp: „Er querte im Dunklen die Eroica-Gasse schräg zu seinem Haustor hinüber: wie watend im grünen tiefen Wasser; ja, mehr als das: es reichte ihm bis an den Hals“ (DD 949).

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kalten finsteren Boden, zu dem sich einer herunterfallen läßt wie ein Stein, ist leblos – sie will das Leben nicht [. . .]“ (DD 865), einem Schlaf, der eingeleitet wird mit einer „Art des steinernen Einschlafens, die etwas von vorübergehendem Selbstmord an sich hat“ (DD 865), ist Quapps folgender Tag ‚überschattet‘. Von beiden Seiten liegen Schatten um die schmale Eroicagasse: „Man schwamm wie unter Wasser, ruhte wie am Grunde eines Aquariums oder wie in einem Treibhause“ (DD 867).141 Quapps Wahrnehmung ist eingeengt, sodass sie „die Süßigkeit der Umgebung“ nicht erfassen kann und das „schalenhaft Umschließende der jetzt und hier seienden Stunde“ (DD 867) mit den sich bedrohlich vor und hinter ihr erhebenden „schwarze[n] Deckel[n]“ (DD 868) korreliert ist, die das Bild eines Sarges evozieren. „Die Schatten in Quapp waren steil aufgerichtete, steife, schwarze Deckel, die jeden Augenblick über ihr herunterzuklappen drohten“ (DD 867 f.). Die Sargmetaphorik erstreckt sich auch auf Quapps Geigenkasten, von dem sie sich zumindest in ihrer Vorstellung trennen muss. Der Tag des „Vorspielen-Müssen[s]“ (DD 1000) bei dem Dirigenten ist der Tiefpunkt der musikalischen Karriere Quapps und gleichzeitig der Wendepunkt in ihrem Leben, an dem mit der ersten und der bevorstehenden zweiten Erbschaft ihre „VorBiographie“ (DD 1141) beendet ist und ihre „zweite Biographie“ (DD 1077) beginnt, in der sie zu Reichtum gelangt, die Musik aufgibt und heiratet. Motivisch wird die emotionale Verfassung Quapps an dem Tag des Geigenvorspiels mit der Beschreibung der drückenden Wetterlage verknüpft, die ihr zukünftiger Ehemann Géza spürt, als er sich im Wagen auf dem Weg in die Stadt befindet, wo er später auf Quapp trifft: Es lag ein verborgener Druck in der Wärme, als habe dieser Nachmittag sozusagen eine innerliche Geschwulst; es war nicht außen. Es war eben föhniges Wetter. Es war, als sei man von Kissen umgeben, eingepolstert. Es war eine erhöhte Befangenheit, hätte ein Psychologe vielleicht gesagt [. . .]. (DD 998, Hervorhebungen von M.B.)142

Die „erhöhte Befangenheit“ bzw. geminderte Apperzeptivität wird durch die eintönigen Anaphern auf die Signifikant-Ebene des Textes übertragen. Diese Tendenz zu kurzen Sätzen und Anaphern lässt sich auch zu Beginn der anschließenden Vorspielszene feststellen: „Ein Vogel pfiff. Er war der erste. Es klang wie halb im Schlaf. [. . .] Jenes Fenster [. . .] war noch nicht zu erkennen. Es blinkte nicht. Noch war kein Tagesschein. Noch war Nacht [. . .]. Es wurde grau“ (DD 1000). Der mechanische Klang, den diese Syntax erzeugt, nimmt das mechanische Geigen vorweg, das Quapp an diesem Morgen vorerst gut gelingt. Der dissoziierte Bewusstseinszustand Quapps wird durch die kurzen unverbundenen Sätze sprachlich angedeutet und inhaltlich mit der Entzauberung der Dinge assoziiert: „Auch das Vorspielen-

141 Während das Bild des Aquariums mit der in ihrer Witwenrolle und der Einsamkeit gefangenen Friederike Ruthmayrs verbunden ist, ist die Treibhaus-Metaphorik eng an Jan Herzkas sadistische Obsessionen geknüpft. Auch er stirbt in den beengenden Kavernen von Neudegg einen metaphorischen Tod. Vgl. Kap. 5.1.1. 142 Alle folgenden Hervorhebungen zur Motivkette ‚eingepolstert‘ von M.B.

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Müssen war entzaubert und wurde zur Sache unter anderen Sachen, vereinzelt dastehend, umschreitbar, begreifbar“ (DD 1000). Da die in den oben zitierten Abschnitten anaphorisch mit dem Wort „Es“ beginnenden Sätze, Quapps ‚Finale‘ bzw. die letzten Tage in der Eroicagasse einleiten, kann hierin eine Anspielung auf die heroische Tonart Es-Dur gesehen werden, in der das Finale der 3. Symphonie Beethovens, der ‚Eroica‘, steht. Allerdings passt diese Tonart ebenso wenig zu Quapp, wie ihre räumliche und gedankliche Nähe zu Beethoven und seiner ‚Eroica‘. Im Zusammenhang mit ihrer verpassten Chance beim Hofrat Tlopatsch, der eine Autorität im musikalischen Wien darstellt, wird explizit von der „falsch vorgezeichnete[n] Tonart“ (DD 868) gesprochen, mit der Quapp einen „irreparablen Schnitzer“ (DD 868) gemacht habe. Durch den Verweis auf einen elektrischen Motor und den Motor in Quapps Innerem, der „Arme und Bogen und linke Hand [. . .][, die] als monströse Gliedmaßen der Geige“ (DD 1001) erscheinen, in Bewegung hält, wird ihr Geigen trotz des gelungenen Tones negativ konnotiert. Dies wird im darauf folgenden Absatz noch deutlicher, in dem „das seltsam Beklemmende jedes sehr warmen Morgens“ (DD 1002) und die damit verbundene Klangkulisse geschildert wird. Die „vereinzelten Geräusche“ können in der „eingepolsterten Verfassung“ nicht mit einer „gemütvoll grundierten Selbstverständlichkeit“ umschlossen werden, sondern erzeugen eine „Unlust im Gehör“ die onomatopoetisch mit vielfältigen Assonanzen und Alliterationen aufgegriffen wird: „Ein vorbeigerollter Karren mit Brettern [. . .] das Gequietsche seiner Räder quält, und das ganze Vorübergehen der lästig lärmenden Ladung dauert viel zu lange.“ (DD 1002) Die ‚eingepolsterte Verfassung‘, die im zitierten Textabschnitt mit den fiktiven Worten eines Psychologen – „hätte ein Psychologe vielleicht gesagt“ – als „erhöhte Befangenheit“ (DD 998) definiert wurde, durchzieht leitmotivisch die gesamte Text-Sequenz. Durch motivische Verflechtungen werden die oben aufgezeigten Konnotationen der Eroicagasse mit dem Geigenkasten und der ‚eingepolsterten Verfassung‘ zu einem Motivkomplex, in dem sich die Sargmetaphorik entfaltet. Nachdem die Geige am Morgen die Macht über Quapps Körper übernommen hatte, was mit dem Adjektiv ‚monströs‘ charakterisiert wurde, empfindet sie nun den „unheimlichen Aspekt“ (DD 1005) ihres gelungenen Spiels und ihre Alltags-Verrichtungen erscheinen ihr „befremdend geläufig“ (DD 1005). Den Geigenkasten hat bereits Elizabeth Hesson als Symbol der ‚zweiten Wirklichkeit‘ interpretiert,143 ohne dass sie jedoch die motivischen Verknüpfungen untersucht hätte, die damit zusammenhängen. Er ist mit grünem Segeltuch ausgeschlagen (DD 1008) und ein aller Wahrscheinlichkeit nach schwarzer Deckel klappt über der Geige zu, wenn diese in den grünen Polstern liegt. Der Geigenkasten ist somit eine Spiegelung der Eroicagasse, die ebenfalls grüngepolstert als enger Tunnel mit schwarzen Deckeln, die jeden Moment über Quapp zuschlagen könnten, erscheint: „[W]ährend der Vormittag sich draußen mit feuchter Hitze einpolsterte

143 Vgl. Hesson 1982, S. 74.

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und aus der leeren Gasse allmählich so etwas wie das Innere eines Treibhauses machte; ein grüner Tunnel, vielleicht auch dem Grunde eines Aquariums nicht ganz unähnlich“ (DD 1004 f.).144 Zu diesen Überlagerungen, die das Verhältnis von Quapp/Geige und Eroicagasse/Geigenkasten in Analogie zu Leiche/Sarg bringen, kommt eine weitere Verdinglichung Quapps hinzu, die wie ein lebloser Stein einschläft und wie eine motorbetriebene Maschine mit ihrem Instrument umgeht, als dessen monströse Verlängerung ihre Gliedmaßen erscheinen. Die beängstigende Leblosigkeit in Verbindung mit der Geige wird bereits in der ersten Szene mit dem Elektromotor angedeutet: „Eine Minute später nahm sie die Geige schon zur Hand; das Instrument wog ihr seltsam schwer, und ein kühles Gefühl in den Armen jagte ihr leichten Schreck ein“ (DD 178). Die von dem Instrument auf Quapps Körper übergreifende Leblosigkeit korrespondiert mit den „Bildern des Eindringens anorganischer Materialien in den Leib oder [. . .][dem] Gefühl einer partiellen Metamorphose in solche“,145 von denen die Figuren der Dämonen bedroht sind, sofern ihnen ein authentischer Zugang zur Wirklichkeit fehlt. Nach einer vorübergehenden Vitalisierung durch ein Erfolgserlebnis beim Geigen – Quapp geht, nachdem sie die Geige ‚belebt‘ hat „lebhaft im Zimmer umher [. . .] [und fühlt] große Kraft“ (DD 177) –,kommt es wiederum zur Mortifikation der Figur, wenn ihr Gesicht temporär zu einer Art Totenmaske wird:146 Merkwürdig war’s, daß sie in solchen Lagen immer, und auch heute, hier und in diesen Augenblicken, eine Veränderung im Gesicht spürte: als überwüchse dieses eine Maske. Es war, als würde das Antlitz starr und leblos. Die Züge unbeweglich, wie unter dem hart werdenden Gusse irgendeiner Masse liegend, etwa Paraffin [. . .]. (DD 177)

Quapp wird einerseits mit unbelebten Gegenständen verglichen und andererseits durch die Namensgebung theriomorphisiert. Der auf einen unreifen Frosch verweisende Tiervergleich ist jedoch gleichzeitig auch ein Element der Verdinglichung, da er über den sogenannten ‚Bogenfrosch‘ der Geige wiederum Quapp als Teil des unbelebten Instruments kennzeichnet.147 Diese aufeinander verweisende Wechselbeziehung

144 Mit ähnlich grünem Unterwasserlicht, moosig und feucht, wird auch das Haus der Schlaggenbergs, in dem Quapp aufgewachsen ist, beschrieben (vgl. DD 1066). Die ‚Lebenslüge‘, die sich dort um Quapps Identität ausgebreitet hat, erklärt diese Parallelen zu der ebenfalls mit einem falschen Selbstbild verbundenen Eroicagasse. Bezeichnenderweise werden die hohen Bäume, die das Unterwasserlicht im großen Saal erzeugt haben, anlässlich von Quapps und Gézas Hochzeitsfeier gefällt und auch die grünen Gläser einer riesigen Bowle werden danach nicht mehr benutzt, so dass das „‚Licht im Saal [. . .] jetzt ein gänzlich anderes [ist]‘. Es schien also auch die Mama Schlaggenberg jene Begabung zu besitzen, Epochen durch äußere verändernde Maßnahmen zu markieren“ (DD 1344). 145 Kerscher 1998, S. 319. 146 Auch an anderer Stelle heißt es, dass sich Quapps Gesicht manchmal verändert und „ein fremder steinerner Mensch“ (DD 1076) zum Vorschein kommt. 147 Quapp wird auch explizit mit ihrer Geige verglichen: „Noch lag Quapp innerlich waagrecht, vielleicht ein wenig gesenkt gegen die Füße zu, so etwa, wie die Geige unter dem Kinne liegt.“ (DD 1001).

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zwischen Instrument und Figur beinhaltet auch die anfängliche Anthropomorphisierung der Geige, die als metaphorisch belebtes Objekt wiederum ‚verdinglicht‘ werden kann. Für Quapp hat die Geige letztlich nur noch als Ding einen materiellen Wert, der mit dem künstlerischen Wert der „Italienerin“, die an der „innersten Stelle ihres Wesens berührt und getroffen, jauchzte [. . .] und [. . .] ihr geheimnisvolles Leben in Fülle aus[strömte]“ (DD 177), wie es zuvor anthropomorphisierend hieß, nichts mehr zu tun hat. Das Interesse an dem materiellen Wert der Geige korrespondiert mit Quapps Blick auf Géza, dessen ‚Wert‘ und Eignung für ihr zukünftiges Leben sie abschätzen möchte, wenn sie sich fragt, ob er für ihren neuen Lebensstil „genügen [würde]“ (DD 1207). Durch den daran anschließenden Gedankensprung zu ihrer Geige, die als Wertgegenstand von einem Geigenmacher geschätzt werden soll (vgl. DD 1210), werden das Instrument und der Liebhaber in der Reihe ihrer Besitztümer gleichgesetzt und Géza somit zum Surrogat für die Geige. Statt sich ihrem Verliebtsein hinzugeben, macht sie „daraus fast schon ein mit Interesse betrachtetes Objekt“ (DD 1209) und empfindet Géza als ‚geeignet‘ (DD 1261), ‚passend‘ und sich gut in ihr neues Leben ‚einfügend‘ (vgl. DD 1210). Bevor es soweit ist, dass Quapp sich von ihrer Geige verabschiedet, geht sie jedoch in der beschriebenen ‚eingepolsterten Verfassung‘ zum Vorspielen, wo sie im überhitzten Wartezimmer vor einer „Polstertür“ mit „grüngepolsterten Türflügeln“ (DD 1006) warten muss. Ihre exzellenten Fähigkeiten im Vom-Blatt-Lesen können ihr Spiel nicht retten, da sich der dissoziative Zustand inzwischen auf ihr Körperempfinden ausgeweitet hat: „Aber nun hatte sie keine Hände mehr. Die Finger der Linken waren schwammig und dick, die Rechte war sozusagen nah am Sterben. Außerdem fehlte ein Teil ihres rechten Arms. Er bestand aus Luft.“ (DD 1007). Die dissoziative Wahrnehmung spiegelt sich auch in der von ihrem Trema geprägten Musik: Quapp schafft es nicht, einen zusammenhängenden Ton zu erzeugen, „der Einsatz geschah sozusagen fast zweimal, zwischen der allerersten Intonation und dem folgenden – obendrein war es zunächst eine ganze Note – lag ein winziges Vacuum“ (DD 1007).148 Dass sie das darauffolgende Staccato ohne Probleme beherrscht versteht sich innerhalb der hier aufgezeigten symbolischen Textebene von selbst. Die deutlich voneinander getrennten Töne fügen sich in den semantischen Bezugsrahmen der Spaltung und Amputation ein, ebenso wie die Eroicagasse, die in Anlehnung an Quapps Empfinden, mit einem Bindestrich geschrieben wird, weil es ihr nicht gelingt, Zusammengehöriges als Ganzes wahrzunehmen. Auf der Mikroebene des Textes spiegelt sich dieser Zusammenhang in dem Vakuum, das die Einheit der ‚ganzen Note‘ zerstört und durch den in Parenthese stehenden Einschub (bezeichnenderweise nach den Worten „dem folgenden“) die dissoziative Fragmentierung auf der Ebene der Syntax aufgreift. Als diakritisches Zei-

148 Ihr zweimaliger Einsatz mit der „allerersten Intonation“ (DD 1007) rekurriert auf die „allerersten [Augenblicke]“ (DD 164) ihres Auftritts im Roman, der wie oben beschrieben ebenfalls zweimal erfolgt.

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chen taucht das gedachte Trema, also die durch eine Pause getrennte Aussprache zweier Vokale, wiederum im Wort ‚Vacuum‘ selbst auf, das in Variationen den Roman leitmotivisch durchzieht und auf die dämonische Leerstelle der ‚zweiten Wirklichkeit‘ verweist. Quapps Unfähigkeit, sich mit der Musik zu verbinden, sich durchdringen zu lassen und so eine „chymische Hochzeit“ (DD 1083) einzugehen, entspricht der ‚Apperzeptionsverweigerung‘ anderer Figuren auf sexuellem Terrain. Die ‚physische‘ Komponente149 der literarischen Musikthematisierung, die in den Dämonen erotisch konnotiert ist, wird in Bezug auf Quapp in negierender Verkehrung dargestellt: Das In-Eins-Fließen all der vielen hochkomplexen und schnellen Verrichtungen beider Hände, das Reiten auf dem Melos wie auf einem Wogenkamm, das Hineinsinken in die Brillanz, das Gefühl der Macht über einen ganzen Saal voll Menschen, welche die Musik wohl musisch genossen, unter denen aber ganz gewiß keiner sich befand, dem sie zur körperlichen Eigentümlichkeit geworden war in solchem Maße wie dem Spieler: nichts von alledem war Quapp jemals durch die Eingeweide gefahren. (DD 943)

Der Dirigent erkennt Quapps „geigerische Epilepsie“, mit der sie „am Rand eines Abgrundes [geigt]“ (DD 1007). Mit seiner Aussage, dass es für sie „ganz und gar unmöglich“ sei, diesen Beruf auszuüben, und der Aufforderung, sie möge „sich das klarmachen“ (DD 1007), spricht er als erster deutlich aus, was andere versäumt haben, ihr zu sagen.150 Nachdem Quapp ihre Geige verstaut und den Geigenkasten verschlossen hat, geht sie mit äußerst gedämpfter Sinneswahrnehmung auf die Straße, wo sie „stumpf, langsam, behindert, eingepolstert in eine Wärme“ im „Verkehrs-Strom“ (DD 1008) treibt und einen neben ihr haltenden Wagen nur als „irgendeine Masse“ (DD 1008) wahrnehmen kann. Wie heilsam die brutale Klarheit des Dirigenten für Quapp ist, zeigt sich erst, als sie von Gézas Stimme, der sie mitsamt ihrem Geigenkasten in dem Wagen mitnehmen will, aus ihrer Benommenheit gerissen wird: Im Augenblick erkannte sie erst, daß der Dirigent irgend etwas von ihr glatt abgeschnitten hatte, ein Ding wie einen Kropf, oder ein Geschwür oder etwas dergleichen, woran sie mit ihrem ganzen Leben, ja, wirklich schon seit der Kindheit, festgewachsen gewesen war. [. . .] Nun war sie erst frei. (DD 1008)151

149 Vgl. Scher 1968, S. 145–150. Christoph Vratz erkennt in der Beschreibung der ‚physischen‘ Komponente ein eigenständiges ästhetisches Verfahren, um sprachliche Musikbeschreibungen anschaulich zu machen: „Das Nichtsprachliche der Musik wird erst evident über den (Um-?) Weg einer körperspezifischen Semiotik.“ Vratz 2002, S. 211–229, hier: S. 228. 150 Sowohl Geyrenhoff als auch Quapps Bruder und ihr Geliebter erkennen die Selbsttäuschung. So ist für Imre intuitiv klar, dass Quapp kein „geborene[r] Geiger“ ist und man „auf diese Art [. . .] kein Musiker sein oder werden [konnte]“ (DD 940). Ihrem Geigenlehrer jedoch, der ein Buch über die Technik des Geigenspiels geschrieben hat (vgl. DD 1066), scheinen die fehlende Musikalität und die krampfartigen Anfälle bei Quapp nicht aufgefallen zu sein, was sich durch seinen Fokus auf die technischen Aspekte des Musizierens erklärt. 151 Dass die ebenso ehrgeizige wie engstirnige Zielsetzung Quapps bereits früh angelegt war, wird auch an einer weiteren Textstelle deutlich, wo es heißt, sie habe „ihre ganze Kindheit unter der

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4 Thematisierung und Imitation von Musik in Die Dämonen

Dieses imaginäre Abschneiden eines kranken Körperteils bzw. Auswuchses hat mehrere Implikationen. Zunächst wird der Handlungsbogen, der mit Géza im Auto begonnen und durch die psychologische Deutung der Wetterlage Quapps Verfassung antizipiert hatte, mit der Handlung um Quapp selbst zusammengeführt. Neben der ‚Einpolsterung‘ gewinnt nun auch die Empfindung, „als habe dieser Nachmittag sozusagen eine innerliche Geschwulst“ (DD 998), eine neue Bedeutung, da Quapp gerade von einem imaginären inneren Kropf bzw. Geschwür befreit wurde. Quapps Empfindung, dass es „richtig [. . .] gewesen [wäre], den Geigenkasten einfach auf dem Pflaster stehen zu lassen“ (DD 1008), als sie zu Géza in den Wagen steigt, entspricht der narrativen Technik, die inneren und äußeren Vorgänge einander spiegeln zu lassen und somit die Trennung auch durch ein äußeres Zeichen sichtbar zu machen. Wie von dem inneren Geschwür, trennt sich Quapp nun auch in der Imagination von ihrem Geigenkasten, der „am Rande des Trottoirs [. . .] stehen geblieben war [. . .][und] sich doch hier im Wagen befand“ (DD 1009). Von dieser Vorstellung ist Quapp auch bei ihrer zweiten Autofahrt mit Géza am Tag des Justizpalastbrandes beherrscht: „Immerwährend hatte Quapp gegen jede Vernunft das Gefühl, auf der Verkehrs-Insel dort unten am Beginne der Mariahilferstraße ihren Geigenkasten stehen gelassen zu haben“ (DD 1264). Das Motiv der ‚Geschwulst‘ wurde bereits im Zusammenhang mit Quapps depressiver Verstimmtheit und Entfremdung im musikalischen Kreis um den „Musik-[Papst]“ (DD 429) Tlopatsch bei der Tischtennisgesellschaft eingeführt, wo sie den Abend „wie eine Geschwulst“ (DD 439) in ihrem Inneren empfindet. Bei derselben Gesellschaft benutzt auch René diesen Ausdruck, um das veränderte Wirklichkeitsverständnis von der mittelalterlichen zur modernen Gesellschaft zu beschreiben. Die Imaginationskraft, mit der mittelalterliche Menschen dämonische Erscheinungen wahrnehmen konnten, liegt demnach in der modernen Gesellschaft bereits im Bereich des Krankhaften: „Sie kann im allgemeinen in unserer Zivilisation nur als Geschwulst auftreten, welche gleich den ganzen Menschen verzerrt – nämlich ihn zu einer Art von Original macht – oder als Folge aufspaltender Geisteskrankheiten“ (DD 447). Quapps dissoziative Wahrnehmungsstörung wird dadurch in den Bereich des Dämonischen resp. der Geisteskrankheit gerückt. Durch die ‚Amputation‘ wird sie in die ‚Normalität‘ zurückgeholt. Neben den oben aufgezeigten Parallelen in der Wahrnehmungsstörung von Quapp und Mary K., ist der vermeintlich stehengelassene Geigenkasten ein weiteres verbindendes Element zwischen den beiden Figuren. Das zwanghafte Festhalten an der Vorstellung, das Leben umfassend kontrollieren und organisieren zu können, führt bei Doderers Figuren zu „seelische[n] Schäden“, die sich oftmals in „fast schon identischen Bildern körperlicher Verstümmelung“152 manifestieren. Analog zu Mary

Fiktion irgendeiner in ihr selbst gelegenen und unbedingt zu erfüllenden Aufgabe verbracht“ (DD 941). 152 Kerscher 1998, S. 322.

4.1 Musikalität und Apperzeption

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steht auch Quapp inmitten des Verkehrs-Stromes, als die ‚Abtrennung‘ erfolgt. Während Marys rechtes Bein abgetrennt wird, und sie von Melzer auf „einer jener Rettungs-Inseln“ (DS 846), die in der Analog-Stelle zu Beginn der Strudlhofstiege noch „Verkehrs-Insel“ (DS 48) genannt wurde, verarztet wird, lässt Quapp ihren Geigenkasten gedanklich ebenfalls auf einer „Verkehrs-Insel“ (DD 1264) stehen.153 Diese Trennung von ihrer Geige, die beim Üben Quapps Gliedmaßen hatte verkrampfen, erkalten und nahezu absterben lassen, wird im Gespräch mit Géza von diesem explizit mit einer ‚Amputation‘ gleichgesetzt. Orkay sprach, wenn auch von etwas anderem: ‚es gibt keine rein negativen Ereignisse‘, meinte er, in bezug auf ihren Zusammenbruch bei dem Probespiel, und damit, so fuhr er fort, daß etwas wegfalle und ab-breche, wie etwa jetzt – ihrer Meinung nach – die Geige weggebrochen worden sei von ihrer übrigen Person, damit sei der Schwung des Geschehens noch nicht erschöpft und die Verwandlung, von der sie gesprochen habe, noch keineswegs vollzogen. ‚Es gibt im Leben keine bloßen Amputationen, solange es eben noch Leben ist, also Hervorbringung, wenn ich so sagen darf.‘ (DD 1013, Hervorhebungen von M.B.)

Die Aufgabe ihrer mit dem Instrument verknüpften Berufsvorstellung und der Beziehung zu Imre ermöglicht erst Quapps neues Leben mit Géza. Ganz ähnlich begreift Mary in den Dämonen, „daß jede wirkliche Veränderung nicht im Wegfallen von irgendwas allein bestehen konnte. Jetzt, in fast unbegreiflicher Verquickung, durchdrang Leonhard geradezu den Raum, wo sich einst das fehlende Glied befand“ (DD 985, Hervorhebung von M.B.).154 Die Wortwahl mit der Géza über die ‚Amputationen‘ und die Ersetzung des ‚Weggefallenen‘ durch etwas Neues spricht, lässt seine Ausführungen als Variation der von Mary und zuvor schon von Leonhard gedachten Phrase (vgl. DD 650) erscheinen. Es hat sich gezeigt, dass analog zur Abtrennung von Marys rechtem Bein, Quapps rechter Arm vom Absterben bedroht ist, der jedoch gerettet wird, indem die als pathologischer Auswuchs empfundene Geige von Quapps Körper ‚amputiert‘ wird. Die Darstellung der Musikinstrumente verhält sich im Verlauf der Entwicklung von Mary und Quapp jedoch konträr zueinander, da bei Mary das

153 Der symbolische Gehalt der Verkehrs- bzw. Rettungs-Inseln wird an anderer Stelle in den Dämonen im Zusammenhang mit dem tief gekränkten Imre erläutert: „Aber ein solches Denken brachte ihm keinen Trost. Es schuf keine Mitte, auf die er hätte vor dem allseitigen Andrang zurückweichen können, so wie man auf sehr belebten Straßenkreuzungen – etwa gar dann, wenn man als Fußgänger der Verkehrsregelung nicht gefolgt ist – auf eine der sogenannten,Rettungs-Inseln‘ sich flüchten kann, die es in Großstädten mit stellenweise übermäßig breiten Fahrbahnen gibt, etwa in Paris oder Wien, meist um irgendeinen Lichtmast herum. Ein solcher fehlte jetzt dem Gyurkicz Imre schon ganz und gar. Es gab über dem Meer der Trübnis, das ihn augenblicklich umfing und ganz befangen machte, keinen Leuchtturm, kein Blinkfeuer“ (DD 921). 154 Zu dieser Parallelisierung zwischen Mary und Quapp siehe auch Kerscher: Bei Quapp wird „durch den symbolischen Verlust eines eigenen Körperteils der Weg für eine hinzugegebene, neue partnerschaftliche Beziehung (zu Orkay) freigemacht, womit erst eine richtige Veränderung besiegelt ist.“ Kerscher 1998, S. 323.

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4 Thematisierung und Imitation von Musik in Die Dämonen

wieder geöffnete Klavier ihre Heilung symbolisiert, während der verschlossene und ‚stehengelassene‘ Geigenkasten eine heilsame Wendung bei Quapp einleitet. Der weiblich konnotierte Zugang zur Musik ermöglicht es Mary, „die nahen Dämonen [zu] bändigen“ (DS 24), während es bei Quapp gerade die Musik bzw. der falsche Zugang zur Musik ist, der sich in ihrem als Dämon bezeichneten Trema manifestiert. Die ‚Menschwerdung‘ führt daher bei Mary K. über das wieder aufgenommene Klavierspiel,155 während Quapp ihr Streben nach einer Virtuosenlaufbahn aufgeben muss, um sich aus der ‚zweiten Wirklichkeit‘ zu befreien. Die folgende Gegenüberstellung in Tab. 1: Musik als ‚erste‘ und ‚zweite‘ Wirklichkeit fasst das konträre Verhältnis der beiden Figuren zur Musik zusammen. Tab. 1: Musik als ‚erste‘ und ‚zweite‘ Wirklichkeit. Mary K. (DS und DD)

Quapp (DD)

Chopin-Etüden am Klavier

Professionelle Geigerin

Gefühlvoll, ‚weiblich‘

Fehlende Musikalität, ‚androgyn‘

„die nahen Dämonen bändigen durch die orphische Macht der Töne“ (DS )

Trema beim Geigespielen ist ihr „Dämon“ (DD )

Klavier verschlossen → Katastrophe, Amputation des Beines

Geigenkasten verschlossen → Befreiung, Amputation des Geschwürs/der Geige

Vitalisierung durch Musik Musik als . Wirklichkeit

Mortifikation durch Musik Eroicagasse/Geigenkasten als Sarg Musik als . Wirklichkeit

Die Trennung von der mit Todesmetaphorik behafteten Geige und damit auch von der Eroicagasse vollzieht sich an der Ecke zur ‚Mariahilferstraße‘, deren sprechender Name wiederum das mit Marys Unfall verbundene Mutter-Gottes-Motiv evoziert. Die Andeutung einer religiösen Heilsverkündung zeigt sich auch in der Tatsache, dass Quapp zu Beginn ihres neuen Lebensabschnitts in der heilsamen Stille auf ihrem Balkon das Läuten der Kirchenglocken hört. Die motivische Verknüpfung des Glockenläutens von der Kirche der Vierzehn Nothelfer bei Marys Unfall in der Strudlhofstiege mit dem Ave-Läuten, das René auf Burg Neudegg hört, wird somit auf Quapp ausgeweitet, die ebenso ein Angelus- bzw. Ave-Läuten um „zwölf Uhr [. . .] von den Kirchtürmen der Umgebung, von der Hietzinger Pfarrkirche, von Penzing herüber, ja, sogar das Glöckchen von Ober-St.-Veit“ (DD 1261) hören kann. Quapp ist zunächst von einer „negativ besetzte[n] Geräuschkulisse“156 umgeben, die erst mit dem Verlassen der Eroicagasse und der Beendung ihrer musikali-

155 Siehe Kap. 4.1.1. 156 Buchholz 1996, S. 170.

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schen Laufbahn einer heilsamen Stille Raum gibt. Sie verlässt „den allgemeinen Hörraum“,157 indem sie sich von Géza aus der unangenehm geräuschvollen Umgebung der Stadt bringen lässt. Auf dem Cobenzl, von wo sie „die Stadt dort unten liegen sehen [konnten], wie auf der flachen Hand“ (DD 1010), rückt der auditive Bereich, der noch während der Autofahrt mit „martialischem Dröhnen“ (DD 1010) gewirkt hatte, in den Hintergrund, während der Fokus auf der visuellen Wahrnehmung liegt.158 Zugleich wird die leitmotivische Reihe – der in unterschiedlichen Variationen beschriebenen ‚eingepolsterten Verfassung‘ Quapps – mit der Feststellung, die Wärme auf dem Berg sei „weniger drückend und einpolsternd“ (DD 1010) beendet. Nach der ersten Fahrt auf den Cobenzl mit Géza lässt sich Quapp bezeichnenderweise nicht bis in die Eroicagasse fahren, „in die grüne Gasse, in den Tunnel, dem Quapp jetzt entschlüpft war, wie eine Forelle im tiefgrünen Wasser der Höhlung zwischen den Steinen“ (DD 1009). Sie steigt vorher aus, und als sie in die Gasse einbiegt springt ihr „Blick [. . .] hinauf zu jenem Fenster, wo sonst die kleinen Wäschestücke zu hängen pflegten. Es war ein ganz kurzer, doch ein bemerkenswerter Blick: als erflehe sie damit einen Herzschlag lang gütige Nachsicht und Einverständnis“ (DD 1014). Dieser Blick ist nach der ‚Amputation‘ des Geschwürs bzw. der Geige, dem Verlassen des auditiven Bereichs, der Trennung von Imre und der Entscheidung umzuziehen, eine weitere Facette des Umbruchs zu ihrem neuen Lebensabschnitt. Es deutet sich darin an, dass Quapp der ‚Verrat‘, den sie an ihren bisherigen Lebenszielen übt, durchaus bewusst ist, weshalb sie bei der musikalisch-heroischen Autorität, auf die dieses Beethoven-Fenster metonymisch verweist, um Verständnis bittet. Damit erfüllt sich Kajetans auf Quapp bezogene Prophezeiung, „der Mond [werde] sich um seine Achse drehen und seine fremdartige Rückseite zeigen“ (DD 1141). Quapp’s Vor-Leben, ihre Vor-Biographie ist beendet. Alle begabteren Frauenzimmer haben eine solche: und niemals kann ein Mann den heroischen Träumen seiner Knabenzeit so profund, so ausrottend und umstürzend untreu werden, wie ein Weib jenen ihrer frühen Jugend [. . .]. (DD 1141, Hervorhebung von M.B.)

Die geschlechtsspezifische Unterscheidung, die Kajetan hier in Bezug auf die Kontinuität des Charakters und der Lebensziele von Frauen und Männern konstatiert, entspricht Otto Weiningers These zur Begabung und dem Gedächtnis von Frauen: Das echte Weib kommt nie zum Bewußtsein eines Schicksals, seines Schicksals; das Weib ist nicht heroisch, denn es kämpft höchstens für seinen Besitz, und es ist nicht tragisch, denn sein Los entscheidet sich mit dem Lose dieses Besitzes. (Hervorhebung von M.B.)159

157 Buchholz 1996, S. 169. 158 Vgl. Buchholz 1996, S. 170. Der Blick auf die Umwelt und auf das eigene Leben von einem erhöhten Standpunkt aus wiederholt sich in Quapps neuer Wohnung, von wo aus sie auf die Eroicagasse blickt, die ihr bereits befremdend erscheint (vgl. DD 1261). 159 Weininger 1903, S. 161.

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Analog zu dem Ausflug mit Géza nach dem Geigenvorspiel ist das „merkwürdige Zusammentreffen“ (DD 1294) zwischen Quapp und ihm und ihr zweiter Ausflug zum Cobenzl am 15. Juli 1927 aufgebaut „– merkwürdig eben als Wiederholung, und für Quapp als wiederholte Befreiung aus mißlicher Lage, zuerst aus inneren, dann aus äußeren Schwierigkeiten“ (DD 1294). Noch am Morgen dieses Tages wird Quapp bewusst, dass Géza geeignet ist „das Tor ihres eigenen Hauses“ (DD 1260) zu bilden, „und Quapp dachte das wörtlich, das Wörtchen ‚geeignet‘ nämlich“ (DD 1261). Diese Akzentuierung des Wortes weist auf die berechnende Herangehensweise Quapps und ihre utilitaristischen Gedanken bezüglich ihrer neuen Beziehung hin. Während sich die Stadt an diesem Tag, an dem bei Arbeiterprotesten der Justizpalast angezündet wird, auf dem Höhepunkt ihres chaotischen Lärmens und Wimmelns befindet (vgl. DD 1281), steht Quapp den gesellschaftlichen Ereignissen gegenüber nichts ahnend und verständnislos auf einer Verkehrsinsel und empfindet die fernen Schüsse als „kleine geschwätzige Laute“ (DD 1264), die sie nicht zuordnen kann. Wieder ist es Géza, der sie aus dieser desorientierten Verfassung, dem „Glanzpunkt“ ihrer „habituellen Unwissenheit“ (DD 1263) von der Straße zu sich ins Auto holt. Auch als er den Wagen halten lässt, da das „gnädige Fräulein [. . .] schießen hören [will]“ (DD 1264), klingen die Schüsse in Quapps Ohren noch immer „wie die Stöpselpistolen kleiner Buben“ (DD 1264). Torsten Buchholz erkennt in dieser Szene die Verkettung von Geräusch und zweiter Wirklichkeit.160 Quapps Wahrnehmungsverengung, mit der sie egozentrisch um ihre privaten Angelegenheiten kreist, lässt sie selbst die „Sinneswahrnehmung“ der Schießgeräusche, die sie „nicht aufgefaßt, sondern gewissermaßen ignoriert“ (DD 1264) hatte, erst im Nachhinein vollziehen. Dem entspricht der gleichgültige Blick der Zuschauer, die vom Cobenzl auf die Stadt herunterblicken.161 Aus dieser erhöhten und zugleich distanzierten Perspektive erscheint das Feuer „klein gemacht zusammengedrückt und auf sich selbst beschränkt wie eine Glühbirne“ oder auch wie ein „rotes Wimmerl“ (DD 1292), wodurch es jegliche politische Dimension verliert. Als Hintergrund für die sich zwischen Quapp und Géza abspielende Romanze wirkt diese Szenerie grotesk verzerrt.

160 Vgl. Buchholz 1996, S. 171. 161 Irmgard Egger erkennt in den von manchen der Zuschauer auf dem Cobenzl gebrauchten Ferngläsern, „das Medium des kalten Blicks schlechthin“, der dem Blick der mitten im Geschehen zu Samaritern werdenden Schutzbündler entgegengesetzt ist. „Einerseits die [. . .] Gegenüberstellung von distanzierend-kaltem und mitfühlend-beteiligtem Blick, kann derselbe Kontrast andererseits auch umgewertet erscheinen zum Unterschied zwischen freiem, objektivem Überblick gegenüber eingeschränktem Blickfeld und parteiischer Verstrickung.“ Irmgard Egger: ‚Den Faden aus dem Gewebe‘: Zur Großstadtwahrnehmung in den Wiener Romanen Heimito von Doderers. In: „Erst bricht man Fenster, dann wird man selbst eines“. Zum 100. Geburtstag von Heimito von Doderer. Hrsg. v. Gerald Sommer und Wendelin Schmidt-Dengler, Riverside, CA 1997 (= Studies in Austrian literature, culture, and thought), S. 23–33, hier: S. 32.

4.1 Musikalität und Apperzeption

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Auch bei diesem Ausflug ist es das Schweigen, das ihre Beziehung schneller reifen lässt und im Kontrast zu „dem Dröhnen des Motors“ (DD 1294) steht. „Das Klangpedant zum Blick ist das Schweigen“162 und diese neue Klangsphäre, die Quapp umgibt, ist friedvoll, zugleich aber auch mit einer Ignoranz gegenüber den gesellschaftlichen Vorgängen verknüpft. Nicht einmal die Erklärung für die Unruhen in der Stadt will sie noch von Géza hören, stattdessen trinken sie Champagner zur Feier ihrer Verlobung. Diese gleichgültige Haltung angesichts der politischen Ereignisse, die Geyrenhoff an anderer Stelle als „Cannae der österreichischen Freiheit“ (DD 1328) bezeichnet, verweist auf die Abschiedsszene von Quapp am Ende der Dämonen, die den Ausgangspunkt für die Frage nach der ‚Nichtigkeit‘ der Figur im nächsten Kapitel bildet.

4.1.4 Das ‚nichtige Wort‘ – Semantische Überlagerungen zwischen Weiblichkeit und ‚zweiter Wirklichkeit‘ Quapps Befreiung aus der ‚zweiten Wirklichkeit‘ führt in einen neuen Lebensabschnitt, der jedoch wie der vorherige Zustand ebenfalls – aus der homodiegetischen Erzählperspektive des Chronisten – negativ bewertet wird und die Figur letztlich als ‚nichtig‘ kennzeichnet. Dies erklärt sich durch das genealogische Erbe Quapps, dessen Implikationen im Folgenden anhand der mit Claire Charagiel verbundenen mythologischen Verweise sowie den auf Weiningers Geschlechterkonzept rekurrierenden Eigenschaften Quapps analysiert werden. Obwohl Quapp eine der Hauptfiguren des Romans ist und gerade ihre Problematik der geistigen und emotionalen Befangenheit ausführlich thematisiert wird, folgt ihre Entwicklung nicht dem in Doderers Romanen vorherrschenden Modell der ‚Menschwerdung‘. Sie findet zwar einen Weg, aus ihrer festgefahrenen Situation auszubrechen und die unsinnigen Lebensziele hinter sich zu lassen, aber ihr geistiger Horizont bleibt engstirnig, ihr Handeln auf utilitaristischen Gedanken begründet und es fehlt ihr an Mitgefühl für andere Menschen. Dies zeigt sich besonders deutlich in der aus Geyrenhoffs Perspektive erzählten Abschiedsszene am Bahnhof, mit der nicht nur von der Figur Quapp Abschied genommen wird, sondern auch der Roman zu Ende geht. Geyrenhoff, der durch seine Hochzeit mit Friederike für Quapp in die Position eines Stiefvaters rückt,163 hatte – während der Justizpalast in Flammen stand – aus einem Fenster den Tod Imres mitangesehen, wobei er vor diesem zum ersten Mal

162 Buchholz 1996, S. 171. 163 Auch wenn Friederike nur die Ehefrau des verstorbenen leiblichen Vaters von Quapp war, nimmt sie Quapp sogleich als Tochter an, als sie sich am 15. Juli während des Justizpalastbrandes kennenlernen. Geyrenhoff wird damit zugleich der ‚Schwiegervater‘ seines Cousins Géza (vgl. DD 1327).

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Achtung empfinden und für ihn als Freund ein Gebet sprechen konnte. Quapp fragt bei ihrem Abschied nicht nach dem Schicksal ihres ehemaligen Geliebten, da „ihre habituelle Unwissenheit sich auch hier, und gewissermaßen in extremis, bewährte“ (DD 1344). Der bereits thematisierte Verrat an ihrem vorigen Leben umfasst somit auch Personen, die ihr nahestanden. Geyrenhoff zufolge hat sie „das Gedächtnis eines Huhnes und dazu – nein! daher! – ein Herz von Stein“ (DD 1344). Diese Charakterisierung Quapps über Metaphern aus dem animalischen und mineralischen Reich deutet darauf hin, dass von einer ‚Menschwerdung‘ bei ihr keine Rede sein kann. Vielmehr werden auch hier unverkennbare Analogien zur Theorie Weiningers sichtbar, demzufolge die Frau aufgrund mangelnder Kontinuität des Denkens kein Bewusstsein für das eigene Schicksal habe und nicht in der Lage sei, pietätvoll zu sein:164 Das „Gefühl der Identität in allen Lebenslagen fehlt dem echten Weibe völlig, da sein Gedächtnis, selbst wenn es – das kommt in einzelnen Fällen vor – auffallend gut ist, stets alle Kontinuität vermissen läßt.“165 Diese mangelnde Kontinuität in der Biographie, in dem Erinnerungsvermögen und damit auch in der Identität der Frau ist ein wiederkehrendes Thema im Zusammenhang mit den weiblichen Figuren der Dämonen und der Strudlhofstiege. Thomas Hübel hat auf diesen Nexus im Kontext der Buchmetaphern und der Thematisierung von Schrift in der Strudlhofstiege verwiesen: „Dem Mann wird das Buch zugeordnet, der Frau nur zusammengeheftete Notizblätter, die [. . .] weder Vollständigkeit noch Kontinuität gewährleisten können.“166 Hübel geht mit Bezug auf Otto Weininger auch auf den geschlechtsspezifischen Umgang mit der „Schrift in ihrer eigentlichen Funktion, nämlich als Prüfstein und Garant von Identität“ in der Strudlhofstiege ein, in der René „beim Anblick von Gretes Schrift sogar vom Ekel ergriffen“167 werde. In den Dämonen urteilt Geyrenhoff über die schwer leserliche Schrift Camy Schlaggenbergs, sie habe „keine Achtung vor den Charakteren der Schrift, und also keine Achtung vor dem Wort und der Sprache und damit überhaupt vor nichts in der Welt.“ (DD 974)168 Bei dem oben beschriebenen Abschied von Quapp erzählt Geyrenhoff ihr nicht von Imres Tod, da er das in ihm „errichtete Epitaph des Freundes [. . .] vor der sonst unvermeidlichen Berührung durch ihr nichtiges Wort“ (DD 1344, Hervorhebung von M.B.) schützen will. Dies sind die letzten Worte in Bezug auf Quapp, die

164 Vgl. Weininger 1903, S. 161. 165 Weininger 1903, S. 188. 166 Thomas Hübel: Buch und Schrift in Heimito von Doderers Romanen. In: Sprachkunst 20 (1989), S. 23–43, hier: S. 29. 167 Hübel 1989, S. 29. 168 Geyrenhoff nimmt in dieser Szene die Schrift als das Wesentliche wahr: „Ich sah wieder in dieses Schreiben hinein, eigentlich nur in diese Schrift, zunächst wenigstens, ohne dem Sinn der Sätze zu folgen.“ (DD 973). Auch für Leonhard Kakabsa liegt die wesentliche Bedeutung bei seiner ersten Lektüre von Geschlecht und Charakter bzw. dem darin enthaltenen Zitat von Pico della Mirandola nicht auf der Inhaltsebene: „Leonhard las und erfuhr – nicht den Inhalt des Gelesenen, den man als bedeutungslos kaum wird empfinden können, sondern: daß er Lateinisch verstand.“ (DD 658).

4.1 Musikalität und Apperzeption

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daraufhin mit dem Zug davonfährt, wobei sie im letzten Waggon steht und immer kleiner wird, wie die „Bewohnerin eines Fünkchens, das im Finstern verschwand“ (DD 1345).169 Auch in Bezug auf Quapps Musik findet der niederschmetternde Begriff der ‚Nichtigkeit‘ Verwendung. Ihr musikalischer Ausdruck ist ebenso wie ihre sprachlichen Äußerungen nichtssagend: Bei ihrem Vorspiel trifft sie zwar die Tonhöhe, „aber ihr Strich war ganz nichtig“ (DD 1007, Hervorhebung von M.B.). Unter dem Stichwort „Lärm“ findet sich im Repertorium ein Gedankengang Doderers, der ein Jahr nach Erscheinen der Dämonen datiert ist und die Geräuschproduktion des Menschen in Bezug zu seiner ‚Nichtigkeit‘ setzt: An’s ferne Lärmen ist der Großstädter gewöhnt wie der Fischer an’s Brandungsgeräusch des Meeres, ebenso daran, daß alle Menschen rundum unbedenklich und indiskret ein Geräusch-Volumen in Anspruch nehmen, das sozusagen weit über ihre Verhältnisse geht; wie sich denn noch keiner Gedanken gemacht hat bezüglich des Maßes seiner Raumverdrängung überhaupt, in jeder Hinsicht und in bezug [sic] auf alle Sinnesgebiete, welche Raumverdrängung ja notwendig im lächerlichsten Mißverhältnisse zur Nichtigkeit der betreffenden Person stehen muß. (1957) (REP 144 f., Hervorhebung von M.B.)

Quapps übermäßig lautstarke Äußerungen sind ein mehrfach betontes Charakteristikum ihrer Person, auf das bereits eingegangen wurde. Durch den RepertoriumsEintrag wird die Kombination dieser Eigenschaft mit der Bedeutungslosigkeit der Person evident. Die ‚Nichtigkeit‘ scheint Quapp von ihrer Mutter ‚geerbt‘ zu haben, und diese Determination durch den Begriff ‚nichtig‘, weckt somit ganz am Ende des Romans die Erinnerung an die Auswirkungen, die das Bildnis oder der Kontakt zu der Gräfin Charagiel auf alle mit ihr in Berührung kommenden Romanfiguren hat.170 Daher werden im Folgenden die Textstellen betrachtet, die den Hintergrund für das genealogische Erbe der ‚Nichtigkeit‘ Quapps bilden. Claire Charagiel tritt in den Dämonen nicht selbst auf; die Erinnerungen an sie und reale oder imaginäre Bilder von ihr werden jedoch mehrfach thematisiert. Eine Fotografie Charagiels wird mit folgenden Worten aus Renés Perspektive, der sich wünscht „es einschlagen zu können, wie man eine Scheibe einschlägt“ beschrieben: „Eine hübsche Person; schwarze Flechten um eine weiße Stirn. Aber der Ausdruck des Hohnes, der Frechheit und zugleich völliger Nichtigkeit [lag] in diesem Antlitz“ (DD 714, Hervorhebung von M.B.). Die ‚Erbmasse‘ des Vaters scheint in der

169 Daniela Baumann stellt zu Quapps letztem Erscheinen im Roman fest: „Eigenartig, mit welchem Furor Doderer diese so sorgsam begleitete Figur (immerhin an 4. Stelle, was die Häufigkeit der Namensnennung in den Dämonen betrifft) auf der vorletzten Seite (von 1345!) buchstäblich vernichtet“, Baumann 2003, S. 178. 170 Voracek weist auf die bereits im Namen enthaltene Verwandtschaft der beiden Figuren hin: „Auf der Namenebene ist überdies ein Bezug zu ihrer wahren Mutter herstellbar (Charlotte von Schlaggenberg / Claire Charagiel-Neudegg).“ Martin Voracek: Rand der Wissenschaft, Beginn des Magischen. Eine literar-onomastische Studie zu den Figurennamen im Werk Heimito von Doderers. Phil. Diss., Wien 1992, S. 315.

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Tochter „aufgespalten“, das „Erbgut war zersetzt worden wie von einer Säure“ (DD 715). Die aus der Figurenperspektive geschilderten Eindrücke gewinnen eine unheimlich anmutende Konnotation durch die nahezu wörtliche Wiederholung aus der Perspektive Imres, dem ein Bild von Quapp im Geiste erscheint: ein grauenvolles Bild: sie sah darauf hübsch aus, sehr hübsch sogar, mit den schwarzen Flechten um die weiße Stirn, eine wirklich hübsche Person; aber der Ausdruck des Hohnes und der Härte sprang Imre aus diesem Antlitz geradezu entgegen, dazu Nichtigkeit und Frechheit [. . .]. Imre hätte dieses Gesicht einschlagen mögen, wie man eine Glasscheibe zertrümmert. (DD 945 f., Hervorhebung von M.B.)

Die Aggressivität, mit der figurenübergreifend auf diese Kombination aus weiblicher Schönheit und dummer Arroganz und Härte reagiert wird, ist im Falle Charagiel verknüpft mit einer Zersetzungsmetaphorik, die in ihrer Wortwahl rassistischantisemitische Diskurse des frühen zwanzigsten Jahrhunderts aufgreift.171 Der extreme Zerstörungswunsch beider mit diesen Frauenbildern konfrontierten Figuren, erklärt sich aus der sexuellen Anziehungskraft der schönen Frau, die mit ihrem erschreckenden Innenleben, das in Diskrepanz zum Äußeren steht, die Potenz des Mannes angreift. Dies scheint auch die Ursache der tiefsitzenden Kränkung Geyrenhoffs zu sein, der als Fünfzehnjähriger dem Blick Claire Charagiels ausgesetzt war, als er sie vom Haus seiner Mutter zu ihrem Wagen geleitet hatte. Dabei erscheint sie ihm zuerst „maßlos schön“ (DD 114) und duftend, bis sie ihm ihr Gesicht zuwendet, das „von einer ganz unnachahmlichen Anmaßung und grenzenlos dummen Frechheit erfüllt“ (DD 114) ist und ihm nachhaltig als „sinnlose Abscheulichkeit [. . .] in die Knochen“ (DD 114) fährt.172 Auch Geyrenhoff sieht in seiner Vorstellung in der oberen Ecke des Raumes ein ganz hochgehängtes Bild, das einer Frau, einer schönen sogar, mit dunklen Haarflechten, deren Antlitz voll Hohn, Geringschätzung und grenzenloser dummer Anmaßung in mein Zim-

171 Das Konstrukt eines die Gesellschaft zersetzenden Judentums stammt allerdings bereits aus dem neunzehnten Jahrhundert. Auch wenn in Richard Wagners für den Antisemitismus wegbereitenden Schrift Das Judentum in der Musik (1850) der Ausdruck ‚zersetzen‘ nicht vorkommt, ist doch „Wagners Gebrauch von zersetzend [. . .][wie er ihn an anderer Stelle verwendet] prototypisch für den Sprachgebrauch des modernen rassistischen Antisemitismus“ und wird ebenso gebraucht von Houston Steward Chamberlain in Grundlagen des neunzehnten Jahrhunderts (1899). Vgl. Cornelia SchmitzBerning: Vokabular des Nationalsozialismus. Berlin/New York 2000, S. 698–706, hier: S. 701 f. 172 Vgl. DD 357: „Sie bewohnte mich wirklich, die Claire Neudegg, die Gräfin Charagiel, die einst den Gymnasiasten so tief gekränkt hatte.“ Blicke, die einem das Mark gefrieren lassen vor Entsetzen (vgl. DM 13) oder Gesichter, die einem „wie eine Faust in den Magen [fahren]“ (DM 133), finden sich häufig in Doderers Werken. Die „Verfahren des physiognomisierenden Erzählens [. . .] und [. . .] erzählten Physiognomisieren[s]“ erläutert Christoph Deupmann in Bezug auf die Merowinger. Christoph Deupmann: Die Tücke des Gesichts. Doderers antipathische Physiognomik. In: „Die Wut des Zeitalters ist tief“. ‚Die Merowinger‘ und die Kunst des Grotesken bei Heimito von Doderer. Hrsg. v. Christoph Deupmann und Kai Luehrs-Kaiser, Würzburg 2010 (= Schriften der Heimito von DodererGesellschaft; Bd. 4), S. 121–144, hier: S. 143.

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mer, in mein Leben und Treiben, in meine Notizen, in meinen Umgang, ja, in die ganze belebte Höhlung meines derzeitigen Daseins überhaupt hereinsah, so daß mir alles knochenhaft erbleichte und geradezu in Lächerlichkeit abstarb. (DD 54)173

Diese Vision verknüpft Geyrenhoff vorerst noch nicht mit einer konkreten Erinnerung oder einem Namen: „Die Verbindung in die Sagbarkeit hinüber blieb unvollzogen“ (DD 54). Anders als René und Imre, die bereits ‚ganze Männer‘ sind und mit Aggression auf das reale oder imaginierte Bild reagieren, wurde Geyrenhoff in einer sexuellen Entwicklungsphase vom „Stachel der Charagiel“ vergiftet (vgl. DD 1175 u. DD 1178) bzw. vom versteinernden ‚Blick der Meduse‘ getroffen, so dass ihm „alles [. . .] geradezu in Lächerlichkeit abstarb“ (DD 54). Er ist, mythologisch gesprochen, dem Blick der Meduse begegnet, der mit ihm verbundenen Versteinerung anheimgefallen: Eine Erfahrung, die aufgrund von Doderers Knüpftechnik das nur Persönliche überschreitet und sich unterschwellig mit dem Erleben der anderen, ebenso gefährdeten Figuren verbindet.174

Durch Kajetans Erzählung über Quapps steinernes Gesicht, welches ihm wie „das Auftreten eines schrecklichen Fremdkörpers“ (DD 1076) erscheint, und das er als das Gesicht der Charagiel identifiziert,175 wird Geyrenhoff von seinem traumatischen Jugenderlebnis eingeholt.176 Dieser seelische Kontaktschluss, den Geyrenhoff vollzieht, und der ihm die weitreichenden Auswirkungen prägender Erfahrungen erstmals bewusst werden lässt, wird auf die Außenwelt projiziert: „Das Licht des Nachmittags hatte sich abgewandelt, es begann durch alle Tonarten sich zu ändern, fiel durch seinen ganzen Quintenzirkel gegen den Abend zu, um im Dunkel der Nacht dann wieder anzuschließen an seinen Ausgang“ (DD 1077 f.). Der Quintenzirkel, als musikalische Metapher eines Beziehungsgeflechts, in dem alles über Umwege zueinander führen kann, korrespondiert mit dem mehrfach variierten Motiv des Fadens, der durch ‚das Ganze‘ läuft.

173 Das gefühlte Absterben eines Körperteils bzw. die Transformation von Belebtem in Unbelebtes, die bei Geyrenhoff durch die Erinnerung an Charagiel in Gang gesetzt wird, erinnert an die bereits geschilderten Körperempfindungen Quapps während des Geigespielens (vgl. DD 178). Diese Mortifikationsprozesse sind ein wesentliches Kennzeichen der ‚zweiten Wirklichkeit‘ in den Dämonen, von dem auch die Figuren mit sexuellen Obsessionen betroffen sind. 174 Dettmering 2006, S. 163. 175 Kajetan wählt in seiner Beschreibung dieselben Worte, mit denen auch Charagiel charakterisiert wird. Quapp habe „eine Anmaßung und eine sinnlose und häßliche Arroganz“ gezeigt, die „meisterhaft verletzend“ gewesen sei, gemischt mit einem „Maximum kalter Frechheit“, was ihm „in den folgenden Tagen [. . .] gleichsam im Marke“ gelegen sei (DD 1076). Ähnlich wie Geyrenhoff, ist also auch Kajetan dieser Mutter und Tochter verbindende Blick ‚in die Knochen gefahren‘ bzw. ‚durch Mark und Bein gegangen‘. 176 Martin Voracek spricht von einer Sexualneurose, die durch die Begegnung mit Claire Charagiel bei Geyrenhoff ausgelöst worden sei. Vgl. Voracek 1992, S. 259.

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Jetzt aber mußte ich wohl sehen, mit wie feinem Faden ich an das Ganze der Sachen hier angenäht gewesen war von Anbeginn: nun war er herausgezogen worden, und tief und schmerzhaft spürte ich den schneidenden Zug in der Naht: sie lief zurück bis in die Zeit meiner frühen Jugend, die einzig wahrhaft entscheidende Zeit, die der Mensch durchlebt, da mag er mit seinen späteren Entschlüssen rasseln, wie immer er will: sie fassen doch nur eine ‚materia signata‘, einen vorbezeichneten Stoff, wie das die Scholastik nennt. (DD 1078)

Die Motivation Geyrenhoffs, eine Chronik über die Ereignisse im Umfeld der ‚Unsrigen‘ zu verfassen, die in weiten Teilen die Erbschaftsangelegenheit und damit zusammenhängend Quapps Abstammung umkreist, ergibt sich somit aus Geyrenhoffs eigener Verstrickung in die Geschehnisse, auch wenn er lange braucht, um diesen Zusammenhang zu erkennen.177 Motivisch wird Geyrenhoffs Charagiel-Erlebnis über eine vermeintliche Kindheitserinnerung bzw. einen Traum aus seiner „Klein-Buben-Zeit“ (DD 1090) mit der Kraken- und Spinnenthematik des Romans verknüpft. Räumlich an der gleichen Stelle situiert, an der ihm zuvor das Bild der Charagiel erschienen war,178 haust in seiner Erinnerung in einer Kammer im Haus seiner Eltern „etwa so wie der Minotaurus in einem der Gänge des Labyrinths auf Kreta! – ein Geschöpf [. . .], das wie eine mächtige Spinne an der Decke oben saß, grad wo diese mit der Wand zusammen stieß“ (DD 1090).179 Vergeblich sucht Geyrenhoff nach dem Namen dieses Geschöpfes „aus Holz und Drähten“ (DD 1090). Über die deutlichen Analogien dieser imaginierten Bilder setzt sich Peter Dettmering zufolge „aus den Eindrücken verschiedener Personen [. . .] ein Mosaikbild zusammen, das sie [Charagiel] als Inbegriff des im Romantitel genannten Dämonischen, als bösen weiblichen Dämon ausweist.“180 In Weiterführung von Dettmerings Verweis auf den Medusenblick, erweisen sich die dunklen Flechten um den Kopf zusammen mit dem Bild der vielbeinigen Spinne und einer

177 Eine weitere Motivation ist sein Interesse für Friederike Ruthmayr, die indirekt von dem Betrug Levielles betroffen ist. 178 An dieser Textstelle heißt es, analog zu der Spinnen-Erinnerung, über das imaginäre Bild an der Decke: „Dort saß es.“ (DD 54). 179 Auf die interpersonale Motivik des in der oberen Zimmerecke sitzenden Spinnen-Wesens mit abstehenden Drähten, wie es auch unter dem Namen „Kubi-Kastl“ (DD 1202) bzw. „Kastl-Kubi“ (DD 1204) bei Anna Kapsreiter erscheint, wird an dieser Stelle durch Geyrenhoffs Feststellung, es handle sich nicht wirklich um eine Kindheitserinnerung, sondern um einen „Fremd-Gang“, da „etwas ganz Fremdes [ihn] betreten“ (DD 1090) habe, verwiesen. Siehe auch Kap. 5.2.3. 180 Dettmering 2006, S. 165. Auch Kerscher weist auf die „diffuse Bedrohung“ hin, „welche sich der Benennung entzieht, aber trotz der unspezifischen Qualität doch omnipräsent ist: der ‚Traum‘, der sich in der Erinnerung rätselhaft entstellt; der metaphorische (‚wie‘) und ins Mythische (‚Minotaurus‘) ausholende Versuch, ein archetypisches Grauen (‚Spinne‘) zu beschreiben, das wie ein Fremdkörper von außen herandringt und tatsächlich ganz ähnlich auch in den Traumwelten anderer auftaucht [. . .]. So entsteht der Schemen eines transpersonalen Dämons.“ Kerscher 1998, S. 331.

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späteren Bezeichnung Charagiels als „Reptil auf zwei Beinen“ (DD 1070) als Zeichen einer Identifizierung mit der mythologischen Gestalt der Medusa. Das geköpfte Medusenhaupt ist Sigmund Freud zufolge ein Symbol für das ‚kastrierte‘ weibliche Geschlecht, durch dessen Anblick Kastrationsängste ausgelöst werden: Kopfabschneiden = Kastrieren. Der Schreck der Meduse ist also Kastrationsschreck, der an einen Anblick geknüpft ist. Aus zahlreichen Analysen kennen wir diesen Anlass, er ergibt sich, wenn der Knabe, der bisher nicht an die Drohung glauben wollte, ein weibliches Genitale erblickt. Wahrscheinlich ein erwachsenes, von Haaren umsäumtes, im Grunde das der Mutter. Wenn die Haare des Medusenhauptes von der Kunst so oft als Schlangen gebildet werden, so stammen diese wieder aus dem Kastrationskomplex [. . .].181

Vor diesem Hintergrund erklärt sich das enorme Gewicht, das Geyrenhoffs Jugenderlebnis im Roman zugesprochen wird, da der Anblick Claire Charagiels in der Adoleszenz und bezeichnenderweise im Garten seiner Mutter,182 den semantischen Bezugsrahmen der Kastration eröffnet. Das von dunklen Haaren umrahmte Gesicht Charagiels wird somit zum Symbol der Vagina, als dem ‚Nicht-Geschlecht‘.183 Die „noch heute offen stehende Wunde“ (DD 1064), d. h. innerhalb dieser Logik die Kastrationswunde, wird durch seine erotische Annäherung an Friederike Ruthmayr und damit das erstmalige Sprechen über sein traumatisches Jugenderlebnis, das für ihn unlösbar mit der Aufklärung von Quapps Adoption verwoben ist, geheilt.184 Freuds Interpretation des Medusenhauptes basiert jedoch wie Klaus Heinrich herausstellt allein auf dem Schreck, den der Anblick des ‚kastrierten‘ Geschlechtsorgans hervorruft und bezieht die davon ausgehende mächtige Drohgebärde des ‚gezähnten‘ Mundes nicht mit ein:185 „Aber die Geschichten und die Mythen und

181 Sigmund Freud: Das Medusenhaupt [1941]. In: Ders.: Gesammelte Werke. Bd. 17: Schriften aus dem Nachlass. Hrsg. v. Anna Freud u. a., London 41966, S. 45–48, hier: S. 47. 182 Mehrfach wird im Zusammenhang mit dem Charagiel-Erlebnis explizit der ‚Befehl der Mutter‘ (vgl. DD 1097) bzw. das Haus der Mutter genannt: „Sie ist mir damals, ich war ja noch ein ganz junger Bursche um 1900, eigentlich noch ein Bub, im Hause meiner Mutter zum ersten Mal begegnet; ich mußte mit ihr hinabgehen und die Gartentür aufschließen“ (DD 113, vgl. auch DD 357). 183 Vgl. Luce Irigaray: Das Geschlecht das nicht eins ist. Berlin 1979, S. 22. 184 Der semantische Assoziationsspielraum der Kastration wird mit einer metaphorischen Penetration verknüpft: Durch den „Stachel der Charagiel“ (DD 1175) wird dem männlichen Körper eine Wunde zugefügt, die seine vermeintliche Geschlossenheit zerstört. Auch das Aufschließen der Gartentür lässt sich in diesem Sinne lesen. „Während die Heteronormativität der Weiblichkeit Penetrabilität geradezu als ‚Wesensmerkmal‘ einschreibt, tasten Männer, die sich penetrieren lassen, in diesem Akt die Grundfesten eines binären Geschlechterverhältnisses an, das für sie sowohl ein heterosexuelles Begehren als auch die insertive Sexualpraxis und die Abpanzerung des Körpers gegen die Penetration durch andere vorsieht.“ Benedikt Wolf: Penetrierte Männlichkeit. Sexualität und Poetik in deutschsprachigen Erzähltexten der literarischen Moderne (1905–1969). Köln u. a. 2018 (= Studien zur Literatur- und Kulturgeschichte; Bd. 72), S. 15. Siehe auch Kap. 5.2.2. 185 Vgl. Klaus Heinrich: Das Floß der Medusa. In: Faszination des Mythos. Studien zu antiken und modernen Interpretationen. Hrsg. v. Renate Schlesier, Basel u. a. 1985, S. 335–398, hier: 344.

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die Bilder der Völker beziehen dieses sehr wohl mit ein: da ist es also die mit Kastration Drohende, die mit Zähnen bewaffnete Kastratorin, und nicht die Kastrierte.“186 Die Identifikation des Medusenhauptes mit dem weiblichen Genital verweist somit auch auf das Mythenmotiv der ‚Vagina dentata‘, das als Ausdruck von Kastrationsängsten in Mythen unterschiedlichster Kulturen erscheint. Die Vagina dentata der mythischen Zeit ist ‚vor-zivilisiert‘, hat einen tiergestaltigen Bezug oder die Wesenszüge von Gestalten, die den transformatorischen Schöpfungsprozeß behindern und damit unschädlich gemacht werden müssen. Sie ist in ihrer Darstellung eindeutig bedrohlich, einer vergangenen Epoche (der tiergestaltigen) angehörig, bzw. ‚Noch-nicht-Frau‘. Sie ist überwindbar, normalisierbar und transformierbar.187

In Quapps Entwicklung zeigt sich die Transformation von der amphibischen Kaulquappe zum Frosch bzw. vom androgynen Wesen zur ‚normierten‘ Frau. Wesentlich bedrohlicher dagegen wirkt ihre Mutter, die als kastrierende Medusa reptilienhaft über die Schlange mit einem Symbol der Noch-nicht-Zivilisation – dem Drachen – assoziiert ist. Diese motivische Verknüpfung ergibt sich zunächst aus der bereits erwähnten Bezeichnung Charagiels als „Reptil auf zwei Beinen“ (DD 1070) in Verbindung mit der Tatsache, dass sich in den Dämonen eine immer wiederkehrende DrachenThematik findet. Doderer weist in seinem 1958, d. h. kurz nach der Veröffentlichung der Dämonen entstandenen Essay Die Wiederkehr der Drachen auf diese semantischen Überlagerung hin bzw. auf die „Parallelen oder Berührungen zwischen dem Drachen und den Kraken, als deren Kombination ja die Lernäische Schlange erscheint“ (WD 27). Diese besser als Hyrda bekannte vielköpfige Lernäische Schlange aus der griechischen Mythologie ist auch ein Bindeglied zwischen den mit Claire Charagiel verbundenen Medusa- und Drachen-Konnotationen. Als „Inkarnation des Widerlogischen, das der scheinbar kultivierten Humanität entgegentritt“,188 verkörpern die Drachen bei Doderer rational nicht fassbare Bereiche des eigenen Innern: Im Drachen wird der Mensch seiner archaischen Alternative ansichtig, die nur zurückgedrängt ist und keinesfalls für besiegt gelten darf, sondern stets noch Kraft besitzt und jederzeit die Oberhand zurückgewinnen kann über allen Firnis von Zivilisation und Kultur.189

Edit Király hat die emblematische Rätselstruktur des Drachen-Themas in den Dämonen untersucht und eine reihenartige Anordnung der weit auseinanderliegenden

186 Heinrich 1985, S. 344. 187 Sonja Ross: Die Vagina dentata in Mythos und Erzählung. Transkulturalität, Bedeutungsvielfalt und kontextuelle Einbindung eines Mythenmotivs. Bonn 1994 (= Völkerkundliche Arbeiten; Bd. 4). S. 189 f. 188 Albert Meier: „In die eigne Mitte“. Zu Heimito von Doderers Drakontophilie. In: Heimito von Doderer. Hrsg. v. Heinz Ludwig Arnold, München 2001 (= Text + Kritik; Bd. 150), S. 69–78, hier: S. 76. 189 Meier 2001, S. 73.

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Textstellen festgestellt.190 Erst nach fortgeschrittener Lektüre, d. h. rückblickend, wird das Initial-Gespräch über Drachen als solches erkennbar, da Renés damit einhergehende Gestik beschrieben wird, ohne dass der Inhalt des Gesprächs genannt wird: „Stangeler illustrierte, was er sagte, eben durch Bewegungen beider Hände, etwa als spreche er von irgendeinem Flügel-Tier“ (DD 244).191 Die Referenz dieses in die Luft gezeichneten Bildes wird erst in einer viel später folgenden Textstelle nachgetragen.192 Während seiner Recherchen in der Bibliothek auf Burg Neudegg denkt René an dieses nicht referierte Gespräch mit Dwight Williams zurück, bei dem sie über den Dominikaner Albertus Magnus gesprochen hatten, demzufolge „‚unterrichtete und ernstzunehmende Autoren‘ von fliegenden Drachen nichts überliefert haben“ (DD 724).193 Ausgelöst werden seine Gedanken an die phantastischen Reptilien und die reale Entdeckung des Komodo-Drachen – „Dem Drachen-Thema wuchs ja zur Zeit einige Aktualität zu“ (DD 724) – durch die Bibliothek, deren Schwerpunkt die ‚Dämonologie‘ ist. Auch ein „Traktat über die Basilisken und Drachen“ von Luigi Bossi (DD 724) findet sich dort, wodurch René an die „Zoologie des Mittelalters [erinnert wird], nach welcher der Drache zur dritten Ordnung der Schlangen gehört, jener nämlich, deren Biß lebensgefährlich ist auch ohne Gift . . .“ (DD 725). All diese Informationen über Drachen und Dämonen finden sich im selben Raum der Burg, in dem auch das oben thematisierte Bildnis der Claire Charagiel geb. Neudegg an der Wand hängt. Die Bibliothek wird somit zu einer Überschneidungsfläche sowohl im semantischen als auch topographischen ‚Drachen-Raum‘. Sehr spät im Roman tritt die ‚drakontophile‘ Figur Josef Mayrinker auf, die „sehr erfüllt [. . .][ist] vom Gewürm“ (DD 1182), was durch die Entdeckung des Komodowarans noch verstärkt wird. Dieses drachenähnliche Wesen kann auf den Hinterbeinen stehen: [Es ist] mehrere Meter lang, dem Krokodil ganz unähnlich, am Lande lebend und rasch laufend, mit Schuppen, gespaltener Schlangenzunge, scharfem Gebiß, ebensolchen Krallen, gereizt sich auf die Hinterbeine setzend und in der Wut Fürchterliches auf den Feind speiend, nämlich den pestilentialisch stinkenden eigenen Magen-Inhalt: man sieht, alles war da, was eines Drachenliebhabers, eines Drakontophilen oder auch Drakontomanen Herz nur begehren kann! (DD 1182)

190 Király 1996, S. 171–179. 191 Diese Szene bei dem ‚Gründungsfest‘ der ‚Unsrigen‘, wird aus Geyrenhoffs Perspektive geschildert, der beim Eintreten unter vielen anderen Eindrücken das Gespräch zwischen Dwight Williams und René Stangeler wahrnimmt. 192 Vgl. Király 1996, S. 173. 193 Vgl. auch WD 22.

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Analog zu Geyrenhoffs Erinnerungsbildern, die ihn ‚bewohnen‘194 und ihm erscheinen, wenn er in die „obere Kahlheit des Raumes“195 blickt, ist Joseph Mayrinker von Drachen, Dinosauriern und ähnlichen Geschöpfen ‚bewohnt‘ (DD 1183) und sieht in „die obere Kahlheit des Raumes“ (DD 1183), während er an „sich nach allen Seiten [windende] Schlangenleiber“ denkt.196Dieses ‚Von-Etwas-Bewohnt-Sein‘ verweist auf die unkontrollierbaren Räume im eigenen Innern, die in der äußeren Welt der Erzählung als Hohlräume unter der Stadt und als Kavernen unter der Burg ihre Entsprechung finden. Während in Bezug auf Geyrenhoff und Charagiel die latente Drachenthematik erst dechiffriert werden muss, wird sie in der Neudeggschen Bibliothek und im Zusammenhang mit der Figur Joseph Mayrinker explizit erörtert. Diese beiden Knotenpunkte werden zudem durch einen ironischen Hinweis des Erzählers, man solle sich über nichts wundern, miteinander verknüpft.197 Claudia Öhlschläger beschreibt den Anblick des Drachen in Verbindung mit der mütterlichen Frau, auf die sich das Begehren des Protagonisten richtet, und der alten kastrierenden Frau, die dem Kind den Hals durchschneidet, als Initiationsereignis in Ludwig Tiecks Erzählung Liebeszauber:198 Seine [Emils] regressiven Sehnsüchte werden vor seinen Augen abgetötet, die imaginäre Welt der Kindheit wird dem Gesetz des Symbolischen zum Opfer gebracht. Unter dem zurückblickenden Auge des Drachens, der sich für alle Beteiligten unsichtbar aus dem Hintergrund des Mordzimmers heranwälzt, vollzieht sich Emils sexuelle Initiation, die im Zeichen des Schreckens steht.199

194 Vgl. DD 113, 357, 876, 967, 969, 1090. 195 Vgl. DD 54, 72, 240, 1090, 1129. 196 Eine explizite Verbindung von Drachen und Schlangen findet sich auch in Mayrinkers Gedanken über Mosasaurier, d. h. ‚Schlangendrachen‘ (DD 1183). Hubert Kerscher zufolge ist Mayrinker als Figur für „die Variation der bedrohlichen Qualitäten des Kraken und mithin die Bereicherung des metaphorisch-symbolischen Arsenals zur Illustration der kollektiven Ideologisierung“ entscheidend. Kerscher 1998, S. 302. 197 In Bezug auf Mayrinkers Besessenheit von Drachen heißt es: „[M]an gewöhnt sich an vieles, und das Nil admirari wird einem geradezu eingepaukt. Manche hingegen besitzen es ab ovo (das wär’ wieder eine Gelegenheit für den Sektionsrat Geyrenhoff, diesen bei ihm so beliebten Ausdruck zu gebrauchen), zum Beispiel kann man das wohl von dem Kastellan Mörbischer auf Burg Neudegg behaupten.“ (DD 1181 f.). Siehe auch Kerscher 1996, S. 302: „Gerade die ironische Glosse des amüsierten Erzählers [. . .] sollte hier als warnendes Signal gelesen werden, insofern schon Geyrenhoff den beginnenden Sexualwahn Schlaggenbergs mit eben einem solchen ‚Nil admirari‘ abgetan hatte [DD 70]“. 198 Ludwig Tieck: Phantasus [1812–1816]. In: Ders.: Schriften in zwölf Bänden. Bd. 6. Hrsg. v. Manfred Frank u. a., Frankfurt a. M. 1985 [darin Liebeszauber, S. 210–240]. 199 Öhlschläger, Claudia: Unsägliche Lust des Schauens. Die Konstruktion der Geschlechter im voyeuristischen Text. Freiburg im Breisgau 1996 (= Rombach Wissenschaften, Reihe Litterae; Bd. 41), S. 46.

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Auch in den Dämonen wird zumindest im Zusammenhang mit Geyrenhoffs Initiationserlebnis „Weiblichkeit an sich als ein Ort des Unheimlichen verhandelt“,200 der für ihn mit den geträumten Räumen seiner Kindheit, durch die er im Traum „nie ohne Furcht“ (DD 1130) geeilt ist, verknüpft ist. Die unterschiedlichen Elemente des Weiblichen, die in der Mordszene bei Tieck auf verschiedene Figuren aufgespalten sind, vereinen sich in der Gartenszene in der Figur Charagiel. Als ältere begehrte Frau im mütterlichen Garten weckt sie zuerst das Verlangen, um es gleich darauf als reptilisch konnotiertes Wesen mit ihrem kastrierenden Blick zu vernichten. In Doderers Roman Ein Umweg (1940)201 wird ebenfalls die fatale Wirkung des Drachenblicks thematisiert: Ihr Anblick lähme mitunter den Menschen, sei’s durch Schrecken, Furcht oder Abscheu, die sie erregen – manche sagen wohl auch durch den Blick des kalten Auges –, in einem Maße, daß der Betroffene, jedes Ausrufs, jedes Deutens unfähig, wie erstarrt stehe [. . .]. (U 173)

Die deutlichen Analogien zwischen diesem Effekt des Drachen(an)blicks und Charagiels Blick werden durch eine erstaunliche Korrespondenz innerhalb des Drachenthemas der beiden Romane noch verstärkt: Auch in Ein Umweg wird eine Gräfin zum „metaphorischen [Drachen]“202 und ein Drachenbildnis wird als Portrait dieser Gräfin Partsch bezeichnet (vgl. U 201). Die aufgezeigten semantischen Interferenzen lassen Claire Charagiel als internalisierten Drachen Geyrenhoffs erscheinen, gegen den es zu kämpfen gilt. Diese Deutung wird auch durch die Namensgebung gestützt, die Georg von Geyrenhoff durch seinen Vornamen als Drachentöter prädestiniert. Ein weiterer diesbezüglicher rezeptionslenkender Hinweis findet sich in der Beschreibung eines Spaziergangs, bei dem Geyrenhoff wieder einmal an seine Besessenheit von Charagiel denkt. Dabei passiert er die Oper und nimmt die davor stehenden Statuen wahr: „vorbei an Siegfried und Don Juan, die mit ihren spezifischen Erlebnissen, man möchte fast sagen Ämtern, befaßt, sich auf den Sockeln der sie überhöhenden Kandelaber darboten – jener mit dem Drachen, dieser mit dem,steinernen Gast‘ beschäftigt.“ (DD 357) Geyrenhoffs Charagiel-Erlebnis wird damit in Analogie zu Siegfrieds Drachenkampf gesetzt, der über Don Juan in einen sexuellen Kontext gebettet und im darauffolgenden Satz durch das Motiv der Lanze erweitert wird, da Geyrenhoffs Weg nun „am Lanzengitter des Burggartens entlang“ (DD 357, Hervorhebung von M.B.)

