Moscheen in Bewegung: Interdisziplinäre Perspektiven auf muslimische Kultstätten der Migration 3110668750, 9783110668759

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Moscheen in Bewegung: Interdisziplinäre Perspektiven auf muslimische Kultstätten der Migration
 3110668750, 9783110668759

Table of contents :
Vorwort
Inhalt
Moscheen in Bewegung: Zur Notwendigkeit einer multiplen Perspektive
Moscheen in Deutschland
(Architektonische) Transparenz von Moscheen im Migrationskontext
‚Hinterhofmoscheen‘ als Transtopien
Imaginationen kollektiver Identität
Die multiperspektivische Analyse von Migrationsmoscheen
Blickweisen auf Moscheen im Forschungsprozess
Moscheeküchen. Materielle Kultur und soziale Praxis
Gemeinsam gegen die Fliehkräfte
Kreuzberger Vorgeschichten
Islam im Migrationskino – Moscheen im Modus des Films
Autor:innen
Register

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Moscheen in Bewegung

Studies on Modern Orient

Band 37

Moscheen in Bewegung Interdisziplinäre Perspektiven auf muslimische Kultstätten der Migration Herausgegeben von Ömer Alkin, Mehmet Bayrak und Rauf Ceylan unter der Mitarbeit von Hayriye Kapusuz und Gökçe Saatçi

Die Publikation wurde gefördert mit Mitteln der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) im Rahmen des DFG-Projekts „Ästhetik des Okzidentalismus“ (Kurztitel) (Projektnummer 435847492) und mit Mitteln des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF).

ISBN 978-3-11-066875-9 e-ISBN (PDF) 978-3-11-066891-9 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-066908-4 Library of Congress Control Number: 2021943954 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2022 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com

Vorwort Die Debatten um Rassismus, Zusammenleben, das Eigene und das Andere dominieren nach wie vor die Meinungsbildung in der deutschsprachigen Öffentlichkeit und sind besonders auch von einem Denken geleitet, das sensibel ist für die globalisierten Zusammenhänge, in denen wir leben. Zugleich gilt es für eine kritische Sozial- und Kulturwissenschaft, von den öffentlichen Debatten Abstand zu nehmen und grundlegende Fragen von Neuem zu stellen: Was ist Zusammenleben? Worauf gründet es? Worin findet unser Tun einen Raum? Wie sehen diese Räume aus? Welche Räume bleiben warum unsichtbar? Das vorliegende Buch ist aus dem Impuls entstanden, eher diesen neuen Fragen zu folgen, um so tendenziell unbegangene Diskurse sichtbar zu machen. Moscheen als zentrale Räume, denen in der westlichen Migration besonders viel Anderssein zugesprochen wird, stellen nach wie vor provokante Medien dar, an denen sich die oben genannten Debatten besonders aufgeheizt gestalten. In einer Atmosphäre des „antimuslimischen Rassismus“ (Iman Attia) kommt der Wissenschaft besonders viel Verantwortung zu, grundlegendes Wissen zu Bereichen der Gesellschaft und ihrer Realitäten zur Verfügung zu stellen: hier über den Islam und Muslime. Neben diesem eher zielgerichteten Anliegen verdankt sich das vorliegende Buch, so wie jedes größere Projekt, auch einer Reihe von glücklichen Zufällen und Zusammenkünften. Wichtigster Krafttreiber war sicherlich das Zusammentreffen der drei Herausgeber und der unnachgiebigen Diskussionen zu der Thematik, die im Kontext des vom Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderten Avicenna Studienwerks e. V. ihren Ursprung fanden und von dort aus über die Jahre weitere Wege genommen haben. Wir danken der Deutschen Forschungsgemeinschaft, die im Kontext des DFGForschungsprojekts Ästhetik des Okzidentalismus (Kurztitel) finanzielle Förderung beigesteuert hat. Außerdem danken wir dem Institut für Medienwissenschaft der Philipps-Universität Marburg sowie dem Institut für Islamische Theologie der Universität Osnabrück für die institutionelle, infrastrukturelle und finanzielle Unterstützung. Hayriye Kapusuz und Gökçe Saatçi danken wir für die Mitarbeit bei der Organisation sowie dem Lektorat und Korrektorat des Sammelbands und die zahlreichen Gedanken, die sie ins Buch und in die Beiträge einbrachten. David Tobias danken wir für seine tatkräftige Hilfe bei der Erstellung des Registers. Unser Dank gilt auch Frau Sophie Wagenhofer und Eva Frantz vom De Gruyter Verlag, die die Publikation von Anfang bis Ende wertschätzend und in vertrauensvoller Form in der Reihe Studies on Modern Orient ermöglicht haben. Zudem https://doi.org/10.1515/9783110668919-001

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Vorwort

danken wir Frau Sina Nikolajew für das Lektorat des Buchs und den damit einhergehenden genauen Blick, den ein solches erfordert. Wir hoffen, dass die Lesenden dieses Buchs, Inspiration dafür finden, beim Forschungsgegenstand ‚Moschee‘ einen neugierigen und von Mainstream-Diskursen unbeeindruckten Blick zu finden, der in letzter Instanz zu einem würdigen und lebenswerten Zusammenleben führt. Die Herausgeber Marburg, Köln und Osnabrück, 2. Mai 2021

Inhalt Ömer Alkin, Mehmet Bayrak & Rauf Ceylan Moscheen in Bewegung: Zur Notwendigkeit einer multiplen Perspektive Rauf Ceylan Moscheen in Deutschland Entwicklungen und Herausforderungen für muslimische Gotteshäuser 11 Albrecht Fuess (Architektonische) Transparenz von Moscheen im Migrationskontext Eine islamwissenschaftliche Perspektive 25 Erol Yildiz ‚Hinterhofmoscheen‘ als Transtopien

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Heike Delitz Imaginationen kollektiver Identität Das Theologisch-Politische und die Bedeutung von Moscheebauten 57 Mehmet Bayrak Die multiperspektivische Analyse von Migrationsmoscheen 75 Bewegungsarchitekturen Chantal Munsch & Kathrin Herz Blickweisen auf Moscheen im Forschungsprozess Über die Konstruktion von Forschungsergebnissen in 113 migrationsgesellschaftlichen Kontexten Bärbel Beinhauer-Köhler Moscheeküchen. Materielle Kultur und soziale Praxis

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Roman Singendonk Gemeinsam gegen die Fliehkräfte Wie Moscheen nach dem Terror von Hanau den gesellschaftlichen Zusammenhalt bewerten 175

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Inhalt

Rochus Wiedemer Kreuzberger Vorgeschichten Nicht realisierte Projekte und Initiativen für den Bau von Moscheen und türkischen Kulturzentren in Berlin in den 1980er Jahren 203 Ömer Alkin Islam im Migrationskino – Moscheen im Modus des Films Culture Clash, Radikalisierungsdrama und 225 Normalisierungsphantasien Autor:innen Register

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Ömer Alkin, Mehmet Bayrak & Rauf Ceylan

Moscheen in Bewegung: Zur Notwendigkeit einer multiplen Perspektive Abstract: Moscheen sind als Verbünde von Architekturen und Sozialem an sich schon komplexe Forschungsgegenstände. Im Kontext von Migration sind diese Architekturen umso differenzierter zu untersuchen, denn sie erweitern sich von nationalen Dimensionen zu transnationalen. Dieser Komplexität wurde bislang noch nicht ausreichend durch ein interdisziplinäres Untersuchungsspektrum gerecht zu werden versucht. Der vorliegende Text erörtert anhand einer Darstellung der den Sammelband durchziehenden Beiträge die Notwendigkeit einer solchen Interdisziplinarität als eine multiple Perspektive: Gemeint ist damit ein solcher Blick auf den Forschungsgegenstand ‚Moschee‘, der über die üblichen thematischen Rahmungen von Integration oder der Dichotomie ‚Hinterhofmoschee‘ versus ‚repräsentativer Moscheebau‘ durch den Einsatz vielfältiger Methoden hinausgeht.

1 Einleitung Rund 2600 Moscheen existieren in Deutschland. Sie sind das Produkt der Arbeitsmigration aus islamisch geprägten Ländern und gehen vor allem auf die Initiativen der Pioniermigranten:innen zurück. Spätestens seit der intensivierten Familienzusammenführung in den 1970er Jahren ist diese religiöse Infrastruktur gewachsen. Angefangen mit einfachen Gebetsräumen in Werkswohnungen wurden zunehmend in Gewerbegebieten oder industrienahen Stadtteilen größere Räumlichkeiten angemietet und später – als das Sparverhalten (infolge der anfänglich intendierten Rückkehr in die Herkunftsländer) in ein Konsumverhalten überging – aufgekauft. Architektonisch ist die Moscheelandschaft durch ihre Heterogenität geprägt. Nicht nur sogenannte backyard mosques schmücken diese Infrastruktur. Einbezogen sind darin auch opulente Moscheeneubauten mit sichtbaren Architekturgesten wie die DITIB Zentralmoschee in Köln Ehrenfeld – Moscheen, die zumeist das Stadtbild prägen und oft im Zentrum konfliktreicher Auseinandersetzungen stehen. Mitgemeint sind in diesen 2600 Moscheen aber auch die unzähligen und den Großteil ausmachenden Einzel- und Mehrfachräume, die von wenigen Gemeindemitgliedern als muslimische Kultstätten im Sinne von Moscheen (mescids) genutzt werden und in Diskursen als ‚Hinterhof-‚ oder ‚Ladenmoschee‘ bezeichnet werden. Dabei korrespondieren die multifunktionalen Ausrichtungen der https://doi.org/10.1515/9783110668919-002

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Ömer Alkin, Mehmet Bayrak & Rauf Ceylan

Bezugsräume der Muslime, die zugleich Sozialräume, Verwaltungsräume, Internat, Begegnungsstätte und mehr sein können, mit ihrer architektonischen und sozialen Vielfalt. Diese funktionelle Vielfalt ist in der Gegenwart in vielen Moscheen im islamischen Herkunftskontext nicht mehr anzutreffen. Während in der islamischen Geschichte diesen Bauten eine solche Multifunktionalität durchaus immanent war, ist infolge von säkularen Nationalstaatenbildungen mit oft autoritativen Ausrichtungen nur die rein sakrale Funktion zugelassen. In der Diaspora haben die Muslime diese vielfältigen Funktionen – auch infolge der zahlreichen Herausforderungen im Aufnahmeland – reaktiviert. Für die Erforschung der Diasporamoscheen eröffnen sich damit viele interdisziplinäre Facetten. Bislang sind in der Forschung zu Diasporamoscheen allerdings hauptsächlich folgende drei Untersuchungsfelder entstanden: · Erstens moscheesoziologische Arbeiten, die muslimische Gemeinden aus einer Sicht der Integrationspolitik beleuchteten oder tendenziell problematisierten (für einen Überblick solcher Arbeiten siehe Tezcan 2003), · zweitens Arbeiten, die die Konfliktdimension im Bauplanungsprozess und danach analysierten (für einen umfassenden Forschungsstand siehe Fürlinger 2013) und · drittens Arbeiten, die in kunsthistorischer Sicht den Fokus auf Moscheeneubauten richteten (Kraft 2002; Welzbacher 2017).¹ Vernachlässigt wurde in bisherigen Arbeiten, dass sich Moscheen und ihre Gemeinden in solchen integrationspolitisch forcierten Perspektiven forschungstechnisch nicht angemessen erfassen lassen, da sie viel zu komplex sind; zweitens – und hier mit Fokus auf die Architektur gesprochen – leiten neben den integrationspolitischen Prämissen auch solche Ansätze in eine zu simplifizierte Ansicht auf Moscheen, da sie in dieser prädeterminierten Perspektive zu eng geführt sind. Moscheen sind als Verbünde von Architekturen und Sozialem an sich schon komplexe Forschungsgegenstände. Im Kontext von Migration sind diese Architekturen umso differenzierter zu untersuchen, denn sie erweitern sich von nationalen Dimensionen zu transnationalen. Dieser Komplexität wurde bislang noch nicht ausreichend durch ein interdisziplinäres Untersuchungsspektrum gerecht zu werden versucht. Der vorliegende Text erörtert anhand einer Darstellung der den Sammelband durchziehenden Beiträge die Notwendigkeit einer solchen Interdisziplinarität als eine multiple Perspektive: Gemeint ist damit ein solcher Blick auf den Forschungsgegenstand ‚Moschee‘, der über die üblichen

 Eine neuere Arbeit, die auch kulturwissenschaftlichen Überlegungen im Sinne der Prämisse des vorliegenden Sammelbands folgt, ist Rückamp (2021).

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thematischen Rahmungen von Integration oder von der Dichotomie ‚Hinterhofmoschee‘ versus ‚repräsentativer Moscheebau‘ durch den Einsatz vielfältiger Methoden hinausgeht: Hieraus ergibt sich das zentrale Anliegen des vorliegenden Sammelbandes, diese integrationspolitischen sowie architekturreduktiven Engführungen aufzubrechen und einen breiteren und interdisziplinären Blick auf Moscheen und ihre Gemeinden einzunehmen. Denn sowohl aus architektonischer als auch kultureller Sicht lassen sie sich nicht binär oder einzelfokussiert angemessen erfassen. Der Dualismus von ‚Hinterhofmoscheen‘ und Moscheeneubauten zeugt von der Reduktion von Moscheen als Architektur. Die Formen, in denen die Moscheen sich zeigen, und die Funktionen, die sie erfüllen, variieren mit ihrer kulturellen und architektonischen Vielfalt (Alkin und Bayrak 2018). Ausgangspunkt des vorliegenden Sammelbandes ist also die These, dass die Dichotomisierung von Moscheeneubauten und ‚Hinterhofmoscheen‘ sowie die integrationspolitische Rahmung von Moscheegemeinden kein brauchbares Muster abgeben, um vergangene und gegenwärtige Zustände und Prozesse zu beschreiben, die mit der Moschee als zentraler Religionsstätte für Muslime in Deutschland sowie im deutschsprachigen Raum einhergehen. Entgegen der Tendenz – der Logik eines architektonischen, sozialen und kulturellen Evolutionismus folgend – von der Zuschreibung von Unsichtbarkeit an ‚Hinterhofmoscheen‘ und Sichtbarkeit von Moscheeneubauten sowie integrationspolitischen Engführungen befragt der Sammelband durch ein multidisziplinäres Spektrum an Beiträgen von Expert:innen aus dem Feld die Brauchbarkeit und Grenzen solcher binaristischen oder integrationspolitisch motivierten Perspektiven. Ziel hier ist nicht nur einem integrationspolitisch qualitativen Verhältnis nachzuspüren, etwa ob sichtbare Moscheen oder unscheinbare Moscheen ein geeigneteres Modell integrativer Architekturen für die muslimischen Gemeinschaften darstellen und ob unsichtbare ‚Hinterhofmoscheen‘ oder sichtbare Moscheen integrativer für die Gesellschaft fungieren. Auch ist die Frage nach einer soziologischen Erfassung der moscheegemeinschaftlichen (cemaat) ‚Wirklichkeit‘ keine brauchbare Frage, insofern die forschungstechnischen Rahmenbedingungen aufgrund der defizitären Forschungslage noch gar nicht angemessen hergestellt wurden. Vielmehr werden für den Band Moscheen in der Migration vornehmlich wissenschaftstheoretisch als ‚epistemisches Ding‘ (Rheinberger 1992) verstanden, das entlang kunsthistorischer, soziologischer, architekturwissenschaftlicher, städteplanerischer, islamwissenschaftlicher und kulturwissenschaftlicher Facetten gedacht wird.

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Ömer Alkin, Mehmet Bayrak & Rauf Ceylan

2 Moscheen: Neue Blicke auf ein religionskulturelles Phänomen Um diese Distanzbewegung des vorliegenden Buches genauer zu verstehen, gilt es wegen der immensen Desiderata auf die Untersuchungsfrage zunächst hinzuleiten. So diskutiert der Essay von Albrecht Fuess affirmierend eben genau jene integrationspolitischen Aspekte, die der Band als Ausgangspunkt nimmt. Über eine islamwissenschaftliche Perspektive führt er zu einer Einführung zu Moscheen als Architektur und erörtert die integrative Funktion moderner Moscheeneubauten, die er exemplarisch beschreibt. Moscheen werden so im Migrationskontext in ihrer symbolischen und schließlich gesellschaftskommunikativen Funktion sichtbar. In seiner Sicht werden die an modernen Architekturprinzipien orientierten Neubauten zu Akteuren, die die muslimischen Gemeinden mit der Mehrheitsgesellschaft zunehmend verbinden. Dass diese Repräsentationsfunktion einen immensen Kraftakt für die allein aus Gemeindespenden finanzierten Moscheen darstellt, ist nicht neu: Nach wie vor bemühen sich die inzwischen systematisch und verbandstechnisch schon seit mehreren Jahrzehnten organisierten Dachverbände darum, die Moscheebauten und ihre vielfältigen Funktionen professioneller zu bedienen: davon tun auch die prächtigen Zentralmoscheen kund, die der Beitrag von Fuess beschreibt. Der zweite Einführungstext von Rauf Ceylan perspektiviert mit seinem Beitrag die Situation von Moscheen in Deutschland und macht so die bis dato in der Forschung aufgenommenen Herausforderungen von Moscheen sichtbar. So rekapituliert er zunächst die zurückliegenden integrationspolitisch höchst ambivalenten – weil tendenziösen – Debatten um Muslime in Deutschland und stellt die aus der historischen Gewordenheit der Moscheegemeinden entstandenen organisatorischen Strukturen heraus – mit dem Ziel, auf die moscheegemeinschaftlichen und innerkulturellen Dynamiken etwa auch aus intergenerationeller Sicht aufmerksam zu machen: Die Moscheen und ihre Gemeinden bleiben in einer Spannung, die zwischen ihrer Herkunft sowie der Orientierung in Richtung der Integrationsstrukturen schwankt und die sich nicht losgelöst von ihren heterogenen Strukturen und Eigenschaften betrachten lassen. Die prekäre Dimension dieses Prozesses der architektonischen Niederlassung zeigt sich im Beitrag von Rochus Wiedemer. Er zeichnet ein nüchternes Bild dreier gescheiterter Moscheegründungsversuche in Berlin. Die gegenwartsbezogene baukulturhistorische Abhandlung bewegt den Fokus von der theoretischen Prämisse einer Moscheegründung auf eine fallspezifische Ebene. Deutlich wird, welche verborgenen baukulturhistorischen Aufarbeitungen die Gemeindeentwicklung leisten muss und dass es hier im Sinne eines Beitrags für eine Bau-

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kulturhistorie einer umfassenden Migrationsforschung bedarf, und dass die architekturhistorischen Dimensionen nicht vernachlässigt werden dürfen.²

3 Moscheen: Untersuchungsblicke re-perspektivieren Die weiteren Beiträge bewegen sich von diesen einführenden und Grundlagen bildenden Gedanken auf eine Perspektive, die den Forschungsstand zu Moscheen betrachtet. Moscheen sind nicht nur abhängig von ihrer architektonischen Funktion und lassen sich nicht allein in ihrem historischen Werden beschreiben. Sie sind auch von einer imaginären Dimension bei ihrer Gemeinde- und Gemeinschaftsbildung getragen. Denn: Was heißt hier „Moscheen und ihre Gemeinden“? Wie stehen Architektur und Gemeinde überhaupt zueinander? Wie fungieren die Trennungen von Architektur und Sozialem mit Blick auf die Muslime, die die Moscheen gründen, sie beleben und nutzen? Der erste Beitrag der Sektion zu den „Re-Perspektivierungen“ bestehender Forschungsansätze von Heike Delitz bewegt sich aus der Frage nach dem Sozialen und der Geschichte von Moscheen und Gemeinden im Konkreten zurück und diskutiert architektursoziologisch – dabei vornehmlich auf die Arbeiten des Philosophen Castoriadis rekurrierend – die Frage nach der „Institutierung“ von Gemeinschaften. Diese Fragen sind insofern besonders relevant, da bislang noch zu einseitig bzw. ungeklärt ist, wie sich Gemeinden im Migrationskontext herstellen und was dieser Vorgang für die Stabilisierung ihres Sozialen bedeutet. Der Beitrag von Erol Yildiz zu „Hinterhofmoscheen als Transtopien“ versteht das kulturelle Vermögen und ihre Komplexität als ein widerständiges Potential, das die bis heute geführten Debatten und Diskurse um Moscheen als integrationspolitisch höchst ambivalente (im Sinne eines Integrationsdispositives) und defizitäre Perspektiven aufzeigt. Unter der Prämisse des Postmigrantischen plädiert Yildiz dafür, die Moscheen als höchst produktive und transkulturell fähige Akteure zu verstehen, die innovatives Gesellschaftswissen generieren und die in bestehenden Diskursen reduktiv und destruktiv – also in Abwertung ihres soziokulturellen Vermögens – verhandelt werden. Indem Yildiz eine mögliche Geschichte des Integrationsdispositivs verfolgt, zeigt er auf, wie einengend und mit

 Hier haben Chantal Munsch, Kathrin Herz und Marko Perels mit ihrem Buch Gemeindezentren türkeistämmiger Muslime als baukulturelle Zeugnisse deutscher Einwanderungsgeschichte grundlegende Recherchen und Forschungsergebnisse vorgelegt (2019).