200 Öhlschläger 1996, S. 48. 201 Heimito von Doderer: Ein Umweg [1940]. München 2006. Im Folgenden abgekürzt als U. 202 Andreas Solbach: Spiel der Analogien. Metanoia, Dezision und barocke Elemente in Heimito von Doderers ‚Ein Umweg‘. In: „Ach, Neigung zur Fülle . . .“. Zur Rezeption ‚barocker‘ Literatur im Nachkriegsdeutschland. Hrsg. v. Christiane Caemmerer und Walter Delabar, Würzburg 2001, S. 171–198, hier: S. 181.

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führt. Dieses Lanzengitter rekurriert wiederum auf das vorangegangene CharagielMotiv: „Die vielen Villen dort mit den Gärten davor und den Gartengittern hatten – die Claire heraufgebracht in mir. Wenngleich die Villa meiner Mutter ja nicht in Döbling gelegen war.“ (DD 357, Hervorhebung von M.B.). Das traumatische Initiationsereignis im mütterlichen Garten, das durch die Gartengitter evoziert bzw. getriggert wurde, wird nun mit der Lanze als dem Attribut des Heiligen Georg, mit dem er den Drachen besiegt, beantwortet. Die weiblich konnotierte bzw. auf die Penetrierbarkeit des Körpers verweisende, Gartenpforte wird im Zuge des verspäteten sexuellen Reifungsprozesses Geyrenhoffs von der phallischen Lanze abgelöst. So wird die effeminierende Wirkung der Gartenpforte und der Metapher des Stachels, der in den jugendlichen Körper eindringt und eine Wunde hinterlässt, im Zuge der ‚Mensch-‚ bzw. ‚Mannwerdung‘203 der Figur aufgelöst.204 Das ‚zersetzende‘ Erbgut (vgl. DD 715) ihrer Mutter kommt in Quapp deutlich zum Vorschein. Gleichzeitig sind ihr jedoch drei Vaterfiguren zugeordnet, die zumindest über ihre Namen eine beschützende Funktion zugeschrieben bekommen: Sowohl ihr ‚Stiefvater‘ Geyrenhoff als auch ihr leiblicher Vater Georg Ruthmayr tragen den Vornamen des heiligen Drachentöters. Der Vorname ihres Ziehvaters Eustach von Schlaggenberg bedeutet ‚der Standfeste‘ und auch der heilige Eustachius ist wie Georg einer der vierzehn Nothelfer.205 Quapps ritterliche Herkunft kommt auch in der Bezeichnung als „junger, gerader Ritter“ (DD 831) zum Ausdruck. Auf dieser Bedeutungsebene ist Quapp die Tochter eines Drachen und eines potenziell Drachen besiegenden Ritters. Das drachenhafte Element ihrer Mutter ist in Quapp als Möglichkeit angelegt; es scheint jedoch durch die diversen ‚väterlichen‘ Einflüsse soweit gebändigt zu sein, dass es in Quapp nicht zum Durchbruch gelangt. Der Ausgangspunkt dieser Erörterungen war die Frage nach dem Ursprung der ‚Nichtigkeit‘ Quapps. Ihr letzter Auftritt im Roman bescheinigt ihr völlige Bedeutungslosigkeit als Mensch und steht im Kontrast zu der „Ehrenbezeigung [des Autors] vor seiner Figur“ (DD 1112) Leonhard Kakabsa. Sigrid Nieberle weist darauf hin, dass „das Konzept der Menschwerdung in Doderers Œuvre [. . .] erstaunlich geschlechtsneutral diskutiert [wird], obgleich die Idee der Apperzeptionsverweigerung [. . .] mit seiner Positivismuskritik überdeutlich an das aufklärerische Kantianische männliche Subjekt anknüpft“.206 Leonhard hat die „Freiheit der standpunkt-

203 Den Begriff der ‚Mannwerdung‘ übernehme ich von Sigrid Nieberle, die ihn in Bezug auf den Protagonisten Julius Zihal in Doderers Roman Die erleuchteten Fenster verwendet. Nieberle 2006, S. 129. 204 Siehe auch Kap. 5.2.2. 205 Vgl. Lexikon der christlichen Ikonographie. Begr. v. Engelbert Kirschbaum; hrsg. v. Wolfgang Braunfels, Bd. 6: Ikonographie der Heiligen. Freiburg im Breisgau u. a. 1974, Sp. 194–199. Im Folgenden abgekürzt als LCI. 206 Nieberle 2006, S. 130.

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nehmenden Person“ (DD 159)207 erlangt und damit eine mustergültige ‚Menschwerdung‘ im Sinne Pico della Mirandolas durchlaufen, dessen Text Von der Würde des Menschen er in Geschlecht und Charakter von Otto Weininger gelesen hat (vgl. DD 655–659). Während Leonhard seine heldenhafte Zukunft vor sich hat, steht bei Quapp das, was sie zurückgelassen hat, im Vordergrund. Dies wird anhand des nochmals von der Erzählinstanz aufgegriffenen Geigenkastens deutlich: Es war nicht so, daß er [Leonhard] vermeinte, dort im Erholungsheim [. . .] etwas vergessen oder liegengelassen zu haben (und was hätte das gewesen sein können?), etwa wie Quapp einst in fiktiver Weise ihren Geigenkasten stehen ließ, einmal in der Kärntnerstraße und, genau genommen, eigentlich noch einmal, am Anfang der Mariahilferstraße nämlich. Nein, hinter sich gelassen hatte er dort nichts, wohl aber etwas vor sich: wie eine zu vollziehende Verrichtung. (DD 1334)

Auch in Bezug zu Beethoven werden die beiden Figuren einander kontrastierend gegenübergestellt. Mit Blick auf Quapps problematisches Verhältnis zur Eroicagasse und den damit verknüpften Motiven fällt das Beethoven-Zitat im Zusammenhang mit Leonhards Apotheose als Abschluss seiner Geschichte in den Dämonen auf: „Der Anfang des Anfangs vom Anfang, dumpfer Entwurf zum Helden, den jedes Leben meint. In früher Jugend bereits fühlt es sich aufgelegt, große Handlungen zu verrichten.“ (DD 1335)208 Während das Ende der Leonhard-Handlung zu einem Anfang deklariert wird, endet die Erzählung von Quapp mit ihrer Bedeutungslosigkeit. Dennoch nimmt ihre Geschichte einen großen Raum ein und der Roman zeichnet ihre Entwicklung von einem androgynen Wesen zu einer Frau bzw. von der Kaulquappe zum Frosch detailliert nach.209 Nachdem sie lange Zeit aus männlicher Sicht nur ein „der Kleidung nach weiblicher Mensch“ (DD 165) gewesen war, gewinnt sie nun eine weiblich konnotierte Ausstrahlung hinzu, die wiederum in einem imaginären Bild einer männlichen Figur geschildert wird. Geyrenhoff nimmt in „Quapp’s Nachbild vorm inneren Blicke [wahr,][. . .] wie hübsch sie eigentlich heute aussah“ (DD 1153) mit den ‚weiblichen Attributen‘, die sie nun umgeben (Hütchen, Sommerkleid, Handschuh, ihr Teint und ihr Parfüm).210 Auf diese „seltsame, zwischen Bedeutungslo-

207 Zu Beginn von Leonhards Entwicklungsgeschichte erklärt ihm der Buchhändler Fiedler die Entstehung Europas: „Die philosophische Methode der absolut freien Dialektik verlangte die Freiheit der standpunkt-nehmenden Person, die demokratische Freiheit, den Bürger“ (DD 159). 208 Der zweite Satz dieses Abschnitts zitiert Beethovens Heiligenstädter Testament. Vgl. Banauch 2001, S. 78. 209 Die Bezeichnung als Frosch geht auf Kajetan zurück, der meint, in ihrer Kindheit habe sie ausgesehen wie ein „dummer Quak-Frosch“ (DD 1076), wohingegen er sie nach der Erbschaft mit „Quapp-Frosch“ (DD 1086) anspricht. 210 Auch als am 15. Juli 1927 der Justizpalast brennt, ist sie „charmant in Kleid und Hütchen [gekleidet und sieht] [. . .] außerordentlich putzig aus“ (DD 1326).

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4 Thematisierung und Imitation von Musik in Die Dämonen

sigkeit und liebevoller Detailschilderung von Äußerlichkeiten oszillierende Weiblichkeitsdarstellung Doderers“211 verweist auch Eva Reichmann. Analog zu der ‚Menschwerdung‘ müsste man hier von einer ‚Frauwerdung‘ sprechen, die jedoch ins ‚Nichts‘ führt. Als androgynes Wesen hält Quapp an einer Idealvorstellung fest, die die Karriere zum Inhalt hat. Als Frau denkt sie über den ‚geeigneten‘ Mann nach, heiratet diesen, folgt ihm in eine fremde Stadt, wo er eine angesehene Stellung hat und verabschiedet sich von ihrem sozialen Umfeld und von der professionellen Musik, scheint aber auch keine weiteren Berufswünsche zu haben. Die ‚Frauwerdung‘ geht demnach mit dem Verlust der individuellen Persönlichkeit einher, da der weibliche Mensch, nachdem er seine ihm traditionell zugedachte Rolle akzeptiert hat, aufgrund der genetischen Determiniertheit keine ‚Bedeutung‘ mehr hat. Da sich Quapps „Dasein und Denken unterhalb jeglichen Begriffskanons“ (DD 941) abspielt, kann sie auch die von Kajetan und René übernommenen philosophischen Begrifflichkeiten nur verzerrt auf ihr „höchstpersönliches Dasein“ (DD 941) anwenden. Diese ‚Nichtigkeit‘ der Frau an sich, die Doderer in den Commentarii in Bezug auf die Figur Monica Bachler aus dem Roman Die Wasserfälle von Slunj feststellt,212 verweist ebenfalls auf den Einfluss Weiningers, bei dem die Frau ein „Symbol des Nichts“213 ist: „das Weib ist nichts, es ist nur Materie.“214 Dem entspricht die oben aufgezeigte genealogische Herkunft Quapps, deren Mutter über die MedusaAssoziation den Schrecken des weiblichen Geschlechtsorgans symbolisiert – die Vagina als verschlingendes kastriertes und kastrierendes ‚Nichts‘. Gleichzeitig evoziert sie über die Drachen-Konnotationen auch die Vorstellung einer vorzivilisierten und nicht-domestizierten bedrohlichen Weiblichkeit. Der „glorreiche Weininger“ (DD 659) wirkt sich somit in diametral entgegen gesetzter Weise auf Leonhard und auf Quapp aus und liefert eine mögliche Erklärung für Quapps musikalische und menschliche ‚Nichtigkeit‘. In diese Überlegungen fügt sich auch die These Hubert Kerschers ein, der in Quapp eine „Chiffre für die [. . .] dämonische Leerstelle“215 des Romans bzw. ein „‚mise en abyme‘ der dem Roman zugrunde liegenden ideellen Konstruktion“216 sieht. Das „keimweis“ (DD 21) bereits in der Ouvertüre angedeutete Übel des aufkommenden Nationalsozialismus korrespondiert demnach mit dem Namen ‚Quapp‘, der

211 Reichmann 2001, S. 83. 212 „Monica: ein Nichts. Wie alle“ (CII 217, 04.01.1960). Kurz darauf vermerkt Doderer, Monica sei „nichtig wie alle Weiber“ (CII 219, 15.01.1960). Heimito von Doderer: Commentarii 1957–1966. Tagebücher aus dem Nachlass. Hrsg. v. Wendelin Schmidt-Dengler, München 1986. Im Folgenden abgekürzt als CII. Vgl. auch Baumann 2003, S. 187. 213 Weininger 1903, S. 398. 214 Weininger 1903, S. 393. 215 Kerscher 1998, S. 342. 216 Kerscher 1998, S. 343.

4.1 Musikalität und Apperzeption

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sich auf ein „Wesen [. . .] im Vor-Stadium“ (DD 165) bezieht.217 Die Umkreisung einer Leerstelle bzw. eines bedrohlichen ‚Nichts‘, das sich dem sprachlichen Zugriff entzieht, macht die Verbindung aus dem ‚schönen Schein‘218 der Rückseite Claire Charagiels, mit dem dazugehörigen grauenvollen und zugleich ‚nichtigen‘ Gesicht, als Verarbeitung der Verstrickungen Doderers in den Nationalsozialismus deutlich:219 „Die Wurzel des Scheiterns seiner Projektionsfigur Geyrenhoff personifiziert Doderer im Roman in der Figur der Gräfin Charagiel, welche damit per analogiam als NSChiffre fungiert.“220 Der Begriff der ‚Nichtigkeit‘ lässt sich, wie ich oben dargelegt habe, auf ein misogynes Geschlechterkonzept zurückführen; in Verbindung mit Kerschers Interpretation der Figuren Quapp und Charagiel, werden die semantischen Überlagerungen der ambivalenten zugleich bedeutungsleeren und bedrohlichen Weiblichkeit mit einer Leerstelle des Romans erkennbar. Diese, wie ein Vakuum in den Text eingeschlossene sprachlich nicht fassbare Bedrohung, lässt sich als indirekte Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus interpretieren und kommt in Variationen der ‚zweiten Wirklichkeit‘ im Roman zum Ausdruck. Quapps geschlechtsspezifische Problematik zeigt sich auch daran, dass sie versucht, bei philosophischen Gesprächen mit ihren männlichen Freunden mitzuhalten, während von Erzählerseite stetig die Sinnlosigkeit und zuweilen auch Schädlichkeit dieses Unterfangens betont wird. Daher wird René, der Quapps „Weiblichkeit [. . .] als einen ganz unerheblichen und nicht in Anschlag zu bringenden Umstand einfach beiseite [schiebt]“ (DD 943) unterstellt, sich „fast eine Art Experiment“ (DD 942) mit ihr zu erlauben, indem er ihr seine Theorien zum Begriff des ‚Schöpferischen‘ darlegt. Seine Auffassung „alles ‚Schöpferische‘ sei nur nachschaffend [. . .] und der ganze ‚produktive Akt‘ sei nichts anderes als eine bis zur äußersten Unverstelltheit gebrachte, gänzlich freie Apperzeption“ (DD 942), löst in Quapps Verständnis den „Unterschied, den nach wie vor jeder vernünftig Denkende zwischen den produktiven und reproduktiven Künsten macht“ auf und wird von ihr als „Rangerhöhung“ (DD 942) aufgefasst. Indem René diesen Unterschied negiert und als „unerheblich“ (DD 942) darstellt, entsteht ein Analogie-Verhältnis zu seiner Nicht-Wahrnehmung von Quapps Weiblichkeit, die er ebenfalls als „unerheblichen [. . .] Umstand“ (DD 942 f.)

217 Vgl. Kerscher 1998, S. 342. 218 Kerscher verweist auf die Anklänge an das von Peter Reichel beschriebene „widersprüchliche Doppelgesicht“ des Nationalsozialismus – „die Entfesselung brutaler Gewalt und die Inszenierung von schönem Schein“. Peter Reichel: Der schöne Schein des Dritten Reiches. Gewalt und Faszination des deutschen Faschismus. Hamburg 2006 (= Ellert & Richter Zeitgeschichte), S. 34. Vgl. Kerscher 1998, S. 336 f. 219 „An der Schnittstelle zwischen desaströser Vergangenheit und unheilschwangerer Zukunft symbolisieren Nicht-Gesicht, Doppel-Gesicht und embryonaler Charakter die Latenz des Bösen.“ Kerscher 1998, S. 342 f. 220 Kerscher 1998, S. 336.

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4 Thematisierung und Imitation von Musik in Die Dämonen

ansieht. Von der Erzählinstanz wird die Nivellierung der Unterschiede zwischen Produktion und Reproduktion, sowie zwischen den Geschlechtern, kritisch kommentiert und René als „ein rechter ‚Apperzeptions-Verweigerer‘“ (DD 943) bezeichnet. Durch die Parallelisierung von Kunst und Geschlecht wird Weiblichkeit mit Reproduktion verknüpft und der männlichen Produktivität gegenübergestellt. Der Textausschnitt schließt somit an Weiningers Aussagen zum Verhältnis zwischen Geschlecht und Kunst an: Da die Frau resp. das weibliche Prinzip von Genialität, Individualität und Produktivität ausgeschlossen sei, könne sie „keinen Unterschied zwischen Virtuos und Künstler“221 erkennen. Daher hätten Frauen in Bereichen, in denen „es deutlich auf kraftvolle Formung ankommt, [. . .] nicht die kleinste Leistung aufzuweisen: nicht in der Musik und nicht in der Architektur, nicht in der Plastik und nicht in der Philosophie.“222 Buchholz verweist auf Charlotte von Paumgarten als das historische Vorbild für die Figur Quapp: „Ob Doderer das Schicksal der Gräfin letztendlich als Bestätigung für Weiningers Thesen zum negativen Verhältnis von der Frau zur Kunst ansah, läßt sich nicht mit Sicherheit beantworten.“223 Da es mir um die aus dem Text rekonstruierbaren Weininger-Einflüsse geht und nicht um Doderers persönliches Verhältnis zu Frauen, wie es aus Zeitzeugenberichten usw. zu rekonstruieren wäre, ist diese Frage hier nebensächlich. Trägt man jedoch die Textstellen, in denen es in den Dämonen um Künstlerinnen geht und die oben aufgezeigte Bedeutungsebene zusammen, so scheint die an der Figur Quapp gespiegelte Problematik des Verhältnisses von Frau und Kunst, zumindest was die Dämonen betrifft, tatsächlich Weiningers diesbezügliche Thesen zu bestätigen.224 Im folgenden Kapitel werden daher auch die Erwähnungen anderer weiblicher Kunstschaffender sowie negativ bewertete Musik zu untersuchen sein.

4.2 ‚Nicht-Kunst‘ und ‚Apperzeptionsverweigerung‘ Während europäische ‚ernste‘ Musik für Doderers gesamtes Werk eine herausragende und zumeist positive Rolle spielt, sowohl was die Thematisierung betrifft, als auch in Bezug auf die Orientierung an musikalischen Techniken und Formen, ist die sogenannte ‚Unterhaltungsmusik‘ meist durch die Art der Darstellung und den mit Tanzmusik verknüpften Handlungen negativ konnotiert.225 Quapps Musikstudium bezieht sich zwar auf die ‚ernste‘ Musik, die über den Beethoven-Bezug im

221 Weininger 1903, S. 132. 222 Weininger 1903, S. 152. 223 Buchholz 1996, S. 172. 224 Das einmalig erwähnte Fräulein Gagler hat meines Erachtens zu wenig Aussagekraft, um als „positives Gegenbeispiel“ gewertet zu werden, wie dies Buchholz tut. Vgl. Buchholz 1996, S. 172. 225 Vgl. Buchholz 1996, S. 44.

4.2 ‚Nicht-Kunst‘ und ‚Apperzeptionsverweigerung‘

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Kontext der Autonomie-Ästhetik steht; sie scheitert jedoch an dieser Musik, da ihr der künstlerische Affekt fehlt. Ihre musikalischen Übungen werden daher nicht dem Bereich der Kunst zugeordnet, sondern mit den von einer Maschine verursachten Geräuschen gleichgesetzt.226 Ebenso verhält es sich mit der als ‚Nicht-Kunst‘ dargestellten oftmals englischsprachigen ‚Unterhaltungsmusik‘ in den Dämonen, die mit Aspekten der Fremdheit und Nicht-Authentizität konnotiert ist und im Kontext der massenkompatiblen Verwertbarkeit auch anderer wissenschaftlicher und künstlerischer Produkte steht.227 In Kapitel 4.2.1 wird die Einbettung der ‚Unterhaltungsmusik‘ innerhalb der Apperzeptionsthematik analysiert, in der sie der ‚zweiten Wirklichkeit‘ zugeordnet ist und in diesem Kontext häufig mit negativ bewerteten sexuellen Handlungen auftritt. Die auf ‚Vermarktung‘ abzielenden Produkte, denen der Kunstcharakter abgesprochen wird, stehen auch in Kapitel 4.2.2 im Fokus. Vor allem die Erzeugnisse weiblicher ‚Künstlerinnen‘ bzw. Frauen, die „an der Peripherie der Künste“ (DD 925) tätig sind, werden mit Infektions- und Krankheitsmetaphern beschrieben und verkörpern die ‚zweite Wirklichkeit‘ im Bereich der Kunstproduktion.

4.2.1 ‚Unterhaltungsmusik‘ Musik, die markiert ist als nicht-hochwertiger und nur der Unterhaltung dienender Zeitvertreib bzw. als ‚Gebrauchsmusik‘, wird in den Dämonen im Zusammenhang mit den Freundesgruppen der ‚Unsrigen‘ und dem sogenannten ‚Troupeau‘ thematisiert, sie wird vor der lärmenden Geräuschkulisse von Nachtcafés beschrieben und als von einer Figur gesungener Schlagertext zitiert. In allen diesen Kontexten ist sie mit Aspekten wie Krankheit, Rausch, oder Massenzusammenkünften, die u. a. mit Insektenmetaphern beschrieben werden, verknüpft und erklingt in Zusammenhängen, in denen die Integrität des Individuums und die Personengrenzen bedroht erscheinen. Torsten Buchholz führt die negative Bewertung der von ihm sogenannten ‚Tanzmusik‘ in Doderers Werk auf den Einfluss Arthur Schopenhauers zurück, demzufolge durch die schnellere Erreichung des Grundtones in der Tanzmusik auch eine schnellere und damit qualitativ minderwertige Befriedigung erreicht werde. ‚Ernste‘ Musik dagegen zeichne sich gerade durch die weiten Umwege über andere Tonarten und damit die Herauszögerung der Befriedigung aus.228

226 Vgl. Kap. 4.1.2. 227 Kató hat darauf hingewiesen, dass Musik „[n]och mehr als die Sprache [. . .] von der Abgegriffenheit und der Banalisierung durch das alltägliche Leben gekennzeichnet, entwertet und zur ‚zweiten Sprache‘ gemacht [wird].“ Kató 1985, S. 350. 228 Vgl. Buchholz 1996, S. 43.

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4 Thematisierung und Imitation von Musik in Die Dämonen

Die kurzen, faßlichen Sätze rascher Tanzmusik scheinen nur vom leicht zu erreichenden, gemeinen Glück zu reden; dagegen das Allegro maestoso, in großen Sätzen, langen Gängen, weiten Abirrungen, ein größeres, edleres Streben, nach einem fernen Ziel, und dessen endliche Erreichung bezeichnet.229

Besonders deutlich hat Doderer das Prinzip des Umwegs in der Strudlhofstiege ausgeführt, in der die Stiege als architektonisches Bauwerk die Struktur des Romans spiegelt und als zentraler Bezugspunkt für die Musikalisierung des Textes fungiert. In Anlehnung an Schopenhauer, der die nur im Raum seiende Architektur und die nur in der Zeit sich entfaltende Musik als Antipoden innerhalb der Künste bezeichnet,230 lässt sich die Architektur, in diesem Fall die Stiege, als „gefrorene Musik“231 verstehen. Die Dämonen haben kein solches Zentrum, an dem sich die Musikalisierung des Romans manifestiert. Der indirekte Weg und die damit verbundene Selbstbezüglichkeit der Kunst sind aber auch in diesem Roman wesentliche Prinzipien und so ist es nicht verwunderlich, dass ‚zweckgebundene‘ Kunst im romaninternen Weltbild mit negativen Eigenschaften belegt wird. Die Darstellung der ‚Unterhaltungsmusik‘ (U-Musik) in Abgrenzung zur ‚ernsten‘ Musik (E-Musik) in Doderers Werk spiegelt die „Dichotomie von ‚hoher‘ und ‚niederer‘ Musik“232 wider, die sich in der Musikästhetik des neunzehnten Jahrhunderts herausgebildet hat, innerhalb derer alle Musik, die gezielt auf die Erfüllung bestimmter Funktionen hin konzipiert wurde, die nach dem Publikumszuspruch ‚schielte‘ oder auf den ökonomischen Erfolg aus war [. . .], in den Augen der Gebildeten a priori den Anspruch auf Kunst [vergab], sie war eben ‚oberflächliche Unterhaltungs- und Modeware‘ [. . .], die nicht von Tondichtern, sondern von ‚Musikfabrikanten‘ (Liszt) und ‚Kunstindustriellen‘ (Wagner) produziert wurde.233

Die Gattungsbezeichnung ‚Unterhaltungsmusik‘, zu der auch die Kategorie Tanzmusik zu zählen wäre, ist überaus fragwürdig und wurde innerhalb der Musikästhetik vielfach problematisiert. Als Kategorie für die Untersuchung der Musik in den Dämonen ist der Begriff jedoch zweckdienlich, da Musik, die sich unter diesem

229 Arthur Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung [1819]. Bd. I. Hrsg. v. Ludger Lütkehaus nach der Ausgabe letzter Hand der 3., verbesserten und beträchtlich vermehrten Auflage von 1859, Zürich 1999, S. 345. [= Schopenhauer 1999a]. 230 Vgl. Arthur Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung [1819]. Bd. II. Hrsg. v. Ludger Lütkehaus nach der Ausgabe letzter Hand der 3., verbesserten und beträchtlich vermehrten Auflage von 1859, Zürich 1999, S. 527. [= Schopenhauer 1999b]. 231 Schopenhauer 1999b, S. 528. 232 Bernd Sponheuer: Musik als Kunst und Nicht-Kunst. Untersuchungen zur Dichotomie von ‚hoher‘ und ‚niederer‘ Musik im musikästhetischen Denken zwischen Kant und Hanslick. Hrsg. v. Friedhelm Krummacher und Wolfram Steinbeck, Kassel u. a. 1987 (= Kieler Schriften zur Musikwissenschaft; Bd. 30). 233 Andreas Ballstaedt: Unterhaltungsmusik [Art.]. In: Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Allgemeine Enzyklopädie der Musik. 2. neubearbeitete Ausgabe. Sachteil 9. Hrsg. v. Ludwig Finscher, Kassel/Basel 1998, Sp. 1186–1199, hier: Sp. 1188.

4.2 ‚Nicht-Kunst‘ und ‚Apperzeptionsverweigerung‘

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Begriff zusammenfassen lässt, innerhalb des Romans funktionalisiert wird, um die „Primitivelaborate“, die „im Grunde mit Musik als Kunst nichts zu tun [haben]“234 in Opposition zu ‚echter‘ Kunst zu setzen. In der hier zitierten älteren Fassung des Musiklexikons Die Musik in Geschichte und Gegenwart (MGG 1951–1986), die zeitlich der Entstehung der Dämonen näher steht als die zwischen 1994–2007 erschiene und zugleich überarbeitete Fassung des Lexikons,235 wird die Trennung in U- und E-Musik noch mühelos vollzogen. ‚Unterhaltungsmusik‘ wird von Anton Würz definiert als „Musik, die in gefälliger Aussage- und Klangform dem Hörvergnügen dient und sich an einen breiteren Kreis von Menschen wendet als etwa die große Sinfonik [. . .]“.236 Der „U-MusikLiebhaber“ sei teilnahmslos gegenüber allem, „was vom Hörer einen besonderen Aufwand an geistiger Aufmerksamkeit, seelischer Spannkraft, überhaupt an Willen zu innerem Aufschwung und zur Erhebung über sich selbst und den platten Alltag [. . .]“237 erfordere und mit seiner „oberflächlichen Grundeinstellung“ v. a. an den „knalleffekthaften Stimmungshöhepunkten“238 der ‚leichten‘ Musik interessiert. Bernd Sponheuer beschreibt in seiner Arbeit Musik als Kunst und Nicht-Kunst. Untersuchungen zur Dichotomie von ‚hoher‘ und ‚niederer‘ Musik im musikästhetischen Denken zwischen Kant und Hanslick diese Darstellung der ‚Unterhaltungsmusik‘ in der alten Fassung der MGG als Reproduktion eines Kanon[s] von Normen und Wertkriterien, der im Zusammenhang der klassischen Autonomieästhetik Weimarer, vor allem Schillerscher Prägung in den 90er Jahren des 18. Jahrhunderts entstanden ist und für den engeren Bereich der Musikästhetik etwa durch Hanslick seine klassische Formulierung erfahren hat.239

Die „vom Primat des Geistigen [ausgehende] Aufspaltung der Musik in eine ‚höhere‘ und eine ‚niedere‘ Sphäre“, lasse sich als Strategie der Musikästhetik verstehen, um mit dieser Dichotomisierung eine „Anerkennung der Musik als autonomie-ästhetisch legitimierter Kunst“240 zu erreichen. Die sexuellen Konnotationen der ‚Unterhaltungsmusik‘ in den Dämonen entsprechen der Polarisierung von Musik in die beiden Extreme der ‚Göttin‘ und der ‚Kurtisane‘ – das entsinnlichte Absolute und das absolut Sinnliche als polare Gegenbilder der ästhetischen Versöhnung [. . .][, die] das theoretische Grundmodell [. . .][bilden], von dem nahezu alle Bestimmungen der Musik als Nicht-Kunst ihren Ausgang nehmen.241

234 Würz 1966, Sp. 1139. 235 Im Folgenden abgekürzt als MGG. 236 Würz 1966, Sp. 1138. 237 Würz 1966, Sp. 1140. 238 Würz 1966, Sp. 1148. 239 Sponheuer 1987, S. 2. 240 Sponheuer 1987, S. 7. 241 Sponheuer 1987, S. 178.

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4 Thematisierung und Imitation von Musik in Die Dämonen

Eine Figur, die in den Dämonen als der „Spezialist für moderne Tanzmusik“ (DD 1015) angeführt wird, ist Bill Frühwald. Er ist „ein hervorragender Improvisator leichter Sachen am Klavier, eigentlich ein perfekter Bar-Pianist“ (DD 77) und gehört zum Kreis um Eulenfeld, d. h. zu den sogenannten ‚Troupisten‘, deren „Alkoholexzesse [. . .] von den Tango- und Slow-Fox-Klängen aus Beppo Draxlers Doppelgitarre“242 begleitet werden. Ihre ausschweifenden Zusammenkünfte enden in Rauschzuständen, die mit Orientierungsverlust einhergehen und als „Nebelflecke“ (DD 75) bezeichnet werden. Die negativen Konnotationen dieser von Musik begleiteten Rauschzustände stehen dabei nicht immer im Vordergrund, sind aber stets latent vorhanden. Zusammen mit Bill Frühwald wird mehrfach Oki Leucht genannt, der auch zu den ‚Troupisten‘ gehört, „ein Schlagetot von gut einem Meter und fünfundachtzig Länge, und den wulstigen Lippen eines Negers“ (DD 502), zu dessen Anatomie Frühwald Ähnlichkeiten aufweist, „nur ohne dessen ausgesprochene Negerlippen, ohne das totschlägerische, gangsterhafte überhaupt“ (DD 507). Das in dieser Charakterisierung hervortretende Moment der ‚Fremdartigkeit‘, das an dieser Stelle rassistische Züge trägt, ist zunächst festzuhalten. Es wird sich in den folgenden Untersuchungen der ‚Unterhaltungsmusik‘ in den Dämonen, den ihr zugeordneten Figuren, Erzählhandlungen und Konnotationen erweisen, ob sich eine paradigmatische Opposition von ‚fremd‘ und ‚eigen‘ feststellen lässt, in der Tanzmusik Ausdruck des ‚Fremdartigen‘ ist, gegen das sich die Wiener Welt (und darin eingeschlossen die traditionelle europäische Musik) abzugrenzen hat. Einer der repetitiv im Roman erzählten ‚Nebelflecke‘ führt zum Palais Ruthmayr, dessen Gartenzaun von einigen Mitgliedern des ‚Troupeaus‘ überstiegen wird. Zu den Tangoklängen aus Beppo Draxlers Gitarre nimmt die auf die Terrasse getretene Friederike Ruthmayr eine ihr gereichte Flasche entgegen, um daraus zu trinken. Diese Szene wird dreimal aus der Perspektive des Chronisten Geyrenhoff geschildert, wobei sich ihre Bedeutung sukzessive erweitert.243 In der ersten Erzählung dieses Ereignisses heißt es, daß ihr eine halbvolle Cognacflasche entgegengeschwungen wurde. Aus der sie trank. Aus der sie trank!!! (Oder wenigstens so tat, als ob sie trinke.) Man kann hier gar nicht genug Ausrufungszeichen hersetzen. [. . .] Plötzlich war alles weg. Friederike hörte ein Automobil anfahren [. . .]. (DD 115 f.)

242 Buchholz 1996, S. 178. 243 Die musikalische Untermalung der Gartenszene wird in einer vorhergehenden Textstelle vorbereitet, in der Geyrenhoff den ersten Eindruck schildert, den Beppo Draxlers Gitarrenspiel auf ihn ausübt, nachdem der „unheildrohende Schwarm“ (DD 79), d. h. die Troupisten, durch die Stadt gefahren waren: „Die Mitte der weiten Bodenfläche war ganz von tanzenden Paaren erfüllt, die sich sehr ruhig bewegten, Slow-Fox und Tango Milonga. Im ersten Augenblicke hatte ich vermeint, daß hier eine kleine Kapelle spiele, eine Art Mandolinen-Orchester mit Banjo; jedoch das polyphone Getön wurde von einem einzigen jungen Herrn erzeugt, der mit geradezu stupender Meisterschaft eine große Doppel-Guitarre handhabte; obendrein sang er dann und wann zu seinem Saitenspiele, spanische und englische Texte“ (DD 79).

4.2 ‚Nicht-Kunst‘ und ‚Apperzeptionsverweigerung‘

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Später erinnert sich Geyrenhoff während eines Gesprächs, an die Nacht vor Friederikes Fenster, in der sie die „dargebotene Flasche ergriffen hatte, zugleich umworben von den schmelzenden Tangoklängen aus Beppo Draxlers Guitarre!!! (man kann hier gar nicht genug Ausrufungszeichen hersetzen!)“ (DD 356). Durch die Kommentierung der Ausrufezeichen wird die Unwahrscheinlichkeit dieses Ereignisses betont und auf die scheinbare Unvereinbarkeit zweier aufeinanderprallender Lebenswelten hingewiesen. In der letzten Repetition wird die Szene um einige Differenzierungen und den Kontext, aus dem Friederike gerade kommt, erweitert. Geyrenhoff sieht in Gedanken Friederike in der Glastür (oder am Fenster?) der Terrasse stehen, tief in der Nacht, ohne jedes Erschrecken und ohne Furcht vor der Bande, die da zum Teil über das Gartengitter gestiegen war, unter den Klängen von Beppo Draxlers Guitarre; und man reichte ihr eine halb-volle CognacFlasche hinauf. Sie hat sicher nur so getan, als ob sie daraus trinke; aber sie hat doch die Flasche entgegengenommen und wieder zurückgereicht. Sie trug noch ein (diesmal nicht braunes) Seidenkleid von dem Besuch ihrer Loge in der großen Oper her; und hinter ihr fiel durch die offene Glastür das Licht aus des toten Rittmeisters Zimmer auf die Terrasse. Und plötzlich waren alle weg, war alles weg, verstummte die Guitarre, hörte sie ein Auto anfahren. (DD 1173)

Ihre soziale Stellung und der erwähnte Opernbesuch bilden den Kontrast zu der ‚Bande‘ vor ihrem Fenster, der sich auch musikalisch zwischen der (Wiener) Oper und der (amerikanischen) Tanzmusik spannt, d. h. zwischen E- und U-Musik, deren Vertreter „gewissermaßen als zwei wesens- und sprachverschiedene Völkerschaften leben“244, wie es noch im Artikel ‚Unterhaltungsmusik‘ von Würz heißt. Während die europäische Opernmusik in den Dämonen dem Individuum und dem ‚Eigenen‘ zugeordnet ist, wird die ‚Unterhaltungsmusik‘ mit der negativ konnotierten Gruppenbildung und über die fremdsprachigen Texte (vgl. DD 79) mit dem ‚Fremden‘ verknüpft. Die sich vergnügende Gruppe hebt an dieser Stelle v. a. die Einsamkeit hervor, in der Friederike als reiche Witwe gefangen ist. Sie ist zugleich die Figur im Roman, die am stärksten mit der Oper verknüpft ist, wobei es die Wiener Oper Der Rosenkavalier (1911) von Richard Strauss ist, mit deren Handlung die Erzählung um Friederike Parallelen aufweist. Die theriomorphisierende Charakterisierung der Gruppe, die als „Herde“ (DD 76) ihrem Anführer Eulenfeld folgt, ist gekennzeichnet durch eine Dynamik, in welcher der Einzelne scheinbar keine Verantwortung trägt und blind der Masse folgt, mit dem damit einhergehenden Verlust an Individualität. Die „sich über jede freie Entscheidung und kritische Distanzierung hinwegsetzende Gewalt der Gruppenbildung“245 zeigt sich sowohl in dem Begriff „Troupeau“, als auch in dem als „Menschenjagd“ (DD 77) bezeichneten Einsammeln von neuen ‚Mitgliedern‘ und in der Verbildlichung der Menschenmasse als ‚Schwarm‘, der sich „brausend in die dichte

244 Würz 1966, Sp. 1141. 245 Kerscher 1998, S. 270.

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4 Thematisierung und Imitation von Musik in Die Dämonen

Stille“ (DD 78) ergießt. Die Austauschbarkeit der Personen zusammen mit einem weiteren Vergleich mit in Schwärmen auftretenden Insekten wird auch durch die folgende Aussage Eulenfelds verdeutlicht: „Lia, Ria, Mia, alles das hat Hunderte von Augen. Wie die Fliegen.“ (DD 237). Die „maligne Freiheit des Troupeaus“ (DD 203) rekurriert auf das Tacitus-Zitat, „Malignitati falsa species libertatis inest.“ (DD 4),246 das dem Roman als Motto vorangestellt ist.247 Durch diese Wortverwandtschaft wird die zunächst harmlos erscheinende oberflächliche Scheinfreiheit mit den bösartigen bzw. dämonischen Kräften verknüpft, die unterschwellig jeden Handlungsstrang des Romans tangieren. Hubert Kerscher hat die Gruppendynamik des ‚Troupeaus‘ analysiert und aufgezeigt, dass der „Mechanismus, der zur Bildung der Eulenfeldschen ‚Nebelflecke‘ führt, [. . .] in struktureller Parallele zur historischen Massenbewegung des Nationalsozialismus“248 zu sehen ist. Die Kritik an Massenbewegungen ist ein den Dämonen zugrunde liegendes Prinzip, das in vielfältigen Variationen erscheint und auch als Kontext für die massenkompatible ‚Unterhaltungsmusik‘ im Roman von Bedeutung ist. Über die musizierende Figur Bill Frühwald, die ein Vertreter dieser sozialen Gruppierung ist, wird die ‚Unterhaltungsmusik‘ in den übergeordneten Kontext der kommerziellen Verwertbarkeit von Kunst und Wissenschaft gestellt. In einem Gespräch wird er dem integren Historiker René Stangeler, der ihm – von wissenschaftlichem Enthusiasmus erfüllt – von seinem Fund des mittelalterlichen Manuskriptes über einen fingierten Hexenprozess erzählt, antagonistisch gegenübergestellt. Während René an die historische Relevanz des Manuskriptes denkt, begeistert sich Frühwald für den potenziellen finanziellen Nutzen und reagiert auf die Neuigkeiten mit einer „befremdlichen Begeisterung“ und den Worten: „Ein Schlager“ (DD 1015). Als Möglichkeit der „Verwertung“ (DD 1016) nennt er die dubiose Buchreihe ‚Sexualwissenschaftliche Bibliothek‘, womit sich zeigt, welcher Bereich von Renés Ausführungen bei ihm auf fruchtbaren Boden gefallen ist. Durch den sprechenden Namen des Verlags „Pornberger und Graff“ (DD 1193) wird zusätzlich betont, dass

246 In freier Übersetzung: ‚Der Bosheit wohnt der falsche Schein des Freimutes/der Freiheit inne.‘ Zur Übersetzung des Zitats mit seinem ursprünglichen Kontext siehe Kerscher 1998, S. 278. Zur Funktion der Paratexte der Dämonen und der ‚Inszenierung‘ des Tacitus-Zitats siehe Helmstetter 2016, S. 90 f. 247 Dietrich Weber hat bereits auf diese Rekurrenz hingewiesen, wobei er v. a. René Stangeler, der von dieser trügerischen Freiheit angezogen wird, im Blick hat und das Tacitus-Zitat auf die Gruppe der ‚Unsrigen‘ bezieht (vgl. Weber 1963, S. 156). Dabei wird jedoch nicht berücksichtigt, dass (auch in Bezug auf René) die als ‚maligne‘ bezeichnete Freiheit (DD 202 u. DD 203) explizit mit dem ‚Troupeau‘ verknüpft ist, dessen ‚Mitglieder‘ sich nur teilweise mit den ‚Unsrigen‘ überschneiden. Dies soll keineswegs die Beziehung zwischen dem Tacitus-Zitat und den ‚Unsrigen‘ in Frage stellen, sondern der Darstellung des Kontextes der Tanzmusik dienen, die mit eben dieser scheinbaren Freiheit verknüpft ist. 248 Kerscher 1998, S. 277.

4.2 ‚Nicht-Kunst‘ und ‚Apperzeptionsverweigerung‘

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der pornographische Aspekt des Manuskripts dabei im Vordergrund steht.249 Der Verlag wendet sich tatsächlich an René und will das „Werk über mittelalterliche kriminelle Geheim-Folterungen“ (DD 1193) veröffentlichen, und es bleibt den Verlagsdirektoren unverständlich, dass René es als „völlig nebensächlich“ bezeichnet, mit der von ihm entdeckten Quelle „breitere Leserschichten [zu] erreichen“ (DD 1196). Während die eine Seite ausschließlich den ökonomischen Nutzen sieht, steht René dem entgegengesetzt ganz im Dienste der Wissenschaft und interessiert sich nicht für eine mögliche Vermarktung. Die Reaktion Frühwalds nimmt René mit Befremden auf und versucht schnell, den „schleimigen Faden“ (DD 1016) des Gesprächs wieder abzureißen. Von den Verlagsdirektoren Abheiter und Szindrowitz250 wirkt besonders „die dämonische Kraft ordinärer Aufdringlichkeit“ (DD 1195 f.), der fettige rohe Ton und das „geradezu [beleidigende] Deutsch“ (DD 1194) bei René nach. Zu der ‚Fremdartigkeit‘, mit der Frühwald und sein Umfeld charakterisiert werden, tritt hier eine von ihm und den von ihm eingeführten Figuren ausgehende ‚Verunreinigung‘, die sich sowohl auf die wissenschaftliche Arbeit, als auch auf die deutsche Sprache bezieht. Da der Kontakt zwischen René und dem dubiosen Verlag aufgrund von Frühwalds Fehleinschätzung und seinem überzogenen Enthusiasmus zustande gekommen ist, lässt sich die in dem Gespräch zum Ausdruck gebrachte Weltanschauung auch auf ihn beziehen. Mit dem Ausdruck ‚Schlager‘ hat Frühwald bereits einen Bogen zur modernen Musikindustrie geschlagen, bei der es weniger um den künstlerischen Gehalt, als vielmehr um das Produzieren von massenkompatiblen und somit lukrativen ‚Schlagern‘ geht. Diese negative Darstellung der ‚Verwertung‘ von wissenschaftlichen oder künstlerischen Werken findet sich vielfach in den Dämonen und bildet den Kontext der ‚Unterhaltungsmusik‘. Der Schlager ist eine „Form des populären Liedes, entstanden Anfang des 20. Jhs., als Musik mit der sich herausbildenden Musikindustrie zur Ware wurde. Der Begriff stammt aus der Handelssprache, wo S[chlager] ein Verkaufserfolg gleich welcher Art bedeutet.“251 Durch die mehrfach betonte Rolle der Figur Frühwald als „Spezialist für moderne Tanzmusik“ (DD 1015) und die textliche Nähe zu dem Erklingen eines musikalischen Schlagers

249 Martin Voracek zufolge führt dieser Firmenname „Pornografie und Raffgier vereint im Schilde“, Voracek 1992, S. 255. 250 Voracek führt beide Namen auf die Berufsbezeichnung ‚Schinder‘ zurück: „Der Name [Abheiter] ist offen charakterisierend, ‚Abhäuter‘ ist synonym zu ‚Schinder‘, ‚Abdecker‘, ein nicht eben imagestarkes oder anheimelndes Gewerbe.“ Voracek 1992, S. 255. Der Name Szindrowitz, „dessen slawische Endung sein Charakterisierendes zu verbergen sucht (‚Schinder‘)“ verweist ebenfalls darauf, wie die beiden Direktoren René „‚schinden‘ [. . .] und versuchen, ihn ‚abzuhäuten‘ [. . .]“. Voracek 1992, S. 324. Anders als Voracek es angibt, endet Szindrowitz nur in der ersten Nennung auf – z (DD 1016), die folgenden neun Nennungen enden auf – s (DD 1193, 1194, 1195, 1196, 1197). 251 Jürgen Wölfer: Das große Lexikon der Unterhaltungs-Musik. Die populäre Musik vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart – vom Wiener Walzer bis zu Swing, Latin Music und Easy Listening. Berlin 2000, S. 470.

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in einer der darauffolgenden Szenen, wird der von ihm verwendete Ausdruck in einen musikalischen Kontext gebettet. Während René mit der Arbeit an dem mittelalterlichen Manuskript beschäftigt ist, begibt sich Jan Herzka ebenfalls in dem Kapitel Kurze Kurven I auf eine „[nächtliche] Suchjagd“ (DD 1031), bei der er seine durch den Manuskriptfund wieder erweckten sexuellen Wünsche mit Hilfe der Prostituierten Anny und Anita ausleben möchte. Schon in Doderers Erzählung Die Bresche von 1924 steht die Entwicklung der Figur Jan Herzka im Mittelpunkt, wobei die verschiedenen Etappen, die er auf seiner inneren wie auch äußeren Reise durchlebt, mit unterschiedlicher Musik verknüpft werden.252 In den Dämonen wird die sadistische Neigung Herzkas wieder aufgegriffen und es geht ihm, ähnlich wie Frühwald, nicht um den wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn aus dem mittelalterlichen Manuskript, sondern um die ‚Verwertung‘ des Materials, von dem er „Lebende Bilder“ (DD 1033) nachstellen möchte; in seinem Fall als Vorlage für seine sadomasochistischen Phantasien, wobei die Vermarktung für ein breites Publikum wegfällt. Auffällig ist, dass auch in seiner Reaktion auf das Manuskript ein ‚Schlager‘253 eine Rolle spielt: Als Jan mit den beiden Frauen vor einer Stunde hier herauf gekommen war, hatte er sie gleich recht freundlich gebeten, ihm zuliebe jenes Singen und Trällern von sogenannten ‚SchlagerLiedern‘ zu unterlassen, das alle Straßenmädchen in der Gewohnheit haben: diese ist nicht ganz bedeutungslos; sie verhalten sich da ähnlich wie jemand, der allein im Dunklen ist und singt; zweifellos beschwichtigt jenes Trällern anfallsweises Unbehagen. Es ist also sozusagen biologisch begründet. (DD 1035)

Anita kann den historischen Erläuterungen, mit denen Herzka seine Wünsche veranschaulichen und sublimieren will, nicht folgen und zerstört die Möglichkeit, eine Illusion wie Herzka sie sucht zu schaffen, dadurch, dass sie in seiner Gegenwart das Waschbecken als Toilette benutzt. Dieser Akt der ‚Verunreinigung‘ (vgl. DD 1035) bestätigt Herzkas Unbehagen angesichts der „Schrecklichkeit dieses Raumes – wo es im ganzen sauber, ja, fast spitalsmäßig aussah“ (DD 1032) und macht ein distinguiertes Umsetzten seines Begehrens für ihn unmöglich. Anny dagegen versteht sehr genau, wie seine speziellen Wünsche zu erfüllen wären. Sie hat jedoch, seitdem sie mit einer gewissen Bewunderung den Mord an ihrer Freundin Herta Plankl miterlebt hat, die Bereitschaft verloren, sich auf gutsituierte Herren einzulassen. Daher will sie „ihren Beitrag zur Liquidierung der Lage“ (DD 1035) leisten und fängt an, einen Schlager zu singen: „‚Wie hab’ ich nur leben können – ohne dich – ohne dich . . . ‘ und sie blickte der Wirkung des Liedes gleichsam nach; es war wirklich so, als hätte sie was ausgespuckt und das ränne nun an seinem Gesicht langsam herab“

252 Zu Jan Herzkas sexuellen Obsessionen siehe Kap. 5.1.1 sowie Kap. 5.1.2. 253 Auf den Begriff ‚Schlager‘ machen die Nähe seiner Nennungen im Text und die inhaltlichen Analogien der Szenen aufmerksam. Im gesamten Roman taucht der Begriff ‚Schlager‘ nur diese beiden Male auf.

4.2 ‚Nicht-Kunst‘ und ‚Apperzeptionsverweigerung‘

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(DD 1036).254 Der Vergleich der Wirkung des Schlagers mit etwas Ausgespucktem, das am Gesicht herabrinnt, korrespondiert mit dem „schleimigen Faden“ (DD 1016), den René im Gespräch mit Frühwald abzureißen versucht, nachdem dieser das Manuskript als Schlager bezeichnet hat. Wie Anitas Verunreinigung des Waschbeckens, verweist auch dieser Vergleich wieder auf ‚Unreinheit‘ und Körperausscheidungen. Statt nur zu beschreiben, dass Anny einen Schlager singt, wird an dieser Stelle des Romans der Liedtext zitiert. Dadurch wird die damit assoziierte Melodie, die in der Nachkriegszeit noch vielen Leser*innen bekannt gewesen sein dürfte, evoziert. Diese ‚Evokation von Vokalmusik durch assoziatives Zitieren‘255 ist Teil der Musikalisierung von Literatur, wobei nicht nur das entsprechende Lied, sondern das Medium Musik selbst, indirekt in dem literarischen Medium präsentiert wird. Die zitierte Zeile des Refrains – „Wie hab’ ich nur leben können – ohne dich – ohne dich . . .“ (DD 1036) – prägt auch darüber hinaus das Kapitel Kurze Kurven I, in welchem mehrere Liebespaare zusammengeführt werden. Neben Quapp und Géza, Jan Herzka und Agnes Gebaur, finden auch René und Grete auf ihrer sogenannten „Hochzeitsreise“ (DD 1051) zu einer neuen Ebene ihrer Beziehung. Das Kapitel beginnt und endet mit dem schicksalhaft verbundenen Paar Leonhard und Mary, deren Liebesgeständnis den Höhepunkt und Schluss des Kapitels bildet. Als sich diese beiden ihre Liebe gestehen, bricht Leonhard unter der Spannung der letzten Wochen, in denen Mary verreist war, in ihrem Schloss zusammen und stammelt: „Nie bist du da. Immer ohne dich. [. . .] Alles immer ohne dich.“ (DD 1056). Die zweimalige Wiederholung des „ohne dich“ zeichnet diesen Ausspruch als Anspielung auf das Liedzitat bzw. Nachklang des dadurch evozierten Schlagerliedes aus.256 Der Schlager-Kontext lässt sich als ironischer Kommentar zu den überrepräsentierten Liebesgeschichten dieses Kapitels deuten, ähnlich wie die extrem gehäuften Hochzeiten am Ende des Romans von Geyrenhoff als „Platzregen von Banalitäten“ (DD 1337) bezeichnet werden. Als einfachste musikalische Komposition ist der Schlager, sowohl was seine musikalische Struktur betrifft, als auch in Bezug auf den Text, paradigmatisch für die schnelle ‚Bedürfnisbefriedigung‘ in der ‚Unterhaltungsmusik‘, die zu Beginn dieses Kapitels in Anlehnung an das Schopenhauer-Zitat, angesprochen wurde. Der Titel Kurze Kurven für zwei Kapitel der Dämonen lässt sich auf diese schnelle Erreichung des Ziels beziehen. Indem ‚kurze Kurven‘ räumlich das Prinzip des indirek-

254 Friedrich Hollaenders Lied Wie hab ich nur leben können ohne Dich wurde 1933 in dem UFAFilm Ich und die Kaiserin von Lilian Harvey gesungen und dadurch zu einem Schlager. 255 Vgl. Wolf 1999, S. 67–69. 256 Im MGG-Artikel ‚Unterhaltungsmusik‘ von 1966 heißt es über die Texte von Operetten- und Schlager-Liedern, dass diese „einen Empfindungswert von scheinbarer Allgemeingültigkeit suggerieren. So kommen dem davon Angerührten derartige Worte dann auch ohne Melodie in den Sinn, wenn er vergebens nach individuellem Ausdruck seines Gefühls sucht [. . .].“ Würz 1966, Sp. 1146.

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ten Weges unterlaufen, korrespondieren sie auf diese Weise auch mit dem Schlager. Zugleich liegt in der Verknüpfung der banalen Liebesthematik des Schlagers mit dem keineswegs ironisch gezeichneten ‚Helden-Pärchen‘, Mary und Leonhard, eine Bestätigung der schicksalhaften Zusammengehörigkeit bestimmter Figuren, die nicht mehr ohne einander leben können. Analogien zu dem Abschluss des Kapitels Kurze Kurven I mit dem Schlager-Zitat, finden sich am Ende des Kapitels Kurze Kurven II. Auch hier wird ein schicksalhafter Moment in der Beziehung zwischen Grete und René in pathetischen Worten geschildert. Die Atmosphäre bei einem Spaziergang am Strom wird mit ‚Wortmusik‘ klangvoll heraufbeschworen: [D]er Prater, vom Strome bestimmt, von enormen, weithin offenen Wiesen durchzogen, darauf da und dort wahre Riesenbäume ganz isoliert sich erheben, dann wieder im Auwald verschwindend, der über hineinleckenden Wasserarmen tief herabhängt [. . .]. Es gehört der Ferne an, dem Winde, der offenen windziehenden Breite des Stroms, den davongleitenden Schiffen, der vergehenden Zeit, wohl auch den Abschieden und dem Schmerze. (DD 1199 f.)

Die Beschreibung der Praterlandschaft wird von einem breiten Rhythmus getragen, der durch onomatopoetische Elemente (v. a. Assonanzen) und die Parallelismen in der Wortwahl, Syntax und Grammatik (Strome/Ferne/Winde/Breite; hineinleckenden/ windziehenden/davongleitenden/vergehenden) unterstützt wird. Der melancholischen Ferne und Weite wird die Geschäftigkeit und brutale Aufdringlichkeit des ‚Wurstelpraters‘ gegenübergestellt, „der nachts eine mächtige Höhlung von Helligkeit in die Augen schlägt, eine Höhlung, deren Wände bekrochen sind von zahllosen bunten Lichtern, drehenden und stehenden, wo es klingelt und schallt von den Karussellen“ (DD 1200). Als das Paar in diesen „Herrschbereich des bekannten ‚Wurstelpraters‘“ gelangt, spielt in einem der Wirtshäuser die „Damenkapelle Hornischer“: [A]lle in den gleichen weißen Kleidern mit bunter Schärpe, sehr honett, ein Orchester von gut zwanzig Köpfen, und sie spielten auch ausgezeichnet. Dennoch bleibt der Name,Hornischer‘ für jeden an den damaligen Zeitläuften Beteiligten unangenehm im Gedächtnis, denn jener Name ist ein im Grunde roher und wirkt peinlich – auch wenn man nicht an Hornissen denkt – peinlich in ähnlicher Art wie gewisse andere zu Wien (in jedem Sinne) gemeine Namen, etwa Rambausek. Hornischer aber hat doch schon etwas von versteckter Gewalttätigkeit und nach innen gekehrter Brutalität an sich, daran konnten auch die recht hübschen zwanzig Damen in den weißen Kleidchen und mit den bunten Schärpen nichts ändern: der Name brachte in Harnisch. (DD 1200 f.)257

257 „Diese Namenreflexion bezieht ihr Movens erstaunlicherweise nicht etwa aus dem lexikalischen Bereich (‚Hornischer‘ läßt ganz unweigerlich an ‚Hornissen‘ denken), sie agiert mit einer Sensibilität für bestimmte Lautketten und mit Klangsymbolik, um dann am Ende ironisch Wortassoziation zu betreiben [. . .].“ Voracek 1992, S. 82. Der Vergleich mit dem Namen Rambausek ist ein intertextueller Verweis auf Doderers Divertimento No VII: Die Posaunen von Jericho, in dem eine extrem negativ gezeichnete Figur namens Rambausek ein Mädchen sexuell belästigt. Dieser Umstand

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Mit der ‚Damenkapelle Hornischer‘ als Anspielung auf die Wiener Volksliedsängerin Fanny Hornischer (1845–1911), die v. a. für ihre derben Lieder bekannt war,258 ist der Schlager-Kontext auch hier latent vorhanden. Die mechanische, sich immerfort wiederholende Karussellmusik verstärkt die musikalische Thematik, so dass auch dieses Kapitel mit der Evokation von oder zumindest der Anspielung auf Trivialmusik und Schlager endet: Das „breite Blasen und Dreschen eines Orgelwerks, welches den kreisenden Gang der Sachen begleitete. Die altmodischen Karusselle mit den Feenwagen und Hochzeitskutschen aber haben eine klingelnde Glöckchenmusik“ (DD 1201). Die Beschreibung des Karussells weist auf die Entwicklung der Erzählstränge hin, die in diesem Kapitel besonders für René und Grete, aber auch für Quapp in ein neues bürgerliches Leben führen und den Kreislauf des Schicksals bestätigen. Das stetige Drehen und Kreisen wird nochmals im Zusammenhang mit der betrunkenen Anny Gräven aufgegriffen,259 die scheinbar aus dem Nichts in den letzten Sätzen des Kapitels auftaucht und darüber sinniert, ob sie sich über einen Eimer erbrechen soll, oder ob sie die „drehenden Bewegungen, welche sie empfand“ (DD 1201) noch mit Einschlafen überwinden könne. Bill Frühwald, der bereits im Zusammenhang mit Friederike Ruthmayrs Kontakt zur ‚Tango-Gesellschaft‘ und dem Schlager-Kontext um die mittelalterliche Handschrift eine Rolle gespielt hat, „unterwandert“ (DD 652) zusammen mit anderen Mitgliedern des ‚Troupeaus‘ auch die Geselligkeiten in Mary K.s Wohnung. Sein Klavierspiel ist es auch, das den Seitensprung Renés mit Käthe Storch und die gleichzeitig stattfindende sexuelle Annäherung im Badezimmer zwischen ihrer Tochter Fella Storch und Trix K. musikalisch begleitet. Während der sexuellen Begegnung zwischen Trix und Fella im Badezimmer, stößt Bill Frühwald zu der kleinen Gesellschaft in Marys Wohnung. Als die Mädchen aus dem Bad treten, ist englische Tanzmusik zu hören und Frühwald sitzt am Klavier (vgl. DD 507). Gleichzeitig treffen ein Stockwerk tiefer René und Käthe Storch in der Wohnung Siebenschein aufeinander. Nach dem durch Lügen geheim gehaltenen Geschlechtsakt klingen die Klaviertöne aus der darüber liegenden Wohnung „gläsern und einsam“ (DD 512) zu ihnen herunter.

wird jedoch durch den unzuverlässigen Ich-Erzähler, der die Szene angeblich beobachtet hat, im Lauf der Erzählung immer zweifelhafter, da sich am Erzähler mehr und mehr Eigenschaften offenbaren, die er selbst scheinbar nur auf Rambausek projiziert hat. Heimito von Doderer: Divertimento No VII: Die Posaunen von Jericho [1955]. In: Ders.: Die Erzählungen. Hrsg. v. Wendelin SchmidtDengler, München 2006, S. 154–189. 258 „Fanny Hornischer (recte Franziska Bauer) war noch um eine Nuance derber als ihre Kolleginnen, sie brachte ihre Pointen freier und kräftiger, war aber stärker dem wienerischen Idiom verhaftet und verstand es auch, stilgerecht zu jodeln und zu paschen. ‚Ein Aufmischer von der Hornischer‘ war ihr Leibspruch und ein geflügeltes Wort für die Wiener.“ Elisabeth Th. Fritz und Helmut Kretschmer (Hg.): Wien – Musikgeschichte. Teil 1: Volkslied und Wienerlied. Wien 2006, S. 192. 259 Auch die Namensähnlichkeit stellt eine Verbindung zwischen der Schlagersängerin Fanny und der Schlager singenden Prostituierten Anny her.

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Als sich René und die zurückgekehrte Grete daraufhin nach oben zu der „Tanzunterhaltung“ (DD 513) begeben, sitzt Frühwald am Klavier und Fella tanzt mit Trix’ Bruder Hubert. „Sie tanzten sehr gut. Ihr Tanz war jedoch vollkommen leblos: tanzende Wachsfiguren“ (DD 513). Die mechanische Vereinigung im Tanz spiegelt die vorangegangenen sexuellen Vereinigungen, bei denen die physische Anziehungskraft eine eigene Dynamik entwickelt hatte, ohne dass eine emotionale Verbindung entstanden ist. Allerdings waren die Beteiligten über die normativen gesellschaftlichen Schranken hinweg von dem rein körperlichen Begehren überwältigt worden, anders als Fella und Hubert, die als gesellschaftlich ‚legitimes‘ Paar (in Bezug auf das Alter, die Ungebundenheit und das Geschlecht) den ritualisierten Umgang der Geschlechter im Tanz vorführen. Die Verbindung von Tanzmusik mit tabuisierten Sexualakten findet sich besonders ausgeprägt in der Strudlhofstiege, in der sich eine Steigerung der negativen Konnotationen anhand dreier Textstellen feststellen lässt, die ähnliche erzählerische Kontexte mit der Tanzmusik korrelieren.260 Die paradigmatische Verknüpfung von Tanzmusik mit auf den sexuellen Bereich projizierter ‚Fremdartigkeit‘ und infektiöser ‚Unreinheit‘, wird in der Zusammenstellung der Szenen sichtbar, die jeweils die identitätsbedrohende ‚Deklassierung‘ einer jungen Wienerin behandeln. Die erste dieser Sequenzen beschreibt zu Beginn der Strudlhofstiege Grete Siebenscheins Aufenthalt in Norwegen, wo sie „in der Fremde“ (DS 29) als Bar-Pianistin arbeitet und ihre musikalischen Fähigkeiten „vielleicht bei einem Wiener Walzer zwischendurch einmal zogen, sonst aber in den damals allen Tanz beherrschenden Trotts und Steps verhämmert [werden]“ (DS 30).261 Sowohl musikalisch als auch gesellschaftlich bewegt sie sich weit unter ihrem Niveau, wodurch „eine Deklassiertheit ganz allgemeiner Art [. . .] dort in der Fremde sozusagen täglich in eine spezielle, persönliche auszuarten [drohte]“ (DS 29). Um nicht als „Tappeuse gänzlich hinters Klavier verbannt zu sein“ (DS 32), kommt sie immer wieder zum Tanzen hervor und geht eine Affäre ein. Die drängenden Erwartungen, mit denen der Fliegerkapitän Grete auf den nächtlichen Bahnschienen konfrontiert, entsprechen jedoch nicht dem Stil, den Grete aus ihrer Heimat gewohnt ist, weshalb sie die Beziehung beendet. In einer weiteren Szene wird auf einem Gartenfest die von ihrem Vater verbotene Beziehung zwischen Ingrid Schmeller und Stefan Semski aufgedeckt. Analog zu der Begegnung zwischen Fella und Trix spielt auch die den Skandal auslösende Szene zwischen Ingrid und Stefan im Badezimmer, gefolgt von dem Einsetzen der Tanzmusik. Auch hier spielt das Element des ‚Fremden‘ und die nicht standesgemäße Verbindung eine Rolle. Sowohl bei Grete ‚in der Fremde‘, als auch bei Ingrid

260 Zum Folgenden vgl. Brandtner 2010, S. 43–52. 261 In den Dämonen wird mit ähnlichen Worten der Zustand eines alten Musiklehrers beschrieben, der als Barpianist arbeitet und immer verschwitzt ist, „weil er ja den ganzen Abend Trotts, Steps und Wiener Walzer gepaukt hatte“ (DD 1039).

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mit dem „slawisch-bäuerlich[en]“ (DS 243) Semski, der „etwas Fremdartiges“ (DS 241) an sich hat, wird der Wiener Walzer als identitätsstiftendes Merkmal mit den jungen Frauen verknüpft und so in Opposition zu den während der Tanzmusik stattfindenden Annäherungen an ‚das Fremde‘ gestellt. Den Höhepunkt der Verbindung von Tanzmusik und Entfremdung bilden die Ausschweifungen Etelka Grauermanns geb. Stangeler, die auf einem Tanzfest ihren Liebhaber vor seinen Augen mit einem jungen Burschen betrügt. Bei dieser Szene in einem Wirtshaus wird die Tanzmusik mit Künstlichkeit und rauschhafter Flucht vor dem eigentlichen Leben verbunden. Der „Beigeschmack von Prätention“ (DS 536) haftet der englischen Tanzmusik an und findet seine Personifizierung in der Tänzerin Angely de Ly, deren gemeinsames Erscheinen mit Dr. Negria von einem Tusch der Musikkapelle begleitet wird. Die „Tanzproduktion“ (DS 538) bzw. der südamerikanische Tango, mit dem sie später „zum gewünschten Effekt und zur entsprechenden Raumverdrängung“ (DS 537) gelangt, wird von Etelka mit den Worten „zum Kotzen“ (DS 538) kommentiert. Gerald Sommer hat auf die „metatextuelle Infektions-Thematik“262 hingewiesen, mit der sich Etelkas auf den Suizid zusteuernde „tollwütige Art zu leben“ (DS 412) als metaphorische Tollwut-Infektion deuten lässt.263 Diese Infektions-Thematik zeigt sich auch in dem Motiv der ‚Verunreinigung‘, das an mehreren mit ‚Unterhaltungsmusik‘ verknüpften Textstellen in den Dämonen festgestellt wurde. Infektions- und Kontaminations-Hinweise finden sich in den Dämonen zudem besonders ausgeprägt im Kontext der Künstlerinnen, die ‚Trivial-Kunst‘ bzw. kommerziell ausgerichtete Kunst schaffen und ebenso wie Angely de Ly bei ihrer ‚Tanzproduktion‘ nur die Wirkung ihrer ‚Produkte‘ im Blick haben.264 Neben den Figuren, Frühwald und Draxler, die als ‚Spezialisten‘ auf dem Gebiet der Tanzmusik ausgezeichnet sind, gibt es auch einen Ort, an den die Unterhaltungsmusik in den Dämonen besonders stark geknüpft ist. Im Café Kaunitz treten die negativen Konnotationen der Tanzmusik mit geballter Kraft zutage, wobei einige Parallelen zur oben geschilderten Wirtshausszene aus der Strudlhofstiege auffallen. Auch wenn es tagsüber von lernenden Studenten frequentiert wird und ein Ort der Stille ist, sagt ein Pianino dem „Kundigen [. . .] schon alles (sapienti sat): nämlich

262 Sommer 1994, S. 79. 263 In der Wirtshausszene finden sich mehrere Anspielungen auf diesen Metatext: „Der Name Negria lässt sich von einem Tollwut-Symptom [den Negri-Körperchen] herleiten“ (Sommer 1994, S. 74), ebenso wie der Künstlername Angelika Scheichsbeutels, Angely de Ly, der „als zweifach anklingende Kurzform (-ly Ly) von Lyssa, [. . .][auf den] wissenschaftlichen Namen für Tollwut“ (Sommer 1994, S. 76) verweist. Auch die Bezeichnung „Tollhaus“ (DS 543) und der Foxtrott, den Negria mit Angelika tanzt, beziehen sich auf diese Metaphorik. „Eines, der am stärksten von Tollwut gefährdeten Tiere, der Fuchs vermittelt über den ‚Foxtrott‘ den Tollwut-Metatext. Etelkas Leben endet kaum drei Wochen nach diesem Tanzabend durch Selbstmord.“ Sommer 1994, S. 77. 264 Siehe Kap. 4.2.2.

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daß dieses ‚Café Kaunitz‘ kein eigentlich solides Caféhaus sei. In solchen werden zu Wien Pianinos nicht geduldet. Dies roch nach Nachtlokal [. . .]“ (DD 125).265 Bezeichnend für die Aura des Cafés ist die Beschreibung der Besitzerinnen mit Attributen der ‚Exotik‘ und Fremdheit einerseits und Vergleichen mit parasitären oder sich von Unrat ernährenden Tieren andererseits, welche innerhalb der dichotomen Zuordnung in fremd vs. eigen den rassistischen Merkmalen in der Charakterisierung der Figuren Frühwald und Oki Leucht entsprechen und an die Insektenvergleiche im Zusammenhang mit dem ‚Troupeau‘ erinnern: Die frühere balkanesische Besitzerin wird wie ein „in die orientalische Üppigkeit verschlagenes Schneewittchen“ (DD 126), das nur an Profit denkt und einen „kleinen parasitären Ehemann“ (DD 128) mit sich führt, charakterisiert, während bei der aktuellen Besitzerin „der puffmütterliche Nagetierzug“ (DD 129) hervorsticht und sie als „eine Art Kanalschnecke“ (DD 130) bezeichnet wird. Erst um ein Uhr nachts kommt der wirkliche Betrieb des Cafés in Gang, wenn andere Gaststätten schließen und sich deren Gäste zu einem lärmenden Gemisch verschiedenster Gesellschaftsschichten im Café Kaunitz zusammenfinden. Jetzt auch öffnete das Pianino seine Kinnbacken und wies die weißen Zähne, ein Musikus hatte davor Platz genommen, und neben ihm stand eine sehr dünne, fast ausgeronnene, sehr schwarzhaarige Person mit tiefen Ringen unter den Augen. Er schlug an, jetzt sang sie (ein boshafter Stammgast hatte sie, wegen ihres habitus phtisicus, einmal den ‚singenden Lungenwurm‘ genannt [. . .]). Bald wurde mitgesungen. (DD 132)

Die dargebotene Musik lässt sich nicht von dem Lärm der Gäste unterscheiden: Mit „den Pfiffen des singenden Lungenwurms“ mischen sich das „fette Gelächter“, das „dumpfer [ertönende] Gebrüll“, die „selbstbewußten Trompetentöne“, „vielfaches Quarren“ der ‚Weiber‘, das „eine tonal näherliegende Grundierung zu den Pfiffen des Lungenwurmes [bildete], während die ‚Gaserer‘ ja gewissermaßen die Batterie dieses ganzen Orchesters darstellten“ (DD 133). Dieses lärmende ‚Orchester‘ steigert seine Lautstärke im Laufe der Nacht, was durch die Erreichung der jeweils nächsten ‚Lärmstufe‘ angezeigt wird. Die „zweite Lärmstufe“ (DD 134) ist davon gekennzeichnet, dass „drei bis fünf nebeneinander Sitzende gleichzeitig und unaufhörlich [reden, während] von der Batterie im Hintergrunde [. . .] dumpfer Donner [kommt]“ (DD 134). Auf der „dritten Lärmstufe“ (DD 136) fängt der Schneidermeister Jirasek „wehmütig gröhlend“ (DD 137) zu singen an. „Bei Erreichung der Lärmstufe III mochte man wirklich glauben, man wäre schon ‚an einem andern Ort‘, wie es bei Johann Peter Hebel in der ‚Merkwürdigen Gespenstergeschichte‘ so unheimlich heißt“ (DD 137). Die hier aufgeführten Musik- resp. Lärmthematisierungen fungieren als wesentliches Element, um das Café als „die Hölle selbst“ (DD 138) zu konstruieren, als einen Ort im Roman, an dem alle Figuren, gleich aus welcher Gesellschaftsschicht, mit der Unterwelt in Kontakt treten. In diesem Sinne ist

265 Zur Ambivalenz des Café Kaunitz siehe auch: Wendelin Schmidt-Dengler: Jederzeit besuchsfähig. Über Heimito von Doderer. Hrsg. v. Gerald Sommer, München 2012, S. 212 f.

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auch der intertextuelle Verweis auf die Hebel-Erzählung zu verstehen, in welcher der Protagonist durch ein Loch im Boden – dem vermeintlichen Mephisto folgend – in die ‚Unterwelt‘ fällt, die sich jedoch kurz darauf als Versteck von Betrügern herausstellt.266 Ingrid Werkgartner Ryan hat auf die Kontrastfunktion hingewiesen, die das Café Kaunitz für die Leonhard-Handlung hat.267 Am deutlichsten ist dieser Kontrast der aufeinanderfolgenden Szenen in Bezug auf die Klangkulisse. Während das Café den Ort des ohrenbetäubenden Lärmens schlechthin darstellt, ist es in den entscheidenden Momenten in Leonhards Entwicklung „vollkommen still“ (DD 163 u. DD 593). Dem Motiv des Kreises bzw. des Wirbels und des Zirkulierens, das wiederholt in der Café-Kaunitz-Szene variiert wird, steht die „[geometrische] Linie“ (DD 124) als Symbol der Entwicklung Leonhards gegenüber: „Diese beiden Figuren, der Kreis und die Gerade, symbolisieren den Gegensatz zwischen einem Leben, das ohne innere Ausrichtung im Chaos endet, und einem Leben, das im Geistigen von Punkt A zu Punkt B gelangt.“268 Auch in der oben erläuterten Wirtshausszene aus der Strudlhofstiege ist die Musik und der sich steigernde Lärm mit Kontrollverlust und Chaos konnotiert. Dort wird „die Lage [. . .] stehend, der Wirbel konstant“ (DS 544), die Rede ist von „Tollhaus“ (DS 543) und „Tohuwabohu“ (DS 544). Im Café Kaunitz ist es die Drehtür, die einen konstanten Wirbel erzeugt und statt dem Tollhaus wird nun die Hölle und der ‚andere Ort‘ als Vergleich herangezogen. Neben diesen motivischen Rekurrenzen findet auch die Metapher des „Erbrochene[n]“ (DD 138), als das die um vier Uhr das Lokal verlassenden Gäste tituliert werden, sein Pendant in Etelkas Kommentar über Angely de Ly – „zum Kotzen“ (DS 538). Die Drehtür des Café Kaunitz, aus der sich ‚Erbrochenes‘ auf die Straße ergießt, symbolisiert „die unaufhörliche Produktion von Signifikanten, denen kein Signifikat mehr entspricht. Das Ausgesprochene wird zum Erbrochenem, zum unverwertbaren Abfall auf offener Straße.“269 Auch der Geräuschpegel verweist auf die Unmöglichkeit, sich über sprachliche Äußerungen zu verständigen. In einem ähnlichen Kontext heißt es über den Lärm in einem anderen Café: [G]erade hier bekam man, und zwar durch das Übertriebene des Zustandes, im ersten Augenblicke nach dem Eintreten ein richtiges Bild von der eigentlichen Natur des Beisammenseins

266 Siehe Johann Peter Hebel: Merkwürdige Gespenster-Geschichte. In: Ders.: Die Kalendergeschichten. Sämtliche Erzählungen aus dem Rheinländischen Hausfreund [1811]. Hrsg. v. Hannelore Schlaffer und Harald Zils, München 1999, S. 171–175. 267 Werkgartner Ryan 1986, S. 97. 268 Werkgartner Ryan 1986, S. 97. Für Leonhard wird das Café zum Ausgangspunkt seiner Studien und seiner ‚Menschwerdung‘, da er hier in einem Konversationslexikon den Namen Pico della Mirandola nachschlägt (vgl. DD 661). Daher wird das Café auch in der entscheidenden Szene, in der Leonhards heldenhafte Zukunft angedeutet wird, als eine Etappe seines Weges erwähnt (vgl. DD 994). 269 Kerscher 1998, S. 388.

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heutiger Menschen, ein Bild von visionärer Klarheit. Denn das Stimmengewirre war so überaus gewaltig, daß der zwingende Eindruck entstand, hier rede jeder und höre keiner zu. Noch überraschender aber wirkte es, später festzustellen, daß dem beinahe wirklich so war; was sich zur Evidenz daraus erwies, daß man alle Munde und Hände, die das Auge in der näheren und weiteren Umgebung erfassen konnte, in unaufhörlicher redender Bewegung sah. (DD 87)

Gerald Sommer deutet im Kontext seiner Interpretation der Infektions-Thematik in der Strudlhofstiege, die Tollwut als „metaphorisierte Apperzeptions-Verweigerung und damit als Personen- resp. Zeit-Krankheit.“270 Das „Bild von visionärer Klarheit“ (DD 87), welches sich an der Kommunikationssituation in den Cafés zeigt, entspricht dieser Diagnose einer Zeit-Krankheit, bei der es um einen Verlust der Wahrnehmungsfähigkeit geht. Der Kommunikationskanal wird scheinbar nur noch einseitig zum Senden genutzt, während das apperzeptive Empfangen unmöglich wird. Diese kollektive Wahrnehmungsstörung betrifft einzelne Figuren mehr als andere, sie ist jedoch auch in den Dämonen mit der von Sommer festgestellten Tendenz zur infektiösen Ausbreitung versehen. Die theriomorphisierenden Beschreibungen der Figuren im Zusammenhang mit den Cafés als „parasitäre[r] Ehemann“ (DD 128) oder als „Lungenwurm“ (DD 132) sind Teil dieser textübergreifenden Infektionsthematik und verweisen zugleich auf die paradigmatische Opposition von ‚fremd‘ und ‚eigen‘, indem Parasiten fremde Eindringlinge in den (eigenen) Körper darstellen. Die Krankheitsund Kontaminationsthematik soll im folgenden Kapitel im Hinblick auf die in den Dämonen auftretenden Künstlerinnen dargestellt werden.

4.2.2 „Weiblicher Müßiggang [. . .] an der Peripherie der Künste“ – Künstlerinnen im Kontext der ‚zweiten Wirklichkeit‘ Die im vorangegangenen Kapitel untersuchten Konnotationen der ‚Unterhaltungsmusik‘ in den Dämonen sind Ausdruck eines auf der Dichotomie von ‚hoher‘ und ‚niederer‘ Musik basierenden Denkens. Die künstlerisch ernstzunehmende Musik ist innerhalb dieser Logik möglichst autonom, während die als ‚Nicht-Kunst‘ deklarierte Musik sich hauptsächlich auf ‚funktionale‘ Musik bezieht.271 Die Prämissen dieses stark vom neunzehnten Jahrhundert geprägten Musikverständnisses lassen sich auch in der im Roman transportierten Kunstauffassung allgemein feststellen. Gerade die Zweckgebundenheit bestimmter Kunstrichtungen macht es innerhalb der erzählten Welt unmöglich, in diesem Bereich echte Kunst hervorzubringen. Immer wieder stehen sich daher Authentizität und Affektiertheit auch in Form von

270 Sommer 1994, S. 81. 271 Zum Begriff der sogenannten ‚funktionalen‘ Musik bzw. ‚Gebrauchsmusik‘ siehe Carl Dahlhaus: Über die ‚mittlere Musik‘ des 19. Jahrhunderts. In: Ders.: Gesammelte Schriften in 10 Bänden, Bd. 5.: 19. Jahrhundert II. Theorie/Ästhetik/Geschichte: Monographien. Hrsg. v. Hermann Danuser, Laaber 2003, S. 570–582. [= Dahlhaus 2003b].

4.2 ‚Nicht-Kunst‘ und ‚Apperzeptionsverweigerung‘

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Romanfiguren gegenüber. Dabei spielt neben latent rassistischen und antisemitischen Charakterisierungen von ‚Nicht-Künstlern‘ v. a. das Geschlecht eine entscheidende Rolle. Die folgenden Überlegungen zeigen einige Parallelen auf, die in den Dämonen zwischen ‚Trivialmusik‘ und der von Frauen geschaffenen Kunst bestehen, wobei anzumerken ist, dass die negative Darstellung nicht ausschließlich weibliche Figuren, sondern auch die mit antisemitischen Stereotypen belegten männlichen Figuren betrifft, wie den Pressezeichner Weilguny und den Karikaturisten Imre von Gyurkicz. Es gibt in den Dämonen zwei Liebespärchen, die als „schicksalsgesund“ (DD 1218) bezeichnet werden, die sich also auf die gegenwärtige Situation einlassen und authentisch auf ihre Umwelt reagieren können. Emma Drobil und Mary K. sind die weiblichen Hälften dieser Pärchen und somit prädestiniert, als Kontrastfiguren auf die negativ gezeichneten Künstlerinnen zu treffen. Emma begleitet Mary nach ihrem ersten Kennenlernen, auf das bereits eingegangen wurde, zu einer Teegesellschaft in dem Atelier der Künstlerin Lilly Likarz.272 Der Drobila273 ist intuitiv klar, dass hier keine Kunst geschaffen wird, sondern bestenfalls ein den Zeitgeschmack bedienendes Kunsthandwerk.274 Eine signierte Fotografie der Bildhauerin Santenigg hängt an der Wand über den ausgestellten Stücken, von denen sich Emma „schlagartig angeödet“ (DD 643) fühlt. Dieses Bild wird zum Symbol für die Gehaltlosigkeit der hier produzierten Werke. Für Emma Drobil ist das alles nur „Schwindel – mit Ausnahme des Geschäftlichen, der vielen Aufträge, der Lieferungen, der Verbindungen. Das hielt sie für gewiß, das glaubte sie gerne“ (DD 644). Wie die Fotografie, wird auch der Name Santenigg zur Chiffre für die Inhaltslosigkeit und die fehlende Authentizität einer einzig auf Wirkung zielenden ‚Kunst‘: Hier war alles Santenigg. Hier blitzten nicht Chic und Charme aus Kraft und Tugend, sondern jene unterwanderten wie eine tief im Stoffe sitzende Krankheit – gleich der, welche das Zinn zu Staub zerfallen läßt – in kunstgewerblerischer Weise jede Aktion des Sehens und Bildens. (DD 645, Hervorhebung von M.B.)

272 Der Name Likarz geht auf die Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts in Wien erfolgreiche ‚Kunstgewerblerin‘ bzw. Graphikerin und Mitarbeiterin der ‚Wiener Werkstätte‘ Maria Likarz zurück. Siehe Gerhard Renner: Die Nachlässe in den Bibliotheken und Museen der Republik Österreich: Ausgenommen die Österreichische Nationalbibliothek und das Österreichische Theatermuseum. Wien u. a. 1993, S. 239. 273 Diese Variante des Namens wird im Roman bevorzugt gebraucht. Voracek weist darauf hin, dass durch die gleichen Anlaute der Namen Dwight und [die] Drobil, die in dieser Kombination von Vornamen des Mannes und Nachnamen der Frau mit vorangestelltem Artikel mehrfach auftreten (DD 32, 33, 34), eine Namenssympathie besteht (vgl. Voracek 1992, S. 262). Wie auch durch die Anfangsbuchstaben der Nachnamen von Mary K. und Leonhard Kakabsa. 274 Schupp weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass es in den Dämonen „keinen definitiv positiven Entwurf [gibt], der festlegt, was Musik oder was Kunst zu sein habe. Dagegen erhalten die zum Teil offiziell anerkannten Manifestationen des ‚Künstlerischen‘ das negative Stigma des Kunstgewerbes.“ Schupp 1994, S. 217.

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Neben der Kritik an der populistischen Ausrichtung, der Zweckgebundenheit und der Vermarktung wird diese Kunstproduktion zusätzlich mit einem als bedrohliche Krankheit verglichenen Zersetzungsprozess verknüpft: Die sogenannte ‚Zinnpest‘ befällt Zinn bei starken Minus-Temperaturen, so dass es zu Staub zerfällt.275 Auch andere Korrosionsprozesse, bei denen eine ätzende Substanz das Metall zersetzt, könnten dem Vergleich zugrunde liegen. Die Assoziation der Pest verbindet diese Passage jedoch mit anderen Textstellen, in denen von einer ‚Verpestung‘ im Zusammenhang mit Vergiftungs- und Zersetzungserscheinungen die Rede ist und die eine latent antisemitische Konnotation enthalten. So geht Geyrenhoff bei der ersten Erwähnung der jüdischen Figur Levielle mit ihm an der „schönen Pestsäule“ (DD 12) vorbei und René fühlt sich von seiner jüdischen Schwiegermutter „verpestet“ (DD 205). Kajetan hat nach seiner gescheiterten Ehe mit der Jüdin Camy das Gefühl „als verpestete es jetzt den ganzen Leib“ und er spricht zugleich von „irgend einer [ätzenden] Säure“ (DD 346) und einem „zerspaltend, zersplitternd, zerfasernd“ wirkenden Keil, den etwas Fremdes in sein Leben treibt (DD 368).276 Zudem wird über die Kälte, die zu der ‚Zinnpest‘ führt, eine Brücke zum Motiv des kalten Charakters und des kalten Blicks geschlagen, als eines der Merkmale der mit antisemitischen Stereotypen belegten Figuren.277 An anderer Stelle ist im Zusammenhang mit dem Atelier und dem Portrait der Santenigg von „zahllosen schwebenden Keime[n] des Widrigen“ (DD 822) die Rede. Die Assoziation mit einer Krankheit ruft auch der Name Santenigg selbst hervor, der an eine ‚Verneinung‘ des französischen ‚santé‘ denken lässt (d. h. ‚Gesundheit‘ + ‚nigg‘/‚nicht‘ = Ungesundheit/Krankheit). Gleichzeitig ist auch die zersetzende Wirkung im Namen eingeschrieben, der „in phonetischem Zusammenhang zu tschech. Sanetrník (Erzeuger von Salpeter) [. . .][steht], das heißt, sie ist selbst ein Spreng- und Ätzmittel.“278 Der oben beschriebene Infektions-Metatext, den Gerald Sommer für die Strudlhofstiege konstatiert hat, und der in der ‚Tanzproduktion‘ der Wirtshausszene besonders deutlich wird, findet sich somit auch in Verbindung mit der entsprechenden auf Wirkung zielenden ‚Kunstproduktion‘ in den Dämonen. Die Polarisierung der „Kraft und Tugend“ (DD 645) ‚wirklicher‘ Kunst auf der einen Seite und auf der anderen Seite einer zersetzenden Krankheit, die durch ober275 In Meyers Konversations-Lexikon findet sich unter dem Eintrag ‚Zinn‘ der Vermerk, dass es „bei großer Kälte (-36°) [. . .] spröde [wird] und [. . .] bei längerer Einwirkung der Kälte zu einem grauen Pulver [zerfällt].“ Meyers Konversations-Lexikon. Eine Encyklopädie des allgemeinen Wissens. 4. gänzlich umgearb. Aufl., Bd. 16, Leipzig/Wien 1890, S. 923. 276 Über Quapp meint Kajetan, man werde sie nach ihrer misslungenen Begegnung mit Tlopatsch „meiden wie eine Pestkranke“ (DD 1073). Und über den mit Quapps Mutter Claire Charagiel verknüpften drachenähnlichen Komodowaran, heißt es, er speie dem Feind den „pestilentialisch stinkenden eigenen Magen-Inhalt“ (DD 1182) entgegen. 277 Vgl. DD 72, 129, 134, 155, 165, 198, 217, 320, 403, 501, 560, 609, 853, 1076. Ausnahmen bilden die Textstellen in Bezug zu den Figuren Croix (DD 1108), Scolander (DD 1163) und Körger (DD 1324). 278 Voracek 1992, S. 313.

4.2 ‚Nicht-Kunst‘ und ‚Apperzeptionsverweigerung‘

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flächliches Blenden das wahrhaftige Sehen und Bilden unterwandert, lässt auf ein Kunst- und Kulturverständnis schließen, in welchem sich das Eigene gegen das Andere abzugrenzen versucht. Dieses ‚Andere‘ wird sowohl auf jüdische als auch auf weibliche Figuren projiziert, wie es die Beispiele der mit ‚Verpestung‘ assoziierten Bildhauerin Santenigg oder der als „galizianische Megäre“ (DD 1246) bezeichneten Dichterin Rosi Malik sowie des „Reklame-Zeichner[s]“ (DD 1246) und Landschaftsmalers Imre von Gyurkicz, dessen aufgesetztes „Naturburschentum“ (DD 251) die mangelnde Authentizität seiner Person und seiner Kunst hervorhebt, zeigen. Formelhaft wird der Name Santenigg auch zur Beschreibung der Wirkung von oberflächlichen Geselligkeiten, wie sie zeitweise nach Marys Rückkehr aus München bei ihr stattfinden, herangezogen: René wäre eine solche Geselligkeit „zweifellos zu einem großen Teile als fadenscheinig erschienen“, da bei ihm „zur Verfinsterung [. . .] ja schon irgendeine Likarz plus Santenigg genügt“ hätte (DD 673). Durch den Zusatz „irgendeine“ und das ‚Plus‘ zwischen den beiden Namen, wird die Austauschbarkeit hervorgehoben und ihnen eine Individualität weitgehend abgesprochen. Dies wird auch an anderer Stelle deutlich, wenn es aus Emma Drobils Perspektive heißt: „Für sie war Hubert von vornherein ein Übel gewesen, man möchte sagen, ein Übel à la Santenigg . . .“ (DD 1108). Das somit konstatierte Übel im Bereich der Kunst weist dieselbe Struktur wie die gesamtgesellschaftliche Zeitkrankheit auf: Eine nicht greifbare und nicht selbst präsente (nur im Bild anwesende) Macht durchdringt wie ein schleichendes Gift [. . .] das kollektive Bewußtsein, welches die Lüge (den ‚Schwindel‘) nicht zu erkennen vermag.279

Während Likarz und Santenigg mit bedrohlichen Krankheitserregern verknüpft werden, wird die einzige Schriftstellerin unter den Figuren der Dämonen v. a. mit Dummheit charakterisiert. Von dieser „‚Dichterin‘ Rosi Malik“,280 werden nur die „dummen Stücke dieser Person“ (DD 372) erwähnt, die „[bevorstehende] Aufführung ihres Stückes ‚Kapitän Strichpunkt‘ oder wie der Schmarrn heißt“ (DD 382),281 279 Kerscher 1998, S. 329. Siehe auch Emma Drobils Erinnerung an den Atelier-Besuch: „[I]n diesem, sonst ebenso beschaffenen Lichte hier fehlten die zahllosen schwebenden Keime des Widrigen, an der Wand, wo die Modelliertischlein gestanden hatten, und das autographierte Bildnis der Bildhauerin, zwischen allerlei Zeichnungen. . . . Es war das gleiche Licht. Jedoch gereinigt. Vielleicht war sie auch gereinigt worden seither.“ (DD 822, Hervorhebungen von M.B.) Wie bereits anhand des Santenigg-Portraits festgestellt, wird auch hier die Opposition von krank und gesund bzw. ‚kontaminiert‘ und ‚rein‘ aufgestellt. Auch Emma Drobil war eine Weile wie Dwight Williams von Mary ‚besessen‘ und hat durch ihre Observierung erst den Kontakt zu der echten Mary hergestellt, so dass sie sich danach von dieser kleineren Befangenheit ‚gereinigt‘ fühlt. 280 Der Ausdruck ‚Dichterin‘ wird bezeichnenderweise in Anführungsstriche gesetzt (vgl. DD 372, 382, 921). 281 Reisner weist auf die Assoziation dieses Titels mit der ‚zweiten Wirklichkeit‘ hin: „Ein Interpunktionszeichen wird, aus dem Zusammenhang eines Satzes gerissen, zum titelgebenden Protagonisten. Die Abstraktheit dieses Titels verrät das revolutionäre Wesen der Autorin: Der ‚pseudologische Raum‘, in dem diese Apperzeptionsverweigerer agieren, sei nämlich laut Doderer

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und auch Mary K., die ansonsten aufgrund mütterlichen Wohlwollens nichts Schlechtes über die jungen Künstler*innen sagt, meint: „Diese Stücke von der Roserl Malik sind komplett blöd. Jetzt wird mit der so ein Kult getrieben“ (DD 646). Als Rednerin auf der Straße beim brennenden Justizpalast wird Malik später als „galizianische Megäre“ (DD 1246) bezeichnet und damit „rassistisch denunziert und über die ‚Megäre‘ in den Kanon traditioneller jüdinnenfeindlicher Vorstellungen eingereiht.“282 War es zuvor die Kunst, der es an Authentizität fehlte, so wird nun der „Echtheitsgrad“ (DD 1245) ihrer Gesten und Worte angezweifelt, auch in Bezug auf das Äußere der „[Weiber] – die übrigens alle damenhaft angezogen waren und gar nicht ‚proletarisch‘“ (DD 1245). Da das Wort ‚Malik‘283 „zugleich mit der jüdischen Dichterin Else Lasker-Schüler und dem kommunistischen Malik-Verlag Wieland Herzfelde [sic] assoziiert werden kann“, sieht Gerald Stieg „in der ‚galizianischen Megäre‘ alle Ingredienzien vereint, aus denen sich Weiber-, Juden- und Sozialistenhaß nährten.“284 Im Hinblick auf die Bedeutung von Weiningers Geschlecht und Charakter, sowohl was die Figurengestaltung als auch die explizite Erwähnung dieser Abhandlung in den Dämonen betrifft, sind die Ausführungen Weiningers zu der dem „Typus der Magd“285 gegenüber gestellten ‚Megäre‘ aufschlussreich: „die Megäre verträgt das Alleinsein nicht, sie muß ihren Zorn an jemand außer sich auslassen [. . .]. Die Megäre lügt offen und frech, aber ohne es zu wissen, weil sie von Natur aus immer im Rechte zu sein glaubt.“286 Das zornige Aufstacheln der Menge und die fehlende ‚Echtheit‘ ihres Auftretens, aber auch die im Zusammenhang mit den Redner*innen thematisierte „Frechheit“ (DD 1246) entsprechen der Charakteristik der Megäre bei Weininger. Zur Namensgebung merkt Martin Voracek zudem an, dass nahezu alle Namen in Doderers Werk, die auf – ik oder ähnlich klingenden Silben enden, negativ behaftet sind.287 Vor allem erinnert ‚Malik‘ an die ‚maligne‘ Freiheit bzw. den trügerischen Schein, als bezeichnend für die ‚zweite Wirklichkeit‘, auf die mit dem bereits erwähnten Motto – „Malignitati falsa species libertatis inest.“ (DD 4) – verwiesen wird, welches dem Roman vorangestellt ist.

eigentlich kein Raum, sondern eine zweidimensionale Ebene, [. . .] in die sich Punkt wie Strich aus Maliks Werktitel problemlos fügen.“ Reisner 2017, S. 96. 282 Binder 2006, S. 64. Binder verweist in diesem Zusammenhang auf Jeanette Jakubowski: ‚Die Jüdin‘. Darstellungen in deutschen antisemitischen Schriften von 1700 bis zum Nationalsozialismus. In: Bilder der Judenfeindschaft. Antisemitismus – Vorurteile und Mythen. Hrsg. v. Julius H. Schoeps und Joachim Schlör, Augsburg 1999, S. 196–209. 283 Vgl. Else Lasker-Schüler: Der Malik. Eine Kaisergeschichte mit Bildern und Zeichnungen (1919). 284 Stieg 1990, S. 132. 285 Weininger 1903, S. 367. 286 Weininger 1903, S. 368. 287 Vgl. Voracek 1992, S. 460.

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Neben Likarz, Santenigg und Malik, verdient auch Anita, die Ex-Freundin Imres ihren Lebensunterhalt durch eine jener Beschäftigungen, mit welchen sich schon damals weiblicher Müßiggang nicht ohne Anmut an der Peripherie der Künste anzusiedeln pflegte, und in jedem Fall ertragreicher als das im Zentrum wäre möglich gewesen: sie modellierten was, sie entwarfen was, sie schrieben was oder sie vertrieben von anderen Geschriebenes, und schrieben noch am Rand was dazu, vor allem aber: sie tanzten was, sie lehrten Gymnastik und Rhythmik, es entstanden Tanzschöpfungen und mancherlei blühendes Kunstgewerbe. Kurz, sie waren immerhin Intellektuelle. [. . .] Anita, für ihr Teil, turnte, lehrte Gymnastik, tanzte (eine ihrer Schöpfungen war auf Johann Sebastian Bachs Solo-Sonaten für Violine aufgebaut), und obendrein modellierte sie, übrigens auch porno-plastisch. (DD 925 f., Hervorhebungen von M.B.)

Die künstlerischen Betätigungen von Frauen erscheinen in der zitierten Textstelle beliebig austauschbar und nicht etwa durch eine besondere Begabung zu einer bestimmten Kunstform festgelegt, was zu der Charakterisierung von Kunst als Freizeitbeschäftigung passt. Ebenso sind die Produkte durch das wiederholte ‚was‘ beliebig und vor allem keine Kunstwerke. Offen bleibt, ob es die Unfähigkeit der Frauen ist, ‚vollwertige‘ Kunst zu schaffen, ob der monetäre Aspekt ihnen wichtiger ist oder ob es z. B. gesellschaftliche Gründe sind, die Frauen aus dem Zentrum der Künste ausschließen. Die Art der Darstellung und die darin enthaltene Pauschalisierung legen allerdings nahe, dass Ersteres der Fall ist und Frauen per se die schöpferische Leistung, die über modisches Kunsthandwerk hinausgeht, abgesprochen wird. Auch der überproportionale Gebrauch des vorangestellten bestimmten Artikels vor die Namen der Künstlerinnen (die Santenigg, die Likarz, die Malik) hat „einen unverkennbar pejorativen Beigeschmack“.288 Wie bereits gesagt spielen innerhalb der Musikästhetik des neunzehnten Jahrhunderts vor allem die Gegensätze des Schönen und Angenehmen, des ‚Bedeutenden‘ und ‚Gefälligen‘ [. . .], des Poetischen und Prosaischen, von Kunst und Handwerk (im Sinne des Mechanischen und Virtuosen) und von Kunst und ‚Kulturindustrie‘, [. . .] bei der Ausgrenzung der ‚niederen‘ Musik eine bestimmende Rolle [. . .].289

Als Verteidigungsstrategie der Musikästhetik findet sich diese Dichotomisierung in Bezug auf Musik besonders ausgeprägt290 und mit weitreichenden Auswirkungen bis in die Gegenwart. Aber auch andere Künste sind von ähnlichen Polarisierungen betroffen und die von Frauen geschaffene Kunst in den Dämonen ist dabei ausschließlich der Seite des ‚Gefälligen‘, handwerklichen, d. h. der ‚Nicht-Kunst‘ zugeordnet.

288 Voracek 1992, S. 466 f. 289 Sponheuer 1987, S. 179 f. 290 Vgl. Sponheuer 1987, S. 7.

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Neben den hier aufgeführten populären, aber im Roman restlos diskreditierten Künstlerinnen, wurde bereits auf die große Rolle der weiblichen Musikerin Quapp eingegangen, die jedoch künstlerisch scheitert. Anhand dieser Figuren und den hier aufgeführten Textstellen zeigt sich deutlich der Einfluss Otto Weiningers, demzufolge die künstlerischen Werke von Frauen zwar besonders wohlwollend von der Gesellschaft aufgenommen würden, aber verglichen mit den Werken von Männern keinen eigentlichen Wert hätten. Zwar könne ein Talent auch zufällig an eine Frau vererbt werden, von der Genialität sei die Frau jedoch ausgeschlossen.291 Auf „die ungeheure Überzahl jener Frauen, die sicherlich nicht im geringsten der Kunst oder dem Wissen gelebt haben, bei denen diese Beschäftigung vielmehr an die Stelle der üblichen ‚Handarbeit‘ tritt und in dem ungestörten Idyll ihres Lebens nur einen Zeitvertreib bedeutet“,292 geht Weininger nicht näher ein. Die Darstellung der ‚Beschäftigung‘ und des ‚Müßiggangs‘ der „Frauen an der Peripherie der Künste“ (DD 925) erscheint in diesem Zusammenhang, wie eine Illustration zu Weiningers Aussage.

4.3 Musikalisierung – Imitation und Evokation von Musik Der intermediale Transfer musikalischer Formen und Strukturen in den Dämonen wird in den folgenden Kapiteln anhand der literarischen Imitation und Evokation von Musik nachvollzogen. Während in den vorangegangenen Kapiteln vorwiegend die Thematisierung von Musik, d. h. der Bereich des ‚telling‘, behandelt wurde, beziehen sich die folgenden Untersuchungen auf die Ebene des ‚showing‘, zu der „literarische Phänomene [gehören], die die Musik entweder evozieren, simulieren oder (teil)reproduzieren.293 Dabei wird es um Mikroformen294 der Musikalisierung gehen, d. h. um Techniken wie einerseits die Imitationen musikalischer Strukturen auf der motivischen Ebene durch Wiederholungen und Variationen, andererseits um die Versuche, eine von der musikalischen Polyphonie inspirierte Mehrstimmigkeit zu suggerieren. Die Wiederholungsstrukturen innerhalb der Dämonen wurden an einzelnen Stellen im Kontext der Musik-Thematisierungen auf der ‚histoire‘-Ebene bereits untersucht. In Kapitel 4.3.1 wird dieser Aspekt der Strukturparallelen zur Musik systematisch analysiert, indem die sogenannten ‚Phrasenmotive‘, d. h. Textpassagen, die sich wörtlich oder in variierter Form mehrfach im Roman finden, zu ‚Bündeln‘ zusammengefasst werden und zunächst ihre konstitutiven Elemente abstrahiert

291 292 293 294

Vgl. Weininger 1903, S. 85 u. S. 141. Weininger 1903, S. 86. Gess 2010, S. 143 f. Vgl. Wolf 1999, S. 58.

4.3 Musikalisierung – Imitation und Evokation von Musik

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werden.295 Die Variationen werden im Anschluss daran in ihrem jeweiligen Kontext interpretiert und die sich durch die Wiederholungen anreichernden Konnotationen aufgezeigt. Die ‚Phrasenmotive‘ gehen häufig mit einer Musikalisierung der Ausdrucksseite einher, so dass sie Elemente der ‚Wortmusik‘ enthalten und sich teilweise einer musikalischen Metaphorik bedienen. Ein wesentlicher Aspekt der Musikalisierung von Literatur ist die Literarisierung von außersprachlichen Klängen. Diese können zu Musik im engeren Sinne zählen, es können jedoch auch andere Klänge sein, wie der Gesang von Vögeln oder die „euphonische Umformung“296 von Großstadtlärm. Für die Untersuchung ausgesuchter Partien der Klangkulisse in den Dämonen greife ich einen Vorschlag Martin Brinkmanns auf, der Steven Paul Schers Begriff der ‚verbal music‘ auf die „zum literarischen Programm [erhobene] Schilderung natürlich erzeugter Klangereignisse“297 anwendet. Widmet ein Schriftsteller beispielsweise den Naturgeräuschen eine Beschreibung, die diese wie ein Musikstück behandelt und die Klangebene evoziert, so kann diese Literarisierung nichtsprachlicher Klänge als „uneigentliche ‚verbal music‘ klassifiziert“298 werden. Dieser anhand der Divertimenti und insbesondere des Divertimento No VI, dessen Handlung um die Höreindrücke eines blinden Mädchens kreist, entwickelte Ansatz lässt sich fruchtbar auf die Dämonen anwenden. Im Anschluss an Kapitel 4.3.2, in dem die unterschiedlichen Möglichkeiten der Literatur, musikalische Mehrstimmigkeit nachzuahmen und eine solche zu suggerieren, aufgezeigt werden, steht in den Abschnitten 4.3.3 und 4.3.4 das Romankapitel Das Feuer im Mittelpunkt. In diesem umfangreichen und komplexen ‚Finale‘ des Romans, das um den Brand des Wiener Justizpalastes am 15. Juli 1927 kreist, werden alle Handlungsstränge der Dämonen zusammengeführt und dabei verschiedene musikalisierende Techniken eingesetzt. Zunächst wird die ‚kontrapunktische‘ Konzeption des ‚Feuer‘-Kapitels analysiert, das u. a. durch einen antithetischen Aufbau und eine kontrastierende Motivik ein ‚kontrapunktisches‘ Spannungsgefüge aufweist. Die musikalisierte Klangkulisse spielt auch für die Analyse des ‚Feuer‘-Kapitels eine Rolle, da hier neben den Natur- und Stadtgeräuschen besonders die Thematisierungen von Stille und Lärm von Bedeutung sind, die als „Prinzip der

295 Vgl. Lévi-Strauss 1978, S. 232. Das methodische Vorgehen, das durch Lévi-Strauss’ Mythenanalyse inspiriert ist, deren Prämissen bereits Martin Brinkmann auf Doderers ‚phrasierte‘ Motivik angewandt hat, wird in Kap. 4.3.1 erläutert. 296 Schmidt-Dengler 1997, S. 95. Schmidt-Dengler hat darauf hingewiesen, dass insgesamt die intensive „Gestaltung sinnlicher Eindrücke“ (Schmidt-Dengler 1997, S. 93) kennzeichnend für Doderers Prosa ist. Neben der ‚impressionistischen‘ Schilderung visueller Wahrnehmungen steht die „präzise Erfassung der Geräuschkulisse“ (Schmidt-Dengler 1997, S. 93) dabei im Mittelpunkt. Auch die Charakterisierung von Personen und Orten durch olfaktorische Eindrücke und die Assoziationsketten, die durch Gerüche bei den Romanfiguren ausgelöst werden, sind Teil dieser sinnlich verdichteten Dodererschen Romanwelten. 297 Brinkmann 2012, S. 437. 298 Brinkmann 2012, S. 436.

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Kontrastierung“299 den gesamten Roman prägen und im ‚Feuer‘-Kapitel ihren Höhepunkt finden. Die ‚polyphone‘ Struktur wird anhand der Synchronisierung der verschiedenen Handlungsstränge durch den schnellen Wechsel zwischen den Sequenzen, deren Handlungen zeitgleich oder leicht versetzt stattfinden, analysiert. Die Simultanität der unterschiedlichen Sequenzen bezieht sich dabei nicht nur auf die zeitliche Dimension, sondern lässt sich auch als Versuch verstehen, die konträren politischen Perspektiven, die am 15. Juli 1927 in Wien aufeinanderprallen, einerseits durch die multiperspektivische Annäherung an die historischen Ereignisse abzubilden und andererseits durch die Reduktion auf private Erlebnisse zu nivellieren.

4.3.1 ‚Phrasierte Motivik‘ In seinen frühen literarischen Arbeiten hat sich Doderer stark von musikalischen Formen inspirieren lassen. Dies trifft auch auf die späteren Schaffensphasen zu, in denen die Einflüsse der Schwesterkunst jedoch subtiler zum Ausdruck kommen und ein freierer Umgang mit den technischen Vorbildern dominiert. Ein besonders aussagekräftiges Zeugnis der frühen Orientierung an Musik ist der Versuch, mit den Divertimenti genannten Erzählungen eine neue literarische Gattung zu schaffen. Doderer definiert das literarische Divertimento im Februar 1926 in seinen Tagebüchern als kurze, in vier straffe Sätze (analog der Symphonie) gefasste möglichst spannende Erzählung, mit eventueller Einlage von Intermezzis [sic][ . . . ,] mit phrasierter Motivtechnick [sic][. . .] und getragen von der durch ständige Arbeit verdichteten Ausdrucks-Prosa [. . .]. (TB 346, Februar 1926, Hervorhebung von M.B.)

Den Begriff ‚phrasierte Motivtechnik‘, der „aus der Sicht der musikalischen Formenlehre sinnlos ist“, verwendet Doderer als „Hilfsbegriff“, der sich „mehr auf die Erzählform als auf den Erzählgegenstand [bezieht]“.300 Trotz der inhaltlichen Diskrepanz zwischen literarischen und musikalischen Termini ist diese – während der Arbeit an den Divertimenti entwickelte motivische Arbeit – ein entscheidendes Element der Musikalisierung in Doderers Werken. Anders als Thomas Mann, der die stark von Richard Wagner geprägte Leitmotivik literarisch adaptiert hat,301 orientiert sich Doderer

299 Schmidt-Dengler 1997, S. 97. 300 Heydemann 1975, S. 358. 301 Nach seiner Lektüre von Thomas Manns Zauberberg weist Doderer in seinen Tagebüchern auf den unterschiedlichen Umgang mit der Motivik hin: „Die Motivik (als Sachmotivik nicht als phrasierte) bis zur letzten Finesse durchgebildet . . . [. . .] Viel entzückendes Détail, das jeden Leser charmieren muss. [. . .] Uns junge Leute (Artisten) geht aber dieses Buch nichts an, seine Lecture ist für uns schädlich [. . .] wegen der doch allmählich (unterm Lesen) eintretenden Gewöhnung an eine Technik, die während der ersten 2–300 Seiten noch ganz natürlicherweise wie ein Brechmittel auf uns wirkt“ (TB 342 f., Februar 1926). Zu der differierenden musikalisch geprägten Motivtechnik

4.3 Musikalisierung – Imitation und Evokation von Musik

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an der Form der klassischen Symphonie.302 Während die Leitmotivik aus dem Bereich der Oper bzw. des Musikdramas stammt und auf außermusikalische Bedeutungszusammenhänge verweist, korrespondieren die stark ausgeprägten selbstreflexiven Momente in Doderers Romanen, die sich unter anderem in den ‚Phrasenmotiven‘ gehäuft finden, mit der Idee der ‚absoluten Musik‘, die anhand der Symphonie entwickelt wurde303 und „in der Überzeugung [besteht], daß Instrumentalmusik gerade dadurch, daß sie begriffs-, objekt- und zwecklos ist, das Wesen der Musik rein und ungetrübt ausspricht“.304 Das musikalische und das literarische Leitmotiv sind eher statisch und oft an Figuren gebunden. In der Musik bezeichnet das Leitmotiv eine prägnante [musikalische] Gestalt, die in wortgebundener oder programmatischer Musik einem bestimmten dichterischen Moment (einer Idee, Sache oder Person u. ä.) zugeordnet ist und im [musikalischen] Text immer dann erscheint, wenn dieses dramatisch-poetische Moment gemeint ist.305

Im literarischen Kontext wird das Leitmotiv definiert als exakte oder variierte Wiederholung nicht allein eines thematologischen Motivs im engeren Sinne, sondern auch bestimmter Wortformen, Metaphern, Dingsymbole, Reime, Zitate, ‚stehender Redewendungen‘, markierter Erzählverfahren, physiologischer oder charakterlicher Besonderheiten handelnder Figuren.306

Auch in Doderers Texten finden sich z. B. bestimmten Figuren zugeordnete und diese charakterisierende Motive,307 die mit dem Begriff ‚Leitmotiv‘ belegt werden

bei Thomas Mann und Doderer siehe auch Eva Meingassner: Wirklichkeitsdimensionen im kurzepischen Werk Heimito von Doderers: Studien zur Struktur der Kurzepik und ihren Zusammenhängen mit der Wirklichkeitsproblematik. Phil. Diss., Wien 1972, S. 92 f. 302 Vgl. Buchholz 1996, S. 51. 303 Carl Dahlhaus erläutert, wie sich „die Theorie der absoluten Musik“ um 1800 am „Anschauungsmodell“ der Symphonie entwickelt hat (Dahlhaus 1978, S. 16), der Begriff ‚absolute Musik‘ aber erst 1846 von Richard Wagner geprägt wurde, und zwar in Bezug auf Beethovens Neunte Symphonie, in der Wagner den „Übergang von der Instrumental- zur Vokalmusik als ‚Erlösung‘ des ‚Tones‘ durch das ‚Wort‘ rühm[t]“. Dahlhaus 1978, S. 25. 304 Dahlhaus 1978, S. 13. 305 Leitmotiv [Art.]. In: Brockhaus Riemann Musiklexikon. In vier Bänden und einem Ergänzungsband. Bd. 3. Hrsg. v. Carl Dahlhaus und Hans Heinrich Eggebrecht, Mainz 21989, S. 27–28, hier: S. 27. 306 Christoph F. Lorenz: Leitmotiv [Art.]. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearbeitung, Bd. 2, hrsg. von Harald Fricke gemeinsam mit Georg Braungart, Klaus Grubmüller, Jan-Dirk Müller, Friedrich Vollhardt und Klaus Weimar, Berlin/New York 2007, S. 399–401, hier: S. 399. 307 Im literaturwissenschaftlichen Kontext verstanden als die „kleinste selbstständige InhaltsEinheit oder [ein] tradierbares intertextuelles Element eines literarischen Werks“, das „auf der Bedeutungsebene des Textes [angesiedelt ist und][. . .] von anderen Kategorien des Inhalts durch seine Bedeutungsweite (Extension) und – dichte (Intension) zu unterscheiden [ist].“ Rudolf Drux: Motiv [Art.].

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können. Die durch einen sprachlich prägnanten Ausdruck gewährleistete leichte Wiedererkennbarkeit und damit einhergehend die konstante Beschaffenheit des formelhaft wiederholten Motivs sind jedoch unverzichtbare Elemente für die Konstatierung eines Leitmotivs.308 Wird der Begriff hingegen – wie dies auch in Bezug auf Doderers Werke oftmals geschieht – beliebig auf wiederkehrende Themen und variierende Motive mit ähnlichem Inhalt angewandt, dann verliert er neben dem musikalischen Bezug auch seine Relevanz für die Interpretation.309 Anders verhält es sich jedoch mit den zu Phrasen ausgeweiteten Motiven, die in diesem Kapitel im Fokus stehen. Die ‚Phrasenmotive‘ variieren unterschiedlich stark und werden bei jeder Wiederholung mit mehr Bedeutung aufgeladen. Auch der Kontext, in dem sie stehen, trägt zur Bedeutungserweiterung bei. Die ‚phrasierten‘ Motive werden nicht nur variiert und miteinander kombiniert, sondern auch unterschiedlichen Figuren zugeordnet und in verschiedene Erzählperspektiven eingeflochten. Die unterschiedliche Art der Einbettung in den Erzählkontext lässt „sich an den Kategorien syntaktische Konstanz, inhaltliche Konstanz und Kombination mit anderen wiederkehrenden Bildern“310 festmachen. Die dem Leitmotiv zugrundeliegende Eigenschaft, „Vergangenes und Zukünftiges im je Gegenwärtigen“311 zu vereinen, trifft auch auf die ‚Phrasenmotive‘ zu. Thomas Manns Definition des Leitmotivs als „vor- und zurückdeutende magische Formel, die das Mittel ist, seiner [des Romans] inneren Gesamtheit in jedem Augenblick Präsenz zu verleihen“312 lässt sich somit ebenfalls auf die ‚Phrasenmotive‘ beziehen, die jeweils den Kontext ihrer vorherigen Sequenzen mit evozieren und auf die folgenden vorausdeuten. In der Musik bedeutet Phrasierung [. . .][so viel wie] Abgrenzung der Phrasen, d. h. der mehr oder minder in sich geschlossenen natürlichen Glieder der mus[ikalischen] Gedanken (Sinngliederung), sowohl beim Vortrag durch den Ausdruck [. . .] als in der Notierung durch besondere Zeichen, vor allem aber beim Hören bzw. Lesen eines Tonstücks als richtige Auffassung.313

In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearbeitung, Bd. 2, hrsg. von Harald Fricke gemeinsam mit Georg Braungart, Klaus Grubmüller, Jan-Dirk Müller, Friedrich Vollhardt und Klaus Weimar, Berlin/New York 2007, S. 638–641, hier: S. 638. 308 Vgl. Brown 1984, S. 32. 309 „Auch die Übernahme des Terminus Leitmotiv durch die Literaturwissenschaft trug dazu bei, daß der Begriff sich in geradezu inflationärer Weise verbreitete und an spezifischem Inhalt verlor.“ Joachim Veit: Leitmotiv [Art.]. In: MGG, Sachteil 5. Kassel/Basel 1996, Sp. 1078–1095, hier: Sp. 1079. 310 Heydemann 1975, S. 358. 311 Leitmotiv [Art.]. In: Brockhaus Riemann Musiklexikon. In vier Bänden und einem Ergänzungsband. Bd. 3. Hrsg. v. Carl Dahlhaus und Hans Heinrich Eggebrecht, Mainz 21989, S. 27–28, hier: S. 27. 312 Mann 1960, S. 603. 313 Phrasierung [Art.]. In: Brockhaus Riemann Musiklexikon. In vier Bänden und einem Ergänzungsband. Bd. 3. Hrsg. v. Carl Dahlhaus und Hans Heinrich Eggebrecht, Mainz 21989, S. 299–300, hier: S. 299.

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Vereinfacht gesagt besteht eine Phrase also aus mehreren Motiven bzw. bei einer Periode aus Vordersatz und Nachsatz. Pausen sind ein wichtiges Mittel, um die Grenzen von Phrasen zu kennzeichnen.314 Die Phrase ist das nächstgrößeres Gebilde nach dem Motiv [. . .], wird ein musikalisches Motiv zur Phrase, weitet es sich taktmäßig aus. Somit kann ‚phrasierte Motivik‘ als vergrößerte, erweiterte, betonte Motivik übersetzt werden, die durch ihr Gewicht mehr als sonst in den Bereich der Interpretation eingreift, was der ‚Phrasierung‘ entspricht, die ja genuin dem Bereich der Interpretation eines musikalischen Notentextes angehört.315

Klaus Heydemann und Adolf Haslinger haben schon zu Beginn der Doderer-Forschung auf die Wiederholungsstrukturen in Doderers Werken hingewiesen. Heydemann hat die Motivtechnik der Divertimenti untersucht, in denen die ‚Phrasenmotivtechnik‘ besonders stark ausgeprägt ist, und dabei festgestellt, dass die Wiederkehr der ‚Phrasenmotive‘ „mehr als bloße Wiederholung [ist], da der Bedeutungsgehalt durch die hinzutretenden Kontexte modifiziert wird; hieraus ergeben sich Möglichkeiten der Steigerung und des Kontrastes.“316 Haslinger beschäftigt sich mit den wiederkehrenden sprachlichen Bildern in der Strudlhofstiege, die sich zum Teil als ‚phrasierte‘ Motive bezeichnen lassen. Der thematische Zusammenhang der wiederholten und variierten Bilder steht in seinem Beitrag im Vordergrund, so dass die Analogien zu musikalischen Kompositionstechniken unberücksichtigt bleiben. Die „Form von Bildkette und Bildgefüge“ ermögliche es „dem Dichter, ähnlich der weniger bildhaften als stärker musikalischen Leitmotivik Thomas Manns, die epische Struktur und Thematik durch ein dichtes System bedeutsamer Assoziationen architektonisch zu binden.“317 Eine umfassendere Studie hat erst Martin Brinkmann vorgelegt, der im Anschluss an Heydemann die ‚phrasierte Motivik‘ anhand der Divertimenti aufschlussreich darstellt, indem er die von Claude Lévi-Strauss entwickelten Methoden der Mythenanalyse auf Doderers Texte überträgt.318 Lévi-Strauss zufolge nimmt die Mythologie zwischen den „diametral entgegengesetzten Typen von Zeichensystemen – einerseits der musikalischen Sprache, andererseits der artikulierten Sprache – [. . .] eine mittlere Position ein“,319 da der Mythos sowohl Ähnlichkeiten mit der Musik als auch mit der Sprache aufweist.320 Ausgehend von der Sprache versteht er Musik und Mythologie als

314 Vgl. Phrasierung [Art.]. In: Brockhaus Riemann Musiklexikon 21989, S. 299. 315 Buchholz 1996, S. 60. 316 Heydemann 1975, S. 358. 317 Adolf Haslinger: Wiederkehr und Variation. Bildkette und Bildgefüge in Doderers Roman ‚Die Strudlhofstiege‘. In: Sprachkunst als Weltgestaltung. Festschrift für Herbert Seidler. Hrsg. v. Adolf Haslinger, Salzburg u. a. 1966, S. 88–130, hier: S. 130. 318 Siehe Brinkmann 2012, S. 185–194. 319 Claude Lévi-Strauss: Mythologica I: Das Rohe und das Gekochte [1964]. Frankfurt a. M. 1976, S. 47. [= Lévi-Strauss 1976a]. 320 „Mit der Erfindung der Fuge und anderen, späteren Kompositionsformen übernimmt die Musik Strukturen des mythischen Denkens in dem Augenblick, da die literarische Erzählung, die

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Schwestern, die denselben Ursprung haben, wobei in der Musik „das Lautliche, das Tonelement [überwiegt], im Mythos das Bedeutungselement.“321 In Der nackte Mensch (1971), dem vierten Band der Mythologica, erläutert Lévi-Strauss dieses Verhältnis folgendermaßen: „Im Fall der Musik ist die Struktur gewissermaßen vom Sinn losgelöst und dem Laut verhaftet; im Fall der Mythologie ist die Struktur vom Laut losgelöst und dem Sinn verhaftet.“322 In den ‚Phrasenmotiven‘ zeigen sich einerseits die Rekurrenzen auf der klanglichen Ebene und andererseits die Kohärenzen in der Tiefenstruktur. Die Analogien zwischen Musik und Mythen sind auch für die Rezeption entscheidend: Ebenso wie sich der Rezipient von Musik ständig des Gesamtbildes bewußt bleiben muß, so erschließt sich dem Mythenforscher die Bedeutung des Mythos nicht allein durch die lineare Abfolge der Ereignisse, sondern erst durch ihre Aufschichtung zu äquivalenten Ereignisbündeln. Erst indem er Wiederkehrendes synchronisiert und zwischen solchen rekurrenten Einheiten Äquivalenz- und Oppositionsrelationen herstellt, enthüllt sich ihm [. . .] die dem Mythos zugrundeliegende Tiefenstruktur.323

Lévi-Strauss vergleicht die „konstitutiven Einheiten des Mythos“, die erst als „Beziehungsbündel und [. . .] in Form von Kombinationen solcher Bündel eine Bedeutungsfunktion erlangen“,324 mit der Dimension der Harmonie in der Musik: eine Orchesterpartitur hat nur Sinn, wenn sie diachronisch gemäß der einen Achse (Seite nach Seite von links nach rechts), zugleich aber auch synchronisch und gemäß der anderen Achse, von oben nach unten, gelesen wird. Anders ausgedrückt, alle Noten auf derselben Vertikalen bilden eine große Teileinheit, ein Beziehungsbündel.325

Diese von den Musik und Mythen Rezipierenden geforderte Gedächtnis- und Analogisierungsleistung setzen auch die Romane Doderers bei den Leser*innen voraus.326 In diesem Punkt stellen die ‚großen‘ Romane besondere Ansprüche, da die Rekur-

von einer mythischen zu einer romanesken geworden ist, sie ausräumt.“ Musik und Literatur teilen sich daher Lévi-Strauss zufolge „das Erbe des Mythos“. Claude Lévi-Strauss: Mythologica IV: Der nackte Mensch [1971]. Frankfurt a. M. 1976, S. 765 f. [= Lévi-Strauss 1976b]. 321 Claude Lévi-Strauss: Mythos und Musik [1979]. In: Mythos und Bedeutung. Fünf Radiovorträge. Gespräche mit Claude Lévi-Strauss. Hrsg. v. Adelbert Reif, Frankfurt a. M. 1980, S. 57–67, hier: S. 66. 322 Lévi-Strauss 1976b, S. 758. 323 Cornelia Klettke: Die Affinität zwischen Mythos und Musik in der Konzeption von Claude LéviStrauss und ihre Übertragung in den postmodernen Mythenroman Michel Tourniers. In: Musik und Literatur. Komparatistische Studien zur Strukturverwandtschaft. Hrsg. v. Albert Gier und Gerold W. Gruber, 2. veränderte Auflage, Frankfurt a. M./New York 1997 (= Europäische Hochschulschriften, Reihe 36: Musikwissenschaft; Bd. 127), S. 61–82, hier: S. 64. 324 Lévi-Strauss 1978, S. 232. 325 Lévi-Strauss 1978, S. 233. 326 Schmidt-Dengler sieht in Bezug auf Doderers Erzählungen die „Hauptabsicht des Autors“ darin, „jenseits der Erzählinhalte Analogien zu finden und jene zu äußeren Erscheinungsformen einer identischen Tiefenstruktur zu machen“. Wendelin Schmidt-Dengler: Nachwort des Herausgebers. In: Heimito von Doderer: Die Erzählungen. Hrsg. v. Wendelin Schmidt-Dengler, München 2006, S. 499–505, hier: S. 503.

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renzen zum Teil durch mehrere hundert Seiten voneinander getrennt sind und erst bei wiederholter Lektüre erkennbar werden. Durch die stark ausgeprägten Wiederholungsstrukturen lassen sich ähnlich wie in den von Lévi-Strauss analysierten Mythen auch in diesen Romanen Relationen zwischen rekurrenten Textstellen ausmachen, die eine ‚vertikale‘ Lesart des Textes erfordern. Wenn Mythen wie Orchesterpartituren nur „als ein Ganzes“ begriffen werden können, da „die eigentliche Bedeutung des Mythos nicht durch die Abfolge der Ereignisse, sondern [. . .] durch Ereignisbündel vermittelt wird“,327 so muss auch für jedes der literarischen ‚Phrasenmotive‘ „die Gruppe seiner Transformationen“ ermittelt werden „um alsdann die Isomorphie-Beziehungen zwischen den Motiven derselben ‚Phrasen‘Motiv-Gruppe bzw. der (Gesamt-) ‚Sequenz‘ herauszuarbeiten.“328 Die ‚phrasierte Motivtechnik‘ in den Dämonen ist im Verhältnis zum Umfang des Textkorpus und im Vergleich zu den Divertimenti oder auch der Strudlhofstiege nicht besonders stark ausgeprägt.329 Dennoch finden sich einige ‚Phrasenmotive‘, denen durch ihre mehrfache Präsenz im Text ein besonderes Gewicht zukommt und deren „Wortfolge als Konstruktionselement“330 verwendet wird, so dass sie als Teil der ‚Form- und Strukturparallelen‘ innerhalb der musikalisch-literarischen Intermedialität zur Musikalisierung des Romans beitragen.331 Im Folgenden werden ausgewählte ‚Phrasenmotive‘ untersucht und ihre Funktion für die Interpretation aufgezeigt. Dabei wird anhand des ‚Erholungsheim-Phrasenmotivs‘ näher auf Doderers Technik eingegangen und der Aufbau der Sequenzen detailliert analysiert, worauf bei den folgenden ‚Phrasenmotiven‘ verzichtet wird.332 In Anlehnung an Lévi-Strauss und inspiriert durch Brinkmanns Analyse der Divertimenti werden die einzelnen Sequenzen in Tabellen zusammengefasst, um sie in ihrer Gesamtheit darstellen zu können.333 Für eine bessere Übersicht wird dabei jedem ‚Phrasenmotiv‘ eine eigene Tabelle zugeordnet,334 in der die horizontale Darstellung der Reihenfolge der Sequenzen im ‚discours‘ entspricht.335 Als ‚Ereig-

327 Lévi-Strauss 1980, S. 57. 328 Brinkmann 2012, S. 391. 329 So besteht „etwa ein Fünftel der Textoberfläche“ des Divertimento No IV aus wiederkehrenden ‚Phrasenmotiven‘. Siehe Brinkmann 2012, S. 391. 330 Petri 1964, S. 44. 331 Siehe Kap. 3. 332 Einige ‚Phrasenmotive‘ werden auch in anderen Kapiteln dieser Arbeit besprochen, wenn sie für die Interpretation dort von Bedeutung sind. 333 Siehe Anhang A: ‚Erholungsheim-Phrasenmotiv‘ und ‚Sonnenaufgang-Phrasenmotiv‘; Anhang B: ‚Man-sieht-weit-Phrasenmotiv‘; Anhang C: ‚Schwebende-Kugeln-Phrasenmotiv‘; Anhang D: ‚Faden-imGewebe‘-Motiv. 334 Wenn eine Kombination verschiedener ‚Phrasenmotive‘ vorliegt, werden diese in einer Tabelle zusammen erfasst. 335 In der ersten Zeile jeder Spalte findet sich neben der Zählung der Sequenzen und der Seitenangabe ein Verweis auf die Erzählperspektive und in Klammern darunter gegebenenfalls der Hinweis

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nisbündel‘ zusammengefasst, lassen sich so die Variationen, Kombinationen mit anderen Motivelementen und die Entwicklung des ‚Phrasenmotivs‘ aufzeigen. Zu den am intensivsten bearbeiteten ‚phrasierten‘ Motiven in den Dämonen zählen das ‚Erholungsheim-Phrasenmotiv‘ und das ‚Sonnenaufgang-Phrasenmotiv‘. Beide werden miteinander kombiniert und variiert. Die Relationen dieser Motive sind für die Musikalisierung des Romans besonders interessant, da sie mit zahlreichen Hinweisen auf die ‚musikalische‘ Intention des ‚Phrasenmotiv‘-Gebrauchs verknüpft werden. Diese Verflechtungen und die mit der motivisch-thematischen Arbeit einhergehende Imitation ‚musikalischer‘ Strukturen sowie die selbstreferentiellen Spiegelungen und programmatischen Anklänge innerhalb der Motivik werden im Folgenden im Hinblick auf ihre Bedeutung innerhalb der Wahrnehmungsthematik und ihre Funktion für die Musikalisierung des Romans untersucht. Das Motiv des Erholungsheims ist der Figur Leonhard Kakabsa zugeordnet, der an diesem von seinem Arbeitgeber bereitgestellten Ort Urlaub macht.336 Feste Bestandteile des ‚Erholungsheim-Phrasenmotivs‘ sind das ‚rückwärtige Türchen‘, durch das man aus dem Park in den Wald gelangt, der ‚ebenhin querende Weg‘ am Berghang und die auf den Vogelgesang folgende Stille. Die erste Sequenz, in der das Erholungsheim thematisiert wird, verweist auf die Bedeutung des Motivs: Er verließ diesen [Park] durch die rückwärtige Pforte und trat in den Wald. Es war nicht so sehr ein Austritt aus dem ja auch nur wenig belebten Park in die Stille des Waldes, als vielmehr der Eintritt in eine wesentlich andere Sphäre der Befangenheit. Am steilen Hang bald ein ebenhin querender Weg. Links aufwärts, war’s gleich ein sonniger Tag, verlor sich der Wald in’s Finstre, aus dem jedoch eine Vogelstimme tönte, gleichmäßig dasselbe Motiv mit gleichbleibenden Pausen wiederholend. Rechts voraus am Wege Helligkeit, des Waldes Ende und Auflösung, Gebüsch, hohe Einzelbäume. In der Ferne dunstete Fels. Es gab nicht nur den dunklen Nadelwald hier, der Blick ging auch über rundliche Laubkronen. Gewaltig der Duft vom vielen Gewächs, Würze über Würze. Der Vogel rückwärts schwieg. Es war jetzt vollkommen still. (DD 162 f., Hervorhebungen von M.B.)337

auf die Chronologie der ‚histoire‘, die v. a. durch Analepsen in Form von Erinnerungen durchbrochen ist. Die Textpassagen sind zum Teil gekürzt, so dass die farblich gekennzeichneten Rekurrenzen sichtbar werden. 336 Thomas Petutschnig hat Teile dieses Motivs, das er ‚Park-Motiv‘ nennt, in Bezug auf Leonhard untersucht (siehe Petutschnig 2007, S. 157–163). Dabei stellt er vor allem die inhaltliche Bedeutung des Motivs für die Beziehung zwischen Leonhard und Mary K. heraus. Die Kombination des Erholungsheim-Motivs mit dem Motiv des Sonnenaufgangs wird jedoch übersehen, da der Fokus auf der Figur Leonhard liegt. Daher bezieht sich Petutschnig nur auf die Textstellen, in denen das Erholungsheim-Motiv bzw. Park-Motiv auftritt (siehe Anhang A: Nr. 1–4 und Nr. 8–10). Daneben nennt er weitere Park-Motive, die für die Untersuchung der ‚phrasierten‘ Motivik keine Bedeutung haben. Vgl. Petutschnig 2007, S. 157 f. u. S. 161. 337 Die Hervorhebungen markieren einerseits die konstitutiven Motivelemente und die thematischen (Natur-)Musikbezüge, sowie besonders auffällige Elemente der ‚Wortmusik‘, wie beispielsweise Assonanzen und Wortwiederholungen. Alle folgenden Hervorhebungen im Zusammenhang mit dem Motiv des ‚rückwärtigen Ausgangs‘ von M.B.

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Der rückwärtige Ausgang lässt sich als Möglichkeit deuten, den eingeschlagenen Lebensweg zu verlassen und somit in einen neuen Lebensabschnitt zu treten, d. h. in „eine wesentlich andere Sphäre der Befangenheit“ (DD 162). Auch wenn es unmöglich scheint, sich aus allen Befangenheiten zu lösen, verweist doch der ‚ebenhin querende Weg‘ auf die Möglichkeit der freien Willensentscheidung, eine Richtung zu wählen. Leonhard weigert sich bis zu seinem schicksalhaften Zusammentreffen mit Mary K. standhaft, sich in irgendeiner Weise – sei es politisch, privat oder beruflich – festzulegen. Diese „Scheu vor Verstrickung und Festgelegtsein“ (DD 117) entspricht dem sprichwörtlichen Offenlassen eines Hintertürchens, das in den diversen Variationen des rückwärtigen Türchens in diesem ‚Phrasen-Motiv‘ durchscheint.338 Neben diesem Zurückweichen vor Verbindlichkeit verweist das Türchen aber vor allem auf die aktive Überwindung eines Zustandes und den Übergang in eine neue Lebensphase. Auch wenn Leonhards Ausgangspunkt bereits eine Gegenbewegung zu den diversen ‚Verstrickungen‘ enthält und somit nur bedingt dem Paradigma der ‚zweiten Wirklichkeit‘ entspricht, führt seine Entwicklung hin zu einer universalen Akzeptanz der Wirklichkeit mit den darin enthaltenen unvermeidbaren Befangenheiten. Als Schnittstelle zwischen ‚erster‘ und ‚zweiter Wirklichkeit‘ wird das Motiv des ‚rückwärtigen Ausgangs‘ besonders deutlich in Verbindung mit den Figuren Geyrenhoff und Imre von Gyurkicz markiert. Auch der fiktive Chronist Geyrenhoff, der durch seine neue Liebesbeziehung einen Ausweg aus den seine Sexualität hemmenden Jugenderinnerungen findet, muss dafür durch „eine rückwärtige offenstehende Türe“ (DD 1129) treten. Anders verhält es sich bei Imre, der „nicht den Ausgang nach rückwärts aus seiner verklemmten inneren und zum Teil auch äußerlich vertrackten Lage“ (DD 933) findet. Sowohl in seiner Beziehung zu Quapp als auch in seiner Kunst sucht Imre einen Ausweg aus seiner persönlichen und gesellschaftlichen Determiniertheit. Für seine Landschaftsmalerei scheint ihm ein bestimmtes Motiv besonders bedeutungsvoll zu sein: „Er wollte gerade diesen Blick haben und gar keinen anderen, ihm schien hier sozusagen eine Hintertüre aufgehen zu wollen [. . .], ein rückwärtiger Ausgang, aus allem und jedem [. . .]“ (DD 933). Dieser Versuch, sich durch die Wahl des ‚richtigen‘ Motivs zu befreien, verweist durch den gewählten Standort auf dem Schattendorfer Friedhof auf die Vergeblichkeit dieser Bemühungen und kündigt Imres späteren Tod bei den durch die Schattendorfer Morde ausgelösten Unruhen des 15. Juli 1927 als einzigen Ausweg an. Nach diesen interpretatorischen Überlegungen soll nun der zweite Teil des ‚phrasierten‘ Motivs betrachtet werden, der für die ‚musikalische‘ Deutung entscheidend ist. Zu dem evozierten Bild des Waldes mit den visuellen Kontrasten von

338 Siehe auch Petutschnig 2007, S. 159.

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Hell und Dunkel, Masse und Einzelnem und der olfaktorischen Ebene von Duft und Würze, tritt mit der Vogelstimme die Klangsphäre hinzu, die ebenfalls kontrastierend zu der Stille des Waldes wirkt. Durch die repetitive Beschreibung des Vogelgesangs imitiert der Text auf sprachlicher Ebene das natur-musikalische Phänomen: „eine Vogelstimme tönte, gleichmäßig dasselbe Motiv mit gleichbleibenden Pausen wiederholend“ (DD 163, Hervorhebungen von M.B.). Das ‚phrasierte‘ Motiv endet mit dem Aussetzen des Vogelgesangs und der damit eintretenden vollkommenen Stille. Parallel dazu ist mit dem in Stille endenden ‚Phrasen-Motiv‘ auch das Kapitelende erreicht. Neben der Rezeptionslenkung auf die Musikalisierungsstrategie des Textes, enthält diese Beschreibung einen selbstreferentiellen Hinweis auf die folgende phrasierte Motivik, die sich über beinahe 1200 Seiten erstreckt und deren Ausgangspunkt diese erste Nennung des Motivs ist. Wie der Vogel dasselbe Motiv wiederholt, so wiederholt auch der Text das ‚Phrasen-Motiv‘, dessen Ende durch die ‚vollkommene Stille‘, die in folgenden Versionen des Motivs als ‚Generalpause‘ noch deutlicher den musikalischen Bezug herstellt, gekennzeichnet ist. Nachdem sich Leonhards Befangenheit gegenüber den drei von ihm begehrten Frauen (Malva, Trix und Elly) gelöst hat, übersetzt er für seine Vermieterin einen lateinischen Spruch,339 der ihm bewusst macht, dass es darauf ankommt, „sich nicht einzulassen“ (DD 592). Die unversehens zurückkehrende Erinnerung an das Erholungsheim folgt auf Leonhards Zweifel, ob er sich selbst befreien kann:340 „‚Das kann ich doch nicht selbst‘, sagte Leonhard laut vor sich hin“ (DD 593). Das ‚Phrasen-Motiv‘ wird daraufhin in verdichteter Variante wiedergegeben: Leonhard hatte den Park bergwärts verlassen durch ein rückwärtiges Türchen im Zaun: am steilen Hang im Wald bald ein ebenhin querender Weg. In der Ferne und Höhe dunstete Fels. Ein Vogel, der in der finstern Waldestiefe gepfiffen hatte, schwieg jetzt. Es war vollkommen still. (DD 593)

Die Verdichtung der Motivbausteine (rückwärtiges Türchen, ebenhin querender Weg, Ferne vs. Finstre Waldestiefe, Vogelgesang, vollkommene Stille) präzisiert die Essenz des Phrasenmotivs und ist der musikalischen Technik der Diminution von Motiven oder Themen vergleichbar, bei der durch die Verkürzung der Notenwerte das Motiv oder Thema verkleinert wird.

339 „Leonhard übersetzt für seine Vermieterin den an Ps 25, 17 (Vg: Ps 24, 17) angelehnten Satz ‚Eripe me, Domine, e necessitatibus meis.‘“ [In Leonhards Übersetzung: „Reiße mich heraus, Herr, aus dem, was mich nötigt.“ (DD 592)]. Petutschnig 2007, S. 158. 340 Vgl. Petutschnig 2007, S. 159.

4.3 Musikalisierung – Imitation und Evokation von Musik

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Die darauffolgende Wiederholung ist ein Einschub der auktorialen Erzählinstanz341 und wird eingeleitet mit den Worten: „Man erinnert sich . . .“ (DD 611). Auch hier ist es wieder der ‚rückwärtige Ausgang‘ und der ‚ebenhin querende Weg‘, die nach der diminuierten Variante des ‚Phrasen-Motivs‘ nun als Signalwörter fungieren. Diesmal wird die Sequenz jedoch erweitert bzw. mit dem ‚Sonnenaufgang-Motiv‘ kombiniert, das vor das Motivelement der ‚vollkommenen Stille‘ am Phrasenende geschoben wird. Jetzt war es hier noch dunkel. Der Osten, durch Bäume teilweis verdeckt, ließ doch auch zwischen den Stämmen die Nacht schon fahl werden. Aus der Finsternis des Hochwaldes tönten zarte, die Stille schlitzende Pfiffe in vollkommen gleichmäßigen Pausen. Während allmählich dem verschlissener werdenden Samte der Nacht immer mehr Einzelnes entfiel und in die Sichtbarkeit geriet, nahmen die Pfiffe, neben welchen bald kompliziertere Kadenzen hörbar wurden, rasch anschwellend zu, bis knapp vor jenem Augenblick, da der glühende Sonnenrand über den Waldkuppen im Osten hervorkam: es schien jetzt fast so etwas wie eine GeneralPause eingehalten zu werden; denn als das Gestirn sich in den lackreinen Himmel hob, war es im Walde durch einige Sekunden vollkommen still. (DD 611, Hervorhebungen von M.B.)

Auch hier bildet die Dunkelheit einen Kontrast zur Helligkeit mit der Differenzierung der Einzelheiten. Der ‚musikalische‘ Bezug wird durch die musikalischen Termini ‚Kadenzen‘ und ‚General-Pause‘ verstärkt und explizit ausgesprochen. Die sprachliche Beschreibung der ‚Natur-Musik‘ umfasst neben der rhythmischen Ebene („vollkommen gleichmäßigen Pausen“) und der Harmonie („kompliziertere Kadenzen“) auch die Dynamik: Beginnend im ‚Piano‘ („zarte [. . .] Pfiffe“) steigert sich die Lautstärke in einem ‚Crescendo‘, das zu dem finalen Ereignis – dem Aufgang der Sonne – führt („rasch anschwellend“). Diese Art der Beschreibung von Naturklängen ist an der sprachlichen Darstellung musikalischer Werke orientiert und ruft Assoziationen zu einem orchestral aufgeführten Konzert hervor. Die vielen beteiligten Stimmen entsprechen dabei den Instrumenten des Orchesters. Natur und Kultur werden somit parallelisiert. An einer anderen Textstelle wird auch die musikalische Form direkt angesprochen: „[Die Spatzen] pfiffen ihr hohes schrill-sägendes Konzert an den Sommerabenden“ (DD 239, Hervorhebung von M.B.) Diese ‚musikalische‘ Schilderung der

341 Der fiktive Chronist Geyrenhoff wird im selben Kapitel vom auktorialen Erzähler ironisch erwähnt als einer „der sich zeitweise für einen Schriftsteller hielt und dementsprechend wichtigtuerische Fragen stellte“ (DD 558). Der Einschub des ‚Phrasenmotivs‘ ist eingebettet in die nächtlichen Begegnungen zwischen Kajetan von Schlaggenberg und der Prostituierten Anny Gräven, nachdem diese Zeugin des Mordes an ihrer Freundin Herta Plankl wurde. Erst nach dem im ‚Phrasenmotiv‘ geschilderten Tagesanbruch meldet sie das Verbrechen, ohne jedoch ihr Wissen um den Täter preis zu geben. Die Beschreibung des Tagesanbruchs wird dadurch zu einem vom auktorialen Erzähler vorgegebenen Innehalten im Strudel der Ereignisse und verweist auf die gleichbleibenden, sich ewig wiederholenden Naturerscheinungen.

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‚Vogel-Konzerte‘ könnte ebenso auch ein spezifisches Musikstück betreffen und kann daher als „uneigentliche ‚verbal music‘“ interpretiert werden.342 Die Erweiterung des Begriffs ‚verbal music‘, der im Sinne Steven Paul Schers als die literarische Beschreibung eines spezifischen realen oder fiktiven Musikstücks definiert ist, ermöglicht es, die Strategien der Musikalisierung deutlicher herauszuarbeiten. Speziell in dem hier vorliegenden Fall der ‚phrasierten Motivtechnik‘ stellt sich die uneigentliche ‚verbal music‘ als Technik dar, mit der die makro- und die mikrostrukturelle Ebene der Musikalisierung zusammengeführt wird. Die von der ‚Phrasenmotivtechnik‘ genutzten Strukturparallelen zwischen literarischer und musikalischer Form werden mit den ‚musikalischen‘ Anleihen auf der mikrostrukturellen Ebene des Textes verbunden: Durch die der ‚verbal music‘ inhärenten Gleichzeitigkeit von Thematisierung und Imitation von Musik, wird in dem ‚Phrasenmotiv‘ eine Verschränkung verschiedener Musikalisierungstechniken sichtbar, die zugleich musikalische Strukturen der motivisch-thematischen Arbeit imitiert und Naturklänge parallel zu artifiziellen Orchesterwerken konstruiert, die mit musikalischen Termini und onomatopoetischen Techniken die Wirkung der Musik nachahmen. Das in diesem ‚Phrasenmotiv‘ enthaltende Moment des Innehaltens verweist auf die narrativen Strukturen des Romans, dessen Handlung immer wieder von ‚musikalisierten‘ Einschüben unterbrochen wird und das Erzählen um sich selbst kreisen lässt. In der mit den Dämonen eng verknüpften Strudlhofstiege symbolisiert die titelgebende Treppenanlage dieses selbstbezügliche Element, auf das Doderer in der Ouvertüre zu ‚Die Strudlhofstiege‘343 verweist: Aber was zwischen dieser [Ebene] und der Liechtensteinstraße unten sich erhebt und in Kaskaden wieder hinabfließt, strophengeteilt wie ein Gedicht, das gehört, mag immer wer drübergehn, der tiefsten Einsamkeit an, der kompakten Einsamkeit des Hochsommers, in welcher die Stadt mit sich selbst spricht und ihrer selbst vergessend bei murmelndem Brunnen; ihr Tempo sinkt immer mehr, es sinkt auf Null, die Zeit steht. (WdD 264 f.)

Die starke Finalisierung der Dämonen auf das Ereignis des Justizpalastbrandes hin wird durch die sich der Dynamik entziehenden Passagen durchkreuzt, an deren Zustandsbeschreibungen sich das zeigt, was Doderer als ‚Tempo Null‘ bezeichnet. Im Repertorium schreibt er, der ‚epische Prosa-Satz‘ müsse „dynamisch sein aber füllig, und auch fähig, tiefere Becken zu bilden mit einem Tempo gleich null: doch immer Richtung bewahrend, selbst wenn er steht [. . .].“ (REP 188) Die vierte Sequenz deutet das ‚Erholungsheim-Motiv‘ nur mit den bekannten Elementen (‚rückwärtiger Park-Ausgang‘ und ‚ebenhin querender Weg‘) an, ohne die musikalische Komponente des Vogelgesangs aufzugreifen. Sie dient als Schar-

342 Brinkmann 2012, S. 431 u. S. 438. 343 Heimito von Doderer: Ouvertüre zu ‚Die Strudlhofstiege‘ [1962]. In: Die Wiederkehr der Drachen: Aufsätze, Traktate, Reden [1970]. Hrsg. v. Wendelin Schmidt-Dengler, München 1996, S. 263–272. Im Folgenden abgekürzt als WdD.

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nier zwischen dem Leonhard zugeordneten ‚Erholungsheim-Motiv‘ und der interpersonalen Übertragung des Motivs in Marys Gedankengänge. Als Leonhard Mary kennenlernt, im „Raume, dort, wo das Klavier stand“ (DD 648), fügt er sich sogleich in die neue Situation, was in dem vierfach wiederholten Gedanken – „So ist das also“ (DD 648–650)344– zum Ausdruck kommt. Wie ein „Paukenschlag“ (DD 649) klingt dieser Satz in Leonhard nach und wird durch diesen Vergleich zusätzlich in einen musikalischen Kontext gestellt. Dieser aus vier Worten bestehende Satz, der mit einem Paukenschlag verglichen wird, rekurriert auf eine Textstelle aus der Strudlhofstiege, in der Asta Stangeler über das Paar Ingrid Schmeller und Stefan Semski nachdenkt: „Nur vier Worte waren es, welche sie dachte, aber diese fielen wie Paukenschläge in gleichen Pausen: sie – liebt – ihn – nicht.“ (DS 257). Auch dieser Satz wird mehrfach wiederholt: ‚Nein, sie liebt ihn nicht. Sie liebt ihn nicht . . . ‘, beinahe hätte sie jetzt gesagt: ‚Sie – liebt – ihn – nicht‘ (Ritmo de quatro battute, oder wie vier Paukenschläge, so, wie’s beim erstenmal [sic], in der Fensternische, in ihr seinen Fall getan hatte). (DS 289)

Während sich der eine Satz auf die schicksalhafte Liebe zwischen Leonhard und Mary bezieht, konstatiert der Satz aus der Strudlhofstiege das Gegenteil, nämlich das völlige Fehlen der Liebe bei Ingrid. Die Unumstößlichkeit der Tatsachen wird beide Male durch die Akzentuierung der einzelnen Wörter, die Wiederholung des Satzes und den Vergleich mit einem Paukenschlag betont. Der vierte Leonhard zugeordnete ‚Paukenschlag‘ wird gefolgt von der Einsicht in die symbolische Bedeutung seines Erholungsheim-Erlebnisses: Er begriff plötzlich, ganz weißleuchtend hell, daß jede wirkliche Veränderung nicht im Wegfallen von irgendwas allein bestehen kann. Es war jetzt genau so wie damals im Urlaub im Sommer, als er den rückwärtigen Park-Ausgang, gegen den Berg zu, entdeckt hatte. Ein ebenhin querender Weg im Wald. Er war nicht so sehr aus dem Park hinausgetreten, als in den Wald hinein . . . (DD 650)

Das schicksalsergebene ‚So ist das also‘ greift einige hundert Seiten später auf Mary K. über, die intuitiv die „fast [unbegreifliche] Verquickung“ (DD 985) erkennt, mit der ihr Schicksal an Leonhard geknüpft ist. Auch sie begreift „plötzlich, ganz weißleuchtend hell, daß jede wirkliche Veränderung nicht im Wegfallen von irgendwas allein bestehen konnte“ (DD 985). Entsprechend zu dem expliziten Hinweis auf die ‚Verquickung‘ zwischen Marys und Leonhards Schicksal, findet sich im Anschluss ihrer Überlegungen die stabilste Wiederholung des ‚Sonnenaufgang-Motivs‘, das nur in einigen Silben von der ersten Variante abweicht (vgl. DD 985 f.), so dass sich die Verbindung der Figuren auch auf der sprachlichen Ebene spiegelt. Während die

344 Auf die Wiederholungen folgt noch eine Variation des Satzes: „So war das jetzt also“ (DD 651). Zu den motivischen Verknüpfungen zwischen den Figuren Mary und Leonhard siehe auch Kap. 4.1.1.

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Phrase beim ersten Mal (DD 611) von der auktorialen Erzählinstanz an Leonhards Erholungsheim-Erlebnis angeschlossen wird, ist es beim zweiten Mal das Erlebnis des Tagesanbruchs aus Marys Perspektive, in das die Phrase eingebettet ist. Auf diese erste Phase der ‚motivisch-thematischen Arbeit‘ an dem ‚Phrasenmotiv‘ folgt eine Zäsur. Die zwei anschließenden Sequenzen sind Variationen des ‚Sonnenaufgang-Phrasenmotivs‘, die Geyrenhoff als Ich-Erzähler zugeordnet sind. Wie sich im Folgenden herausstellen wird, ergibt sich durch die Erzählperspektive und die Zusammensetzung des ‚Phrasenmotivs‘ eine symmetrische Anordnung von zwei Mal fünf Sequenzen. Mit dem Wechsel in die Perspektive des Ich-Erzählers wird zum ersten Mal nicht der Tagesanbruch im finsteren Hochwald geschildert, sondern der Sonnenaufgang auf der sogenannten ‚Schanze‘, einer Böschung, die am Ende der Wiener Pokornygasse steil abfällt. Durch die musikanaloge Beschreibung der Geräuschkulisse mit der „Kunstpfeiferei“ der Vögel, nach der es für einen Augenblick „vollkommen still“ wird und „eine Art kurzer Generalpause“ (DD 1058) eintritt sowie die nach dem Sonnenaufgang erneut und gesteigert einsetzenden Vögel, wird das ‚Phrasenmotiv‘ unverkennbar als Variation der vorangegangenen Sequenzen markiert. Eine Erweiterung erfährt das ‚Phrasenmotiv‘ durch die Verknüpfung mit der Schlachtmetaphorik, die bereits im Begriff ‚Schanze‘ anklingt und zu Geyrenhoffs Gedankengängen über die Entscheidung eines Augenblicks für die Schlachten bei Lützen, Königgrätz und Vercellae führt (vgl. DD 1059). Der prophetische Aspekt des Schlachtbildes, in welchem die aufgehende Sonne „wie ein Stückchen hellglühender Kohle“ (DD 1059) auf den Häuserdächern scheint, wird relativiert und gleichzeitig akzentuiert durch Geyrenhoffs Reflexion (aus der 28 Jahre später situierten Erzählerperspektive) über die Unmöglichkeit eines Zusammenhangs mit dem kommenden Brand des Justizpalastes: „Ich sah in ein Schlachtfeld. Warum ich das damals empfand, ist mir ganz unbegreiflich, denn ich war doch ganz und gar außer den Stand gesetzt, Späteres (und Tatsächliches) hierherein zu interpretieren“ (DD 1059).345 Analog zu den ersten Sequenzen des ‚Erholungsheim-Phrasenmotivs‘ schildert die erste Sequenz nach der Zäsur das Erlebnis einer Figur (bei Leonhard als Erzählerbericht, bei Geyrenhoff aus der Ich-Perspektive), während die Wiederholung explizit die Erinnerung der Figur an das reale Erlebnis schildert. Geyrenhoff empfindet seinen Spaziergang auf die ‚Schanze‘ „wie eine Erinnerung an meine erste morgendliche Anwesenheit hier, und nicht so sehr als ein von außen gegen mich heranstehendes Bild“ (DD 1091). Statt der glühenden Kohle sieht er jedoch diesmal „die Sonne [. . .] durch gekraustes kleines Gewölk, das dabei ungemein kompakt und plastisch erschien [, brechen]“ (DD 1091). In den beiden Bildern ist 345 Kerscher zufolge wird die „Tendenz zur Punktualisierung [. . .] auch an [. . .][dieser] Vision Geyrenhoffs sichtbar, die wiederum mit einer künstlerischen Bild-Perspektive operiert und die in der ‚Ouvertüre‘ ausgesprochene vage Ankündigung von etwas Furchtbarem durch die Imagination eines Kriegsschauplatzes ergänzt.“ Kerscher 1998, S. 370.