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Ömer Alkin, Mehmet Bayrak & Rauf Ceylan

welch reduktiver Perspektive die Moscheen, Muslime und (Post-)Migrant:innen im wissenschaftlichen Diskurs erzeugt werden. Um dem transkulturellen Vermögen der Moscheen gerecht zu werden, entwirft Yildiz ein auf Michel Foucaults Heterotopien basierendes Konzept von „Transtopien“, mit dem er genau jenes transnationale Hybridisierungspotential der Moscheen der Migration als Räume zu beschreiben sucht: Moscheen „sind innovative, kreative, synchrone und kosmopolitisierte Handlungsräume, in denen unterschiedliche kulturelle Orientierungen, Repräsentationen und Imaginationen zusammenkommen und neue transkulturelle Praktiken entstehen“ (S. 53). Für den Weg zu einer solchen Perspektive empfiehlt Yildiz ein bei Edward D. Said angelegtes Verfahren der „kontrapunktische[n] Lesarten“ (S. 43). Moscheen sind also nicht nur religiöse Stätten, sondern übernehmen vielfältige gesellschaftliche Funktionen. Dementsprechend sind sie auch in ihrer architektursozialen Funktion variabel und vielfältig strukturiert und etwa mit Küchen, Lern- und Sozialräumen, Teestuben oder gar Lebensmittelgeschäften ausgestattet. Diesen Raumfunktionen kommen auch schon die oftmals unterschätzten sogenannten ‚Hinterhofmoscheen‘ nach, die ein vornehmliches Modell auch in Migrationskontexten darstellen. Der Text von Mehmet Bayrak analysiert über eine multiple Untersuchungsperspektive, die besonders qualitativ-analytisch vorgeht, eine vermeintlich besondere ‚Hinterhofmoschee‘ in einem städtisch zentralen, an einer historischen Wehrmauer gelegenen Problembezirk in Köln, die sogenannte ‚Burgmoschee‘ (Kale-Camii). Entlang zentraler Untersuchungsparameter wie ‚Moscheebiographien‘, der städtebaulichen Verortung, den Innenarchitekturen, dem Umgang des Moscheesozialen mit den Architekturen und vice versa stellt Bayrak einen grundlegenden Modus von Moscheen in umgenutzten Gebäuden heraus, den er „Bewegungsarchitektur“ nennt: die Kale-Camii ist nur scheinbar anders als andere Moscheen; ihre soziale wie institutionelle Prekarität, die sich daraus ergibt, dass sie das Produkt besonders von ehrenamtlichem Engagement und vielfältiger Zufälle ist, lässt sich bei genauerer Betrachtung auch auf andere Moscheeentwicklungsgeschichten und Moscheen der Migration beziehen. Indem er einem neu entwickelten Beschreibungsdesign für Moscheen nachgeht, kann er aufzeigen, dass Moscheen trotz ihrer vermeintlich beständigen Architektur auf vielerlei Ebenen einem permanenten Wandel und Veränderung ausgesetzt sind oder diesen suchen: Moscheen sind in Bewegung. Indem er Architektur als „Medium des Sozialen“ (Delitz 2010) versteht, zeigt Bayrak so die enge Verknüpftheit von gebauter Umwelt auf die Herstellung sozialer und kultureller ‚Wirklichkeiten‘ auf und macht es dadurch für künftige Untersuchungen von Moscheearchitekturen der Migration möglich, einen sensibilisierten Blick auf deren sozio-materielle Komplexität zu werfen.

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Anknüpfend an diese Komplexität des Moscheephänomens in der Migration kritisiert auch der Beitrag von Chantal Munsch und Kathrin Herz den einengenden Gestus integrationspolitischer Thematisierungen sowie des architektonischen Binarismus von Neubau und ‚Hinterhofmoschee‘ und somit den Forschungsstand. Die beiden Autor:innen gehen anhand ihres für die Wüstenrot Stiftung realisierten Forschungsprojekts der „Herstellung der Moschee mit Migrationshintergrund im Forschungsprozess“ nach. Mit Reflexionen zu den eigenen Bedingungen der Recherche, der Historisierung sowie der ethnologisch-architekturwissenschaftlichen Herangehensweise an „Moscheen im umgenutzten Räumen“, so ihre architekturwissenschaftlich fundierte Kurzumschreibung der sogenannten ‚Hinterhofmoscheen‘, zeigen sie auf, wie ambivalent und ambigue die Moschee als Forschungsobjekt im eigenen wissenschaftlichen Modus entsteht. Dazu ziehen sie Ergebnisse sowohl zum Moscheesozialen wie Architektonischen heran und befragen stets ihr Eigenverhältnis zum Feld. Gemäß der Prämisse dieses Bandes stellen sie fest, dass die Wirklichkeit der in umgenutzten Räumen bestehenden Moscheen in Bewegung ist: „Deutlich wird vielmehr, wie stark der gesellschaftliche Kontext, insbesondere der spezifische Kontext der Migrationsgesellschaft, die Herstellung des Gegenstandes ‚Moschee‘ prägt“ (S. 112). Mehr noch: aus einer konstruktivistischen Prämisse heraus erscheinen die diskursiv unterbestimmten ‚Hinterhofmoscheen‘ dementsprechend als diskursiver Spielball von Interessen der sie Repräsentierenden: „Die Deutungsmacht liegt in den Händen der Forschenden und ihre Erleichterung über die Zustimmung und Dankbarkeit der anwesenden Gemeindevertreter:innen verweist auch darauf, was es bedeutet, in Forschung Subalternität zu re-produzieren“ (S. 138). Vielfach lassen sich Moscheen also nicht von ihrer Funktion rein als Sakralarchitektur verstehen, sondern sie bestehen in einer Art multifunktionaler Offenheit, sowohl als Forschungsobjekt als auch als Funktionsarchitektur. Hier hilft ein kulturhistorisch gesättigter Blick: Genauer lassen sich die in der Migration befindlichen Moscheen als Mini-külliye verstehen (Korn 2012): Külliye waren schon im vorosmanischen Reich entstandene Stiftungskomplexe (Kuban 2010), die sich über ein größeres Areal, manchmal gar über die ganze Stadt hinweg, erstreckten und multifunktional ausgerichtet waren. So bargen diese Stiftungskomplexe verschiedene Einrichtungen – hamam (Badestätte), medrese (Internat) oder auch han (Handelsstätte) und größere ulu-camii (Freitagsgebetsmoschee) – und boten den Gemeinschaften Räume für große Bereiche ihres sozialen Lebens. Nach wie vor sind also Fragen dahingehend offen, wie die funktionalistische Prämisse von Moscheen und ihren Komplexen auch mit ihrer Formfunktion einhergeht. Oder anders formuliert: Es fehlen praxeologische Ansätze, die die Ästhetik von Moscheen nicht über die Funktionsdimension stellen, sondern die wechselseitige Bedingtheit beider Aspekte angemessen adressieren. Der Beitrag

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Ömer Alkin, Mehmet Bayrak & Rauf Ceylan

von Bärbel Beinhauer-Köhler geht solchen Fragen zu Moscheeküchen nach. Konkret untersucht sie die Funktionsweise von Moscheeküchen und Speisesälen und analysiert hieran den Zusammenhang von materieller Kultur und konkret muslimischer Praxis im Migrationskontext. Ihre Untersuchungen an Moscheen in Warburg und Marburg sowie ein Wink auf eine Moschee in Utrecht zeigen auf, dass das Kulturelle als Analysekategorie besonders ergiebig dafür ist, die Mannigfaltigkeit des sozialen wie architektonischen Zusammenhangs von Moscheen beschreiben zu können. Anders formuliert braucht es also neben soziologischen oder islamwissenschaftlichen Perspektiven auch kulturanalytische Zugänge, um das heterogene kulturelle Potenzial von Moscheen im Migrationskontext differenziert erfassen zu können. Dieses produktive Vermögen der Gemeinden zeigt sich schließlich im Beitrag von Roman Singendonk sehr deutlich. Er widmet sich in seinem Text der Frage, wie „Moscheen nach dem Terror von Hanau den gesellschaftlichen Zusammenhalt bewerten“. Durch Analysen zur gegenwärtigen Situation und unter Rückgriff auf dreizehn Interviews kommt die Untersuchung zu dem Schluss, dass die rassistischen Morde auch nach Hanau die Zuversicht von Gemeindemitgliedern in Moscheen an ein friedliches Zusammenleben nicht allzu sehr getrübt haben. Im Gegenteil: „Es ließ sich zeigen, dass es eine mentale und emotionale Bewegung hin zu mehr Zusammengehörigkeit in den Moscheen gibt“ (S. 193). Diese Perspektivenumkehr von der Frage, ob Muslim:innen sich integrieren, hin zur Frage, ob Muslim:innen angesichts (recht‐)terroristischer Ereignisse desintegrierte Haltungen einnehmen, weist auf eine Sensibilität hin, die die in moscheekulturellen Zusammenhängen lebenden Menschen schon per se als Bestandteil einer Bevölkerung in Deutschland betrachtet. Die Ausführungen enden am Beispiel des Museums für Islamische Kunst mit einer Argumentation und einem Plädoyer für die zentrale Rolle der kulturellen Bildung im Kontext der Gemeinschaftsstärkung insbesondere von Moscheen und Muslimen, aber auch gesamtgesellschaftlich. Die Untersuchung macht klar: Im Aufeinandertreffen von Orten kultureller Bildung und Moscheekulturen im Migrationskontext entstehen in Kooperationen produktive Aushandlungen und Reflexionen, die zu mehr gesellschaftlichem Zusammenhalt führen. Zu der Wichtigkeit von kultureller Bildung bei der Gemeinschaftsstiftung innerhalb einer vielfältigen Gesellschaft gehören untrennbar auch fiktionale Narrative. Moscheen bestehen so gesehen bereits im Modus des Fiktionalen; sie sind eingebettet in künstlerisch-fiktionale Modi wie die des narrativen Spielfilms. Der Beitrag von Ömer Alkin skizziert eine Geschichte des Migrationsfilms zum Islam, ausgehend von der Geschichte des Migrationskinos aus dem deutschsprachigen Raum im Generellen. Hierbei wird deutlich, dass seit den 2000er Jahren die filmische Auseinandersetzung rund um das Thema Radikalisierung

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und die Folgen der Ereignisse vom 11. September 2001 eine Hauptrolle spielen, während sich seit den 2010er Jahren die Filme zur Thematik diversifiziert haben. Die Untersuchung der filmischen Inszenierungsformen von Moscheen und ihren Gemeinden zeigt auf, dass sich ein hegemoniales Wissen in ihnen stabilisiert, welches ein sunnitisch-türkisches Islambild favorisiert und es mit radikalisierten Milieus dichotomisch anlegt. Obgleich einige der Filme der Multifunktionalität muslimischer Religionsstätten dadurch gerecht werden, dass sie sie filmisch aufgreifen, können die meisten von ihnen sich nicht von einem kulturalisierenden Gestus lösen, der den Islam als ‚das Andere‘ entwirft. Gleichzeitig sind mindestens in das Genre des Radikalisierungsdramas, das die fundamentalistische Radikalisierung der Filmfiguren ins Handlungszentrum stellt, meta-mediale Wissensformen eingebunden und ästhetisch umgesetzt, die zeigen, dass Filme mehr sind als Reproduzierer äußerer sozialer Verhältnisse: „anders formuliert, ist in die Ästhetiken der Bilder ein ‚mehr als die bildliche äußere Wirklichkeit‘ eingeschrieben. Sie sind Zeugen und Kunden von medialen Verhältnissen und kokonstituieren damit unsere Verhältnisse (Medialität), in denen wir leben (müssen)“ (S. 239). Indem Alkin die epistemische Qualität von Filmen und Moscheen ernstnimmt, weist er auf das wissensgenerierende Potential auch künstlerischer und fiktionaler Aspekte bei der Untersuchung von Moscheekulturen hin. Dieser Sammelband erscheint in der Hoffnung, im Kontext gegenwartsbezogener Islamforschung eine multidisziplinäre Perspektive auf Moscheen ermöglichen zu können, die den gegenwärtigen Dynamiken von „Neo-Muslimen“ (Ceylan 2017, 86) in einer Migrationsgesellschaft gerecht wird. Der Band stellt die Frage nach definitorischen und methodischen Zugängen. Es galt hier, die Notwendigkeit nach einer facettenreichen Forschung aufzuzeigen, die ihren Gegenstand als noch zu entdeckendes Feld – wissenschaftstheoretisch als ‚epistemisches Ding‘ – stets von Neuem entwirft: Moscheen sind in Bewegung und es bedarf weiterer multiperspektivischer Positionen, um diese Bewegungen jenseits integrations- und sicherheitspolitischer Rahmungen verstehen zu können. Verknüpfende Perspektiven zwischen den Kulturwissenschaften und weiteren Disziplinen mögen hoffentlich zu einer „ent-disziplinierten“ (Yildiz) Perspektive führen.

Quellen Bayrak, Mehmet und Ömer Alkin. 2018. „Kritik von Fortschrittsnarrativen im deutschtürkischen Migrationskontext. Migrationskino und Diasporamoscheen im Integrationsdispositiv“. Global Media Journal 8: 1 – 21. DOI: 10.22032/dbt.34999 (Abruf: 15. 5. 2021). Ceylan, Rauf. 2017. „Islam und Muslime in Deutschland“. Zeitschrift für Religion Gesellschaft und Politik 1: 75 – 88. DOI: 10.1007/s41682 – 017 – 0004 – 8 (Abruf: 15. 5. 2021).

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Ömer Alkin, Mehmet Bayrak & Rauf Ceylan

Delitz, Heike. 2010. Gebaute Gesellschaft. Architektur als Medium des Sozialen. Frankfurt am Main/New York: Campus. Fürlinger, Ernst. 2013. Moscheebaukonflikte in Österreich. Nationale Politik des religiösen Raums im globalen Zeitalter. Göttingen: V&R unipress. Herz, Kathrin, Chantal Munsch und Marko Perels, Hg. 2019. Gemeindezentren türkeistämmiger Muslime als baukulturelle Zeugnisse deutscher Migrationsgeschichte. Ludwigsburg: Wüstenrot Stiftung. Korn, Lorenz. 2012. Die Moschee. Architektur und religiöses Leben. München: C. H. Beck. Kraft, Sabine. 2002. Islamische Sakralarchitektur in Deutschland. Eine Untersuchung ausgewählter Moschee-Neubauten. Münster: LIT. Kuban, Doğan. 2010. Ottoman Architecture. Woodbridge: Antique Collectorsʼ Club. Rheinberger, Hans-Jörg. 1992. Experiment, Differenz, Schrift. Zur Geschichte epistemischer Dinge. Marburg: Basilisken-Presse. Rückamp, Veronika. 2021. Alltag in der Moschee. Eine Feldforschung jenseits von Integrationsfragen. Bielefeld: transcript. Tezcan, Levent. 2003. „Das Islamische in den Studien zu Muslimen in Deutschland. Literaturbericht“. Zeitschrift für Soziologie 32: 237 – 261. Welzbacher, Christian. 2017. Europas Moscheen – Islamische Architektur im Aufbruch. Berlin: Deutscher Kunstverlag.

Rauf Ceylan

Moscheen in Deutschland Entwicklungen und Herausforderungen für muslimische Gotteshäuser Abstract: Der vorliegende Essay rekapituliert die historische Entwicklung der Moscheen in Deutschland und zeigt künftige Herausforderungen auf. Der Fokus liegt hier auf aktuellen Herausforderungen und darauf, wie diese Herausforderungen sich aus der Historie der Moscheen erklären lassen. Dabei geht der Essay damaligen wie heutigen politischen Debatten um die Moscheen in Deutschland nach und konzentriert sich bei den Debatten von 1970 auf unterschiedliche Beispiele: In jenen frühen Jahren waren die Fronten bezüglich der Moscheen verhärtet, weil sie jeweils politisch unterschiedliche und antagonistische Spektren adressierten. Zudem hatten die Moscheen noch zu starke Bezüge zu den Herkunftsstaaten, aus denen die jeweiligen Migrant:innen gekommen waren. Am Beispiel der islamischen Holdings zeigt sich, dass die Forschung zu den historisch komplexen Gewordenheiten der Gemeinden nach wie vor defizitär ist. Im Anschluss hieran diskutiert der Essay die sich wandelnden Funktionen der Moscheegemeinden und zeichnet ein historisches Panorama der Verbands- und Gemeindebildung. Im Schluss werden Zukunftsperspektiven und weitere mögliche Handlungshorizonte auf der Grundlage eines sich wandelnden Moscheesozialen diskutiert.

1 Einleitung Seit der sogenannten Flüchtlingskrise wird die Zahl der Muslime in Deutschland mit ca. 5 Mio. angegeben. Damit hat sich der Islam – nach dem Christentum – als zweitgrößte Religionsgemeinschaft hierzulande endgültig etabliert. Ähnlich verhält es sich in anderen europäischen Ländern mit muslimischer Zuwanderungsgeschichte. So wie im Christentum und Judentum auch bieten die muslimischen Gotteshäuser unterschiedliche religiöse Dienstleistungen an. Diese Angebote haben sich seit den 1970er Jahren – also seit der Gründung und Zunahme der religiösen Einrichtungen – erweitert. Anders als in den muslimischen Herkunftsländern nehmen die hiesigen Moscheen zahlreiche profane Funktionen wahr, die vor allem mit den Herausforderungen im Kontext von Migration sowie dem Versuch einer Professionalisierung zusammenhängen. In der Rechtsform eines Vereins gegründet hatten die muslimischen Pioniere in der Entstehungshttps://doi.org/10.1515/9783110668919-003

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phase der Moscheen und ihrer Gemeinden eine unkomplizierte Lösung dafür gefunden, Räumlichkeiten anzumieten – und später auch aufzukaufen – sowie mit Mitgliedsbeiträgen und Spenden diese zu finanzieren (siehe die beiden Beiträge von Bayrak und Wiedemer hier im Buch). Die Vereine wiederum hatten sich zu Dachverbänden organisiert, die zunächst keine langfristigen Ziele wie etwa die Anerkennung als Körperschaft des öffentlichen Rechts verfolgten. Mittlerweile findet nicht nur ein Generationswechsel in den Gemeinden statt, sondern die Herausforderungen haben eine neue Dimension erreicht. In der vorliegenden Abhandlung soll eine aktuelle Bestandsaufname dieser Herausforderungen vorgelegt werden.

2 Historische Altlasten – Moscheen in der Diskussion Wenn man heute als interessierte:r Leser:in die Zeitung liest oder sich aus anderen Nachrichtenportalen über Moscheen informiert, dann werden sofort Analogien zu christlichen Gotteshäusern gezogen. Das Wort ‚Moschee‘ suggeriert religiöse Institutionen, die wie Kirchen professionell organisiert und mit entsprechenden hauptberuflich Mitarbeitenden besetzt zu sein scheinen. Übersehen wird die Tatsache, dass bis auf den Imam der Gemeinde alle anderen Aktiven als Ehrenamtliche tätig sind und ohne steuergedeckte Finanzierung die Strukturen intakt zu halten versuchen. Stattdessen bilden die Vereinsbeiträge der Mitglieder eine wichtige Stütze, wobei die Beiträge in der Regel bei zehn Euro monatlich beginnen. Es ist offensichtlich, dass mit so geringen Startbeiträgen, die je nach Zahlungsbereitschaft der Gemeindemitglieder etwas höher liegen können, kaum professionelle Arbeit geleistet werden kann. Hauptziel des Moscheevorstandes ist in der Regel, mit den Einnahmen und Spendengeldern Kredite zu tilgen oder die Miete zu zahlen sowie die Nebenkosten zu decken oder die Kosten für kulturelle und sonstige Aktivitäten wie zum Beispiel zum Ramadan, zum Opferfest oder dem Tag der offenen Moscheen aufzubringen. Spätestens seit der Corona-Krise und den Spendenaufrufen von einzelnen Gemeinden ist diese finanzielle Misere ganz besonders sichtbar geworden: Neben den regelmäßigen Mitgliedsbeiträgen bilden die Einnahmen vor oder nach den wöchentlichen Freitagsgebeten einen wichtigen Grundpfeiler bei der Finanzierung. Die Freitagsgebete stellen die größte Besuchergelegenheit der Moschee dar, anlässlich derer zumeist auch Nicht-Mitglieder oder nur selten das Gebet aufsuchende Muslime etwas spenden. Die monatlichen Beiträge bilden nicht die zentrale Finanzierungsquelle; durch Veranstaltungen oder Spendenaktionen beim

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Freitagsgebet werden wesentlich mehr Gelder akquiriert (vgl. Deutscher Bundestag 2018, 10). An diesen Tagen werden üblicherweise auch gastronomische Angebote an die Besucher:innen gerichtet, um das Spendenkonto der Moschee anzureichern. In der Regel werden durch ehrenamtliches Engagement – es sind dabei die Frauen, die diesen Service erbringen und trotzdem immer im Hintergrund bleiben – und zu geringen Verkaufspreisen Speisen serviert. Durch den Wegfall der Möglichkeit des Abhaltens der Freitagsgebete aufgrund der CoronaSchutzverordnungen und das damit einhergehende Besuchsverbot der Moscheen sind daher fast alle Moscheegemeinden in eine finanziell prekäre Lage geraten. Wenn man also Berichte über 2300 Moscheegemeinden liest, dann muss man sich die dortige Lage sehr genau und eben nicht in Analogie zu christlichen Kirche vorstellen. Moscheekulturen sind eigenwillige, höchst komplexe soziale Strukturen, die von der Makro- bis zur Mesoebene über sehr unterschiedliche Eigenheiten verfügen (siehe Einleitung des Buches). Historisch sind die Gemeinden in den 1970er Jahren im Laufe der Familienzusammenführung entstanden und zwar vornehmlich als Vereine. Da die religiösen Dienstleistungen im Zuge der Gastarbeiter-Anwerbung nicht systematisch geregelt wurden, haben die ‚Pioniermigrant:innen‘ sich selbst organisiert. Problematisch ist, dass viele religiöse Oppositionsbewegungen – vor allem politischreligiöse und auch fundamentalistisch orientierte wie etwa die Muslimbruderschaft – die vagen Organisationsstrukturen und die Situation der Neuentwicklung für sich zu nutzen wussten. Im Herkunftsland wäre eine Expansion wie in der Diaspora kaum möglich gewesen, insofern dort schon Strukturen und sonstige rechtliche wie wirtschaftliche Sphären besetzt sind. Neue Mitglieder, neue finanzielle Quellen und neue Einflussbereiche konnten im Migrationskontext durch Akteur:innen wie die islamistische Millî Görüş (‚Nationale Sicht‘) oder die VIKZ (‚Verband Islamischer Kulturzentren‘, eine sufistische Bewegung) aus dem Herkunftsland generiert werden. Damit gelang es auch, die politische Agenda aus dem Herkunftskontext wie die Stärkung des Einflusses der Religion auf die Politik oder die Verbreitung neo-osmanischer Restaurationsziele effektiv in den Migrationskontext einzuführen (Ceylan 2006, 139 – 141). Herkunftsstaaten wie die Türkei haben erst viel später diese ‚unkontrollierten‘ Entwicklungen registriert und in den 1980er Jahren mit der Gründung des DITIBDachverbandes auf die Etablierung nicht-staatlich politisch vorgeprägter Führung von Moscheegemeinden reagiert. Man wollte von nun an das Feld nicht mehr den staatlich unabhängig bestehenden Verbänden überlassen. Der Einfluss radikalislamischer Gruppierungen sollte unterbunden und gleichzeitig ein laizistischer, also unter staatlicher Aufsicht stehender Islam auch im Ausland gefördert werden (Dreß 2018, 138 – 139). Bis heute halten die Spannungen zwischen dem kemalistisch-laizistischen Lager und den neo-osmanischen Strömungen an. Diese Span-

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nungen spiegeln auch die gegenwärtigen Entwicklungen in der Türkei wider, wenn der türkische Staatspräsident gezielt die neo-osmanische Symbolik durch seine Rhetorik und sein Handeln (wie zum Beispiel die Umwandlung des Hagia-SophiaMuseums in eine Moschee) umsetzt. Die starke türkische Herkunftsorientierung der Moscheen in den 1970er Jahren zeigt sich bis in die Gegenwart. Nicht nur sind die Moscheen nach osmanischen Herrschern wie Fatih Sultan Mehmet oder Yavuz Sultan Selim benannt. Auch sind zu den Kanzelreden der Imame türkische Fahnen in oder vor den Moscheen auf Masten gehisst. Das zeigt ganz deutlich die strukturellen Verbindungen in die Türkei. Einerseits erfüllen die DITIB-Moscheen so die Funktion von ‚Heimatvereinen‘, andererseits befinden sich diese religiösen Einrichtungen in einem Transformationsprozess, und zwar auf dem Weg hin zu deutschen Organisationen. Dieser strukturelle und soziale Ablösungsprozess vom Herkunftsland und somit das Spannungsverhältnis zwischen Vergangenheit und Zukunft bestimmt die gegenwärtige Dynamik innerhalb der Gemeinden. Um diese Dynamik genauer zu verstehen, lohnt es sich zunächst, beispielhaft zwei Kritikpunkte an den Moscheen zu rekapitulieren, die seit den Anfangsjahren der Moscheen bis in die 1990er Jahre im medialen Diskurs in Deutschland besonders fokussiert wurden: die Kritik an den Imamen und die Kritik an den ‚Islamischen Holdings‘.