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damit die Entwicklung des Brandes enthalten, der von weiter weg betrachtet wie ein punktuelles Glühen erscheint, bei dem sich später „Rauchwolken“ (DD 1292) zeigen. In der dritten Sequenz vom Anfang und von der Zäsur in der Mitte gerechnet, übernimmt jeweils die auktoriale Erzählinstanz die den Figuren zugeordneten Motive. Beim ersten Mal wurde in dieser Sequenz das ‚Erholungsheim‘ mit dem ‚Sonnenaufgang‘ kombiniert (vgl. DD 611). Beim zweiten Mal ist es der Beginn des ‚Feuer‘-Kapitels, das mit drei Textabschnitten einsetzt, in denen der Tagesanbruch geschildert wird (DD 1206). Da die Musikalisierungsstrategien innerhalb des ‚Feuer‘Kapitels an anderer Stelle dieser Arbeit ausführlich behandelt werden,346 soll an dieser Stelle nur die ‚phrasierte‘ Motivik des Kapitelbeginns betrachtet werden. Im ersten Textabschnitt des ‚Feuer‘-Kapitels wird aus auktorialer Erzählersicht der Übergang von der Nacht zum Morgengrauen im Hochwald, der an das Erholungsheim angrenzt, geschildert. Als konstitutive Elemente des ‚Erholungsheim-Phrasenmotivs‘ werden der ‚ebenhin querende Weg‘ variiert als „Wege [. . .] waagrecht am Hange entlang“ (DD 1206) und „jenes Türchen“ (DD 1206) mit Verweis auf Leonhard, der dadurch „mehr hinein, als hinausgetreten“ (DD 1206) war, aufgegriffen. Auch der erste Pfiff eines Vogels und der Blick nach Osten ist Teil der Beschreibung. Im zweiten Abschnitt wird der Sonnenaufgang in der Pokornygasse bzw. auf der ‚Schanze‘ mit dem Vogelgesang und der ‚Generalpause‘ geschildert. Der direkte Vergleich der Vögel mit Instrumenten fügt sich in die oben dargestellte Tendenz des ‚Phrasenmotivs‘, Naturgeräusche mit Termini der Kunstmusik zu beschreiben: „In diesen Augenblicken hatten die Amseln und die anderen zu Ehren des Apollon bestellten Trompeter und Pauker ihre übliche Generalpause gehalten.“ (DD 1207) Der dritte Absatz wendet sich dem Treiben der Enten und anderen Vögel im WertheimsteinPark zu, die mit ihrem Schnattern und ihren „[lächerlich] quakende[n] Tönen“ (DD 1207) einen Kontrast zu dem erhabenen Gestus des Sonnenaufgangs bilden. Dietrich Weber hat den Beginn des ‚Feuer‘-Kapitels als kontrapunktisch zu dem wie ein „Elementarereignis“ (DD 1278) hervorbrechenden Massenaufstand bezeichnet: „Die Natur tritt hier gleichsam als ein An-sich in Erscheinung, in absoluter Schilderung, ohne die Perspektive einer Figur.“347 Die ‚Nullfokalisierung‘348 in dieser Szene, die Weber zufolge die Aufgabe hat, „den Kontrapunkt, den die Natur

346 Siehe Kap. 4.3.3. 347 Weber 1963, S. 220. 348 Vgl. Gérard Genette: Die Erzählung. München 21998, S. 134. Sofern es nicht um die Differenzierung der narratologischen Termini zur Beschreibung des ‚discours‘ geht, werden im Folgenden die Begriffe Nullfokalisierung und auktoriale Perspektive gleichbedeutend verwendet bzw. je nach Kontext von auktorialer Sicht vs. interner Fokalisierung gesprochen, da der Konnotationsspielraum der Begriffe variiert und das Konkurrenzverhältnis der Erzählinstanzen in den Dämonen gerade mit der Frage nach dem Wahrnehmungshorizont der Erzählinstanzen und Überlagerungen der Perspektiven spielt. Zu den Vor- und Nachteilen der auf Gérard Genette und Franz K. Stanzel zurückgehenden Termini zur Beschreibung von Erzählformen siehe Matías Martínez und Michael Scheffel: Einführung in die Erzähltheorie. München 62005 (= C. H. Beck Studium), S. 93–95.

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gegenüber dem Geschehen bilden soll, nicht zu subjektivieren und dadurch zu relativieren“,349 wird jedoch durch die vorherige Verknüpfung der bereits mehrfach geschilderten Szenerien mit den Figurenperspektiven Leonhards und Geyrenhoffs unterlaufen. Der Verweis auf den kommenden Brand und die ‚Schlacht‘ ist in den drei Absätzen in den Elementen des rötlichen Scheins, des Rauchs, der ‚Schanze‘ und den „Strahlengeschosse[n]“ (DD 1207) enthalten. Im weiteren Verlauf des 15. Juli 1927 denkt Leonhard in der Universitätsbibliothek an das Erholungsheim zurück. Die Unruhen auf den Straßen scheinen ihn davon abzuhalten, Mary zu treffen, die in ihrer Wohnung auf ihn wartet. Leonhard denkt an das „Türchen, das rückwärts aus dem Park geführt hatte“ (DD 1290) und findet auch in der Bibliothek eine solche „kleine rückwärtige Pforte“ (DD 1226),350 die es ihm ermöglicht, dennoch zu Mary zu gelangen. Im letzten Kapitel des Romans befindet sich Leonhard ein weiteres Mal im Erholungsheim, während Mary sich auf dem nahegelegenen Semmering erholt. Wieder ist es der Sonnenaufgang im Wald, der mit den bekannten Motivelementen und musikalischen Termini geschildert wird. Leonhard meint, im Erholungsheim noch etwas „wie eine zu vollziehende Verrichtung“ (DD 1334) vor sich zu haben. Damit scheint die Entscheidung für eine Richtung gemeint zu sein, die Leonhard angesichts des ‚ebenhin querenden Weges‘ treffen muss und die ihn frühmorgens über den Zaun klettern und nach Osten zu Mary gehen lässt, da das „Türchen rückwärts aus dem Park [. . .] bei Nacht versperrt [ist]“ (DD 1334). Diese Entscheidung für das ihm zugedachte Schicksal ist es, die ihn zum Mittelpunkt des auf ihn bezogenen Sonnenaufgangs mit der ehrfurchtsvollen Generalpause werden lässt: Der konzentrierte, ja, wie eherne Vorgang ließ Leonhard tief atmend stehen, und lange. Es hob ihn fast. Seine noch anonyme Möglichkeit hob ihn – halb im Chaos der Nacht – er wünschte heftig, ja, fast wild, sie in einem einzigen Entschluß zusammenfassen zu können, wie man etwas in die Faust kriegt und zusammenpreßt. . . . ach, was ist es?! Der Anfang des Anfangs vom Anfang, dumpfer Entwurf zum Helden, den jedes Leben meint. In früher Jugend bereits fühlt es sich aufgelegt, große Handlungen zu verrichten. Nun hielten die Vögel den Gesang ein, einem gewaltigeren und lautlosen den Hörbereich lassend. (DD 1335)

Thomas Petutschnig zufolge schließt sich mit dieser „letzten Nennung des HeldenMotivs [. . .] am Ende der motivischen Beobachtungen der Kreis: alle genannten Motive unterstützen das, was der Autor seiner Figur an Bedeutung zukommen lassen wollte.“351 Sowohl der ‚rückwärtige Ausgang‘, als auch der ‚ebenhin querende Weg‘ symbolisieren die Willensfreiheit und die Möglichkeit, sich in neue Lebensum-

349 Weber 1963, S. 220. 350 Das Motiv des Türchens wird in der Bibliotheksszene viermal variiert. Neben den genannten Bezeichnungen, fragt Leonhard nach einer Möglichkeit „nach rückwärts durch den kleinen Ausgang“ (DD 1292) zu gelangen und verlässt schließlich durch den „kleinen rückwärtigen Ausgang“ (DD 1292) die Bibliothek. 351 Petutschnig 2007, S. 162.

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stände zu begeben, mit einer Willensentscheidung also, dem Leben eine neue Richtung zu geben. Gleichzeitig verweist das Naturschauspiel des Sonnenaufgangs mit der immer gleichen Reaktion der Vögel auf die Naturgewalt und auf die schicksalhafte Determination des Lebens, die Doderer mit dem Begriff ‚Fatologie‘ beschrieben hat.352 Die Verbindung von ‚Erholungsheim-Phrasenmotiv‘ und ‚Sonnenaufgang-Phrasenmotiv‘ schlägt somit eine Brücke zwischen der Willensfreiheit des Einzelnen und der schicksalhaften Entscheidung weniger Minuten auch in größeren gesellschaftlichen Dimensionen, wie dem Justizpalastbrand. „Metapoetisch gelesen, eröffnet sich hier ein programmatischer poetologischer Diskurs über die Bedeutungsrelation punktueller Ereignisse im Kontinuum der Historie.“353 Dieses Ereignis kann als Wendepunkt in geschichtlichem, aber auch in persönlich biographischem Zusammenhang verstanden werden.354 Das ‚Phrasenmotiv‘ spiegelt somit die in den Dämonen zitierte Textstelle aus der Abhandlung Über die Würde des Menschen von Pico della Mirandola wider, die den freien Willen des Menschen zum Inhalt hat: „Du kannst herabkommen in die Tiefe, die tierisch ist, du kannst neu geschaffen werden empor in’s Göttliche, nach deines Geistes eigenem Entscheidungs-Spruche.“ (DD 658)355 Die Einsicht in die Freiheit des Menschen, der allein steht und sein eigener Herr ist, hat Otto Weininger, aus dessen Abhandlung Geschlecht und Charakter das Pico della Mirandola-Zitat in den Dämonen entnommen ist, als „Geburt der Kantischen Ethik, des heroischsten Aktes der Weltgeschichte“356 bezeichnet. Leonhard vollzieht im Moment des Sonnenaufgangs eben diesen ‚heroischen Akt‘.

352 Im Repertorium schreibt Doderer unter dem Eintrag „Schicksal – mit und ohne“ aus dem Jahr 1952: „Es gibt in der Zivilisation zwei Menschentypen: solche, deren Leben eine Darstellung ihrer innewohnenden Entelechie ist, die sich verwirklicht, oder zerstört wird; und solche, deren Leben eine Darstellung des außerhalb ihrer liegenden Apparates ist, den sie auf sich selbst anwenden, bis sie mit ihm identisch oder durch ihn vernichtet werden. Nur der erste Typus hat eigentlich Schicksal; der zweite lediglich einen Lebensverlauf, aber brauchbar für pressegerechte Fortsetzungsromane.“ (REP 209). 353 Kerscher 1998, S. 371. 354 Das Innehalten der Natur vollzieht sich Albrecht Huber zufolge auch im Akt des Lesens: „Wenn denn irgendwo im Werk Doderers die sprachliche Identifikation mit dem Ereignis des Punkts in seiner empatischen Ontizität vollkommen geleistet ist, dann hier, in diesen Zeilen.“ A. Huber 1994, S. 356. 355 Das Zitat lautet im lateinischen Originaltext: „Potereis in inferiora quae sunt bruta degenerare; poteris in superiora quae sunt divina ex tui animi sententia regenerari.“ Und in der Übersetzung von Norbert Baumgarten: „Du kannst zum Niedrigeren, zum Tierischen entarten; du kannst aber auch zum Höheren, zum Göttlichen wiedergeboren werden, wenn deine Seele es beschließt.“ Giovanni Pico della Mirandola: De hominis dignitate/Über die Würde des Menschen [1496]. Lateinischdeutsch. Übersetzt v. Norbert Baumgarten. Hrsg. v. August Buck, Hamburg 1990 (= Philosophische Bibliothek; Bd. 427), S. 6 f. 356 Weininger 1903, S. 209.

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Anknüpfend an die Schlachtmetaphorik des Sonnenaufgangs findet sich ein weiteres ‚phrasiertes‘ Motiv in den Dämonen, das im Folgenden als ‚Weitblick-Phrasenmotiv‘ bezeichnet wird. Nach der ausführlichen Analyse des ersten ‚Phrasenmotivs‘, bei der auch die ‚Phrasenmotivtechnik‘ dargestellt wurde, werden nun die einzelnen Sequenzen stärker zusammengefasst und auf ihre Funktion hin untersucht. Auch das ‚Weitblick-Phrasenmotiv‘ ist Geyrenhoff zugeordnet und es thematisiert als Pendant zum Sonnenaufgang den Sonnenuntergang über der Stadt. Während die oben besprochenen Sequenzen sich über die gesamte Länge des Romans erstrecken, sind die Variationen des ‚Weitblick-Phrasenmotivs‘ auf die ersten 400 Seiten beschränkt. Insgesamt finden sich sechs Sequenzen dieses ‚Phrasenmotivs‘, die ausgehend von der ersten Nennung in der Ouvertüre die Ankündigung eines bevorstehenden Unheils wiederholen. Die ersten beiden Sequenzen bilden einen Rahmen um die Ouvertüre, da sie auf der ersten und der letzten Seite dieses dem Roman vorangestellten Kapitels situiert sind. In ihnen wird die topographisch erhöhte und zugleich zeitlich distanzierte Position des fiktiven Chronisten durch die Wiederholung der Satzteile – „Man sieht weit aus [. . .]. Man sitzt hoch [. . .]. Man sitzt hoch über der Stadt“ (DD 7 f. u. DD 21) – hervorgehoben. Durch den Vergleich dieser Position in einem Atelier hoch über der Stadt mit dem „Gefechtsstande eines Artilleriebeobachters“ (DD 7 f. u. DD 21), wird die Kriegsmetaphorik eingeführt. Die darauf folgenden vier Sequenzen des ‚Phrasenmotivs‘ sind vor allem über dieses ‚Phrasenelement‘ des Weitblicks – „Man sah weit“ (DD 259, 285, 388)357– auf die ersten Sequenzen beziehbar. Der Ausblick auf ein Schlachtfeld erinnert an den oben beschriebenen Sonnenaufgang auf der ‚Schanze‘ (vgl. DD 1059) und bildet ebenfalls eine semantische Brücke zu den folgenden ‚Weitblick-Phrasenmotiven‘, bei denen der rötliche Himmel wie „entzündet“ (DD 78, 259, 388) wahrgenommen wird. In der Ouvertüre bedient sich Geyrenhoff ganz explizit des Vergleichs zwischen einem Brand und dem „weißglühenden Widerglanz des Abends“ (DD 11), der aussieht „wie ein Brand, besonders später, bei schon rötlichem Scheine“ (DD 11). Der rötliche Widerschein des Sonnenuntergangs ist analog zu dem Sonnenaufgang auf der ‚Schanze‘ prophetisch auf den Justizpalastbrand bzw. die darauf folgenden Jahre des erstarkenden Nationalsozialismus gerichtet – prophetisch allerdings im Sinne eines „nach rückwärts gekehrten Propheten“ (DD 11).358 Die drohende Kata-

357 In der dritten Sequenz heißt es dagegen nur „Man konnte [. . .] sehen“ (DD 78). Allerdings ist diese Sequenz mit den folgenden Sequenzen so eng verknüpft, dass dieser ‚unvollständige‘ Bezug auf die ‚Ausgangssequenzen‘ sich im Nachhinein auflöst. 358 Mit diesen Worten, die Friedrich Schlegels Athenäum-Fragment Nr. 80 zitieren, beschreibt Geyrenhoff in der Ouvertüre seine Position als Erzähler. Vgl. Friedrich Schlegel: Athenäums-Fragmente. In: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe. Abt. 1: Kritische Neuausgabe, Bd. 2: Charakteristiken und Kritiken I (1796–1801). Hrsg. v. Hans Eichner, München u. a. 1967, S. 165–255, hier: S. 176. Zu den intertextuellen Anspielungen auf Dostojewskis Roman Besy in dieser Textstelle siehe Chevrel 2004, S. 156.

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strophe, die schon in der Ouvertüre durch die riesenhafte Hand mit dem ausgestreckten Finger (vgl. DD 21) und der Andeutung eines noch nicht definierbaren Unheils anvisiert wird, ist in den vier Sequenzen des ‚Phrasenmotivs‘ mit der Gruppe der ‚Unsrigen‘ verwoben, in der sich die Entstehung einer antisemitischen Ideologie zeigt. Die vier Sequenzen außerhalb der Ouvertüre sind durch auffallend stabile ‚Phrasenabschnitte‘, die zum Teil in der Reihenfolge versetzt sind, miteinander verbunden.359 In der ersten dieser Sequenzen des ‚Phrasenmotivs‘ führt der Blick durch eine Gasse in ein offenes Gelände hinaus, über dem der Himmel „beunruhigt und entzündet war vom rötlichen Widerscheine der Großstadt“ (DD 78).360 Dies trifft auch auf die darauf folgende Variation des ‚Phrasenmotivs‘ zu, in der Geyrenhoff den nicht an eine bestimmte Person gebundenen Blick auf den Himmel, „der, wie von einer immerwährenden Abendröte, auch längst nach Sonnenuntergang noch entzündet war vom rötlichen Widerscheine der Großstadt“ (DD 259) beschreibt, während in den beiden darauffolgenden Sequenzen jeweils ein Ausflug der ‚Unsrigen‘ Anlass für Geyrenhoffs Reflexion über den „rötlichen [Schein]“ (DD 285) des Abendhimmels bietet.361 Durch einen weiteren Textabschnitt, in dem Geyrenhoffs Gefühl der Zugehörigkeit zu der aus der Distanz betrachteten Stadt und ihren Bewohnern zum Ausdruck kommt, werden diese drei letzten ‚Phrasenmotive‘ erweitert. In der letzten Wiederholung heißt es in Bezug auf die vorangegangenen Wahrnehmungen der Stadt: Und auch diesmal, unter dem dunklen Nachthimmel und bei rascher, windziehender Fahrt, fühlte ich wiederum Ort und Menschen dort unten, seien sie nun wie immer, doch als meine gegebene Heimat, deren schicksalhaften Bewegungen man verbunden bleibt. (DD 388)362

Mit dieser Wendung, die jeweils leicht variiert wird, enden die drei letzten Sequenzen dieses ‚Phrasenmotivs‘ und zugleich „bilden [sie] jeweils die Schluß-Fermate einer Erzählphase und zwar einmal die eines Unterabschnittes, zweimal sogar die eines Kapitels.“363 In diesen Zeilen zeigt sich die trotz der zuvor aufgebauten Drohkulisse nicht zu leugnende Verbundenheit Geyrenhoffs mit seinem Umfeld. Dietrich Weber zufolge „akzentuiert [die Wiederholung der Textabschnitte] eine Grundgege-

359 Siehe die Beschreibung der Gasse, die in ein offenes Gelände führt und die Differenzierung der Dunkelheit „entlang einer sanftgeschwungenen Linie: Nachthimmel und Berg“ (DD 259, 285, 388 [in der letzten Textstelle getrennt geschrieben]). Vgl. Anhang B: ‚Man-sieht-weit-Phrasenmotiv‘. 360 Geschildert wird hier ein Erlebnis Kajetan von Schlaggenbergs, von dem er Geyrenhoff erzählt hat. Die Perspektive ist durch die fiktive Wiedergabe des Geschehnisses durch Geyrenhoff nicht eindeutig und enthält zumindest deutliche Hinweise auf Geyrenhoffs eigene Wahrnehmung der Sonnenauf- und untergänge. 361 Auch in der letzten Sequenz wird die Formulierung – „wie beunruhigt und entzündet vom rötlichen Widerscheine der Großstadt“ (DD 388) – wörtlich wiederholt. 362 Vgl. auch DD 260 u. DD 286. 363 Weber 1963, S. 227.

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benheit, nämlich die Stadt Wien als die gültige Basis einer ersten Wirklichkeit. Damit ist der stärkste Kontrapunkt gegen alle zweiten Wirklichkeiten gesetzt.“364 Dieser Auffassung stehen jedoch die äußerst ambivalente Darstellung der Großstadt mit ihren unterirdischen Hohlräumen, aus denen jederzeit bedrohliche Kreaturen wie Riesenkraken ihre Fangarme strecken können365 oder scheinbar geisteskranke Verbrecher ohne Motiv Polizisten angreifen (vgl. DD 1270) und die Krankheitsmetaphern,366 mit denen die Stadt belegt wird, gegenüber. Kerscher bezieht sich auf die Brandmetaphorik der Abendröte, die als „leitmotivische Wendung in allen Fällen gleich einer Vignette am Ende eines Kapitels oder Kapitelabschnitts figuriert, [so dass][. . .] sich hierin die globale Romankomposition mit ihrem finalen Inferno in nuce wieder[spiegelt] [sic] (mise en abyme!).“367 Allerdings greift er mit dieser ‚leitmotivischen Wendung‘ nur einen kleinen Ausschnitt des ‚Phrasenmotivs‘ heraus, und lässt die weiteren Abschnitte unberücksichtigt. In der Thematisierung von Weitblick und gleichzeitiger Dunkelheit, die das Auge in „ein Kissen von Dunkelheit“ (DD 259, 285, 387 f.) stürzen lässt, mit der darauffolgenden zaghaften Differenzierung der Einzelheiten, spiegelt sich die fiktive Erzählposition des Chronisten wider. Geyrenhoff befindet sich in einem ständigen Spannungsfeld zwischen der größtenteils illusionären Wahrnehmung, einen weiten Überblick zu haben, und der bis zur Blindheit gegenüber bestimmten Zusammenhängen führenden eigenen Verstrickung sowohl in private als auch in politische Geschehnisse. „In Geyrenhoffs Ausblicken ereignet sich, was sich später in seinem Schreiben vollzieht: das Objekt entzieht sich seiner Übersicht.“368 Auch das ‚Schwebende-Kugeln-Phrasenmotiv‘ thematisiert den Übergang von undeutlicher Wahrnehmung und Erinnerung, diesmal in Bezug auf Geyrenhoffs persönlichen Bezug zu dem Handlungsstrang um die unterschlagene Erbschaft. Wie unwirkliche Traumbilder erscheinen immer wieder Variationen und zum Teil wörtliche Wiederholungen einer Begegnung mit Levielle auf dem ‚Graben‘ in Wien:369 Als wär’s gestern gewesen: der Abend spiegelte noch grünlich hinter dem Turme, und in das ermattete Tageslicht traten die ersten leuchtenden Kugeln, vor den Läden und über der Straße schwebend. Ein weit und langsam ausgeschwenkter Hut, der weiße Kopf darunter, das weiße Schnurrbartbürstchen [. . .]. (DD 12)

364 Weber 1963, S. 227. 365 Die Angriffe von Riesenkraken aus der Kanalisation beziehen sich auf ein Ereignis aus einer brasilianischen Stadt, von dem Dwight Williams erzählt. Anna Kapsreiter verarbeitet das Motiv in ihren Träumen, so dass auch der Wiener Untergrund in dieser Traumwelt von einem Wesen mit schleimigen Fangarmen bewohnt ist. Vgl. Kap. 5.2.3. 366 Ulrike Schupp beschreibt die ambivalente Schilderung der Stadt, die u. a. als „Organismus, dessen Oberfläche von ‚Parasiten‘ besetzt wird“ erscheint. Schupp 1994, S. 216. 367 Kerscher 1998, S. 351. 368 Henkel 1995, S. 159. 369 Siehe Anhang C: ‚Schwebende-Kugeln-Phrasenmotiv‘.

4.3 Musikalisierung – Imitation und Evokation von Musik

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Wie schon in den zuvor analysierten ‚Phrasenmotiven‘ sind auch hier die Lichtverhältnisse gekennzeichnet vom Übergang zwischen Tag und Nacht. Die Sicht ist dadurch getrübt und führt zu der Wahrnehmung, die leuchtenden Kugeln der Straßenlampen würden frei in der Luft schweben. Die Phänomene erscheinen losgelöst von ihrer Basis, wie auch der geschwenkte Hut Levielles ein Eigenleben entfaltet und Geyrenhoff an etwas zu erinnern scheint, das sich dann doch dem direkten gedanklichen Zugriff entzieht. Geyrenhoff ist nicht in der Lage, Levielle als Person wahrzunehmen, sondern reduziert seine Beobachtung auf seinen Hut, den Kopf und „das weiße Schnurrbartbürstchen“ (DD 12 u. DD 16). In den letzten beiden Wiederholungen verweist zudem eine Variante der Schreibweise – das „Schnurrbart-Bürstchen“ (DD 829 u. DD 961) wird nun mit Bindestrich geschrieben – auf die dissoziierte Wahrnehmung. Die fehlende Verbindung zwischen den Details bzw. die dissoziierten Einzelteile entsprechen seinem Blick auf die seiner geplanten Chronik zugrundeliegenden Ereignisse und Personen. Gerade der Überblick, den er anstrebt, ist ihm versagt. Da Geyrenhoff selbst auf die assoziative Verbindung zwischen dem Zusammentreffen mit Levielle und dem Beginn seiner Chronik hinweist, ist es nicht verwunderlich, dass sich diese Art der ‚Wahrnehmungsstörung‘ auch in seinem Schreiben wieder findet: Diese beiden Punkte – der Beginn meiner Arbeit hier und das zufällige Zusammentreffen mit dem Kammerrat Levielle auf dem ‚Graben‘ – liegen so nahe beieinander, daß mir mit dem einen rückblickend auch das andere gleich in den Sinn kommt. (DD 8)

Die viermal wiederholte Phrase – „Ein weit und langsam ausgeschwenkter Hut, der weiße Kopf darunter, das weiße Schnurrbart[-]bürstchen“ (DD 12, 16, 829, 961) – ist der stabilste Abschnitt des ‚Phrasenmotivs‘. Daneben findet sich ein weiteres ‚Phrasenmotiv‘-Element, das in nahezu wörtlicher Wiederholung die erste Sequenz (DD 12) sowie die fünfte und sechste Sequenz (DD 735 u. DD 829) mit der Beschreibung der „leuchtenden Kugeln“370 einleitet. Die einzige dieser Textstellen, in der nicht Geyrenhoff als Ich-Erzähler spricht, ist René Stangeler zugeordnet und es fehlt die sich mehr oder weniger direkt anschließende Begegnung mit Levielle, die sonst mit dieser Wahrnehmung kombiniert ist (vgl. DD 735). Bei René ist die heraufsteigende Erinnerung an den ‚Graben‘ mit Reflexionen über die Beschaffenheit der ‚zweiten Wirklichkeit‘ verknüpft: „Diese Kerle wollen alle in der Verlängerung von dem leben, was sie sich ausgedacht haben. Ganz wie der Herzka. Ansonst halten sie sich die Hände vor die Augen. Ein Embryo im Mutterleib“ (DD 736). Diese Metapher für die ‚Apperzeptionsverweigerung‘ trifft auf Geyrenhoffs Zustand zu Beginn der Chronik und bei der in dem ‚Phrasenmotiv‘ beschriebenen Begegnung mit Levielle zu. Dadurch erklärt sich, warum Geyrenhoff mehrfach an dieses Bild

370 In der siebten Sequenz ist der betreffende Abschnitt – „[. . .] der Abend spiegelte noch grünlich hinter dem Turme, und in das ermattete Tageslicht traten die ersten leuchtenden Kugeln, vor den Läden und über der Straße schwebend“ – in stärker variierter Form enthalten (vgl. DD 961).

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des Embryos denkt, „der sich die Augen mit den Händchen bedeckte, das Licht zu erblicken sich weigern wollte, das Leben nicht sehen wollte“ (DD 1275, vgl. auch DD 498 u. DD 851). Später stellt Geyrenhoff fest, dass René der Urheber der einprägsamen Metapher ist. Über die sprachliche Äquivalenz der Sequenzen des ‚Phrasenmotivs‘ wird eine inhaltliche Kohärenz zwischen den Geyrenhoff und René zugeordneten Textstellen sichtbar, so dass Renés Gedankengänge zur ‚zweiten Wirklichkeit‘ als Kommentar zu Geyrenhoffs Entwicklung fungieren. Der letzten der sieben Variationen dieses ‚phrasierten‘ Motivs ist das ‚FadenMotiv‘ vorangestellt, das wiederum ein eigenes Geflecht von Variationen und Wiederholungen bildet. Wie das ‚Weitblick-‘ und das ‚Schwebende-Kugeln-Phrasenmotiv‘ hat auch das ‚Faden-Motiv‘ in der Ouvertüre seinen Ausgangspunkt. Da es sich um relativ kurze Textstellen handelt, die das Motiv insgesamt fünf Mal aufgreifen,371 es jedoch nicht zu einer längeren Phrase ausweiten, ist der Begriff ‚Phrasenmotiv‘ dafür nicht angebracht. Das Motiv stellt in selbstreflexiver Weise den Aufbau des Romans dar, dessen Erzählstränge wie ein textiles Gewebe miteinander verflochten sind. Diese gängige Metapher für literarische Texte wird ausgeweitet, wenn es heißt, man müsse nur den Faden an einer beliebigen Stelle aus dem Geweb’ des Lebens [. . .] ziehen, und er liefe durchs Ganze, und in der nun breiteren offenen Bahn würden auch die anderen, sich ablösend, einzelweis sichtbar. Denn im kleinsten Ausschnitte jeder Lebensgeschichte ist deren Ganzes enthalten. (DD 11)372

Jeder der vielen Erzählstränge umkreist auf seine spezifische Weise das Thema der ‚zweiten Wirklichkeit‘ und spiegelt dadurch auch die Befangenheiten der Figuren anderer Handlungsfäden. Dieses „Strukturmerkmal der Dämonen“ zeigt sich an dem „absolute[n] Nebeneinander der Figuren und Situationen, der Atome des Romans“,373 die jeweils ein eigenes ‚Epizentrum‘ bilden und dennoch vielfach miteinander verwoben sind,374 so dass eine Interpretation des Romans an jeder Stelle des Textes ansetzen könnte.375 Besonders deutlich zeigt sich dieses Prinzip aber auch an den ‚phrasierten‘ Motiven, die sich, an einer beliebigen Stelle herausgegriffen,

371 DD 11, 16, 18, 961, 1078. Vgl. Anhang D: ‚Faden-im-Gewebe‘-Motiv. 372 In Doderers Roman Die Merowinger wird diese Metapher explizit mit schriftstellerischer Textproduktion verknüpft: Im Gefolge des Doktor Döblinger (alias Kajetan von Schlaggenberg) tritt die Schriftstellerin Elisabeth Friederike Krestel auf, deren Erzählungen seiner Einschätzung nach „mit meisterlichem Geschick und einer an’s Höllische grenzenden Bosheit einzelne Fäden aus dem Geweb des Lebens zupften, die Fräulein Krestel dann zu teuflischen Knödelchen zu rollen verstand, solchen, wie man sie im Magen tollwütiger Hunde findet.“ (DM 179). 373 Weber 1963, S. 161. 374 Vgl. Weber 1963, S. 171. 375 Die Bedeutung des einzelnen Augenblicks, in dem ‚das Ganze‘ enthalten ist, wurde in Kap. 4.1.2 unter Bezug auf den Begriff der „Anatomie des Augenblicks“ (T 528 u. T 680) erläutert.

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in immer weiteren Verknüpfungen durch den Roman ziehen und auf andere Motivketten verweisen. Lévi-Strauss zufolge hat die „Wiederholung [. . .] eine Eigenfunktion, die die Struktur des Mythos manifest machen soll.“376 Auch in den ‚phrasierten‘ Motiven lassen erst die Wiederholungen erkennen, welche Elemente konstitutiv sind, welche Variationsmöglichkeiten sie bieten und wie sich eine mögliche Tiefenstruktur daraus abstrahieren lässt. Neben der Funktion der inhaltlichen Verknüpfung, haben die ‚Phrasenmotive‘ insgesamt eine den Roman strukturierende Funktion. Besonders das ‚Erholungsheim-Phrasenmotiv‘ und seine Erweiterung erstrecken sich über den gesamten Roman und bilden eine konstante Stütze im oftmals unüberblickbaren Gewirr der Erzählstränge. Auch das prophetische Moment der den Auf- oder Untergang der Sonne thematisierenden ‚Phrasenmotive‘ trägt zur Orientierung innerhalb der erzählten Welt und zur Finalisierung der Erzählung auf einen räumlich und zeitlich festgelegten Punkt bei. Viele der ‚Phrasenmotive‘ in den Dämonen sind zudem gekennzeichnet durch eine metapoetische Ebene, auf der sie in wiederkehrenden Abständen ihre eigene Struktur bzw. die Erzählfiktion spiegeln. Das erklärt auch die auffällig häufige Zuordnung der ‚Phrasenmotive‘ zu der Figur des fiktiven Chronisten, der selbst seine Rolle als Schreibender reflektiert und mehrfach zum Anlass für metapoetische Einschübe der auktorialen Erzählinstanz genommen wird. Während die Beschreibung des Vogelgesangs, der „gleichmäßig dasselbe Motiv“ (DD 162) wiederholt, im ‚Erholungsheim-Phrasenmotiv‘ bereits in der ersten Sequenz auf die Technik der folgenden motivisch-thematischen Arbeit verweist, deutet die dissoziierte Wahrnehmung Geyrenhoffs im ‚SchwebendeKugeln-Phrasenmotiv‘ auf die eingeschränkte Sichtweise seiner Erzählposition. Es hat sich herausgestellt, dass nur ein Teil der ‚phrasierten‘ Motive einen expliziten Hinweis auf eine musikalische Intention enthält. Dennoch lassen sich auch andere „wiederkehrende syntaktisch und inhaltlich konstante Bild[er] [mit] dem wiederholten Einsatz eines musikalischen Themas“377 vergleichen.378 Die Metapher des „Geweb’ des Lebens“379 enthält das in der ‚Phrasenmotiv‘Technik umgesetzte den Text durchwebende und zusammenhaltende Element, dessen einzelne Abschnitte wie „magische Formel[n]“380 aufeinander verweisen. Erst durch die „ununterbrochene Rekonstruktion“381 der horizontalen, syntagmatischen wie vertikalen, paradigmatischen Ebene des Textgewebes, die durch die ‚Aufeinan-

376 Lévi-Strauss 1978, S. 253. 377 Heydemann 1975, S. 360. 378 Das „Auftreten von syntaktisch nicht festgelegten Bildern [entspricht] der thematisch-motivischen Arbeit in den Durchführungsteilen; Änderungen von Bildinhalten sowie Kombination mit anderen Bildbereichen erinnern an Variation und Kontrapunkt.“. Heydemann 1975, S. 360. 379 DD 11, 16, 18 und in variierter Form DD 961 u. DD 1078. 380 Mann 1960, S. 603. 381 Lévi-Strauss 1980, S. 62.

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derschichtung‘ der Sequenzen zu ‚Ereignisbündeln‘ vollzogen wird, werden auch die verschiedenen Bedeutungsschichten sichtbar. Insofern zeigen sich an Doderers ‚phrasierter‘ Motivtechnik besonders ausgeprägt die Interferenzen eines Romans wie Die Dämonen mit der einer Orchesterpartitur vergleichbaren Struktur von Mythen.382

4.3.2 ‚Polyphone‘ Stimmführung und musikalische Strukturen im ‚Finale‘ Sowohl Musik als auch Literatur sind „auditorische, dynamische und temporale Künste“383 und lassen sich demnach als „zeitliche Folge artikulierter Laute“384 beschreiben.385 Als temporale Künste haben Musik und Literatur strukturelle Parallelen wie z. B. die in beiden Künsten beheimatete „Steigerung zum Höhepunkt, das Erschaffen von Erwartungen und manchmal das absichtliche Vereiteln dieser Erwartungen [. . .], die Art, mit einem großen Finale oder mit einer Auflösung ins Nichts zu enden [. . .].“386 Organisierter Ton, zu dessen Mitteln Rhythmus, Akzent, Tonhöhe (Intonation) und Tonfarbe (Timbre) gehören, dient als Grundmaterial für beide Künste.387 Neben Unterschieden im semantischen Bereich und der damit verbundenen Frage nach der Zeichenhaftigkeit ihrer Laute,388 liegt eine der entscheidenden Differenzen zwischen den beiden Medien darin, dass Musik nicht immer, aber doch sehr oft mehrere simultane Sequenzen beinhaltet, während Literatur aus einer einzigen linearen Sequenz besteht.389 In den Dämonen zeigen sich Doderers Bemühungen, musikalische Mehrstimmigkeit mit literarischen Mitteln nachzuahmen und die Simultanität mehrerer Stimmen zu suggerieren, besonders in dem

382 Vgl. Lévi-Strauss 1980, S. 57. 383 Brown 1984, S. 30. 384 Adorno 1978, S. 251. 385 Auch wenn Literatur überwiegend nicht laut gelesen wird, kann sie wie Musik als auditive Kunst bezeichnet werden, da die gelesenen Worte in der Vorstellung der Rezipient*innen Laute generieren. Zur „Frage nach Klanglichkeit und Textlichkeit in den Dichotomien musikalischer Notation vs. literarischer Schrift“ sowie den „Übertragungsleistungen vom einen ins andere (Verschriftlichung und akustische Realisierung)“ siehe Boris Previšić: Klanglichkeit und Textlichkeit von Musik und Literatur. In: Handbuch Literatur & Musik. Hrsg. v. Nicola Gess und Alexander Honold, Berlin/Boston 2017 (= Handbücher zur kulturwissenschaftlichen Philologie; Bd. 2), S. 39–54, hier: S. 39. 386 Brown 1984, S. 38. 387 Vgl. Scher 1984, S. 12. 388 Zu der mit der „Denotationsschwäche“ der Musik zusammenhängenden „Konnotationsstärke“ derselben siehe Brinkmann 2012, S. 69. Brinkmann bezieht sich hier auf Umberto Eco: Einführung in die Semiotik. München 1972 (= Theorie und Geschichte der Literatur und der schönen Künste; Bd. 32), S. 106 f. 389 Vgl. Wolf 1999, S. 20.

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Kapitel Das Feuer, das mit dem Brand des Justizpalastes am 15. Juli 1927 als Finalpunkt des gesamten Romans angelegt ist.390 Bevor ich zur Analyse des ‚Feuer‘-Kapitels komme, möchte ich einige Vorüberlegungen zu den literarischen Möglichkeiten, die polyphone Struktur musikalischer Werke zu imitieren, anstellen. „Die Polyphonie ist eine bewußt als selbstständig verstandene rhythmische oder melodietragende Spaltung der Stimmen, die letztlich zu einer organischen aufeinanderbezogenen Struktur zusammengefügt werden.“391 Im Unterschied zur homophonen Mehrstimmigkeit weisen die Stimmen bei der polyphonen Komposition also eine „melodisch-rhythmische Eigenständigkeit [auf]“,392 so „daß mehrere Stimmen den Charakter einer Hauptstimme behaupten“393 können. Alle literarischen Versuche, eine polyphone Struktur nachzuahmen, können nur darauf abzielen, eine Mehrstimmigkeit in der Imagination der Leser*innen zu suggerieren, indem Strukturanalogien entwickelt und betont werden. Verschiedene literarische Techniken können diesen Eindruck hervorrufen. Prominente Beispiele aus Lyrik und Prosa, die mit der polyphonen Form der Fuge experimentieren sind Paul Celans Todesfuge394 und das ‚Sirenen-Kapitel‘ aus James Joyce’ Ulysses,395 wobei die Ansichten in der Sekundärliteratur, inwieweit es sich um einen Transfer musikalischer Strukturen handelt, durchaus differieren. Bereits in seiner frühen Schaffenszeit beschäftigte sich Doderer mit dem Problem, in einem literarischen Text, der linear gelesen wird, die horizontale Struktur durch eine vertikale Ebene zu ergänzen. So beschreibt er in der nachträglich ver390 Michael Auer bezieht dagegen im Rahmen seiner These, die „Transformation der Polizei von einem Korps in eine Truppe“ im ‚Feuer‘-Kapitel könne „als poetologische Beschreibung der Prosa des Romans gelesen werden“, den Polyphonie-Begriff nur auf die Vielzahl der Erzähler – z. B. in den fiktiven Manuskripten –, so dass er zu dem Schluss kommt: „Im ‚Feuer‘-Kapitel verschmilzt der Stil schließlich zur einheitlichen ‚Truppe‘, der die Polyphonie [. . .] zum Opfer fällt.“ Michael Auer: Ein Mord, den keiner begeht. Polizei in Doderers ‚Dämonen‘. In: Heimito von Doderers ‚Dämonen‘Roman: Lektüren. Hrsg. v. Eva Geulen und Tim Albrecht, Berlin 2016 (= Beihefte zur Zeitschrift für Deutsche Philologie; Bd. 15), S. 167–174, hier: S. 167 f. 391 Artur Simon u. a.: Mehrstimmigkeit [Art.]. In: MGG, Sachteil 5. Kassel/Basel 1996, Sp. 1766– 1808, hier: Sp. 1784. 392 Polyphonie [Art.]. In: Brockhaus Riemann Musiklexikon. In vier Bänden und einem Ergänzungsband. Bd. 3. Hrsg. v. Carl Dahlhaus und Hans Heinrich Eggebrecht, Mainz 21989, S. 313–314, hier: S. 313. 393 Polyphonie [Art.]. In: Brockhaus Riemann Musiklexikon, 21989, S. 314. 394 Siehe dazu beispielsweise: Petri 1964, S. 52–54; Lech Kolago: Musikalische Formen und Strukturen in der deutschsprachigen Literatur des 20. Jahrhunderts. Anif/Salzburg 1997 (= Wort und Musik; Bd. 32), S. 201 ff.; Oliver Voß: Gesänge der Stille: Musik in der Literatur. Norderstedt 2009, S. 169 f. 395 Siehe dazu u. a. Petri 1964, S. 35–43; Gudrun Budde: Fuge als literarische Form? Zum Sirenenkapitel aus ‚Ulysses‘ von James Joyce. In: Musik und Literatur. Komparatistische Studien zur Strukturverwandtschaft. Hrsg. v. Albert Gier und Gerold W. Gruber, 2. veränderte Auflage, Frankfurt a. M./New York 1997 (= Europäische Hochschulschriften, Reihe 36: Musikwissenschaft; Bd. 127), S. 195–214; Wolf 1999, S. 125–146; Voß 2009, S. 73–208.

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fassten Ouvertüre zu ‚Die Strudlhofstiege‘ (WdD 263–272) seine anfängliche Vorstellung, den Roman in drei Spalten zu teilen, auf welchen gleichzeitig [. . .][die] Handlung sich abspielen sollte, und diese naive Form der Synchronisierung glaubte der neunzehnjährige Halbwilde dadurch bewerkstelligen zu können, daß er in drei Kolumnen nebeneinander schrieb, die er sich auf dem Papier mit einem Lineal vorgezeichnet hatte. (WdD 265)

Diese Form der Synchronisierung mehrerer Handlungen und differierender Perspektiven auf das Geschehen hat Doderer in seiner fragmentarischen Erzählung Jutta Bamberger tatsächlich durchgeführt. Dort finden sich mehrere Textstellen, an denen jeweils zwei Textspalten nebeneinander stehen.396 Da ein simultanes Lesen der Spalten jedoch nicht möglich ist, kann auch diese formale, visuelle Anordnung nur auf die imaginäre Überlagerung der perspektivischen und atmosphärischen Verdoppelung abzielen. Als eine weitere Variante des Versuchs, literarische Mehrstimmigkeit zu erzeugen, verweist Werner Wolf in The Musicalization of Fiction auf die Möglichkeit, durch einen schnellen Wechsel zwischen unterschiedlichen Handlungen, die durch verschiedene Schrifttypen voneinander abgesetzt sind, eine ‚polyphone‘ Struktur zu imitieren.397 Sichelstiel sieht darin die einzige Möglichkeit der literarischen Annäherung an polyphone Strukturen, d. h. auf der Mikroebene über einen schnellen Wechsel zwischen mehreren als zusammengehörig empfundenen Erzähleinheiten, wie sie etwa in James Joyces stream of consciousness-Technik durch die wechselseitige segmentierende Durchschichtung von Darstellungsperspektiven erreicht wird. Dies ermöglicht dem Leser annähernd gleichzeitig den Eindruck separater Stränge und eines zusammengehörigen Ganzen – also der typischen ambivalenten Eigenschaft, die der musikalischen Technik zu eigen ist.398

Doderer selbst verweist im Zusammenhang mit der formalen Orientierung der Literatur an musikalischen Techniken in seinem Essay Grundlagen und Funktion des Romans auf die Fugenstruktur des ‚Sirenen-Kapitels‘ bei Joyce (vgl. WdD 155). Die Materialmasse, die zu einem nicht unerheblichen Teil aus alltäglichen Banalitäten besteht, mit der sowohl Joyce im Ulysses als auch Doderer in den Dämonen die Leser*innen konfrontieren, wird durch vielfältige durchkomponierte Bezüge in eine formale Ordnung gebracht, bei der musikalische Techniken eine tragende Rolle spielen.399

396 Siehe FP 240 f., 246, 250 f., 322, 325 f., 328 f. 397 Wolf 1999, S. 21. 398 Sichelstiel 2004, S. 147. 399 Torsten Buchholz stellt in seiner Arbeit über Musik im Werk Heimito von Doderers den Bezug beider Autoren auf ein Thomistisches Weltbild, in dem jedes noch so kleine Detail seinen geordneten Platz im komplexen „Koordinatensystem“ (Buchholz 2004, S. 188) hat, dar. Anders als Joyce mit dem ‚stream of consciousness‘, gibt Doderer jedoch nur kurze Proben des Bewusstseinsstromes,

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Neben der formalen Anordnung in mehreren Kolumnen sowie dem ständigen Wechsel zwischen mehreren Kontexten, führt Wolf als dritte Möglichkeit die Nutzung der den einzelnen Worten immanenten ‚Polyphonie‘, als „the possible insertion of a phrase into multiple contexts of meaning“400 an. Damit bezieht er sich auf Michail Bachtins Theorie des ‚polyphonen Romans‘, in dem eine „Vielfalt selbständiger und unvermischter Stimmen und Bewußtseine“401 vorherrscht: „Der polyphone Roman ist durch und durch dialogisch. Zwischen allen Elementen der Romanstruktur bestehen dialogische Beziehungen, d. h. sie sind einander kontrapunktisch gegenübergestellt.“402 Doderer selbst nennt die Dämonen eine „wahrhaft [grölende] Polyphonie“ (CI 142, 13.08.1952),403 wozu der Figurenreichtum, die diversen Handlungsstränge und vor allem die sich überlagernden Erzählebenen mit ihren sich zum Teil aufeinander beziehenden Erzählern und unterschiedlichen Perspektiven beitragen.404 In Bezug auf musikalische Strukturen in James Joyce’ Ulysses weist Oliver Voß darauf hin, dass auch „die vielen Portmanteau-Wörter aus der Linearität des Textes in eine Vertikalität des Wortes [geraten].“405 Mehrere semantische Schichten finden sich auch in polysemen Worten, die ebenso wie Schachtelworte, phonologische oder semantische Assoziationsketten evozieren können.406 Diese ‚polyphonen‘ Eigenschaften sind allerdings der Literatur bzw. der Sprache immanent und nicht per se Teil einer Musikalisierung von Literatur. Schmitz-Emans weist auf die „Simultanität mehrerer Vorstellungsbilder“ hin, die durch „Metaphern, Allegorien und andere Formen der sogenannten ‚unausdrücklichen‘ Rede“ hervorgerufen werden. Daher könne man unter Einbeziehung der „Ebene der Signifiés [. . .] bezogen auf entsprechend arrangierte Texte oder Textpassagen durchaus behaupten, in diesen seien mehrere Vorstellungsbilder (Signifiés) gleichzeitig präsent.“407 Auch die ‚Mehrstimmigkeit‘ überstrukturierter Lyrik, die durch die Überlagerung der lautlichen, der auf den in den Dämonen ironisch angespielt wird als „kettenweis [treibendes] Plankton der Assoziationen, die der Psychologismus für das Geheimnis des Lebens selbst hält und daher sehr ernsthaft und ausführlich beschreibt.“ (DD 1319). 400 Wolf 1999, S. 21. 401 Michail Bachtin: Probleme der Poetik Dostoevskijs. München 1971, S. 10. 402 Bachtin 1971, S. 48. 403 Zum Zusammenhang zwischen der streckenweise ‚polyphonen‘ Struktur der Strudlhofstiege und der Dämonen mit Bachtins Karnevalverständnis siehe Brinkmann 2012, S. 206–208. 404 Voracek verweist auf die vielschichtigen Sinnebenen in der Namensgebung in Doderers Werken, die Ein „hochartifizielles onymisches Patchwork [darstellt], [. . .] ein Arrangement vernetzter Sinnebenen, das sich in die von der modernen Literaturtheorie postulierte Pluralität des künstlerischen Textes einfügt – man könnte dies mit Begriffen wie Polychromie, Polymorphie, Polysemie, Polytonalität, Polyvalenz, Polyvozität einkreisen“. Voracek 1992, S. 503. 405 Voß 2009, S. 157. 406 Vgl. Voß 2009, S. 158. 407 Monika Schmitz-Emans: Medientransformationen und Formtransfers. Kunstvergleichende Studien im Horizont wechselnder Paradigmen. In: Handbuch Literatur & Musik. Hrsg. v. Nicola Gess

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metrisch-rhythmischen und der semantischen Ebene zustande kommt,408 ist eine strukturelle Parallele zwischen Musik und Literatur, die von literarischen Imitationsversuchen unterschieden werden muss. In musikalisierter Prosa lässt sich jedoch eine besondere Gewichtung dieser paradigmatischen Achse beobachten. Die „senkrechte Dimension der Partitur [prävaliert] gleichsam [. . .] gegenüber dem monodisch Vorschreitenden der wagrechten [sic] Erstreckung“ (T 525) auch bei der Technik der „‚exzentrische[n]‘ Einsätze“ (T 524), die Doderer zufolge Teil der polyphonen Erzählung ist. Diese Technik des „weit außen Einsetzens“ (T 525) prägt die Dämonen, die mit dem Kapitel Draußen am Rande mit einem ‚exzentrischen Einsatz‘ par excellence beginnen: Die zwei Figuren Dwight Williams und Emma Drobil befinden sich sowohl was die Verbindung zu anderen Figuren und Handlungssträngen angeht, als auch in räumlicher Hinsicht – an einem Bach außerhalb Wiens – an der Peripherie.409 Auch das ‚Feuer‘-Kapitel, dessen ‚polyphone‘ Struktur im Folgenden untersucht werden soll, ist durch solche ‚exzentrischen Einsätze‘ geprägt. Durch die Vielzahl der eigenständigen Erzählstränge, die an ganz unterschiedlichen Punkten beginnen, ihre eigene Charakteristik haben und sukzessive miteinander verknüpft werden, entsteht eine der musikalischen ‚Polyphonie‘ vergleichbare Mehrstimmigkeit. In diesem Kapitel hat Doderer die frühen Experimente mit dem Paralleldruck durch den Wechsel zwischen diversen Erzählsträngen, die sich zeitgleich abspielen, und durch verschiedene Techniken der „symphonischen Synchronisierung“ (WdD 265) „episch eingeebnet.“410 Ein Beispiel für dieses Verfahren gibt Doderer in der Ouvertüre zu ‚Die Strudlhofstiege‘: [E]in Dampfschiff zum Beispiel fährt den Donaukanal hinab, und an zwei zunächst unzusammenhängenden Szenen vorbei, die an verschiedenen Stellen der Uferlände sich abspielen. In jeder Szene kommt das Dampfschiff vor, und inzwischen ein Stück weiter herabgelangt: so fädelt es die Abläufe hintereinander auf und macht deutlich, daß zwischen den beiden Auftritten an verschiedenen Orten nur ein Minutenabstand liegt (Strudlhofstiege 814, 819). Oder es fixiert ein überraschender Platzregen zwei Vorgänge, zwischen denen eine Beziehung nicht besteht, doch zeitlich am gleichen Punkte (Strudlhofstiege 660, 695). (WdD 265)411

und Alexander Honold, Berlin/Boston 2017 (= Handbücher zur kulturwissenschaftlichen Philologie; Bd. 2), S. 131–158, hier: S. 149. 408 Link 1992, S. 94. 409 Siehe auch Wendelin Schmidt-Dengler: Die Stadt wird ergangen: Wien bei Schnitzler, Musil, Doderer. In: Gassen und Landschaften. Heimito von Doderers „Dämonen“ vom Zentrum und vom Rande aus betrachtet. Hrsg. v. Gerald Sommer, Würzburg 2004 (= Schriften der Heimito von Doderer-Gesellschaft; Bd. 3), S. 105–122, hier: S. 115. [= Schmidt-Dengler 2004a]. 410 Buchholz 1996, S. 114. 411 In der ‚Skandal-Szene‘ der Strudlhofstiege ist es ein Fiaker, der diese Synchronisierungs-Funktion übernimmt. Auch James Joyce setzt im ‚polyphonen‘ ‚Sirenen-Kapitel‘ eine Kutsche ein: „[D]ie Kutsche [fährt] los und verbindet alle diejenigen miteinander, die ihren eigenen, häufig getrennten Verrichtungen nachgehen.“ Voß 2009, S. 84.

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Diese Technik findet sich auch im ‚Feuer‘-Kapitel und wird mit anderen Elementen der Musikalisierung verknüpft. Wendelin Schmidt-Dengler meint, „[d]em komplizierten Aufbau dieses Kapitels nachzuspüren“, sei „eine ebenso schwierige wie reizvolle Aufgabe“.412 Neben ihm selbst413 haben sich besonders Dietrich Weber,414 Margarete Hauer,415 Elisabeth C. Hesson,416 Ulrike Schupp,417 Christopher Dietz,418 und Thomas Hans Petutschnig419 dieser Aufgabe in ihrer Analyse des ‚Feuer‘-Kapitels angenommen.420 Petutschnig stellt dabei die Rolle der Figur Leonhard in den Mittelpunkt und bezieht die Kompositionsskizzen Doderers mit ein, von denen er im Anhang eine Kopie beigefügt hat.421 Auch die Abfolge der 38 Sequenzen, in die das Kapitel unterteilt ist, findet sich bei Petutschnig als Übersicht,422 die für einen ersten Überblick über die inhaltliche Ebene hilfreich ist. Um darüber hinaus die Struktur des ‚Feuer‘-Kapitels und die für die Synchronisierung entscheidenden Zusammenhänge optisch zu verdeutlichen, habe ich die Sequenzen in eine tabellarische Form gebracht, die sich aus der Analyse des Textes ergibt und einzelne Elemente der Kompositionsskizzen enthält.423 Die Genese des ‚Feuer‘-Kapitels wurde bereits ausgiebig dargelegt und steht in meiner Fragestellung nach den musikalischen Strukturen und der Funktion dieser

412 Schmidt-Dengler 2003, S. 240. 413 Schmidt-Dengler 2003, S. 232–241. 414 Weber 1963, S. 210–239. 415 Hauer 1975, u. a. S. 223–225. Hauer untersucht das ‚Feuer‘-Kapitel nicht gesondert, sondern bezieht es an den entsprechenden Stellen ihrer Gliederung zu den Strukturprinzipien, der dem Prinzip der Rahmung und Symmetrie folgenden Komposition des Romans und seiner Raumstruktur mit ein. 416 Hesson 1982, S. 65–78. 417 Schupp 1994, S. 262–302. 418 Christopher Dietz: ‚Wer nicht riechen will, muß fühlen‘. Geruch und Geruchssinn im Werk Heimito von Doderers. Wien 2002, S. 49–58. 419 Petutschnig 2007, S. 92–110. 420 Bei einigen anderen Untersuchungen stehen hauptsächlich politische und historische Aspekte der Darstellung des 15. Juli 1927 im Vordergrund. So bei: Reininger 1975; Schröder 1976; Stieg 1990; Gertraud Wollansky: Die zweite Wirklichkeit des Heimito von Doderer. Versuch einer Analyse aus politikwissenschaftlicher Sicht. Phil. Diss., Wien 1986. Die Arbeit von Bruce Irvin Turner geht der Frage nach, inwieweit die Figuren und Ereignisse des Romans bestimmte Aspekte ihrer Zeit und potenzielle Alternativen zu den historischen Entwicklungen verkörpern, wobei sein Fokus auf dem Justizpalastbrand liegt. Bruce Irvin Turner: Doderer and the politics of marriage. Personal an social history in ‚Die Dämonen‘. Stuttgart 1982 (= Stuttgarter Arbeiten zur Germanistik; Bd. 111), hier: Vgl. S. 9 f. u. S. 85 ff. 421 Eine Kopie der Kompositionsskizzen sowie weiterer handschriftlicher Notizen Doderers zum ‚Feuer‘-Kapitel findet sich auch bei Schmidt-Dengler 2003, S. 234 u. S. 235 sowie in Lutz Werner Wolff: Heimito von Doderer. Hamburg 1996, S. 92 u. S. 93. 422 Petutschnig 2007, S. 240–243. Doderer selbst hat 28 Abschnitte in dem Kapitel gezählt, da er einige der Sequenzen als Einheit zusammengezogen hat. Vgl. Petutschnig 2007, S. 103. 423 Siehe Anhang E: Übersicht zum ‚Feuer‘-Kapitel.

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Musikalisierung nicht im Fokus, weshalb ich auf eine weitere Auswertung der Kompositionsskizzen verzichte, deren Wert für die Werkinterpretation ohnehin oft überschätzt wurde,424 auch wenn die Skizze zum ‚Feuer‘-Kapitel eine der wenigen ist, die nicht als „ex-post-Composition“ (CI 67, 24.08.1951), d. h. erst im Nachhinein angefertigt wurde. Ihre Funktion besteht Schmidt-Dengler zufolge nicht nur darin, einen Überblick zu ermöglichen und Fehler zu vermeiden, sondern auch „sich selbst von der formalen Qualität des Ganzen zu überzeugen“, da Doderer „in seinen romantheoretischen Schriften [. . .] immer wieder die Priorität der Form vor den Inhalten betont [hatte], und die Skizzen [. . .] somit Gebilde [sind], die diese Priorität optisch bestätigen sollen.“425 Da sich die musikalischen Strukturen besonders deutlich anhand der Parallelen zwischen den beiden ‚polyphon‘ gestalteten Finalpunkten der Strudlhofstiege und der Dämonen aufzeigen lassen, wird im Folgenden auch die Unfallszene aus der Strudlhofstiege, bei der Mary K. am 21. September 1925 ihr Bein verliert, in die Betrachtungen einbezogen. Dies ist nicht nur hinsichtlich der Ähnlichkeiten auf der ‚discours‘-Ebene aufschlussreich, sondern erscheint auch im Hinblick auf die romanübergreifenden Entwicklungen einiger Figuren fruchtbar für die Analyse. Trotz zahlreicher Verbindungen in der Darstellung der Ereignisse des 21. September 1925 und des 15. Juli 1927, auf inhaltlicher und struktureller Ebene, wurden die beiden Textstellen in der Sekundärliteratur bisher isoliert voneinander betrachtet und es wurde allenfalls auf vereinzelte Analogien verwiesen.

4.3.3 „Eine wirklich gute Dialektik“ – Die ‚kontrapunktische‘ Konzeption des ‚Feuer‘-Kapitels Die Handlungsstränge der Dämonen sind zum großen Teil auf eine Finalisierung im Kapitel Das Feuer hin angelegt.426 Der Fokus liegt dabei abwechselnd auf verschiedenen Figuren und deren Tagesablauf am 15. Juli 1927, so dass ein ständiger Perspektivwechsel entsteht, der mit der Strukturierung des Kapitels durch visuelle, auditive, olfaktorische und topologische Gegensätze ein fortwährendes Spannungsgefüge erzeugt, in dem Disparates nebeneinandergestellt wird. Die antithetische Erzählstruktur427 wird selbstreferentiell thematisiert, als Geyrenhoff früh morgens

424 Wendelin Schmidt-Dengler: Nachwort des Herausgebers. In: Heimito von Doderer: Commentarii 1951–1956. Tagebücher aus dem Nachlass. Hrsg. v. Wendelin Schmidt-Dengler, München 1976, S. 565–596, hier: S. 579. 425 Schmidt-Dengler 2003, S. 240. 426 Auf dieses umfangreiche Kapitel folgt nur noch ein wenige Seiten umfassendes epilogartiges Kapitel aus der Perspektive des Ich-Erzählers Geyrenhoff, in dem verschiedene Figuren verabschiedet werden. 427 Vgl. Schmidt-Dengler 1976, S. 584.

4.3 Musikalisierung – Imitation und Evokation von Musik

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über die Aussagen des Hofrates Gürtzner-Gontard nachdenkt, der die Ansicht vertritt, nur das Morgen-Gespräch sei erstrangig [. . .] und man bringe dazu eine wirklich gute Dialektik mit, die nicht beeinträchtigt werde durch das Für und Wider des abgelaufenen Tages, während dessen ganzer Dauer man ja in Gegensätzen denke, Verzerrungen erleide, Abschürfungen am Geiste, so daß die Unvoreingenommenheit am Abend lange nicht mehr in solchem Maße vorhanden sei wie am Morgen. (DD 1229)

Vor diesem Hintergrund der Rhetorik werden die Figuren im ‚Feuer‘-Kapitel mit den sich widersprechenden oder ergänzenden Stimmen in einem Gespräch vergleichbar, oder – im Kontext der Musikalisierung von Literatur – mit den Instrumenten eines Orchesters, so dass sich eine antithetische resp. ‚kontrapunktische‘ Konzeption des Kapitels ergibt. Dieses auf die synchronisierten und dennoch relativ eigenständigen Erzählstränge bezogene ‚kontrapunktische‘ Prinzip zeigt sich sowohl auf der Ebene der Motivik, wie auch in den Raumbewegungen der Figuren und den Naturschilderungen der auktorialen Erzählinstanz zu Beginn des Kapitels. Die durch Oppositionen wie Stille vs. Lärm und Höhe vs. Tiefe geprägte Motivik und Raumsemantik wird in dieser Einleitung des Kapitels antizipiert. Auch die das Kapitel prägende Wassermetaphorik, welche sich auf die Beschleunigung und Retardierung des Erzähltempos beziehen lässt, wird in diesen Szenen durch das Katarakt-Motiv vorbereitet und verweist wiederum selbstreferentiell über den Begriff der Kadenz auf die an musikalischen Techniken orientierte Finalisierung des Romans. Bevor die Handlungen um die einzelnen Figuren sukzessive einsetzen, beginnt das Kapitel mit drei Sequenzen, in denen der Tagesanbruch des 15. Juli an verschiedenen Orten in der Natur geschildert wird. „Der Einsatz des Kapitels schließt – über das Kapitel III/10 hinweg zurückgreifend – an das Ende von III/9 an, wo vom Vollmond am Abend des 14. Juli die Rede ist [. . .][vgl. DD 1201].“428 Es bildet dadurch eine Klammer um das Nachtbuch der Kaps II, das direkt vor dem ‚Feuer‘-Kapitel steht, in dem das darin „metaphorisch angekündigte Geschehen Realität wird.“429 Dieser metaphorische Vorgriff findet sich auch in den drei einleitenden Textabschnitten, die ich als Ausgangspunkt meiner Betrachtungen des ‚Feuer‘-Kapitels wähle, da sie sowohl für die ‚histoire‘- als auch für die ‚discours‘-Ebene des Kapitels programmatisch sind und entscheidende Impulse geben. Ebenso wie der Roman als Ganzes – mit dem Kapitel Draußen am Rande – setzt auch das ‚Feuer‘-Kapitel ‚exzentrisch‘, also „vom Rande her“ (CI 219, 26.06.1953) ein.430 Der Fokus bewegt sich

428 Hauer 1975, S. 223. 429 Hauer 1975, S. 223. 430 Vgl. Reinhold Treml: Wege in die Stadt. Die ‚Dämonen‘ und ‚Manhattan Transfer‘. Zwei Stadtromane im Vergleich. In: Gassen und Landschaften. Heimito von Doderers „Dämonen“ vom Zentrum und vom Rande aus betrachtet. Hrsg. v. Gerald Sommer, Würzburg 2004 (= Schriften der Heimito von Doderer-Gesellschaft; Bd. 3), S. 123–140, hier: S. 127.

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in den folgenden Sequenzen sukzessive ins Stadtzentrum hinein und schlägt etwa in der Mitte des Kapitels in eine Gegenbewegung aus dem Zentrum heraus um. Die ersten Anzeichen des neuen Tages zeigen sich in der – im Zusammenhang mit den ‚phrasierten‘ Motiven bereits beschriebenen – Szenerie des Hochwaldes in der Nähe des Erholungsheims auf dem Semmering. Das „[vollkommene] GeräuschVacuum“ und die „dichteste Dunkelheit“ im Wald werden von einem einzelnen Vogelruf und der „grüne[n] Verfärbung des Himmels“ (DD 1206) durchbrochen. An diese längere Passage anschließend folgt ein kürzerer Abschnitt, der den von Vogelgesängen begleiteten Sonnenaufgang auf der ‚Schanze‘ am Ende der Pokornygasse in Wien beschreibt, gefolgt von einem weiteren kurzen Absatz, der sich dem frühmorgendlichen Schnattern der Vögel im nicht weit davon entfernten Wertheimsteinpark zuwendet (vgl. DD 1207). Während die Hochwald-Szene durch die im Roman vorausgegangenen ‚phrasierten‘ Motive eng mit Leonhards Entwicklung verknüpft ist, ist der Sonnenaufgang auf der ‚Schanze‘ durch Geyrenhoffs prophetischen Blick auf die wie ein Schlachtfeld unter ihm liegende Stadt vorgezeichnet. Insofern greift Dietrich Webers Aussage, die Natur trete hier „in absoluter Schilderung, ohne die Perspektive einer Figur“431 auf, zu kurz. Trotz der auktorialen Erzählinstanz, die das Kapitel einleitet, bewirken die vorangegangenen zum Teil aus der Figurenperspektive geschilderten ‚phrasierten‘ Motive eine starke Bindung an Leonhards und Geyrenhoffs Sicht.432 Die ‚kontrapunktische‘ Gegenüberstellung zwischen der Natur und dem späteren Geschehen in der Stadt,433 die sich in der Einleitung des Kapitels zeigt, setzt sich im gesamten Kapitel auf verschiedenen Ebenen fort. Weniger akzentuiert als die beiden ersten Sequenzen ist das Motiv des Wertheimstein-Parks, das jedoch ebenso in Bezug zu Geyrenhoff steht. Zweimal denkt Geyrenhoff im Vorfeld des 15. Juli an „die tiefe Schlucht dort unten im Wertheimstein-Park [. . .], mit dem Bächlein, das sich in Becken staute, und den duckenden und spritzenden Wasservögeln.“ (DD 1126) Beide Male bildet die sich entwickelnde Beziehung zu Friederike den Hintergrund seiner Gedanken, während er diffuse Ängste verspürt, die im Zusammenhang mit gesellschaftlichen Entwicklungen stehen.434 In ihm „wurmisierte irgendeine Besorgnis herum“ (DD 1125) und die Bedeutungen von erinnerten Gesprächen lösen sich in einzelne Atome auf: „Sie kreiselten auf der Stelle

431 Weber 1963, S. 220. 432 Zutreffender scheint mir Tremls Feststellung, die Figuren seien „ausschließlich als Assoziationen zu den geschilderten Orten anwesend.“ Treml 2004, S. 127. Allerdings wird Leonhard in der einleitenden Sequenz im Zusammenhang mit dem Erholungsheim explizit genannt (vgl. DD 1206). 433 Weber 1963, 220. 434 Genannt werden in der ersten Szene Kajetans neue Bande, Eulenfeld und Körger, als Vertreter der nationalsozialistischen Ideologie (vgl. DD 1125 f.), sowie in der zweiten Szene Gesprächsbrocken (vgl. DD 1135), die sich auf militärische Kontexte und eine Unwetterkatastrophe beziehen.

4.3 Musikalisierung – Imitation und Evokation von Musik

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wie Holzsplitterchen in kleinen Wirbeln eines Bächleins.“ (DD 1134)435 Die Fragmentierung in einzelne ‚Splitter‘ und der damit zusammenhängende Bedeutungsverlust werden über das Motiv des Bächleins und seine exponierte Stellung zu Beginn des ‚Feuer‘-Kapitels auf die Handlung des 15. Juli übertragen. Die dissoziierten Elemente, die von äußerer Bewegung mitgerissen werden und im Strudel der Ereignisse kreiseln, lassen sich auf die öffentlichen Geschehnisse des Tages beziehen. Alle Figuren, deren Entwicklung dem Konzept der ‚Menschwerdung‘ folgt, wenden sich jedoch nach einiger Zeit von diesen Ereignissen ab und hin zu den für sie entscheidenden Erlebnissen, die im Hintergrund, d. h. im Privatbereich stattfinden. In der Beschreibung des Bächleins spiegeln sich Momente der Erzählstruktur des Kapitels wider, wie die Fragmentierung, die Stauungen des Erzählflusses und die kreiselnde Bewegung, die bis hin zum „chronologischen Stillstand“436 führt. Kerscher sieht hierin eine „strukturelle Umsetzung des metaphorisch verwendeten Begriffs ‚Wirbel‘, mit welchem sich die Protagonisten und der Erzähler leitmotivisch auf die Wirren beziehen“, und er weist in diesem Zusammenhang auf das „[bedrohliche semantische] Potential der Wassermetaphorik“ hin.437 Das Motiv des Bächleins, „das sich in Becken staute“ (DD 1126),438 bezieht sich neben dem öffentlichen Bereich aber auch auf die persönlichen Belange der Figuren: Geyrenhoff empfindet Friederike als „hochgestaut, eine Wucht“ (DD 1125) und beschreibt ihre Kleidung und sie selbst als „Katarakt von weißer Seide“ (DD 1127 u. DD 1133). Das Motiv des gestauten Wassers und das damit verknüpfte KataraktMotiv werden im Romanverlauf in Zusammenhang mit sexueller Anziehung eingeführt und variiert. Wie Geyrenhoff, so empfindet auch Leonhard Marys „Schönheit wie eine hochauf gestaute Wasserswucht“ (DD 648, vgl. auch DD 657). Und im ‚Feuer‘-Kapitel können und wollen sich weder Leonhard noch Mary dem schicksalhaften Verlauf ihres Lebens entgegenstellen: „Es schwemmte ihn einfach auf sie zu, und der Katarakt [. . .] mußte befahren werden, da half alles nichts, weder ihm, noch ihr.“ (DD 1217 f.).439 Beide Paare sind durch ein emotionales und ein

435 Vgl. dazu: „Stürzen wir in die Tiefe ab, und lassen wir uns alles geschehen, wie ein Holzsplitter, den Bach hinab treibend, sich je nach der Strömung legt . . .“ (CI 142, 13.08.1952). In dieser Aussage scheint bereits Doderers positive Haltung gegenüber der Schicksalsergebenheit als ‚lebensgemäße‘ Haltung durch, die sich auch im Katarakt-Motiv wiederfindet. 436 Kerscher 1998, S. 359. 437 Kerscher 1998, S. 359. 438 Alle folgenden Hervorhebungen im Zusammenhang mit dem Motiv des gestauten Wassers bzw. des Kataraktes von M.B. 439 Vgl. auch DD 1311: „Rasch und willig glitt Leonhard den Aquädukt entlang, der ihn hier leitete, und auf den unvermeidlichen Katarakt zu [. . .].“ Und DD 1322: „Nun trieb sie mit ihrer ganzen Person dicht auf den Katarakt zu.“

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physisches Hindernis voneinander getrennt,440 welches durch das „‚kontraktiv[e]‘ [. . .] zueinander Gezogenwerden der beiden Figuren“441 überwunden wird. Dabei findet ein Tempowechsel statt, der sowohl Geyrenhoffs als auch Leonhards Ankunft bei der Geliebten prägt:442 Am Ziel angelangt wechselt das Tempo „von großer Schnelligkeit zu deutlicher Verlangsamung bzw. Statik.“443 Auch die sexuelle Anziehungskraft, die von Malva Fiedler ausgeht, empfindet Leonhard als „hochgestautes Wasser hinter einem Wehr“ (DD 582) bzw. als „gestaute Wasserwucht“ (DD 1113). Allerdings ist das Motiv in Bezug auf Malva negativ konnotiert, so dass die metaphorischen Wassermassen, wenn das Wehr einmal geöffnet wäre, ihn unter sich begraben würden.444 In dieser bedrohlichen Eigenschaft korrespondiert das Motiv mit den durch die Straßen strömenden Menschenmassen, die Leonhard davon abhalten kann, in die Universitätsbibliothek einzudringen, indem er die schweren Türen schließen lässt (vgl. DD 1225 f.).445 Während das Motiv auf die öffentlichen Ereignisse bezogen die bedrohliche Macht der Massen symbolisiert, die analog zum ‚hochgestauten Wasser‘ als „dicht und tief gestaute, den Justizpalast umschließende Menge“ (DD 1245, Hervorhebung von M.B.) dargestellt wird, kennzeichnet es zugleich im privaten Bereich eine Ergebenheit in die Lebensumstände, die als „schicksalsgesund“ (DD 1218) bezeichnet wird.446 Der Bach durch die Schlucht im Wertheimstein-Park wird mithin zur vorausdeutenden Metapher für die Ereignisse des Tages und zugleich für die Struktur des Kapitels, dessen Handlungsstränge sich Doderer zufolge auf einen ‚Katarakt‘ zubewegen sollten. Zu Beginn seiner Arbeiten am ‚Feuer‘-Kapitel wollte Doderer die sternförmige Ausrichtung der Handlungsstränge, die sich auf ein zentrales Ereignis zubewegen, aus der Unfallszene des 21. September 1925 der Strudlhofstiege auf das ‚Finale‘ der Dämonen übertragen. Er änderte sein Vorhaben jedoch und strukturierte das Kapitel stattdessen in parallel verlaufende Handlungsfäden, die sich nach ihrer Vorbereitung in Kapitel Kurze Kurven II,447 nun auf einen ‚Katarakt‘ zu-

440 Vgl. DD 1217, 1290, 1291, 1298, 1306. 441 Petutschnig 2007, S. 106. 442 Vgl. Geyrenhoffs Ankunft bei Friederike (DD 1299) sowie die zweimalige Schilderung von Leonhards Ankunft bei Mary (DD 1313 aus Leonhards Sicht und DD 1322 aus Marys Sicht). 443 Petutschnig 2007, S. 106. 444 Vgl. Kap. 5.2.1. 445 Hölter weist jedoch im Zusammenhang der literarischen Auseinandersetzungen mit dem Justizpalastbrand bei Elias Canetti, Karl Kraus und Doderer darauf hin, dass Bücher ebenso wie „Feuer [. . .] ein Massesymbol [sind]. Beide beziehen sich nicht nur spannungsreich aufeinander, sondern auch auf ein Drittes: auf Menschenmassen.“ Hölter 2004, S. 270. 446 Die ‚Schicksalsgesundheit‘ Marys und Leonhards wird in direkten Zusammenhang mit dem ‚Befahren des Katarakts‘ gestellt (vgl. DD 1218). 447 Vor das ‚Feuer‘-Kapitel, in dem die Handlung der diversen Erzählstränge aus Kurze Kurven II fortgeführt wird, ist noch das Kapitel Nachtbuch der Kaps II eingefügt.

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bewegen sollten.448 Nachdem die einzelnen Handlungsstränge zu ihrem jeweiligen ‚Reifepunkt‘ geführt worden waren, sollte im ‚Feuer‘-Kapitel ein schnelleres Tempo vorherrschen, was durch die einer Stromschnelle gleichenden Bewegung der Handlung verdeutlicht wird. Als ‚Reifepunkt‘ bezeichnet Doderer das Verfahren, einen Vorgang nicht ganz bis zum Ende zu erzählen, sondern ihn nur bis zu einem Reifepunkt zu führen: den letzten Vollzug besorgt der Leser selbst und wird zustimmen, wenn er den Sachen später und in anderem Zusammenhange schon auf diesem Punkte begegnet. (WdD 171)

Durch die Heranführung an den ‚Reifepunkt‘ konnten die Handlungen ohne erklärendes Beiwerk im ‚Feuer‘-Kapitel zu ihrem jeweiligen Finale geführt werden und die chaotischen und für die einzelnen Figuren unüberschaubaren Ereignisse dieses Tages dargestellt werden, ohne Gefahr zu laufen, sich in Formlosigkeit zu verlieren: Doderer wished the narrative to reflect this confusion and clearly could not afford to slow the tempo with long informative sections. His use of ‚Reifepunkte‘ in ‚Kurze Kurven‘ allowed him the required economy of narrative in ‚Das Feuer‘.449

Die Eingangssequenzen des Kapitels bilden mit ihren Naturbeschreibungen als „stehendes Bild“ „das Vorspiel zu einem höchst dynamischen Finale“450 und eine feierliche Einleitung für die darauf folgenden fragmentierten und zum Teil vom öffentlichen Chaos des Tages beeinflussten Erzählsequenzen. Die Beschreibung der ‚sehr subjektiven Eindrücke‘ [DD 1247] segmentiert das Geschehen in eine Vielzahl von Beobachtungssplittern. Das für den gesamten Roman konstitutive Verfahren, vielschichtige und simultane Vorgänge nicht chronologisch linear und nacheinander, sondern fragmentiert und ineinander verschachtelt, mit Vor- und Rückgriffen, darzustellen, bestimmt das ‚Feuer‘-Kapitel in besonders auffälliger Weise.451

Die musikalische Terminologie der von Doderer in seiner Kompositionsskizze zum ‚Feuer‘-Kapitel als „Vortakte“452 bezeichneten Textabschnitte findet sich auch in der vorangehenden Beschreibung der Park-Szenerie und verweist ebenfalls auf die Abwärtsbewegung des strömenden Wassers: „Das Bächlein kadenzierte durch die

448 Vgl. Hesson 1982, S. 57. 449 Hesson 1982, S. 57. 450 Wendelin Schmidt-Dengler: Die Dynamik der stehenden Bilder in Doderers Prosa. In: „Schüsse ins Finstere“. Zu Heimito von Doderers Kurzprosa. Hrsg. v. Gerald Sommer und Kai Luehrs-Kaiser, Würzburg 2001 (= Schriften der Heimito von Doderer-Gesellschaft; Bd. 2), S. 203–212, hier: 207. Auch wenn Schmidt-Dengler sich hier auf die Strudlhofstiege bezieht, gilt das Prinzip, „den Fluß der Erzählung zu stauen, um aus der entstandenen Stauung heraus Kraft zu gewinnen und jene Dynamik zu erhalten, die den Motor zum Anspringen bringt“ (Schmidt-Dengler 2001, S. 205) ebenso für das Finale der Dämonen, wie die Unfallszene der Strudlhofstiege. 451 Kerscher 1998, S. 358. 452 Vgl. Petutschnig 2007, S. 103 sowie die Kopie der Kompositionsskizze im Anhang bei Petutschnig.

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tiefe Schlucht im Wertheimstein-Park herab“ (DD 1135, Hervorhebung von M.B.). In der Musik bezeichnet eine Kadenz neben anderen Bedeutungen die „formelhafte Schlußbildung im mehrstimmigen Satz.“453 „Kadenz [. . .] leitet sich ab von lat. cadentia, dem Partizip Neutrum Plural zu lat. cadere (fallen, stürzen, enden, auslauten). Als solches findet man das Wort in der lateinischen Rhetorik.“454 Zu Beginn des ‚Feuer‘-Kapitels bezeichnet das Verb ‚kadenzieren‘ nicht die Bewegung des Baches, sondern die kunstvollen Wendungen im Gesang der Vögel – „Es ward gepfiffen, kunstvoll gesungen und kadenziert, geantwortet und überboten.“ (DD 1207, Hervorhebung von M.B.) –, wodurch es in einem eindeutig musikalischen Sinne verwandt wird. Dennoch wird der prägnante Begriff auch über das im direkten Anschluss an das ‚Vogelkonzert‘ beschriebene Bächlein evoziert, das durch die Schlucht herabfließt. Die Verknüpfung findet über die analoge stufenartige Abwärtsbewegung und die vorangegangene Beschreibung der Bewegung des Bächleins als ‚kadenzieren‘ statt (vgl. DD 1135). Über den Begriff der Kadenz wird wiederum der Beginn des ‚Feuer‘-Kapitels mit der ebenfalls programmatischen Funktion der Treppenanlage in der Strudlhofstiege verknüpft, die durch ihre weit ausschwingenden Treppen einen direkten Weg verhindert und dadurch aufzeigt, „daß jeder Weg und jeder Pfad [. . .] mehr ist als eine Verbindung zweier Punkte deren einen man verlässt, um den anderen zu erreichen, sondern eigenen Wesens“ (DS 330). Somit sind die Passanten dazu aufgefordert, dem „tiefste[n] Wille[n] des Meisters der Stiegen [. . .][entsprechend,] diese lange, ausführliche Phrase kadenziert durchzuführen“ (DS 331 f., Hervorhebung von M.B.).455 Die Treppenanlage mit ihren zwei Aufgängen, die durch Querverbindungen miteinander verbunden sind, verweist auch auf die zwei (Haupt-)Zeitebenen, die sich in der Erzählung abwechseln, so dass eine „riskante Brückenkonstruktion“456 entsteht. Die selbstreferentielle Bedeutungsebene wird durch die Überlagerung der Namensgebung der Strudlhofstiege und des Romantitels verstärkt, wodurch der als ‚Meister der

453 Michael Polth: Klausel und Kadenz [Art.]. In: MGG, Sachteil 5. Kassel/Basel 1996, Sp. 256–282, hier: Sp. 256. 454 Polth: Klausel und Kadenz [Art], Sp. 256.. 455 Martin Huber bezieht Doderers Gebrauch des Kadenz-Begriffes auf die in Grundlagen und Funktion des Romans ausgeführte Unterscheidung eines gestaltenden und eines analysierenden Sprachgebrauchs (vgl. WdD 168). „Beides, die Kadenz als musikalische Einheit mit ihrem abschließenden Charakter für den musikalischen Satz und ihre Fähigkeit zum Wechseln der Tonart – im Roman also die Bewegung zwischen den zwei Anwendungsarten der Sprache, die als Tempo-Wechsel empfunden wird – möchte Doderer im Bild der Kadenz aus der Musik in den Roman übertragen.“ Huber 1992, S. 198. 456 Wendelin Schmidt-Dengler: Bruchlinien. Vorlesungen zur österreichischen Literatur 1945 bis 1990. Salzburg/Wien 1995, S. 77.

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Stiegen‘ bezeichnete Architekt der Treppenanlage auf die Rolle des Autors und die ‚Passanten‘ entsprechend auf die Leser*innen des Romans verweisen: [D]ie Bedeutung des Romans [erschließt sich] beim umwegigen Lesen des ganzen Textes. Der Roman liest und schreibt die Stiege – homonyme Metapher seiner selbst – als architektonische Konkretisation eines auf sich selbst verweisenden Weges, der ein selbstbezügliches, ein poetisches Gehen anleitet, ein Gehen ‚mit Einstellung auf den Weg‘ [. . .].457

Es ist in den Dämonen jedoch nicht nur das herab ‚kadenzierende‘ Bächlein, das auf die Treppenanlage und die ‚Katarakt-Struktur‘ verweist. Jede der drei Anfangssequenzen des ‚Feuer‘-Kapitels ist topographisch durch steil abfallendes Gelände geprägt: Das Hochgebirge mit den „hohen Bergen“ (DD 1206) und dem am steilen Hang verlaufenden Weg, die steil abfallende ‚Schanze‘, deren Gefälle nur durch eine Treppe überwunden werden kann, sowie die tiefe Schlucht, die von der Straße in den Park „absinkt“ bis zu ihrem „tiefsten Grunde“ (DD 1207), bei der zudem das Motiv des schnell strömenden Wassers inbegriffen ist. Auch in der Abfolge der drei Szenerien ist die Abwärts-Bewegung und die Idee des Katarakts enthalten: Vom Hochgebirge zur erhöhten ‚Schanze‘ bis hinab in die Schlucht des Parks. Diese Bewegungstendenz klingt ebenfalls im Motiv des Vollmondes an. Wie bereits erwähnt wurde, bildet der Vollmond einen Bogen vom Abend des 14. Juli zum Tagesanbruch des 15. Juli (vgl. DD 1201 u. DD 1206). Es findet sich jedoch bereits vorher ein auf diesen Umstand deutender Hinweis: „Jetzt erst bemerkt man, daß inzwischen der Mond über die Gasse getreten ist, der Abend ist noch sehr warm. Der Mond wird am 14. Juli voll sein.“ (DD 1184) In dieser ungewöhnlich anmutenden Ankündigung, findet sich der Gedanke des gestauten Wassers bzw. des Katarakts und ‚Reifepunkts‘ sowie der darauf folgenden Abwärtsbewegung wieder, da der Mond analog zu vielen der Erzählstränge seinen Höhepunkt erreicht hat und nun an einem Wendepunkt angelangt ist, von dem aus die abnehmende Mondphase folgt. Zugleich geht der die ‚Vortakte‘ prägende stufenartige Abstieg mit einem ‚Crescendo‘ der Klangkulisse einher, so dass sich aus dem topographischen Abfall und der parallel zur aufsteigenden Sonne verlaufenden akustischen Steigerung, zwei entgegengesetzte Bewegungen ergeben. Während in der ersten Sequenz die erhabene Stille des Waldes, der „wie ein Grabgewölbe“ (DD 1206) schweigt, nur von einem Rascheln und dem ersten Vogelruf durchbrochen wird, setzten die Vögel in der Pokornygasse nach der ‚Generalpause‘ zu ihrem morgendlichen ‚Konzert‘ zu Ehren des Sonnengottes an. Bei den Wasservögeln des Parks geht es dagegen profaner zu: „[Sie schnattern, plustern sich auf und bringen] lächerliche quakende Töne hervor“, es wird „nicht ohne Geschrei“ zusammen zum Teich „gewatschelt“, bevor sie „in Gruppen und in Gravität davon[ziehen][. . .], nach rückwärts kokett mit wackelndem Pürzel winkend.“ (DD 1207) Durch die Kombination dieser alles andere als ernst wirkenden Aktivitäten mit der ‚Gravität‘, wird die Szene ironisiert und mit 457 Helmstetter 1995, S. 226.

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dem geschäftigen Treiben der Menschen am 15. Juli parallelisiert, die ihre jeweiligen Anliegen wichtig nehmen, während sie die historischen Ereignisse kaum wahrnehmen. Die Unruhe der ‚Gruppen‘ kontrastiert die Einleitung des Kapitels, in der das Walten der ewigen Naturgesetze zum Ausdruck kommt. Die topologische Höhen-Tiefen-Struktur prägt das gesamte Kapitel und verweist immer wieder auf weit zurückliegende Textstellen, die den Brand des Justizpalastes mit den damit einhergehenden Ausschreitungen antizipieren. „[D]er steile Absturz des Terrains“ (DD 1059, Hervorhebung von M.B.) am Ende der Pokornygasse wird beispielsweise bereits lange vor dem ‚Feuer‘-Kapitel erwähnt und deutet durch die Parallelisierung von Geyrenhoffs Blick auf die an ein Schlachtfeld erinnernde Stadt mit dem späteren Blick von Schaulustigen auf den Brand des Justizpalastes von „der Terrasse [des Cobenzl] und weiter vorn, gegen den steileren Abfall des Terrains zu“ (DD 1293, Hervorhebung von M.B.) die prophetische Komponente der Beschreibung an. Neben der Dichotomie von Höhe und Tiefe kommt auch der Opposition von Lärm und Stille, sowie Hitze und Kühle eine strukturierende Funktion innerhalb des ‚Feuer‘-Kapitels zu. Diesen akustischen und meteorologischen Phänomenen sind die olfaktorischen Kontraste zwischen dem Brandgeruch und dem Kampferduft zugeordnet, die das gesamte Kapitel durchziehen. Während der Brandgeruch für die öffentlichen ‚revolutionären‘ Geschehnisse steht, symbolisiert der Kampferduft die private Sphäre,458 die Doderer zufolge die einzige ist, in der sich die wahrhaftige Wirklichkeit abspielt. Die bipolare Struktur, innerhalb derer die „Überwindung des Dämonischen im privaten Bereich“459 stattfindet, wird allerdings durch die Sequenz um Frau Mayrinker konterkariert, in welcher der auf die Bekämpfung eines Brandes im privaten Bereich folgende Rückzug in die Geruchssphäre des Kampfers ebenfalls als ‚Apperzeptionsverweigerung‘ dargestellt wird. Doderer hat das ‚Feuer‘-Kapitel als „eine Fuge aus zwei Gerüchen“ bezeichnet (CI 446, 21.08.1955). Er stellt somit die „antithetische Konzeption des ‚Feuer-Kapitels‘“460 in einen ‚musikalischen‘ Kontext, indem er diese Opposition mit sich kontrapunktisch zueinander verhaltenden Stimmen vergleicht. In der Musik bezeichnet der Kontrapunkt die Technik der Kombination gleichzeitig erklingender musikalischer Linien. Der heutige Begriff des Kp. schließt ein, daß die Einzelstimmen in rhythmischer und melodischer Beziehung voneinander unabhängig, gleichzeitig aber nach gewissen vorbestimmten Grundsätzen, z. B. denen der Harmonielehre, in Übereinstimmung gebracht sein müssen. [. . .] Abweichend hiervon bezeichnet man auch eine zu einer gegebenen Weise hinzugesetzte Stimme als Kontrapunkt.461

458 Vgl. Schmidt-Dengler 1976, S. 584. 459 Hauer 1975, S. 203. 460 Schmidt-Dengler 1976, S. 584. 461 Werner Krützfeld: Kontrapunkt [Art.]. In: MGG, Sachteil 5. Kassel/Basel 1995, Sp. 596–628, hier: Sp. 596.

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Auch wenn „Harmonie oder Kontrapunkt in der Literatur nicht dasselbe bedeuten können wie in den Musik,“ kann es dennoch sinnvoll sein, „von literarischem Kontrapunkt zu sprechen, wenn etwa ein Romancier in mehreren Handlungssträngen dasselbe Thema aus jeweils unterschiedlichen Perspektiven beleuchtet, so daß eine Sequenz als Spiegelbild der vorangehenden erscheint.“462 Allerdings muss der übertragene Begriff unscharf bleiben und es scheint zumeist sinnvoller, von einem antithetischen Aufbau zu sprechen. Die musikalische Terminologie ist dann angebracht, wenn es um Elemente der Musikalisierung der Literatur geht, zumal wenn diese intermedialen Bezüge auf mehreren Ebenen zu konstatieren sind. Auch wenn das ‚Feuer‘-Kapitel nicht als literarische Transformation der musikalischen Struktur einer Fuge bezeichnet werden kann, weist Doderers Wortwahl auf einige Aspekte der Formkorrespondenz hin. Durch die vielfältigen Figurenperspektiven, die fragmentierten Handlungsstränge und die beschriebenen Techniken der ‚Synchronisierung‘ entsteht der Eindruck einer ‚polyphonen‘ Struktur. Dem ‚statischen‘ Charakter einer Fuge entspricht die Wiederholungsstruktur der Motive von öffentlichem und privatem Leben, die sich in topographischen, akustischen, klimatischen und olfaktorischen Aspekten ausdrückt – ein „komplexes Kontrastgefüge“,463 das alle Sequenzen des Kapitels prägt und in ständigem Wechsel kontrastierende Motive gegenüberstellt. Die Einheit des auseinanderstrebend Vielen als ein in sich gegliedertes Ganzes im musikalischen Prozess darzustellen, darin bestand die ideelle Leistung des Kontrapunkts, der damit nicht nur das elementare Vehikel zur Ausführung vokaler und instrumentaler Polyphonie abgab, sondern darüber hinaus auch ein kulturgeschichtlich weit verbreitetes und lang anhaltendes Modell der gelungenen Synthese von Einheit und Differenz.464

Der Kampferduft wird erst spät im Roman zum viel frequentierten Motiv, das als „Duft eines neu begonnenen Lebensabschnittes“ (DD 1099) zum ersten Mal in Geyrenhoffs Wahrnehmung von Friederike vorkommt und auf das ‚Finale‘ des Romans vorbereitet.465 Im ‚Feuer‘-Kapitel wirkt der Duft daraufhin wie eine Mahnung an Geyrenhoff, sich auf den Weg zu Friederike zu machen (vgl. DD 1272 u. DD 1275) und trotz des „rohen und drohenden Brandgeruche[s]“ ist „der strichzarte Duft des Kampfers [. . .] die stärkere Macht“ (DD 1279). Er scheint „eine Art Heilsbotschaft der Abgekehrtheit“ (DD 1273) zu verkünden und symbolisiert damit die Haltung der sich vom politischen Geschehen abwendenden Protagonisten, die im privaten

462 Gier 1995, S. 73. 463 Kerscher 1998, S. 358. 464 Alexander Honold: Kontrapunkt. Zur Geschichte musikalischer und literarischer Stimmführung bis in die Gegenwart. In: Handbuch Literatur & Musik. Hrsg. v. Nicola Gess und Alexander Honold, Berlin/Boston 2017 (= Handbücher zur kulturwissenschaftlichen Philologie; Bd. 2), S. 508– 134, hier: S. 520. Honold zeichnet in seinem Beitrag zum Handbuch Literatur & Musik die historische Entwicklung des musikalischen Kontrapunktes nach und stellt den intermedialen Transfer in literarischen Werken von Diderot, E.T.A. Hoffmann und Thomas Mann dar. 465 In Bezug auf Friederike wird der Kampferduft mehrmals erwähnt: Vgl. DD 1135, 1137, 1173.

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Bereich ihr ‚Heil‘ finden. Auch als Geyrenhoff letztlich wieder bei Friederike angelangt ist, wird der Kampferduft erwähnt (vgl. DD 1299) und dem „unversöhnliche[n] Geruch des Brandes“ (DD 1328) gegenübergestellt. Ein letztes Mal wieder aufgegriffen wird das Motiv von Geyrenhoff im abschließenden Kapitel Schlaggenberg’s Wiederkehr, in dem die ‚Heilsbotschaft‘ in Erfüllung gegangen ist und Geyrenhoff meint: „Ich tat nichts, es sei denn, man ließe das Erlernen des Glücklich-Seins als Tätigkeit gelten [. . .]. Der Kampferduft zog tief in sich gekehrt durch meine Räume. Die Fenster standen offen.“ (DD 1338). Da das Fenster in Doderers Romanen „der Ort grenzenloser Apperzeption [. . .][ist, wodurch] die Brücke vom Innen ins Außen geschlagen [wird]“,466 zeigt sich in diesem Bild somit die Überlagerung von der mit dem Geruch verbundenen ‚Abgekehrtheit‘ und gleichzeitiger apperzeptiver Empfänglichkeit. Der Bogen, den das KampferMotiv um die verschiedenen Stadien der Beziehung zwischen Geyrenhoff und Friederike spannt, bildet auch den Ausgangs- und Endpunkt des Motivs.467 Ein weiterer Handlungsstrang, der von dem Kampfer-Motiv geprägt wird, ist die Episode um das Ehepaar Mayrinker. Das Motiv dient dabei als Einleitung dieses erst gegen Ende des Romans auftretenden Figurenpaars und ihrer als „MayrinkerRaum“ (DD 1180, 1183, 1184) bezeichneten Wohnung im Haus der verstorbenen Frau Kapsreiter. Ähnlich wie bei Geyrenhoff bereitet das Motiv den Höhepunkt des Rückzugs der Figur in den Privatbereich vor: Beim Einkochen von Obst fängt es in ihrer Küche an zu brennen und Frau Mayrinker gelingt es in letzter Minute den Brand zu löschen. Der Küchenbrand ist zeitgleich mit dem Brand des Justizpalastes angelegt und bildet eine „Spiegelung des historischen Makrokosmos im privaten und punktuellen Mikrokosmos“. Kerscher zufolge „liegt das gemeinsame Strukturmerkmal“ der beiden Brände „in der möglichen Gefahr, daß ein punktueller Brandherd das gesamte Haus, nämlich auch das Haus Österreich, vernichten könnte“.468 Frau Mayrinker empfindet diese größere Bedrohung selbst dann noch, nachdem sie das Feuer besiegt hat.469 Ihre Aufregung legt sich erst wieder, als sie sich tief in den nach Kampfer duftenden Kleiderschank hineinlehnt, so dass sie in diesem halb verschwindet: Jetzt erst war Sicherheit, konnte das Feuer nicht wiederkommen, wich es, von dem nur eine Haaresbreite getrennt hatte, aus dem Raume der Möglichkeit tief in’s Unmögliche zurück, aus welchem es vor gar nicht so langer Zeit noch prasselnd hervorgebrochen war. (DD 1286)

466 Weber 1963, S. 42. 467 Das Motiv findet sich zudem zwischenzeitlich im ‚Feuer‘-Kapitel auch in Bezug auf Neuberg (DD 1303) und Leonhard (DD 1214 u. DD 1219) sowie einmal im letzten Kapitel in Verbindung mit Leonhard (DD 1333). 468 Kerscher 1998, S. 374 f. 469 Auch David S. Luft sieht die Bedeutung des Feuers am 15. Juli in „[the] overwhelming of everyday life by demonic forces“. Luft 2003, S. 179.

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Der „fugenlos dicht“ (DD 1286, Hervorhebung von M.B.) schließende Schrank, der sowohl kühl als auch still ist und nach Kampfer riecht, repräsentiert den ‚Mayrinker-Raum‘, in dem die ‚Abgekehrtheit‘ und Abgeschlossenheit von äußeren Einflüssen auf die Spitze getrieben ist. Charakterisiert werden Mayrinkers folgerichtig über den Vergleich mit „in Glas eingegossenen Blumen [. . .] oder als schwebten sie im Innern einer Seifenblase, genau in deren Zentrum“ (DD 1180).470 Der Schrank symbolisiert ebenfalls die absolute Trennung von Innen und Außen, so dass der ‚fugenlose‘ ‚Mayrinker-Raum‘ den „fugenlos betonierten Kanälen“ (DD 1251, Hervorhebung von M.B.) entspricht, die René einige Sequenzen zuvor als Bild der ‚zweiten Wirklichkeit‘ in den Sinn kommen,471 mit dem er das Hexenmanuskript und die eskalierenden Ereignisse des 15. Juli parallelisiert: Schwankte nicht ständig diese Holzgrenze, vor und zurück, das Leben ertötend, wenn sie voran drang, daß es sich glattgeschliffen schloß, dem Aug’ und dem Geist nicht eine einzige jener kleinen Rauheiten mehr bietend, die als Reizmittel so notwendig sind, und ohne welche man wie in fugenlos betonierten Kanälen dahingehen würde, einzig und allein dies eine wissend: was man nun zu tun habe, was nun das nächste sei; während Außen und Innen gegeneinander her starrten, getrennt durch jenes furchterregende Intervall, das sofort klafft, wenn sie einander nicht übergreifen? (DD 1251, Hervorhebung von M.B.)

Einen entsprechenden Zustand erlebt Jan Herzka, als sich nach dem Gespräch über Hexenprozesse und die Mitteilung über das Erbe der Burg Neudegg die sexuelle Obsession bei ihm ausbildet: „Alles war wie glatt geschliffen, flach, er glitt geradezu darauf aus. Es war, als wollte sich die Materie, die er da zu bearbeiten hatte, in keiner Weise aufrauhen, dem Denken einen Halt bieten“ (DD 679, Hervorhebung von M.B.). Bezeichnenderweise hat René auch das mittelalterliche Manuskript, das die Eingeschlossenheit in eine ‚zweite Wirklichkeit‘ zum Thema hat, in einem fugenlos schließenden Schrank der Bibliothek auf Burg Neudegg gefunden: „Dieser Schrank war offenbar für seinen Zweck eigens konstruiert, und zwar auf’s beste. [. . .] Der Verschluß des Ganzen schien fugenlos und luftdicht.“ (DD 725, Hervorhebung von M.B.)472 In der sich an das ‚Feuer‘-Kapitel anschließenden Apotheose Leonhards, dessen Entwicklung den stärksten Gegenpol zur ‚zweiten Wirklichkeit‘ darstellt, findet sich zu dem Bild der fugenlosen Flächenhaftigkeit das entsprechende Gegenstück: „Die Stämme traten auseinander. Jetzt schlitzten kräftige Pfiffe den finsteren

470 Die auf diese Weise beschriebene ‚Vollkommenheit‘ des Paares bedeutet jedoch nicht, wie Christopher Dietz meint, dass sie „vor der Dämonie der ‚zweiten Wirklichkeit‘ gefeit“ (Dietz 2002, S. 51) sind, sondern bildet in ihrer Abgeschlossenheit selbst eine ‚zweite Wirklichkeit‘. 471 Vgl. Treml 2004, S. 133. 472 Auch die ‚zweite Wirklichkeit‘, in die sich Jan Herzka immer weiter hineinsteigert, „[jene] Abgeschlossenheit, [jene luftdichte] Isolierung, in welcher Jan seine neuen Belange, Pläne, Praktiken und Anstalten von vornherein hielt, ausbaute, ordnete, systematisch förderte“ (DD 1030, Hervorhebung von M.B.), ist „absolut von der Außenwelt [abgeschlossen]“ (DD 1032).

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Wald, ließen ihn hallen, und damit seine Geräumigkeit offenbaren, und daß er nicht fugenlos platt war und schwarz.“ (DD 1335, Hervorhebung von M.B.) Auch wenn die private Ebene im Gegensatz zur politischen Ebene in den Dämonen grundsätzlich positiv gekennzeichnet ist und Frau Mayrinker „die Privatsphäre [. . .] idealtypisch repräsentiert“473, zeigt sich an der Mayrinker-Episode, dass innerhalb dieser Logik der extreme Rückzug in die eigenen vier Wände – sowohl physisch als auch psychisch – ebenso zur ‚Apperzeptionsverweigerung‘ führt, wie die revolutionäre Haltung der Aktivisten. In der Nacht vor dem Brand rollt sich Frau Mayrinker „zu einem glatten weißen runden Ei unter dem Nachthemd zusammen, ein Ei der Apperzeptions-Verweigerung, aus dem sie niemals kroch.“ (DD 1282)474 Im häuslichen Bereich siegt der Kampferduft, aber die Bedrohung durch das große Feuer in der Stadt ist dennoch präsent: Als Frau Mayrinker abends den rötlichen Schein am Himmel sieht, erschrickt sie, weil es ihr scheint, als sei der Brand aus ihrer Küche wieder aufgeflammt. Ebenso mischt sich auch abends bei Friederike und Geyrenhoff der kühle Kampferduft mit dem „unversöhnliche[n] Geruch des Brandes“ (DD 1328), den der Wind heranweht. Das Symbol des nach Kampfer riechenden geschlossenen Schranks und die Ei-Metapher verdeutlichen den Zustand der ‚Apperzeptionsverweigerung‘ angesichts des Brandgeruchs, der über die politischen Wurzeln des Justizpalastbrandes implizit auf den kommenden Nationalsozialismus verweist. Die Problematik und Fragilität dieses absoluten Rückzugs in den Privatbereich, greift Doderer in seiner 1963 erschienenen Erzählung Unter schwarzen Sternen,475 in der explizit der Nationalsozialismus thematisiert wird, an einem ‚die Gringos‘ genannten Ehepaar wieder auf. Die ‚Apperzeptionsverweigerung‘ der Gringos kommt ebenso wie bei Frau Mayrinker durch eine Ei-Metapher zum Ausdruck,476 wenn sie als „liebe, völlig arglose wandelnde Ostereier“ (E 472) bezeichnet werden, die „in 473 Schmidt-Dengler 2012, S. 264. 474 Die Episode um Frau Mayrinker thematisiert nebenbei die Frage nach der Erzählinstanz, wenn in einer Klammer Geyrenhoffs Redearten – die sich in diesem Fall auf die Ei-Metaphorik bezieht – zitiert und kritisiert werden: „Sie blieb ab ovo in ovo (der Sektionsrat Geyrenhoff hat so einige Redensarten, aber Variationen darauf fallen ihm nie ein.)“ In einer Fußnote dazu schaltet sich wiederum Geyrenhoff ein, der den Text scheinbar redigiert: „Ich lasse auch diese Stelle unverändert stehen, weil sie bezeichnend für die Art erscheint, wie Kajetan sich erfrechte; ganz abgesehen von jener ‚Chronique scandaleuse‘, die sich ja als fast unreproduzierbar erwiesen hat.“ (DD 1282) An anderer Stelle vermerkt die heterodiegetische Erzählinstanz über Geyrenhoff: Man habe „zuletzt nur verhältnismäßig kleine Teile seiner ‚Chronik‘, oder was es schon hätte werden sollen, hier aufgenommen. Er selbst vermeinte übrigens immer, die ‚Letzte Redaktion‘ aller Berichte allein zu vollziehen, wovon natürlich gar keine Rede sein kann. Nicht er redigierte, sondern er wurde redigiert, genauso wie alle anderen (auch Kajetan) [. . .]. Doch seine dahin gehenden Bemerkungen ließ man gerne stehen.“ (DD 670). 475 Heimito von Doderer: Unter schwarzen Sternen [1963]. In: Die Erzählungen. Hrsg. v. Wendelin Schmidt-Dengler, München 2006, S. 464–485. Im Folgenden abgekürzt als E. 476 Vgl. Kerscher 1998, S. 472.

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einer sicheren Kapsel“ (E 474) leben, während die anderen Figuren – unter ihnen der Ich-Erzähler –, wie „treibende Blätter in dämonischen Stürmen“ (E 474) herumwirbeln. Diese Wortwahl und die vielen motivischen Rekurrenzen zwischen Unter schwarzen Sternen und den Dämonen verweisen auf die zeichenhafte Funktion dieser Figuren, welche die Kontinuität des österreichischen Nationalgefühls verkörpern.477 Während es jedoch Frau Mayrinker im Jahr 1927 angesichts des Justizpalastbrandes noch größtenteils möglich ist, in ihrer privaten Abschottung zu verharren, sind die Gringos im Jahr 1943 zum Untergang verurteilt. Sie begehen Suizid, nachdem die metaphorische Eierschale, d. h. die schützende und isolierende Hülle durchbrochen ist.478 Ihre Leichen symbolisieren Gerald Sommer zufolge die untergegangene Doppelmonarchie:479 „Wie sie da lagen, erschienen sie mir wie die noch sichtbaren Spitzen eines ansonst untergegangenen Kontinents. Ein Doppel-Eiland.“ (E 484) Im ‚Feuer‘-Kapitel findet sich neben der Mayrinker-Episode in den zwei aufeinander folgenden Sequenzen um Neuberg ein weiterer von den öffentlichen Geschehnissen des Tages abgekoppelter Handlungsstrang.480 Die Chronologie der Erzählungen um Neuberg und Frau Mayrinker ist nicht fragmentiert wie in den anderen Erzählsträngen, was darauf hinweist, dass sie „completely unaffected by the external happenings“481 sind. Auch Neuberg ist mit seinen privaten Angelegenhei-

477 Siehe auch Sigurd Paul Scheichl: Heimito von Doderer ‚Unter schwarzen Sternen‘. In: ‚Abgelegte Zeit‘? Österreichische Literatur der fünfziger Jahre. Beiträge zum 9. Polnisch-Österreichischen Germanistenkolloquium Łódź 1990. Hrsg. v. Hubert Lengauer, Wien 1992 (= Zirkular: Sondernummer; Bd. 28), S. 97–107, hier: S. 105. Kai Luehrs-Kaiser plädiert unter Bezug auf eine Textpassage, die aus der Frühfassung der Dämonen zitiert wird, dafür, Unter schwarzen Sternen „als implizit oder explizit kommentierenden Reflex der Dämonen“ zu lesen, in welchem Doderer „seinen eigenen politischen Irrtum poetisch gestaltet“, allerdings so, „daß dessen politischer Charakter nicht mehr erkennbar ist“. Vgl. Kai Luehrs-Kaiser: Der Irrtum des Erzählers? Heimito von Doderers Erzählung ‚Unter schwarzen Sternen‘ und ihr Bezug zu den ‚Dämonen‘. In: „Schüsse ins Finstere“. Heimito von Doderers Kurzprosa. Hrsg. v. Gerald Sommer und Kai Luehrs-Kaiser, Würzburg 2001 (= Schriften der Heimito von Doderer-Gesellschaft; Bd. 2), S. 141–154, hier: S. 147 u. S. 154. [= Luehrs-Kaiser 2001b]. 478 Ihrem Suizid geht ein bizarres Ritual voraus, bei welchem die Beiden vollständig entkleidet werden. Die Analogie zwischen Kleidung und Eierschale wird durch die Häufung der BuchstabenKombination ‚ei‘ akzentuiert: Man war damit beschäftigt, „das Ehepaar (vielleicht hatte man sie vorher volltrunken gemacht) gänzlich zu entkleiden, wobei mir vor allem die Damen eifrig tätig zu sein schienen [. . .]. Jetzt hob man die rundlichen blanken Leiber hoch empor: nun saßen die Gringos nebeneinander auf der warmen Platte das Kamins, während unten alle einander im Halbkreis die Hände reichten [. . .]“ (E 481 f., Hervorhebungen von M.B.). 479 Vgl. Gerald Sommer: Von Dampfern, Unterseeboten und Wracks. Schiffahrtsmetaphern in Doderers Kurzprosa. In: „Schüsse ins Finstere“. Zu Heimito von Doderers Kurzprosa. Hrsg. v. Gerald Sommer und Luehrs-Kaiser, Würzburg 2001 (= Schriften der Heimito von Doderer-Gesellschaft; Bd. 2), S. 155–172, hier: S. 164. 480 Siehe DD 1299–1305 u. DD 1305–1306. 481 Hesson 1982, S. 76.

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ten beschäftigt und sieht erst abends von Weitem den Schein des Feuers. Seine Zurückgezogenheit in die eigenen Räume ist jedoch kombiniert mit einem weiten freien Blick auf die Stadt und wird positiv als Teil seiner Befreiung von einer festgefahrenen Beziehung zu Angelika Trapp dargestellt. Der Vergleich mit dem auf Ithaka landenden Odysseus (DD 1301 u. DD 1304), der auf den „sehr ferne[n] Brand Troja’s“ (DD 1306) blickt, zeichnet ihn deutlich als Figur aus, die einen Entwicklungsschritt hin zur ‚Menschwerdung‘ vollzogen hat482 und dementsprechend in einen „der höher gelegenen Stadt-Teile [. . .][mit] Fernsicht“ (DD 1300) umgezogen ist. Ausgelöst durch einen „Strich von Naphthalin oder Kampfer [, der] alles in ihm tief ab[kühlt]“, spürt Neuberg, „daß sein über den Rand hinausgekollerter Mittelpunkt [zurückkehrt]“ (DD 1303) und wieder einrastet. „Der Kampferduft lag diskret in sich selbst gesammelt, Halbinsel und Vorgebirge eines tiefen kühlen Hinterlandes.“ (DD 1303) Die Neuberg- und Mayrinker-Episoden bezeichnet Doderer als ‚Leuchtpunkte‘: „each of these ‚Leuchtpunkte‘ corresponds to an empty room somewhere in the city – ‚Still-Räume‘ is also used to refer to them“.483 Diese stillen Räume, die auch als Vakua, als Vorräte an Stille und Kühle auftreten, entsprechen den „merkwürdige[n] stille[n] Inseln“ (DS 152) in der Strudlhofstiege. Dort ist es u. a. die Stiege selbst, die „wie meilentief begraben in der spätsommerlichen Stille der Stadt [. . .], die keinen Ton herübersandte“ (DS 473), und in „vollkommener Stille und Einsamkeit“ (DS 695) einen Ort des Innehaltens in der Großstadt bietet und so im Kontrast zu den ‚Bergen des Lärms‘ (vgl. DS 95, 682, 751, 758) steht. Das Motiv des Einsinkens, das sich hier in Bezug auf die Stiege findet, wird im ‚Feuer‘-Kapitel mit dem Kampfergeruch und der damit zusammenhängenden Stille verknüpft: Die Stadt ist unter den Horizont gesunken. Sie sinkt in der Hitze in sich selbst ein und wird einsam [. . .]. Sie neigt zur Meditation. Sie hat viele Hohlräume dazu, Cavernen, Cavitäten: es sind die verhangenen, die kühl gekampferten. (DD 1184)

Die Dichotomie von Stille und Lärm prägt im ‚Feuer‘-Kapitel bereits die erste Sequenz, in der von dem „vollkommenen Geräusch-Vacuum“ (DD 1206) im Wald die Rede ist. Auch die üblicherweise durch unangenehm laute Geräusche auffallende Quapp erwacht am 15. Juli in „Morgenstille, einer Rosenstille“ (DD 1210) und hat die „Empfindung einer hier so intensiv noch nie erlebten Lautlosigkeit“ (DD 1260). Löffler bemerkt, dass „‚Stille‘ wie ‚Kühle‘ fast nur antithetisch vorhanden [ist]. Nicht die Kühle des Herbstes oder die Stille des Waldes ist es, um die es geht, sondern die Kühle im Sommer und die Stille im Lärm.“484 Auch die Universitätsbibliothek, als

482 Auch andere positiv gezeichnete Figuren wie Renata alias Licea „[landen] schlafend auf einer neuen Stufe, wie Odysseus auf Ithaka“ (DD 895) oder Leonhard, der wie „ein zweiter Odysseus [. . .] auch schlafend auf Ithaka landet“ (DD 1306). 483 Hesson 1982, S. 67. 484 Löffler 2000, S. 370.

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einer der stillen Räume im ‚Feuer‘-Kapitel, ist inmitten der Unruhen ein Ort des Innehaltens für Leonhard und bildet einen Kontrast zu den lärmenden Menschen auf der Straße. Über die Stille der Bibliothek wird eine Brücke aus der Stadt in den Park und weiter hinaus ins Hochgebirge geschlagen: Hier herrschte Stille. Sie herrschte nicht nur redensartlich: nein, sie war die wahre Herrscherin hier, die große Anfragerin unserer intimen Minuten. Das Blau legte sich über die Dachkanten tief herein, lehnte über ihnen, blickte in die Ferne, bis über den Wertheimstein-Park in Döbling hin, und bis zum Bisamberge, ja, es war – über alle Prüfungsängste hinweg, welche jahrzeitgemäß im Juli hier herrschten – sogar vertraut mit dem ansetzenden Hochgebirg, mit den ersten über die Widerriste der Berge hinauf staffelnden Tannenforsten, Baum über Baum steigend, wie einer spitzen Schrift, einer Kurrentschrift Zeilen, deren eine einzige am Schlusse übrig blieb, letzter Ausläufer des Waldes am steilen Grat; und nun folgt das Krummholz; und dann schweigen schon die Schrofen, wandet der nackte Fels in den Himmel, fallen die Geröllströme ab von ihm, wie das Gewand des Hochmutes von den Schultern. Ja, auch er dachte dort hinaus, Leonhard, und an jenes Erholungsheim [. . .]. (DD 1290)

Mit dem Gedanken an das Erholungsheim und die Stille des Gebirgswaldes, dessen Zeichenhaftigkeit über den Vergleich mit der Schrift akzentuiert ist, wird Leonhards bevorstehende Vervollkommnung der ‚Menschwerdung‘ antizipiert (vgl. DD 1335) und zugleich ein Bogen zurück zum Beginn des Kapitels im Hochwald geschlagen. „Stille ist [. . .] verbunden mit der Erreichung von Apperzeption und damit Teil des Prozesses der Menschwerdung.“485 Bevor Leonhard die ‚Menschwerdung‘ vollends vollzieht, muss er jedoch, wie die meisten der anderen Figuren im ‚Feuer‘-Kapitel, den Weg aus dem Zentrum der Unruhen heraus und zu seinem persönlichen Ziel finden. Die Parallelisierung und Synchronisierung dieser Wege werden im nächsten Kapitel anhand der äquivalenten Elemente innerhalb unterschiedlicher Erzählstränge, der repetitiven Darstellung spezifischer Ereignisse aus unterschiedlichen Perspektiven und der Beschreibung simultaner Geschehnisse dargestellt.

4.3.4 „Und die Wege nach links und nach rechts, sie fielen zusammen jetzt“ – Synchronisierung und Multiperspektivität Die Handlungsstränge um die meisten Figuren des ‚Feuer‘-Kapitels beschreiben anfangs die frühmorgendlichen Aktivitäten und daraufhin den Weg in die Stadt. Nachmittags erfolgt die Abwendung vom öffentlichen Geschehen, bzw. es fehlt von vornherein das Interesse an den Ereignissen.486 Die Erzählinstanz spricht die Paral-

485 Löffler 2000, S. 370. 486 ‚Kajetans Bande‘ fährt, nach dem gelungenen Einbruch bei Levielle, schon vormittags aufs Land und wird nicht weiter erwähnt (vgl. DD 1224), Mary K. wartet zusammen mit Grete Siebenschein in ihrer Wohnung – „Die Außenwelt brachte nichts herbei“ (DD 1250) –, diverse Gäste befinden sich auf dem Gartenfest bei Küffers (vgl. DD 1257) und Anny Gräven geht nach Hause, weil es

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lelisierung der Erzählstränge an einer Stelle explizit an und verbindet sie mit musikalischen Metaphern. Zudem wird mit dem Hinweis auf die Strukturierung des Kapitels auch auf den ‚allmächtigen‘ Erzähler – den ‚großen Kompositeur‘ – verwiesen, der u. a. über die jeweilige Länge der 38 Sequenzen bestimmt: Neuberg befand sich zur Zeit allein in der Wohnung [. . .] (Parallelität zu Quapp, nur benützte er’s anders als sie, die auf den Cobenzl fuhr, er blieb eben daheim). Was er nach jener Whisky-Geselligkeit erlebt, nachdem er das Haus Siebenschein verlassen hatte und in die nächste Schenke gefallen war, erwies sich, von hier und heute gesehen, als bloße Vorwegnahme, als einzelner Ton eines noch inkompletten Akkordes neuer Tonart – die Musiker bezeichnen so etwas ähnliches mit dem Ausdrucke ‚Vorhalt‘. Doch fiel das Einsetzen jener neuen Tonart keineswegs mit der Übersiedlung zusammen, so sehr Neuberg das ersehnt und gewünscht, ja, in’s Auge gefaßt, ja, statuiert hatte. O nein. Niemandem wird gewährt, den Taktstock über das eigene Leben zu schwingen, und wie lange eine Sequenz dauert, bestimmt nicht solch ein kleiner Dirigent, sondern nur ein großer Kompositeur. (DD 1302, Hervorhebungen von M.B.)

An den Erzählsträngen um die Figuren Geyrenhoff, Leonhard und René, die sich ebenfalls nachmittags aus dem Zentrum der Stadt heraus bewegen, zeigt sich eine besonders ausgeprägte Parallelisierung und Synchronisierung. Alle drei haben etwas in der Stadt zu erledigen und nachmittags eine Verabredung mit ihren Partnerinnen. Während die drei Frauen – Friederike, Mary und Grete487– bei sich zuhause warten und von den öffentlichen Ereignissen scheinbar unberührt bleiben, werden die Erlebnisse der männlichen Figuren ausführlich erzählt. Da die beiden Zentralereignisse der Strudlhofstiege und der Dämonen sowohl inhaltlich als auch strukturell starke Parallelen aufweisen, die sich auch im Hinblick auf die metapoetische Bedeutungsebene gegenseitig erhellen, werden im Folgenden punktuell Textstellen aus der Strudlhofstiege herangezogen, um die indirekt intermedialen Techniken, die romanübergreifenden Figurenentwicklungen und die selbstreferentiellen Verweise auf die multiperspektivische Vernetzungsstruktur zu verdeutlichen. Die partiellen Interferenzen zwischen René und Leonhard betreffen vor allem ihre Ankunft bei den Geliebten, bei der die Erzählzeit durch mehrere Perspektivwechsel und Repetitionen stark gedehnt wird. Beide haben mit dem Haus am Althanplatz dasselbe Ziel und erreichen dieses beinahe gleichzeitig. Leonhard beobachtet wie René das Haus Nr. 6 betritt und „wartete ein wenig, bis jener weit genug voraus sein mochte; dies war nicht die Stunde der Begegnung und des damit verbundenen Aufenthaltes; die Brücke der Beziehung konnte jetzt und hier unmöglich erstellt werihr in der Stadt „zu dumm“ wird (DD 1259). Quapp trifft Géza und fährt mit ihm auf den nahe der Stadt gelegenen Cobenzl (vgl. DD 1263), während der Erzählstrang um Meisgeier und Didi mit ihrem Tod endet (vgl. DD 1270), Frau Mayrinker mit dem Brand in ihrer Küche beschäftigt ist (vgl. DD 1283), Neuberg einen ausgedehnten Mittagsschlaf macht (vgl. DD 1304) und Eulenfeld mit Körger das Zentrum der Stadt hinter sich lässt und in ein Café einkehrt (vgl. DD 1323). 487 Grete wohnt im selben Haus wie Mary und leistet ihr nachmittags Gesellschaft beim Warten, das sie als „Hauptberuf der Frau“ bezeichnet (DD 1250).

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den.“ (DD 1312) Nachdem Leonhard die Treppe zu Mary hochgerannt ist, wobei er sich kurzzeitig beherrscht um „gemessen und sittsam das Siebenschein-Storch’sche Stockwerk [zu passieren]“ (DD 1313), springt die darauf folgende Sequenz zeitlich zurück und beschreibt Renés Weg vom Hotel ‚Ambassador‘ zum Althanplatz: „Stangeler hielt sich immer nach rechts: nicht nur, weil sein Ziel, der Althan-Platz, es erforderte; auch nahm er nicht durchgehends den allerkürzesten Weg; sondern, weil es ein Umgehungs-Marsch war.“ (DD 1316) Die Sequenz beschreibt seine Gedanken auf dem Weg zu Grete und endet mit einer Zusammenführung der beiden Perspektiven: „Und solchergestalt trat er um die Ecke, von Leonhard gesehen.“ (DD 1319) Der nächste Textabschnitt beschreibt Renés Besuch bei der Familie Siebenschein und endet wiederum mit einer Überleitung zu dem anderen Paar: „Doch fort nun mit ihnen allen. Wir kriegen es jetzt mit Bedeutenderem zu tun.“ (DD 1321) Das ‚Bedeutendere‘ bezieht sich auf Mary und Leonhard, da der Fokus nun analeptisch auf Mary gerichtet ist, die in ihrer Wohnung kurz vor seiner Ankunft auf Leonhard wartet. Bevor sie ihm die Tür öffnet, hört sie seine schnellen und dann gemesseneren Schritte im Treppenhaus (vgl. DD 1321). Die zehn Textseiten schildern somit größtenteils den Zeitraum von wenigen Augenblicken, in denen aus drei Figurenperspektiven der Eintritt ins Haus Nr. 6 dargestellt wird.488 Neben dieser zeitlichen Wiederholungsstruktur, die simultane Vorgänge synchronisiert und die chronologische Abfolge immer wieder unterbricht, ist die Szene auch räumlich durch eine vertikale Ebene geprägt: Leonhard und René befinden sich zunächst auf der Ebene des Gehwegs, während Grete im zweiten und Mary im dritten Stock des Hauses auf sie warten. Nachdem René im zweiten Stock angelangt ist, läuft Leonhard daran vorbei, um zu Mary zu gelangen, die in ihrer Wohnung nur über die akustische Ebene einen Ausschnitt des Geschehens wahrnimmt. Leonhards Weg zu Mary wird nicht nur mit Renés Weg zu Grete parallelisiert, sondern auch mit Geyrenhoffs Weg zu Friederike. Sowohl Leonhard als auch Geyrenhoff werden vom jeweiligen Hausmeister durch die nur einen spaltbreit geöffnete Tür hinausgelassen, wobei die zum Teil wörtliche Wiederholung die Analogien zwischen den Sequenzen hervorhebt:489 Waschler [. . .] sperrte rasch auf, ließ mich [Geyrenhoff] durch den Spalt, und alsbald hörte ich, wie hinter mir sich zweimal der Schlüssel im Schlosse drehte. (DD 1280) Fessl zog einen Schlüssel, öffnete, sah hinaus, winkte Leonhard und ließ ihn durch den Spalt. [. . .] Hinter ihm drehte sich zweimal der Schlüssel im Schlosse. (DD 1292)

488 Ausgenommen davon ist der innerhalb dieser zehn Seiten beschriebene Weg Renés zum Althanplatz und sein Empfang bei Siebenscheins, die jeweils einen größeren Zeitraum umfassen. 489 Auch die Namen der Hausmeister, die hier als mythologische Torwächter-Figuren erscheinen, weisen durch die phonologische Ähnlichkeit auf die paradigmatische Anordnung hin: W/F – aschl/ essl – (er).

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Beide Figuren müssen ein Hindernis überwinden, um sich daraufhin in einem schnelleren Tempo auf ihr Ziel zuzubewegen.490 Leonhard fühlt wie „ein dumpfer Druck wie ein wachsender Kloß, ein Knödel, ein Tumor, sich ausbreitete in seiner Brust. Ein Berg: der von Mary trennte. War ihm das Fehlen der Straßenbahn [. . .] nicht gleich emporgewachsen wie ein schwer übersteigliches Hindernis?“ (DD 1290)491 Geyrenhoff dagegen überwindet mit der als Barrikade umgestürzten Straßenlaterne ein reales Hindernis, welches ihm jedoch über die eigentliche Bedeutung hinaus als „Malzeichen der Zeit“ (DD 1274) erscheint:492 Ich überlegte nicht den Zweck der Maßnahme. Ich sah das völlig losgelöst davon. [. . .] Was hier gefallen war, bildete ja – als Teil der Straßenbeleuchtung – nichts anderes denn ein Stück der Kontinuität täglichen Lebens, des Alltages eben, und es war dieser Lichtmast ein Posten gewesen an unseren gewöhnlichen Wegen, der darüber wachte, daß wir sie gut sahen. (DD 1273 f.)

Geyrenhoff entscheidet sich für diese „Kontinuität [des] täglichen Lebens“ (DD 1273), indem er seine persönlichen Belange priorisiert und die ‚Zeichen der Zeit‘ ignoriert. Die Passivität und Blindheit gegenüber den politischen Ereignissen bilden in den Dämonen neben aller vordergründigen Konzentration auf den privaten Bereich einen kontinuierlichen Subtext, der die Voraussetzungen für das Erstarken des Nationalsozialismus thematisiert. Ich wandte mich nach links, obwohl mir, durch eine halbe Sekunde vielleicht, eine kleine Mahnung sagen wollte, ich möge einen Weg meiden, den ein offenkundiges Zeichen als einen abgetanen und vergangenen verlegte: schon sprang ich über die Bogenlampe. (DD 1296)

Später wird Geyrenhoff von „Seligkeit [überwältigt] bei dem Gedanken, nun kein plötzlich aufgeworfenes Hindernis mehr zu finden [. . .] auf dem Wege zu Friederike“ (DD 1298).493 Während René „sich immer nach rechts [hält]“ (DD 1316) und Geyrenhoff sich trotz des Hindernisses nach links wendet, wählt Leonhard unwillkürlich die seinem Ziel entgegengesetzte Richtung, wobei „die Wege nach links und nach rechts“ in seiner Empfindung zusammenfallen, so dass er „sie beide zugleich unter den Sohlen [hat]“ (DD 1311).

490 Das jeweilige ‚Hindernis‘ entspricht innerhalb der Wassermetaphorik des Kapitels der Stauung bevor der Katarakt, auf den in diesem Zusammenhang mehrmals angespielt wird, ein unwillkürliches Strömen bzw. Stürzen bewirkt. 491 Vgl. auch DD 1217 f. Sentenzhaft wird auf die Bedeutung des mehrfach beschriebenen Hindernisses hingewiesen: „Jeder, der seinen Weg geht, muß solche Schützen im Rücken wissen; und voraus ein sich Auftürmendes, gleichgültig was; ein schweres Hindernis“ (DD 1291). 492 Seine Wahrnehmung der Bogenlampe, deren Licht ihm wie „zusammengedrückt“ (DD 487) erscheint, thematisiert Geyrenhoff schon bei einem früheren Besuch am Schmerlingplatz. Vgl. dazu auch Kerscher 1998, S. 374. 493 Neben dem Aufbruch zu den Geliebten und dem Weg dorthin, weist auch die Ankunft bei Mary und Friederike deutliche Analogien auf (vgl. DD 1299 u. DD 1313).

4.3 Musikalisierung – Imitation und Evokation von Musik

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Leonhard [. . .] sah [. . .] mit einer ihn befremdenden plötzlichen Überdeutlichkeit den Weg nach rechts in die Universitätsstraße und diese selbst frei und leer liegen, ohne jedwedes Hindernis. Nach links blickte er kaum, hörte jedoch einzelne Schüsse, Geschrei, und nur im Augenwinkel sah er etwas von der Röte des Brandes und eine Art großen Hut vom Rauch über den Dächern. Er ging nach links. Das war nicht nur befremdlich, sondern mehr: er wurde sich selbst entfremdet in diesen Augenblicken. Doch nahm er den Weg nach rechts, zu Mary, gleichsam unter den Sohlen mit als etwas, das ihm durchaus vorbehalten blieb. (DD 1306)

Durch diese Entscheidung verbindet er sein vorheriges Leben mit dem neuen privaten und beruflichen Umfeld. Auf dem Umweg zu Mary trifft er auf ehemalige Kollegen und findet seinen toten Freund, den Polizisten Karl Zeitler,494 den schon wenige Augenblicke zuvor Geyrenhoff auf der Straße hatte liegen sehen. Diese Figur dient als ein weiteres Synchronisierungsmittel zwischen den Raumbewegungen der Figuren, und bildet zugleich eine Brücke zwischen den Zentralereignissen in der Strudlhofstiege und den Dämonen: Karl Zeitler war als Polizist bei Marys Unfall im September 1925 dabei gewesen und war nachhaltig beeindruckt vom Eingreifen Melzers, dessen Namen in den Dämonen nicht genannt wird: „An jenen Herrn müsse er manchmal denken, fast wie an ein Vorbild. [. . .] Man müsse so einer werden, man müsse es dahin bringen, meinte er.“ (DD 993) Als Leonhard aus den früheren Erzählungen Zeitlers Mary erkennt, von deren Unfall ihm ihre Tochter Trix erzählt hat, erfasst er intuitiv das komplizierte Geflecht der Verstrickungen, die sowohl sein eigenes Leben „dichter wie das grüne Dickicht“ (DD 994) machen als auch romanübergreifend Figuren und Ereignisse miteinander verknüpfen. Er fühlt „Jenes Netz! Was für ein Netz? Darin er hing“ (DD 994). In der Strudlhofstiege ist es Melzer, der kurz vor dem Unfall kontemplativ in die „feinsten, kompliziertesten Verästlungen der Baumkronen“ (DS 794) blickt und die Ereignisse als Teil eines „umfassenderen Konzeptes“ (DS 794) empfindet, während ihm René vom Tod seiner Schwester erzählt. Dieses Gespräch und die spätere Anwesenheit Melzers bei Marys Unfall ergibt sich nur durch den Umweg über die Stiege, den Melzer zuvor gewählt hat. Daran zeigt sich auf der Handlungsebene „das Kompositionsprinzip dieses Romans“, das bereits Dietrich Weber als „Weg als Umweg“495 beschrieben hat. Diesem Prinzip folgt auch Leonhard in den Dämonen

494 Während die Polizei im Laufe des 15. Juli zur ‚Truppe‘ wird und wahllos in die Menschenmassen schießt, findet in der Szene mit dem Toten Karl Zeitler (DD 1308–1311), bei der Arbeiter, Polizisten und Mitglieder des ‚Republikanischen Schutzbundes‘ zusammenkommen, der „[umgekehrte] Prozess der (Re-) Individualisierung einer Masse“ statt. Gerald Sommer: In der Vergangenheit der Fiktion ist die Zukunft schon Geschichte. Offene und versteckte Zukunftsperspektiven in Heimito von Doderers Roman ‚Die Dämonen‘. In: Justizpalast in Flammen. Ein brennender Dornbusch. Das Werk von Manès Sperber, Heimito von Doderer und Elias Canetti angesichts des 15. Juli 1927. Hrsg. v. Thomas Köhler und Christian Mertens, München 2006, S. 151–164, hier: S. 158. [= Sommer 2006b]. 495 Weber, Dietrich: Doderer-Miniaturen. Hrsg. v. Henner Löffler und Kai Luehrs-Kaiser, Würzburg 2004 (= Schriften der Heimito von Doderer-Gesellschaft; Sonderband 2), S. 25.

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auf seinem (Um-)Weg zu Mary. Das ‚Dickicht‘, das ‚Netz‘ und die ‚Verästelungen‘ sind Teil der Gewebe-Metaphorik, die als metapoetisches Motiv auf die Romanstruktur verweist und auch in den vertikalen und horizontalen Verbindungen der Architektur der Strudlhofstiege sichtbar wird. Durch die Verknüpfung der beiden ‚polyphon‘ gestalteten Zentralereignisse der Romane wird das ‚Netz‘, dessen sich Leonhard bewusst wird, auch als Hinweis auf die intertextuelle Vernetzung der Romane lesbar. Die Figur des Polizisten Zeitler verbindet die ‚Hauptfigur‘ der Strudlhofstiege als „Vorbild“ (DD 993) mit der Heldenfigur Leonhard, so dass zugleich Melzers beherzte Rettungsaktion bei Marys Unfall mit der Rettung des kulturellen Erbes in der Universitätsbibliothek496 durch Leonhard während des Justizpalastbrandes und auf seinem Weg zu Mary parallelisiert wird. Die Vernetzungsstrukturen spiegeln sich auch in Leonhard als Figur, die als Einzige eine Verknüpfung sowohl zwischen den adeligen und bürgerlichen Privaträumen – Palais Croix als seinem Ausgangspunkt und Mary am Althanplatz als Zielpunkt – als auch den protestierenden Arbeitern und den Polizisten, die an diesem Tag im Einsatz sind, schafft. Selbst zu dem sogenannten ‚Ruass‘, d. h. der mit Kriminalität assoziierten untersten Gesellschaftsschicht, besteht über die Prostituierte Anny Gräven, die am Ende des ‚Feuer‘-Kapitels „mit großer Innigkeit“ an Leonhard denkt (DD 1332), eine Verbindung. In seiner ‚Menschwerdung‘ vereinigt sich seine Vergangenheit mit der Gegenwart und dem noch Kommenden, dem „einmaligen Kranz, vom Leben ihnen, [Mary und Leonhard][. . .], zugeworfen, aufgenommen ohne Ansehn, ob aus Rosen oder Nesseln“ (DD 1218). Und auch Mary hat in den Augenblicken bevor Leonhard bei ihr eintrifft das Gefühl, als liefe tief in ihr, wie in ein geräumiges Becken sprudelnd, der ganze bisherige Fluß ihres Lebens zusammen, unter der Benennung dieses Tags, dieser bevorstehenden Stunde vereinigt: alles wurde anwesend, dennoch blieb diese Stunde das Größere, worin sich’s versammelte. (DD 1321)

In der Gestaltung dieses Paares finden sich diverse Motive der Simultanität und der Verschmelzung von Disparatem: Neben dem gefühlten Zusammenfall der Zeitebenen wird auch die Vereinigung einander entgegengesetzter Richtungen und eine Verbindung zwischen den politisch-gesellschaftlichen Lagern möglich. Selbst unbelebte Gliedmaßen werden im organischen Körper zu einem Ganzen zusammengefügt: Leonhard vollendet die Integration der Beinprothese in den belebten Körper, die Mary in monatelanger Arbeit vorbereitet hat, indem er bei seiner Ankunft „ihre beiden Füße [küsst]. Auch den unechten“ (DD 1322). Abweichend von den anderen

496 Michael Vrüsch weist auf die Verbindung zu dem Pico della Mirandola-Zitat hin: „Er rettet damit nicht nur die Bücher, sondern auch deren Sinn, nämlich als Schrift-Gedächtnis die ‚Würde des Menschen‘ [. . .] aufzubewahren“. Michael Vrüsch: Wirklichkeit und Existenz. Doderers Wirklichkeits- und Literaturverständnis zwischen Ideal und Erfahrung. Frankfurt a. M. 1998. (= Europäische Hochschulschriften; Reihe 1, Bd. 1685), S. 126.

4.3 Musikalisierung – Imitation und Evokation von Musik

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Figuren, die sich entweder in die eine oder andere Richtung bewegen, wobei sich ihre Wege räumlich aber meist zeitversetzt kreuzen, verkörpert Leonhard die Möglichkeit der Simultanität der „Wege nach links und nach rechts“ (DD 1311), deren Umsetzung sich im ‚Feuer‘-Kapitel auf mehreren Ebenen zeigt. Während in der Strudlhofstiege die Architektur der Treppenanlage auf die horizontale und vertikale Struktur des Textes verweist, wird dieses Symbol in den Dämonen von der Metapher des ‚Fadens im Gewebe‘ abgelöst.497 Der Ornamentik der Stiege, die als Bezugspunkt des ‚ornamentalen Erzählens‘498 dient und die Schönheit der umweghaften verschlungenen Wege aufzeigt, entspricht in den Dämonen zumindest partiell Geyrenhoffs Blick auf ein Teppichmuster (vgl. DD 478, 481, 1232). Die vertikal und horizontal miteinander verwobenen Fäden des Teppichs bilden das beziehungsreiche Geflecht des Romans ab, das sich sowohl auf die diversen Erzählstränge und ihre kompliziert miteinander in Beziehung stehenden Figuren, als auch auf die Techniken der Synchronisierung und der ‚phrasierten‘ Motivik beziehen lässt. Die Untersuchung der ‚polyphonen‘, multiperspektivischen Darstellung des 15. Juli legt „die beiden Achsen des Syntagmas und des Paradigmas“ frei, die Ähnlichkeiten mit den musikalischen „Dimensionen der Melodie und der Harmonie“ aufweisen.499 Zu unterscheiden ist, dass es bei der ‚phrasierten‘ Motivik um ‚Beziehungsbündel‘ geht, die sich analog zu den konstitutiven Einheiten eines Mythos, sukzessive mit Bedeutung anreichern, aufeinander verweisen, und durch ihre Aufeinanderschichtung eine vertikale Achse bilden, die erst die Bedeutung erkennbar macht. Bei den Techniken der Synchronisierung und der Imitation polyphoner Strukturen, geht es dagegen weniger um die Analogie zum Mythos, als um die musikalischen Analogien zu einer Orchesterpartitur, die – wie bei der Mythen-Rezeption auch – zugleich eine synchrone und eine diachrone Wahrnehmung erfordert.500 Wie

497 Kerscher weist auf die Rekurrenz zwischen der Gewebe- und der Krakenmetaphorik in den Dämonen hin, die beide das Prinzip einer alles durchdringenden metastatischen Ausbreitung abbilden: „Gerade die keimhafte Subtilität der im Leben wie im Text ausgespannten Fäden, welche die Rekonstruktion des Lebensganzen ermöglichen können und sollen, begründet den ambivalenten Charakter der Gewebemetaphorik. Der Leser steht wie die Figuren selbst vor dem Problem, das Latente und kaum Greifbare möglicherweise zu übersehen oder zu ignorieren (‚wir wußten’s oft kaum‘), so daß sich etwa die ideologischen Keime des Antisemitismus und des Faschismus unbemerkt und gefährlich wuchernd ausbreiten können. Die Metastasen durchsetzen schließlich die gesamte Gesellschaft. Derart wird das dingliche Symbol der Brücke zwischen den Zeiten, wie sie in der Strudlhofstiege eben dieses Bauwerk darstellte, [. . .] durch die ungreifbare, nur metaphorischsymbolisch präsente Chiffre des Octopus abgelöst.“ Kerscher 1998, S. 290 f. 498 Vgl. Helmstetter 1995, S. 12 f. 499 Michael Walitschke: Im Wald der Zeichen. Linguistik und Anthropologie – Das Werk von Claude Lévi-Strauss. Tübingen 1995 (= Linguistische Arbeiten; Bd. 331), S. 77. Vgl. auch Brinkmann 2012, S. 197 f. 500 Vgl. Lévi-Strauss 1978, S. 233.

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bei einer Orchesterpartitur muss zugleich jede einzelne Stimme in ihrer linearen Bewegung als auch die Ebene der Harmonik aufgefasst werden. Die vertikale Achse der zeitlichen Synchronisierung wird im ‚Feuer‘-Kapitel durch perspektivische Verschiebungen auf den räumlichen Achsen ergänzt. Die meisten Figuren bewegen sich räumlich zuerst auf das Zentrum der Geschehnisse zu und streben später an die Peripherie zurück. Dem sprunghaften Wechsel des Erzählfokus, zwischen den sich im horizontalen Raum bewegenden Figuren entsprechend, wechselt auch auf der vertikalen, räumlichen Ebene die Blickrichtung. Besonders deutlich wird diese mehrdimensionale Perspektive am Schmerlingplatz, wo sich die Polizei mit Demonstranten beschießt, während der Justizpalast brennt und politische Reden gehalten werden (auf dieser Ebene befinden sich u. a. Imre von Gyurkicz und Rose Malik). Geschildert wird die Szene von Geyrenhoff, der Imres Tod von einem Fenster der im obersten Stockwerk liegenden Wohnung des Hofrates Gürtzner-Gontard verfolgt. Nach dem Mittagessen tritt Geyrenhoff erneut ans Fenster und beobachtet den Nachmittag über das Geschehen auf dem Platz. Zeitgleich dazu treibt Meisgeier in Begleitung von Anna Diwald in der Kanalisation unter dem Schmerlingplatz sein Unwesen. Zu den drei auf der vertikal-räumlichen Achse versetzten Perspektiven um den Schmerlingplatz kommt der Blick aus der Ferne hinzu, den die Schaulustigen – unter ihnen Quapp und Géza – nachmittags vom Cobenzl aus „wie auf dem Dache der Stadt“ (DD 1292 f.) auf den Brand im Zentrum Wiens werfen. Die Übersicht, die dieser erhöhte und distanzierte Standpunkt ermöglicht, verhindert jedoch zugleich eine adäquate Wahrnehmung, da das Feuer nur noch zweidimensional erscheint und sich die Größenverhältnisse verschieben, so dass der bedrohliche Brand „klein gemacht, zusammengedrückt und auf sich selbst beschränkt wie eine Glühbirne, die am hellichten Tage brennt [wirkt]“ (DD 1292). Eine Variation der Gewebe-Metapher, die in den einander kreuzenden Erzählsequenzen und den horizontal wie vertikal verschlungenen Perspektiven anklingt, findet sich auch in Geyrenhoffs Blick wieder, wenn ihm die Aussicht aus dem Fenster in die weitere Umgebung „wie ein Wandteppich senkrecht aufgehängt [erscheint]: das Blaugrau ferner Häusermassen, weitab gelegenen Stadt-Teilen zugehörig, da und dort vom Grün einzelner Bäume unterbrochen, die wie hineingesteckte Büschel aussahen.“ (DD 1232, Hervorhebung von M.B.) Bezeichnenderweise wird in den vorangegangenen Textsequenzen bei Gürtzner-Gontard auch „das Muster eines sehr schönen türkischen Teppichs an der Wand“ (DD 481, vgl. auch DD 1275, Hervorhebung von M.B.) erwähnt. Dieser „Blick auf die Textur (den Text) des Teppichs fordert zur Lektüre und Deutung des Dargestellten auf.“501

501 Kerscher 1998, S. 369. Zum Motiv des Wandteppichs siehe die aufschlussreiche Interpretation: Kerscher 1998, S. 368–370.

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Trotz Geyrenhoffs Position am Fenster im obersten Stockwerk des Hauses ist seine optische und akustische Wahrnehmung deutlich eingeschränkt. Ebenso wie er nur einzelne Ausschnitte des Geschehens um den Justizpalast beobachten und zudem nur die Vorgänge an der Seitenfront des Gebäudes mitverfolgen kann, dringen auch von den auf der Straße gehaltenen Reden nur unverständliche Bruchstücke zu ihm herauf. Kerscher weist im Zusammenhang mit dem Motiv des Wandteppichs darauf hin, dass sich trotz dieser für moderne Großstadtromane typisch fragmentierten Wahrnehmung502 „noch Rudimente eines durch das kulturhistorisch ältere Wahrnehmungsmuster der künstlerischen Perspektive organisierten Blicks“503 finden. Die Projektion der „dreidimensionale[n] Raumtiefe in die Zweidimensionalität“504 verweist auf bereits dargestellte Formen der eingeschränkten Apperzeption, wie bei der Figur Dwight Williams, dessen Begehren von zweidimensionalen Objekten geweckt wird – auf erotischer Ebene die Fotografie Marys, auf beruflicher Ebene die aufgespießten Schmetterlinge – und bei der Figur Julius Zihal in Die erleuchteten Fenster, dessen Voyeurismus den von Fenstern eingerahmten beobachteten ‚Objekten‘ die Mehrdimensionalität nimmt.505 Neben dem Motiv des „Faden[s] [. . .] aus dem Geweb’ des Lebens“ (DD 11, Hervorhebung von M.B.)506 und der Wahrnehmung von unübersichtlichen Ereignissen als senkrecht hängendem Wandteppich, die figurenübergreifend sowohl Geyrenhoff als auch Géza von Orkay betrifft (vgl. DD 479, 999, 1232), findet die Gewebe-Metapher auch in der Betrachtung eines waagerecht liegenden ‚realen‘ Teppichs ihren Ausdruck. So erkennt Geyrenhoff die eigenen Verstrickungen im Blick auf das Muster eines Teppichs und wählt einen musikalischen Vergleich für die Selbsterkenntnis: Als schließe sich ein Dreiklang mit dem noch fehlenden Ton, so empfing ich, lange und ruhig durch das Fenster schauend, jene auf die Wiese draußen herabdeutende Lichtbahn tief in mir selbst. Nun trat der goldne Stab lautlos ins Zimmer, stützte sich auf den Boden und erleuchtete dort das braunrote Geweb’ des Teppichs. (DD 478, Hervorhebung von M.B.)

Zudem empfindet Geyrenhoff René im Zusammenhang mit der durch den erstarkenden Antisemitismus verursachten Spaltung der Gruppe der ‚Unsrigen‘ „beinahe als Herzstück unerquicklicher Verwicklungen [. . .], oder mindest als der Mittelpunkt eines Gewebes, das immer deutlicher ein solches Muster zeigte“ (DD 387, Hervorhebung von M.B.), womit die Figuren als Teil des Musters identifiziert werden.507 Der einzelne Faden im Gewebe und die Verknüpfung zu Mustern in einem größeren

502 Auch Irmgard Egger geht auf die durch Fragmentierung gekennzeichnete Großstadtwahrnehmung und „die vertikale Gliederung der Stadt“ in Doderers Romanen ein. Siehe Egger 1997, S. 27 f. u. S. 29. 503 Kerscher 1998, S. 368. 504 Kerscher 1998, S. 368. 505 Vgl. Kap. 5.2.2. 506 DD 11, 16, 18, 961, 1078. 507 Später muss Geyrenhoff einsehen, dass er selbst in die erzählten Geschichten verstrickt ist: „Als Chronist war ich erledigt. Als Akteur sah ich mich mit Vergnügen, und wie auf einer höheren

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Textil sind nicht nur eine allgemeine Metapher für die Struktur des Erzähltextes, sondern weisen durch die wiederholte Thematisierung von vertikalen und horizontalen Beziehungen auf die paradigmatische und syntagmatische Achse der literarischen Imitation musikalischer Mehrstimmigkeit hin. In den ‚polyphon‘ gestalteten Szenen der Strudlhofstiege und der Dämonen sind die Prinzipien der Text-Metaphern – Stiege und Gewebe –, die den gesamten Aufbau der Erzählungen prägen, besonders deutlich erkennbar. Ähnlich wie in der ‚Skandal-Szene‘ der Strudlhofstiege auf der Treppen-Anlage am 23. August 1911 (DS 240–295) und am 21. September 1925, als Mary K. bei einem Unfall ihr Bein verliert (DS 785–849), wechseln auch in der Beschreibung des 15. Juli 1927 die Erzählstränge in schneller Folge und mit detaillierten Zeitangaben. [Mit] zunehmender Annäherung an seine Zentralthemen (Unfall Marys in DS, Brand des Justizpalastes in DD) [verlangsamt Doderer] das Tempo seiner Erzählung deutlich [. . .], [so dass er] wesentlich mehr Erzählzeit für erzählte Zeit aufwendet; der Leser entsprechend mehr Lesezeit aufbringen muß.508

Umgesetzt wird diese „Tempo-Variierung im Verhältnis von voranschreitender Handlung und der Ausweitung von Beschreibungen und Reflexionen, die einer Verlangsamung gleichkommen“.509 Durch einen zuvor beschleunigten Erzählrhythmus kommt die retardierende Wirkung der Synchronizität während der finalen Ereignisse besonders stark zur Geltung. In der Strudlhofstiege wird in der Schilderung der dem Unfall vorangehenden Tage explizit darauf hingewiesen, dass „die Zeit rascher verging“ (DS 750). Erzähltechnisch umgesetzt wird dieser „raschere Zeitfluß“ (DS 752) durch eine verknappte Syntax, Ellipsen und Anaphern sowie einen gehäuften Gebrauch von Temporaladverbien.510 In den Dämonen werden die Erzählstränge um die wichtigsten Figuren in dem Kapitel Kurze

Ebene des Lebens, wo man bereits geruhig vor dem Schaltbrette steht und zwischen den Hebeln wählt, um etwa die oder jene Verbindung herzustellen.“ (DD 965) Er kann das Muster nicht objektiv beschreiben, da er Teil des Ganzen ist und die Verbindungen selbst herstellt. Wenn er sich im Zuge dieser Erkenntnis als „eine Spinne im Zentrum des Netzes“ (DD 965) bezeichnet, erinnert das an Roland Barthes’ Beschreibung des literarischen Textes: „Text heißt Gewebe; aber während man dieses Gewebe bisher immer als ein Produkt, einen fertigen Schleier aufgefaßt hat, hinter dem sich, mehr oder weniger verborgen, der Sinn (die Wahrheit) aufhält, betonen wir jetzt bei dem Gewebe die generative Vorstellung, daß der Text durch ein ständiges Flechten entsteht und sich selbst bearbeitet; in diesem Gewebe – dieser Textur – verloren, löst sich das Subjekt auf wie eine Spinne, die selbst in die konstruktiven Sekretionen ihres Netzes aufginge.“ Roland Barthes: Die Lust am Text [1973]. Frankfurt a. M. 142016, S. 94. 508 Löffler 2000, S. 67. 509 Sichelstiel 2004, S. 159. 510 Diese Technik wird beispielsweise an folgenden Sätzen aus der Strudlhofstiege deutlich: „Schon war der nächste Abend da. [. . .] Schon setzte er den Hut auf [. . .].“ (DS 750); „Samstags und Sonntags mit dem Rittmeister: [. . .]“ (DS 754); „Zweimal Verabredungen mit Editha [. . .]“ (DS 755); „Und schon war Samstag.“ (DS 758); „Nun heim.“ (DS 764).

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Kurven II zu ihrem ‚Reifepunkt‘ geführt, so dass sie im ‚Feuer‘-Kapitel ohne lange Erläuterungen zu ihrem ‚Abschluss‘ gebracht werden können. Der Figur René Stangeler wird im Kapitel Kurze Kurven I in Bezug auf den Zusammenhang zwischen privatem und öffentlichem Leben eine in dieser Hinsicht programmatische Metapher in den Mund gelegt:511 Es ist, wie über einem Teich im Sommer. Kleine Tiere schießen an der Oberfläche herum. Lauter kurze, rasche Wege. Dann hält so ein Geschöpf wieder ganz still. Kurze Kurven. Gut. Ein Herumschießen. Ich sah einmal lang in’s Wasser. Es war nicht tief. Kaum einen halben Meter tief. Das Herumschießen wurde immer lebhafter. Ich konnte bis auf den braunen Grund sehen. Da bemerkte ich, daß dort unten ein großer Krebs herankroch. Die Tierchen an der Oberfläche hatten keinen Anlaß, sich vor ihm zu fürchten, ein Krebs nährt sich ja nicht von solchen. Sie flohen nicht. Sie schossen nur eilfertiger herum. Sie zeigten ihn nur an. Sie zeigten ein Kommendes und ihnen Unbekanntes unten in der Tiefe an. (DD 1026, Hervorhebung von M.B.)