3 Politische Debatten über Moscheen seit den 1970er Jahren: Zwei Beispiele Moscheen waren immer Gegenstand von kontroversen Debatten; zunächst innerhalb der muslimischen Community, da die Grenzen zwischen den diversen Gruppierungen durch gegenseitige Ausgrenzungen sehr starr verliefen. Es herrschte eine starke Konkurrenz um neue Mitglieder und damit um die Erschließung neuer finanzieller Quellen. Daher wurde insbesondere auf der Ebene der Verbände mit sehr starken Abgrenzungsnarrativen gearbeitet. Der ‚wahre‘ Islam werde nur vom eigenen Verband repräsentiert, während die anderen Gemeinden mit theologischen oder politischen Argumenten diskreditiert wurden. Dies ging sogar so weit, dass der Gottesdienst in den konkurrierenden Gemeinden als ungültig erklärt wurde. Dieser Zustand hielt bis in die 1990er Jahre an. Nach zwei Jahrzehnten war schließlich die Gewinnung neuer Mitglieder ausgeschöpft und die Profilierung des eigenen Dachverbands scharf genug, um sich fortan auf die eigenen Strukturen zu konzentrieren (Ceylan 2006, 145 – 147). Im Laufe der 2000er Jahre begann sogar eine Phase der Kooperation, die im Zuge der Anerkennungsversuche der unterschiedlichen Verbände als Ansprechpartner be-

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günstigt wurde. So wurde in 2006 die Deutsche Islam Konferenz als Plattform für politische Spitzengespräche implementiert. Dem Wunsch nach einem zentralen Ansprechpartner seitens der deutschen Politik wurde in 2007 mit der Initiierung des Koordinierungsrates der Muslime in Köln – hier sitzen die meisten großen muslimischen Dachverbände – entsprochen. Gründungsmitglieder waren die Türkisch-Islamische Union der Anstalt für Religion (DITIB), der Islamrat für die Bundesrepublik Deutschland (IRD), der Zentralrat der Muslime (ZMD) und der Verband der Islamischen Kulturzentren (VIKZ). Gut zwölf Jahre später wurden in 2019 die Union der Islamisch-Albanischen Zentren in Deutschland und der Zentralrat der Marokkaner in Deutschland (ZRMD) als weitere Mitglieder aufgenommen (vgl. Koordinationsrat der Muslime). Es handelt sich hierbei nicht um die Gründung eines neuen gemeinsamen Dachverbandes, sondern um eine gemeinsame Arbeitsplattform, um die Interessen der eigenen Mitgliedsvereine effektiver zu koordinieren und gegenüber der Politik als geschlossene Interessensgemeinschaft aufzutreten. Positiv ist, dass die bis dato miteinander konkurrierenden Dachverbände sich für die gemeinsamen Anliegen der Muslime in Deutschland zusammenschlossen. Eine solche Kooperation hätte man sich in den 1970er bzw. 1980er Jahren und selbst in den 1990er Jahren nicht vorstellen können, da die Fronten und die eigenen Positionen viel zu verhärtet waren. An der Zusammenarbeit ist jedoch bis heute zu bemängeln, dass die einzelnen Gruppen nach wie vor ihre Partikularinteressen fokussieren und eine tatsächliche Kooperation entsprechend ineffizient ist. Nach einem Blick auf die interne Entwicklung der Moscheen und ihrer Verbände lohnt es sich, ebenso auf die Außensicht der Gesellschaft aus Deutschland auf die Moscheen einzugehen. Parallel zur Entwicklung der ersten Gemeinden und Moscheen setzte auch im öffentlichen Diskurs eine Debatte um Moscheen ein. Problematisiert wurde zunächst der Unterricht für Kinder und Jugendliche in den Gemeinden, sodass Moscheen oft fälschlicherweise als ‚Koranschulen‘ gebrandmarkt wurden. Lehrkräfte an Schulen monierten diesen Unterricht in den Moscheen an Wochenenden und in den Schulferien, da die Überzeugung vorherrschte, dass sich dieser Unterricht desintegrativ auf die Entwicklung muslimischer Kinder und Jugendlicher auswirken würde (siehe auch Yildiz hier im Band). Sowohl die Erziehungsmethoden als auch die Erziehungsziele stünden konträr zum Bildungsziel der Schulen. Wollte man die Perspektiven der Schulen auf den Koranunterricht in den Moscheen zugespitzt wiedergeben, ließe sich das unter der Überschrift ‚Indoktrination versus Mündigkeit‘ zusammenfassen. Steht die Schule auf der aufklärenden Seite, wurde den Moscheen aufgrund eines engstirnigen Islamverständnisses ein anti-demokratischer und anti-aufklärerischer Bildungsauftrag attestiert. In den Medien thematisierte man diesen Unterricht korrespondierend zur Kritik am Schulsystem, also ebenfalls mit ähnlich abweisenden

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Argumenten. Zentrale Figur der Kritik – neben der offiziellen Organisationslinie der religiösen Gemeinden – war der Imam. Als theologische Autorität konnte dieser zumeist nur aus dem Ausland angeworben werden, sodass gerade deswegen dem Unterricht oft eine konträr zum deutschen Bildungsauftrag angelegte ‚schwarze Pädagogik‘ unterstellt wurde. The spring of 1979 saw a burgeoning of media attention to the Koranschulen in West Germany, with articles focusing on how instructors in those schools were passing on more than religious instruction to their students. In an article entitled ‘In the Middle of Germany: Turks Drill Hate into Children’, a reporter for the conservative Welt am Sonntag opens by describing the lessons young Turkish children would learn in their ‘particular type of Sunday school’: warnings that seemingly friendly German teachers were Christian missionaries or Jewish agents in disguise, the forbidding of friendships with Germans, and the sanctioning of killing anyone who went against such lessons. The strangeness and threat of these ‘underground’ and ‘illegal’ Koranschulen are compounded by the reporter’s description of the class itself. ‘The lesson takes place in dark basements or dark courtyards,’ the reporter writes. ‘It lasts three to six hours. The teachers are dressed entirely in black’ – calling to mind the radical mullahs of revolutionary Iran. The separation of boys and girls, along with the covering of girls’ hair, accentuates the foreignness of the situation, and the use of corporal punishment implies a propensity toward violence. The instructors, the reporter informs, belong to the extreme-right Turkish opposition party known as the Gray Wolves. (Vierra 2018, 186)

Hin und wieder sickerten Kanzelreden dieser Auslands-Imame durch die Medien. Die Argumente zu einer Abgrenzung von der Mehrheitsgesellschaft wurden bei der Thematisierung der Kanzelreden besonders hervorgehoben bzw. wurden die Reden auf jenen Aspekt reduziert. Die Kritik am Imam stellt bis in die Gegenwart eine Kontinuität dar, sodass die Politik immer stärker die Notwendigkeit einer Ausbildung in Deutschland forderte – und es bis heute fordert. Ziel ist es, den „Import“ dieser sehr kritisch betrachteten Geistlichen zu stoppen. Schließlich hat diese Kontroverse die Wissenschaft erreicht und der Wissenschaftsrat hat in 2010 die Gründung von Zentren für Islamische Theologie empfohlen, um religiöses Betreuungspersonal in Deutschland in Zukunft wissenschaftlich sowie praktisch auszubilden (vgl. Wissenschaftsrat 2010, 73 – 75). Eine weitere Kritik bildet die enge strukturelle Verbindung der hiesigen Gemeinden zu ausländischen Organisationen und Staaten. Nicht nur der Finanzverkehr, sondern ebenso der ideologische Einfluss aus dem Herkunftskontext ist Gegenstand der Kritik. Wie oben erwähnt haben viele hiesige muslimische Organisationen nicht nur ihre Wurzeln in ihren Herkunftsländern, sondern sie verfügen über organisatorische Verflechtungen. Mit der Arbeitsmigration der ersten Generation hatten diese Organisationen in Deutschland ihr Wirkungsspektrum sowie ihre Kommunikationsmöglichkeiten bis nach Europa erweitert sowie Devisenflüsse und politische Einflussmöglichkeiten etabliert. Diese Auf-

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rechterhaltung der Bindungen wurde durch die Pflege von ethnisch-kulturellen Traditionen in den deutschen Gemeinden garantiert. Solange die Leitung und der Betrieb von Moscheen nötig waren, brauchten die Gemeinden im Migrationskontext auch die Hilfe aus den früheren Herkunftsländern. Aufgrund der fehlenden Imamausbildung in Deutschland mussten die Imame in einem Rotationsmodell ins Migrationsland eingebracht werden. Ein Beispiel für den negativen Einfluss aus dem Wirkkreis der Herkunftsländer liefern die ‚Islamischen Holdings‘ in der Türkei – das sogenannte ‚Konya-Modell‘. Diese Holdings verwalteten das ‚grüne Kapital‘ in den 1990er Jahren und pflegten enge Beziehungen zu den hiesigen muslimischen Organisationen. Ihr Augenmerk richteten diese Unternehmen vor allem auf die im Ausland lebenden Muslime, die auf den Sparkonten der Banken Milliarden angespart hatten (vgl. Deutschlandradio 2005). Diese Muslime hatten aufgrund ihres Sparverhaltens ein striktes ‚calvinistisches‘ Arbeits- und Sparverhalten zu Tage gefördert. Da die Rückkehrillusionen in die Herkunftsländer noch nicht überwunden waren, verzichtete man auf Komfort und wollte sich irgendwann in Zukunft ein bequemes Leben in der Türkei aufbauen. Zum anderen spielte das im Islam bestehende Zinsverbot für die mangelnden Investitionen eine Rolle. Aus Sorge, an Investitionen mit Zinsgewinn beteiligt zu werden, legten die Muslime in Deutschland die Ersparnisse auf Sparkonten an. Da diese Konten zugleich Zinsen abwarfen, wurden Fatwas¹ zu der Frage gesucht, ob und wo man diese aus islamischer Sicht unlauteren Gewinne islamkonform verwalten könnte. Andere wollten völlig zinsfrei bleiben und präferierten Schließfächer bei Banken oder investierten in Gold. Genau diese Sorgen der Gläubigen haben die ‚Islamischen Holdings‘ instrumentalisiert und ihr Geschäftsmodell als Gewinn-/Verlustbeteiligung kommuniziert. Während Handelsgeschäfte als erlaubte Geschäftsformen vermittelt wurden, riet man von allen Arten von Zinsen vehement ab. Mit unglaublichen Versprechungen von einem Jahresgewinn von bis zu 30 Prozent lockte man potenzielle Anleger:innen für das intransparente und dubiose Geschäftsmodell an. Zielgruppe bildeten die praktizierenden Muslime, die eine enge Moscheebindung pflegten. Gezielt wurden Imame der Moscheen – denen man großzügige Honorare anbot – sowie Schlüsselfiguren aus der jeweiligen Community eines Stadtteils angeworben. Ziel war es, vertrauensbildende Maßnahmen in den Gemeinden umzusetzen. Infolgedessen konnten diese Holdings Geldsummen in Milliardenhöhe in die Türkei transferieren, wobei das Kapital oft bar an die Holdingvertreter ausgezahlt wurde. Gerade dadurch wurde ein  Bei Fatwas (arabisch fatwā, Pl. fatāwā) handelt es sich um religiöse Gutachten, die bestimmte Handlungen oder Praktiken als erlaubt oder als nicht-erlaubt bewerten. Praktizierende Muslime orientieren sich bei wichtigen Fragen wie beispielsweise Kreditaufnahme bei einer Bank an diesen Fatwas.

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rechtsfreier Kapitalmarkt ohne aufsichtliche und regulatorische Maßnahmen geschaffen. Der Gewinn, der an die Anleger:innen im Ausland nach dem Schneeballsystem ausgeschüttet wurde, spornte wiederum andere dazu an, ebenfalls ihre Ersparnisse in diese Holdings zu investieren. Dieses Modell konnte sich einige Jahre halten, bis die Anleger:innen über den gesamten Verlust ihres Anlagekapitals informiert wurden. Involviert in solche dubiosen Geschäfte waren die Moscheegemeinden, da nicht nur die Helfershelfer:innen dort rekrutiert hatten. Da das Geschäftsmodell auch in den sogenannten ‚Teestuben‘ der Gemeinden durch Mund-Propaganda verbreitet wurde, waren auch diese Teestuben zentraler Teil der Ereignisse. Dieses Phänomen ist bis heute weder in der Wissenschaft noch in der Politik angemessen aufgearbeitet worden. Stattdessen war es der deutsche Journalismus, der diese Kapitalverbrechen sowie die enge Verbindung zu türkisch-muslimischen Organisationen und türkischen Parteien ausgiebig thematisierte (vgl. Beucker 2004; Ataman 2007). Leidtragende bei diesen Geschäften waren besonders die erste und die zweite Generation der Arbeitsmigrant:innen, die in der Folge aus fehlender Wirtschaftskenntnis und religiösem Eifer ihr gesamtes Vermögen verloren.

4 Funktion der Moscheegemeinden für die Gläubigen Der im vorhergehenden Unterkapitel allenfalls in ihren Grundzügen skizzierten Kritik an den Gemeinden steht das gelebte muslimische Alltagsleben gegenüber. Dieses findet in den Moscheegemeinden statt, die für die Gläubigen im Migrationskontext vielfältige Funktionen übernehmen. Moscheen haben sich – neben der sakralen Funktion in Form von Gottesdiensten, religiösen Zeremonien oder religiösen Weiterbildungsmöglichkeiten – zu sozialen Treffpunkten im Stadtteil entwickelt. Sie sind Freizeitzentren, Seniorentreffpunkte und bieten die Möglichkeit zum ehrenamtlichen Engagement. Durch ihre lokalen Vernetzungen bilden sie die Brücke zu anderen sozialen Einrichtungen im Wohngebiet und gewährleisten somit die Schaffung eines Informationspools im Zusammenhang mit informellen und formellen Dienstleistungen. Die Moschee ist demnach multifunktional ausgerichtet und reaktiviert damit ihre historische Rolle nicht nur, sondern erweitert sie im Migrationskontext (vgl. Ceylan 2006, 145 – 147). Das wird ferner anhand der über 2,2 Millionen Asylanträge aus überwiegend muslimischen Herkunftsländern (Syrien, Irak, Afghanistan und Türkei) seit 2010 sichtbar. Eine neue ‚erste Generation‘ samt aller typischer Integrationsherausforderungen lebt hierzulande. Die religiösen Personen aus diesem Kreis frequentieren Moschee-

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gemeinden, die sie nicht nur als religiöse Orte wahrnehmen, sondern zugleich als soziokulturelle Institutionen. Auf der Basis von ehrenamtlichen Tätigkeiten versuchen die Moscheegemeinden seitdem, diese Menschen durch Binnenintegration schrittweise in die Community zu integrieren. Daher bilden gemeinsame Projekte mit Ministerien wichtige Stützen in der Integration der Flüchtlinge (vgl. DITIB Flüchtlingshilfe). Allerdings existieren keine empirischen Untersuchungen darüber, inwieweit diese neue erste Generation die Moscheestrukturen beeinflusst. Wenn man bedenkt, dass die Herkunftsstaaten dieser Generation von Eingewanderten über je unterschiedlich ausgeprägte Säkularisierungsgrade verfügten, dann kann man so zunächst einmal auch von eher ‚verhältnismäßig‘ konservativen Norm- und Wertorientierungen ausgehen. Eine erste Einschätzung lässt daher die Prognose zu, dass muslimische Gotteshäuser im Migrationskontext eine langfristigere Bedeutung für diese neuen Migrant:innen einnehmen werden. Während die in Deutschland organisierten Religionen wie das Christentum seit Jahrzehnten von den Folgen der Säkularisierung im Sinne von Mitglieder- und Statusverlusten immens affiziert sind, scheinen die dezentral und größtenteils in migrantischer Eigenregie organisierten Moscheen davon tendenziell unberührt zu sein. Dass also eine Säkularisierung der hiesigen Moscheen ausbleibt, hat wohl weniger mit den Grundzügen der islamischen Religion zu tun, sondern scheint sich eher aus dem Migrationskontext herzuleiten: Entstanden sind die Moscheegemeinden als Produkt der Arbeitsmigration; sie haben dementsprechend – wie alle Gotteshäuser in klassischen Einwanderungsländern – die sozialen und religiösen Bedürfnisse der Gläubigen befriedigt. Diese Angebote werden sogar noch von der dritten Generation der Migrant:innen angenommen. Es scheint so, dass die exkludierende bzw. andersmachende Adressierung von Migranten (Mecheril und Castro Varela 2010) identitätsstabilisierende Aspekte wie Religiosität unter bestimmten Migranten noch stärkt. Die Islamdebatten sowie die damit zusammenhängende ‚Muslimisierung‘ dienen als weiterer ‚Schutzschild‘ für mögliche Säkularisierungsprozesse: Solange desintegrative Mechanismen in der Gesellschaft aktiv sind, kann Religion als Identitätsanker dienen. Infolgedessen werden nicht nur die religiösen Dienstleistungen der Gemeinden weiterhin angenommen, sondern es sind ebenso die Freitagsgottesdienste und andere religiöse Veranstaltungen, die nach wie vor gut besucht sind (Haug, Müssig und Stichs 2009, 161). Hinzu kommt die bereits erwähnte ‚neue erste Generation‘, die aus den umfassenden Migrationsbewegungen aus Syrien und anderen Ländern besteht, so dass die Moschee bis heute eine Anlaufstelle für unterschiedliche Generationen mit sehr unterschiedlichen Sozialisationserfahrungen darstellt. Der gemeinsame Nenner dieser heterogenen Moscheebesucher ist ihre Zugehörigkeit zur abrahamitischen Religion. Die Vorstellung speist sich

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aus der Kenntnis und Funktionsweise muslimischer Gotteshäuser: Während der abrahamitische Tempel – die Kaaba in Mekka –die Hauptmoschee aller Muslime darstellt, fungieren die Moscheen weltweit als ihre ‚Filialen‘ und damit als allen Muslimen zugängliche Orte. Dennoch darf man nicht vergessen, dass die nationalkulturelle Zugehörigkeit einer Moschee nicht plötzlich wegfällt. Auch deswegen kommt es schnell zu parallelen Moscheegründungen unter Migrant:innen mit gemeinsamer nationaler und/oder sprachlich-kultureller Herkunft, um die eigenen Bedarfe nach Gemeinschafts- und Zugehörigkeitsbildung zu erfüllen.