Die nicht greifbare aber für alle Figuren spürbare Bedrohung, die am Ende der Dämonen im Feuer eine vorläufige Manifestation erfährt, welche wiederum auf die größere Bedrohung durch den Nationalsozialismus weist,512 führt zu einer tatsächlichen oder gefühlten Beschleunigung des eigenen Lebens, obwohl die „privaten Lebenskurven [. . .] nicht unbedingt in direktem Kausalzusammenhang mit den politischen Dimensionen der Gefährdung stehen.“513 Die in der Teich-Metapher und den Kapitelüberschriften Kurze Kurven I und II angedeutete Beschleunigung des Tempos kehrt wie gesagt das konträr dazu verlaufende Verhältnis von Erzählzeit und erzählter Zeit in den ‚polyphonen‘ Textabschnitten besonders eindringlich hervor. Die 126 Textseiten des ‚Feuer‘-Kapitels umfassen an erzählter Zeit gerade mal einen Tag und einige kurze zeitliche Rückgriffe. Noch zugespitzter ist das Verhältnis allerdings in der Unfallszene der Strudlhofstiege, in der ein Zeitraum von knapp zwei Stunden auf 64 Seiten ausgebreitet wird.514 Durch die abwechselnde Darstellung simultaner Ereignisse im Leben der unterschiedlichen Figuren und die Eigenständigkeit der einzelnen Erzählstränge

511 Auch in der Strudlhofstiege spielt der Krebs als metapoetisches Motiv eine Rolle, die Helmstetter zufolge als „allegorische Lektüreanleitung“ dient: „Der Krebs – auch eine musikalische Figur –, das Tier, das sich – palindromatisch-paradoxal – rück- oder seitwärtsgehend vorwärtsbewegt, ist ein leitmotivisches Wappentier des Textes, der sein konsekutives Fortschreiten durch permanente Rückverweise konterkariert – und entsprechend eine rück- und seitwärtsgewandte, nachschlagende Lektüre verlangt.“ Helmstetter 1995, S. 255. 512 Kerscher weist auf die semantischen Überlagerungen zwischen der Oktopus- und der Krebsmotivik hin und meint, der Krebs bedeute „im übertragenen Sinn als pathogene Geschwulst [verstanden] – eine um sich greifende und herannahende Bedrohung. [. . .] Die faschistische Ideologie durchdringt die Gesellschaft, welche sich dem außenstehenden Beobachter im Falle Wiens wie ein See, Tümpel oder Teich darstellt.“ Kerscher 1998, S. 300 f. 513 Kerscher 1998, S. 301. 514 Insgesamt umfasst die Schilderung des 21. September bis zum Unfall ca. 80 Seiten, da auch der Vormittag bei Mary zuhause Teil der Erzählung ist. Die ‚polyphone‘ Erzählstruktur setzt jedoch

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wird der Eindruck einer ‚Mehrstimmigkeit‘ erzeugt, der mit der polyphonen Bewegung unterschiedlicher Stimmen in einem Orchesterstück vergleichbar ist. Diese mehrfachen Schilderungen eines Ereignisses aus verschiedenen Perspektiven bzw. die unterschiedlichen Erlebnisse innerhalb desselben Zeitraums, führen zu einer Ausdehnung der Erzählzeit. Präzise Zeitangaben sowie prägnante Erscheinungen oder Ereignisse, wie das Einsetzen des Regens oder das Glockenläuten dienen als ‚Synchronisierungsmittel‘. Eine weitere Funktion „of devices such as parallel incident, motivational links, and simultaenous happenings, [is] to compensate for the lack of causality and linear development,”515 um bei einem derart umfangreichen und in vielfältige Episoden unterteilten Kapitel eine formale Einheit zu wahren. Die Techniken der Synchronisierung finden sich im ‚Feuer‘-Kapitel u. a. in Form von minutiösen Zeitangaben, so dass die Simultanität der Ereignisse nachvollziehbar ist und „jede einzelne dieser Geschichten an diesem Tag so exakt in das Raster der Uhrzeiten eingeteilt [ist], daß sich alle zusammen wie in einem Koordinatensystem übereinanderlegen lassen und so einen jeweils vielfältigen Bericht simultanen Geschehens liefern.“516 Neben dieser offensichtlichen Gliederung durch Zeitangaben, dienen auch subtilere Mittel diesem Ziel, wie der einsetzende Regen und ein von den Figuren unabhängig voneinander empfundener klimatischer Umschwung. Das erste Mal wird der Regen als Vorgriff im Zusammenhang mit einem früher verorteten Ereignis erwähnt: Bei dem von Küffers veranstalteten Gartenfest „disponierte man um“ „als um neun Uhr abends dann der Regen einsetzte“ (DD 1242). Ähnlich ist auch die Sequenz mit Eulenfeld und Körger gestaltet, welche die Innenstadt verlassen „lange bevor der Regen zu fallen begann, welcher gegen neun Uhr abends mit vereinzelten Schauern einsetzte“ (DD 1322). Die einzige Figur, die während des Regens geschildert wird, ist Frau Mayrinker, als sie abends auf die Straße geht: „Die Dunkelheit fiel ein, mit ihr einzelne Regentropfen. Es war etwas kühler geworden.“ (DD 1287) Dagegen fühlt Neuberg nur „die verhältnismäßige Kühle [. . .][und] am Geländer noch Nässe vom Regen“ (DD 1306). Ebenso verhält es sich mit Geyrenhoff, Friederike und Quapp, die sich ungefähr zur gleichen Zeit auf der Terrasse befinden, wie Neuberg auf dem Balkon: „Der Regen hatte aufgehört. Noch tropfte es von Blatt zu Blatt.“ (DD 1328)517

erst zwei Stunden vor dem Unfall (DS 785–849) und der schnellere Wechsel der Erzählperspektive erst nach einem längeren Gespräch zwischen René und Melzer (DS 787–810) ein. 515 Hesson 1982, S. 75. 516 Henkel 1995, S. 171. 517 Dieses Motiv wird auch in der ‚Stiegenskandalszene‘ der Strudlhofstiege zur ‚Synchronisierung‘ genutzt, wo mehrere Figuren zeitgleich und unabhängig voneinander feststellen, dass es kühler geworden ist und geregnet haben muss (vgl. DS 254, 261, 278). Analog zu dem von Doderer in dem Text Ouvertüre zu ‚Die Strudlhofstiege‘ geschilderten Dampfschiff, das „die Abläufe hintereinander

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Im ‚Feuer‘-Kapitel erfüllen weiterhin auch die multiple Wahrnehmung der fehlenden Elektrizität und damit das Fehlen des Straßenbahnlärms, sowie der Blick auf die Flammen oder ihre Spiegelung am rotleuchtenden Himmel die Funktion der Synchronisierung bzw. des kompositorischen Zusammenhalts.518 So wird nach den ‚Vortakten‘ und der ersten Sequenz um Quapp das Fehlen des Stromes bei den nächsten sechs aufeinander folgenden Sequenzen thematisiert. Das StromausfallMotiv steht damit in den einleitenden Abschnitten zu den Figuren(-gruppen) Anny, Leonhard, Kajetans Bande, Geyrenhoff, René und Mary.519 Außerdem findet es sich in der Neuberg-Sequenz und mit etwas Verzögerung in der dritten Sequenz um Quapp520 und verbindet somit alle Erzählstränge der ‚Hauptfiguren‘ miteinander. Die Sequenzen, die nicht über dieses Motiv miteinander verknüpft sind, enthalten wiederum das Regen-Motiv als Verbindendes.521 Abgesehen von den ‚Vortakten‘ ergibt sich somit nur eine Sequenz, die weder durch die Thematisierung der Elektrizität noch durch den Regen mit den anderen verbunden ist: Es ist die Sequenz um den Verbrecher Meisgeier und die Prostituierte Anna Diwald, genannt Didi, die sich in den Kanälen unterhalb der Stadt bewegen, „von wo eine kalte niederschlagende Luft entgegen hauchte, nicht eigentlich stinkend, wohl aber das äußerste Gegenteil jedes lebendigen und belebenden Dufts.“ (DD 1266, Hervorhebung von M.B.) Auch diese Textstelle verknüpft das ‚Feuer‘-Kapitel durch zum Teil wörtliche Wiederholungen mit der Unfallszene der Strudlhofstiege: René, als eine der Figuren, die in beiden Textstellen eine Rolle spielen, steht kurz bevor der Unfall in der Strudlhofstiege geschildert wird an dem „beschreitbare [n] Tor in den unbekannten Bauch der Stadt“ (DS 815), wo die dort unterirdisch fließende Als in den Donau-Kanal mündet und empfindet den „kalten, kellrigen Dunst, der tatsächlich, und nicht nur figürlich, unter der Stadt selbst hervorkam“ als „überaus niederschlagenden Geruch“ (DS 815, Hervorhebung von M.B.). Die Polarisierung der oberen Welt im ‚Feuer‘-Kapitel durch den Kampfer- und Brandgeruch der Innen- und Außenräume, wird in der Sequenz mit Meisgeier in der vertikalen Trennung zwischen oben und unten gespiegelt. Dem belebenden Duft von oben

auf[fädelt] und [. . .] deutlich [macht], daß zwischen den beiden Auftritten an verschiedenen Orten nur ein Minutenabstand liegt“ (WdD 265), verbindet zudem eine Fahrt in einem offenen Fiaker, die aus verschiedenen Perspektiven geschildert wird, die jeweiligen Szenen miteinander (vgl. DS 244, 251, 262, 283). 518 Ich beschränke mich an dieser Stelle darauf, die Verknüpfung der Sequenzen über das Motiv des fehlenden Stromes darzustellen. 519 Das Fehlen des Stromes bzw. die aufgrund dessen stillstehende Straßenbahn finden sich u. a. in folgenden Textstellen, von denen an dieser Stelle jeweils eine aus jeder Sequenz angeführt wird: Vgl. DD 1213, 1217, 1221, 1231, 1234, 1241. 520 Vgl. DD 1262 u. DD 1305. 521 Siehe die in diesem Kapitel bereits erwähnten Sequenzen um das Gartenfest bei Küffers, wo der Regen im Vorgriff in der Szene mit Mary erwähnt wird, sowie die Sequenzen um Frau Mayrinker und Eulenfeld.

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steht der kalte Todeshauch der ‚Unterwelt‘ entgegen, die mit Krankheit und Tod konnotiert ist. Durch den Hinweis auf die mittelalterliche Geschichte des Ortes, an dem die beiden Figuren in „den Bauch der Stadt“ (DD 1266, Hervorhebung von M.B.) eindringen, wird die räumliche Tiefe um die zeitliche Tiefendimension ergänzt und die Verknüpfung des Ortes mit Krankheit hergestellt: Aufgrund eines bereits im Mittelalter entstandenen ‚Siechenhauses‘ u. a. für Pestkranke wurde die Gegend des heutigen Stadtteils im Gemeindebezirk Alsergrund ‚Siechen-Als‘ (DD 1265)522 genannt.523 Dazu kommt der spätere Eindruck Annys, „mit einem kindischen Geisteskranken zusammen eingemauert [zu sein] in diesen Schacht“ (DD 1270). Das Motiv des Lebendig-begrabenseins wird in der Figurenperspektive mit der Geisteskrankheit verbunden. Das Kanalsystem mit dem „unterirdischen Fluß“ (DD 1267) wird zum mythologischen Hades, in den Meisgeier wie der Fährmann Charon Didi auf seinem Boot mitnimmt.524 Ihr Gefühl von Eingeschlossenheit, ja, einer völligen Versetztheit aus ihrem ganzen Leben in eine andere Welt war ein so vollkommenes, daß sie hier zunächst gar keine Beängstigung empfand. Sie befand sich augenblicklich mit keinem kleinsten Teil ihrer Erinnerung mehr in der hellen Oberwelt [. . .]. (DD 1268)

Die Trennung zwischen Ober- und Unterwelt führt dazu, dass der Stromausfall in dieser Sequenz keine Rolle spielt. Nur durch Meisgeiers Attacke auf die über den Schmerlingplatz laufenden Polizisten wird durch ein Kanalgitter eine Verbindung zwischen den beiden Ebenen hergestellt, die für Meisgeier und Didi tödlich endet, so dass die Kanalschächte tatsächlich zu ihrem Grab werden. Die Sequenz endet mit interner Fokalisierung auf Didi, die in ihrem letzten Lebensaugenblick einen als Explosion empfundenen Knall erlebt (vgl. DD 1270). Dieselbe Szene wird in einer späteren Sequenz aus Geyrenhoffs Sicht geschildert, der auf dem Schmerlingplatz miterlebt, wie ein Polizist „den Lauf seiner Pistole in das Gitter des Schachtes [stößt

522 Die Beschreibung des an Infektionsgefahr und mittelalterliche Hygienezustände erinnernden Unrats in den Kanälen lässt den Ausdruck ‚Siechen-Als‘ auch auf die Gegenwart beziehbar werden: „Ein ganzer Knäul von Geflügeldärmen etwa zeigte sich dort angespült, und noch anderer Unrat aus den in den unterirdischen Fluß mündenden Hauskanälen.“ (DD 1267). 523 Vgl. Felix Czeike: Historisches Lexikon Wien. Bd. 5, Wien 2004, S. 452 sowie Bd. 3, S. 364. 524 Vgl. Kerscher 1998, S. 354. Kerscher erläutert zudem, wie sich in dieser Szene „Motive des im ‚Nachtbuch‘ synthetisierten Kraken- und Kubitschek-Komplexes, der Neudegg-Episode und des Charagiel-Erlebnisses (Gesichtsverkehrung) [konzentrieren und sich] [. . .] das exotisch ferne Octopusabenteuer über die Zwischenstufen metaphorischer und visionärer Verdichtung und Verschiebung endgültig mitten in der Stadt detailgetreu und real manifestiert.“. Kerscher 1998, S. 355. Der Angriff aus der Kanalisation wird zudem durch die von Dwight Williams berichteten – und von René sowie Frau Kapsreiter gelesenen – Krakenangriffe in einer brasilianischen Hafenstadt antizipiert, so dass „Meisgeiers Attacke [. . .][eine] Variante der Krakenattacke“ darstellt. Sommer 2004d, S. 35. Siehe auch Kap. 5.2.3.

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und][. . .] ein halbes Dutzend Mal hinab[feuert]“ (DD 1297). Erst durch die Synthese der beiden Figurenperspektiven wird das Ereignis verständlich und die Erzählstränge werden synchronisiert. Am Ende des Kapitels liefert die auktoriale Erzählinstanz eine Rekonstruktion der Ereignisse, die scheinbar dem Obduktionsbericht nach dem Fund der Leichen folgt (vgl. DD 1328 f.).525 Die semantische Tiefenstruktur der Synchronisierungsmotive, über welche alle Sequenzen des ‚Feuer‘-Kapitels miteinander verknüpft sind, lässt sich auf das Merkmal des (potenziellen) Fließens von Flüssigkeiten oder Flüssigkeits-Äquivalenten zurückführen, das sich in dem vertikal fließenden Regen und in dem unterbrochenen ‚Fließen‘ des elektrischen Stromes zeigt. Als Äquivalent zu dem Stromnetz, das die ganze Stadt miteinander verbindet und mit Energie versorgen sollte, findet sich in der Meisgeier-Sequenz das Wasser leitende Kanalnetz, welches als unterirdisches Spiegelbild desselben fungiert. Die anthropomorphisierenden Metaphern im Zusammenhang mit der Stadt, in deren „Bauch“ (DD 1266) Meisgeier und Didi eindringen, verweisen auf die Analogie zwischen dem Stromnetz und dem Adersystem des menschlichen Körpers.526 Auf die Korrelation zwischen dem elektrischen Strom und dem Lebensstrom wird in einer Textstelle in Bezug auf Imres Tod während des Justizpalastbrandes explizit hingewiesen. Geyrenhoff beobachtet die Szene auf dem Schmerlingplatz von seiner Position am Fenster der Wohnung des Hofrates Gürtzner-Gontard: „Was ihn getötet hatte, war für mich, in diesen hellsichtigen Sekunden, nicht die Kugel, sondern der Starkstrom des Lebens selbst, von Imre zum Kurzschluß gebracht.“ (DD 1248)527 Als Erklärung fügt Geyrenhoff hinzu: „[D]er plötzliche Kontakt mit der nackten und direkten, gar nicht irgendwie gemeinten, sondern nur sich selbst bedeutenden Konkretion ist tödlich.“ (DD 1248) Bereits als Imre nach seinem Redebeitrag auf der Straße die Pistole zieht und abfeuert, die Geyrenhoff als einen der vielen emblematischen Gegenstände aus Imres Zimmer kennt, – „Ein Emblem, das losging, das plötzlich in den direkten Gebrauch abstürzte“ (DD 1247) – sieht Geyrenhoff seinen bevorstehenden Tod voraus: „Metaphern stürzten, Embleme brachen durch ihren doppelten Boden. Es konnte nicht anders kommen“ (DD 1248). Das Motiv der ‚einstürzenden Metapher‘ wird einige Seiten zuvor im Zusammenhang

525 Diese Sequenz beginnt mit der Sicht des ‚Ich-Erzählers‘ Geyrenhoff, führt dann aber über die Nullfokalisierung zur internen Fokalisierung Anny Grävens (vgl. DD 1328–1331). 526 Die Energieversorgung durch die Stromleitungen ließe sich mit dem Arteriensystem vergleichen, während die ‚Abfallprodukte‘ der Stadt, die durch das Kanalnetz gespült werden, an das Venensystem mit dem ‚verbrauchten‘ sauerstoffarmen Blut erinnern. 527 Das beschleunigte Fließen des Stromes bei einem Kurzschluss verweist über das polyseme Wort ‚Strom‘ auf die metaphorische Stromschnelle, die Doderer zufolge Vorbild für den kataraktartigen Aufbau des ‚Feuer‘-Kapitels sein sollte.

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mit einer erschossenen alten Frau von Geyrenhoff eingeführt.528 Die Frau hatte Milchflaschen bei sich, deren Inhalt sich nach ihrem Tod über die Straße ergießt: Rot – Weiß, Milch und Blut. Die Metapher blühenden Lebens und gesunder Jugend war durch einen einzigen Schuss in ihre grob-stoffliche Grundbedeutung zurückgestürzt worden (und jetzt troff die Milch schon in den Rinnstein, zusammen mit dem Blut). Aber jede vom Leben zerschlagene und bis auf den platten Sockel ihrer direkten Grundbedeutung abgeräumte Metapher bedeutet jedesmal in der Tiefe einen Verlust an menschlicher Freiheit – die ja nur dadurch bestehen kann, daß die Fiktionen und Metaphern stärker sind als das nackte Direkte, und so unsere Würde bewahren – ja, es ist jede zusammengebrochene Metapher nichts anderes als die in den Staub getretene Fahne jener Freiheit, diesfalls Rot – Weiß. (DD 1244)529

An diesen Textstellen, in denen eine Verschiebung von der metaphorischen Ebene auf eine wörtliche Bedeutungsebene thematisiert wird, die für Imre und die alte Frau in den Tod führt, zeichnet sich die Programmatik der Dämonen ab, „das nackte Direkte“ (DD 1244) auszusparen. Die durch „zusammengebrochene Metapher[n]“ bedrohte „[menschliche] Freiheit“ (DD 1244) rekurriert auf die künstlerische Freiheit, die sich demnach der direkten Auseinandersetzung mit politischen Problemen entziehen soll.530 Das Bild der toten Frau in Strömen von Milch und Blut symbolisiert einerseits den Staat Österreich, auf dessen Fahne die Farben verweisen531 und andererseits das Leben an sich, das der Sicht des fiktiven Chronisten zufolge durch die ideologisch begründeten Aufstände des 15. Juli bedroht ist. Geyrenhoffs ‚Schlusswort‘ im 528 Siehe dazu auch Martin Loew-Cadonna: Phönix in der Asche. In: Justizpalast in Flammen. Ein brennender Dornbusch. Das Werk von Manès Sperber, Heimito von Doderer und Elias Canetti angesichts des 15. Juli 1927. Hrsg. v. Thomas Köhler und Christian Mertens, München 2006, S. 113–122, hier: S. 117. 529 Die Milch-und-Blut-Metapher korrespondiert mit Marys Unfall in der Strudlhofstiege, bei welchem den Farben Rot und Weiß ebenfalls eine symbolische Funktion zukommt. Durch die „rotweiße Straßenbahn“ (DD 831) wird Marys Bein durchtrennt, so dass dem Erste-Hilfe leistenden Melzer das „Rot [. . .][ihres Blutes] entgegenspringt“, während „das totbleiche noch unverletzte Fleisch“ (DS 843) im farblichen Kontrast dazu steht (vgl. Sommer 1994, S. 118). Auch in der Beschreibung von Marys Blut findet eine ‚Metaphernzerstörung‘ statt, da es für Melzer die reale Manifestation der als „roter Schein, wie von rohem Fleisch oder vergossenem Blut [erscheinenden][. . .] Ernstfarbe des Lebens“ (DS 290) bedeutet, die Ausdruck seines Traumas war. Vgl. Dietz 2002, S. 109. 530 In der Strudlhofstiege wird das Prinzip des Umweges, in dessen Kontext tropisches Sprechen hier erscheint, an der Treppenanlage verbildlicht und die Würde des Weges zelebriert: „Der Meister der Stiegen hat ein Stückchen unserer millionenfachen Wege in der Großstadt herausgegriffen und uns gezeigt, was in jedem Meter davon steckt an Dignität und Dekor. Und wenn die Rampen flach und schräg ausgreifen und querlaufen am Hange, den zweckhaften Kurzfall und all’ unsere Hühnerleitern verneinend; wenn ein Gang hier zur Diktion wird auf diesen Bühnen übereinander, und der würde-verlustige Mensch nun geradezu gezwungen scheint, sein Herabkommen doch ausführlicher vorzutragen trotz aller Herabgekommenheit: so ist damit der tiefste Wille des Meisters der Stiegen erfüllt [. . .].“ (DS 331, Hervorhebungen von M.B.). 531 Vgl. Weber 1963, S. 217.

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‚Feuer‘-Kapitel steht somit im Kontext mit dem in der Ouvertüre antizipierten Unheil: „So endete für uns dieser Tag, der ganz nebenhin das Cannae der österreichischen Freiheit bedeutete. Aber das wußte damals niemand und wir am allerwenigsten.“ (DD 1328) Kerscher deutet die Erwähnung der historischen Schlacht um Cannae als Chiffre für die Technik der Einkreisung, mit der im ‚Feuer‘-Kapitel die komplexen Ereignisse des Tages „durch mehrfache Anvisierung derselben Ereignisse aus verschiedenen Richtungen und zu verschiedenen Zeitpunkten“532 dargestellt werden. Die Frage nach der Funktion der ‚polyphonen‘ Struktur des ‚Feuer‘-Kapitels innerhalb der Thematik der ‚zweiten Wirklichkeit‘, auf die ich zum Abschluss dieser Betrachtungen eingehen möchte, lässt sich unter anderem auf diese Einkreisung des nicht Sagbaren beziehen, da der Justizpalastbrand in den Dämonen zur Manifestation der Ideologie resp. aller ‚revolutionären Ideen‘ wird.533 Im Gespräch zwischen Geyrenhoff und Gürtzner-Gontard, welcher wiederum René Stangeler zitiert, wird das Wesen alles Revolutionären als „eine sozusagen apriorische Unanschaulichkeit“ (DD 486) beschrieben und der Revolutionär als einer, der „zu schwach ist, um in der Welt, wie sie eben ist, zu leben, der [. . .] einen Zustand, der sein soll, gegenüber dem tatsächlich seienden [‚idealistisch‘ verabsolutiert].“ (DD 487)534 Der Justizpalastbrand wird daher zum Symbol der ‚zweiten Wirklichkeit‘, die per se nicht greifbar ist. Die Struktur der Einkreisung und Rahmung, die das ‚Feuer‘-Kapitel prägt, sowie die räumlich erhöhte Perspektive, findet sich auch in der Rahmung des Romans durch die Ouvertüre, in der Geyrenhoff „Schlaggenbergs Atelier“ (DD 7) bezogen hat, und das an das ‚Feuer‘-Kapitel anschließende Kapitel Schlaggenberg’s Wiederkehr, „das analog zur Ouvertüre mit dem erhöhten Standpunkt des Chronis-

532 Kerscher 1998, S. 376. Bereits Weber hat festgestellt, dass „das Geschehen [. . .] allseitig anvisiert und so ‚eingekesselt‘ [wird].“ Weber 1963, S. 224. Gerald Sommer sieht „das Element der Vernichtung“ als wesentliche Gemeinsamkeit: „Der Autor parallelisiert die vernichtende Niederlage Roms mit dem Untergang der freiheitlich-demokratischen Verhältnisse in der ersten Republik.“ Sommer 2006b, S. 155. 533 Ralph Kray zufolge greift der Roman „die – enttäuschende und enttäuschte – geschichtliche Erfahrung der Verfestigung sozialer, rechtlicher, politischer, kultureller und wissenschaftlicher Realitätssemantiken unter dem Sujet der ‚zweiten Wirklichkeit‘ auf, und er liefert sich deren semantischen und formalen Aufbauzwängen zunächst aus“, um „im Anschluß alternative literarischanthropologische Modelle an für die in diesen Aufbauzwängen mißglückte ‚Balancierung höchstmöglicher Spannung‘ zwischen personalem Formbedarf einerseits und gesellschaftlichen Formzwängen andererseits. In diesem Sinne thematisiert er sich selbst als literarisches Formangebot versus gesellschaftliche Formzwänge [. . .].“ Ralph Kray: Über ‚Revolution‘ im Roman. Last, Belastbarkeit, Elastik eines historischen Schlüsselbegriffs in Doderers ‚Die Dämonen‘. In: Weimarer Beiträge 44 (1998), H. 3, S. 364–391, hier: S. 373. 534 Geyrenhoff kritisiert allerdings im Nachhinein die Ausführungen Gürtzner-Gontards, indem er den Vergleich des Revolutionärs mit einem Kind „im Mutterleib [. . .] mit den Händchen vor dem Gesicht, als hielte es sich die Augen zu“ (DD 828) als natürliche Ausgangssituation jedes Menschen deutet.

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ten, als Epilog bzw. ‚Coda‘ angelegt ist [. . .][und] räumlich wieder ‚aus der Tiefe zur Höhe‘ [führt].535 Der Blick auf den Brand des Justizpalastes, der aus der Ferne als „rotes Wimmerl“ (DD 1292)536 oder als „flackernder Punkt“ (DD 1293) und „Glutpunkt“ (DD 1293) erscheint und mit Geyrenhoffs früherer Wahrnehmung der aufgehenden Sonne als „ein Stückchen hellglühender Kohle [, die auf einem Dach] zu sitzen schien“ (DD 1059), korrespondiert, wird in Vorbereitung auf das ‚Feuer‘Kapitel mit den nächtlichen Visionen der Frau Kapsreiter verknüpft:537 „Wie ein rotes Wimmerl geht das Feuer auf, erst war es noch ganz klein, nur an einer einzigen Stelle, ein Stückerl glühender Kohle; ist auf dem Haus gesessen wie ein Wimmerl auf der Nasen.“ (DD 1205) Das zunächst harmlose ‚Wimmerl‘ kann zu einem eitrigen Entzündungsherd werden, ebenso wie ein kleines Stückchen Glut zum Ausgangspunkt für ein großes Feuer werden kann. Es finden sich in den Dämonen analog dazu vielfältige Metaphern und Vergleiche, und schon in der Ouvertüre wird die Gefährlichkeit der latenten Ideologisierung der Gesellschaft durch die „Keim-Metaphorik“538 vermittelt: Furchtbares hat sich begeben in meinem Vaterlande und in dieser Stadt, meiner Heimat, zu einer Zeit, da die Geschichten, ernst und heiter, die ich hier erzählen will, längst geendet hatten. Und eines Namens wurde würdig, wahrhaft eines schrecklichen, was bei währenden Begebenheiten hier noch ungestalt lag und wie keimweis gefaltet beisammen: aber es trat hervor, und bluttriefend, und jetzt auch dem Auge, das vor so viel Geschehen nahezu blöde geworden, in seinen Anfängen kenntlich, gräßlich bescheiden und doch so sehr kenntlich. (DD 21)

In der zugespitzten Multiperspektivik des ‚Feuer‘-Kapitels wird diese figurenübergreifende Blindheit für die Anfänge des später als Nationalsozialismus identifizierbaren Schreckens besonders deutlich.539 Kleinlercher hat allerdings darauf hingewiesen, dass der Satz beinahe wörtlich schon 1935 in Die Dämonen der Ostmark enthalten war und erst später als auf die NS-Zeit bezogen umgedeutet wurde.540 Die unterschiedlichen Figurenperspektiven des ‚Feuer‘-Kapitels umkreisen das zentrale Ereignis des 15. Juli, wobei sich nur ihre persönlichen Belange mehr oder weniger unterscheiden, während der Blick auf das politische Ereignis durch die

535 Hauer 1975, S. 245. 536 Dietz weist darauf hin, dass das Feuer und die dazugehörigen Akteure mit „hygienische[n] Metaphern“ wie ‚Wimmerl‘ und ‚Ruass‘ belegt werden. Dietz 2002, S. 49. Die Metaphern stehen im Kontext der Infektions-Semantik der ‚zweiten Wirklichkeit‘. 537 Vgl. Kerscher 1998, S. 372. 538 „Dem Glutpunkt am Ende der Dämonen korrespondiert die Keim-Metaphorik der ‚Ouvertüre‘“. Kerscher 1998, S. 380. 539 Geyrenhoff beschreibt am Ende der Ouvertüre „eine Menschenhand von Turm- oder Bergesgröße [ . . . ,] die über das lächerliche Gefäß eines einzelnen Lebens [. . .] hinausweist mit einem gereckten Zeiger“ (DD 21) und damit über die einzelnen Erzählstränge hinweg auf die danach kommenden Ereignisse weist. 540 Kleinlercher 2011, S. 235.

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Vielfalt der ‚Stimmen‘ kaum Differenzierung erfährt.541 Dennoch lässt sich, was Bachtin bei Dostojewski als „echte Polyphonie vollwertiger Stimmen“542 konstatiert auch auf Doderers Dämonen und speziell das ‚Feuer‘-Kapitel übertragen, dass sich nämlich nicht eine Vielfalt von Charakteren und Schicksalen in einer einheitlichen, objektiven Welt im Lichte eines einheitlichen Autorenbewußtseins entfaltet, sondern eine Vielfalt gleichberechtigter Bewußtseine mit ihren Welten [. . .] in der Einheit eines Ereignisses miteinander verbunden [wird], ohne daß sie ineinander aufgehen.543

Doderers Figuren bewegen sich auf das Zentrum der Unruhen zu und entfernen sich wieder davon. Ihnen allen gemeinsam ist die fehlende politische Verbindung zu den Ereignissen. „Doderers Dämonologie des Feuers radiert weitgehend den historischen und politischen Aspekt aus und ersetzt die geschichtlichen Konflikte durch eine mythische Schlacht zwischen ‚Dämonen‘ und ‚animae naturaliter christianae‘.“544 Die wenigen Figuren, die direkt in die Ereignisse auf der Straße verwickelt sind, handeln aus scheinbar privaten Gründen, wie etwa Leonhard beim Schließen der Universitäts-Tore und später als er seine ehemaligen ArbeiterKollegen trifft, oder Meisgeier, der aus Hass auf die Polizei seine Störversuche aus dem Untergrund ausführt. Auch Imre, der immerhin einer der Redner vor dem Justizpalast ist, hat sich aus verletztem Stolz von den Nationalisten abgewandt und sucht eine neue Identifikationsmöglichkeit in den sozialistischen Ideen. Imres angebliche ‚Natur‘, „als alter Plakatierer, Reklame-Zeichner, Propagandist“ (DD 1246) ermöglicht es ihm, nahtlos von einer Ideologie zur anderen zu wechseln: „Er verwendete, was ihm bisher von ‚revolutionären Reden‘ zu Ohren und Augen gekommen war [. . .] als fertige glatte

541 Die Beschreibung der Multiperspektivik der Erzählung Fuga von Gabriel Josipovici (erschienen in der Kurzgeschichtensammlung In the Fertile Land von 1987), die Werner Wolf als eine gelungene literarische Fuge bezeichnet, weist Ähnlichkeiten mit der ‚polyphonen‘ Struktur des ‚Feuer‘-Kapitels auf: Die Figuren und die ihnen zugeordneten Monologe werden darin als „Perspektivträger auf der discours-Ebene“ (Wolf 1998, S. 150) analog zu den verschiedenen Stimmen einer Fuge eingesetzt. Die daraus resultierende „Multiperspektivik“ führt jedoch „seltsamerweise nicht [. . .] zu einer Divergenz subjektiver Sichtweisen [. . .], sondern zu einer Konvergenz im Blick auf ein und dasselbe Geschehen“. Wolf 1998, S. 151. Auch Schröder kritisiert, dass „die Anschaulichkeit allein, und auch die Verbindung vieler Teil-Anschaulichkeiten [. . .] keine Erklärung für die Ursachen der Geschehnisse“ schafft oder erklärt, „welche objektivierbaren gesellschaftlichen Voraussetzungen zu dem Ereignis geführt haben“ (Schröder 1976, S. 121). Die Erzähltechnik macht demnach „zwar äußerlich eine differenzierte Gleichzeitigkeit anschaulich, führt insgesamt aber zu einem Mosaikbild, in dem nur ein Breiten-, nicht aber ein Tiefenzusammenhang vermittelt wird.“ Schröder 1976, S. 142. 542 Bachtin 1971, S. 10. 543 Bachtin 1971, S. 10. 544 Stieg 1990, S. 151. Vgl. dazu auch die Darstellung des ‚Republikanischen Schutzbundes‘ (DD 1311).

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Versatz-Stücke, die keine Aufrauhungen eigenen Erlebens weisen“ (DD 1246).545 Diese Charakterisierung erinnert – zumal im Hinblick auf die Vorgeschichte Imres – an Weiningers These, die „innerliche Vieldeutigkeit“ sei „das absolut Jüdische“,546 weshalb ‚der Jude‘ kein „echter Revolutionär“ und „nur zersetzend, [. . .] nie wirklich zerstörend“547 sein könne. Die gänzlich negative Charakterisierung alles Revolutionären als Ausdruck von „Lebensschwäche“ (DD 487), wird durch Gürtzner-Gontards grotesken Vergleich zwischen Rassismus und Klassenkampf auf die Spitze getrieben: In einer ‚rassenreinen‘ Gesellschaft wird jeder Simpel und Brutalist, der nicht vorwärtsgekommen ist, mindestens einen ‚Arier‘ vorstellen; die gleiche Auszeichnung kann, bei anders gerichtetem ‚Idealismus‘, darin liegen, für einen Prolet-arier [sic] zu gelten. Dort eine vermeintliche Gemeinsamkeit der Rasse, hier eine der Klasse, es ist gehupft wie gesprungen. (DD 487)548

Auch in der geschlechtsspezifischen Rollenzuweisung wird der Einfluss Weiningers deutlich, demzufolge das ‚Weibliche‘ sich aufteilt in den Typus der Mutter549 als „lebensfreundliches“ und den der Prostituierten als „lebensfeindliches Prinzip“,550 bzw. in ‚Magd‘ und ‚Megäre‘.551 Im ‚Feuer‘-Kapitel gibt es einerseits die den privaten Räumen zugeordneten passiv wartenden Frauen, die von den Ereignissen des Tages nahezu unberührt bleiben,552 andererseits die Frauen auf der Straße (Diwald, Gräven, Malik) die Stieg zufolge als „‚weibliche[s] Element‘ der Masse [. . .] mit der

545 Michael Bachem weist in diesem Kontext darauf hin, dass „Doderer Sprache, die zum Bösen führt, mit Metaphern der Glätte [charakterisiert].“ Michael Bachem: Doderers Metaphern des Bösen. In: Internationales Symposion Heimito von Doderer. Ergebnisse. Hrsg. v. der Niederösterreich-Gesellschaft für Kunst und Kultur, Wien 1988, S. 7–14, hier: S. 14. 546 Weininger 1903, S. 435. 547 Weininger 1903, S. 434. 548 Auch wenn diese Einschätzungen der Figurenrede entnommen sind, spiegelt sich darin doch die allgemeine Tendenz innerhalb der Dämonen, jede Form politischen Engagements als Ausdruck von ‚Apperzeptionsverweigerung‘ zu disqualifizieren und durch die Gleichsetzung von nationalsozialistischer Ideologie und emanzipatorischen Bestrebungen letztlich zu einer Relativierung der NS-Ideologie zu führen. Zur Verwendung von Begriffen wie ‚Revolution‘, ‚Masse‘, ‚Arbeiter‘ und ‚Sozialismus‘ im historischen Kontext der 1920er und 1950er Jahre (der Handlungszeit und der Erzählergegenwart der Dämonen) siehe Monika Koller: Die zweite Wirklichkeit. Politik als Realitätsverweigerung bei Heimito von Doderer. In: Politische Betrachtungen einer Welt von Gestern. Öffentliche Sprache in der Zwischenkriegszeit. Hrsg. v. Helmut Bartenstein u. a., Stuttgart 1995 (= Stuttgarter Arbeiten zur Germanistik; Bd. 279), S. 313–336. 549 Sowohl Mary als auch Friederike werden mit mütterlichen Zügen charakterisiert (DD 646 u. DD 1097) und auch Grete, deren Physiognomie „keine frauliche mütterliche Breite“ (DD 98) aufweist, wird doch an anderer Stelle als „zärtlich-fraulich“ (DD 185) beschrieben. 550 Weininger 1903, S. 311. 551 Vgl. Kap. 4.2.2. 552 Eine Ausnahme bildet Quapp, die sich völlig ahnungslos auf den Weg in die Stadt macht, um dort von ihrem zukünftigen Ehemann aus einer gefährlichen Lage ‚gerettet‘ und in den semantisch als Privatbereich anzusehenden Wald auf dem Cobenzl gebracht zu werden, wo die beiden Hochzeitspläne schmieden.

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Welt der Prostitution“553 gleichgesetzt bzw. als „galizianische Megäre“ (DD 1246) diskreditiert werden. Reisner erweitert diese Deutung um einen wesentlichen Aspekt, indem sie darauf hinweist, dass es sich bei mehreren der Redner*innen um Figuren aus dem Umfeld der ‚Allianz‘ handelt554 und ein „kausaler Konnex zwischen den Massenmedien, der Masse und dem Brand des Justizpalastes hergestellt“555 wird: Als Demagogen dieser heruntergekommenen Massen tritt die Presse, nunmehr feminisiert, in Gestalt einiger Personen aus dem Umfeld der Allianz auf. Somit stehen die Vertreter des Massenmediums hier in ganz direktem Kontakt zu den Massen. Es wird kein Zweifel daran gelassen, dass die Presse einen wesentlichen Teil zur Eskalation am 15. Juli 1927 beigetragen hat.556

Die historische und politische Fragwürdigkeit der literarischen Darstellung des 15. Juli 1927 wurde in der Sekundärliteratur bereits ausführlich erörtert und muss an dieser Stelle nicht weiter vertieft werden. Es bleibt jedoch festzustellen, dass neben der größtenteils rechts-konservativ geprägten stereotypisierenden Darstellung der ‚Masse‘ und den ihr zugeordneten Figuren, in der Beschreibung privater Befindlichkeiten ein Subtext enthalten ist, der über die Chiffre der ‚zweiten Wirklichkeit‘ die Verhaltensweisen und Wahrnehmungsmuster auch der zunächst positiv gezeichneten Figuren problematisiert. Obwohl es als Finale des Romans angelegt ist, bleibt „das wirkliche Feuer seltsam abwesend“557 und wird – als Ausdruck einer dämonischen Kraft, die in alle Handlungsstränge des Romans hineinwirkt – analog zu der im Roman umkreisten Leerstelle des Nationalsozialismus aus der direkten Beschreibung ausgespart. Nur die individuellen (Nicht-)Reaktionen auf das Feuer werden in die Schilderung der privaten Erlebnisse der Figuren eingebettet. Die im ‚Feuer‘-Kapitel dargestellte „persönliche Blindheit bei Menschen aller Gesellschaftsschichten“ und die Flucht ins Private beinhaltet somit trotz aller positiv gezeichneten Aspekte der persönlichen Entwicklung auch eine „passive Mitschuld“.558„Denn das private Verkennen der öffentlichen Situation bei einem Ereignis, welches in der perspektivischen Logik des Romans als Vorposten des NS-Terrors figuriert, bildet eine wichtige historische Voraussetzung für das Erstarken des Faschismus.“559 Die figurenübergreifende Passivität und Ignoranz in Bezug auf die politische Dimension steht jedoch gleichzeitig im Kontext der ‚Menschwerdung‘, die hauptsächlich bei den als Alter Egos deutbaren Figuren mit einer sukzessiven Lösung von einer antisemitischen Haltung einhergeht: Geyrenhoff distanziert sich mehr und

553 Stieg 1990, S. 109. 554 Geyrenhoff, der die Szene beobachtet, erwähnt: „Somit war die ‚Allianz‘ hier auch nach Standsgebühr vertreten, wie denn anders.“ (DD 1245). 555 Reisner 2017, S. 75. 556 Reisner 2017, S. 90. 557 Stieg 1990, S. 152. 558 Kerscher 1998, S. 359. 559 Kerscher 1998, S. 359.

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4 Thematisierung und Imitation von Musik in Die Dämonen

mehr von Teilen der ‚Unsrigen‘ und verlangt bei ihrem Wiedersehen im letzten Kapitel des Romans auch von Kajetan eine Absage an die „Methode Körger-Eulenfeld“ (DD 1342). René wird in den Kreis der Familie Siebenschein aufgenommen, so dass ein „Familienidyll [. . .] den Endpunkt“ der „(auch ‚rassisch‘ begründetet[en]) Spannungsgeladenheit“560 dieser Beziehung bildet (vgl. DD 1320). Der Komplex der ‚zweiten Wirklichkeit‘ lässt sich als indirekte Thematisierung der Entstehung des Nationalsozialismus lesen und damit als Auseinandersetzung mit Schuldfragen; zugleich zeichnet die Apperzeptionsthematik und die damit einhergehende Ablehnung politischer Positionen aber auch den Weg zur ‚Menschwerdung‘ vor, bei dem sich die Figuren von Ideologien abkehren und ins Private zurückziehen.561 Es ergeben sich daher anhand der Apperzeptionsthematik widersprüchliche Deutungsangebote, und der Versuch, Disparates zu vereinen, zeigt sich im ‚Feuer‘Kapitel besonders ausgeprägt. Die Transformation musikalischer Techniken in die Literatur dient darin u. a. dieser Anstrengung, eine Vielzahl von Stimmen möglichst simultan zu integrieren und zugleich eine konstante Basis zu schaffen, welche die Erzählung stabilisiert und scheinbar unberührt von ideologischen Festlegungen ist.562 In diesem Kontext steht die dargestellte Simultanität divergenter Bewegungen, die in Leonhard Kakabsas ‚Fähigkeit‘, „die Wege nach links und nach rechts [. . .] beide zugleich unter den Sohlen“ (DD 1311) zu haben, zum Ausdruck kommt. Diese Ausgewogenheit zwischen links und rechts sowie zwischen oben und unten entspricht der Ortung des freien Menschen als „Mitte der Welt“ (DD 658) in dem Pico della Mirandola-Zitat, das Leonhard aus dem Lateinischen übersetzt und das sich programmatisch sowohl auf Leonhards Entwicklung als auch auf den Roman beziehen lässt.563

560 Walter-Jochum 2018, S. 95. 561 In Bezug auf die Strudlhofstiege hat Evelyne Polt-Heinzl die „[metatextuellen] Kommentare“ dargestellt, die „den Zeitgenossen entlastende Optionen für den Umgang mit der NS-Vergangenheit bot[en], obwohl und gerade weil das zentrale Thema des Romans die Notwendigkeit sinnvoller Erinnerungsarbeit ist“. Evelyne Polt-Heinzl: Edle Majore, Etappenkulinarik und gekappte Erinnerungen. Heimito von Doderers Strudlhofstiege als Angebot zur ‚Bewältigung‘ der NS-Vergangenheit. In: Keime fundamentaler Irrtümer. Beiträge zu einer Wirkungsgeschichte Heimito von Doderers. Hrsg. v. Roland Innerhofer, Matthias Meyer, Stefan Winterstein, Würzburg 2018 (= Schriften der Heimito von Doderer-Gesellschaft; Bd. 10), S. 185–204, hier: S. 186. 562 In Grundlagen und Funktion des Romans schreibt Doderer in Anspielung auf die an musikalische Techniken angelehnte Mehrstimmigkeit: „Es gibt im totalen Roman keine Haupt- und Begleitstimmen, viel weniger noch wie in der Kontrapunktik, die doch irgendwo hinauswill.“ (WdD 174). Walter-Jochum beschreibt das Verhältnis der verschiedenen Stimmen ähnlich: „Die Auflösung des Ereignisses in der Polyperspektivität verschiedener eingeschränkter Figuren-Geschichten [. . .] vermeidet eine [. . .][ideologisch-politische] Festlegung, sie trägt der mit Bachtin identifizierten grundlegenden Anlage Rechnung, in der der ‚letzte Redakteur‘ notwendig eine offene Instanz ist.“ Im ‚Feuer‘-Kapitel erkennt er ein extremes Beispiel dafür: „Die Montage der einzelnen Handlungsstränge erfolgt im Sinne einer Art narrativer Gleichberechtigung“ (Walter-Jochum 2016b, S. 56). 563 Siehe Kap. 5.1.3.

4.3 Musikalisierung – Imitation und Evokation von Musik

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Eine Textstelle aus dem ersten Kapitel der Dämonen verweist metapoetisch auf das Verhältnis der Narration zu den wechselnden Zeiterscheinungen und lässt sich auf diese Tendenz des ‚Finales‘ im Roman beziehen. Das Kapitel Draußen am Rande beginnt mit den Worten: „Immerfort sprudelt der breite Bach“ (DD 25). Nur wenige Seiten darauf wird dieser Bach näher beschrieben: Der Bach kommt immerfort breit entgegen. Da und dort trommelt das Wasser in dumpfem Basse, hell rinnende und plätschernde Diskante liegen darüber. Der Wald greift links und rechts mit Baumkronen über den Bach, aber dieser selbst ist breit, er hält den Wald auseinander und über sich den Streifen Himmels offen, der die Kronen blau grundiert, und bis in’s letzte einzelne Blatt. Der Bach geht in diesem Waldtal dahin seit vielen hunderten und vielleicht tausenden Jahren. Tal und Bach sind alt. Die Bäume vergleichsweise jung; das Haar der Erde; es fällt aus, es wächst nach. (DD 27)

Deutet man den Bach in dieser Textstelle als Erzählstrom und das Offenhalten des Himmels darüber als Bild für die freie Apperzeption, die durch politische und historische Ereignisse oder Ideologien von links und rechts nicht gestört werden darf, so entsprechen diese den Roman (nach der vorangestellten Ouvertüre) eröffnenden Sätze Doderers Äußerungen über den Erzähler als „ein wesentlich passiver Typus“ (WdD 160) in Grundlagen und Funktion des Romans: „Der Schriftsteller aber muß hier bleiben und nichts selbst tun, in der verwirrenden Krone des Baumes sitzen [. . .][und] den in die Vereinzelung davonstrebenden Ästen nachblicken“ (WdD 161). Wie der Roman mit der Beschreibung überzeitlicher Naturerscheinungen beginnt, so beginnt auch das ‚Feuer‘-Kapitel mit Naturschilderungen, die auf den dauernden Kreislauf des Wechsels zwischen Tag- und Nacht verweisen564 und den als unanschauliche ‚zweite Wirklichkeit‘ charakterisierten historischen Ereignissen entgegenstehen.

564 In beiden Textstellen werden zudem die Naturgeräusche mit musikalischen Termini beschrieben, so dass sich diese Musikalisierung der Natur in Analogie zur Musikalisierung der Sprache und der Literatur sehen lässt. Auch die das ‚Feuer‘-Kapitel prägende Katarakt-Struktur, die auf die Schicksalhaftigkeit der Ereignisse deutet, ist dem Bachmotiv aus diesem ersten Kapitel eingeschrieben, in dem „Schleier von Wasser [. . .] über glattgewaschene Steine [fallen]“ (DD 25).

5 Sexualität und Erotisierung im Kontext der ‚(Nicht-)Apperzeption‘ „Das Erotische ist unser wirksamstes Apperzeptions-Organ: aber keines unserer Fenster haben wir im Leben so verpinselt, wie dieses.“ (T 838). Dieses Postulat aus den Tangenten lässt Doderer in den Dämonen in variierter Form von der Romanfigur Kajetan von Schlaggenberg wiederholen: Denn das Geschlecht – es ist unser gewaltigstes Ausfalls- oder eigentlich Einfallstor der Apperzeption, und bei wem sich dieses Fenster trübt, bei dem werden auch alle anderen bald den grauen Star kriegen, und er wird in allen Sachen nur mehr durch den verquer ausgeschnittenen Schlitz irgendwelcher Programme blicken, irgendwas vorwegnehmend, was sein soll. (DD 1083)

In diesem Zitat verdichtet sich die Motivik der Apperzeptionsproblematik und deutet über das Sexuelle hinaus auf andere Lebensbereiche. Das Geschlecht steht metonymisch für die Erotik und wird über die Metapher des Fensters, das selbst wiederum als Auge metaphorisiert wird, wenn es vom ‚grauen Star‘ befallen ist, mit einem der Sinnesorgane des Menschen gleichgesetzt. Es ist dieses stetig wiederholte Credo Doderers, das die Signifikanz der Erotik in seinem Werk im Allgemeinen und im Besonderen in den Dämonen erklärt: Wenn der als ‚Wahrnehmungsorgan‘ positiv besetzte Bereich der Erotik und Sexualität durch zu starre Präferenzen begrenzt oder die unbefangene Sinnlichkeit durch Ängste gehemmt ist, engt es demnach den Betreffenden in seiner Wahrnehmungsfähigkeit ein und verhindert eine positive Entwicklung. Diese Problematik ist ein Thema, das in Doderers Werken immer wieder eine zentrale Rolle spielt1 und anhand diverser Figuren der Dämonen variiert wird. Analog zu dem im vorangegangenen Teil dieser Arbeit untersuchten Themenfeld der Musik kann man daher davon ausgehen, dass auch die Erotik entwicklungsfördernde und entwicklungshemmende Faktoren bezüglich der ‚Menschwerdung‘ umfasst. Die Musikthematisierungen scheinen in einem ähnlich gespaltenen Verhältnis zur ‚zweiten Wirklichkeit‘ zu stehen wie die Thematisierungen von Sexualität und Erotik. Analog zur Musikalisierung von Literatur lässt sich hier von einer Erotisierung sprechen, die über die Thematisierung von Erotik hinausreicht. Neben den „neue[n] technische[n] Mitteln“ (WdD 173), die Doderer in der Adaption musikalischer Formen und Strukturen für den Roman gefunden hat und die ihm zufolge notwendig sind, um „die Kunst immer neu zu begründen“ (WdD 173), sind seine großen Romane auch durch „erotische Strukturen“2 geprägt, die sich beispielsweise in der Semantisierung von Räumen und Landschaften, in der Metaphorik und in 1 So z. B. bei den Figuren Melzer in der Strudlhofstiege und Julius Zihal in Die erleuchteten Fenster oder auch bei Donald Clayton in Die Wasserfälle von Slunj. 2 Siehe Gerigk 2008, S. 23. https://doi.org/10.1515/9783110715484-005

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5 Sexualität und Erotisierung im Kontext der ‚(Nicht-)Apperzeption‘

den erotischen Konnotationen von Wahrnehmungsprozessen zeigen. Anja Gerigk hat in Bezug auf die Strudlhofstiege darauf hingewiesen, dass solche erotischen Strukturen als Träger der „epistemologischen Modernität“3 des Romans fungieren. Die „erkenntnistheoretische Bedeutung des Erotischen“4 zeigt sich auch in der Wirklichkeits- und Wahrnehmungsproblematik bzw. in dem Themenkomplex der ‚zweiten Wirklichkeit‘ in den Dämonen, der in den folgenden Kapiteln im Hinblick auf die Funktion der Erotik untersucht wird. Während die Strudlhofstiege „eine erotisch inspirierte Seinsweise, die erotische Begeisterung als Existenzform“ beschwört und die Treppenanlage als Symbol der „Utopie des Erotischen“5 fungiert, bilden in den Dämonen die metastatisch wuchernden Metaphern des Dämonischen6 ein Netzwerk, das „die Abgründe der menschlichen Seele“7 u. a. anhand sexueller Obsessionen nachzeichnet. Die erotische Konnotation des Wahrnehmungsprozesses als sexueller Akt ist dabei nicht nur in negativer Hinsicht allgegenwärtig: Jede wirkliche Apperzeption ist nicht nur eine Berührung und oberflächliche Vermischung zwischen Innen und Außen: sie ist vielmehr eine Durchdringung beider, ja, mehr als das, ein chemischer Vorgang, eine Verbindung, eine,chymische Hochzeit‘ zwischen uns und der Welt, bei welcher wir eigentlich die weibliche Rolle spielen müssen. (DD 1083)8

Diese Äußerung der Romanfigur Kajetan von Schlaggenberg, die auch im Repertorium wiederzufinden ist,9 erklärt u. a. die häufigen Penetrationsmetaphern, die im Zusammenhang mit der Wahrnehmungsthematik eine Rolle spielen und die ‚Erotisierung‘ des Romans, dessen diverse Erzählstränge und Entwicklungsgeschichten eben diese Apperzeption bzw. ihre Verweigerung zum Mittelpunkt haben. Der schematisierte Zugriff auf die Welt wird dabei auch selbstreferentiell auf die Erzählsituation der Dämonen bezogen, da der Chronist Geyrenhoff eine der Figuren ist, die in einer ‚zweiten Wirklichkeit‘ leben.10 Immer wieder wird er daher von anderen Er-

3 Gerigk 2008, S. 23. 4 Gerigk 2008, S. 26. 5 Gerigk 2008, S. 33. 6 Vgl. Kerscher 1998, S. 298 ff. 7 Vgl. Kerscher 1998, S. 298. 8 Czesław Płusa geht in seinem Beitrag zur Apperzeptionsthematik in den Dämonen kurz auf diese Textstelle sowie auf die in ‚zweiten Wirklichkeiten‘ befangenen Figuren ein, kommt allerdings zu keinen weiterführenden Deutungsangeboten. Vgl. Czesław Płusa: Apperzeption und Ideologie. Heimito von Doderers ‚Dämonen‘. In: ‚Abgelegte Zeit‘? Österreichische Literatur der fünfziger Jahre. Beiträge zum 9. Polnisch-Österreichischen Germanistenkolloquium Łódź 1990. Hrsg. v. Hubert Lengauer, Wien 1992 (= Zirkular: Sondernummer; Bd. 28), S. 85–96, hier: S. 93. 9 Vgl. REP 36. Auch Grosso weist darauf hin, dass Doderer um die „passive Dimension des Wahrnehmungsprozesses [. . .] hervorzuheben, [. . .] in seinen Tagebüchern wie in den Dämonen mehrmals das Bild der weiblichen Sexualität [verwendet].“ Grosso 2009, S. 72. 10 Doderer hat das „Verhältnis zwischen Erotik und Grammatik“ immer wieder thematisiert und auf das Verhältnis des Schriftstellers zur Sprache bezogen: „Man kann weder in Bezug auf die Grammatik, noch in Bezug auf die Erotik was planen: beide verifizieren auf einer Ebene, die wir

5 Sexualität und Erotisierung im Kontext der ‚(Nicht-)Apperzeption‘

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zählern – sowohl von dem homodiegetischen Erzähler Kajetan als auch von der unpersönlichen heterodiegetischen Erzählinstanz – diskreditiert. In diesem Zusammenhang stehen auch die Auslassungen eines auktorialen Erzählers in dem Epilog auf den Sektionsrat Geyrenhoff (T 49–100) in den Tangenten. Als Pendant zu der oben zitierten Aussage Kajetans wird hier beschrieben, wie die Apperzeption als erotische ‚Durchdringung‘ verhindert wird. Die vor den Wahrnehmungsvorgang geschalteten Annahmen oder Vorurteile werden dabei mit einem vorzeitigen Samenerguss verglichen: Eine rasche und vorreife Sinngebung – in ihrem Wesen einer eiaculatio praematura verwandt – bemächtigt sich der Außenwelt mit großer Heftigkeit, weil sie inwärts nicht unangezweifelt bleiben kann und das Organische des Lebens zu durchsetzen nicht vermag. (T 85)

Die Auseinandersetzung mit sexuellen ‚Deviationen‘, insbesondere mit sadomasochistischem Begehren sowie mit Voyeurismus und Fetischismus, durchzieht Doderers Werke und erscheint in den meisten Fällen als Ausdruck einer gestörten erotischen Wahrnehmung. Als sexuelle Zwangsvorstellungen halten sie die Figuren in der ‚zweiten Wirklichkeit‘ gefangen und dienen vor dem Hintergrund der hier wiedergegebenen Zitate zu Apperzeption und Erotik als Paradigmata der auf politische und gesellschaftliche Zusammenhänge projizierten Wahrnehmungsverengung.11 Kerscher zufolge ist daher der „totalitäre Staat des Nationalsozialismus [. . .] die fundamentale Projektionsfläche der ‚Dämonen‘. Er ist aus der Gestaltung ausgespart, wird aber metaphorisch unter dem Leitbegriff des ‚Dämonischen‘ angepeilt.“12 In seinem Repertorium schreibt Doderer unter dem Eintrag ‚Zweite Wirklichkeit‘: „Nicht das Leblose und ungeordnete Umherliegen des Materials macht die zweite Wirklichkeit, sondern daß man es in eine Gegen-Ordnung bringt, welche jene des Lebens ausschließt, so im Politischen wie im Erotischen.“ (REP 269) Diesen Zusammenhang hat Doderer in seinem im Jahr 1948 entstandenen und 1951 überarbeiteten Essay Sexualität und totaler Staat ausgeführt, der erst 1970 posthum in Die Wiederkehr der Drachen erschienen ist.13 Der Versuch, sexuelle Präferenzen und politische Ideologie auf den gemeinsamen Nenner der ‚zweiten Wirklichkeit‘ zu bringen, kann als Schritt für die Wiederaufnahme der Arbeit an den Dämonen verstanden werden, da er den theoretischen Hintergrund für die Darstellung des

willentlich nicht betreten können, und senden uns einen Strom, den wir zu erzeugen nicht vermögen. Wir können nur Praefixierungen fernhalten oder zerschlagen, den Boden lockern, grammatisch und erotisch bereit sein; das erstere verlangt eine enorme Arbeitsleistung, unbedingten Gehorsam und ein Wissen von der Heiligkeit der Sprache. Dies alles, zusammengenommen, füllt den Tag des Schriftstellers aus.“ (CI 113 f., 15.03.1952). 11 Vgl. Kerscher 1998, S. 282. 12 Kerscher 1998, S. 253. 13 Vgl. WdD 311 (Anmerkungen des Herausgebers).

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5 Sexualität und Erotisierung im Kontext der ‚(Nicht-)Apperzeption‘

dämonischen Ideologie-Sexualität-‚Zweite-Wirklichkeit‘-Nexus bildet,14 der es Doderer ermöglicht hat, sein antisemitisches Romanprojekt zu einem scheinbar ideologiekritischen Roman umzuschreiben. Der Essay wurde daher auch als Versuch, die eigene politische Verstrickung durch die „Transponierung des Faschismusproblems auf eine erkenntnistheoretische Ebene“15 zu entschuldigen, gedeutet.16 Ausgangspunkt der Überlegungen in Sexualität und totaler Staat ist die Konstatierung von „zwei Arten von Sexualität“ (WdD 275): einer normalen und einer paradoxalen. Die normale, wenn auch nicht notwendigerweise quantitativ überwiegende Art der Sexualität sei „immer nur durch Zweie realisierbar“, weshalb „das Sexuelle vor allem beziehungsschaffend“ (WdD 275) sei. Winterstein stellt dazu fest, dass die Polarisierung normal/paradoxal keineswegs der etablierten moralistisch-sexologischen Dichotomie normal/deviant (pervers) [folgt]. [. . .] Die Grenzziehung in Doderers Aufsatz verläuft nach anderen, eigenen Gesetzen und entlang anderer Linien als der historisch etablierten und zum Teil noch zu seinen Lebzeiten strafgesetzlich sanktionierten (nicht also etwa entlang der Linie der Heteronormativität).17

Statt der Reproduktion als Ziel der ‚normalen‘ Sexualität setzt Doderer „die Apperzeption. Auf sie statt auf die Fortpflanzung ordnet er die gesamte Sexualität teleologisch hin.“18 Die in den Dämonen dargestellten sexuellen ‚Deviationen‘ werden daher nicht moralisch beurteilt, sondern dienen als besonders anschauliche Beispiele für Doderers Apperzeptionstheorie.19 Es geht weniger um die Abweichung von der Norm, als vielmehr um Präferenzen, die auch den scheinbar normkonformen Sexualitäten inhärent sind, und die Doderer beispielsweise bereits in der Suche nach einem Sexualpartner gegeben sieht: Wer etwas „nehmen will, was nur hinzugegeben werden

14 Vgl. Winterstein 2014, S. 146. 15 Winterstein 2014, S. 142. 16 Wolfgang Fleischer misst dem Essay eher biographische als philosophische Bedeutung bei. Er sei „ein erweitertes Instrumentarium, um bei der Behandlung der ihn [Doderer] persönlich berührende[n] Themen – Sexualität und totaler Staat stellten in seinem Leben die empfindlichsten Schmerzpunkte dar – jede Sichtweise vermeiden zu können, die ihm Unangenehmeres über sich enthüllt hätte.“ Fleischer 1996, S. 377. 17 Winterstein 2014, S. 133. 18 Winterstein 2014, S. 136. Ich stimme Winterstein darin zu, dass die Fortpflanzung in Doderers Werk kaum eine Rolle spielt. Der Annahme, Doderers Theorie stehe aufgrund der „Fundamentalopposition gegen sexuelle Kategorisierungen“ der Queer-Theorie nahe (Winterstein 2014, S. 137), kann ich allerdings im Hinblick auf die Geschlechterkonzeptionen im erzählerischen Werk keinesfalls folgen. 19 Luehrs-Kaiser weist darauf hin, dass „die Hospitalisierung und Pathologisierung des psychisch Devianten [. . .] Doderer fremd“ sei. Kai Luehrs-Kaiser: „Schnürlzieherei der Assoziationen“. Doderer als Schüler Freuds, Bühlers und Swobodas. In: Gassen und Landschaften. Heimito von Doderers „Dämonen“ vom Zentrum und vom Rande aus betrachtet. Hrsg. v. Gerald Sommer, Würzburg 2004 (= Schriften der Heimito von Doderer-Gesellschaft; Bd. 3), S. 279–292, hier: S. 283.

5 Sexualität und Erotisierung im Kontext der ‚(Nicht-)Apperzeption‘

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kann, tut einen fundamental verkehrten Griff in die Mechanik des Lebens“ und errichtet so einen „pseudologischen Raum“ (WdD 277). Die Apperception aber ist [. . .] ein Vorgang von gründlicher, verwandelnder Art, eine chemische Verbindung. Der Sexualakt stellt, unter diesem Winkel gesehen, einen der intensivsten Fälle von Apperception überhaupt dar, eine der mächtigsten Klammern und zugleich Brücken zwischen innen und außen, welche diese beiden analogisch beisammen oder eigentlich übereinander halten, übergreifend, wie die Teile eines Mantels, also immer bei einem Mindestmaße von Deckung; und das heißt hier nichts anderes als: Wirklichkeit. (WdD 281)

Die Analogie zum totalen Staat bzw. zu totalitären Regimen sieht Doderer darin, dass „der totale Staat [. . .] konsolidierte Apperceptions-Verweigerung: somit eine zweite Wirklichkeit“ (WdD 293) sei, wobei er auf den Nationalsozialismus nur sehr indirekt eingeht (vgl. WdD 287). Zwar behauptet Doderer nicht, dass „alle Pseudologie sexuellen Ursprungs [. . .], also gewissermaßen eine Metastase der Sexualität“ sei, und sieht „das Sexuelle nur [als] ein[en] Anwendungsfall“ (WdD 280), er stellt jedoch die zweifelhafte These auf, „der Europäer“ habe „durch lange Zeit den totalen Staat in sexueller Praxis [. . .] vorgeübt.“ (WdD 287) Andere Voraussetzungen für die Entstehung von totalitären Ideologien blendet Doderer weitgehend aus. Kerscher zufolge leistet er jedoch mit „der Analogisierung von sexueller Perversion und politischer Katastrophe [. . .] eine Art Politisierung des Sexuellen.“20 Durch die Verschiebungen des politischen Bereichs auf eine private Ebene und die darauf folgende „Revisionsbewegung“, mit der die Problematik „auf den historisch-politischen Kontext zurückgeführt [wurde,][. . .] erweist sich gerade die scheinbare Depolitisierung des Romans eigentlich als eine ins Indirekte verschobene Auseinandersetzung mit Politik und Geschichte.“21 Im zweiten Teil dieser Arbeit geht es um die Darstellung und Funktionalisierung der Sexualität und der Erotik in den Dämonen. Da anhand der sexuellen Obsessionen die Wahrnehmungsproblematik und der Verlust an Wirklichkeitsbezug verhandelt werden, beginnt Kapitel 5.1 mit der Untersuchung der ambivalenten Darstellung von Grenzerfahrungen in der sexuellen Identität und den romaninternen Lösungsstrategien. Den Ausgangspunkt bilden die sexuellen Obsessionen der Romanfiguren Jan Herzka, Achaz von Neudegg und Kajetan von Schlaggenberg. In Kapitel 5.2 steht die weibliche Sexualität und die Dämonisierung oder Sublimierung derselben im Vordergrund. Der Mythisierung von Weiblichkeit und den Überlagerungen mit Erscheinungen der ‚zweiten Wirklichkeit‘ wird anhand des Handlungsstrangs um die Figur Anna Kapsreiter und ihrem Traum-Tagebuch, das als Nachtbuch der Kaps in den Roman integriert ist, nachgegangen.

20 Kerscher 1998, S. 253. 21 Kerscher 1998, S. 253.

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5 Sexualität und Erotisierung im Kontext der ‚(Nicht-)Apperzeption‘

5.1 Sexuelle Obsessionen als ‚zweite Wirklichkeit‘ Die sexuellen Obsessionen, anhand derer in den Dämonen das Phänomen der ‚zweiten Wirklichkeit‘ besonders anschaulich dargestellt wird, werden in den folgenden Kapiteln im Hinblick auf die Funktionalisierung der Erotik und Sexualität untersucht und die Parallelen zur Funktion der Musik herausgestellt. Zunächst stehen die Sexualpräferenzen und die mit diesen starren Festlegungen auf bestimmte Muster verbundene ‚Apperzeptionsverweigerung‘, die größtenteils aus der männlichen Figurenperspektive vermittelt und von anderen männlichen Figuren reflektiert und diskutiert wird, im Vordergrund. Die sadistische Obsession und ihre Manifestationen auf der Handlungsebene des Romans werden in Kapitel 5.1.1 hinsichtlich der Metaphorik der ‚zweiten Wirklichkeit‘ und der Erotisierung von Wahrnehmungsprozessen sowie unter Rückbezug auf die motivischen Rekurrenzen zur Darstellung der Wahrnehmungsproblematik der Figur Quapp analysiert. Die Interpretation wird dabei in Kapitel 5.1.2 durch die Einbeziehung der Erzählung Die Bresche erweitert, um die Entwicklung der Figur Jan Herzka vor dem Hintergrund ihrer fiktiven Biographie zu erfassen. Anhand der Strukturierung des Handlungsstrangs um Herzka in den Dämonen durch Liedtextzitate werden die Interferenzen zwischen der Erotisierung und den musikalisierenden Elementen aufgezeigt und ebenfalls durch die Musikthematisierungen in der Bresche in ihren intertextuellen Bezügen dargestellt. In Kapitel 5.1.3 steht das fiktive Manuskript über die zur voyeuristischen Befriedigung des mittelalterlichen Burgherrn Achaz von Neudegg inszenierten Hexenprozesse im Fokus. Dieses in frühneuhochdeutscher Sprache verfasste Schriftstück findet der Historiker René Stangeler auf der Burg Neudegg, als er die Bibliothek im Auftrag Herzkas, des Erbens der Burg, hinsichtlich der speziellen Interessen seines Auftraggebers auf Unterlagen zu Hexenprozessen durchsucht. Zunächst werden die Parallelen zwischen dem Chronisten Ruodlieb von der Vläntsch, der als beteiligter Beobachter die Exzesse in den Kavernen der Burg schildert, und dem Chronisten Geyrenhoff aufgezeigt, die Teil der vielfältigen Spiegelbeziehungen zwischen dem Manuskript und anderen Erzählsträngen des Roman sind. Daran anschließend werden die in die Vergangenheit projizierten Paradigmata der ‚zweiten Wirklichkeit‘ analysiert, die im Fall des Achaz als dämonische Bedrohung erscheint, welche das Individuum heimsucht. Trotz der Verschiebung der Thematik in eine zeitliche und räumliche Entfernung werden einige Bezugspunkte zu politischer ‚Apperzeptionsverweigerung‘ an dem Beispiel der fingierten Hexenprozesse sowie der Motivik und der Raumsemantik um die Burg Neudegg besonders deutlich. Auf der sprachlich-terminologischen Ebene ist dagegen die fetischistische Fixierung Kajetan von Schlaggenbergs auf ‚Dicke Damen‘ für die Bedeutung der Erotik innerhalb der ‚zweiten Wirklichkeit‘ aufschlussreich. Diese Obsession wird in Kapitel 5.1.4 analysiert und im Kontext der antisemitischen Motivation auf der Figurenebene sowie der latent antisemitischen Stereotype in der Darstellung eines

5.1 Sexuelle Obsessionen als ‚zweite Wirklichkeit‘

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Zeitungskonzerns und der Kaffeehäuser interpretiert. Die Überlagerungen zwischen Misogynie und Antisemitismus werden einerseits an Kajetans Konzept der „allerweiblichste[n] Frau“ (DD 257) sichtbar, deren Bild er in Opposition zu seiner jüdischen ExEhefrau in seiner ‚Dicke-Damen-Rede‘ konstruiert und andererseits an seiner Chronique scandaleuse, die ausschnittsweise und mit Herausgeberkommentaren von Geyrenhoff versehen, in den Roman integriert ist und die Ergebnisse seiner systematischen Suche nach der idealen ‚Dicken Dame‘ dokumentiert.22

5.1.1 Jan Herzkas sadistische Phantasien und die „Spiegelung[en] seiner tiefen Abgeschlossenheit“ Es ist ein relativ eigenständiger Erzählstrang, der die sadistischen Obsessionen Jan Herzkas, sein Erbe einer Burg und damit zusammenhängend den Fund eines mittelalterlichen Manuskripts in der Bibliothek der Burg Neudegg, behandelt. Die sich daran zeigende exemplarische Darstellung der ‚zweiten Wirklichkeit‘ anhand der Sexualität und die damit verbundenen „Spiegelung[en] seiner tiefen Abgeschlossenheit“ (DD 1029) auf mehreren Ebenen des Textes wurden bereits mehrfach in der Sekundärliteratur aufgegriffen.23 Unter dem Aspekt der Geschlechterdifferenzen in der Entwicklung der Figuren wurden jedoch einige interessante Fragen an den Themenkomplex Sadomasochismus und ‚zweite Wirklichkeit‘ in den Dämonen bisher vernachlässigt und die weiblichen Figuren weitgehend marginalisiert.24 Aufgrund der relativ guten Forschungslage zu Herzkas Obsessionen als Exempel für die ‚zweite Wirklichkeit‘, lege ich den Fokus auf die konträren Entwicklungen männlicher und weiblicher Figuren in Bezug auf die ‚Menschwerdung‘ sowie die Analogien und Differenzen zwischen Herzkas Befangenheiten und den Zwangsvorstellungen der Figuren Mary K. und Quapp. Durch die Untersuchung der motivisch-semantischen Interferenzen der Erzählstränge werden die Analogien der Funktion von Musik und Erotik innerhalb der ‚zweiten Wirklichkeit‘ sichtbar. Die Perspektive auf die sadistische Sexualpräferenzstö-

22 Aus dem Kontext geht hervor, dass es sich bei den von Kajetan gesuchten ‚Dicken Damen‘ größtenteils ebenfalls um jüdische Frauen handelt. Siehe Kap. 5.1.4. 23 Besonders aufschlussreich hierzu ist Hubert Kerschers Arbeit zu den Formen der grotesken Bewusstseinsverengung im Werk Heimito von Doderers, in der er auch auf die sexuellen Obsessionen in den Dämonen eingeht. Zum Erzählkomplex um Jan Herzka siehe Kerscher 1998, S. 210–227. Interessante Ansatzpunkte zur Problematik der Figur innerhalb der Thematik der ‚zweiten Wirklichkeit‘ finden sich bereits bei Weber 1963, S. 190–209. Im Folgenden werden einige Aspekte, die bereits hinlänglich erforscht sind, nur gestreift und auf die entsprechenden Forschungsbeiträge verwiesen. 24 So nennt Dietrich Weber als analoge Fälle von ‚zweiter Wirklichkeit‘ in den Dämonen Achaz von Neudegg, Kajetan von Schlaggenberg, Körger, Eulenfeld und Pinter (vgl. Weber 1963, S. 203) und übersieht damit den Fall Quapp mit seinen Parallelen zu Herzka, auch wenn er Quapp an anderer Stelle als eine der vielen Figuren aufzählt, anhand derer man den „Zusammenstoß zweier Wirklichkeiten“ (Weber 1963, S. 189) erkennen könne.

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5 Sexualität und Erotisierung im Kontext der ‚(Nicht-)Apperzeption‘

rung und das damit verbundene Narrativ männlicher Identitätsfindung wird im Folgenden zudem durch die Einbeziehung der Erzählung Die Bresche. Ein Akt in vierundzwanzig Stunden (1924) erweitert, in der Doderer einen sadistischen Gewaltausbruch der Figur Jan Herzka schildert, auf den in den Dämonen Bezug genommen wird. Der Zusammenhang zwischen den Figuren Quapp und Herzka, der sich schon in der verwandtschaftlichen Beziehung der beiden andeutet, wurde in der Sekundärliteratur bisher kaum berücksichtigt. Über das alte Adelsgeschlecht der Neudeggs ist Jan Herzka entfernt mit Charlotte von Schlaggenberg (Quapp) verwandt, wodurch die Analogien in der die beiden Figuren kennzeichnenden Metaphorik durch eine ‚reale‘ Verwandtschaft ergänzt wird. Die Figur Jan Herzka wird erst spät in den Roman eingeführt. Bei der Tischtennis-Gesellschaft der ‚Unsrigen‘ in der Wohnung der Familie Siebenschein wird er zum ersten Mal erwähnt. Herzkas Gesicht wird als äußerst ambivalent beschrieben. Die „Hübschheit“ (DD 436) scheint nur eine Unterlage zu bieten, auf die ganz anderes Schicht’ um Schichte gelegt worden war: man konnte im ersten Augenblick glauben, dieses Antlitz sei bedeutend, im nächsten, es sei exotisch, im dritten, es sei schmierig, und im vierten, es sei jedenfalls höchst anziehend. (DD 436)

Die sich überlagernden Schichten rekurrieren auf Kajetans Vorstellung von Quapps Gesicht, bei dessen erster Beschreibung sich die „entgegengesetzte[n] Bilder ihres Antlitzes und Wesens“ einander annähern, um dann „wie bei übereinander kopierten Photographien“ (DD 164) noch etwas durchzuscheinen. Dadurch verweisen die Charakterisierungen der beiden Figuren schon bei ihrem ersten Auftreten aufeinander. In der Beschreibung der Burg Neudegg, die den genealogischen Schnittpunkt der beiden Figuren darstellt, wird dieses Motiv der ambivalenten Physiognomie bzw. des irreführenden ersten optischen Eindrucks aufgegriffen, das sich bei Quapp als plötzlich durchscheinendes „fremdes Gesicht“ (DD 869) und ihre „Doppelgesichtigkeit“ (DD 165) äußert.25 Den Historiker René Stangeler, den Herzka zur Durchsicht der Bibliothek auf die geerbte Burg mitnimmt, interessieren die unterschiedlichen Schichten in der Bausubstanz der Burg, die sich durch die Jahrhunderte übereinander gelagert haben.26

25 Siehe auch Kap. 4.1.2. 26 Es fehlt der Burg an „barocke[r] Gestaltung von Portal und Fassade; vielmehr herrschte jene Mischung aus Resten heimischer Gotik und einzelnen Ziergliedern einer nordischen Renaissance, welche jene Zeit mitunter in Österreich zeigt – übrigens auch zu Wien – und die ein Kunsthistoriker der Wiener Schule als ‚Charakter, dessen Charakterlosigkeit das wesentlichste Merkmal ist‘, bezeichnet hat. Jedenfalls war dieses Neudegg – das ja keine in ihrer mittelalterlichen Form erstarrte Ruine, sondern ein bis auf den heutigen Tag lebendes und bewohntes Haus darstellte – eine seltene Ausnahme unter den Herrensitzen dieses südlichen Landes, wo die reiche Formenwelt des 17. und 18. Jahrhunderts fast überall das Ältere überspannen, verdrängt und ersetzt hat“ (DD 710, Hervorhebung von M.B.). In der Beschreibung von Quapps und Herzkas Physiognomie sowie der Burg Neudegg zeigt sich eine intertextuelle Bezugnahme auf Robert Musil, der die aus verschiedenen Jahrhunderten

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Das erste Bild der Burg, „eine Photographie, welche Stangeler gesehen hatte, erwies sich als nicht charakteristisch“ (DD 708). Und auch als er die Anlage zum ersten Mal bei seiner Anreise erblickt, zeigt sich erst bei dem zweiten von einer anderen Seite auf die Burg geworfenen Blick, ihr wahres Gesicht: „In jedem Sinne: sie zeigte ihr Gesicht“ (DD 708). Die anthropomorphisierende Beschreibung setzt sich auch in dem „Eindruck einer hochgezogenen Schulter“ (DD 708) fort, der durch einen niedrigen Turm auf der einen Seite entsteht. In der Charakteristik der Burg wiederholt sich der Eindruck der Vielschichtigkeit und der damit einhergehenden negativ konnotierten äußeren und inneren Ambiguität der Nachfahren des Neudegg-Geschlechts, an denen sich die Problematik des modernen Menschen zeigt (vgl. DD 1021 f.). Diese Charakteristik findet sich in extremer Form in der Beschreibung Claire Charagiels, deren rückwärtige Ansicht etwas ganz anderes verspricht, als das, was das Gesicht dann offenbart (vgl. DD 114).27 In dieser verstorbenen Tochter des letzten Burgherrn Achaz von Neudegg, zeigt sich die Wirkung eines ‚zersetzenden Erbguts‘ (vgl. DD 715), das sie grundlegend von ihrem Vater unterscheidet. Das Bild ihres Vaters kontrastiert dagegen mit seiner Einfachheit und durch eine „Physiognomie [. . .], die nichts zu verstecken hatte – weil sie gar nichts verstecken wollte“ (DD 715), die sich in den Figuren Charagiel, Quapp, Jan Herzka und in der Burg offenbarende Tendenz zur Vorspiegelung falscher Tatsachen. Eine Anmerkung zur Figur Herzka, die sich in den Dämonen der Ostmark findet, verweist auf die hier aufgezeigte Verbindung zwischen Architektur und Physiognomie. Dort tritt Kajetan von Schlaggenberg als Autor von Doderers Erzählung Die Bresche auf. Über seine Figur Herzka heißt es bei der Tischtennis-Gesellschaft: „So also sahen Schlaggenbergs frühere Romanfiguren aus, nämlich von der Vorderfront her betrachtet.“ [Hervorhebung von M.B.]28 In den Dämonen ist es René, der zu einem späteren Zeitpunkt über das irritierende Moment in Herzkas äußerer Erscheinung nachdenkt: „[N]un erschien ihm diese Herzka’sche Fassade doch wieder nicht so ganz und gar normal. Im Rückblick empfand er etwas Unheimliches darin“ (DD 700, Hervorhebung von M.B.).29

zusammengesetzte Architektur des „Jagd- oder Liebesschlößchen[s]“, in dem Ulrich – der ‚Mann ohne Eigenschaften‘ – lebt, folgendermaßen beschreibt: „[Das] Ganze hatte also einen etwas verwackelten Sinn, so wie übereinander photographierte Bilder [. . .].“ Robert Musil: Mann ohne Eigenschaften I: Erstes und Zweites Buch [1930–1952]. Hrsg. v. Adolf Frisé, Hamburg 32016, S. 12. 27 Siehe auch Kap. 4.1.4. 28 Doderer: „Roman = Studien III“, pag. 660. Zit. nach Sommer 2004a, S. 226. 29 In Doderers Werken spielen die Beschreibung der Physiognomie seiner Figuren, aber auch allgemeine Erörterungen über Physiognomik eine große Rolle. Dabei sind antisemitische Anklänge keine Seltenheit. In der Charakterisierung von Mary K.s Ehemann zu Beginn der Strudlhofstiege finden sich die oben beschriebenen Elemente des „Disparate[n]“ und der „Dissonanz“ (DS 17) in der Physiognomie ebenfalls in Verbindung mit architektonischen Metaphern. Oskars Gesicht sei „der Schauund Bauplatz höchst unverträglicher Materialien, die sich schon in den Ahnen nicht haben einigen

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In einem Gespräch mit René Stangeler – während des oben erwähnten Zusammentreffens in der Wohnung der Siebenscheins – wirkt Jan Herzkas übersteigertes Interesse an den historischen Hexenprozessen nach einer Weile befremdend auf die Anwesenden (vgl. DD 444). Vor allem die Vorstellung, dass die als Hexen verfolgten Frauen oftmals jung und schön waren, scheint fesselnd auf ihn zu wirken. Seine sadistischen Neigungen, die bereits in der Erzählung Die Bresche zentral waren, brechen ausgelöst durch dieses Gespräch wieder hervor. Die Ereignisse dieser frühen Erzählung Doderers sind in Herzkas Biographie fünf Jahre zuvor verortet und werden in den Dämonen in Form von Herzkas Erinnerungen daran zusammengefasst (vgl. DD 683). Die relative Geschlossenheit der Herzka-Handlung30 zeigt sich bereits daran, dass sie sich größtenteils in den aufeinanderfolgenden Kapiteln Die Falltür und Die Kavernen von Neudegg abspielt und durch das daran anschließende Kapitel Dort Unten erweitert wird, in dem das fiktive mittelalterliche Manuskript von René vorgelesen wird. Somit ist die Herzka-Episode ein Beispiel für Doderers ‚Fenster-Technik‘,31 die eine „Ausweitung in Raum und Zeit“ mit sich bringt, wobei das Hauptthema nicht nur innerhalb einer Einfügung variiert wird, sondern zu einer „Neubelebung des Ganzen“32 führen sollte. Durch das erneute Wiederaufgreifen der Figur Herzka wird sowohl ein autointertextueller Bezug zu der Erzählung Die Bresche hergestellt, als auch durch die Einfügung des fiktiven Manuskripts das Thema in die Vergangenheit projiziert und zudem der Handlungsraum auf die Burg Neudegg ausgeweitet.

lassen, jetzt aber in Zerknall und Zerfall geraten sind, wie nach einer Explosion“ (DS 17). Diese Art des Gesichts finde sich besonders „bei jüdischen Männern“ (DS 17) und es sehe aus, „als trüge dieser Mensch an einer auferlegten Buße für ihm unbekannte Schuld“ (DS 17). Dieses disparate Nebeneinander von unvereinbaren Gegensätzen, das sich in einigen Gesichtern zeigt, ist ein Element der paradigmatischen Opposition von fremd und eigen, welches besonders die Dämonen prägt, das sich aber auch in anderen Werken Doderers wiederfindet. Edit Király hat anhand der Entstehungsgeschichte des Romans aufgezeigt, wie die „[Gruppenunterschiede] in ein totalisierendes System von Merkmalen eingebettet sind, die eine ‚soziale‘ Unterscheidung zu einer ästhetischen und metaphysischen umfunktionieren“ und so ein System von Dichotomien schaffen, in dem die „Prinzipien, das Nebeneinander und die Einheit, [. . .] die diskursive Ordnung des Romanuniversums [definieren].“ Király 2009, S. 39. Doderers Bemühungen zum Trotz, die ideologische Ausrichtung der Frühfassung des Romans umzudeuten, scheint dieses bipolare System doch an vielen Punkten des Textes noch durch. Christoph Deupmann erläutert aufschlussreich die „Physiognomik als Erzählverfahren“ und als „Thema innerhalb der Diegese“ in Bezug auf Doderers Roman Die Merowinger oder Die totale Familie. Deupmann 2010, S. 124. Zur unmittelbaren Verknüpfung von Physiognomik und „faschistischen Rassenvorstellungen“ siehe Schröder 1976, S. 301–370, hier: S. 352. 30 Neben den aufeinanderfolgenden Kapiteln, die ohne Unterbrechung die Herzka-Handlung fortsetzen, stellt Hauer als eine weitere Besonderheit heraus, dass Herzka an keinem anderen Erzählstrang aktiv beteiligt ist. Vgl. Hauer 1975, S. 150. 31 Vgl. Hesson 1982, S. 60. 32 8.7.1936, Commentarii 1935/36. Zit. nach Hesson 1982, S. 60.

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Besonders deutlich zeigt sich an diesem Handlungsstrang der Zusammenhang zwischen physischer und moralischer Tiefe, der in den Dämonen immer wieder hergestellt wird und die Bedrohung der Gesellschaft und des Individuums aus den Tiefen als „evil lurking in the depth of society“33 darstellt. Nach der kurzen Einführung der Figur Herzka in den Roman tritt er erst mehr als 200 Seiten später wieder in Erscheinung, wobei die nun folgenden Ereignisse chronologisch ohne Unterbrechung am Tag nach dem Hexen-Gespräch einsetzen. Der abrupte Einsatz des neuen Erzählstrangs spielt ironisch mit der Diskrepanz zwischen Erzählzeit und erzählter Zeit, was sich an dem einleitenden Satz zeigt: „Plötzlich saß dem Jan Herzka ein Fräulein Agnes Gebaur im Pelz“ (DD 677). „Die Plötzlichkeit kommt überdies stilistisch zum Ausdruck: Herzkas innere Vorgänge werden kurzatmig in erlebter Rede ausgestoßen.“34 Der „[unbestreitbare] Zusammenhang“ (DD 678) zwischen seiner erstmaligen Wahrnehmung dieser Angestellten in seinem Betrieb und dem Gespräch über Hexen am Tag zuvor, wird ausgeweitet auf das schicksalhafte Erbe der Burg Neudegg, von dem Herzka noch am selben Vormittag erfährt. So entsteht „eine widersinnige Einheit aus diesem Mädchen, aus jenem alten Schloß, und nicht zuletzt aus – dem Abend von vorgestern, bei Siebenscheins . . . “ (DD 700).35 Herzka gerät daraufhin in eine „Rinne“ (DD 700), d. h. er bewegt sich in eine vorgezeichnete Richtung, so dass seine Handlungen und Gedanken zwanghaften Mustern folgen und er sie nicht mehr frei lenken kann: „Es war über ihn hereingebrochen“ (DD 682), „die Umstände [waren] über ihm eingeschnappt, wie eine Falltür“ (DD 683). Erst das Festhalten an dem zunächst spontanen Gefühl der Befangenheit lässt Herzkas Zustand pathologisch werden.36 Statt sich Agnes Gebaur in der Wirklichkeit zu nähern, hält Herzka an seinem inneren Bild von ihr fest, das keineswegs der Realität entspricht. Der auktoriale Erzähler weist durch ironische Kommentare und in Parenthesen eingefügte Frage- und Ausrufezeichen darauf hin, wie Herzka sich die Wirklichkeit entsprechend seiner sexuellen Wunschvorstellungen zurechtbiegt.37 Aus dem „slawischen Typus“ (DD 680), den der Erzähler Agnes zuschreibt, macht Herzka

33 Hesson 1982, S. 63. 34 Weber 1963, S. 198. 35 Siehe auch: „Es stand im Zusammenhang mit der Gebaur: das war ihm zu innerst doch evident. Es stand in Zusammenhang mit ihr, ganz ebenso wie alles vom Samstag-Abend bei Siebenscheins“ (DD 679). Zur sukzessiven Erweiterung dieser Zusammenhänge vgl. auch Hauer 1975, S. 169 ff. 36 Vgl. Weber 1963, S. 198. Siehe auch REP 145: „Keine Befangenheit ist pathologisch, wenn sie spontan und unikal auftritt [. . .]“. 37 „Die Art und Weise, wie Herzka der Mechanik einer zweiten Wirklichkeit anheimfällt, ist nicht nur als Variation auf den Prototyp Schlaggenberg zu lesen, sondern veranschaulicht vor allem die dort gebrauchte Begrifflichkeit und Metaphorik. Schlaggenbergs Einsicht, daß Wunschvorstellungen (‚Interventionen‘) das jeweils Wahrgenommene ‚verzerren‘ und den Betroffenen ‚nicht mehr klar‘ sehen lassen [vgl. DD 229], bestätigt sich in Jan Herzkas subjektiv interpretierender Wahrnehmung

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in seiner Vorstellung ein Madonnengesicht und „interpretiert die Neigung ihres Kopfes, die Blässe ihrer Haut und die über der Brust gekreuzten Arme als Märtyrerinnenhaltung, aus ihrem Kopftuch macht er einen Witwenschleier.“38 Trotz des verstörenden Erlebnisses mit Magdalena Güllich, das in der Bresche geschildert wird, will Herzka in dem Gefühl der „angenehme[n] Fieberhitze“ (DD 687) verharren und bedient sich des gleichen Mittels, das schon fünf Jahre zuvor seine sadistische Phantasie so gesteigert hatte, dass er sie in der Wirklichkeit umgesetzt hatte. Er sieht sich in einem Bildband Kupferstiche von Märtyrerinnen an und beschwört damit sein Bild von Agnes herauf: „Sie war da. Er hatte sie gerufen. Nun erst erkannte er sie richtig wieder, die Agnes, die Agnes Gebaur, die tugendhafte Witwe (?!). Sie war von ihm aus dem Buche hervorgerufen worden“ (DD 704). Der Name Agnes, der ‚die Reine‘ bedeutet, fügt sich in Herzkas Identifikation seiner Angestellten mit der Märtyrerin aus dem ‚Passional‘ ein, da er an Darstellungen der Märtyrerin Agnes von Rom erinnert.39 Sein obsessives Verlangen bezieht sich demnach nicht auf die ‚eigentliche‘ Agnes, sondern auf eine Abbildung und Imagination von ihr: „Agnes blieb nur eine Art Bild-Zeichen für’s ganze, eine Hiero-Glyphe könnte man sagen“ (DD 1028). Diese Reduktion auf eine reine Projektionsfläche männlichen Begehrens ist in den Dämonen symptomatisch für die Darstellung weiblicher Figuren. Einerseits wird diese Perspektive als eingeschränkte Wahrnehmung im Rahmen ‚zweiter Wirklichkeiten‘ textintern kritisiert und reflektiert, andererseits bleibt sie aber in den meisten Fällen alternativlos stehen bzw. wird auch von dem zwischenzeitlich eingeschalteten auktorialen Erzähler reproduziert.40 Während also die stereotypisierte Darstellung von Frauen im Text vorherrschend ist, wird die eingeschränkte Wahrnehmungsfähigkeit der Figuren als „Lebensschwäche“ kritisiert, und „das Verfallensein an ein Bild [scheint] den Musterfall derselben darzustellen.“41 Ein weiteres Beispiel dafür findet sich in Dwight Williams’ durch ein Bild ausgelöster Besessenheit von seiner selbst konstruierten Vorstellung von Mary K.. Durch die Fixierung auf ein Phantasiegebilde wird der Wahrnehmung in beiden Fällen die Tiefendimension geraubt, was sich in verzerrten und eingeschränkten Sinneswahrnehmungen ausdrückt. Herzka nimmt seine Umwelt nur noch eingeschränkt wahr und seine Sinne sind nach innen auf seine Phantasien gerichtet. der Agnes Gebaur.“ Kerscher 1998, S. 212. Zu der „stark relativierende[n] Erzählerkritik“ siehe auch Kerscher 1998, S. 214. 38 Marlies Michaelis: Vorstellungen von Hexen und Dämonen in Doderers Roman ‚Die Dämonen‘ vor dem Hintergrund des ‚Hexenhammers‘. In: „Excentrische Einsätze“. Studien und Essays zum Werk Heimito von Doderers. Hrsg. v. Kai Luehrs, Berlin/New York 1998, S. 175–191, hier: S. 187. 39 Vgl. LCI, Bd. 5, Sp. 58–63. Martin Voracek weist zudem auf eine Verbindung zu der historischen Figur der Agnes Bernauer hin. Siehe Voracek 1992, S. 270. 40 Siehe dazu Kap. 5.2.1. 41 Armin Weber: Was ist Wirklichkeit? Studien zu Heimito von Doderers Romanwerk. Berlin 2013 (= Schriftenreihe der Stipendiatinnen und Stipendiaten der Friedrich-Ebert-Stiftung; Bd. 41), S. 318.

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Er will „nichts sehen und hören: sondern die Gebaur sehen“ (DD 682). Ebenso kann Dwight beim Gedanken an Mary bestimmte Frequenzen der ihn umgebenden Geräusche nicht mehr hören. (vgl. DD 31). In beiden Fällen wird durch den Kontakt zu der echten Frau die Illusion zerstört.42 Ob dabei in Herzkas Fall die „zweite Wirklichkeit als das System seiner ‚Vorlieben‘ [. . .] durch die wirkliche Liebe aufgehoben“43 wird, ist allerdings fragwürdig und wird am Ende dieses Kapitel näher zu beleuchten sein. Die Kapitel Die Falltür und Die Kavernen von Neudegg sind von den wiederkehrenden Phantasien Herzkas geprägt, in denen Agnes Gebaur von Folterknechten entkleidet und gefesselt wird. Strukturell zeigt sich die fehlende Distanz im Wechsel von Phantasie und Wirklichkeit dadurch, dass „diese Visionen [. . .] wie reale Vorgänge erzählt [werden]“.44 Diese Phantasien und die Erinnerung an die Vergewaltigung Magdalena Güllichs werden mit insgesamt sechsmal zitierten Versen aus Schillers Wilhelm Tell kombiniert.45 Als Herzka das Zitat im Zusammenhang mit den sich überschlagenden Ereignissen des 16. Mai 1927 „grotesker Weise“ (DD 679) zum ersten Mal in den Sinn kommt, kommentiert er es in Gedanken an seine eigene Lage: ‚Rasch tritt der Tod den Menschen an, Es ist ihm keine Frist gegeben – ‘ Und er fügte hinzu: ‚Genau das Gleiche gilt vom Leben‘. (DD 679)

Der erste Teil des Zitates, das im Wilhelm Tell von den ‚barmherzigen Brüdern‘ gesungen wird und somit in einen musikalischen Kontext eingebettet ist,46 wird im Original fortgesetzt mit den Versen: „Es stürzt ihn mitten in der Bahn, es reißt ihn fort vom vollen Leben.“47 Die Variation des Zitates spiegelt die Ambivalenz der Gefühle Herzkas, der seinen Phantasien ausgeliefert ist und die Bedrohlichkeit seines Bewusstseinszustandes spürt, zugleich aber wie beflügelt ist von den explosionsartigen Ereignissen in seinem Leben und den damit einhergehenden emphatischen Gefühlsregungen. Die nervöse Belebung, die Herzka durch die erregenden Phantasien verspürt, wird durch das in dem Zitat zentrale Todesmoment und die folgenden Metaphern der Mortifikation unterlaufen. Das leitmotivisch wiederholte Zitat verweist somit auf den metaphorischen Tod Jan Herzkas, der in seiner selbsterdachten ‚zweiten Wirklichkeit‘ gefangen ist. Das überraschend eintretende Todesereignis

42 Vgl. Kap. 4.1.1. 43 Weber 1963, S. 202. 44 Weber 1963, S. 191. 45 Vgl. DD 679, 682, 687, 689, 702, 738. 46 Diese intermediale Bezugnahme auf Musik lässt sich mit Werner Wolf als ‚Evokation von Vokalmusik durch assoziative Zitate‘ bezeichnen. Vgl. Wolf 1999, S. 67–69. 47 Friedrich Schiller: Wilhelm Tell [1804]. In: Schillers Werke. Nationalausgabe. Hrsg. v. Norbert Oellers, Bd. 10: Die Braut von Messina. Wilhelm Tell. Die Huldigung der Künste. Hrsg. v. Siegfried Seidel, Weimar 1980, S. 127–277, hier: S. 255.

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wird mit dem Hereinbrechen der Obsession und damit der ‚zweiten Wirklichkeit‘ parallelisiert. Nach einer intensiven Folterphantasie heißt es: „Es war über ihn hereingebrochen“ (DD 682). Darauf folgt die Wiederholung des Schiller-Zitates. An anderer Stelle wird das Zitat – „Rasch tritt der Tod den Menschen an“ – um die Formulierung „es muss nicht immer nur der leibliche sein“ ergänzt (DD 738). Kerscher hält deshalb fest: „In Bezug auf Herzkas zweite Wirklichkeit wird also die Schillerzeile so interpretiert, daß auch ein zum körperlichen Tod analoger, nämlich seelischer Exitus denkbar ist.“48 Jedes der Schiller-Zitate steht in direkter Nähe zu einer Folterphantasie, die ihm vorausgeht oder folgt. Dadurch werden die sadistischen Phantasien, mit denen Herzka sich von der ihn umgebenden Realität zurückzieht, in die Todesmetaphorik, mit der jede Ausformung der ‚zweiten Wirklichkeit‘ in den Dämonen gekennzeichnet ist, eingebunden. Die Verknüpfung von Sexualität und Tod im Eros-Thanatos-Motiv verweist auf die Lebensfeindlichkeit der ‚ideologisierten‘ Sexualität, die sich am Beispiel des mittelalterlichen Burgherrn Achaz von Neudegg besonders deutlich zeigt: Er empfindet seinen Körper als gespalten in eine belebte und eine unbelebte Hälfte, die erst nach der Befreiung von der sexuellen Obsession wieder zu einem Ganzen werden: „Undt mir ist, als wuerdt ich aus zweien halbeten mannern wyder ain ainiger gantzer; undt war von den halbeten der ain von holtz“ (DD 805).49 Typographisch dargestellt wird die Todesmotivik als Herzka mit René die Kavernen der Burg inspiziert und dabei die Schlitze in der Wand findet, durch die Achaz den Folterszenen zugesehen hat. Diese „wie ein auf den Kopf gestelltes T“ (DD 748) geformten Schlitze symbolisieren die Verengung des Gesichtsfeldes und damit die ‚Apperzeptionsverweigerung‘ und lassen sich als Abbreviatur des Wortes ‚Tod‘ und somit als „Chiffre für den ‚anderen‘, symbolischen Tod Herzkas [deuten], zumal ja das Todesmotiv durch das Tell-Zitat im Vorfeld leitmotivisch aufgebaut wurde.“50 Auf die Signifikanz des Zeichens wird zudem durch eine Frage Herzkas hingewiesen: „‚Warum hat das eigentlich diese Form?‘ sagte Herzka zu Stangeler und zeichnete das auf dem Kopfe stehende T (⊥) in die Luft.“ (DD 750) Durch die typographische Spiegelung im Text, die durch die ‚Luftzeichnung‘ noch einmal verdoppelt wird, entsteht ein Symbol für die ‚zweite Wirklichkeit‘, die „neben der ersten, faktischen, errichtet“ (DD 1021) wird, d. h. als eine verzerrte bzw. auf den Kopf gestellte Spiegelung der Wirklichkeit. Im Zusammenhang mit dieser Symbolik erscheint die Assoziation zu den im Nationalsozialismus verwendeten sogenannten ‚Lebens- und Todes-Runen‘ naheliegend: Die ‚Todesrune‘ ( ᛣ ) stellt eine Inversion der ‚Lebensrune‘ ( ᛉ ) dar und ihre Form weist zudem eine Ähnlichkeit mit dem T und seiner Inversion auf. Auch die Bedeutung des Symbols in der mathematischen

48 Kerscher 1998, S. 215. 49 Siehe dazu Kap. 5.1.3. 50 Kerscher 1998, S. 224.

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Logik fügt sich aufschlussreich in die Interpretation ein: Als Wahrheitswert steht das T in der Aussagenlogik für die Wahrheit einer Aussage (das Verum) bzw. als auf dem Kopf stehendes T für die Unwahrheit (das Falsum).51 In seinem Essay Sexualität und totaler Staat stellt Doderer fest, dass in der ‚zweiten Wirklichkeit‘ alles vorhanden ist, was auch in der ‚ersten Wirklichkeit‘ vorhanden ist, „nur unter einem anderen Vorzeichen, einem Minus [. . .]“ (WdD 279). Die Formulierung ‚auf dem Kopf stehend‘ klingt bereits im Vorfeld der Burgbesichtigung zweimal an. In der ersten Erwähnung wird Herzka selbst in die Position des metaphorisch penetrierten ‚Schlitzes‘ bzw. eines Schlüssellochs gesetzt: Jan empfand den René Stangeler jetzt wie einen Schlüssel, der in ihn eindringen sollte, um ein Schloß zu öffnen: ja geradezu sein Leben aufzusperren. Und so schob er jenem eine Funktion zu, die er selbst in dem Dasein Stangelers weitgehend erfüllen sollte, wie sich noch zeigen wird. Wir orten sowohl uns selbst, als auch den anderen Menschen, mitunter in einer geradezu auf den Kopf gestellten Weise. (DD 707, Hervorhebungen von M.B.)

Die zweite Textstelle, in der Herzka dem Kastellan Mitteilungen in Bezug auf das Erbe der Burg macht, verweist auf die pathologische Konnotation der Inversionsmotivik: Es gibt Leute, die müssen immer alles auf den Kopf stellen. Alle Vierteljahre werden sämtliche Möbelstücke in sämtlichen Zimmern umgestellt oder vertauscht. Das muß eine Krankheit sein. Ich meine wirklich, solche Menschen liegen schlecht im Leben, und so müssen sie sich von Zeit zu Zeit umbetten wie die Kranken. (DD 716, Hervorhebungen von M.B.)

Die senkrecht aufeinander stehenden Schlitze, deren Form sich daraus erklärt, dass sie neben den voyeuristischen Zwecken, auch zum hindurchschießen mit einer Armbrust angelegt sind, also zum potenziellen Töten, werden zudem zu einem Bindeglied zwischen den sexuellen Obsessionen und politischer Ideologie:52 Im Zusammenhang mit politischen Gesprächen im Burgenland wird die „politische Gesinnung“ als „Sicht auf die Welt durch einen verquer ausgeschnittenen Schlitz“ (DD 555, Hervorhebung von M.B.) bezeichnet.53 Diese auf politische Ideologien bezogene Aussage wiederholt Kajetan zum Teil wörtlich in Bezug auf seine sexuellen Präferenzen, als er die Auswirkung der ‚Apperzeptionsverweigerung‘ im geschlechtlichen Bereich beschreibt: [B]ei wem sich dieses Fenster trübt, bei dem werden auch alle anderen bald den grauen Star kriegen, und er wird in allen Sachen nur mehr durch den verquer ausgeschnittenen Schlitz irgendwelcher Programme blicken, irgendwas vorwegnehmend, was sein soll. Am Ende nennt er’s ein Ideal [. . .]. (DD 1083, Hervorhebung von M.B.)

51 Vgl. Ulf Friedrichsdorf: Einführung in die klassische und intensionale Logik. Wiesbaden 1992, S. 19. 52 Zur motivischen Verknüpfung der Schlitz-Metapher mit Kriminalität und Politik siehe Kerscher 1998, S. 297 f. 53 In Sexualität und totaler Staat erläutert Doderer den Zusammenhang der eingeschränkten Apperzeptionsfähigkeit am Beispiel der alten Römer und ihres „gänzlich anders geschnittenen“ „Sehschlitz[es]“ (WdD 292).

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Zieht man eine Aussage Renés hinzu, mit der er an anderer Stelle „jene starre und eingeschlossene [zweite Wirklichkeit] des Herzka und des Achaz, und aller jener auch, die genau wissen, was und wie es sein soll, und auf wen man zu schießen hat, und warum“ (DD 1252), miteinander verknüpft, dann wird die Parallele noch deutlicher: Im mittelalterlichen Manuskript wird beschrieben, wie Achaz von seiner erhöhten Position durch die Schlitze auf seine Knechte schießt, um eine Vergewaltigung während der ‚Hexen-Befragung‘ zu verhindern (vgl. DD 788). Ebenso wird auch bei den Morden von Schattendorf im Burgenland, die zu den Unruhen am 15. Juli 1927 führten, aus einer räumlich ähnlichen Lage auf Menschen geschossen: „es geschah aus einem im Oberstock gelegenen Zimmer, dessen Fenster vergittert waren – “ (DD 622) Während das erste ‚Herzka-Kapitel‘ durch die Folter-Phantasien und die damit verknüpfte leitmotivische Wiederholung des Schiller-Zitates strukturiert ist, tritt an diese Stelle im Kapitel Die Kavernen von Neudegg ein Liedtext-Zitat, das mehrfach wiederholt und ironisch von seinem religiös-metaphysischen Gehalt losgelöst wird. Herzka erfährt von dem Kastellan Mörbischer, dass der Komponist Slobedeff 54 kurz vor seinem Tod in der Kapelle der Burg Neudegg „Veränderungen von ‚Wohin soll ich mich wenden‘“ (DD 719) gespielt hat. Zusammen mit dem Text wird auch die Melodie dieses aus Schuberts Deutsche Messe (1826) bekannten Kirchenliedes durch die Angabe des Titels, der mit dem Liedbeginn übereinstimmt, evoziert. Durch wiederholtes Zitieren dieser Phrase findet eine ‚Evokation von Vokalmusik durch assoziative Zitate‘55 statt, so dass die jeweilige Textstelle musikalisiert wird.56 In der zweiten Textstelle, in der das Kirchenlied genannt wird, ist es René, der es von weitem hört: „Ein Orgelton war zu hören: bald kräftiger. Jetzt der Choral: ‚Wohin soll ich mich wenden . . . ‘ Herzka gedachte also des toten Tondichters Alexandr Alexejwitsch Slobedeff. Und Mörbischer spielte dazu“ (vgl. DD 737). Der von weitem zu hörende Orgelton erinnert an das Anschlagen des Klaviers, das René bei seinem Abschied von Grete aus dem oberen Stockwerk gehört hat. Die bereits erläuterte Formel – „Es ist Mary. [. . .] Sie spielt wieder.“ (DD 700)57– ist in den Kapiteln Die Falltür und Die Kavernen von Neudegg zwischen den wiederholten Schiller- und Schubert-Zitaten in variierter Form eingefügt.58 Die ‚Es ist Mary‘-Formel und das dazugehörige Klavierspiel sind einerseits durch das damit verknüpfte Kirchenläuten religiös konnotiert und andererseits mit sexuellen Assoziationen verbunden, da sie während einer sexuellen Begegnung zwischen René und Grete das erste Mal erwähnt werden.

54 Die Figur Slobedeff tritt in mehreren Erzählungen Doderers auf bzw. wird dort erwähnt. Herzka ist er durch eine intensive frühere Begegnung bekannt, die in der Bresche geschildert wird. 55 Vgl. Wolf 1999, S. 67–69. 56 Siehe auch Kap. 3. 57 Siehe Kap. 4.1.1. 58 DD 700, 731, 754.

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Das dritte Zitat des Kirchenliedes schließt direkt an das Schiller-Zitat an und der Liedtitel wird auf Herzkas reale Bewegung bezogen: Rasch tritt der Tod den Menschen an; es muß nicht immer nur der leibliche sein. Wohin soll ich mich wenden? Jan Herzka wandte sich hinter Mörbischer zu einer etwas schmäleren Treppe, welche jene des Aufganges nach unten fortsetzte. (DD 738)

In der darauffolgenden Variation des Lied-Zitates wird der Originaltext nicht mehr zitiert, sondern nur noch als Frage wieder aufgegriffen: „Er wandte sich zur Treppe. Wohin auch hätte er sonst sich wenden sollen.“ (DD 752) Diese Frage bzw. Feststellung deutet auf die fehlende Wahlmöglichkeit hin, die Herzkas Befangenheit mit sich bringt und negiert zugleich das religiöse Heilsversprechen, das der Choral beinhaltet. Herzka wendet sich eben nicht Gott, sondern ganz profanen Dingen zu, die in der dem Himmel entgegengesetzten Richtung zu finden sind. Daher führt sein Weg nach unten hinter dem Kastellan Mörbischer her, in dessen sprechendem Namen „‚mürrisch‘, ‚mürbe‘ und lat. Mors (=Tod) nistet.“59 Auch das Schiller-Zitat, das wie oben beschrieben den metaphorischen Tod Herzkas andeutet, wird an einer Stelle auf den realen Tod Achaz von Neudeggs bezogen. Auf Herzkas Frage, wann der Baron Neudegg gestorben sei, entgegnet der Notar: „Am 23. März. Die meisten alten Leute sterben im Frühling oder Herbst.“ Worauf Herzka mit einer Phrase antwortet, die ihm auf seinen Gemütszustand bezogen, ständig durch den Kopf geht und durch den vollends auf alltägliche Verrichtungen zielenden umgangssprachlich gehaltenen Folgesatz ihre metaphorische Bedeutungsebene parodiert: „Ja. Rasch tritt der Tod den Menschen an. Ich wollt’ Sie bitten, ob ich noch telephonieren darf, hier bei Ihnen.“ (DD 687) Durch die den hier analysierten wiederkehrenden Zitaten bzw. Formeln inhärenten sexuellen Assoziationen, die durch den Wechsel mit den Folterphantasien bzw. durch einen sexuellen Kontext hervorgerufen werden, können diese Textstellen als ein Element der Erotisierung des Textes bezeichnet werden. Zudem wirken die Motive durch die refrainartige Wiederholung rhythmisierend und sie stehen in einem musikalischen Zusammenhang – das Schiller-Zitat wird im Wilhelm Tell gesungen, das Schubert-Zitat evoziert Vokalmusik und wird auch innerhalb der diegetischen Welt musikalisch als Orgelspiel wahrgenommen, die Mary-Formel bezieht sich auf das Klavierspiel dieser Figur. Die strukturierende Funktion dieser wiederholten Motive und die Verzahnung von Erotisierung und Musikalisierung des Textes werden in der tabellarischen Aufstellung in Tab. 2: Übersicht der leitmotivischen Verschränkungen – Todesdrohung und Heilsversprechen deutlich.

59 Voracek 1992, S. 303.

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5 Sexualität und Erotisierung im Kontext der ‚(Nicht-)Apperzeption‘

Tab. 2: Übersicht der leitmotivischen Verschränkungen – Todesdrohung und Heilsversprechen. Schiller-Zitat

‚Es ist Mary‘-Formel

Schubert-Zitat

Kapitel: Die Falltür „Rasch tritt der Tod den Menschen an, Es ist ihm keine Frist gegeben – [. . .] Genau das gleiche gilt vom Leben [. . .].“ DD  „Rasch tritt der Tod den Menschen an.“ DD  „Rasch tritt der Tod den Menschen an.“ DD  „Rasch tritt der Tod den Menschen an.“ DD  „Es ist Mary. [. . .] Sie spielt wieder.“ DD  „Rasch tritt der Tod den Menschen an.“ DD  Kapitel: Die Kavernen von Neudegg „Wohin soll ich mich wenden?“ DD  „Mary spielt wieder“ DD  „Wohin soll ich mich wenden. . . . “ DD  „Rasch tritt der Tod den Menschen an; es muß nicht immer nur der leibliche sein.“ DD  „Wohin soll ich mich wenden?“ DD  „Er wandte sich zur Treppe. Wohin auch hätte er sonst sich wenden sollen.“ DD  „Es ist Mary. Sie spielt wieder.“ DD 

5.1 Sexuelle Obsessionen als ‚zweite Wirklichkeit‘

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Neben der Todesmetaphorik, die als Charakteristikum der ‚zweiten Wirklichkeit‘ die Ereignisse prägt, die räumlich bis in die Kavernen der Burg und in die zeitliche Tiefe des Mittelalters führen, ist für Herzkas Obsession auch die Krankheitsmetaphorik kennzeichnend, die ebenfalls deutliche Parallelen zu anderen Figuren herstellt. In der ersten Fassung des Dämonen-Romanprojekts – Die Dämonen der Ostmark – tritt zusammen mit Jan Herzka eine Figur auf, die aus der Endfassung der Dämonen getilgt wurde. Dieser Dr. Hartog ist bei der Exposition der Figur Herzka zugegen und scheint dessen Prädestination im Hinblick auf pathologische Gemütszustände sogleich zu erahnen: Das übersteigerte Interesse an den Hexenprozessen stimmt ihn nachdenklich und er „[beobachtet] Herzka nicht ohne Aufmerksamkeit. Auch Schlaggenberg wusste oder witterte wohl irgend einen Bescheid.“60 Bezeichnenderweise ist Hartog Tropenarzt und kennt sich demnach mit fiebrigen Krankheiten aus, die im feuchtwarmen Klima der Tropen entstehen.61 Sein Beruf stellt einen Bezug zur Treibhaus-Metaphorik her, mit der neben Herzkas auch Quapps Gemütszustand charakterisiert wird. Die mehrfach thematisierte Temperaturwahrnehmung Herzkas, die für ihn mit Erinnerungen an fiebrige Krankheiten in der Kindheit verbunden ist, bildet zusammen mit dem Vergleich mit einem Treibhaus eine semantische Brücke zu Quapps Bewusstseinszustand am Tag ihres Geigenvorspiels.62 Das Gehaben Stangelers brachte in Jan Herzka eine sehr deutliche Erinnerung an die Kindheit herauf. Man lag mit Fieber im Bettchen, recht heiß, vielleicht ein wenig verschwitzt – da trat mit dem Vater der Hausarzt bei der Türe herein. [. . .] Im ganzen: man war innen, drinnen, verhängt, verfangen gewesen, heiß und transpirierend, der Arzt aber war draußen gestanden, mit kühlen reinen Händen und kurzgeschorenen Haaren, die dufteten, und mit dem sauberen glänzenden Stethoskop: einer Welt von unendlicher Ordnung und Vollkommenheit angehörend; mindestens aber: ganz draußen, unvorstellbar frei. (DD 749)63

Die Opposition von krank und gesund wird hier, wie auch an anderen Stellen im Text – und besonders ausgeprägt im Zusammenhang mit den Ausschreitungen des 15. Juli 1927 – mit Hitze und Kühle sowie Befangenheit und Klarheit verknüpft. Zugleich wird damit die ‚deviante‘ Sexualität dem Bereich der Krankheit und dem noch ‚unreifen‘ Lebensstadium der Kindheit zugeordnet, während die nüchterne von Sexualtrieben scheinbar freie ‚Erwachsenenwelt‘ durch den Vater, als gesellschaftliche und familiäre Autorität, und den Arzt, als medizinisch-wissenschaftliche Autorität, verkörpert wird. Eine erhöhte Temperatur „wie [. . .] bei beginnendem Fieber“ ge60 Doderer: „Roman = Studien III“, pag. 668. Zit. nach Sommer 2004a, S. 226. 61 Vgl. Sommer 2004a, S. 224. 62 Quapps Vorspiel findet am 23. Mai 1927 statt, an dem es besonders warm ist. Der Handlungsstrang um Herzkas Erbe beginnt am 16. Mai 1927, worauf in den Tagen danach die Besichtigung der Burg Neudegg und der Fund des Manuskriptes folgen. 63 Vgl. auch DD 807. Dort heißt es, nachdem René Herzka das Manuskript vorgelesen hat: „Herzka sah auf Stangeler mit dem Blicke eines Fiebernden aus dem Bette. An diesem saß jetzt ein völlig fremder Mann, fremder und unbegreiflicher als jener Arzt der Kinderzeit“.

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5 Sexualität und Erotisierung im Kontext der ‚(Nicht-)Apperzeption‘

knüpft an das Gefühl, innerlich „vermauert“ (DD 858) zu sein, beschreibt auch Kajetan von Schlaggenberg in seiner Chronique Scandaleuse.64 Die „[angenehme] Fieberhitze“ (DD 687), von der sich auch Herzka eingehüllt fühlt, spiegelt sich in der Außenwelt in der Beschreibung der Wetterlage: Das Wetter war trüb. Man hatte es aufsitzen wie einen Hut, der zu tief in die Stirn hing. Es hatte geregnet [. . .]. In der Wärme und Feuchtigkeit gedieh ein dampfiges Befangensein. [. . .] Das Besitzgefühl am eigenen Körper, das leichte Gehen, die Lust am Motorisch-muskulären: das alles drängte jetzt hinaus in diese feuchtwarme, befangende Umgebung rundum. Ein Treibhaus. Ein Treibhaus auch innen.“ (DD 681 f., Hervorhebungen von M.B.)

Die zwanghafte und bedrückende Leidenschaft Herzkas lässt ihn sich, trotz der ‚Entgleisungen‘ einzelner Körperteile, körperlich stark und selbstbestimmt fühlen. Ganz anders ist das bei Quapp, deren Zwangsvorstellungen mit dem Verlust an Körperwahrnehmung einhergehen. Im Gegensatz zu Herzkas „Lust am Motorischmuskulären“ (DD 682) steht Quapps mangelnde „Lust am Geigen“, die „zum allergrößten Teil motorisch ist“ (DD 943). Die syntagmatische Verknüpfung der Worte ‚Lust‘ und ‚motorisch‘ ist eines der vielen Elemente der analogen Gestaltung dieser Figuren, die einander damit zugleich kontrastierend gegenübergestellt werden. Daher bewirkt eine den oben beschriebenen klimatischen Bedingungen entsprechende Wetterlage bei Quapp ein Unwohlsein und der Vormittag vor ihrem Geigenvorspiel, der „sich draußen mit feuchter Hitze einpolsterte und aus der leeren Gasse allmählich so etwas wie das Innere eines Treibhauses machte“ (DD 1005), wirkt lähmend auf sie. Einen Abschnitt zuvor wird dieses „[föhnige] Wetter“ (DD 998), das auch schon den mittelalterlichen Vorfahren von Herzka und Quapp in Form eines „pös Venedigisch Wint“ (DD 775) geplagt hatte,65 mit pathologischen Termini beschrieben, „als habe dieser Nachmittag sozusagen eine innerliche Geschwulst“ und erzeuge eine „erhöhte Befangenheit“ (DD 998). Diese Pathologisierung der die Körpergrenzen überschreitenden Klimabedingungen, deren feucht-warmes Milieu einen Treibhaus-Effekt auf die obsessiven Befangenheiten der Figuren hat, verweist wiederum auf den oben genannten Tropenarzt Dr. Hartog und René als durch Herzka imaginierten Arzt. Zwar ist René kein Arzt, er hat jedoch einen Doktortitel und tritt als wissenschaftliche Autorität auf.66 In dieser Funktion urteilt er nicht moralisch über Herzkas Vorlieben, sondern ist von einer „absolute[n] Vorurteilslosigkeit [. . .] gegenüber Herzka’s

64 Ebenso fühlt sich der Voyeur Julius Zihal aus Die erleuchteten Fenster bei seinen Beobachtungen an ein „Treibhaus“ (EF 49) erinnert und empfindet an anderer Stelle, dass „dieser Zustand jene Art von Wohlbefinden [hervorruft], die man hat, wenn man ein wenig Fieber spürt und sich endlich entschließt, doch das Bett aufzusuchen“ (EF 95). 65 Auch in der Bresche versucht Herzka zu verstehen, was mit ihm geschehen ist, und fühlt sich von einem „andere[n] Wind [. . .] angeweht“ (FP 182). 66 Vgl. Reisner 2017, S. 177 f.

5.1 Sexuelle Obsessionen als ‚zweite Wirklichkeit‘

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wahren Interessen und Tendenzen bei dieser Expedition“ (DD 721). Dadurch eignet er sich für Herzkas Projektionen: Es war der feine, schwache, kühlende Karbolgeruch, was er da spürte, der, im übertragenen Sinne, von jeder Fachwissenschaft mehr oder weniger verbreitet wird, nicht nur von der medizinischen, und alles vom Leben abtrennt und zum Präparat macht, was in ihren Bereich tritt. (DD 756)

Diese Beschreibung macht deutlich, dass der wissenschaftliche Blick selbst wiederum eine Art ‚zweiter Wirklichkeit‘ bildet, indem er nur Teilaspekte wahrnimmt und durch fachspezifische Methoden und Voraussetzungen eine ganzheitliche Apperzeption verhindert. René nimmt in Bezug auf Herzka die Funktion des Arztes ein, ähnlich wie bei Quapp der Dirigent als Autoritätsperson an die Stelle des Arztes tritt, der durch seine ‚Diagnose‘ – „geigerische Epilepsie“ (DD 1007) – etwas wie ein Geschwür von ihr amputiert. Während in den Dämonen der Ostmark ein Tropenarzt seinen diagnostischen Blick auf Herzka wirft, und in den Dämonen René Stangeler und der Dirigent mit Attributen bzw. Fähigkeiten eines Arztes ausgestattet werden, ist es zu Beginn der Strudlhofstiege der Kinderarzt Dr. Negria, der Marys Lebensumstände in Gedanken kritisiert und am Ende als Auslöser des Straßenbahnunfalls dazu beiträgt, dass Marys Bein abgetrennt wird. Diese Amputation stellt sich, wie bereits erläutert wurde, im Handlungsverlauf der Dämonen ebenfalls als heilsam heraus.67 Die kaum zu beherrschende sexuelle Spannung, unter der Herzka steht, zeigt sich u. a. daran, dass er zwischenzeitlich die Kontrolle über seine Motorik verliert. Alltagsverrichtungen, wie das Telefonieren, fallen ihm schwer und werden zudem mit sexuellen Konnotationen versehen: „Herzka hielt die Muschel ganz ungeschickt. Er nahm die andere Hand zu Hilfe, rückte das Ding zurecht. Auch seine Hände schienen entgleist zu sein. Wie damals bei der Güllich“ (DD 687). In der Bresche verliert Herzka ebenfalls die Herrschaft über sich: „seine Hände, wie tot, griffen unsicher die Dinge“ (FP 134). Die Entgleisung der Hände entspricht dem Kontrollverlust über einzelne Gliedmaßen, wie er sich bereits bei Mary K.68 und Quapp69 gezeigt hat.

67 Siehe dazu Kap. 4.1.1. Auf die Rolle Negrias in Marys Geschichte wird in den Dämonen einmal verwiesen: „Hier war’s gewesen, vor Jahr und Tag, daß Frau Mary K. einmal einen ihrer Verehrer hatte aufsitzen lassen, den Rumänen Dr. Boris Nikolaus Negria, dem es gleichwohl vorbehalten blieb, wenige Augenblicke vor der Katastrophe wie eine Erscheinung an ihr vorüber zu ziehen . . . “ (DD 532). 68 In den analog gestalteten Textstellen des Beinahe-Unfalls zu Beginn der Strudlhofstiege und in der Schilderung des 21. September 1925, als Mary tatsächlich das rechte Bein abgetrennt wird, finden sich mehrere Szenen, in denen sie die Kontrolle über ihre Gliedmaßen verliert, da eine „unvermutete Eigenmächtigkeit ihrer Knie und Beine wie eine Welle von unten her durch ihren Körper lief“ (DS 22) bzw. „eine unvermutete Eigenmächtigkeit ihrer Glieder, als Welle von unten her durch den Körper“ (DS 831) läuft. 69 Bei Quapp zeigt sich die motorische Störung an Lähmungserscheinungen und dem Gefühl, dass die „Finger der linken Hand gallertig wurden [. . .] und zwischen Unterarm und Bogenhand nur eine Art Schlauch voll Übelkeit hing.“ (DD 943).

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5 Sexualität und Erotisierung im Kontext der ‚(Nicht-)Apperzeption‘

Analog zu Quapps Empfindung, von schwarzen Deckeln umgeben zu sein, die jederzeit über ihr zuschlagen könnten (vgl. DD 867f.), findet sich in Bezug auf Herzka das Bild einer Falltür, durch die er einzubrechen droht bzw. die über ihm zuschlägt: „Jetzt fiel ihm der Falltür-Deckel geradezu auf den Kopf“ (DD 683). Und auch in der Erinnerung an Magdalena Güllich hat er das Gefühl, als wären „die Umstände über ihm eingeschnappt, wie eine Falltür“ (DD 683). In der Metapher der Falltür, die auch titelgebend für das erste Kapitel der Herzka-Handlung ist, kommt die Plötzlichkeit, mit der er ‚den Boden unter den Füßen verliert‘ und die Zwangsläufigkeit der Entwicklungen zum Ausdruck, denen Herzka scheinbar keinen Widerstand entgegenzusetzen hat. Gleichzeitig ist die figurenübergreifende, die ‚zweite Wirklichkeit‘ kennzeichnende Metapher des doppelten oder herausgefallenen Bodens,70 der keinen sicheren Halt bietet und die raumsemantische Konnotation der tiefergelegenen gefährdeten Gegenden enthalten. Die Metapher lässt sich unter anderem auf die Kavernen der Burg und auf die dem rationalen Zugriff entzogenen Schichten des Bewusstseins, in denen sich die Folterphantasien Herzkas abspielen, beziehen: Er fiel dabei mit einem Ruck, wie man ihn manchmal im Halbschlaf empfindet, in ein tiefer gelegenes Stockwerk seines Innern hinab, und bemerkte dort – während durch eine Sekunde ein Vacuum des Schreckens in seiner Magengrube stand – daß die Folterknechte ihre Prozedur fortgesetzt hatten. (DD 688)71

„Mit dem Bild des ‚doppelten Bodens‘ veranschaulicht Doderer immer wieder die zweite Wirklichkeit als einen ‚Überbau‘ über die erste.“72 Hubert Kerscher zufolge spiegelt sich Herzkas „symbolischer Tod in den Kavernen von Neudegg [. . .] im Material der Sprache als Metapherndestruktion“,73 was er u. a. am Bild der Falltür nachweist, welches die metaphorische Ebene überschreitet: Die für den seelischen Bereich diskursiv herangezogene Bildsprache gelangt zugleich als Element der Raumkonstitution zur Selbstpräsentation. Das bedeutet, daß zum Beispiel die Metaphorik der deperzeptiven Abgeschlossenheit ihre Funktion (vorübergehend) an die real existierenden Kavernengemäuer verliert.74

Dieser ‚Abgeschlossenheit‘ der Kavernen entspricht in Bezug auf Quapp topographisch die Eroicagasse und – als Symbol der ‚zweiten Wirklichkeit‘ – ihr Geigenkasten. Beide werden mit den Charakteristika eines Sarges beschrieben und symbolisieren die eingeschränkte Wirklichkeitswahrnehmung der Figur. Die konnotativen Verknüpfungen zwischen der beengten Gasse, der mit dem Bild der Badewanne verbundenen Unterwassermetaphorik und Quapps Geigenkasten wurden bereits

70 Siehe dazu Kap. 5.1.4. 71 Später zeigt sich das „tiefere Stockwerk seines Innern [. . .] ausgestorben“ (DD 692). 72 Weber 1963, S. 194. 73 Kerscher 1998, S. 214. 74 Kerscher 1998, S. 222.

5.1 Sexuelle Obsessionen als ‚zweite Wirklichkeit‘

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erläutert.75 Bemerkenswert sind die Analogien dazu, die sich im Hinblick auf Herzkas Umwelt- und Körperwahrnehmung finden lassen. Bei seiner ersten Erkundung der Burg Neudegg, wird Herzkas gestörte Körperempfindung in der Badewanne geschildert: Er saß in der Badewanne wie über einem dünnen doppelten Boden seines Innern. [. . .] Ihm war wie jemand, dem ein Glied eingeschlafen oder erfroren oder sonstwie fühllos geworden und gleichsam abhanden gekommen ist.“ (DD 711, Hervorhebung von M.B.)

Neben der dissoziativen Wahrnehmung einzelner Körperteile in Verbindung mit der Badewannen-Symbolik, die Herzkas Zustand deutlich mit dem Befinden von Mary K. und Quapp verbindet,76 zeigt sich auch in der darauf folgenden Anthropomorphisierung eines unbelebten Gegenstandes eine Parallele zu Quapp: „Jetzt hörte auch er den Elektromotor, der sang. Auf und ab. Es schwankte wie eine Kerzenflamme. Es war wirklich wie Gesang, es war fast Empfindung in dem Ton der fühllosen Maschine“ (DD 711, Hervorhebung von M.B.). Während Herzka einen Teil seines Körpers als abgestorben empfindet, anthropomorphisiert er eine leblose Maschine, indem er die mechanischen Geräusche mit menschlichem Gesang vergleicht. Das fehlende Gefühl in einem Körperglied steht im Gegensatz zur an sich ‚fühllosen Maschine‘, der Herzka dennoch Empfindungen zuschreibt. Das Gefühl der Taubheit bzw. der Eindruck, als sei ein Teil des Körpers abgestorben, ist bei Quapp stark ausgeprägt, wenn sie auf ihrer Geige spielt. Sie ist unfähig, Gefühle in die Musik zu legen und ist beinahe froh über das Summen eines Elektromotors, das ihre mechanischen Übungen auf dem Instrument begleitet. Die von der leblosen Maschine hervorgebrachten Geräusche scheinen ihr weitaus sinnvoller, als ihre eigenen musikalischen Bemühungen (vgl. DD 175). In die mit der Anthropomorphisierung von Gegenständen und der gleichzeitigen Verdinglichung der Figuren einhergehende Todesmetaphorik der ‚zweiten Wirklichkeit‘ fügt sich auch die Beschreibung des schlafenden Jan Herzka ein, der „reglos [liegen bleibt], wie ein Ding unter Dingen“ (DD 703). Der Unterschied zwischen ‚Ding‘, Maschine und Mensch wird in der Beschreibung Herzkas verringert bzw. aufgehoben, wie dies auch bei den semantischen Überlagerungen zwischen Quapp und ihrer Geige und dem Elektromotor der Fall ist. Die heilsame Wirkung der Musik, die besonders von Marys Klavierspiel ausgeht und bei René vor seiner Abreise nach Neudegg zu einer neuen „Unverstelltheit“

75 Siehe Kap. 4.1.3. 76 Auch Mary verliert in der Strudlhofstiege in der Badewanne die Kontrolle über ihre Gliedmaßen, wodurch sie beinahe stürzt. Der „[dünne doppelte] Boden seines Innern“ (DD 711), den Herzka in der Wanne spürt, entspricht dem „Hohlraum“, den Mary in sich wahrnimmt. Sie fühlt sich „wie über einen Hohlraum sich beugend, der da in ihr selbst geöffnet war: eine Art Versagen, das Unsicherheit schuf; ein Ausgehöhlt-Sein, welches für alles Achtsamkeit und Vorsicht zu erfordern schien, was man sonst glatt und automatisch tut“ (DS 772).

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(DD 701) führt, findet sich bei Herzka in Form von ‚Naturmusik‘: „[Z]wei eigensinnige und kunstreiche Kadenzen“ (DD 703) eines Vogels begleiten die ‚Wiederbelebung‘ des erschöpften Jan Herzka, so dass er nach einem erholsamen Schlaf mit einer „unverstellten Willensfreiheit“ (DD 703) erwacht. Hatte der Gesang des Vogels einen „Schlitz“ (DD 703) in der Stille hinterlassen, so fühlt Herzka nun einen Spalt bzw. Schlitz, der ihm ein Verlassen des mentalen Gefängnisses ermöglichen könnte: Jetzt, noch halb im Traum, öffnete sich ein Spalt, ein schmaler Schlitz zwischen ihm und der Traum-Enge seines wachen Lebens an diesem heutigen Tage, ein Spalt, der das Verlassen jener Enge durch eine leichte, ja beinahe zarte Wendung als möglich erscheinen ließ. (Etwa mit dem Ergebnis: daß dann am Ende der Rinne gar nichts gefunden werden mußte.) (DD 703 f.)

Sowohl bei Renés unverstellter Wahrnehmung als auch bei Herzkas kurzer Ahnung von Willensfreiheit, geht es um die Möglichkeit, aus einer selbstverschuldeten Gefangenschaft in vorgezeichneten Verhaltensweisen auszubrechen. Für diese Prädetermination des Verhaltens findet René die Metapher der Rinne, die im Zusammenhang mit Herzkas Gefangenschaft in der ‚zweiten Wirklichkeit‘ mehrfach verwendet wird.77 In Renés treffender Diagnose zu Herzkas Zustand meint er, es sei in ihm eine Art feste Verbindung entstanden [. . .] zwischen dem Gespräch von vorgestern und dem Schloß von heute. Vielleicht ist noch etwas drittes oder viertes dabei, etwas uns Unbekanntes. Er kann das alles nicht mehr trennen. Es ist eine Rinne entstanden. Er kann sie nicht mehr verlassen. Und also muß unbedingt etwas gefunden werden [. . .]. (DD 700)

Als René vor dem Fund des Manuskriptes über die bevorstehenden Auswirkungen eines ausbleibenden bzw. eintretenden Fundes „am Ende der Rinne“ (DD 722) nachdenkt, erscheint ihm die Burg Neudegg als ein „Orakel“ sowohl für Herzka als auch für ihn selbst (DD 722). Das verweist auf eine transzendente Ebene, auf der die Burg als Verkünderin eines Schicksalsspruches fungiert. Und diese Funktion hat sie tatsächlich für die Entwicklung Herzkas, aber auch für René, für den der ManuskriptFund einen Durchbruch im wissenschaftlichen Bereich bedeutet, sowie für Quapp, die durch ihr Neudeggsches Erbe zu Reichtum gelangt und damit ihre „zweite Biographie“ (DD 1077) beginnen kann.78 In der Bibliothek der Burg findet René tatsächlich eine mittelalterliche Handschrift, die einen vermeintlichen Hexenprozess in den dafür eingerichteten Kavernen der Burg beschreibt, so dass Herzka seine Pläne „planmäßig und platt“ (DD 727) weiterführen kann, ohne „aus seiner verdammten zweiten Wirklichkeit herauszukommen“ bzw. „in’s Leere zu fallen [ . . . ,] vom Ende seiner Rinne abzustürzen [. . .] und [. . .] eine Scheidewand zu durchstoßen“ (DD 727). Nachdem René das Manuskript

77 Vgl. auch DD 701, 704, 705, 722, 727. 78 Ihr ‚Bruder‘ Kajetan bezeichnet den neuen Reichtum als „unerläßlich zur Komplettierung dieser Figur“ (DD 1080).

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für Herzka übersetzt und es ihm vorgelesen hat, besichtigen die beiden die Kavernen der Burg, die Herzkas mittelalterlicher Vorfahre für seine voyeuristisch-sadistischen Vorlieben hat umbauen lassen. Die unterirdischen Kammern wirken wie eine Materialisation der Kulisse zu Herzkas sexuellen Phantasien.79 Eine scheinbar unmotiviert in der Mitte der sogenannten Folterkammer stehende halbhohe Säule diente nur dem einen Zweck, die vermeintlichen Hexen daran zu fesseln, um sie sodann zu befragen und zu peitschen, auch wenn der Kastellan Mörbischer versucht, eine weniger anrüchige Erklärung dafür zu finden (vgl. DD 744). Schon bei diesen „Pseudo-Hexenprozesse[n]“ (DD 734) stand die Inszenierung im Vordergrund. Im Unterschied zu Herzkas späterer Frau, die sich mit einvernehmlichen sadomasochistischen Praktiken einverstanden erklärt, waren die entführten Witwen tatsächlich in der Gewalt des Burgherrn. Die Folterszenen, an denen sich Achaz aus der Distanz erfreute, waren dennoch inszeniert und sollten den Frauen keinen körperlichen Schaden zufügen, weshalb sie mit Samtpeitschen geschlagen wurden. In Krafft-Ebings Definition des Sadismus aus der Psychopathia sexualis, deren erste Auflage Ende des neunzehnten Jahrhunderts erschien, die aber als Standardwerk in überarbeiteter Version auch noch zu Zeiten von Doderers Psychologiestudium relevant war, heißt es: Sadismus ist also nichts Anderes als eine pathologische Steigerung von – andeutungsweise auch unter normalen Umständen möglichen – Begleiterscheinungen der psychischen Vita sexualis, insbesondere der männlichen, ins Masslose und Monströse.80 Wenn der Trieb nicht übermächtig oder noch genügender moralischer Widerstand vorhanden ist, kann es geschehen, dass die perverse Neigung durch einen scheinbar ganz sinnlosen läppischen Akt befriedigt wird, der aber für den Thäter symbolische Bedeutung hat.81

Die Prostituierte Anny Gräven erkennt bei Herzka diesen Wunsch nach symbolisch wirkender Inszenierung. Zugleich ist ihr trotz der sadistischen Ausrichtung seiner Wünsche klar, dass er im Grunde harmlos ist: Es war ganz einfach. Es lief auf ein paar Posen hinaus, die man stellen mußte, auf ‚Lebende Bilder‘ oder so etwas. Da war gar nichts dabei. Auch konnte man mit diesem Herrn da ruhig gehen, wohin immer er wollte, auch zu ihm in seine Wohnung. Der tat einem nichts. (DD 1033)

Anny Grävens intuitive Ahnung, er habe vielleicht „schon das ganze Theater irgendwie hergerichtet“ (DD 1033), findet sich in den baulichen Maßnahmen, die Herzka an den Kavernen seiner Burg vornehmen lässt, bestätigt. Dabei sollen die bereits vorhandenen ‚Kulissen‘ so optimiert werden, dass keine anachronistisch

79 Vgl. Kerscher 1998, S. 223. 80 Richard von Krafft-Ebing: Psychopathia sexualis. Mit besonderer Berücksichtigung der conträren Sexualempfindung. Eine klinisch-forensische Studie [1886]. Nachdruck der achten Auflage [Stuttgart 1893], Leipzig 2005, S. 61. Im Folgenden zitiert als Krafft-Ebing 1893. 81 Krafft-Ebing 1893, S. 82.

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wirkenden Störfaktoren seine um einige Jahrhunderte früher angesiedelten Phantasien stören können. Durch verdeckte Heizkörper richtet er es so ein, dass es dennoch warm in den Gemäuern wird, so dass man sich „nur mit einem Handtuch um die Hüften“ (DD 721) dort aufhalten kann. Die Theatermotivik82 findet sich auch in Renés Beurteilung der im Manuskript geschilderten Vorgänge, die er für „eine Affenkomödie der Leidenschaften“ (DD 730) hält, für welche die Kavernenkulissen zuerst gebaut wurden. In dem Motiv des oben erwähnten Säulenstumpfes in der Folterkammer verdichten sich diese unterschiedlichen Intentionen: Dort zog er [René] den Rock aus, sah sich um, und da er denn keinen Haken fand, um ihn aufzuhängen, noch sonst eine Gelegenheit, das Kleidungsstück loszuwerden, warf er es nicht ohne Genuß über den Säulenstumpf. Das war eine Art Fronde gegen Herzka [. . .]. Es sah in krasser Weise stilwidrig aus, um nicht zu sagen lächerlich. [. . .] Sie kehrten in das Säulengelaß zurück, wo Renés Rock wie eine Kapuze oben auf dem Stumpfe hing. Herzka betrachtete das mit unverhohlenem Befremden. Aber es war nichts zu unternehmen dagegen. Man mußte es nun einmal dulden: so sehr es die Romantik störte. (DD 747)

Kurz darauf ist die Säule sogar mit „dicker doppelter Kapuze“ (DD 750) behängt, da Herzka wütend seinen eigenen Rock über Renés hängt. Herzka erkennt jedoch im Nachhinein „Renés grenzenlose Toleranz“ und leugnet die zunächst symbolisch überhöhte Bedeutung, die er der „unpassend kapuzierten Säule“ (DD 750) beigemessen hatte, während die heterodiegetische Erzählinstanz im Widerspruch dazu René eine provokante Intention unterstellt: Die Jacke auf der Säule in den Kavernen von Neudegg war vergessen, ja, sie wurde im Rückblick für ebenso harmlos gehalten, wie jener damals auf den Boden geworfene Zigarettenstummel: es hatte dort unten ja ebenso wenig einen Aschenbecher wie einen Kleiderhaken gegeben. Wir sind unsererseits, mindestens was die Jacke betrifft, von Renés Harmlosigkeit nicht so ganz überzeugt wie Herzka. (DD 1031)

Die wiederholten Figuren-Erinnerungen und die Anspielungen der Erzählinstanz auf jene behängte Säule markieren die symbolische Bedeutung des Säulenstumpfes, der als Phallussymbol die Omnipotenz des Burgherrn verkörpert. Die später in der Kammer abgestellten Heizkörper wirken „wohl noch viel befremdlicher [. . .], als einst Stangelers Jakett, als es kapuzenartig die Säule bekrönte“ (DD 1052). Auch diese Heizkörper und die elektrische Beleuchtung sollen später aus stilistischen Gründen verdeckt angebracht werden (vgl. DD 751 f.). Das stilwidrige Accessoire, mit dem die semantisch aufgeladene Säule verhüllt wird und zugleich zu einem Alltagsgegenstand degradiert wird, droht in Herzkas Augen die angestrebte Illusion

82 Zur Theatermetaphorik siehe auch Kerscher 1998, S. 200–210. Kerscher zeigt am Beispiel Kajetan von Schlaggenbergs, dass „namentlich groteske Passagen ein Spannungsfeld [markieren], in dem sich eine in Doderers streng dichotomischer Theorie fehlende Dialektik zwischen optimistischen und pessimistischen Denkimpulsen, zwischen spielerischer Distanzierung und verbindlicher Modellhaftigkeit im Medium der Theatermetaphorik entfalten kann.“. Kerscher 1998, S. 210.

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von Authentizität zu zerstören und somit die Inszeniertheit des gesamten Arrangements zu enttarnen.83 Obwohl Anny Gräven den Zustand und die Wünsche Herzkas durchschaut, ist sie nicht bereit, ihm entgegenzukommen und wird durch ihre Weigerung, seine Phantasien innerhalb der ‚zweiten Wirklichkeit‘ nachzustellen, „indirekt zur Ehestifterin zwischen Jan und Agnes“ (DD 1030). Der missglückte Besuch bei den Prostituierten während Herzkas „nächtlicher Suchjagd“ (DD 1031)84 ist eine „versuchte Umgehung der Agnes Gebaur“ (DD 1030), bevor Herzka seine Phantasien mit der Realität konfrontiert werden. Nach diesem „letzten Umgehungs-[Manöver]“ (DD 1045) wird seine „Scheu vor der Wirklichkeit“ (DD 1030) durch eine Begegnung mit Agnes durchbrochen, die, vor ihm eine Treppe hinabgehend, ihren Fuß verstaucht hat. Während die „Kavernen von Neudegg [. . .] für ihn außerhalb von Welt und Leben [lagen]“ (DD 1030), wird er, während er sie nach dem Missgeschick stützt, „von einer Ahnung ihrer Körperlichkeit geradezu durchbohrt“ (DD 1046). Der Kontakt zur Wirklichkeit wirkt dabei wie „Balsam“ auf eine „glühende Wunde“ (DD 1046). Allerdings erkennt er in Agnesʼ nacktem Fuß und der „ein wenig übermäßig betonte[n] Geformtheit der Hüften“ (DD 1048), die er festhalten muss, um dem Arzt beim Einrenken zu assistieren, die Märtyrerin aus dem Buch wieder, so dass sich Phantasie und Realität verbinden. Agnesʼ „kleine[s] Martyrium“ (DD 1048) ermöglicht es ihm, die Seiten zu wechseln: War er René gegenüber in der Rolle des kranken Patienten, so kümmert er sich nun an der Seite des Arztes um die leidende Agnes. Die Erzählinstanz verweist mehrfach auf die scheinbar geplante Aktion, mit der Agnes ihre eigene Hilflosigkeit inszeniert und somit Schmerzen in Kauf nimmt, um ihrem Chef näherzukommen. Als Herzka ihr seine Neigung gesteht, vertreibt sie den ‚dämonischen‘ Charakter seiner Phantasien, indem sie mit entwaffnender Schlichtheit antwortet: „Warum nicht. Ich würde mir das ohne weiteres zutrauen. Wenn ich mich ein wenig hineindenke, so ist gar nichts dabei.“ (DD 1049) Herzka hat daraufhin „die Empfindung, als verließen ihn alle seine seltsamen Vorlieben“ (DD 1049).85 Die Krankheitsmetaphorik

83 Ebenso verhällt es sich mit dem von René fallengelassenen ‚Zigarettenstummel‘, der den ‚Säulenstumpf‘ in lächerlicher Weise verdoppelt und für Herzka „eine Ergänzung zu jener von René der Säule verliehenen Drapierung“ (DD 747) bildet. 84 Siehe zu dieser Episode auch Kap. 4.2.1. 85 Franziska Mayer weist darauf hin, dass die „Flagellationsliteratur der Frühen Moderne [. . .] anhand der flagellantischen Rollenverteilung immer auch die Geschlechterhierarchie [erörtert].“ In diesem Kontext unterläuft die „[nüchterne] Antwort der Braut [. . .] die sadistische Inszenierung [. . .]. Freiwilligkeit und die Vermeidung des Schmerzes machen zwar die abweichenden sexuellen Vorlieben weniger problematisch und garantieren die leichtere Umsetzbarkeit. Zugleich aber berauben sie die Flagellation des eigentlichen Reizes einer Grenzüberschreitung und Aneignung des anderen Körpers.“ Franziska Mayer: Zwischen Samtpeitsche und Rute: Flagellantismus in der Literatur der Frühen Moderne. In: Pornographie in der deutschen Literatur. Texte, Themen, Institutionen. Hrsg. v. HansEdwin Friedrich, Sven Hanuscheck, Christoph Rauen, München 2016, S. 121–141, hier: S. 140 f.

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als Charakteristikum der ‚zweiten Wirklichkeit‘ wird folglich nur noch in Form des Heilungsprozesses aufgegriffen: Allmählich kehrte die Glut wieder in Jan, brannte neuerlich die empfangene Wunde: jetzt aber tief im Balsam gebettet, ja, in einer Art Kaverne, welche sie von allen Seiten mit dem heilenden Balsame der Wirklichkeit umgab, schützend vor jener Leere, die noch außerhalb des leeren Weltraumes ihren Ort zu haben scheint. (DD 1050)

Diese heilsame Wirkung der Liebesbeziehung, die bald darauf durch die Heirat offiziell beurkundet wird und damit auch die sadomasochistischen Vorlieben ins „bürgerliche Wertesystem [. . .] integrier[t]“,86 ist analog zu Geyrenhoffs Entwicklung gestaltet, der ebenfalls an einer „offen stehende[n] Wunde“ (DD 1064) leidet. Auch für ihn scheint die „einzige Möglichkeit einer Heilung“ (DD 1120) in der Beziehung zu seiner späteren Ehefrau Friederike Ruthmayr zu liegen.87 Die Verletzungen werden in beiden Fällen mit Penetrationsmetaphern beschrieben. Während in Geyrenhoff der „Giftpfeil“ bzw. „Stachel“ der Charagiel steckt (DD 1175), fühlt Herzka, dass etwas „wie ein zerspellter Lanzenschaft und wie rein von außen [in ihn] eingedrungen war und in ihm steckte“, das nur durch Agnes Gebaur „aus einer zweiten in eine wirkliche und erste Realität herüber[gehoben werden kann]“ (DD 1045). Die metaphorische Wunde, die in den Dämonen durch das Hexengespräch wieder aufgerissen und daraufhin mehrmals thematisiert wird,88 geht auf Herzkas Erlebnisse zurück, die in der Erzählung Die Bresche geschildert werden. Da sich die Herzka-Episode in den Dämonen inhaltlich wie auch auf sprachlich-motivischer Ebene auf diese Vorgeschichte der Figur bezieht, werden im Folgenden die wesentlichen Aspekte dieser intertextuellen Beziehung betrachtet.

5.1.2 „Offene Wunde war er jetzt“ – Intertextuelle Bezüge zur Erzählung Die Bresche In der fiktiven Biographie der Figur Jan Herzka gibt es fünf Jahre vor den Ereignissen, die in den Dämonen geschildert werden, ein einschneidendes Erlebnis, das Gegenstand der Erzählung Die Bresche (1924) ist. Da sich an einigen Stellen durch den Bezug zu dem älteren Text neue Blickwinkel für die Interpretation ergeben, so dass die Funktion sexueller ‚Devianz‘ und Obsession als „groteskes Paradigma für die ‚zweite Wirklichkeit‘“89 durch den Rückbezug auf die Bresche umfassender dargestellt

86 Reininger 1975, S. 73. 87 Siehe dazu auch Kap. 5.2.2. 88 „Die frische Wunde, wenn man so sagen darf, war von ihm weniger peinvoll empfunden worden“ (DD 686). „Ein feiner Harst erst spannte sich über der Wunde.“ (DD 711). 89 Kerscher 1998, S. 99.

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werden kann, werden in diesem Exkurs die Funktion der Grenzüberschreitung für die Entwicklung des männlichen Protagonisten und dabei insbesondere die Metaphorik der Wunde dargestellt. Die sexuelle Entwicklung der Figur wird in der Bresche von Musikthematisierungen begleitet, denen eine kommentierende Funktion zukommt, die in diesem Zuge kurz umrissen werden soll. Nach der Vorstellung der handelnden Figuren durch einen auktorialen Erzähler, beginnt die Bresche mit dem Kauf des bereits erwähnten Bildbandes, den Jan Herzka auch in den Dämonen konsultiert. Durch die Kupferstiche von christlichen Märtyrerinnen, die Herzka auf dem Weg zu seiner Freundin Magdalena Güllich in einer Buchhandlung wie pornographische Darstellungen betrachtet, werden sein latent vorhandener Hang zu normabweichenden Sexualpräferenzen, seine dem bürgerlichen „Gehege eines geregelten Lebens“ gegenübergestellten „orientalischen Phantasien“ (FP 122), soweit verstärkt, dass er seiner Neigung erstmals nachgibt und das ‚Passional‘ kauft. Das Paar besucht am selben Abend eine Zirkusvorstellung, in der weiße Stuten auftreten, die nacheinander aufgefordert werden, vor dem Stallmeister niederzuknien. Die ritualisierte Vorführung von Dominanz und Unterwerfung in der Pferde-Show des Zirkus’, wirkt durch den vorangegangenen Kontext und Herzkas Reaktionen auf die intensiven sinnlichen Eindrücke der Atmosphäre stark sexualisiert. Zudem trägt eine der Stuten den gleichen Namen wie seine Begleiterin,90 die, als sie den Namen hört, zusammenfährt (Vgl. FP 131) und dadurch scheinbar signalisiert, dass sie sich mit der Stute identifiziert.91 Analog zu der Zirkusmusik, die von „maschinenhafter Gleichmäßigkeit“ (FP 131) ist, steigert sich auch Herzkas sadistisches Verlangen weiter und er gerät in einen scheinbar unaufhaltsamen Automatismus, so dass er anschließend Magdalena in einem Hotelzimmer schlägt und vergewaltigt, wobei er sich vorstellt, „das Passional hier aufgeschlagen auf dem Tisch liegen [zu] haben wie ein Koch- oder Rezeptbuch“ (FP 136): Die Seide schrie, als er sie mitten durchfetzte, bis auf den Gürtel herab, den er jetzt auch schon blitzschnell löste oder abriß. Er warf Magdalena herum, in jedem Griff lag unsinnige Kraft, Härte und Rauheit, er hätte jeden Widerstand gebrochen und – wenn es nötig gewesen wäre – auch die Knochen der Magdalena Güllich. Aber ihr Gesicht, das er jetzt im Spiegel sehen konnte, war von erstarrendem Schreck ganz tierisch, der Mund zwar ein wenig geöffnet, sie gab indessen keinen Laut von sich. [. . .] Bald lag das herabgestreifte Oberkleid vor den Füßen der Heiligen. [. . .] Sie weinte. Er zerstörte ihre Frisur, warf den langen, dunkelblonden Strom über ihr Gesicht; band dann zum Überfluß ein Handtuch fest um Mund und Nase. Als er

90 Die Identifikation von Freundin und Stute wird in einem späteren Traum Herzkas nochmals aufgegriffen, in dem er sich für „das herzzerreißende Leiden der Stute Magda“ (FP 162) verantwortlich fühlt. 91 Eine Anspielung auf diese Pferde, von denen ein anderes Halka heißt, findet sich in den Dämonen in der Bibliothek der Burg, wo der Hufabdruck einer Stute namens Halka in Gips gegossen auf dem Schreibtisch des verstorbenen letzten Burgherrn steht, und damit eine Verbindung zwischen Herzkas Erlebnis in der Bresche und der Obsession seines Vorfahren Achaz von Neudeggs schafft (vgl. DD 683 u. DD 713).

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seinen Leibriemen ablöste zitterten ihm die Hände wieder heftig. Er schlug, es knallte laut, ihm war alles einerlei. – Er riß sie endlich wieder an sich; die Wollust war wie ein Donner, ein grollendes Feuermeer. – Was dann kam war wie Sterben. (FP 136)

Magdalena, der schon durch ihren Namen eine „dienende Funktion zugeschrieben“92 ist, scheint sich durch ihr Aussehen und ihr Verhalten selbst in die Opferrolle zu begeben: „Was in ihm gärte, sprach sie gleichsam aus, sich selbst durch ihre magdhaft erschrockene und gehorsame Bewegung als das gegebene Ziel seiner Wünsche bezeichnend“ (FP 131, Hervorhebung von M.B.). Dementsprechend wirkt „nicht Herzka und seine Handlungen [. . .] animalisch, sondern Magdalena Güllichs verzerrtes Gesicht.“93 Petra Porto hat in ihrer Untersuchung Sexuelle Norm und Abweichung eine insbesondere im Hinblick auf die geschlechtsspezifische Figurendarstellung und die Ästhetisierungsstrategien der Erzählung aufschlussreiche Analyse der Bresche vorgelegt, in der sie aufzeigt, wie „immer wieder die ‚Hingabe‘ Magdalenas, die sich Herzka ‚ergebungsvoll‘ nähert, betont wird, [. . .][während Jan] von aller Verantwortung freigesprochen [wird][. . .].“94 Die scheinbar zwingende Entladung des ‚Triebes‘ wird durch die Metaphorisierung der Vergewaltigung als „Gewitter, Feuer und Tod [. . .] – drei unaufhaltsame, vom Menschen nicht zu bändigende Gewalten“,95 sprachlich gestaltet. Auffällig sind die Parallelen im Erscheinungsbild Magdalenas in der Bresche und Agnes Gebaurs in den Dämonen und deren von Herzka imaginierte Keuschheit. Magdalena hat ein „altmodisches Gesicht, ein Madonnengesicht“ (FP 128) und ihre „Gestalt in dieser schwarzen Verhüllung [hat] etwas unbedingt Aufreizendes, [während][. . .] über ihr doch ein Schimmer von Unberührbarkeit und Keuschheit [lag]“ (FP 129). Diese „Simultanität von Verhüllung und Reiz spiegelt auf anderer Ebene jene zuvor aufgedeckte Relation zwischen Herzkas Innerem (Trieb) und Außen (Unterdrückung).“96 Auch Agnes’ Gesicht zeigt „einen seltsam altertümlichen Schnitt. Man hätte es ein Madonnengesicht nennen können.“ (DD 680) Die Vorstellungen von Keuschheit, die Madonnen-Assoziationen und die Kleiderhüllen sind Teil einer konstruierten Verhüllung der angestrebten Nacktheit, die als natürlicher Zustand durch die Imagination wiederum mythisiert wird, wie dies in Herzkas Betrachtung des ‚Passionals‘ zu sehen ist.97 Die Enthüllung der Nacktheit wird erst durch diese übereinander gelagerten materiellen und immateriellen Schichten reizvoll und

92 Porto 2011, S. 294. 93 Porto 2011, S. 314. 94 Porto 2011, S. 300. 95 Porto 2011, S. 314. 96 Kerscher 1998, S. 84. 97 Zum „mystifizierenden Schauspiel“ der Enthüllungen im Striptease, der darauf abzielt, „die Frau als verkleidetes Objekt zu setzen“, siehe Roland Barthes: Strip-tease. In: Mythen des Alltags [1957]. Frankfurt a. M. 1964 (= edition suhrkamp; Bd. 92), S. 68–72, hier: 68 f.

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belässt selbst in entkleidetem Zustand noch eine letzte Hülle um die Nacktheit in Form einer ‚heiligen Aura‘ und einer Haarsträhne vor dem Geschlecht. Nach dem in der Bresche geschilderten Übergriff, behält Herzka jahrelang die Kontrolle über seine Neigungen, die erst mit dem Gespräch über mittelalterliche Hexenprozesse in den Dämonen als Initialauslöser zu einem erneuten Ausbruch der sadistischen Phantasien führen und ihn dazu bringen, jenes ‚Passional‘ wieder hervorzuholen und damit die Begierde zu verstärken. Herzka glaubt, seine Angestellte Agnes in dem ‚Passional‘ zu erkennen, was von dem an dieser Stelle auktorialen Erzähler kritisch kommentiert wird: Er holte das Buch, und schlug Agnes auf. Sie war’s. Es war dieses Lendentuch und kein anderes, das er beim Erwachen um seine Hüften gespürt hatte. [. . .] Von einer Ähnlichkeit – wenigstens im üblichen Sinne – mit dem Fräulein Agnes Gebaur war nichts vorhanden. Jedoch gab es immerhin so etwas wie eine Analogie: es hätte der unbekannte, nicht recht vorstellbare, der (für die Gepflogenheiten unseres Zeitalters) immer tief verhüllte Körper dieser Agnes Gebaur sein können, nach der Größe, nach der ungefähren Statur. (DD 706)

Der Erzähler weist darauf hin, dass das ‚Passional‘ „ganz und gar nicht so gemeint [war], wie Jan Herzka es ausschließlich auffaßte“ (DD 704). Auch in der ersten Betrachtung der Kupferstiche in der Bresche, lässt sich der von Gabriele Sorgo in Martyrium und Pornographie konstatierte sadomasochistisch-pornographische Aspekt der mittelalterlichen Märtyrerlegenden – auch wenn der Begriff Sadomasochismus in diesem Zusammenhang anachronistisch ist – nicht von der Hand weisen.98 Diese paradoxe Wirkung der Märtyrerlegenden ist Sorgo zufolge „ein Produkt der christlichen Körperverachtung, ein Kompromiß zwischen unumgänglicher Körperlichkeit und abstraktem Verbot.“99 Eine ähnliche Einschätzung in Bezug auf die Hexenprozesse drückt auch der fiktive Historiker René Stangeler in den Dämonen aus, wenn er meint, die meisten dieser Prozesse seien aus anderen Gründen inszeniert worden, um nämlich „Frauen, an die sonst nicht heranzukommen war, auf diesem Wege in die Gewalt [zu bekommen]. Das übliche Verfahren bei einem Hexenprozeß bot dann reichliches Amusement.“ (DD 755) Herzka empfindet in der Bresche ein „Gefühl angenehmer Überraschung“ (FP 126), als er feststellt, dass es sich in dem zu Erregungszwecken herangezogenen ‚Passional‘ ausschließlich um weibliche Märtyrerinnen handelt. In den Dämonen wird dieser Umstand vom Erzähler als „Merkwürdigkeit“ (DD 704) kommentiert und dadurch

98 „Obwohl letztere [pornographische Texte] als Stimulantien dienen und die Märtyrerlegenden nicht als Aphrodisiaka gedacht waren, zeigt sich im Textvergleich, daß jedes der beiden Genres auch den gegenteiligen Effekt hat. Die Askese dominiert den unzüchtigen Text durch technische Anweisungen, Leistungsdruck und Wiederholungszwang. Die verjagten Dämonen der Fleischeslust hausen in den erbaulichen Texten, wo sie delikate Betrachtungen erzwingen und einen sinnlichen Stil diktieren.“ Gabriele Sorgo: Martyrium und Pornographie. Düsseldorf 1997, S. 18. 99 Sorgo 1997, S. 152.