5 Die ‚sieben Phasen‘ der Moscheeentwicklung Wenn man die historische Entwicklung der Moscheegemeinden in Phasen einteilen wollte, ergibt sich auf der Grundlage der eigenen Forschungen und Annahmen des Verfassers folgendes Bild: Erstens die Gründungsphase in den 1970er Jahren: In diesem Jahrzehnt ist eine Intensivierung der Moscheegründungen zu verzeichnen. Hintergrund: Aufgrund der Verlängerung des Aufenthalts in Deutschland beschließen die muslimischen Pioniermigrant:innen, ihre Ehefrauen und Kinder nachzuholen. Die Frage der religiösen Sozialisation der eigenen Familie gewinnt daher an Bedeutung, sodass Moscheegründungen als eine Lösung für diese akute Frage gesehen werden. Kinder und Jugendliche erhalten an Wochenenden dort einen Islamunterricht. Zweitens die Phase der Konkurrenzkämpfe und Mitgliederrekrutierung: Da in Deutschland ein Vakuum an muslimisch-religiöser Infrastruktur existiert, erkennen miteinander konkurrierende islamische Organisationen aus dem Herkunftskontext für sich eine Chance, neue finanzielle und personelle Ressourcen zu gewinnen. Sie forcieren verstärkt Gemeindegründungen und eine deutliche Konkurrenz entwickelt sich zwischen den unterschiedlichen Organisationen. Drittens die Konsolidierungsphase der Moscheen: Diese tritt in den 1990er Jahren ein, nachdem weitgehend die Mitgliedergewinnung der miteinander konkurrierenden Gemeinden ausgeschöpft ist. Dies ist die Grundlage dafür, dass sich diese Organisationen zunehmend annähern, um gemeinsam als politische Interessenvertretung der Muslim:innen in Deutschland zu fungieren. Schließlich viertens ihre Transformationsphase: Dies ist die Phase, in der sich die Gemeinden mittlerweile zu multifunktionellen Zentren entwickelt haben (vgl. Ceylan 2006, 127– 129). Der Fokus der nachfolgenden Ausführungen wird auf der vierten Phase liegen, da hieraus künftige Herausforderungen und Chancen für Moscheen sichtbar gemacht werden können. Die letzte Phase gilt deswegen als Transformationsphase,

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da sich immense Entwicklungen in den Moscheegemeinden vollziehen. Erstens ist die junge Generation zunehmend in den Gemeinden aktiv und stellt den Machtanspruch der ersten sowie zweiten Generation in Frage. Zweitens ist den Moscheen eine Feminisierung² zu attestieren, da die männerdominierten – die Gründungsfiguren waren männliche Pioniermigranten; diese haben ihre Dominanz lange strukturell zementiert – Gemeinden zunehmend durch aktive muslimische Frauen in Frage gestellt werden. Drittens wird die Frage der Professionalisierung stärker diskutiert. Damit sind alle Fragen von neuen Finanzierungsquellen bis hin zur Anerkennung der eigenen sozialen Arbeit zum Beispiel als Träger der Jugendhilfe eingeschlossen. Viertens sind mögliche Brain-Drain-Prozesse aus Moscheegemeinden infolge des oben skizzierten Spannungsverhältnisses zwischen der alten und neuen Generation sowie zwischen Nicht-Akademikern und Akademikern zu erwarten. Erste Indizien liefern bereits sogenannte Kulturvereine, deren Mitglieder sich von der aktiven Moscheearbeit distanziert haben. Zwar werden die Moscheegemeinden für die Gottesdienste aufgesucht,³ doch engagieren sich junge Menschen teilweise gar nicht (mehr) in den Vereinsstrukturen. Fünftens ist die strukturelle Entkoppelung von den Organisationen der Herkunftsländer noch nicht abgeschlossen. Zwar unterhalten auch christliche Gemeinden enge Verbindungen ins Ausland (zum Beispiel liegt das Zentrum der katholischen Kirche in Rom), doch muss man im muslimischen Kontext weiter differenzieren. Oft sind die muslimischen Organisationen im Herkunftsland als Oppositionsbewegung entstanden und verfolgen entsprechend Ziele abseits der jeweiligen nationalstaatlichen Politik. Weil die politischen Zielsetzungen der muslimischen Organisationen also von denjenigen der Herkunftsländer der Migrant:innen teilweise immens verschieden sind, ist das politische Postulat hierzulande, die Beziehungen der hiesigen muslimischen Gemeinden und ihre Verbindungen ins Ausland zu unterbinden zu undifferenziert. Eine rein religiöse, auf Frömmigkeit basierende Orientierung wird auf politischer Seite in Deutschland zwar als unproblematisch betrachtet, doch die Lösung kann hier nicht die Kappung der Beziehungen ins Herkunftsland sein. Wegen der politisch eigenwilligen Orientierung vieler Gemeinden ist aus der Unterbindung dieser Beziehung keine auf rein religiöse Ausübung ausgerichtete Gemeindeorientierung zu erwarten. Mit diesem letzten Punkt

 Ein ähnlicher Prozess ist der Islamischen Theologie und der Religionspädagogik zu bescheinigen. Immer mehr Frauen streben den akademischen Abschluss an, um in naher Zukunft an Schulen im Religionsunterricht oder als Voll-Theologinnen in Gemeinden und anderen Einrichtungen tätig zu werden.  Moscheen müssen wegen der Pflicht zum fünfmaligen Gebet pro Tag eine permanente Öffnung anbieten: vom ersten Gemeinschaftsgebet vor Sonnenaufgang bis hin zum letzten Gebet bei Einbruch der Nacht, und zwar zu allen Jahreszeiten.

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hängt auch die sechste Facette der Moschee-Entwicklung zusammen, und zwar der Bedarf an qualifizierten, deutschsprachigen Imamen in den muslimischen Gemeinden. Die Hoffnung auf deutscher Seite ist, dass die grundsätzlich politisch zweckbestimmte Ausrichtung vieler Moscheen sich dann durch Konkurrenzmoscheen oder andere Imame abschwächt. So wurden zwar mit der Gründung von Instituten für Islamische Theologie an unterschiedlichen deutschen Standorten die Grundlagen für die Ausbildung von Theologen gelegt, doch für die Qualifizierung von Imamen in den Gemeinden ist dieser Schritt unzureichend. Zum einen muss – analog zum katholischen Priesterseminar bzw. zum evangelischen Vikariat – ein Imam-Kolleg gegründet werden, um potentielle Anwärter für den Dienst in den Gemeinden praktisch vorzubereiten (vgl. hierzu Ceylan 2019). In diesem Zusammenhang ist beispielsweise am 15. Juni 2021 in Osnabrück ein Imam-Kolleg gestartet, welches eine Anschubfinanzierung vom Bund und Land Niedersachsen erhalten hat. Zum anderen muss eine angemessene Finanzierung der Imame in den Gemeinden geleistet werden. Während die Imame aus dem Ausland – sofern sie nicht Beamte einer Religionsbehörde sind – sich mit unterdurchschnittlichem Einkommen (gemessen an den Gehältern von Priestern oder Pastoren) zufriedengeben müssen, werden sich die in Deutschland ausgebildeten Autoritäten kaum auf die bisherige Gehaltspraxis einlassen. Zugespitzt werden diese Probleme der Steuerung der Entwicklung von muslimischen Gemeinden und Moscheen durch die Unvermeidlichkeit von Säkularisierungsprozessen auch bei Muslimen (Ceylan 2014). Dieser anstehende Prozess wird von den Gemeinden kaum antizipiert. Ein Blick auf die Kirchenstatistiken zeigt, dass sowohl Mitgliederzahlen als auch Gottesdienstbesuche in den letzten Jahrzehnten stark zurückgegangen sind. Das ist ein Phänomen, mit dem alle etablierten organisierten Religionen in hoch modernisierten Gesellschaften konfrontiert sind. Man muss kein Hellseher sein, um für die deutschen Moscheegemeinden ähnliche Herausforderungen vorauszusagen.

6 Quo vadis? Die in dieser Abhandlung identifizierten Herausforderungen bilden Gegenwartsund Zukunftsthemen. Selbstverständlich fallen diese Fragen je nach Moscheegemeinde unterschiedlich aus. Zahlreiche Faktoren wie Größe, Standort der Moschee (Sozialraum), Mitgliederzahlen, Sozialstruktur der Gemeinde, Engagement der ehrenamtlichen Mitglieder, Moscheetyp (repräsentative Großmoschee, große oder kleine Moschee in umgenutzten Räumen und weitere) und Zugehörigkeit zu einem Dachverband (und damit zu einer offiziellen Organisationslinie) ent-

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scheiden über Qualität und Quantität der Herausforderungen. Die Pioniermigranten (zumeist ‚Gastarbeiter‘ der ersten Stunde) haben trotz des geringen Bildungsniveaus und mangelhafter Deutschkenntnisse, also geringen kulturellen und ökonomischen Kapitals, den Grundstein für die über 2300 Moscheegemeinden in Deutschland gelegt. Entsprechend der Rückkehrabsichten in der ersten Phase der Arbeitsmigration waren diese Gemeinden stark herkunftsorientiert. Mit der zweiten und dritten Generation haben nicht nur die Angebote der Moscheen zugenommen, sondern es hat eine stärkere Ausrichtung auf die hiesige Gesellschaft stattgefunden. Allerdings hat dieser Generationswechsel nicht gleichzeitig zu einem Richtungswechsel geführt. Nach wie vor bewegt sich die innere Gemeindedynamik zwischen der Orientierung am Herkunftskontext und an den hiesigen Integrationsbestrebungen. Von diesem Spannungsverhältnis zeugt der geschlossene Rücktritt des Jugendvorstandes der Türkisch-Islamischen Union DITIB in 2017. Diesem konsequenten Schritt waren Entlassungen und Kündigungen von jungen Funktionären aus der DITIB-Zentrale in Köln vorausgegangen; auch bestimmte Radikalisierungstendenzen einiger Fundamentalisten zeugen von diesem Spannungsverhältnis, wenn kontraproduktive Kräfte wie z. B. ultraorthodoxe Gelehrte aus dem Herkunftskontext in hiesigen Gemeinden Vorträge halten und die Muslime in Deutschland mit theologisch mittelalterlichen Argumentationen zur Rückkehr in die ‚islamischen‘ Herkunftsländer auffordern. Wie dieser Prozess der Ablösung der Herkunftsorientierung letztendlich verlaufen wird, hängt nicht nur von der gemeindeinternen Dynamik ab. Genauso einflussreich sind die gesellschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen, in denen Moscheen stehen. Konkret ist das die Frage, ob man die Gemeinden ausgrenzt oder ob man mit einer differenzierten Politik zwischen Kritik und Annäherung langfristig solche konstruktiven Kräfte in den Gemeinden unterstützt, die für Öffnungsprozesse stehen.

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Albrecht Fuess

(Architektonische) Transparenz von Moscheen im Migrationskontext Eine islamwissenschaftliche Perspektive Abstract: Moscheebauten sind in deutschen Städten recht neu, da die muslimische Migration erst in den 1960er Jahren begann. Aus finanziellen Gründen und wegen Akzeptanzproblemen wurden diese Moscheen meist in Privathäusern, Industrieanlagen und Hinterhöfen errichtet. Besonders nach den Anschlägen vom 11. September 2001 erwuchs daraus der Verdacht der Mehrheitsgesellschaft, dass muslimische Organisationen etwas zu verbergen hätten und es wurden Forderungen laut, dass sich Moscheevereine öffnen sollten. Dies führte dazu, dass in Allianzen von Kommunen mit deutschen Moscheevereinen trotz noch bestehender Vorurteile neue Moscheen gebaut wurden. Einige dieser Moscheen folgten bereits modernen deutschen Baumustern (Neue Sachlichkeit) mit geraden Linien und viel Glas. Dies bedeutet einerseits eine Integration in die deutsche Architektur, signalisierte aber auch durch die Glasfronten, dass sich die Gemeinden öffneten und nichts zu verbergen hatten. Der vorliegende Beitrag beleuchtet vier Fälle des modernen deutschen Moscheebaus und geht der Frage nach, ob diese Art der architektonischen Anpassung zu einer besseren Integration der muslimischen Gemeinden in deutschen Städten führt.

1 Einleitung Ein Beitrag, der sich mit der Transparenz von Moscheen beschäftigt und dabei architektonische Elemente in den Fokus nimmt, muss die Frage nach der Präsenz im öffentlichen Raum stellen. Architektur ist hier immer auch Ausdruck von Politik, gerade wenn es um die Repräsentation einer Religion von Eingewanderten geht, deren Formensprache in Deutschland erst seit den 1970er Jahren des letzten Jahrhunderts langsam bekannter wird. Moscheen gehören erst seit den letzten zwanzig Jahren zum sichtbaren Stadtbild deutscher Städte. Die Initiative zum Moscheebau ging dabei meist ausschließlich von den islamischen Gemeinden aus, die sich von der Lokalpolitik etwas stiefmütterlich behandelt fühlten. Wie vieles, was den Islam betrifft, veränderten die Attentate des 11. Septembers 2001 die Debatte. Seitens der deutschen Politik entstand nun der Wunsch, die sprichwörtlichen ‚Hinterhofmoscheen‘ mit ihren als Problem https://doi.org/10.1515/9783110668919-004

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empfundenen Koranschulen aufzulösen. Dies sollte Integration stärken und Radikalisierungen vorbeugen. Doch musste ein solcher Prozess mit Zugeständnissen an die Muslim:innen verbunden sein, schönere und repräsentative Orte zu erhalten, an denen Moscheen gebaut werden konnten. Dafür versprachen diese Gemeinden, die auch unter dem Schock der Ereignisse in den USA standen, dann offen und transparent zu sein und Orte des Austauschs zu bieten, um nicht mit den Terrorist:innen gleichgesetzt zu werden. Dieser Annäherungsprozess kam dann architektonisch zum Ausdruck. Der folgende Beitrag möchte sich daher nicht allgemein mit der Geschichte von Moscheen und Moscheebauten in Deutschland befassen – hier sei vor allem auf die Arbeit von Claus Leggewie und Bärbel Beinhauer-Köhler verwiesen (2009) – vielmehr soll anhand von vier Beispielen mit Moscheen voller Glaselementen aufgezeigt werden, wie Moscheen sich zunehmend in den deutschen Baustil der Neuen Sachlichkeit einpassen und sich somit der deutschen Öffentlichkeit, aber auch den Gläubigen, offen und transparent zeigen. Im Rahmen der Fallstudien werden dann Überlegungen zu den Gründen der baulichen Transparenz angestellt und es wird der Frage nachgegangen, was diese Entwicklung über die Migrationsfrage aussagen kann. Vorher soll aber eine kleine historische Einführung zur Thematik ‚Moschee‘ erfolgen.

2 Moschee und Migration in der islamischen Frühzeit Spezielle islamwissenschaftliche Perspektiven auf den Aspekt von Moscheen im Migrationskontext zu werfen, kann – wie meist in der Islamwissenschaft – bedeuten, beim Propheten anzufangen: ohne ihn keine Moscheen. Interessanterweise hängt die Gründung der ersten Moschee in Medina mit seiner eigenen Migration zusammen. Moschee und Migration sind daher seit Beginn der islamischen Zeitrechnung, der Auswanderung von Mekka nach Medina (hiǧra) im Jahre 622, eng miteinander verbunden. Bei Ibn Isḥāq, dem Autor der bekannten Prophetenbiographie, findet sich folgende Geschichte, wie der Prophet sein zukünftiges Haus auf einem Kamel reitend in Medina fand: [A]ls er weiterzog, hielten ihn immer wieder die Vertreter der verschiedenen Sippen an und baten ihn, bei ihnen zu bleiben, ihren Besitz mit ihnen zu teilen und ihren Schutz zu genießen, doch er forderte sie jedes Mal auf, seinem Kamel den Weg freizugeben, da es unter Gottes Befehl stehe. So zog das Tier von einem Gehöft zum anderen, bis es zur Sippe Mālik vom Stamm Najjār kam und dort beim Tor der Moschee niederkniete […] Da der Prophet nicht

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Abb. 1: Rekonstruktion der Prophetenmoschee in Medina 632 (Zeichnung aus Korn, Lorenz: Die Moschee. Architektur und religiöses Leben, München: C. H. Beck 2012, 21). abstieg, erhob sich das Kamel wieder und schritt ein Stück weiter, wobei ihm der Prophet den Zügel frei ließ und es nicht leitete. Es drehte jedoch wieder um, kehrte an die erste Stelle zurück, kniete erneut nieder, blieb erschöpft liegen und legte seinen Hals auf die Erde. (Ibn Isḥāq 2009, 109)

Der Prophet verließ sich auf dieses göttliche Zeichen und ließ dort eine Moschee errichten, die ihm bis zu seinem Tod als Haus und Gebetsort dienen sollte. Er verstarb dort in der Kammer seiner Frau Aischa im Jahr 632. Betrachtet man die Rekonstruktion der Moschee auf Abbildung 1, fällt auf, dass dies ein sehr offenes Gebäude gewesen sein muss. So lesen sich auch die frühislamischen Quellen und Hadithsammlungen. Selbst wenn diese Aussagen stilisiert sein mögen, scheint es doch relativ einfach möglich gewesen zu sein, das Gebäude zu betreten und dem Propheten seine Fragen zu stellen. Es war also ein offener Ort des Austauschs und der Begegnung. Der deutsche Ausdruck ‚Moschee‘ stammt vom Arabischen masǧid, dem Ort, an dem man sich zum Gebet niederwirft. Die fünf Gebete nach Mekka sind in Medina schon gemäß der Gebetsrichtung qibla nach Süden ausgeführt worden. Andere Aspekte wie das Schuheausziehen und das Minarett kamen erst später hinzu und sind bis heute keine Bedingung für die Moschee als Ort. Eigentlich reicht für einen islamischen Gebetsraum eine abgeschlossene Umgrenzung, die Angabe der Gebetsrichtung und die kultische Reinheit des Ortes. Damit kann man auch nachvollziehen, wieso sich Moscheen so leicht einrichten lassen. Sie sind kein sakraler Ort wie westliche Kirchen, wo bei den Katholik:innen ‚Kirchweihen‘ durch den Bischof stattfinden oder offizielle Übergaben bei den Protestant:innen. Jede:r Muslim:in kann überall eine Moschee

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eröffnen, was in Deutschland den kritisch gesehenen ‚Wildwuchs‘ in Hinterhöfen und Industriegebieten erklärt. Stärker noch als im Christentum konstituieren und legitimieren sich Moscheen durch die anwesenden Gläubigen. Je nach Rechtsschule müssen sich für ein anerkanntes Freitagsgebet zwischen vier und vierzig Männer versammeln. Im Laufe der Zeit und in der Begegnung mit anderen architektonischen Traditionen haben sich Moscheen baulich stark verändert und an die ortsübliche Architektur angepasst. Der Plan mit den großen offenen Innenhöfen, der in der arabischen Welt noch sehr lange den Moscheebaustandard darstellte, musste sich witterungsbedingt in Istanbul und auf dem Balkan ändern. Für kalte Winter war diese Bauweise einfach unpassend; es schneite und regnete massiv hinein. Da bot es sich eher an, die überdachte Kuppelbauweise aus Byzanz zu übernehmen. Diese Bauweise wurde dann weithin auf dem Balkan verwendet und durch die türkischen Gastarbeiter:innen kam sie dann nach dem zweiten Weltkrieg mit der Arbeitsmigration auch in Deutschland an. Es sollte aber noch bis in die siebziger Jahre dauern, bis repräsentativere Bauten durch die eingewanderten Muslim:innen erbaut werden konnten.

3 ‚Gläserne Moscheen‘ Die neuen gläsernen Moscheen in Deutschland, die hier im Folgenden in vier Fallstudien vorgestellt werden sollen, sind offen und einsehbar wie die Häuser niederländischer Calvinisten; wobei bei den Muslim:innen nicht die Furcht vor verborgenem Kartenspiel und anderen geheimen Lastern der Gläubigen diese Offenheit bewirkt, sondern ein in Europa geändertes Architekturverständnis und der Wunsch, in der deutschen Öffentlichkeit transparent präsent zu sein. Vermutlich ist man es auch leid, vor allem nach den Anschlägen des 11. Septembers, unter Generalverdacht gestellt und in den Berichten des Verfassungsschutzes erwähnt zu werden. Eine gläserne Moschee gibt schon als Bau ein Statement steinerner Auskunftsbereitschaft und erlaubt da offene Einblicke, wo islamistische Verschwörungen vermutet werden. Daher scheint die Abkehr von klassisch orientalisch-osmanisch inspirierten ‚Zuckerbäckermoscheen‘, die für das heutige europäische Auge sehr verspielt wirken, hin zu zeitgenössischeren mitteleuropäischen Formensprachen durch den Einsatz von Glas das Bedürfnis nach gezeigter und gelebter Transparenz zu stillen. Muslim:innen haben nichts zu verbergen. Sie nehmen ihren Platz im öffentlichen Raum ein und man darf ihnen bei ihren Tätigkeiten zuschauen. „Ganz Klar“ lautete beispielsweise das Motto der Islamischen Gemeinde Marburg im Zusammenhang mit ihrem Moscheebau.

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4 Die DITIB-Zentralmoschee in Köln Die Diskussion um den Bau der Zentralmoschee der Türkisch-Islamischen Union der Anstalt für Religion (DITIB) beschäftigte die Kölner und bundesdeutsche Öffentlichkeit mehr als ein Jahrzehnt. Es ging schon mit viel Ärger los, als die rechtsextreme Bewegung Pro Köln 2007 eine ‚Anwohnerinitiative‘ in die Wege leitete und öffentlich agitierte. Die Stadt Köln unter der Leitung des Oberbürgermeisters Fritz Schramma engagierte sich sehr aktiv gegen diese Kampagne und trat öffentlich für den Neubau ein. 2009 wurden dann die alten DITIB-Gebäude am Ort des Neubaus an der Venloer Straße/Ecke Innere Kanalstraße in KölnEhrenfeld abgerissen. Der bekannte Architekt Paul Böhm, Professor für Entwerfen und Gebäudelehre und Dekan der Fakultät für Architektur der TH Köln, hatte die Planungen übernommen. Die Vergabe des Auftrages an ein klassisches deutsches Architekt: innenbüro galt als Zeichen, dass es die DITIB trotz ihrer administrativen Nähe zum türkischen Staat ernst mit einer Integration in die deutsche Baugeschichte meinte. Am Anfang entstanden Unstimmigkeiten wegen der Minaretthöhen und anderer baulicher Elemente, die der Architekt aber im Gespräch soweit ausräumen konnte, dass die Baugenehmigung Ende 2008 erteilt wurde und es im November 2009 zur Grundsteinlegung kam. Rückblickend erklärte der Architekt Paul Böhm im Jahr 2019: „Wir wollten eigentlich erreichen, dass die Menschen, die hier leben und einen bestimmten Glauben leben, ein würdiges und adäquates Haus bekommen“ (Böhm in Deutschlandfunk Kultur 2019). Der türkische Staatsminister für Auslandstürk:innen, Faruk Çelik, sagte in seiner Rede zur Eröffnung 2009: So offen und transparent die Außenfassade der Moschee auch ist, das Innere und die Aktivitäten hier werden umso transparenter sein. Dies wird ein Ort werden, an dem sich die Menschen begegnen. Das 20. Jahrhundert war für die ganze Menschheit geprägt von Intoleranz und hieraus resultierendem Leid. Dass heute und hier die Angehörigen verschiedener Religionen zusammen kommen, ist ein sehr schönes Bild. (Çelik 2009)

Die Ausgestaltung der Kuppel, die kein genuin islamisches Element ist, „fügte [sich] in der nun realisierten Fassung aus sechs in drei konzentrischen Ringen angeordneten Schalen zusammen, die auf Straßenniveau entspringen, zylindrisch in die Höhe wachsen, um sich dort einander zuzuneigen“, so beschrieb es Uta Winterhager in der Bauwelt, als der Bau sich schon langsam zu einem architektonischen Wahrzeichen der Stadt entwickelt hatte (2017). Doch trotz der positiven Rezeption und den Wünschen, die offene Struktur auch in einen transparenten weiteren Dialogprozess münden zu lassen, kam es

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relativ schnell zu Problematiken, die im Jahr 2011 zu einer Kündigung des Architektenvertrages führten, weil es zu Unstimmigkeiten bei der Bauausführung und Finanzierungen kam. Nach einer Mediation war Böhm zumindest bereit, das Projekt weiter zu beraten, aber nicht mehr die Bauleitung auszuführen (Fritz 2018). Da die Leitung der DITIB-Zentrale in Köln mehrfach wechselte, kam es zu weiteren Komplikationen zwischen Stadt und Gemeinde. Die politischen Spannungen zwischen Deutschland und der Türkei vor allem nach dem gescheiterten Putsch 2016 wirkten sich dann zusätzlich negativ auf die Verhältnisse aus. Als 2018 die offizielle Eröffnung in Anwesenheit des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan stattfand, fehlten hochrangige deutsche Repräsentant:innen (Küpper und Leue 2019). Dennoch ist die Moschee aus meiner Sicht in ihrer Nachbarschaft angekommen und strahlt als Gebäude die Offenheit und Transparenz aus, für die sie gebaut worden ist. Ein Moschee-Forum soll jetzt 2021 den Offenheitsgedanken seitens der DITIB wieder aufgreifen. Vieles scheint im täglichen Leben auch schon besser zu funktionieren als auf der institutionellen Ebene. Oberbürgermeisterin Henriette Reker steht einem Dialog offen gegenüber und glaubt an ihre muslimischen Mitbürger: innen: Viele der Menschen sind unglaublich gut integriert, die sprechen mit mir Kölsch. Ich glaube, dass die DITIB da einfach als Institution Nachholbedarf hat. Die ist da von ihren Menschen schon längst überholt worden. (Küpper und Leue 2019)

Obwohl sich die Geschichte des Baus der DITIB-Moschee in Köln mit all ihren verschiedenen staatlichen und nichtstaatlichen Akteur:innen sehr komplex darstellt, führt die Art des Baus doch dazu, dass eine Grundoffenheit im Dialog vorhanden ist. Das Gebäude kann als gelebtes Statement gelten, das Menschen quasi immer wieder zusammenführen muss, schon allein weil es zentral an einer großen Hauptstraße situiert ist. Mit dem Bau kann Deutschland dem Ausland zudem seine Offenheit und Aufgeschlossenheit zeigen, denn der Architekt hat in der Tat eine Formensprache zwischen Moderne und Tradition gefunden, die mehr als nur ein Versprechen für ein gemeinsames Zusammenleben bietet. Trotz seiner imposanten Größe wirkt der Bau auf den Betrachter nicht wuchtig, sondern filigran und leicht. Die Glasfassaden öffnen den Bau zur Stadt hin und weder der DITIB noch der Mehrheitsgesellschaft wird es hier gelingen, sich voneinander abzugrenzen.

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Abb. 2: DITIB Zentralmoschee in Köln (Foto: Thomas Banneyer).

5 Moschee der islamischen Gemeinde Penzberg Zeitlich näher am 11. September 2001 als die DITIB-Zentralmoschee in Köln entstand die Moschee im bayrischen Penzberg, die vom Kunsthistoriker Christian Welzbacher als „Prototyp einer neuen, zeitgemäßen Euroislam-Architektur“ bezeichnet wurde (2008). Die Eröffnungsfeier fand am Tag der Bundestagswahl am 18. September 2005 statt, dem Tag, als Deutschland zum ersten Mal eine Frau zur Bundeskanzlerin wählte, wie sich der Architekt Alen Jasarevic erinnert und beide Ereignisse in das Licht einer neuen Ära stellt. Weiter führt er aus: Wir sind der festen Überzeugung, dass sich ein mitteleuropäischer Moscheetyp entwickeln wird, mit dem sich die muslimischen Einwanderer, vor allem der dritten und vierten Generation, wie auch die nichtmuslimischen Bürger leichter identifizieren können als mit Übernahmen von traditionellen Moscheetypen aus der islamischen Welt. Neben der Kirche und dem Rathaus wird sich die Moschee wie auch die Synagoge als selbstverständlicher Bestandteil unserer Städte etablieren. (Jasarevic 2009, 102)

Vor dem Hintergrund dieser Aussage verwundert es dann auch nicht, dass die Penzberger Moschee Ähnlichkeiten zu zeitgenössischen Kirchbauten aufweist

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Abb. 3: Innenansicht der DITIB Zentralmoschee in Köln (Foto aus: Kölner Stadt Anzeiger. 9. 6. 2017. „Mit fünf Jahren Verspätung Erstes Freitagsgebet in Ehrenfelder Moschee“. www.ksta. de/koeln/ehrenfeld/mit-fuenf-jahren-verspaetung-erstes-freitagsgebet-in-ehrenfelder-moschee–27767734, Abruf: 11. 4. 2021).

und deutlich eckiger und funktionaler im Stil Neuer Deutscher Sachlichkeit daherkommt als traditionelle islamische Bauten. Was ebenso auffällt, sind die Glasfassaden, die viel Licht in den Innenraum lassen. Dies stellt eine Anpassung an das örtliche Klima dar, das zusätzliches Licht gerade an grauen Tagen gut vertragen kann. Relativ schnell entwickelte sich der Bau unter der Führung des aktiven Imams Benjamin Idriz zum politischen Vorzeigeprojekt. Zuletzt würdigte Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier Ende 2019 die Moschee als wegweisendes „Modell für muslimische Gemeinden in Deutschland“ (Deutschlandfunkkultur 2019). Diese positive Würdigung geschieht, obwohl das Islamische Forum Penzberg noch in den Jahren 2007 bis 2010 im bayrischen Verfassungsschutzbericht wegen seiner Nähe zu der Vereinigung Milli Görüş und der ägyptischen Muslimbruderschaft regelmäßig erwähnt wurde. Auch dies ist symptomatisch für die gegenwärtige Situation deutscher muslimischer Gemeinden. Auf der einen Seite gibt es Unterstützung durch politische Vertreter:innen, andererseits ein Kontrollbedürfnis der staatlichen Sicherheitsbehörden.

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Während einige Moscheegemeinden im Land mit diesem Dualismus weiterhin noch zurechtkommen müssen, haben die Penzberger Muslim:innen – vielleicht wegen ihres lichten Baus und den vielen öffentlichen Aktivitäten – schon seit zehn Jahren keine Erwähnung in staatlichen Berichten gefunden. Der Glasbau scheint in seiner symbolischen Dimension daher eine Art Beruhigungsfunktion für die Behörden und die dortige Gesellschaft erfolgreich erfüllen zu können. Man könnte ihn auch als aktiven Schritt der Gemeinde in die Gesellschaft und die Umgebung interpretieren; ein bauliches Bekenntnis zu Deutschland. In Penzberg hat sich das Miteinander von Moschee und Stadt wegen des transparenten und standesgemäßen Begegnungsorts kontinuierlich verbessert. Nur von ihrem Wunsch, in Corona-Zeiten den Menschen durch den öffentlichen Muezzinruf wieder Mut zu machen, sind sie im Oktober 2020 nach einem Beratungsgespräch mit dem Bürgermeister wieder abgerückt, denn schon die Möglichkeit des öffentlichen Rufs des Muezzins in Penzberg hatte bei der Mehrheitsbevölkerung für Unruhe gesorgt.

Abb. 4: Moschee in Penzberg von außen (Foto: Islamische Gemeinde Penzberg).

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Abb. 5: Moschee in Penzberg von innen (Foto: Islamische Gemeinde Penzberg).

6 Moschee in Marburg Im Zusammenhang mit dem Wunsch der Islamischen Gemeinde Marburg, einen größeren Gebetsraum zu erhalten, weil die ursprünglich genutzten Räume einer alten Bäckerei einfach zu klein geworden waren, entstand – wie oft in Deutschland – eine lokale Kontroverse. Es ging um den möglichen Erwerb eines Gebäudes in der Nähe des Marburger Südbahnhofs im Jahre 2007, der eine öffentliche Diskussion auslöste, die das Projekt schließlich beendete. Innerhalb der Stadt wuchs aber das Verständnis für Notwendigkeit der Errichtung einer neuen Moschee. Es kam zur Bildung eines ‚Runden Tischs Integration‘ unter Einbezug anderer Religionsgemeinschaften und gesellschaftlicher Gruppierungen. Zusätzlich flankierte seit 2009 ein jährliches öffentliches Ramadanzelt an einem zentralen Ort in der Innenstadt die Öffentlichkeitsarbeit der Gemeinde und festigte ihre Verbindung in die Stadt. Neue Pläne entstanden, und schließlich kaufte die Gemeinde ein Grundstück bei St.Jost 17, um ihre Moschee mit Funktionsgebäude zu errichten (Ntemiris) 2009. Die Grundsteinlegung erfolgte 2013. Damals sagte Dr. Bilal El-Zayat, der Vorsitzende der islamischen Gemeinde in Marburg in der Frankfurter Rundschau:

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„Das wird eine deutsche Moschee. Sie hat kein Minarett, keine Kuppel und keinen Muezzinruf. Wir haben auf alles verzichtet, was provozieren könnte“ (Coordes 2013). Und um das Konzept einer ‚deutschen Moschee‘ noch zu unterstreichen, plante die Gemeinde von Anfang an, sowohl Sonnenenergie als auch Erdwärme zu nutzen. Die Moschee ist so nicht nur deutsch, sondern auch ökologisch geworden. Die Vorsorge auch in Umweltfragen zeigt, wie ernst die Moscheegemeinde den aktuellen Trend zur Nachhaltigkeit nimmt und unterstreicht damit ihren Willen zur Integration. 2020 erfolgte dann nach siebenjähriger Bauzeit die feierliche Eröffnung und die Gemeinde hat alles Versprochene eingelöst. Nicht mehr viel erinnert an eine klassische Moschee, aber letzte Elemente fehlen doch noch. So sollen eine Minarett-Andeutung und eine arabische Kalligraphie die Moschee ergänzen. Der Bau benötigte viele Eigenmittel der Gemeinde, so dass einiges sich verzögert. Einen Anspruch auf staatliche finanzielle Unterstützung wie die Kirchen haben islamische Gemeinden bisher nicht in Deutschland. Manch einem/r Besucher:in muss man beim Blick auf den sachlichen wirkenden Zweckbau mit viel Glas erklären, dass dies eine Moschee ist. Die Erwartungshaltung der Besucher:innen hinsichtlich einer Moschee korrespondieren offenbar nicht mit den konkreten architektonischen Gegebenheiten vor Ort. 2018 erhielt die Moschee zusätzlich von ihrem Förderverein das Lichtkunstwerk ‚5 Säulen‘ geschenkt, das die ‚Fünf Säulen des Islam‘ repräsentiert, aber gleichzeitig ein begehbares und offenes Tor für die Stadtgesellschaft darstellt. Mit vielen Aktivitäten, unter anderem einer engen Kooperation mit der jüdischen Gemeinde, versucht die Islamische Gemeinde, in die Stadt zu wirken und findet zunehmend Akzeptanz, obwohl auch die Islamische Gemeinde Marburg eine langjährige Präsenz in Verfassungsschutzberichten vorzuweisen hatte. Durch den Bau kann sie nun auf glaubwürdige Art und Weise sichtbar machen, was sie tut und jeden einladen, es sich anzusehen.

Abb. 6: Marburger Moschee (Foto: Albrecht Fuess).

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Abb. 7: Lichtkunstwerk ‚5 Säulen‘ vor Marburger Moschee (Foto: www.psdm-gmbh.com/de/ portfolio-items/5-saeulen-marburg, Abruf: 7. 5. 2021).

7 Geplanter Moscheekomplex des Verbandes der Islamischen Kulturzentren e. V. (VIKZ) Im deutschen Moscheebau begegnet man neben sehr funktionalen Bauten auch Formen, mit der die Neue Sachlichkeit neu interpretiert wird und die dennoch die traditionelle muslimische Bauweise in geraden Linien mit Ecken und Kanten wiederaufnimmt. Das geplante Zentrum des Verbandes der Islamischen Kulturzentren e.V. wird dabei in Köln-Müngersdorf an der Stolberger Straße entstehen. Der Verband Islamischer Kulturzentren e. V. (VIKZ) stellt einen der ältesten Dachverbände für türkische Muslim:innen in Deutschland dar und wurde 1973 gegründet. Seine Ursprünge besitzt er in religiösen Laiengemeinschaften in der Türkei, die sich auf die sufisch grundierten Lehren des Religionsgelehrten Süleyman Hilmi Tunahan (1888 – 1959) berufen. In der Türkei kamen sie während der Militärherrschaft nach dem Putsch von 1980 stark unter Druck. Viele Gemeindemitglieder des VIKZ waren schon vorher als Gastarbeiter:innen nach Deutschland gezogen und hatten hier Schulen und Moscheen auf einfachere Weise gründen können als im Herkunftsland Türkei, wo Moscheegründungen stärkerer staatlicher Kontrollen unterlagen. Über die Jahre wuchs der Verband, der

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sich in Deutschland durch Spenden von Gemeindemitgliedern finanziert und eigene Imame ausbildet, kontinuierlich an und betreut heute 300 Moscheegemeinden und religiöse Institutionen. Da sich die bisherigen zentralen Räumlichkeiten in Köln mittlerweile als zu klein erwiesen, kam es zur Ausschreibung eines Neubaus, die das Architekturbüro Gerkan, Marg und Partner gewann und die auf 16 000 Quadratmetern Verwaltungs- und Kulturzentrum, Lehranstalt und Moschee in einem ist. Die Moschee im Zentrum eines rechteckigen Bauensembles im Stil der Neuen Sachlichkeit bildet das Herz der Anlage. Die dabei aufgegriffene Form des oktogonalen Jerusalemer Felsendoms ist vor allem aus der Vogelperspektive gut ersichtlich und wird in beeindruckender Art und Weise in Beton gegossen werden. Dem Architektenbüro wird es um eine Symbiose orientalisch-islamischer Bauelemente mit der klaren Formensprache deutscher Funktionsbauten gegangen sein. Inwieweit die Architekten die spirituelle Symbolik des Felsendoms als Aufstiegsort des Propheten in den Himmel mitbedacht haben, kann nicht beantwortet werden, aber liegt nahe, wenn man sich den mystisch-spirituellen Hintergrund des VIKZ vergegenwärtigt. Auf jeden Fall ist es hier gelungen, den Felsendom zu modernisieren und auch ein Stück weit einzudeutschen. Im Bereich der Architektur zeigt sich so, dass es möglich ist, islamische Formensprache anzudeuten und dennoch eine ganz eigene moderne integrative europäische Interpretation zu schaffen.

Abb. 8: Entwurf des zentralen Baus der geplanten neuen Verbandszentrale des Verbandes der Islamischen Kulturzentren e. V., Entwurf: gmp | Visualisierung: rendertaxi, www.vikz-verbands zentrale.de (Abruf 26. 5. 2021).

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Abb. 9: Entwurf des zentralen Baus der geplanten neuen Verbandszentrale des Verbandes der Islamischen Kulturzentren e. V., Entwurf: gmp | Visualisierung: rendertaxi, www.vikz-verbands zentrale.de, (Abruf 26. 5. 2021).

8 Zusammenfassung Im Falle der hier angeführten Beispiele, aber auch weiterer Moscheen – zu nennen wäre hier beispielsweise noch die ‚gläserne Moschee‘ in Mannheim – hat sich (oder wird sich noch) die architektonische Umsetzung einer modernen Moschee für die islamischen Gemeinden auszahlen. Sie haben ihre Kontakte zur Stadt verbessert und Barrieren und Hemmnisse ausgebaut. Auch für Städte scheint es ein Gewinn zu sein. Die moderne Moschee wird auswärtigen Besucher:innen gern vorgeführt und es gibt nun Orte, wo man sich ebenbürtig begegnen kann. Durch diese Moscheebauten sind augenscheinlich integrative Prozesse angestoßen worden, die der Mehrheitsgesellschaft auf architektonische Weise die Begegnung mit bisher Fremden erleichtern wollen Die Zukunft des Moscheebaus in Deutschland wird durch die Ausbildung der Architekt:innen und Auflagen des Baurechts immer mehr in die Richtung der hier genannten Beispiele gehen. Insofern tragen die Moscheen über das Stadtbild zu integrativen Prozessen in der Gesellschaft bei, was die Sichtbarkeit von Muslim:innen betrifft. Unbeantwortet bleibt die Frage, ob der Islam durch die deutsche Architektur im Sinne einer calvinistischen Kontrollstruktur protestantisiert wird oder einfach architektonisch etwas ‚eingehegt‘. Es könnte ebenso einfach nur die Übernahme des

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architektonischen Zeitgeistes in Deutschland sein, dem die Einwanderer:innenNachkommen der dritten und vierten Generation seit ihrer Geburt in Deutschland ausgesetzt sind. Wenn man will, könnte man den ‚Kreis‘ der Moscheebauentwicklung wieder schließen: Mit den in Deutschland errichteten Glasbauten kommen die Moscheen eigentlich wieder zur Idee der offenen Moschee der islamischen Frühzeit zurück.

Abbildungen Abbildung 1: Zeichnung aus Korn, Lorenz: Die Moschee. Architektur und religiöses Leben, München: C. H. Beck 2012, 21. Abbildung 2: DITIB Zentralmoschee in Köln (Foto: Thomas Banneyer). Abbildung 3: Innenansicht der DITIB Zentralmoschee in Köln, Foto aus: Kölner Stadt Anzeiger. 9. 6. 2017. „Mit fünf Jahren Verspätung Erstes Freitagsgebet in Ehrenfelder Moschee“. www.ksta.de/koeln/ehrenfeld/mit-fuenf-jahren-verspaetung-erstes-freitagsgebet-in-ehren felder-moschee-27767734 (Abruf: 11. 4. 2021). Abbildung 4: Moschee in Penzberg von außen, Foto: Islamische Gemeinde Penzberg. Abbildung 5: Moschee in Penzberg von innen, Foto: Islamische Gemeinde Penzberg. Abbildung 6: Marburger Moschee, Foto: Albrecht Fuess. Abbildung 7: Lichtkunstwerk ‚5 Säulen‘ vor Marburger Moschee, Foto: www.psdm-gmbh.com/de/portfolio-items/5-saeulen-marburg (Abruf: 7. 5. 2021). Abbildung 8: Entwurf des zentralen Baus der geplanten neuen Verbandszentrale des Verbandes der Islamischen Kulturzentren e. V., Entwurf: gmp | Visualisierung: rendertaxi, www.vikz-verbandszentrale.de (Abruf 26. 5. 2021). Abbildung 9: Entwurf des zentralen Baus der geplanten neuen Verbandszentrale des Verbandes der Islamischen Kulturzentren e. V., Entwurf: gmp | Visualisierung: rendertaxi, www.vikz-verbandszentrale.de (Abruf 26. 5. 2021).

Quellen Beinhauer-Köhler, Bärbel und Claus Leggewie, Hgg. 2009. Moscheen in Deutschland. Religiöse Heimat und gesellschaftliche Herausforderung. München: C. H. Beck. Coordes, Gesa. 19. 7. 2013. „Islamische Gemeinde Marburg. Die deutsche Moschee“. Frankfurter Rundschau. www.fr.de/rhein-main/deutsche-moschee-11273108.html (Abruf: 11. 4. 2021). (Deutschlandfunk Kultur [o. A.]). 2. 12. 2019. „Bundespräsident lobt Islamisches Forum Penzberg“. Deutschlandfunk Kultur. www.deutschlandfunkkultur.de/bundespraesidentlobt-islamisches-forum-penzberg.265.de.html?drn:news_id=1076259 (Abruf: 10. 4. 2021). DITIB Presse. 10. 9. 2009. „Feierliche Grundsteinlegung für Kölner-Zentralmoschee“. DITIB. www.ditib.de/detail1.php?id=171&lang=de (Abruf: 24. 4. 2021).

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Fritz, Gabriele. 1. 10. 2018. „Die lange Geschichte der Kölner Ditib-Moschee“. Migazin. www.migazin.de/2018/10/01/kontroversen-die-geschichte-koelner-ditib (Abruf: 10. 4. 2021). Jasarevic, Alen. 2009. „Anders! Das islamische Forum in Penzberg. Meine Erfahrungen als Architekt einer Moschee“. In Moscheen in Deutschland. Religiöse Heimat und gesellschaftliche Herausforderung, hg. v. Bärbel Beinhauer-Köhler und Claus Leggewie, 99 – 112. München: C. H. Beck. Küpper, Moritz und Vivian Leue. 27. 9. 2019. „Im Streit eröffnet. Wie die Kölner mit der Zentralmoschee leben“. Deutschlandfunk Kultur. www.deutschlandfunkkultur.de/im-streiteroeffnet-wie-die-koelner-mit-der-zentralmoschee.1001.de.html?dram:article_id=459765 (Abruf: 10. 4. 2021). Ntemiris, Anna. 20. 8. 2009. „Moschee und islamisches Kulturhaus in Marburg geplant“. Oberhessische Presse. www.op-marburg.de/Marburg/Moschee-und-islamischesKulturhaus-in-Marburg-geplant (Abruf: 11. 4. 2021). Welzbacher, Christian. 2008. Euroislam-Architektur. Die neuen Moscheen des Abendlandes. Amsterdam: SUN Publishers. Winterhager, Uta. 2017. „Zentralmoschee in Köln“. Bauwelt. www.bauwelt.de/themen/bauten/ Zentralmoschee-Koeln-Paul-Boehm-3038452.html (Abruf: 10. 4. 2021).