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betont. Eine weitere ‚Merkwürdigkeit‘ bildet die Tatsache, dass eine der Witwen im Hexenmanuskript Agnes heißt, was zwangsweise zu einer Identifikation mit Agnes Gebaur führt, ebenso wie die Namensgleichheit von Magdalena Güllich und der Stute Magda im Zirkus.100 Nach der Misshandlung seiner Freundin irrt Herzka umher und verletzt sich am Oberschenkel: „Jan griff an seinen Oberschenkel – Blut, alles war feucht und verklebt, der Strumpf, die Hose“ (FP 142).101 In einer weiteren Textstelle wird die Wunde mit den gespreizten Schenkeln verknüpft, die „vom Sitzen in der Gabel [schmerzten], die Wunde brannte“ (FP 147). Auch innerlich fühlt er sich verletzt und ungeschützt: „Offene Wunde war er jetzt“ (FP 138). Durch die Nähe der realen Wunde zu den Genitalien wird der semantische Bezugsrahmen der Defloration aufgerufen, der durch die spätere Erklärung des Komponisten Slobedeff, den Herzka nach seiner fluchtartigen Zugreise kennenlernt hat, erweitert wird. Slobedeff deutet die Ereignisse, von denen Herzka ihm erzählt, als Initiationsakt: „Sie waren bis gestern Abend ein Knabe. – Dann haben sie eine ‚Bresche‘ bekommen.“ (FP 183 f.) Die reale Wunde am Oberschenkel korrespondiert folglich mit der titelgebenden metaphorischen ‚Bresche‘, die als seelische Wunde in den Dämonen ebenfalls durch Metaphern des Eindringens charakterisiert ist. Slobedeff weist auf den Zusammenhang zwischen der körperlichen und der seelischen Verletzung hin, wenn er Herzkas Tränen als Ausdruck einer seelischen Verletzung in Analogie zu dem Blut einer körperlichen Verwundung stellt: „Wenn sie verwundet werden und das Blut fließt: schämen Sie sich dann des Blutes? Sind Ihre Tränen nicht das Blut Ihres lebenden Gemütes?“ (FP 176) Benedikt Wolf beschreibt in seiner Arbeit Penetrierte Männlichkeit die metaphorischen Ersetzungsoperationen und metonymischen Verschiebungen, mit denen in Erzähltexten der literarischen Moderne die Penetration männlicher Körper verhandelt wird. Bei einer der in diesem Zusammenhang analysierten Erzählungen handelt es sich um Ein Landarzt (1917) von Franz Kafka. Diese Erzählung gehört zu den Texten, die „die erotisch bzw. sexuell konnotierte Überschreitung männlicher Körpergrenzen [erzählen], indem sie gewaltsam geöffnete Männerkörper erotisieren und sich um das Zentrum einer Wunde anordnen.“102 Wie Doderers Erzählung Die Bresche beginnt auch die nur wenige Jahre zuvor erschienene Erzählung Ein Landarzt mit der Vergewaltigung einer Frau, auf die eine homoerotisch gezeichnete Begegnung folgt. Ähnlich wie Kafkas Erzählung stellt auch Doderers Erzählung „dem paradigmatischen Rekurs auf [. . .][die] ‚weibliche‘ Penetrabilität einen metonymischen Rekurs

100 Auch die Namen Agnes Gebaur und Magdalena Güllich weisen mit der Lautkombination [ag] und dem gleichen Anfangslaut des Nachnamens Ähnlichkeiten auf. 101 Später fühlt Herzka „ein leises Kitzeln und Spannen in der Gegend der Wunde“ (FP 151) und sieht „welche große Menge von Blut sich aus seiner Wunde in das Unterzeug ergossen hatte“ (FP 165). 102 Wolf 2018, S. 271.

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auf die anale Penetrabilität von Männerkörpern an die Seite“,103 wenn Herzkas Wunde am Oberschenkel, die wie die Hüftwunde im Landarzt ebenfalls an einer dem Intimbereich nahen Körperstelle, durch die anschließende Begegnung mit Slobedeff in einen latent homosexuellen Kontext gestellt wird.104 Als Herzka nach dem fluchtartigen Verlassen der Stadt vom Zug abspringt und auf Slobedeffs Rücken landet, meint dieser: „Ich lasse mich nicht vergewaltigen“ (FP 170). Trotz seiner weiblichen Erscheinung – mit dem „Gesicht eines Mädchens“ (FP 170) und dem „stark weiblich anmutende[n] Schuhzeug“ (FP 171) – ist er in der männlich konnotierten Rolle und trägt Herzka „quer vor sich auf den Unterarmen zum Diwan (so wie man eine Frau auf das Lager trägt, die sich hingibt)“ (FP 173), so dass beide Figuren sowohl männliche als auch weibliche Geschlechtszuschreibungen erhalten. Nachdem Herzka sich ausgeruht hat, legt er bei Slobedeff eine ‚Beichte‘ ab, worauf hin dieser ihn fragt: ‚Ist Ihnen nicht eine gewisse, terminierte Bezeichnung eingefallen, die man für solche Wallungen und Neigungen gemeiniglich zu gebrauchen pflegt? Haben sie nicht ein einziges Mal während alledem gezaudert, da Ihnen dieses Wort einfiel und Sie dachten: Du mein Gott, das ist ja . . . ‘ ‚Nein‘, sagte Jan. ‚So unbefangen waren Sie . . . so rein . . . ‘ ‚Rein?‘ ‚Ja. Denn Sie gingen mit verbundenen Augen in die Hölle.‘ (FP 180, Hervorhebung von M.B.)

Petra Porto zufolge ist die „Kenntnis der Bezeichnung – und damit einhergehend Kenntnis der Perversion – [. . .] zum einen mit Schmutz verbunden, zum anderen jedoch mit der Fähigkeit zu wählen [. . .].“105 Im Zusammenhang mit dem nicht ausgesprochenen Wort meint Brinkmann, die Bresche könne „als groß angelegter Versuch des Autors gelesen werden, ‚[s]eine pseudo-sadistischen Triebe (oder wie man das Zeug sonst benennen will, etwa mit einer noch blödsinnigeren Bezeichnung)‘ (TB 133, 21. 7. 1923) vor sich selbst zu rechtfertigen.“106 In den Dämonen wird ‚dieses Wort‘ dann in Bezug auf Achaz von Neudegg von René ausgesprochen: „Sadismus ist nur ein Wort. Aber die Psychologie ist nicht dazu da, Beruhigungspillen in Form von Fachausdrücken auszuteilen, durch die jedermann dann glaubt, der Sachen mächtig zu werden“ (DD 1022, Hervorhebung von M.B.). Diese Aussage kann als intertextueller Verweis auf den oben zitierten Dialog aus der Bresche verstanden werden und damit als Kritik an der Darstellung, man könne „angesichts des erschlossenen Kreises der Leidenschaften [. . .] über sich selbst herrschen“ (FP 186).

103 Wolf 2018, S. 298. 104 Zur Darstellung der Homosexualität der Figur Slobedeff, die bereits in Doderers fragmentarischer Erzählung Jutta Bamberger auftritt, siehe Mohr 1983, S. 71. 105 Porto 2011, S. 306. 106 Brinkmann 2012, S. 502.

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Daher denkt Herzka in den Dämonen, dass Slobedeff sich darin geirrt habe, dass er „nun offenen Auges und immer wieder durch die Hölle [. . .][des] Schwankens und Fallens“ (DD 689 u. FP 186) gehen werde. Vielmehr hat er die Erlebnisse verdrängt und fühlt sich, als seine Neigung wieder hervorbricht, in einer ganz ähnlichen Verfassung, wie damals mit Magdalena. Die rationale Erkenntnis hilft ihm nicht, sich selbst zu beherrschen, und es ist allein Agnes’ inszeniertem Unfall zu verdanken, dass er die Obsession überwinden kann. In der Bresche allerdings ermöglicht das psychotherapeutisch anmutende Gespräch mit dem Komponisten107 es Herzka, wieder zu sich zu finden, indem Slobedeff dem Erlebnis zunächst einen Sinn gibt und es als Befreiungsschlag interpretiert. Die Erzählung, deren Musikalisierungsstrategien an dieser Stelle nur angedeutet werden können, endet dementsprechend mit der Aufführung der Abenteuerlichen Symphonie des Komponisten Slobedeff.108 Herzkas Entwicklung geht mit mehreren Musikthematisierungen einher und seine „Selbstfindung entspricht dem Auffinden der richtigen Musik. Der Weg beginnt bei mechanisch anmutender Tanzmusik und endet bei der Symphonie.“109 Zwischen diesen einander kontrastierenden Musikdarbietungen, steht ein heilsamer, von Lautenspiel begleiteter Gesang, der wie „eine Art Musiktherapie“110 auf Herzka wirkt. Sowohl im Zirkus als auch bei einer anschließend von Herzka beobachteten Tanzgesellschaft im Garten einer Villa wird die ‚Quadrilla‘ aus der Oper Carmen (1875) von Georges Bizet gespielt (vgl. FP 130 und 144): Das Orchester auf der Galerie [setzt] schmetternd ein: sie spielen die Quadrilla aus Carmen; die Geigen flirren über dem heftigen, drängenden Baß. Die Cinelle hüllt alles in ihr Sausen ein. Magdalena ist bei dem plötzlichen Einsetzen der Musik leicht erschrocken. (FP 130)

Diese kurze Beschreibung der Musik kann als ‚verbal music‘ kategorisiert werden,111 da sie den Versuch unternimmt, die Musik sprachlich zu beschreiben, wobei u. a. durch onomatopoetische Worte zugleich die Wirkung der Musik imitiert und ihr Effekt anhand der physischen Reaktion Magdalenas beschrieben wird. Ebenso wird auch die Symphonie, der Herzka „nach vollbrachter Integration der perversen

107 Vgl. Mohr 1983, S. 51. 108 Doderer hat, wie bereits erwähnt, selbst ein Libretto namens Symphonische Phantasie ‚Der Abenteurer‘ (1927) geschrieben, das Brinkmann im Anhang seiner Arbeit Musik und Melancholie veröffentlicht hat (vgl. Brinkmann 2012, S. 655–673). Es sei hier nur am Rande darauf hingewiesen, dass die vierteilige Form dieses Librettos mit dem ‚Intermezzo‘ zwischen dem zweiten und dritten ‚Satz‘ auch der formalen Gestaltung der Bresche entspricht, die allerdings zusätzlich mit einem ‚Nachsatz‘ ausgestattet ist und als Vorform der Divertimenti gelten kann. Vgl. Brinkmann 2012, S. 500. 109 Buchholz 1996, S. 94. 110 Buchholz 1996, S. 93. 111 Zur Definition der ‚verbal music‘ siehe Kap. 3.

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Tendenzen in sein psychosexuelles Profil“112 am Ende der Erzählung beiwohnt, mit Elementen der ‚verbal music‘ beschrieben.113 Interessanterweise fragt Herzka in den Dämonen den Kastellan Mörbischer, wie die Musik gewesen sei, die Slobedeff in der Kapelle auf Burg Neudegg gespielt hat. Mörbischers Antwort, man könne Musik nicht beschreiben (DD 719), steht im Kontrast zu der Beschreibung der Symphonie Slobedeffs in der Bresche. Neben Elementen der ‚verbal music‘, dient dort die Beschreibung physischer Vorgänge im Publikum und beim Dirigenten dazu, die Wirkung der Musik sprachlich zu erfassen. Zudem wird der Vokalmusiktext ausführlich zitiert (vgl. FP 202–204). Statt zu versuchen, mit Techniken der ‚verbal music‘ sprachlich möglichst nahe an das Musikerlebnis heranzukommen, wird in den Dämonen nur der Text bzw. der Titel der Vokalmusik zitiert und damit die ‚Evokation von Vokalmusik durch assoziative Zitate‘ gewählt, die in der Bresche nur eines der Elemente neben der Musikbeschreibung war. Die ‚Quadrilla‘ verbindet die beiden Veranstaltungen – den Zirkus und das Gartenfest – und hebt die sexualisierte Darstellung des Tanzes als Äquivalent zu der Pferdeshow hervor, die in einem von Herzka belauschten Dialog zugespitzt wird: „Du hast getanzt?“ – „Freilich, unter anderem mit der dicken Vantoche – die hat Schenkel! Wahre Qualitäten zeigen sich überhaupt erst beim Tanzen – Probegalopp.“ (FP 145) Die Erwähnung der Schenkel evoziert zusammen mit der Bezeichnung des Tanzens als ‚Probegallop‘ die Erinnerung an die Kunstreiterin, die zu Beginn der Erzählung im Zirkus vor der Stutennummer „fast unbekleidet, auf ungesatteltem Pferd“ durch die Manege geritten war, wobei „das Aufklatschen ihrer Schenkel auf dem Pferderücken“ (FP 130) ein – analog zum „drängenden Baß“ der Musik – „eigentümlich drängendes Gefühl“ (FP 130) bei Herzka verursacht hatte. Diese sexuell aufgeladene Semantik der Schenkel findet sich später in der Oberschenkelwunde Herzkas wieder. Auch in den Dämonen taucht Slobedeff in dem Brief des letzten Achaz, von dem Herzka die Burg erbt, wieder auf (vgl. DD 685). Slobedeff wird so zum Bindeglied zwischen der Herzka-Handlung in der Bresche und den Dämonen: Denn erst dieses [Slobedeffs] Erscheinen zeigte, daß man gar nicht aus dem Geleise gesprungen war; daß man auch keineswegs auf irgendeiner abseitigen Nebenstrecke oder Flügelbahn des Lebens sich bewegte, sondern, daß dieser Expreßzug seit heute morgens, oder eigentlich seit Samstag abends, durchaus auf dem Hauptgleis dahinjagte. Es war nur lange nicht sichtbar gewesen.“ (DD 689)

112 Brinkmann 2012, S. 109. 113 Brinkmann merkt dazu in Anspielung auf Roland Barthes an, dass die Beschreibung „auf einer sozusagen unteren Stufe dieser von der Komparatistik anerkannten Sonderdisziplin namens ‚verbal music‘ [verbleibt], indem sie die Musik nämlich lediglich behauptet (hierunter verstehe ich bloße Nennungen und – wie in diesem Fall – Zitate des gesungenen Textes) [. . .] und nicht ‚der Sprache passiert‘ [. . .]“. Brinkmann 2012, S. 110.

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Herzka empfindet demnach seine sadistische Neigung als elementaren Bestandteil seiner Persönlichkeit, den er ebenso verdrängt hatte, wie er auch „Slobedeff fünf Jahre lang vergessen [hat]“ (DD 689). Die Erzählung Die Bresche schildert ein ‚Initiationserlebnis‘, das Herzka – nach Ansicht Slobedeffs – dazu befähigt, „über sich [zu] herrschen“ und „‚ein Mann‘ [zu] sein“ (FP 187). Die Grenzüberschreitung ist innerhalb dieser Logik notwendig und positiv zu deuten – zumindest für Herzkas Entwicklung.114 Welche Funktion Magdalena dabei zukommt, deutet sich schon im ersten Satz der Erzählung an, wo es bei der Vorstellung der Figuren heißt: „Magdalena Güllich (Güllich ist Nebensache; aber ‚Magdalena‘, dieser sanfte Name passt; ihr geht es auch am schlechtesten)“ (FP 121).115 Magdalena als Person ist demnach nebensächlich, und es zeigt sich, dass ihr nur „die Rolle des Katalysators der Entwicklung zu[kommt], [sie nur] als Requisit für Herzkas schmerzhafte Selbstfindung“116 eine Funktion hat.117 Auch das kurze Kapitel Intermezzo, in dem der Fokus auf Magdalenas Reaktion nach der Vergewaltigung liegt, scheint nur als Parallele und Kontrast zu Herzkas Zustand eingefügt zu sein: „Wir müssen wirklich zu der Güllich zurück, sie ist ja am Ende auch nicht der hellichte Niemand.“ (FP 154) Durch die ironisch wirkende stilistische Konstruktion des Satzes mit den Assonanzen und der mehrfachen Einschränkung der Aussage, sie sei ‚nicht Niemand‘ in Verbindung mit der Bezeichnung ‚die Güllich‘, wird deutlich, dass dieses kurze ‚Zwischenspiel‘ nur eine Nebensache ist, wie schon ihr Name. Magdalena liegt „wie eingesargt und begraben in der seit langem unveränderten, gekrampften Stellung der Glieder“ (FP 154) auf dem Boden des „grellbeleuchtete[n] Zimmer[s]“ (FP 155) und scheut sich, die Augen zu öffnen und das „Dunkel des warmen Grabes“ (FP 155) zu verlassen. Diese Todesmetaphorik spiegelt sich auch in der Außenwelt: „Die Häuser finster, hoch; alle Fenster tot, nirgends ein Licht; und die regungslose Luft der Sommernacht lag Magdalena wie ein warmes dunkles Tuch um Mund und Nase. Nicht einmal irgend ein Geruch erfüllte und belebte die Luft.“ (FP 156) Eben diese Passage hatte schon die Beschreibung von Herzkas Zustand nach dem Verlassen des Hotelzimmers eingeleitet.118 Aber während Herzka „wie neu“ (FP 137) dahinschreitet, wobei ein „völlig neugeborner Schwung“ ihn trägt und ihn „Mut [und] Entschlossenheit“ (FP 140) fühlen lässt, empfindet Magdalena „durchaus nichts“ (FP 155) und bewegt sich wie „eine Verstorbene“

114 Vgl. auch Reininger 1975, S. 15. 115 Zur Bedeutung dieses „hochgradig pejorativen Frauennamen[s]“, der sich von Jauche bzw. Gülle ableitet, siehe Voracek 1992, S. 274. 116 Porto 2011, S. 294. 117 Vgl. auch Mohr 1983, S. 80 sowie Fleischer: „Sie [Magdalena] ist ohnehin nicht Person aus sich heraus, sondern Schema und Funktion.“ Fleischer 1996, S. 121. 118 Das Motiv des Tuchs ist mit der Vergewaltigung verknüpft, bei der Herzka Magdalena „ein Handtuch fest um Mund und Nase“ (FP 136) gebunden hatte.

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(FP 156) durch die Straßen. „Die konzentrierte Todes- und Unterweltsmotivik markiert hier nur einen vorübergehenden Tiefpunkt vor dem Wiedereintritt ins Gewohnte.“119 Die möglichst schnelle Rückkehr Magdalenas zur Normalität120 als haltgebende Konstante wird im Gedanken an die Uhrzeit und das Öffnen ihres Geschäftes am nächsten Morgen angedeutet. Demgegenüber steht Herzkas zerbrochene Uhr, die er als Symbol der bürgerlichen Ordnung, aus der er zumindest zeitweise in ein emphatisches Leben ausbricht, von sich wirft (vgl. FP 137). Wenn „emphatisches Leben mittels Erotik in der Frühen Moderne allenfalls der erlangen kann, der zugleich die kulturelle Geschlechterrolle optimal erfüllt, also dezidiert ‚männlich‘ oder ‚weiblich‘ ist“,121 so erklärt sich daraus auch Herzkas gesteigerter Gefühlszustand nach dem Gewaltausbruch, der ihn letztlich dazu befähigt, „‚ein Mann‘ [zu] sein“ (FP 187). Auf die Funktion der Grenzüberschreitung im Kontext einer metaphorischen ‚Wiedergeburt zu neuem Leben‘122 verweist auch Franziska Mayer: Die Bewusstwerdung flagellantischer Wünsche und deren krisenhafte Erfüllung dienen in dem Text somit der Ausgestaltung eines epochenspezifischen Selbstfindungsmodells, das schließlich, ähnlich wie bei Sacher-Masoch, in Autonomie und Affektkontrolle überführt wird.123

Kerscher zufolge hat Doderer von der Erzählung Die Bresche hin zu den Dämonen „ein narratives Defizit korrigiert“,124 da die misogyne Darstellung der Frau in den Dämonen an die Figurenperspektive gebunden ist und somit als Ausdruck der Wahrnehmungsstörung erscheint. Ob sich die Geschlechterkonzeption der frühen Erzählung von der Darstellung in den Dämonen grundlegend unterscheidet, bleibt fragwürdig, da trotz einer gewissen ironischen Distanz zu Jan Herzkas oder Kajetan von Schlaggenbergs Blick auf die Frauen, die Entwicklungsmöglichkeiten weiblicher Figuren extrem eingeschränkt sind und sich letztlich auf die Verwirklichung ihrer biologistisch determinierten Weiblichkeit beschränken. Zumindest scheint sich in der Figur Herzka eine Wende zu vollziehen, indem er seine Phantasien nicht mehr als sexualisierte Gewalt in Form einer Vergewaltigung auslebt, sondern zu einer einvernehmlichen sadomasochistischen Sexualität gelangt. Die Schläge werden zudem nicht mehr mit dem Gürtel sondern nur noch mit der

119 Kerscher 1998, S. 92. 120 Vgl. Kerscher 1998, S. 100. 121 Marianne Wünsch: Sexuelle Abweichungen im theoretischen Diskurs und in der Literatur der Frühen Moderne. In: Literatur und Wissen(schaften), 1890–1935. Hrsg. v. Christine Maillard und Michael Titzmann, Stuttgart 2002 (= M-&-P-Schriftenreihe für Wissenschaft und Forschung: Literatur), S. 349–368, hier: S. 362. 122 Marianne Wünsch: Das Modell der ‚Wiedergeburt‘ zu ‚neuem Leben‘ in erzählender Literatur 1900–1930. In: Klassik und Moderne. Die Weimarer Klassik als historisches Ereignis und Herausforderung im kulturgeschichtlichen Prozeß. Hrsg. v. Karl Richter und Jörg Schönert, Stuttgart 1983, S. 379–408. 123 Mayer 2016, S. 136. 124 Kerscher 1998, S. 221.

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Samtpeitsche ausgeführt, was den inszenierten Charakter des Rituals unterstreicht. Baumann stellt – allerdings unter Verwendung eines problematischen Triebbegriffs – fest, dass Herzka damit die Kavernen der Burg ‚entmystifiziert‘ und der „Dämon [. . .] in eine Ordnung gebannt“ wird, so dass jetzt „Herzka mit ihm spielen [kann und] nicht mehr länger [. . .] er Spielball des Triebes [ist]“.125 Während die Entwicklung Herzkas in der Bresche zeigt, wie er durch den Ausbruch seiner sadistischen Neigung zu sich selbst findet, und Magdalena gezwungenermaßen das dafür notwendige Opfer bringt, deutet die Fortsetzung der Geschichte Herzkas in den Dämonen darauf hin, dass die einmalige ‚Bresche‘, welche in die internalisierten Verhaltensnormen geschlagen wurde, nicht die Lösung ist, um die Störung der Sexualpräferenz in den Griff zu bekommen. Zwar kann Herzka jahrelang erfolgreich seine Neigung verdrängen, sie kommt dann aber plötzlich wieder zum Vorschein. René sieht nach dem Fund des Manuskriptes die kommenden Entwicklungen, bei denen er als „festbesoldeter Referent für Pseudo-Hexenprozesse“ (DD 734) mitwirken soll, ironisch voraus. Herzka werde sich ein „Hausgärtlein der Erotik“ anlegen, wobei durch die starre Inszenierung der sexuellen Vorlieben, „eine Brackwasser-Fauna und Tümpel-Flora“ entstehen würde. Daher werde es, so sagt er in Gedanken zu Herzka, „schließlich [. . .] am gescheitesten sein, wenn Sie eine heiraten, die Ihnen den ganzen Zauber dann vorspielt.“ (DD 734) Jasper Mohr verweist auf die „korrekte Adaptierung Freudscher Kategorien“126 in der Bresche, stellt allerdings eine fehlende „Sinngebungsperspektive“ fest, da er meint, Herzka müsse lernen, „daß es nicht möglich sein wird, eine ‚Bresche‘ aus der habituell gewordenen Perversion in eine echte zwischenmenschliche Beziehung zu schlagen.“127 Die Fortsetzung von Herzkas Geschichte in den Dämonen zeigt jedoch, wie die Transformation der Sexualstörung in eine nicht pathologische Paraphilie, die auf Einvernehmlichkeit beruht und weder ihm noch der daran beteiligten Person Schaden zufügt, zu einer Lösung der Obsession und zudem in eine Ehe mit der Frau führt, die ihn schon „seit Jahr und Tag glühend [liebt]“ (DD 1045). Eben diesen Schritt, die Obsession in den Alltag zu integrieren, hat Herzka seiner Meinung nach mit Magdalena verpasst. In der Erinnerung an seine Ausschreitungen bereut er das: „Er hätte sie heiraten sollen. Er hätte sie zu seinen Wünschen erzogen. Aber in dieser plötzlichen Weise! Welche Dummheit!“ (DD 683) Diesen Fehler will er mit Agnes Gebaur nicht wiederholen. Er relativiert die Vergewaltigung, die er zwar als ‚Mißhandlung‘ erkennt, aber dennoch als Missverständnis interpretiert. Seinen Fehler sieht er im zu schnellen Vorgehen und der mangelnden Erklärung, durch die Magdalena ihn hätte verstehen können: „[Es war] eine offenkundige Mißhandlung, die er gar nicht meinte, nicht gewünscht hatte. Aber sie

125 Baumann 2003, S. 61. 126 Mohr 1983, S. 24. 127 Mohr 1983, S. 82.

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verstand ihn nicht. Er hätte ihr das Buch [das Passional] zeigen müssen. Die Gebaur heiraten.“ (DD 683) Slobedeff erklärt Herzka, dass Magdalena für ihn gelitten und ihn gefördert habe. Sie bleibe nun aber zurück, während ihn „schon ein neuer Strom zu neuen Gestaden“ trage: Sie [die Frauen] bleiben am Ufer stehen. Welches Rätsel, diese herrlichen Wesen! Immer sind sie hinter unserem reißenden Schicksal wie eine Landschaft, an der es vorübergeht. Welche unglaublich große, stumme Kraft in diesem Leiden, das sie haben ohne zu wissen – “ Nein! wahrhaftig! Diese brauchen unsere ‚Erklärungen‘ nicht. Denn unser ganzer Kopf reicht nicht aus um auch nur bis an den Rand ihrer Seelen zu gelangen. (FP 198)

Die ‚Verabschiedung‘ der Figur führt zu einer „Entmenschlichung“ und hin zu einer „Apotheose des leidenden Weibes an sich“.128 Kerschers Deutung, die „Idealisierung [Magdalenas] zur Heiligen oder gar Mariengestalt“ sei „als bloße Ironisierung aufzufassen“,129 ist daher – auch im Hinblick auf die in der Erzählung mehrfach wiederholte Erklärung der Figur zur ‚Nebensache‘ – zutreffend. Äußerst fragwürdig bleibt allerdings die Spekulation, Magdalena hätte bei Herzkas „wildem Ausbruch [. . .] auch die Gelegenheit zur Selbstbesinnung“130 gehabt. Sie ist so viel, so viel mehr . . . wir können schon mit ihr nichts mehr anfangen. Sie ist jeder Überlegung weit überlegen. Magdalena Güllich! Wir lieben Dich um Deiner großen Leiden willen, die Du in aller Welt hast, von denen Dein Herz voll ist und Deine geöffneten Hände übergehen. Du bist wie Landschaft. Du bist wie gekrönt. Oh! Wie bist Du groß, wie sind wir klein und lärmend! – [. . .] Sie ist schön, sie ist sanft, sie ist still. Sie ist selbst wie der große, unerfaßliche Rest, der hinter jedem Ding, jedem Haus, jeder Landschaft steht. (FP 205)

Die religiös stilisierte Verehrung von Frauen verbunden mit einer Naturalisierung und Mythisierung ist an dieser Stelle durch die überspitzte Darstellung und den innerhalb des hymnischen Abgesanges inadäquaten Namen ‚Güllich‘ ironisch gebrochen. Dennoch wird die angebliche Sinnhaftigkeit des Leidens durch den religiösen Kontext verstärkt: „Sie [Magdalena] leidet für ihren Glauben, für ihren Gott – dadurch wird ihre Qual sinnvoll; sie ist im Weltenplan aufgehoben.“131 Die religiöse Überhöhung Magdalenas korrespondiert mit Herzkas Imagination, in der sich die Märtyrerinnenabbildungen mit den jeweiligen Frauen (Magdalena in der Bresche

128 Baumann 2003, S. 74. 129 Kerscher 1998, S. 100. 130 Kerscher 1998, S. 99 f. Auch wenn Doderers Darstellung der Magdalena stark misogyne Züge trägt, scheinen der beschriebene Totstellreflex und ihre seelische Taubheit infolge einer dissoziierten Verfassung nach der Vergewaltigung um einiges naheliegender, als die Überlegung, das verstörende Erlebnis als Chance für eine ‚Selbstbesinnung‘ zu nutzen. 131 Porto 2011, S. 312.

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und Agnes in den Dämonen) überlagern. Die Rolle der Märtyrerin und Heiligen ist den beiden Frauen auch durch ihre Namen zugeschrieben. Porto schlussfolgert: „Die Frau erweist sich zwar als sublim und überlegen, gleichzeitig ist sie aber auch ‚Landschaft‘, Natur, ‚der große Rest‘: vorbewusst und irrational.“132 Auch in der Strudlhofstiege und den Dämonen bezieht sich die Klugheit von Frauen auf ihre „[uterale] Raison“ (DS 434)133 und wird mit Intuition gleichgesetzt. Anders als bei den männlichen Figuren zeigt sich weibliche Intelligenz nicht in philosophischen Gesprächen.134 Ihre Klugheit besteht darin, bei gebildeten Gesprächen zu schweigen, so dass „auf diese Weise [. . .] das Niveau gehalten werden [kann]“ (DD 1024).135 Grete Siebenschein ist eine dieser ‚klugen Frauen‘, die intuitiv, nicht aber intellektuell bestimmte Zusammenhänge erfassen: Es ist nicht anzunehmen, daß sie seine Ausführungen eigentlich verstanden hatte, was man halt so Verstehen nennt im philosophischen Sinne. Aber sie vermeinte zu fühlen, und zwar überaus deutlich, daß hinter Stangelers Darlegung durchaus etwas stand – was sie eben nicht verstand. Doch blieb es vorhanden. Dies konnte, ja, mehr als das, dies durfte ihr genügen. (DD 1022)

Das ‚vorbewusste Wissen‘ entspricht Otto Weiningers These, Frauen blieben stets in einem unbewussten „Henidenstadium“, da bei dem Prinzip des Weiblichen „‚Denken‘ und ‚Fühlen‘ eins“136 sei. Auch die Konzeption der Geschlechter in der Bresche stimmt mit Weiningers Idee vom „Typus der Magd“137 und dem „genialen Menschen“, der „an den stärksten geschlechtlichen Perversionen [leidet]“138 überein. Die Figur Slobedeff verkörpert als androgyner Typus eine der „sexuelle[n] Zwischenformen“ zwischen einem „idealen Mann M und ein[em] ideale[n] Weib W“.139 Als Beispiele für die Perversionen der genialen Menschen resp. Männer nennt Weininger Sadismus und Masochismus, die Ausdruck eines „Vorbeiwollen[s] am Koitus“ seien: „Denn einen wahrhaft bedeutenden Menschen, der im Koitus mehr sähe als einen tierischen, schweinischen, ekelhaften Akt, oder gar in ihm das

132 Porto 2011, S. 310. 133 Die Unterscheidung in eine männlich-zerebrale im Gegensatz zu einer weiblich-uteralen Vernunft findet sich auch in den Tangenten (vgl. u. a. T 553). 134 Siehe auch Baumann 2003, S. 159. 135 Sowohl bei Quapp in den Dämonen als auch bei Etelka Stangeler in der Strudlhofstiege führt die Beschäftigung mit Themen, die ihren geistigen Horizont übersteigen dazu, dass die philosophischen Begriffe „auf ihr höchstpersönliches Dasein angewandt wurden, obgleich dieses Dasein und Denken unterhalb jeglichen Begriffs-Kanons sich abspielte“ (DD 941), bzw. dass die SchopenhauerLektüre „die wunderlichste Umbildung durch Unbildung, bis zu einem fruchtbaren und letzten Endes furchtbaren Mißverständnisse“ (DS 117) erfährt, so dass „aus ihrer Lektüre eine Art Interpretation der eigenen Stimmung“ (DS 117) wird. 136 Vgl. Weininger 1903, S. 128. 137 Weininger 1903, S. 367. 138 Weininger 1903, S. 385. 139 Weininger 1903, S. 9. Vgl. auch Brinkmann 2012, S. 507.

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tiefste, heiligste Mysterium vergötterte, wird es, kann es niemals geben.“140 Trotz der zentralen Bedeutung des Erotischen in Doderers Werk, bleibt der Sexualakt meist eine Leerstelle. Bei den sadistischen, voyeuristischen und fetischistischen Figuren rückt er an die Peripherie des Interesses, da andere Sinnesreize oder bestimmte Inszenierungen im Zentrum stehen. In diesem Kapitel wurde die Darstellung der sadistischen Obsession in den Dämonen durch Hinzuziehung der intertextuellen Bezüge zur Bresche erweitert. In dieser Erzählung aus der Frühen Moderne ist die Geschlechterkonzeption sehr deutlich an den Thesen aus Weiningers Geschlecht und Charakter orientiert und die mangelnde Entwicklung weiblicher Figuren, die als Katalysator für die männliche Selbstfindung fungieren, zeigt sich noch ganz unverschleiert. Während Herzka in der Bresche durch das ‚Initiationserlebnis‘ seine heroische ‚Mannwerdung‘ vollzieht, bleibt die Figur Magdalena in der Realität ihres profanen Alltags zurück und wird zugleich in der männlichen Phantasie ihrer Individualität enthoben und zu einer Heiligen stilisiert. Aber auch in den Dämonen dient die an der scheinbar gelungenen Integration der sexuellen ‚Devianz‘ beteiligte weibliche Figur nur als Projektionsfläche für die inneren Kämpfe Herzkas. Das Motiv der Wunde, das einerseits mit ‚effeminierenden‘ Aspekten verbunden wird und andererseits als metaphorische ‚Bresche‘ zur männlichen Identitätsfindung beiträgt, wird in den Dämonen wieder aufgegriffen. Während es in dem älteren Text noch vorrangig als Metapher für den Ausbruch aus normativen Gesellschaftszwängen fungiert, wird es in den Dämonen in den Kontext der Apperzeptionstheorie integriert, innerhalb derer die Wunden bei Kajetan, Geyrenhoff und Herzka zunächst in eine ‚zweite Wirklichkeit‘ führen, um nach ihrer Heilung durch den Kontakt zur ‚Realität‘, der sie mit „dem heilenden Balsame der Wirklichkeit“ (DD 1050) umgibt, potenziell die ‚Menschwerdung‘ zu ermöglichen. Die durch diesen Exkurs ergänzten Überlegungen zur sadistischen Obsession als Ausdruck einer ‚zweiten Wirklichkeit‘ im vorangegangenen Kapitel 5.1.1 haben die sexuell motivierte Wahrnehmungsproblematik der Figur Jan Herzka und die motivische Verknüpfung mit anderen Erzählsträngen dargestellt. Dabei fielen besonders die Pathologisierung von Wahrnehmungsvorgängen, das dissoziative Körperempfinden und die umfassende Todesmetaphorik als Zeichen der dämonischen Gefährdung des Individuums auf, welche u. a. über die Raumsemantik der Kavernen auf die Bedrohung der Gesellschaft verweist. Doderers Darstellung des „Sadismus als Prodigium späterer Greuel größten Ausmaßes im Dritten Reich“141 wurde anhand der Schlitz-Symbolik erläutert, die sich über ihre Funktion in den mittelalterlichen Kavernen der Burg bis hin zu den tödlichen Schüssen auf eine Gruppe von Sozialisten im Jahr 1927 erstreckt, und ihr Zusammenhang mit der leitmotivischen

140 Weininger 1903, S. 385. 141 Kerscher 1998, S. 216.

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Repetition des Schiller-Zitates dargelegt. Diese motivischen Überschneidungen zwischen Sexualpräferenzstörungen und politischen Ideologien werden anhand Kajetan von Schlaggenbergs ‚Dicke-Damen‘-Obsession näher erläutert. Zunächst wird es jedoch um die sadistisch-voyeuristischen Präferenzen des Vorfahren Jan Herzkas gehen, welche in dem auf Burg Neudegg gefundenen Hexenmanuskript beschrieben werden.

5.1.3 Voyeurismus und Sadismus „dort unten in der Tiefe der Zeiten“ – Die mittelalterliche Handschrift Im Kapitel Dort unten142 werden die Mechanismen der ‚zweiten Wirklichkeit‘ und die mit ihr verbundene Metaphorik in konzentrierter Form wiedergegeben. Das Kapitel besteht aus dem fiktiven spätmittelalterlichen bzw. frühneuzeitlichen Manuskript, das René Stangeler in der Bibliothek der Burg Neudegg gefunden und zum Teil in neueres Deutsch übersetzt hat, um es seinem Auftraggeber Jan Herzka vorzulesen. Es umfasst knapp 50 Seiten und wird thematisch durch zwei Kapitel vorbereitet – Die Falltür und Die Kavernen von Neudegg –, in denen Herzkas sexuelle Obsession im Mittelpunkt steht. Wie bereits ausgeführt wurde, können die Kavernen der Burg und der in dem Manuskript beschriebene von seinem Vorfahren Achaz von Neudegg inszenierte Hexenprozess als ‚reale‘ Manifestation der Phantasien Jan Herzkas gedeutet werden,143 so dass es zu einer paradoxe[n] Verschränkung der Zeitebenen [kommt]: Herzka scheint in der Romanfiktion vorwegzunehmen, was schon Jahrhunderte zuvor stattgefunden hat, so daß die im Manuskript dokumentierte Vergangenheit als Verwirklichung seiner gegenwärtigen Wunschvorstellungen angesehen werden kann.144

Der fiktive Chronist und Ich-Erzähler Ruodlieb von der Vläntsch, der als junger Knappe die Anweisungen seines Herrn umsetzen musste, beschreibt in dem Schriftstück „wie mit den Zaubrinnen gehandelt ze Neudegck als man sy vieng“ (DD 727).145 Diese Ereignisse aus dem Jahr 1464, die Ruodlieb sein Leben lang verfolgen, schreibt er mit dem erheblichen zeitlichen Abstand von 53 Jahren im Jahr 1517 nieder (vgl. DD 737). Mit dieser Erzählerfiktion steht das Manuskript in Analogie zur

142 Der Titel des Kapitels ist von Joris-Karl Huysmans’ Roman Là-Bas (1891) übernommen. Der „metaphorische Titel ‚Dort unten‘ [bedeutet] bei beiden Autoren gleichermaßen im zeitlichen Sinne die ferne Vergangenheit [. . .] wie im inhaltlichen Sinn den Bereich des Dämonischen.“ Weber 1963, S. 205. 143 Vgl. Kerscher 1998, S. 223. 144 Kerscher 1998, S. 231. 145 „In einer beklemmenden Verbindung von Schreiben als Herrschaftspraxis und simulierter Rechtlichkeit, als Akt von Macht/Ohnmacht und physischer, symbolischer und erotischer Gewaltausübung war der Schreiber Opfer und Täter zugleich.“ Helmstetter 2016, S. 103.

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Erzählfiktion des gesamten Romans, der im Untertitel – Nach der Chronik des Sektionsrates Geyrenhoff – auf den fiktiven Chronisten verweist, welcher ebenfalls mit einem zeitlichen Abstand von immerhin 28 Jahren über die Ereignisse im Umfeld der ‚Unsrigen‘ berichtet. Auch Ruodliebs Hinweis darauf, dass er bereits während der Geschehnisse mit dem Schreiben begonnen habe, weshalb er sich bei seiner späteren Niederschrift nicht nur auf sein Gedächtnis habe verlassen müssen (vgl. DD 773), entspricht Geyrenhoffs Darstellung, seine „Berichte [seien][. . .] vielfach gleichzeitig mit den Ereignissen [entstanden]“ (DD 10) und später zusammengefasst und überarbeitet worden. Neben diesen Parallelen in der Erzählfiktion, finden sich auch inhaltliche Spiegelungen in den Biographien der beiden Chronisten: Ruodlieb fühlt sich von den Erlebnissen ‚vergiftet fürs ganze Leben‘ und sagt explizit, dass er deswegen nicht geheiratet habe (vgl. DD 777). René erkennt die Tatsache, dass die Ursache dafür nicht bei Ruodlieb liegt, sondern dass „man [. . .] ihm – und vielleicht dem anderen Fünfzehn- oder Sechzehnjährigen auch – das Leben vergiftet [hatte]“ (DD 731). Als Verursacher der ‚Vergiftung‘ muss also Achaz von Neudegg verstanden werden, dessen Nachfahrin eine ähnlich fatale Rolle für Geyrenhoffs Geschlechtsleben spielt: Fortwährend fühlt er sich „in unbegreiflicher Weise in [sein][. . .] fünfzehntes Jahr und zu jener Gräfin Charagiel, geborene Neudegg“ (DD 1175) zurückversetzt, die mit einem giftigen „Wespenstachel [. . .][in sein] jugendliches Gemüt gefahren war“ und er „[vermeint] sogar zu wissen, warum [. . .] [er] so lange Junggeselle geblieben war.“ (DD 1097) Sowohl Ruodlieb als auch Geyrenhoff hatten demnach als Fünfzehnjährige ein traumatisches sexuelles Initiationserlebnis, für das ein Mitglied des Neudegg-Geschlechts verantwortlich war, und beide sind so stark davon geprägt, dass ein Geschlechtsleben für sie unmöglich erscheint. Während sich in der aktiven sadistischen Obsession Achaz von Neudeggs die Verfassung seines Nachkommen Jan Herzka spiegelt, findet also eine ähnliche Spiegelung auch in diesen mehr oder weniger passiv erfahrenen Erlebnissen der Chronisten-Figuren statt. Wie Herzka scheint auch Claire Charagiel das phallisch-aggressive Potenzial ‚geerbt‘ zu haben, das die Burg mit ihrem „beträchtlichen Turm“ symbolisiert.146 Auch Charagiel hat wie ihr Vorfahre Achaz einen stark ausgeprägten Jagdinstinkt, der sie einst dazu verleitet hatte, den Kanarienvogel eines Angestellten zu erschießen (vgl. DD 844). Der phallische Bergfried der Burg wird zweimal in nahezu gleichen Worten beschrieben und dabei mit den sexuell konnotierten Motiven der

146 Dieses phallische Motiv wird auch im Innenraum der Burg als emporragender Säulenstumpf in der Folterkammer aufgegriffen (vgl. DD 743); siehe Kap. 5.1.1.

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Jagd und dem auf die sadistischen Neigungen des Neudegg-Geschlechts verweisenden Peitschenstiel verknüpft: Am anderen Tage, Dienstag, den . Mai, sahen sie [Herzka und René Stangeler] gegen elf Uhr die Burg Neudegg (wir nennen sie nun einmal so) über den hier noch mäßigen Höhen erscheinen. Der Kutscher des leichten Jagdwagens, der die beiden Herren vor dem kleinen Bahnhof erwartet hatte, deutete den Punkt mit dem Peitschenstiele in der Landschaft. Die Straße machte indessen einen Bogen, und das Schloß verschwand wieder. Man hatte, außer einem beträchtlichen Turm, nicht viel gesehen. (DD , Hervorhebungen von M.B.)

So sahen sie [Grete und René] denn zwei Tage später, gegen elf Uhr vormittags, die Burg Neudegg über den hier noch mäßigen Höhen erscheinen. Der Kutscher des leichten Jagdwagens, der das Paar vor dem kleinen Bahnhof erwartet hatte, deutete der Dame den Punkt mit dem Peitschenstiele in der Landschaft. Die Straße machte indessen einen Bogen, und das Schloß verschwand wieder. Grete hatte, außer einem beträchtlichen Turm, nicht viel gesehen. (DD , Hervorhebungen von M.B.)

Die erläuterte Spiegel-Funktion erfüllt das Manuskript nicht nur bezüglich einzelner Figuren und Motive sowie für die Erzählerfiktion, sondern auch für die WirklichkeitsProblematik als übergeordnetes Thema des Romans, sodass eine komplexe ‚mise en abyme‘-Struktur entsteht, die bereits von Kerscher aufschlussreich dargestellt wurde.147 Die vielfältig variierten Formen der eingeschränkten Wirklichkeitswahrnehmung, die nahezu jede Figur und jeden Erzählstrang der Dämonen prägen, werden im mittelalterlichen Manuskript als ‚zweite Wirklichkeit‘ „dort unten in [. . .][die] Tiefe der Zeiten“ (DD 753) projiziert, wodurch sich eine „ins Unendliche [weisende] Perspektive auf den ‚Abgrund‘ [. . .] der Zeiten“ eröffnet, in dem „die Möglichkeit unendlicher Vervielfältigung [und][. . .] die Illusion einer unendlichen Spiegelung“ aufgerufen wird.148 Einerseits wird die Wahrnehmungsstörung durch die sexuelle Obsession in dem stilistisch stark abgesetzten Text in konzentrierter Form wiedergegeben; andererseits wird durch die Projektion der Thematik auf die Vergangenheit und durch die die Lektüre erschwerende frühneuhochdeutsche Sprache mit „[mittelhochdeutschen] Einsprengsel[n]“ (DD 753), in der das Kapitel gehalten ist, eine Distanz zum Dargestellten geschaffen. Diese Distanz wird durch die thematisierte Erzählsituation vor und nach dem Vorlesen des Manuskripts noch verstärkt: Herzka fühlt sich wie ein fieberndes Kind und sieht in René den „Arzt seiner Kindheit“ (DD 807), von dem der Geruch von Desinfektionsmittel ausgeht, welcher „im übertragenen Sinne, von jeder Fachwissenschaft mehr oder weniger verbreitet wird, nicht nur von der medizinischen, und alles vom Leben abtrennt und zum Präparat macht, was in ihren Bereich tritt.“ (DD 756). Neben dem historischen und philologischen Interesse des

147 Vgl. Kerscher 1998, S. 234–245. 148 Kerscher 1998, S. 236.

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Mediävisten René wird damit auch eine medizinisch-pathologische Perspektive auf die Obsession angedeutet. Die in das Manuskript in Klammern eingefügten erklärenden und bestimmte Ausdrucksweisen erläuternden Kommentare Renés halten diese Erzählsituation und seine wissenschaftliche Perspektive präsent.149 Eingeleitet wird das Manuskript durch seine Ankündigung: „‚Und nun hören Sie‘, sagte Stangeler, und schlug die alte Handschrift und daneben sein Heft auf.“ (DD 756) Und nachdem er das Schriftstück vorgelesen hat, kommentiert er es direkt im Anschluss dezidiert unbeteiligt und leicht ironisch: „‚Nett ist das, wie er diesen Narrenturm beschreibt‘, sagte René beiläufig und legte die Handschrift beiseite.“ (DD 807) Durch diese Überleitungen wird der Vortrag des Manuskripts in die Handlungsgegenwart des Romans eingebettet.150 Ruodliebs Bericht handelt von einem vermeintlichen Hexenprozess, den der Burgherr Achaz von Neudegg inszeniert, um zwei Frauen zu entführen und über längere Zeit auf der Burg gefangen zu halten. Die beiden Knechte bzw. Knappen (vgl. DD 756) Heimo und Ruodlieb sind ihm dabei behilflich, die Frauen in den eigens dafür vorbereiteten Kavernen in demütigenden Szenarien auszupeitschen und zu befragen.151 Achaz selbst geht es nicht darum, die Frauen mit Gewalt dazu zu bringen, sich seinen sexuellen Wünschen zu unterwerfen, sondern dabei zuzusehen, wie ihr tugendhaftes Auftreten durch demütigende Inszenierungen durchbrochen wird. Für diesen voyeuristischen Zweck hat er einen geheimen Gang anlegen lassen, von dem aus er durch Schlitze in der Wand das Geschehen beobachtet und notfalls auch durch einen Schuss aus seiner Armbrust klarstellen kann, wer hier die Anweisungen gibt. Durch den Bericht des Knappen Wolf werden zunächst die Vorgeschichte der Entführung und die Entwicklung der Obsession nachgezeichnet: Achaz’ Werben um die Frauen wurde seiner Schilderung nach umso eindringlicher, je mehr sich die Frauen ‚ehrbar‘ und ‚züchtig‘ zeigten und Achaz feststellen musste, dass „er irer niecht mechttig wuerd“ (DD 763). Als sie nach mehreren Tagen noch immer nicht nachgegeben haben, verändert sich sein Verhalten und er beschließt, sie zu sich auf die Burg zu bringen, wo er die Behauptung aufstellt, sie seien Hexen. Ab diesem Zeitpunkt versucht er nicht mehr, sich den Frauen zu nähern, sondern begnügt sich damit, die Kulissen und Requisiten vorzubereiten – er lässt Handwerker kommen, die in den ursprünglich als Lagerräumen genutzten Kavernen eine Folterkammer einrichten und legt die Samtpeitsche, Seile und Weihrauch bereit. Zudem gibt er

149 Vgl. u. a. DD 783, 784, 792, 795. 150 Vgl. Hauer 1975, S. 172. 151 Den biographischen Hintergrund dieser Inszenierungen beschreiben u. a. Dorothea Zeemann und Wolfgang Fleischer. Auch die Namensgebung lässt sich als Hinweis darauf verstehen, da Heimo ein Kosename Doderers war. Siehe Dorothea Zeemann: Jungfrau und Reptil. Leben zwischen 1955 und 1966. Frankfurt a. M. 1982, S. 69 sowie Fleischer 1996, S. 419–421 und 501.

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die Regieanweisungen an seine Knappen und sieht dem Schauspiel heimlich und aus sicherer Entfernung zu. Das Thema der übertrieben zur Schau gestellten und damit unglaubwürdigen Tugend von Frauen, die sich unnahbar geben und zugleich damit kokettieren, korrespondiert mit einer vorangegangenen Episode der Dämonen, in der „die abweisende Tugend in Personifikation und Glorifikation“ (DD 376) durch Kajetan von Schlaggenberg geschildert wird. Kajetan, der jede Frau als potenzielle Sexualpartnerin auf die passenden Maße und Eigenschaften hin mustert, beschreibt Geyrenhoff „dieses Sinnbild“ (DD 376), das für ihn „maßlos aufreizend“ (DD 375) wirkt: Sie heißt Tugendhat. Sie weiß, daß sie Tugend hat, und das steht ja schon im Namensschild. Sollten eigentlich alle so heißen, diese Weiber! Sie weiß jedoch ebensogut oder noch besser, daß es auch anders geht, und besitzt dazu eine ganz respektable Möglichkeit. Letztere läßt sie nun gleichwie ein Säumchen ihrer beneidenswerten dessous [sic] unter dem Kleide der Tugend hervorstehen. (DD 376)

Kerscher stellt im Zusammenhang mit dieser Anekdote die sowohl bei Kajetan als auch bei Herzka ausgeprägte „Tendenz zur aktiven Destruktion metaphorischer Qualitäten“152 fest. Den sprechenden Namen deutet Kajetan „dem Wortsinne nach [. . .]: eine Frau, die – Tugend hat“ (DD 375). „Er drängt auf Verwirklichung [der ihr bewussten ‚Möglichkeiten‘] und somit Zerstörung der für ihn evidenten metaphorischen Aussage des Namens.“153 Der abweisende Blick von Frauen mit stark ausgeprägten sekundären Geschlechtsmerkmalen, die als „[würdige] Ausbuchtungen [. . .] wahrhaft in Prozessionen vor der Besitzerin her und hinter derselben drein [wandeln]“ (DD 381), wird als Aufforderung verstanden, die als nur oberflächlich angenommene Abwehr zu durchbrechen.154 Kajetan, Herzka und Achaz fühlen sich demnach nicht nur „durch die tugendhafte Verhüllung der weiblichen Objekte ihrer Begierde, also durch deren Kleidung, Ausstrahlung und Haltung provoziert“,155 sondern interpretieren auch körperliche Merkmale als Aufforderung, die scheinbar im Widerspruch zur Haltung der Frau steht. Bezeichnenderweise sind es auch zu Beginn der Strudlhofstiege Kajetan von Schlaggenbergs Worte, mit denen Dr. Negrias aggressives Werben um die tugendhafte

152 Kerscher 1998, S. 228. 153 Kerscher 1998, S. 228. 154 Kajetan stellt sich bei der so beschriebenen Frau vor, sie „würde splitternackt hier durch das Café gehen. Und eigentlich tut sie’s auch. Weil sie nämlich ebenfalls sehr viel Tugend hat.“ (DD 381). 155 Kerscher 1998, S. 228. „Indem er [Herzka] die reale Agnes Gebaur in den Kupferstich und dann vor allem in die abartigen Veranstaltungen des Achaz, wie sie im Manuskript geschildert werden, hineinprojiziert, scheint sich ihm ein Weg zu öffnen, die metaphorisch gedeutete ‚Verhülltheit‘ [DD 1045] der Gebaur in den Kavernen von Neudegg real zu durchbrechen“. Kerscher 1998, S. 228.

5.1 Sexuelle Obsessionen als ‚zweite Wirklichkeit‘

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Mary K. – deren „Treue, [. . .] nichts anderes ist als Habsucht in Bezug auf Qualitäten“ (DS 10) – in Parenthese kommentiert wird:156 (Der Schriftsteller Kajetan von S. hätte hier zweifellos geschrieben ‚er begehrte sie aus abgründiger Bosheit‘ – und bei Leuten seiner Art mag es ja solche im Grunde harmlose, auf groteske Manier zurechtfrisierte Dummheiten wirklich geben.) (DS 10)

Dieser Einschub verweist bereits auf Kajetans in den Dämonen dargestellte ‚Dicke Damen‘-Fixierung und lässt sich ebenfalls auf Achaz von Neudegg beziehen, dessen Begehren durch die Abweisung verstärkt und zu einer Obsession wird. Auch die „paradoxe Verbindung des Unheimlichen und Abstoßenden mit dem Komödiantisch-Lächerlichen, wie sie in der schmerzlosen Auspeitschung mit Samtpeitschen [. . .] vorliegt“157– bzw. von ‚abgründiger Bosheit‘ und ‚harmloser Dummheit‘, wie es in der Strudlhofstiege heißt – findet sich in den Dämonen in der Einschätzung René Stangelers wieder, als dieser das Manuskript zum ersten Mal gelesen hat und „konstituiert einen grotesken Effekt in der für Doderer signifikanten Zuspitzung auf die Schauspielmetaphorik“:158 Ein furchtbarer Dunst stieg gleichsam aus diesen Blättern, von einer Begehrlichkeit kommend, die ihm nicht anders schien als ein Baum von Eisen, der mit glühenden Wurzeln tief in den Boden, ja zwischen die Felsen greift. Was hier auf Neudegg sich abgespielt hatte, war keineswegs eine Tragödie: es war eine Affenkomödie der Leidenschaften. Diese Quelle warf vieles um. (DD 730)

Achaz nutzt die Tradition der Hexenverfolgung als Vorwand, um die beiden Frauen auf seiner Burg gefangen zu halten und durch demütigende Inszenierungen dazu zu bringen, ihre tugendhafte Haltung aufzugeben. Bei der ‚peinlichen Befragung‘ sollen ihnen die Knappen mit der (Samt-)Peitsche auf den „ruckhen schreiben: zu viell tugent pringet laiden.“ (DD 778) bzw., „ir tugendlichkait auf den ploss hinderen ainmal krefftiglichen schreiben“ (DD 782). Reisner stellt im Kontext der Verknüpfung von Sexualität und Schreibszenen in den Dämonen hierzu fest: Anstatt über die Körper der Frauen zu schreiben, sollen sie nun selbst, wenn auch nur symbolisch, als Schreibfläche benutzt werden. Beim Verhör wurden Schreiber und Scherge noch auseinanderdividiert und der männliche Körper somit aufgespalten in einen Teil, der mit der ‚sauberen‘ Schrift zu tun hat, und einen anderen, der für den Körper zuständig ist. Bei der peinlichen Befragung fallen diese beiden Funktionen wieder zusammen.159

156 Mary gibt die Treue zu ihrem Mann auch nachdem ein Trauerjahr verstrichen ist, nicht auf, weil „der Pegelstand im Reservoir der Tugend [. . .] eine beträchtliche Höhe erreicht hat“ (DS 563) und sich „von Tugenden [. . .] zu trennen [. . .] am Ende ebensoviel Selbstverleugnung erfordern [kann,] wie das Abscheiden von eingealteten Lastern.“ (DS 563) Mary hat eine starke erotische Ausstrahlung und sie selbst fühlt sich von der „Männerwelt“ „affiziert“ (DS 563), aber durch ihren „Qualitäts-Geiz“ (DS 10) ist sie „nicht stabil im Gleichgewicht“ (DS 11), was der Romanlogik zufolge letztlich zu dem Unfall mit der Straßenbahn führt. Vgl. Sommer 1994, S. 64. 157 Kerscher 1998, S. 229. 158 Kerscher 1998, S. 229. 159 Reisner 2017, S. 156.

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Die aggressive sexuelle Begierden weckende Tugend findet Jan Herzka in der Lektüre des ‚Passionals‘, in dessen Abbildungen von Märtyrerinnen er Agnes Gebaur als „tugendhafte Witwe (?!) [sic]“ (DD 704) zu erkennen glaubt. Durch die Namensgleichheit von Agnes Gebaur und der Bürgermeisterwitwe Agnes aus dem Manuskript wird die parallele Konstruktion der Obsessions-Geschichten zusätzlich verstärkt.160 Wie bei Herzka geht auch bei Achaz die Fixierung auf seine sexuelle Vorstellung mit einem Verlust an Vitalität einher. Während der ganzen Zeit nimmt er nicht mehr am gesellschaftlichen Leben der Burg teil, er isst nicht, reitet nicht aus und wirkt blass und ungepflegt. Dieser Verlust an Vitalität zeigt sich besonders an seinem mangelnden Interesse für die Auerhahnjagd, die ihm sonst große Freude bereitet hat (vgl. DD 768 f.). Der Chronist erwähnt mehrmals die beginnende Balzzeit dieses Vogels, der sowohl sexuelles Begehren symbolisiert als auch als dämonisches Wesen mit dem Teufel identifiziert werden kann.161 In einem Traum Ruodliebs wird die Bedeutung der Hahnenjagd als einzig mögliche Rettung vor den ‚dämonischen Begierden‘ deutlich. Das Gefühl, zur Hälfte aus Holz zu sein, und damit einhergehende Lähmungserscheinungen verhindern jedoch, ein Erlegen des Auerhahnes: Undt ich kunnt meyn fuessen nicht geheben von dem podem, undt stundt do wy von holtz und än [‚ohne‘] macht mich bewegen [‚ohne Fähigkeit mich zu bewegen‘]. [. . .] Wissat aber, dasz mir guett waer, deselbig han zu bejagen, undt muesst das in jeder masze tuen, undt war, als sollt ich mich geretten durch denselbig hanen undt dartzue den genedig hern. Undt gang durich mich wy ain greintz, undt do war ich der Ruodl, aber enhalp [‚jenseits dieser Grenze‘] war ich von holtz [. . .]. (DD 785)

Beim Erwachen hat Ruodlieb den Eindruck, einen Hahn schreien zu hören, was ihm aufgrund der Entfernung zum Wald kaum möglich erscheint. Dieses Ineinandergreifen von Traum und Wirklichkeit findet sich auch in seiner Körperwahrneh-

160 Auch in Herzkas sexuellen Phantasien vor dem Fund des Manuskripts wird Agnes Gebaur wie die Witwe Agnes in der Folterkammer beschrieben: „Es war zu spüren, wie das weiße Linnen des Lendentuches um ihre gewölbten Hüften lag (oder was es schon sein mochte, vielleicht das unterste Hemd, zusammengeschürzt und geknotet).“ (DD 704) Im Hexenmanuskript heißt es dementsprechend: „Sy hett noch ain waiss underklait, daz het auch lanc ermel, und zachs uebering ab [‚zog es plötzlich herab‘], daz geviel [‚fiel‘] auf dem podem und lac da. [. . .] Und [Heimo] bueckat sich nyder, undt hebt ir schemlichen den pfait auf bis nahent an irs leibs mitten, aber dort taet er das zesammen.“ (DD 779) Die in eckigen Klammern eingefügten Übersetzungen stammen in diesem und allen weiteren Zitaten aus dem mittelalterlichen Manuskript aus den Dämonen, wo sie von dem fiktiven Übersetzer René Stangeler eingefügt wurden. Die Auslassungen in den Zitaten stammen von M.B. 161 Vgl. Marianne Sammer: Hahn [Art.]. In: Metzler Lexikon literarischer Symbole. Hrsg. v. Günter Butzer und Joachim Jacob, Stuttgart 22012, S. 171–172.

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mung wieder. Als er an die sexuellen Begegnungen mit den Frauen denkt, meint er: „[D]o leuff wyder dy selbig greintz durich mich, undt war enhalb alls von holtz undt ich entzwei geslän wy ain schaitl“ (DD 785).162 Die im Hahn symbolisierte sexuelle Obsession schränkt die Wahrnehmungs- und Handlungsfähigkeit ein und führt zu der für die ‚zweite Wirklichkeit‘ typischen Spaltung der Persönlichkeit und Phänomenen der Lähmung, wie sie auch bei Herzka auftreten. Wie Ruodlieb, der im Traum seine Füße nicht anheben kann, scheint es auch Herzka, als sei ihm „ein Glied eingeschlafen oder erfroren oder sonstwie fühllos geworden und gleichsam abhanden gekommen“ (DD 711).163 Nachdem die Frauen die Burg wieder verlassen haben, endet das Manuskript folgerichtig damit, dass Ruodlieb mit Achaz auf die Hahnenjagd geht und den besten Hahn für sich behalten darf (vgl. DD 805 f.). Michaelis zufolge steht die „Jagd auf Auerhähne [. . .] für die sexuellen und erotischen Gelüste, die beide ‚abschießen‘ sollen, um wieder ganz zu werden.“164 Auch Achaz beschreibt den Zustand, in dem er die letzten Wochen gefangen war, mit denselben Bildern wie in Ruodliebs Traum: ‚Undt mir ist, als wuerdt ich aus zweien halbeten mannem wyder ain ainiger gantzer; undt war von den halbeten der ain von holtz. [. . .] Ain gebild, wann dich daz ueberkom, und du pist damit allainig undt verslozzen, entgehet dir all anders, bist verlän [‚verlassen‘].‘ (DD 805)

Diese Beschreibung der ‚zweiten Wirklichkeit‘ hat Dietrich Weber als „Kernsatz“165 der Dämonen bezeichnet. Neben den Elementen der dissoziierten Körperwahrnehmung, bei der ein Teil des Körpers als unbelebt empfunden wird, sowie der Aufspaltung der Persönlichkeit, ist auch das Moment der Isolation von der Außenwelt und der ‚Besessenheit‘ bzw. die Vorstellung von einer Macht, die von einem Besitz ergreift, darin enthalten. Anhand der ‚Apperzeptionsverweigerer‘ Achaz, Herzka und Kajetan werden die Merkmale der Wahrnehmungseinengung besonders deutlich ausgeführt. Die Mechanismen und die Metaphorik der ‚zweiten Wirklichkeit‘ finden sich jedoch auch bei vielen anderen Figuren wieder. Die von außen an die Person herantretenden ‚Dämonen‘ werden im mittelalterlichen Manuskript mehrfach mit

162 „Auf kleinstem Raum reproduziert auch hier das sprachliche Material als solches die unausweichliche und rapide anwachsende Spannung, indem sich die Bildvision (‚wy von holtz‘, ‚wy ain greintz‘) durch den Wegfall der Vergleichspartikel derart zur kompakten Metapher verdichtet (‚war ich von holtz‘ [. . .], ‚leuff wyder dy selbig greintz durich mich‘), daß diese nahezu in die materielle Grundbedeutung überzugehen scheint.“ Kerscher 1998, S. 232. 163 Vgl. auch Weber 1963, S. 208. 164 Michaelis 1998, S. 176. 165 Weber 1963, S. 206. Ähnlich auch Kerscher: „Mit dem semantisch komprimierten Zentralsatz hat Doderer [. . .] die korrespondierenden Essenzen der drei Fälle sexueller zweiter Wirklichkeit konnotativ gebündelt.“ Kerscher 1998, S. 233.

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dem „pös Venedigisch Wint“ (DD 775),166 d. h. einem warmen faulig riechenden Südwind, in Verbindung gebracht.167 Dieses bereits erwähnte ‚Treibhausklima‘ umgibt auch Jan Herzka, als sich seine sadistischen Phantasien nach dem Gespräch über Hexenprozesse immer weiter zuspitzen und er ‚den Tod an sich herantreten‘ fühlt (vgl. DD 682). René fühlt sich im Traum durch eine von außen in ihn eindringende Gefahr bedroht, die seine Persönlichkeit verletzt (vgl. DD 319). Er wird von Anderen als gespalten und „in zwei Leben zerschlagen [. . .], in ein erstes und ein zweites“ (DD 52), und – wie Achaz, Herzka und Kajetan – als ein „Fanatiker, ein Mensch mit einer fixen Idee“ (DD 100) charakterisiert, der „wie in Fetzen zerrissen“ (DD 52) lebt. Erst bei seinem Aufenthalt auf Burg Neudegg, wo er sich in den Burgherrn hineinversetzt und tiefere Einblicke in die Beschaffenheit der ‚zweiten Wirklichkeit‘ erhält, wird er von seiner inneren Zerrissenheit geheilt.168 Auf dem Turm der Burg kann er das Allmachtsgefühl des Burgherrn nachvollziehen, das leicht durch ungünstige äußere Umstände gereizt werden konnte: Blies ein heißer Südwind, strahlten böse Sterne, oder schäumte ein Bodensatz auf aus den vermischten Resten längst vergessener Vorfahren: hier mußte der nächste Schritt zur Ausschreitung werden. Unterblieb sie aber, durch ein ganzes solches Leben, dann war’s ein Heldenwerk. (DD 753)

Die Jagd kanalisiert das plötzlich hervorbrechende Bedürfnis, Macht auszuüben, in gesellschaftlich akzeptable Bahnen. Auch der letzte Burgherr, von dem Herzka die Burg geerbt hat, war von der Hahnenjagd besessen: „Der alte Neudegg hat damals dermaßen gesponnen, daß er mit einer uralten Armbrust auf den Hahn gegangen ist“ (DD 844). Wie bei diesem ebenfalls Achaz benannten Vertreter des NeudeggGeschlechts, bricht dieser Charakterzug auch bei den anderen Sprösslingen der Familie des Öfteren hervor: Bei Herzka ist es in der Bresche eine Zirkusnummer mit dressierten Stuten, die in Verbindung mit der Betrachtung von MärtyrerinnenAbbildungen zu dem sadistischen Ausbruch gegen seine damalige Geliebte führt, den er in den Dämonen als „Dummheit“, „die er gar nicht meinte, nicht gewünscht hatte“ (DD 683) bezeichnet. In diesem Zusammenhang lässt sich auch die Aussage der Figur Mucki Langingen verstehen, der in einem Gespräch über Claire Charagiel feststellt, die Erschießung eines Kanarienvogels des Kastellans Mörbischer sei „fast ein menschlich-warmer Zug, ein Fehltritt, ein Ausrutscher“ (DD 845) gewesen.

166 Siehe auch DD 768, 784, 805. 167 Michaelis weist in diesem Zusammenhang auf die mittelalterlichen Vorstellungen von Dämonen hin: „Diese Geister der Luft können in den Körper eindringen, durch Bewegung Phantasien an die inneren Sinne (Verstand und Willen) heranführen – und diese so versuchen.“ Michaelis 1998, S. 191. 168 Vgl. Michaelis 1998, S. 189.

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Sie hat den gelben Punkt gesehen, der sich bewegte, sie wollte treffen, es lag ein ungeheurer Reiz darin, diesen Punkt zu treffen; und vielleicht war solch ein Punkt in den Träumen der vorausgegangenen Nacht vorgekommen: vielleicht mußte er getroffen und erledigt werden; vielleicht war auch Föhn . . . (DD 845)

In dieser Fixierung auf ein Ziel und der damit verbundenen Wahrnehmungsverengung zeigt sich der Mechanismus, der auch bei der Darstellung der sexuellen Obsessionen in Variationen wiederholt wird. Ausgelöst wird die Fixierung durch ungünstige Umstände bzw. dämonische Kräfte wie den „Südwind als Chiffre für die universale Bedrohung durch die Apperzeptionsverweigerung, die über jeden Menschen hereinbrechen kann“,169 und erbliche Dispositionen.170 Insofern lässt sich die Motivation für Achaz von Neudeggs Ausschreitungen durch das Zusammentreffen mehrerer Komponenten feststellen: Durch die Kombination des Südwindes mit der bevorstehenden Balzzeit des Auerhahnes und der Begegnung mit den tugendhaften Frauen, die ihn abweisen, kommt es bei ihm zu einer Fixierung auf ein Ziel. Diese Fixierung wird umso stärker, je mehr er sich in seinem absoluten Machtanspruch gekränkt fühlt. Die Inszenierung des Hexenprozesses, den Achaz im Widerspruch zum herrschenden Recht ohne das Wissen des Landesbischofs durchführt (vgl. DD 755), kommt somit einer Rekonstitution seiner Omnipotenz gleich. In der räumlichen Anordnung der sadistischen Szenerie manifestiert sich Achaz’ Rückzug aus dem zwischenmenschlichen Aktionsradius. Auch wenn er sich vorbehält, wie ein von außen eingreifender Regisseur Befehle zu geben, versucht er nicht, die Frauen zu vergewaltigen, wie einer der Knappen (vgl. DD 788); vielmehr ersetzt das Zusehen den Sexualakt, womit wiederum die pathologische Sicht auf die Devianz im Manuskript enthalten ist. Auch wenn Doderer sich wiederholt kritisch bis abwertend über die Psychoanalyse geäußert hat, wurde der starke Einfluss Sigmund Freuds in seinem Werk nachgewiesen.171 Was sich hier an Achaz zeigt verweist auf die Bewertung des Voyeurismus in den Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie: „Zur Perversion wird die Schaulust [. . .], a) wenn sie sich ausschließlich auf die Genitalien einschränkt, b) wenn sie sich mit der Überwindung des Ekels verbindet [. . .], c) wenn sie das normale Sexualziel, anstatt es vorzubereiten, verdrängt.“172 Auch Renés wissenschaftliche Perspektive, mit der er die Ziele seines Auftraggebers betrachtet, hat „jene Grenze, die gesund von krank trennt, oder, wenn man will, Leben von Holz“ (DD 1023) im Blick; und so spricht er Geyrenhoff gegenüber „ganz

169 Kerscher 1998, S. 230. 170 Herzkas gewalttätiger Ausbruch in der Bresche wird von der Figur Slobedeff auf die „Übergewalt des Blutes“ (FP 187) zurückgeführt. 171 Siehe u. a. Luehrs-Kaiser 2004, S. 279–292 sowie Mohr 1983, S. 24. 172 Sigmund Freud: Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie [1905]. In: Ders.: Gesammelte Werke. Bd. 5: Werke aus den Jahren 1904–1905. Hrsg. v. Anna Freud u. a., London 1949, S. 27–145, hier: S. 56.

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offen [. . .] ‚klinisch‘“ (DD 1092) über Jan Herzka. Die von Achaz und Ruodlieb empfundene „Holzgrenze“ (DD 1251) markiert demnach den Übergang von gesund zu krank. Im Rahmen seiner Untersuchung des Wortfeldes ‚Holz‘ weist Petutschnig auf die Verknüpfung von Sexualität und Politik hin, die Doderer in Sexualität und totaler Staat ausgeführt hat und die den Themenkomplex der ‚zweiten Wirklichkeit‘ in den Dämonen prägt. Wie der Burgherr Achaz fühlt sich auch der Weinbauer Alois Pinter, als er zwischen die Fronten ungarischer Faschisten und sozialistischer ‚Schutzbündler‘ gerät, die in seiner Hütte aufeinandertreffen, „als sei er in irgendeiner Weise von der eigenen Person getrennt, als wär’ er zur Hälfte von Holz, oder als läge er zur Gänze unter Glas.“ (DD 632). Die Seelenzustände der zwei Figuren und ihre Standorte nahe einer Grenze (des Burgenlandes zu Ungarn) bzw. auf einer solchen (Burgwall) [bilden] mentale und situativ-strukturelle Parallelen. Die Grenzen trennen jeweils extreme Gegensätze, hier die politisch verfeindeten Gruppierungen [. . .], dort die sexuelle Perversion des Burgherrn und die regulierend eingreifende Staatsmacht.173

Diese Trennung zwischen Innen und Außen ist eines der Hauptkennzeichen der ‚zweiten Wirklichkeit‘. Die extrem gut nach außen gesicherte Burg symbolisiert als solche bereits diese Abgeschlossenheit. Die in ihrem Inneren verborgenen Kavernen, in denen Achaz eine Parallelwelt mit eigenen Gesetzen entwirft, verschärfen diese raumsemantische Ordnung, mit welcher die von der Außenwelt abgetrennten Räume auf die psychischen Prozesse übertragen werden.174 Doderer sieht in der „Überorganisation“ (WdD 294) die Analogie zwischen dem ‚totalen Staat‘ und der ‚pseudologischen Sexualität‘. Mit dem Aufkommen einer Sexualwissenschaft und damit einer „inadäquate[n] Bewußtseinshelligkeit“ (WdD 276) sei die Sexualität zu einer Art Institution geworden (vgl. WdD 276). Doderer, dessen Psychologie-Studium in die 1920er Jahre fällt, ist stark geprägt von den psychologischen und sexualwissenschaftlichen Arbeiten der Jahrhundertwende bzw. des beginnenden zwanzigsten Jahrhunderts, was sich u. a. am starken Einfluss Otto Weiningers auf die Dämonen zeigt.175 Marianne Wünsch stellt im Zusammenhang mit dem „Unterscheidungs- und Benennungsprozeß“ in Bezug auf sexuelle ‚Abweichungen‘ fest, dass „dieses Klassifikationssystem seine Systematisierung und seinen –

173 Thomas Hans Petutschnig: Von Holz und Menschen. Motivische Beobachtungen an Heimito von Doderers Roman ‚Die Dämonen‘. In: Gassen und Landschaften. Heimito von Doderers „Dämonen“ vom Zentrum und vom Rande aus betrachtet. Hrsg. v. Gerald Sommer, Würzburg 2004 (= Schriften der Heimito von Doderer-Gesellschaft; Bd. 3), S. 243–253, hier: S. 245. 174 Ulrike Schupp weist auf die Parallelen zu dem Schloss Silling in Marquis de Sades Die hundertzwanzig Tage von Sodom hin, bei dem die „Funktion der Abgeschlossenheit“ wie bei Burg Neudegg darin liegt, „ohne Störung ein autarkes System zu entwickeln [. . .]“. Schupp 1994, S. 182. 175 Eine vertiefende Weininger-Lektüre fand erst nach seiner Rückkehr aus der Kriegsgefangenschaft in Sibirien statt. Vgl. Fleischer 1996, S. 118.

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vorläufigen – Abschluß“176 in der Frühen Moderne erreicht habe. Nicht nur Die Bresche, die zeitlich noch dieser Epoche angehört, sondern auch die Dämonen, deren Entstehungsgeschichte in die dreißiger Jahre zurückreicht, sind insofern von der Frühen Moderne geprägt und ebenso Doderers über Jahrzehnte entstandenes Gedankengebäude zur ‚zweiten Wirklichkeit‘ und den Analogien zwischen Sexualität und politischer Ideologie, die er in Sexualität und totaler Staat darstellt. Statt offen zu sein für die Sexualität als „Hinzu-Gegebenes“ (WdD 276), würden die ‚Apperzeptionverweigerer‘ einen „fundamental verkehrten Griff in die Mechanik des Lebens“ (WdD 277) tun, indem sie ihre Vorlieben verfestigten. Anders als Lügner, die nur andere täuschen, vernebeln diese ‚Pseudologen‘ dabei ihre eigene Wahrnehmung und errichten dadurch eine ‚zweite Wirklichkeit‘. In diesem Zusammenhang lässt sich die Aussage Renés, Achaz sei ein sehr moderner Mensch gewesen, verstehen. René referiert in diesem Gespräch mit Dwight Williams in den Dämonen Teile des Essays Sexualität und totaler Staat anhand des mittelalterlichen Manuskriptes.177 Bei Achaz sei bereits das zu erkennen, was unsere Zeit beherrscht: eine zweite Wirklichkeit. Sie wird neben der ersten, faktischen, errichtet und zwar durch Ideologien. Die des Herrn Achaz war eine sexuelle: reife Frauen, keusche Witwen, Zerbrechen dieser Keuschheit, und so weiter. [. . .] Herr Achaz war ein Ideologe, einfach deshalb, weil er seine Hand ausstreckte nach Erlebnissen, die nur – hinzugegeben werden können. Das tun alle Ideologen. [. . .] Er [Achaz] hatte ein Programm. Unsinn natürlich, zu glauben, die politischen Ordnungsprogramme seien eine Art verschlagener Sexualität, oder sozusagen ein Derivat von ihr. Ideologie kommt nicht von der Sexualität, sie ist kein Ersatz für diese. Aber sie steht im gleichen und bleichen Gespensterlicht, wie des Herrn Achaz festgerannte Vorstellungen. Deswegen sagte ich, er sei ein moderner Mensch. (DD 1021 f.)

Auch die Korrelation der ‚zweiten Wirklichkeit‘ mit dem Titel des Romans, der sich sowohl auf private Obsessionen als auch auf die gesellschaftlichen und politischen Ideologien bezieht, wird an dieser Stelle deutlich: [. . .] Es ist der moderne Sachverhalt, der Zusammenstoß zwischen einer ersten und einer zweiten Wirklichkeit, zwischen denen es eine Brücke nicht gibt, und keine beiden gemeinsame Sprache, mögen auch alle einzelnen Wörter gemeinsam sein. Herr Achaz drückt es in der folgenden Weise aus: >Ain gebild, wann dich daz ueberkom, und du pist damit allainig und verslozzen, entgehet dir all anders, bist verlän.