Erol Yildiz

‚Hinterhofmoscheen‘ als Transtopien Abstract: In diesem Beitrag soll zunächst gezeigt werden, wie sich eine gewisse historische Kontinuität im Umgang mit Migration etabliert hat und wie bestimmte Geschichten und Wissensformen privilegiert werden, während andere als defizitär und desintegrativ abgewertet wurden. Aus historischer Perspektive wird anhand wissenschaftlicher Migrationsstudien das Konzept der Integration vorgestellt und so diskutiert, wie sich spezifische Bilder über Migration und Integration herausbilden konnten. Im Gegensatz zu diesem ‚Migrantismus‘, der Menschen nach ethnischer Herkunft sortiert, wird hier eine Position eingenommen, die den Fokus auf das Ausgelassene und Nichterzählte richtet. Es geht um ignorierte, marginalisierte und entwertete Migrationserfahrungen und -geschichten; um Gegenerzählungen zur diskurshegemonialen Geschichtsschreibung der Migration. Es geht um einen Bruch mit der hegemonialen Normalität, der uns erlaubt, anders über historische Entwicklungen zu denken und eine andere Genealogie der Gegenwart – und damit eine neue Kartographie des Unsichtbaren – zu zeichnen. Anhand von ‚Hinterhofmoscheen‘, die von Angehörigen der ersten Generation von Arbeitsmigrant:innen in den 1970er Jahren gegründet wurden, beschreiben wir, wie diese Orte aus hegemonialer Sicht immer noch als desintegrative Phänomene wahrgenommen werden, obwohl es sich um kreative und hochintegrative Leistungen der jeweiligen Gruppen handelt. ‚Hinterhofmoscheen‘ werden als Räume diskutiert, in denen Migrationserfahrungen umgeschrieben, neu artikuliert und repräsentiert werden.

1 Einleitung Eine duale Denkweise zwischen ‚Uns‘ und ‚den Anderen‘, ‚Einheimischen‘ und ‚Fremden‘ hat von Beginn an die Blickrichtung der Migrationsforschung im deutschsprachigen Raum bestimmt und eine Normalität erzeugt, die in vielen wissenschaftlichen Studien und öffentlichen Debatten bis heute nachwirkt. Das Paradebeispiel ist das Denken in ethnisierenden Kategorien, das im Laufe der Zeit zur Etablierung eines ‚Rezeptwissens‘¹ geführt hat. Diese Haltung kann man im wis-

 Es handelt sich dabei um einen gesellschaftlichen Wissensbestand, der ein Ergebnis der konventionellen Migrations- und Integrationsforschung darstellt, eine Art ‚Rezeptwissen‘, das in fast allen Bereichen der Gesellschaft als Wegweiser der Orientierung fungiert. https://doi.org/10.1515/9783110668919-005

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senschaftlichen Umgang mit der ersten Migrationsgeneration genau erkennen. Die etablierte Migrationsforschung war von Beginn an eine Fremdheits- und Integrationsforschung. Nicht Mobilität oder grenzüberschreitende transkulturelle Phänomene standen im Mittelpunkt, sondern Integrationsleistungen, die von Eingewanderten gefordert wurden, um sich in die hiesige Gesellschaft einzupassen. Obwohl die Angehörigen der ersten Generation eigentlich die Pionierarbeit geleistet und Transkulturalisierungsprozesse unter restriktiven Lebensbedingungen vorangetrieben haben, wurde die Migrationsgeschichte nicht auf diese Weise erzählt. Ihre Mobilitätserfahrungen und -geschichten wurden kaum zur Kenntnis genommen. So wurden sowohl die Bezüge, die die Menschen zu ihren Herkunftsorten hatten, als auch ihre Aktivitäten vor Ort wie im Falle von Selbstorganisationen oder den sogenannten ‚Hinterhofmoscheen‘ als defizitär und desintegrativ eingestuft und abgewertet. Gefordert wurde ein eindeutiges Bekenntnis zur ‚Mehrheitskultur‘. Integration bedeutete mit anderen Worten, sich von Herkunftskontexten völlig zu ‚befreien‘ und auf die ‚einheimischen‘ Gegebenheiten vor Ort zu beschränken. Die Trennung zwischen Herkunfts- und Ankunftsgesellschaften führte dazu, dass die mitgebrachten Erfahrungen von eingewanderten Menschen sowie deren Auseinandersetzung mit den Lebensbedingungen vor Ort und ihre eigensinnigen Verortungsprozesse fast gänzlich übersehen oder ausgeblendet wurden. In diesem Beitrag geht es zunächst darum, nachzuzeichnen, wie sich im Umgang mit Migration eine bestimmte historische Kontinuität formiert hat, wie bestimmte Geschichten und Wissensformen privilegiert, andere als defizitär und desintegrativ abgewertet wurden. Aus historischer Perspektive wird anhand wissenschaftlicher Studien über Migration das Konzept der Integration dargestellt und so erörtert, wie sich bestimmte Bilder und Deutungen über Migration und Integration etabliert haben. Mit anderen Worten geht es um die Rekonstruktion der Genealogie des Integrationsdispositivs. Im Gegensatz zu dieser kolonialen Haltung soll hier eine Blickverschiebung vorgenommen werden – eine Art „kontrapunktische Lesart“ (Said 1994, 66), aus der das Ausgelassene, das Unterdrückte und das Nichterzählte in den Blick genommen wird. Es geht um ignorierte, nichterzählte und marginalisierte Migrationserfahrungen und -geschichten, um Gegenerzählungen und Gegenbilder zur diskurshegemonialen Geschichtsschreibung der Migration. Es geht um einen Bruch mit der hegemonialen Normalität, der uns ermöglicht, historische Entwicklungen anders zu denken und eine andere Genealogie der Gegenwart und damit eine „neue Topographie des Möglichen“ (Rancière 2008, 61) zu entwerfen. Anhand von ‚Hinterhofmoscheen‘, die von den Angehörigen der ersten Generation der Arbeitsmigranten in den 1970er Jahren gegründet wurden, wird demonstriert, dass diese Orte aus der dominanten Perspektive bis heute als desintegrative, konfliktträchtige Orte sowie als Parallelgesellschaften wahrgenommen

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werden, obwohl es sich bei diesen religiösen, soziokulturellen Zentren um kreative und hochintegrative Leistungen der sogenannten Gastarbeiterfamilien handelt. Die eingewanderten Menschen versuchten unter schwierigen Lebensbedingungen, ihr Leben zu gestalten und ihre Orte und Nischen zu (er)finden, um sich angemessen zu positionieren: ‚Hinterhofmoscheen‘ als Räume, in denen Migrationserfahrungen neu geschrieben und repräsentiert werden. Diese hier praktizierte kontrapunktische Lesart verweist auf eine gegenhegemoniale Wissensproduktion und signalisiert eine erkenntnistheoretische Wende in der Betrachtung gesellschaftlicher Phänomene und Zusammenhänge, eine Art „epistemologischer Ungehorsam“ (Mignolo 2019).

2 Zur Entstehungsgeschichte des Integrationsdispositivs Seit Beginn der Gastarbeiter:inneneinwanderung bestimmt ein hitziger Herkunftsund Integrationsdiskurs den Umgang mit Migration. Im politischen, ökonomischen, wissenschaftlichen und pädagogischen Kontext folgt eine Debatte auf die andere. Am laufenden Band werden Maßnahmen, Fonds und Projektstellen eingerichtet, um eingewanderten Bevölkerungsgruppen zur Integration in die Gesellschaft zu verhelfen. Selbst der sogenannten zweiten und dritten Generation, also Nachkommen der Eingewanderten, die seit Generationen in Deutschland oder Österreich leben, werden noch Fremdheit, Integrationsdefizite oder Integrationsresistenz vorgeworfen. So hat die etablierte Migrationsforschung im deutschsprachigen Raum wesentlich zur Reproduktion dieses historisch formierten binären Denkkonzepts zwischen unintegrierter migrantischer Minderheit und hegemonialer Mehrheit beigetragen. Begriffe wie ‚Herkunft‘, ‚Ethnizität‘ oder ‚Integration‘ wurden zu zentralen Kategorien des Migrationsdiskurses, bestimmten seine inhaltliche Ausrichtung und verdichteten sich schließlich zu beharrlichen Alltagsmythen. Diese Geisteshaltung definierte die Koordinaten der gesellschaftlichen Wahrnehmung von Migration und hatte reale soziale Konsequenzen. Das folgende Zitat bringt die koloniale Haltung, die in dem Integrationsdiskurs mitschwingt, genau auf dem Punkt: „Integration funktioniert im öffentlichen Diskurs als eine Anrufung [Hervorhebung des Verfassers], durch die Migrantinnen und Migranten zu Untertanen-Subjekten werden, denen es an solcher Integration fehlt und die deshalb permanent besonderer Beobachtung unterliegen“ (Mezzadra 2009, 208). In dem folgenden Zitat aus einer Studie über das „Leben der Kölner Gastarbeiter“ Ende der 1960er Jahre wird diese koloniale Haltung besonders anschaulich:

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Ein großer Teil der türkischen Gastarbeiter kommt aus Anatolien, also aus zivilisatorisch primitiven Verhältnissen, in denen unsere Gebräuche etwa hygienischer Art unbekannt sind. Sie bringen ein ausgeprägtes und differenziertes Ehrgefühl mit und haben strenge moralische Vorschriften, nicht nur über den Umgang mit Frauen. […]. Die Türken sollten fernbleiben von jenen Berufen, in denen unverbindliche Höflichkeiten gefordert werden. (Bingemer et al. 1969, 17)

Diese völkerkundlichen Befunde aus einer der ersten Studien über die Situation von Gastarbeiter:innen in Köln sind nur ein Beleg dafür, dass die sogenannte ‚Ausländerforschung‘ und die darauf basierende ‚Ausländerpädagogik‘ in der Bundesrepublik Deutschland keine ad-hoc-Reaktion auf die Einwanderungssituation nach dem Zweiten Weltkrieg war und auch nicht auf eine Überforderung der Gesellschaft zurückzuführen ist, wie oft behauptet wird, sondern in der historischen Kontinuität eines restriktiven Umgangs mit Migration steht. Die weitverbreitete Rede von einer kulturellen Zerrissenheit nach dem Muster ‚morgens in Deutschland – abends in der Türkei‘ bringt diese öffentliche Dramatisierung zum Ausdruck. Gefordert wurde ein eindeutiges Bekenntnis zur nationalen ‚Mehrheitskultur‘. Integration bedeutete mit anderen Worten, sich von Migrations- und Herkunftskontexten völlig zu ‚befreien‘ und auf die gesellschaftlichen Gegebenheiten vor Ort zu beschränken, also „Voll-Deutsche“ zu werden, wie das folgende Zitat aus einer Studie über die Situation der Zweiten Generation in Deutschland im Jahr 1979 überdeutlich zum Ausdruck bringt: Diese hier mischkulturell enkulturierten und sich danach assimilierenden Kinder werden sich größtenteils mit der Fremdkultur (oder nun eben ihrer Heimatkultur) identifizieren, sie sind quasi ‚Neue Deutsche‘ und im soziologischen Sinne Voll-Deutsche! (Schrader et al. 1979, 71)

Ein anderes Beispiel ist der von Friedrich Heckmann geprägte Begriff der „ethnischen Kolonie“ (1981), den er dem Assimilationsdiskurs der 1980er Jahre (vgl. Esser 1980) entlehnt. Er dient als Erklärungsansatz für eine gescheiterte Integration von Migrant:innen und ist ein Begriff, der bis heute in den öffentlichen Debatten über Migration und Integration herumgeistert. Je nach Perspektive wird die „ethnische Kolonie“ positiv oder negativ betrachtet. In einem Interview verweist er darauf, dass das Leben in diesem Raum den Prozess der „Erstintegration“ erleichtern würde, wenn er nicht „zum ausschließlichen Verkehrskreis der Einwanderer wird und dies auch bleibt“ (Heckmann 2016, 63). Ähnliche Argumente finden wir in der Studie von Rauf Ceylan mit dem Titel Ethnische Kolonie, in der er darauf verweist, dass die Integration von der ‚ethnischen Kolonie‘ in die Mehrheitsgesellschaft schrittweise erfolgen könne (vgl. 2006, 145).

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Auch der renommierte Stadtsoziologe Hartmut Häußermann verwendet zur Beschreibung der Lebenssituation von Migrationsfamilien und deren Nachkommen in marginalisierten Stadtteilen den Koloniebegriff und spricht von „Übergangsorten“, wie das folgende Zitat auf prägnante Weise demonstriert: Die ethnischen Kolonien, die es in jeder Stadt gibt, können für die Zuwanderer einen Schutzraum darstellen, in dem sie sich auf Grundlage der Anerkennung ihrer mitgebrachten Identität, eingebettet in dichte soziale Netzwerke, mit der neuen Heimat auseinander setzen können […]. Sie ermöglichen sozusagen eine behütete Erfahrung mit Rückzugsgarantie. (Häußermann 2006, 303 – 304)

Eine weitere Studie, deren Befunde bis heute rezipiert werden, ist die Untersuchung von Wilhelm Heitmeyer, Helmut Schröder und Joachim Müller (1997) über die Gewaltbereitschaft türkischer Schüler in NRW mit dem reißerischen Titel Verlockender Fundamentalismus. Diese Studie ist ein Paradebespiel dafür, wie othering-Prozesse sowohl durch das theoretische Profil der Studie als auch durch die methodische Herangehensweise vorangetrieben werden, eine Art sich selbst erfüllende Prophezeiung. Der Begriff der ‚Parallelgesellschaft‘ wurde zum ersten Mal in dieser Gewaltstudie verwendet. Seitdem führt er ein Eigenleben. Das Fazit der Studie bringt diese Denkweise deutlich zum Ausdruck: Insgesamt wäre es eine gefährliche Entwicklung für die Integration der Gesamtgesellschaft, wenn eine weitgehend enttraditionalisierte, säkularisierte und funktional differenzierte Mehrheitsgesellschaft in Konfrontation mit retraditionalisierten, religiös-politisch ausgerichteten Teilgruppen einer sich entwickelnden ‚Parallelgesellschaft‘ von Minderheiten geriete. (Heitmeyer, Schröder und Müller 1997, 192)

In einer vom Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung durchgeführten Studie mit dem Titel Ungenutzte Potentiale. Zur Lage der Integration in Deutschland (2009) stehen erneut die vermeintlich integrationsresistenten Migrant:innen im Mittelpunkt. Obwohl der Titel „Ungenutzte Potentiale“ zunächst positive Assoziationen weckt, sieht man sich bei einer genaueren Lektüre mit den allzu bekannten Klischees über Migrant:innen und deren Herkunft konfrontiert, wie folgende Passage demonstriert: Zwar sind die meisten schon lange im Land, aber ihre Herkunft, oft aus wenig entwickelten Gebieten im Osten der Türkei, wirkt sich bis heute aus: Als einstige Gastarbeiter kamen sie häufig ohne Schul- und Berufsabschluss, und auch die jüngere Generation lässt wenig Bildungsmotivation erkennen […]. (S. 7)

Wie üblich ließen mediale Reaktionen, die die Ergebnisse der Studie auf ihre Weise interpretierten und inszenierten, nicht auf sich warten. „Für immer fremd“,

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wurde beispielsweise eine Rezension im Spiegel überschrieben (Elger, Kneip und Theile 2009, 32). Die Erklärungsversuche, die der Historiker Philipp Ther in seiner Studie im Jahr 2018 im Blick auf die Frage bietet, warum die sogenannten Gastarbeiterinnen und Gastarbeiter sich nicht in die deutsche oder österreichische Gesellschaft hätten einfügen können bzw. warum gesellschaftliche Integrationsbemühungen gescheitert seien, sind ein Hinweis auf die Langlebigkeit solcher Alltagsmythen: Das hing mit dem hohen Männerüberschuss unter den angeworbenen Gastarbeitern zusammen; wenn diese nicht alleine bleiben wollten, blieb ihnen so gut wie keine andere Wahl, als Frauen aus der Türkei nachzuholen. Durch den Familiennachzug begann die ohnehin kaum vorangeschrittene Integration in mancher Hinsicht von vorn. Die nachziehenden Partner sprachen wenig oder kein Deutsch und waren mit der deutschen Gesellschaft nicht vertraut. (Ther 2018, 322)

In den wissenschaftlichen und politischen Debatten spielten und spielen immer noch – explizit oder implizit – die in der Öffentlichkeit negativ wahrgenommenen ‚Hinterhofmoscheen‘, die von den Angehörigen der ersten Generation gegründet wurden, eine wichtige Rolle. Sie haben bis heute einen negativen Ruf und werden immer noch als desintegrative Orte betrachtet, an denen die sogenannten Herkunftstraditionen reproduziert und weitertradiert werden, als Orte des Fundamentalismus, muslimischer Parallelgesellschaft, als Räume der Abweichung oder als demokratiefreie Zonen. Diese kategorialen Klassifikationen hatten ganz reale Folgen für die Verortung der betreffenden Menschen als Objekte von Untersuchungen, Analysen und wissenschaftlichen Unternehmungen. Sie konstruierten ihre Identität, schrieben ihnen soziale Rollen zu und operierten dabei als normative und nicht bloß als deskriptive Kategorien. Diese wurden zunehmend übertragen auf institutionelle Definitionen des „Normalen“ bzw. des „Pathologischen“ und hatten damit einen nicht unerheblichen Einfluss auf das Gesellschaftsverständnis: Repräsentation wurde zur sozialen Wirklichkeit. Auch heute noch hinterlassen öffentlich geführte Debatten, wissenschaftliche Untersuchungen und die meisten pädagogischen Maßnahmen im Migrationskontext, wie wohlwollend sie auch sind, den Eindruck eines Defizits, einer Diskrepanz zwischen Migrant:innen und „Normalbürgern“, eine Art „kulturalistisch verbrämte[n] Rassismus“, so Micha Brumlik (2008, 35). Es bleibt schließlich nicht aus, dass diese ethnische Reduktion der Gesellschaft und die regelrecht anfallsartigen Integrationsdebatten, mit denen wir es kontinuierlich zu tun haben, wesentlich mehr dazu beitragen, Realitäten zu schaffen als sie tatsächlich zu beschreiben. Die Macht der überethnisierten Sicht und deren gesellschaftliche Folgen scheinen unausweichlich:

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Ethnische Kategorien prägen das institutionelle, aber auch das informelle Erkennen und Wiedererkennen. Sie strukturieren nicht nur Wahrnehmung und Interpretation im Auf und Ab der alltäglichen Interaktion, sondern kanalisieren das Verhalten durch offizielle Klassifikationen und organisatorische Routinen. So können ethnische (und andere) Kategorien benutzt werden, um Rechte zuzuweisen, das Handeln zu regulieren, Nutzen und Lasten zu verteilen, kategorienspezifische Institutionen zu schaffen, bestimmte Personen als Träger kategorialer Eigenschaften zu identifizieren. (Brubaker 2007, 43)

In dieser entsubjektivierenden Wahrnehmung erhalten Menschen einen ontologischen Status. Der Diskurs um die sogenannte ‚ethnische Kolonie‘ oder ‚Parallelgesellschaft‘ bedient beispielsweise eine Kollektivsymbolik und konstruiert schließlich seine eigene Wirklichkeit. Er spiegelt die tiefe Besorgnis über das Anderssein wider, das Migrant:innen, insbesondere aus dem „orientalischen Raum“, nach Europa bringen würden (vgl. Said 1981). Durch diese ethnische Fokussierung geraten andere Differenzierungen weitgehend aus dem Blickfeld. Die Gesellschaft in ethnischen Kategorien zu denken und kategoriale Klassifikationen dieser Art sind nicht neutral, sondern übertragen gewisse Bedeutungen, prägen gesellschaftliche Diskurse, erzeugen Normalitäten und fungieren als „wirkmächtige Erkenntnisinstrumente“ (Bettini 2018, 25) und prägen die institutionelle und öffentliche Wahrnehmung sowie das gesellschaftliche Bewusstsein: „Unterschiedliche Perspektiven sind nicht nur eine Frage des Blicks, sondern auch des Bewusstseins, der physischen Verortung sowie Machtdifferenz“, so die prägnante Formulierung von Walter D. Mignolo (2019, 104). Darüber hinaus stehen Begriffe immer im Zusammenhang mit bestimmten Denktraditionen, die auch bestimmte Handlungstraditionen implizieren und eine enorme symbolische Kraft aufweisen. In seinem Buch Was heißt sprechen? hat Pierre Bourdieu (1990, 71) auf die kontrollierende, selektierende, organisierende und kanalisierende Macht des Diskurses und der Begriffe hingewiesen. Sind solche ethnisch-nationalen Denkmuster erst etabliert, entfaltet dieses gesellschaftliche Wissen sein Eigenleben, wird ständig reproduziert und avanciert schließlich zum ‚ethnischen Herkunftswissen‘, zu einem Fundus scheinbar unumstößlicher Wahrheiten und Handlungsanweisungen. Diesen Macht-/WissenKomplex kann man in Anlehnung an Michel Foucaults wirkmächtiges Konzept (1978) auch als Integrationsdispositiv bezeichnen, das als ein solches Rezeptwissen in unterschiedlichen Bereichen der Gesellschaft fungiert. „Diejenigen, die den Diskurs produzieren, haben also die Macht, ihn wahr zu machen – z. B. seine Geltung, seinen wissenschaftlichen Status durchzusetzen“, so Stuart Hall (1994, 154). Dabei geht es nicht einfach um individuelle Vorurteile, sondern um einen gesellschaftlichen Wissensbestand, der eine bestimmte Gruppe überhaupt erst sichtbar macht, die dann in der Forschungspraxis als Problem identifiziert wird (vgl. Terkessidis 2004, 108).

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Die binäre Konstruktion ‚Inländer:in/Ausländer:in‘ erscheint gerade deshalb als eine stabile Klassifikationsstrategie, weil Vorstellungen ethnisch-kultureller Differenzen vielfältig in die wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Strukturen und in die institutionellen Praktiken eingebettet sind. Stuart Hall spricht in diesem Zusammenhang von einem „impliziten Rassismus“ und meint damit „jene scheinbar naturalisierte Repräsentation von Ereignissen im Zusammenhang mit ‚Rasse‘ […], in die rassistische Prämissen und Behauptungen als ein Satz unhinterfragter Vorannahmen eingehen“ (1989, 156).

3 ‚Hinterhofmoscheen‘ als Transtopie: Eine andere Genealogie der Gegenwart Historische Studien belegen, dass Migrant:innen unter restriktiven gesellschaftlichen Bedingungen zunächst erhebliche Barrieren überwinden und neue Wege finden mussten, um ihr Leben zu gestalten. Daher ist es an der Zeit, Gesellschaftsgeschichten aus der Sicht der Migration neu zu denken und dabei ihre gesellschaftsbewegende Kraft und Dynamik in den Blick zu rücken. Menschen, die als Gastarbeiter:innen Anfang der 1960er Jahre nach Deutschland, Österreich oder in die Schweiz kamen, haben – wie aus alten Dokumentationen unschwer geschlussfolgert werden kann – einen wesentlichen Beitrag zur Transnationalisierung und Transkulturalisierung geleistet. Im Laufe der Zeit entwickelten sie weitere grenzüberschreitende Verbindungen sowie Strategien und aktivierten ein Mobilitätswissen, das situativ für ihre gesellschaftliche Verortung genutzt werden konnte. Dennoch wurden ihre Aktivitäten und tagtäglichen Anpassungsleistungen regelrecht ignoriert oder – wenn überhaupt – als desintegrativ abgewertet. Ein Produkt ihrer Eigenleistungen war die Gründung von ‚Hinterhofmoscheen‘ gewesen, die bis heute – ähnlich wie migrationsgeprägte Stadtteile – zum Symbol einer ‚Parallelgesellschaft‘ oder ‚ethnischer Kolonie‘ wurden. In diesem Kontext ist immer wieder von der ‚ethnischen Segregation‘ die Rede. Wie Wolf-Dietrich Bukow passend angemerkt hat, handelt es sich bei der Thematik um eine Diskussion, die von einem methodologischen Nationalismus wesentlich geprägt ist: Es geht dabei nicht darum, dass ein Begriff aus einer nationalstaatlichen Perspektive konstruiert wird, sondern auch darum, dass aus einem solchen Begriff eine kognitive Strategie wird, die gesellschaftliche Wirklichkeit neu konzeptualisiert und je nach der Deutungsmacht auch verändert und ggf. etwas herstellt, was dann einer fiktiven Ethnizität zugeschrieben wird. (Bukow 2015, 266)

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Wie Klaus Ronneberger und Vassilis Tsianos thematisiert haben, handelt es sich bei diesem ewigen Segregationsdiskurs um eine „Raumideologie“ (2009, 137– 139), um eine Hegemonie also, die andere Sichtweisen nicht zulässt und eine Differenz zwischen „Normalen“ und „Nichtnormalen“ erzeugt, die wiederum als Wegweiser der Wahrnehmung in Stadtentwicklungskonzepten und Integrationsmaßnahmen fungiert (vgl. Bukow 2015, 269). Diese hegemoniale Haltung versperrt den Blick für eine realistischere Einschätzung der Zuwanderung und ihrer Potentiale. Angesichts der öffentlichen Abwertung ihrer Lebensumstände blieb vielen Zugewanderten auch nichts anderes übrig, als sich über lokale Beschränkungen hinaus zu orientieren. Obwohl politisch nicht vorgesehen, ließen sich viele Zugewanderte nach und nach nieder und versuchten unter rechtlich erschwerten Bedingungen, sich städtische Orte anzueignen, neue Räume zu schaffen und zu gestalten. In den 1970er Jahren bezogen immer mehr Migranten mit ihren Geschäften ehemalige Ladenzeilen in Stadtvierteln, die im Zuge weltweiter ökonomischer Umstrukturierung von einheimischen Gewerbetreibenden verlassen wurden, brachten damit wieder Leben in die Straßen und auf die Bürgersteige und trugen entscheidend zur Sanierung und Wiederbelegung heruntergekommener urbaner Räume bei (vgl. Yildiz 2009). Dazu gehörte auch die Gründung von sogenannten ‚Hinterhofmoscheen‘, also Moscheen in umgenutzten Räumen, die im Laufe der Zeit für die zugewanderten Menschen neben ihrer ursprünglichen Funktion als Gebetsräume vor allem zu Erfahrungs-, Begegnungs- und Kommunikationsräumen wurden. Neben den Bahnhöfen waren diese Moscheen die Orte gewesen, an denen sich die Eingewanderten trafen, um eventuell Bekannte aus ihren Herkunftsorten zu sehen sowie Neuigkeiten auszutauschen. Sie wandelten sich zu Schnittpunkten transnationaler Bezüge. Dort fanden Begegnungen statt, entstanden neue Verbindungen, Erfahrungs- und Kommunikationsräume. Es entwickelten sich Infrastrukturen, Formen der Mobilität und informelle Netzwerke, die für die Lebensentwürfe der betreffenden Menschen und Familien relevant waren. Das Zusammenspiel von Raum und Menschen wurde zu einer Art transkultureller Praxis. Die ‚Hinterhofmoscheen‘ waren und sind Räume, die sich dem starren Raster ethnisch-nationaler Ordnungen entziehen, reale wie imaginäre Räume, die sich aus Herkunfts- und Ankunftsräumen bilden und in denen sich unterschiedlichste lokale, regionale und transnationale Elemente auf spezifische Art miteinander verknüpfen und zu lokalen Strukturen und Praxisformen verdichten. Ähnlich wie der Begriff des „Dritte[n] Raum[s]“ bei Homi Bhabha (1997, 124) sind die ‚Hinterhofmoscheen‘ als reale oder imaginäre Orte zu verstehen, an denen Geschichten und gesellschaftliche Entwicklungen neu geschrieben und auf unterschiedliche Art und Weise miteinander kombiniert werden. Sie verweisen auf das positive

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Potential realisierbarer Utopien in einer durch Mobilität und Vielheit geprägten globalisierten Welt. Die Gründung von ‚Hinterhofmoscheen‘ ist als eine Art ‚Ankommen auf eigene Rechnung‘“, als kreative Selbstverortung zu betrachten, die – wie historische Beispiele zeigen – unter schwierigen gesellschaftlichen Bedingungen realisiert werden musste und somit als eine Art Überlebensstrategie anzusehen ist. Die folgende Passage aus einem Interview mit einem jungen Vorstandsmitglied aus einer Moscheegemeinde bringt die kreative Leistung und den Erfindungsreichtum der ersten Migrationsgeneration deutlich zum Ausdruck: Zum Beispiel habe ich letztens ein Video gesehen. Die erste Generation hatte keine Räume gefunden, die haben- so einen alten Waggon. Haben sie in die Moschee umgebaut. Da haben sie gebetet, in so einem alten Waggon. […] Das hat mich auch richtig mitgenommen. Was die Leute schon damals versucht haben, für so einen Gebetsraum. (vgl. Perels 2019, 75)

Nicht der Begriff ‚Integration‘, sondern eigensinnige Verortung erscheint uns geeignet, diesen offenen und vielschichtigen Prozess zu charakterisieren, während der viel beschworene Integrationsbegriff von einer Homogenität gesellschaftlicher Verhältnisse ausgeht und vor allem von zugewanderten Menschen eine bedingungslose Anpassung an eine nicht weiter definierte hiesige ‚Normalität‘ verlangt. Durch die Bezeichnung von Moscheen als ‚ethnische Kolonie‘ oder ‚Parallelgesellschaft mit eigenen Regeln‘ wird übersehen, welche Funktionen diese Orte für die betreffenden Menschen erfüllen. Wenn auch nicht intendiert, haben die ‚Hinterhofmoscheen‘ mit ihrer vielfältigen Infrastruktur einen wesentlichen Beitrag zur Wiederbelebung von Stadtteilen oder Straßen geleistet, die von Stadtplanern und Architekten schon längst aufgegeben worden waren. Nachweislich haben Migrant:innen und ihre Nachkommen durch ihre Präsenz das Gesicht und die Atmosphäre vieler Städte wie Berlin, München, Köln oder Wien geprägt, ihnen neue Impulse und Stadtvierteln eine gewisse Stabilität verliehen. Die biographischen Interviews, die Rauf Ceylan (2006) in seiner Studie mit Menschen in türkischen Moscheen und Cafés geführt hat, belegen überdeutlich, welche unterschiedlichen Funktionen solche Orte für die betreffenden Menschen hatten und immer noch haben. Auch die Erkenntnisse der aktuellen Untersuchung über Gemeindezentren türkischer Muslime (Vgl. Herz. Munsch und Perels 2019) zeigen, dass es sich bei Moscheen eigentlich um hochintegrative, vielheitliche und multifunktionale Räume handelt, wie das folgende Zitat aus dem Vorwort demonstriert:

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Es liegt eher daran, dass sie hybride Orte sind, ihre äußere Gestalt und innere Nutzung sind vielfältig. Dadurch entziehen sie sich unseren Sehgewohnheiten, die von wiederkehrenden Mustern beeinflusst werden. Auch nach vielen Jahren haben Moscheen oft noch den Charakter von flexiblen teils provisorischen Orten; sie wirken auf uns dadurch unscheinbar. Nehmen wir sie wahr, so sind sie sehr praktische Zeugnisse für das Ankommen und Leben in Deutschland sowie für eine vielfältige Migrationsgesellschaft mit unterschiedlichen religiösen Gemeinschaften. (Krämer und Munsch 2019, 5)

Wie aus den Beobachtungen von Kathrin Herz und Chantal Munsch hervorgeht, können die ‚Hinterhofmoscheen‘ auch als synchrone und relationale Räume bezeichnet werden: Je nachdem, mit welchem Fokus wir die Räume der Gemeindezentren betrachten, sehen wir ganz Verschiedenes. Fokussieren wir uns auf die Materialität, erkennen wir etwa Gebetsräume. Fokussieren wir auf die sozialen Praktiken in diesen Räumen, so sehen wir insbesondere zu den Gebetszeiten Betende, gelegentlich tobende Kinder, zu den anderen Zeiten manchmal dösende, Lesende, Lernende und häufig sich angeregt Unterhaltende. Fragen wir nach den Bedeutungen, wird deutlich, dass derselbe Gebetsraum (oder dasselbe Gemeindezentrum) für Einzelne ganz Unterschiedliches sein kann. (Herz und Munsch 2019, 81)

Je nach Perspektive, könnte man sie als Gebetsräume, Begegnungsräume, Kommunikationsräume, Erfahrungsräume, Bildungsräume, Zukunftsräume, hochintegrative Räume, Übersetzungsräume, transkulturelle Räume oder kosmopolitisierte Handlungsräume bezeichnen. Die biographischen Erzählungen machen deutlich, wie unterschiedliche Orte, Menschen, Erfahrungen und Ereignisse miteinander verbunden und diverse globale und lokale Elemente vor Ort miteinander kombiniert werden. Aus diesen Elementen gehen spezifische Praxen hervor und es wird deutlich, welche Relevanz diese Praxen für Orientierungen und die Entwicklung spezifischer Lebensentwürfe haben. Man könnte hier bei den Moscheen von Transtopien sprechen (vgl. Yildiz 2018, 57): Räume, in denen unterschiedlichste lokale und grenzüberschreitende Elemente auf spezifische Art miteinander verknüpft werden und sich zu lokalen Praxisformen verdichten. Die Hinterhofmoscheen lassen sich als eine Art soziale oder kulturelle Übersetzung verstehen, in der Menschen ihr soziales und kulturelles Kapital, akkumulierte biographische Ressourcen sowie ihr Mobilitätswissen miteinander kombinieren und in ihren Alltag übersetzen. „Dass Moscheen oftmals erst mit langwierigen, schwierigen Gemeindefinanzierungen möglich werden, die von Einkommensschwachen der Gesellschaft getragen werden, macht es umso dringender notwendig, sensibel darüber nachzudenken“, so Mehmet Bayrak und Ömer Alkin über die gesellschaftliche und wissenschaftliche Verantwortung gegenüber diesen komplexen Transtopien (2018, 18).

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Die ‚Hinterhofmoscheen‘ stellen keine desintegrativen ‚Parallelgesellschaften‘ oder ‚ethnische Kolonien‘ dar, sondern sind ein integraler Bestandteil der deutschen Migrationsgeschichte.Wie oben beschrieben haben die Zugewanderten auf diese Weise aus der Not eine Tugend gemacht und wesentlich zur Wiederbelebung von Stadtteilen oder Straßen beigetragen, die von den Architekten und Stadtplanern schon längst aufgegeben worden waren. Sie waren somit nicht nur die Pioniere der Transnationalisierung, sondern sie sind auch Pioniere der Stadtentwicklung (siehe den Beitrag von Bayrak hier im Band).

4 ‚Entlernen‘ eigener Wissensbestände Wir brauchen Perspektiven, die sich kritisch mit etablierten Wissensordnungen zu Migration, Integration und Moscheen (großen Neubaumoscheen genauso wie Moscheen in umgenutzten Räumen) auseinandersetzen und die Lebenswirklichkeiten der Menschen zum Ausgangspunkt des Denkens machen. Wie am Beispiel des etablierten Diskurses über Moscheen gezeigt wurde, erfordert dies eine „kontrapunktische Lektüre“ (Said 1994). Diese Denkhaltung dekonstruiert nicht nur die dominanten Vorstellungen, sondern eröffnet neue Perspektiven auf marginalisierte, unerzählte Geschichten und alltägliche Erfahrungen. Wir brauchen eine Revision der etablierten Migrations- und Integrationsforschung und ihrer Subjektkategorien, eine selbstkritische Forschung, die Abschied nimmt von sich selbstreproduzierenden Analysen über Migrant:innen, Islam und Muslim:innen und von Studien, die wesentlich zur Verfestigung und Normalisierung von Differenzdenken und ‚Rezeptwissen‘ beigetragen haben. Die kontrapunktische Intervention in die etablierten Diskurse über Migration bricht mit den eingeübten Evidenzen und lenkt die Aufmerksamkeit auf die Art und Weise, wie Orte oder Räume durch die aufeinanderfolgenden Begegnungen der Menschen, die Zeugnisse ihrer kulturellen Orientierungen sowie die Verflechtungen ihrer früheren Geschichten und zukünftigen Erwartungen geformt werden. Sie impliziert auch, außerhalb oder jenseits dessen zu denken und zu handeln, was bekannt, verstanden und zum Teil sanktioniert ist, eine Art negative Hermeneutik: Dort, wo das Verstehen des Anderen nicht mehr weiterführt, könnte vielleicht so etwas wie eine negative Hermeneutik ein Ausweg sein. Nicht mehr das vermeintlich Verstandene, sondern das, was nicht verstanden wird, sollte in den Blick gerückt werden. (Senocak 2001, 103)

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Zum Schluss bleibt zu sagen: Moscheen im Migrationskontext sind innovative, kreative, synchrone und kosmopolitisierte Handlungsräume, in denen unterschiedliche kulturelle Orientierungen, Repräsentationen und Imaginationen zusammenkommen und neue transkulturelle Praktiken entstehen. Es sind Räume, die ein Produkt transversaler Denk- und Handlungsweisen sind und gleichzeitig neue Ideen, Erfahrungen, Denkhaltungen und Imaginationen ermöglichen. Mit den Worten Robert Musils gesprochen: Es liegt in jedem Entweder-Oder eine gewisse Naivität, wie sie wohl dem wertenden Menschen ansteht, aber nicht dem denkenden, dem sich die Gegensätze in Reihen von Übergängen auflösen. (Musil 1978, 1088)

Quellen Bayrak, Mehmet und Ömer Alkin. 2018. „Kritik von Fortschrittsnarrativen im deutschtürkischen Migrationskontext. Migrationskino und Diasporamoscheen im Integrationsdispositiv“. Global Media Journal 8: 1 – 21. DOI: 10.22032/dbt.34999 (Abruf: 28. 8. 2021). Berlin Institut für Bevölkerung und Entwicklung, Hg. 2009. Ungenutzte Potentiale. Zur Lage der Integration in Deutschland. Berlin: Institut für Bevölkerung und Entwicklung. Bettini, Maurizio. 2018. Wurzeln. Die trügerischen Mythen der Identität. München: Kunstmann. Bhabha, Homi K. 2000. Die Verortung der Kultur. Tübingen: Stauffenburg. Bingemer, Karl, Edeltrud Meistermann-Seeger und Edgar Neubert. 1969. Leben als Gastarbeiter. Opladen: Westdeutscher Verlag. Bourdieu, Pierre. 1990. Was heißt sprechen? Die Ökonomie des sprachlichen Tausches. Wien: Wilhelm Braumüller. Brubaker, Roger. 2007. Ethnizität ohne Gruppen. Hamburg: Hamburger Edition. Brumlik, Micha. 10. 1. 2008. „Angst vor der Jugend. Der populistische Ruf nach ‚Erziehungscamps‘ offenbart die autoritären Sehnsüchte einer verunsicherten Gesellschaft“. Die Zeit 3: 10. Bukow, Wolf-Dietrich. 2015. „Ethnische Segregation“. In Auf die Adresse kommt es an … Segregierte Stadtteile als Problem- und Möglichkeitsräume begreifen, hg. v. Aladin El-Mafaalani, Sebastian Kurtenbach und Klaus Peter Strohmeier, 266 – 293. Weinheim/Basel: Juventa. Ceylan, Rauf. 2006. Ethnische Kolonien. Entstehung, Funktion und Wandel am Beispiel türkischer Moscheen und Cafés. Wiesbaden: Springer VS. Elger, Katrin, Ansbert Kneip und Merlin Theile. 2009. „Einwanderung – Für immer fremd“. Der Spiegel 5/2009: 32 – 36. Esser, Hartmut. 1980. Aspekte der Wanderungssoziologie: Assimilation und Integration von Wanderern, ethnischen Gruppen und Minderheiten – eine handlungstheoretische Analyse. Neuwied: Luchterhand. Foucault, Michel. 1973. Wahnsinn und Gesellschaft. Geschichte des Wahnsinns im Zeitalter der Vernunft. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

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‚Hinterhofmoscheen‘ als Transtopien

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Heike Delitz

Imaginationen kollektiver Identität Das Theologisch-Politische und die Bedeutung von Moscheebauten Abstract: Im Blick auf die Bedeutung der in ‚Bewegung‘ befindlichen Architekturen (als die in diesem Band kleinere Moscheen in den westeuropäischen Gesellschaften bezeichnet werden) geht es dem Beitrag zunächst um einen grundlegenden Blick, um eine gesellschaftstheoretische Klärung in der Frage, was eigentlich ‚religiöse Gemeinschaften‘ sind. Welche Form der Institution von Kollektiven und kollektiven Identitäten liegt hier vor, und was ‚sind‘ Kollektive ganz generell? Die kollektive Funktion religiöser Bedeutungen wird als Modus der „imaginären Institution von Gesellschaft“ (Castoriadis) denkbar – als jener Modus der Behauptung einer kollektiven Einheit und Identität, der sich auf ein ‚fundierendes Außen‘ stützt. Von hier aus wird erst die Bedeutung von Architekturen erkennbar: Ist jede kollektive Einheit und Identität eine imaginäre Institution, so beruht das kollektive Leben immer auf Bedeutungssystemen: auf Diskursen, Praktiken, Artefakten. Architektur ist daher als ein Modus (und nicht Ausdruck) kollektiver Existenz aufzufassen. Dabei unterscheiden sich die architektonischen Kulturen erheblich – nicht zuletzt in der Einteilung von Territorien, der Verortung von Körpern, der Sichtbarkeit des Kollektivs gegenüber anderen, in der Einteilung von Geschlechtern oder der Trennung von Natur und Kultur. Dem Beitrag geht es hier darum, die Differenz zwischen ‚bewegten‘ (nomadischen) und ‚fixen‘ Architekturen anzudeuten – die Moscheebauten im aktuellen Europa werden so einerseits als solche sichtbar, die Ankerpunkte muslimischer Kollektive in hegemonial nicht muslimisch instituierten Kollektiven bilden; und zugleich werden sie als solche sichtbar, die einer prinzipiell fixierten, infrastrukturierten Institution kollektiven Lebens angehören.

1 Einleitung: Die imaginäre Institution der Kollektive und deren architektonische Modi Was ist der Beitrag von Architekturen zum kollektiven Leben, zur Subjektformierung, zu den täglichen Praktiken im Allgemeinen? Was ist der Beitrag religiöser Architekturen zu religiösen Praktiken, Vorstellungen, Narrativen im Besonderen? In welchem Verhältnis stehen dabei die differenten Kollektive und https://doi.org/10.1515/9783110668919-006

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Religionsgemeinschaften, die differenten Architekturen in den zeitgenössischen westeuropäischen Gesellschaften? Auf diese Fragen kann der folgende Beitrag nur selektiv und zudem auch eher global oder abstrakt antworten, indem er eine distanzierte Perspektive bietet. Ziel ist, ganz generell die konstitutive Bedeutung von Architekturen für das kollektive Leben deutlich zu machen: Weit davon entfernt, dass Gebäude, Bautypen, deren Stile und Materialien das ‚eigentliche‘ Soziale lediglich ‚ausdrücken‘ (etwa soziale Ungleichheiten, Trennungen der Geschlechter oder auch differente religiöse Praktiken und Kollektive). Architekturen sind vielmehr aktiv beteiligt an der Konstitution der Kollektive und Subjekte, zusammen mit allen weiteren Bedeutungssystemen einschließlich der Sprache: Architektonische Artefakte strukturieren und regulieren Tagesabläufe, Blicke, Bewegungen, Affekte; sie teilen Individuen, trennen Geschlechter und differenzieren Gruppen; erzählen eine Geschichte (vgl. Delitz 2010). Dies alles gilt nicht zuletzt auch für religiöse Architekturen – und für religiöse Kollektive, für religiöse Interaktionen und religiöse Subjekte. Ausgangspunkt einer solchen Perspektive ist eine Kulturtheorie von Gesellschaft, der zufolge jede Gesellschaft oder jedes Kollektiv eine „imaginäre Institution“ ist (Castoriadis 1984; Delitz 2018b; Delitz 2019). Ausgangspunkt ist weiter, dass jedes Kollektiv gerade keine Einheit, sondern gespalten und heterogen ist, nicht mit sich identisch, sondern veränderlich und fluide, und keinen Ursprung oder keine zugrundeliegende Struktur hat – sondern kontingent ist, unbegründet. Gerade daher scheint dann die Imagination einer kollektiven Einheit und Identität notwendig, ebenso wie die Behauptung eines Grundes. Dabei ist mitzuführen: die Behauptung einer Einheit und Identität ist nie unumstritten; und da diese Behauptung kontingent ist, unbegründet, ist sie mindestens zweifach auf ein ‚konstitutives Außen‘ angewiesen: Die Behauptung einer kollektiven Einheit oder Identität setzt die Differenzierung Anderer voraus (Giesen 1999; Giesen und Eisenstadt 1995; Laclau und Mouffe 2001) und sie impliziert die Vorstellung eines außergesellschaftlichen Grundes, von dem her das Kollektiv sich eingesetzt sieht – das ‚zentrale Imaginäre‘ (Castoriadis 1984, 246 f.) oder das „fundierende Außen“ (Delitz und Maneval 2017, 36). Sind Kollektive derart auf komplexe Weise imaginär instituiert (imaginär einheitlich und imaginär fundiert), so beruhen sie als solche auf Symbolsystemen – auf den kulturellen Bedeutungssystemen, die von Sprache bis zu den Ritualen und Artefakten reichen. Vor diesem Hintergrund einer allgemeinen Theorie von Kollektiven oder von Gesellschaft lassen sich nun auch religiöse Kollektive einordnen, dem Begriff der Religion eine in diesem Sinne weite, gesellschaftstheoretische Bedeutung gebend (in der Tradition der Religionssoziologie Émile Durkheims, vgl. Durkheim 1994). Religiöse Kollektive sind solche, die ihre Identität und Aufgabe auf eine letzte, religiös formulierte Bedeutung, auf Heiliges beziehen – die Einheit der Mitglieder,

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ihrer Aufgaben und Begehren auf einen außergesellschaftlichen Grund, auf das Andere stützen. Die Vorstellung eines monotheistischen ‚Gottes‘ – aber ebenso auch die Überzeugung von der Heiligkeit der Menschenwürde oder der Nation – ist aus einer solchen gesellschaftstheoretischen Perspektive nichts anderes als die Institution eines imaginären Grundes: eine primäre, nicht weiter begründbare (und auch keiner Begründung bedürftige) Bedeutung, ein leerer oder ein unendlich füllbarer Signifikant, der das Fundament eines ganzen Systems von Bedeutungen, von Normen und Institutionen bildet. So gesehen (mit diesem allgemeinen Begriff von Religion, den zum Beispiel auch Claude Lefort mit Durkheim teilt) handelt es sich einerseits auch bei den modernen westeuropäischen Demokratien um ‚religiöse‘ Institutionen von Gesellschaft als Einheit: diese basiert auch hier auf Vorstellungen eines letzten, heiligen Grundes. Zugleich wird die Spezifik dieser Institution von Gesellschaft sichtbar: in Differenz zu Kollektiven, die ihre Einheit und Identität von ‚Gott‘ her beziehen, liegt die Spezifik der westeuropäischen demokratisch instituierten Gesellschaften in einem Paradox, in der geregelten Infragestellung des Grundes (Lefort 1999). Neben den Diskursen – und weiteren symbolischen Modi wie Bildern, Musik und Ritualen – sind Architekturen, sind materielle Artefakte zentral für die komplexe, imaginäre Institution kollektiven Lebens: In den Gebäuden und Infrastrukturen, mit den von ihnen erzeugten Raumstrukturen erhält das Kollektiv allererst eine (je bestimmte) visuelle Gestalt; architektonisch wird eine bestimmte Geschichte ausgewählt und sichtbar gehalten; in Bautypen werden die Funktionsbereiche getrennt und verungleicht. Architektonisch werden soziale Ungleichheiten, Individuen eingeteilt und fixiert – und werden Minderheiten innerhalb hegemonialer Kollektive sichtbar und konkret erfahrbar. Architekturen erzeugen in ihrer Materialität und Dimension Affekte, sie beziehen sich auf den Körper und formen dessen Bewegungen – sie strukturieren Interaktionen und soziale Beziehungen. Das gilt auch und spezifisch für Moscheen in mehrheitlich nicht muslimischen Kollektiven: ‚Hinterhofmoscheen‘ bilden, auch ganz abgesehen von ihrer äußeren Gestalt, deren materielle Infrastruktur, an deren konkrete Gestaltung,Visualität und architektonische Struktur sich viele Konflikte knüpfen, innerhalb des Kollektivs wie auch seitens der mehrheitlich nicht muslimischen Gesellschaft. Dem Beitrag geht es im Folgenden um zwei Schwerpunkte: Zum einen soll aus einer gesellschaftstheoretischen Perspektive die Funktion oder die Bedeutung religiöser Vorstellungen und Praktiken deutlich werden – in der These, dass religiöse Bedeutungssysteme (die das Kollektiv auf Anderes, Heiliges stützen) Selbstfundierungen und Selbststabilisierungen von Kollektiven darstellen – sie sind Modi der Institution von Gesellschaft als Einheit und Identität. Zum anderen geht es – gerade weil diese Bedeutungssysteme sich auf Imaginäres beziehen und

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weil die Einheit und Identität des Kollektivs imaginär, kontrafaktisch sind – um die Bedeutung von religiösen Architekturen. Im Blick auf die ‚Hinterhofmoscheen‘ ist dabei einerseits im Blick zu behalten, dass es sich im Kontext europäischer Gesellschaften um marginale, gerade nicht hegemoniale Kollektive handelt – und andererseits geht es dem Beitrag darum, auf die Differenz zu ephemeren Architekturen hinzuweisen: auf die Zugehörigkeit der Moscheen zu einer grundsätzlich fixierten, infrastrukturierten, den Raum aufteilenden architektonischen Kultur. In diesem Sinne geht es dem Beitrag um zwei konzeptionelle und auf den ersten Blick ferner liegende Überlegungen, ohne selbst in Fallstudien zum Moscheebau und den damit verbundenen Varianzen und Konflikten einsteigen zu können. Ungeachtet dessen scheint gerade dieser konzeptionelle Blick notwendig, um die Bedeutung von Architekturen ganz generell und von religiösen Architekturen speziell und auch die Konflikte um diese einordnen zu können: es geht in vielfacher Weise dabei um Gesellschaft selbst.

2 Die imaginäre Gesellschaft und das ‚fundierende Außen‘ (Religion und Gesellschaft) Was sind – gesellschaftstheoretisch gesehen, und ganz generell gesprochen – Kollektive, und in welcher kollektiven Funktion stehen religiöse Bedeutungen und Praktiken? Im Folgenden wird es, zunächst ganz abgesehen von Architektur – um deren Bedeutung zu erkennen – darum gehen, diese beiden Fragen zu beantworten. Dabei wird eine gesellschaftstheoretische Perspektive eingenommen, die einen dezidiert nicht-essentialistischen Begriff kollektiver Existenz und Identität teilt, gegenüber der Vorstellung, jeder Gesellschaftsbegriff (ebenso wie jeder andere Begriff für Kollektive) sei essentialistisch. Unter ‚Gesellschaft‘ denke man notwendig eine Essenz, mache das Kollektiv zu einem fixen, einheitlichen und harmonischen Subjekt.¹ So wichtig diese Kritik im Kontext ethnischer Bewegungen und Konflikte, neuer Nationalismen und Rassismen war und ist – keine soziologische Theorie teilt eine solch essentialistische Vorstellung, keine sieht das Kollektiv oder die Gesellschaft als ‚Ganzheit‘. Bereits Émile Durkheim spricht von Gesellschaft als wirksamer, geteilter Vorstellung (vgl. etwa Durkheim 1961, 105 – 107), und als beruhend auf geteilten Praktiken. Zugleich versteht bereits Durkheim

 Zur Kritik des Gesellschafts- und anderer Kollektivbegriffe siehe Müller (2015) und Delitz (2020a).

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die religiösen Bedeutungen und Praktiken in ihrer kollektiven Funktion: In der Religion handelt es sich um ein Bedeutungssystem, mit dem sich die Gesellschaft als ganze allererst vorstellbar macht; und in der sie ihre Normen und Werte stabilisiert, indem sie diese nämlich auf einen Anderen, auf einen außergesellschaftlichen – imaginären – Grund bezieht (Durkheim 1994; Delitz und Seyfert 2019; Delitz 2020b). Vor allem die französische politische Philosophie der 1980er, die sich als „postfundamentalistische“ (Marchart 2013) oder als „Theorie des gesellschaftlichen Imaginären“ (Delitz 2019) fassen lässt, versteht (im impliziten Anschluss an Durkheim) Gesellschaft auf eine derart nicht-essentialistische Weise. Die These von Castoriadis, Lefort, Mouffe und Laclau ist: Gesellschaften oder Kollektive sind imaginäre Institutionen (Castoriadis 1985). Weit entfernt, tatsächlich eine Einheit und Ganzheit darzustellen und in der Zeit mit sich identisch zu bleiben, beruhen Kollektive auf der kontrafaktischen Behauptung einer kollektiven Einheit, einer zeitlichen Identität sowie eines Ursprungs oder ‚Grundes‘ – voraussetzend, dass Kollektive heterogen und gespalten, fluide und ohne scharfe Grenzen sind, sowie in ständigem Werden bestehen. In diesem Sinne geht es um kollektive Existenz als Imaginationen oder als imaginäre Institutionen – die Einteilung und die Vorstellung einer Einheit der Mitglieder ebenso wie einer Identität des Kollektivs ist gerade nicht gegeben und bezieht sich auf keine Substanz. Daher haben Ernesto Laclau und Chantal Mouffe (2001, 149 – 150) von Gesellschaft als einem ebenso „unmöglichen“ wie notwendigen „Objekt“ gesprochen: Gerade weil die Einheit nie gegeben ist, weil sie zudem vom Außen abhängt, relational ist, muss versucht werden, die kollektive Einheit oder Identität auszusagen. Die Unmöglichkeit einer endgültigen Fixiertheit von Bedeutung impliziert, daß es partielle Fixierungen geben muß […]. Gerade um sich zu unterscheiden, um Bedeutungen zu untergraben, muß es eine Bedeutung geben. Auch wenn das Soziale sich nicht in den […] instituierten Formen einer Gesellschaft zu fixieren vermag, so existiert es doch nur als Anstrengung, dieses unmögliche Objekt zu konstruieren. Jedweder Diskurs konstituiert sich als Versuch, das Feld der Diskursivität zu beherrschen, das Fließen der Differenzen aufzuhalten, ein Zentrum zu konstruieren. (Laclau und Mouffe 2001, 150)

In der Bestimmung der Existenzweise von Gesellschaft legen die erwähnten Theorien den Akzent je auf bestimmte Aspekte: Castoriadis betont, dass jegliche kollektive Existenz die Vorstellung einer Identität in der Zeit impliziert, eine fiktive Fixierung (in der Vorstellung einer spezifischen Geschichte und eines Ursprungs ebenso wie der Zukunft und Aufgabe); zugleich entfaltet er die Kategorie des imaginären Grundes des Kollektivs, den Begriff einer „zentralen“ oder „primären gesellschaftlichen Bedeutung“ (Castoriadis 1984, 220 – 226, 230, 241– 243, 595 – 596). Das zentrale Imaginäre versteht Castoriadis dabei als jene Bedeutung, die

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einem Bedeutungssystem oder einem System von Institutionen vorherzugehen scheint – die selbst also auf nichts verweist, sondern allen Verweisungen zugrunde liegt. Solche letzten Bedeutungen „denotieren nichts, konnotieren aber fast alles“ (Castoriadis 1984, 246, Hervorhebung im Original). Castoriadis nennt insbesondere die religiöse Institution von Gesellschaft als eine, die derart auf einem imaginären Grund fundiert ist: Gott ist eine weder zum Realen noch zum Rationalen gehörige Bedeutung, er ist auch kein Symbol für etwas anderes […]. Gott ist […] das, worauf jene Symbole verweisen, die ihn tragen; er ist das, was in einer jeden Religion diese Symbole zu religiösen Symbolen macht – eine zentrale Bedeutung, eine systematische Organisation von Signifikanten und Signifikaten – das, was diesen Verknüpfungen Einheit verleiht, zugleich aber auch die Möglichkeit gewährleistet, dieses System von Verknüpfungen zu erweitern, zu vervielfachen und zu verändern. Und da jene Bedeutung weder auf Wahrnehmbares (Reales) noch auf ein Gedachtes (Rationales) bezogen ist, handelt es sich um eine imaginäre Bedeutung. (Castoriadis 1984, 241)

Zugleich spricht Castoriadis von weiteren Instanzen des zentralen Imaginären, von Vernunft bzw. „Rationalität“ (Castoriadis 1984, 268 – 270) sowie der „Nation“. Diese Bedeutungen sind ebenso wenig weiter begründbar wie ‚Gott‘, und sie werden ebenso als Instanz vorgestellt, der sich die Individuen und das Kollektiv verpflichten. In diesen Bedeutungen setzt die Gemeinschaft [sich] als bestimmte und dauerhafte Substanz jenseits ihrer vergänglichen Moleküle und antwortet auf die Frage nach dem Sein und der Identität der Gemeinschaft, indem sie sie auf Symbole bezieht und damit eine Verbindung mit einer anderen ,Realität‘ herstellt. Heute spielt die Nation diese Rolle. Die Nation erfüllt diese Aufgabe der Identifikation, indem sie auf eine ,gemeinsame Geschichte‘ verweist – eine Bezugnahme, die gleich in dreifachem Sinne imaginär ist, denn erstens gehört diese Geschichte der Vergangenheit an, zweitens reichen die Gemeinsamkeiten nicht sonderlich weit, und schließlich ist das, was von dieser Vergangenheit bewußt wird und als Träger gemeinschaftsbildender Identifikationen im Bewußtsein der Leute dient, größtenteils mythisch. (Castoriadis 1984, 254– 255)

Neben der zentralen oder primären Bedeutung sind zahlreiche weitere, ‚sekundäre‘ gesellschaftliche (religiöse) Bedeutungen relevant. Religion wird hier von Castoriadis als Bedeutungssystem adressiert, als ein System aufeinander verweisender Rituale, ihnen entsprechender Konzepte und Vorstellungen sowie Begehren. So hätte die monotheistische Religion keinen „Bestand, wenn sie nicht um das zentrale Imaginäre einen Gürtel von sekundärem Imaginärem wuchern ließe. Gott hat die Welt in sieben Tagen geschaffen […]. Unübersehbare Konsequenzen ergeben sich nun daraus“ (Castoriadis 1984, 221) – nämlich die Formung von individuellen Leben und Identitäten. Claude Lefort hat ähnlich vom gesell-

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schaftlichen Grund gesprochen, vom (religiösen) „Fundament“ (Lefort 1999, 56), auf das sich ein Kollektiv beruft. Zudem wird hier die kollektive Einheit, die Vorstellung von Gesellschaft als Ganzheit als eine bestimmt, die paradoxer Weise in der Abspaltung eines „Ortes“ der Macht (Lefort 1999, 55) erzeugt wird – in der Teilung zwischen dem Politischen und der Gesellschaft erzeugt diese gerade eine „quasi-Repräsentation ihrer selbst“, imaginiert sie sich als die eine (Lefort 1999, 39). Laclau und Mouffe – respektive Chantal Mouffe (2007) – betonen schließlich ihrerseits die imaginäre Einheit und Identität des Kollektivs, wobei sie sich ebenso auf die Abgrenzung, auf das für jegliche Identität notwendige, konstitutive Außen, die Differenz konzentrieren, wie auf die Unabschließbarkeit der Versuche, die kollektive Identität zu definieren, das Kollektiv zu vereinheitlichen. Gesellschaft als Einheit, als Totalität setzt einerseits „etwas“ voraus, „das jenseits“ liegt, eine Differenz zu anderen Kollektiven (Laclau und Mouffe 2001, 186), und ebenso setzt Gesellschaft die Aussage eines „Zentrums“ (Laclau und Mouffe 2001, 150) oder Grundes voraus. Die Konstitution von Kollektiven als Einheit und Identität schließen nicht nur zahlreiche Exklusionen, sondern ebenso Einteilungen der Mitglieder im Inneren ein: Die imaginäre Institution des Kollektivs impliziert ebenso eine Hierarchie von Statusgruppen und funktionaler Bereiche, wie eine Trennung der Geschlechter und Generationen oder von Natur und Kultur.

3 Religiös instituierte Kollektive und die In-Form-Setzung ‚der‘ modernen Demokratie Bereits Durkheim und auch Castoriadis sehen die Spezifik religiös instituierter Kollektive – im Fall monotheistischer Bedeutungssysteme – in der Imagination eines Anderen (Gottes), der das fundierende Außen des Kollektivs ist: Gott wird vorgestellt als der Ursprung des Kollektivs, seiner Identität, seiner Normen und Institutionen; er ist die letzte Bedeutung, auf die sich die Vorstellungen von Gemeinsamkeit und Identität ebenso stützen, wie die Unterscheidung der Anderen, der Ungläubigen. Innerhalb dieser gesellschaftstheoretischen Perspektive auf religiöse Bedeutungen und Praxen lässt sich dann auch jedes muslimische Glaubenssystem als Kollektiv-erzeugendes System von Bedeutungen verstehen, die auf einer zentralen Bedeutung beruhen. In ihm werden Normen, Werte und Tabus, Begehren und Affekte gegründet, werden das individuelle Leben, die familiäre Hierarchie oder das Verhältnis der Geschlechter in Form gebracht. Zugleich ist es – im Blick auf ein hegemonial säkulares „In-Form-Setzen“ (Lefort 1999, 56) der Gesellschaft als Einheit – interessant, die Form im Blick zu behalten, in der in der modernen (westeuropäischen) Demokratie die kollektive Identität

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instituiert und imaginiert wird, und welche letzten Bedeutungen hier fundierend wirken. In ihrem Kontrastvergleich religiös instituierter und modern demokratisch instituierter Kollektive – von gegensätzlichen Modi der Institution gesellschaftlicher Identität und Einheit – haben Claude Lefort und Marcel Gauchet zunächst gerade nicht muslimische Kollektive im Blick. Was sie interessiert, ist die der modernen Demokratie 1879 unmittelbar vorhergehende, religiöse Fundierung der Gesellschaft als Einheit: Die Vorstellung eines unsterblichen, von Gott geheiligten Körpers des Königs, also die juristische Theologie des Gottesgnadentums (Bloch 1998; Kantorowicz 1992; Koschorke et al. 2007) ist jene ‚theologisch-politische‘ Form der Imagination kollektiver Einheit und der Legitimation politischer Verkörperung, die in der Französischen Revolution gerade abgelöst werden soll. In dieser Situation – der Begründung der modernen Demokratie und deren InForm-Setzung von Gesellschaft als Einheit – war ein ebenso unzweifelhaftes Fundament notwendig: Die demokratische Institution von Gesellschaft erweist sich (mit der dafür grundlegenden Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte 1789) als der religiös-politischen Institution des Königs gerade entgegengesetzt – und als eine, die ein „theologisch-politisches Erbe“ (Lefort 1999) aufweist, da sie die souveräne Matrix der Macht übernimmt: Galt der König als Souverän und zugleich als begabt mit einem heiligen, unsterblichen Körper (weil von ‚Gott‘ eingesetzt), so fundiert sich die neue Bestimmung der Gesellschaft im Verweis auf das Volk als Souverän und die Heiligkeit des Einzelnen. An die Stelle Gottes treten ‚Menschenrechte‘ und ‚Volkssouveränität‘ (Gauchet 1991; Mouffe 2007). Darin besteht das „demokratische Paradox“ (Mouffe 2010); die Gesellschaft bleibt gestalten, es gibt nur prekäre Formen von Einheit, da in dieser Institution der Disput um die kollektive Identität, um die ‚Leitkultur‘, um letzte Werte und den gesellschaftlichen Grund instituiert sind (Giesen und Seyfert 2016). Schließlich bleibt die kollektive Identität auch deshalb „latent“ (Lefort 1999, 57), weil das Volk als Einheit im entscheidenden Moment seiner Manifestation (der Wahl) in die Zahl der Stimmen „aufgelöst“ wird (Lefort 1999, 58). „Es zeigt sich, daß der Letztbezug auf die Identität des Volkes, auf das instituierende Subjekt den rätselhaften Schiedsspruch der Zahl verdeckt“ (Lefort 1999, 53). Ebenso löst sich die Nation nicht vom Diskurs über sie: Paradoxerweise entzieht sich die Nation, eben weil sie eine historische Entität ist, der religiösen Vorstellung, die immer darauf bedacht ist, eine Erzählung festzulegen, eine Zeit außerhalb der Zeit zu beherrschen. Sie ist die Spenderin einer kollektiven Identität und gleichzeitig ist sie in dieser Identität impliziert; sie bleibt eine schwimmende Vorstellung. (Lefort 1999, 59)

Von jenen hegemonial religiösen In-Form-Setzungen des Kollektivs als Einheit und Identität, die in muslimischen Staaten auffallen (Iran, Saudi-Arabien), wird man

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dagegen sagen können: Im Gegensatz zum politischen Diskurs und Konflikt werden hier Diskursverbote instituiert, geht es gerade nicht um eine paradoxe Instituierung des Kollektivs, sondern um dessen Eindeutigkeit. ‚Gott‘ als imaginärer Grund des Kollektivs ist gerade der politischen Debatte entzogen, die kollektive Einheit wird auf das religiös fundierte Gesetz bezogen.² Institutionen, Teilungen der Individuen, Regulierungen des Lebens, Geschlechterverhältnisse und Begehren werden in einer religiösen Fundierung des Kollektivs gerade der Veränderlichkeit und Kontingenz entzogen: [T]he name of ‘God’ must not be mentioned, He must not be represented, and all talking about Him is restricted. By virtue of these bans, the divine and the sacred will remain an unsolvable mystery; they elude every attempt to solve their secrets. (Giesen und Seyfert 2016, 114)

Nun haben weder Castoriadis, noch Lefort, Mouffe oder Gauchet³ spezifisch muslimische Kollektive, noch gar solche im Blick, die sich innerhalb anders instituierter Mehrheitsgesellschaften behaupten. An dieser Stelle versucht Christopher Houston (gegen Castoriadis) zu zeigen, dass dessen Begriff der „autonomen“ Gesellschaft auch muslimische Kollektive umfasst: „Islamist movements too are animated by some ideal of autonomy“, schreibt er (Houston 2004, 52). Indes hat Castoriadis den Begriff der „autonomem“ Gesellschaft für jene Form der Institution von Gesellschaft reserviert, die (im Unterschied zu heteronom instituierten Gesellschaften) alle ihre Gesetze und Institutionen als selbsterfundene, als veränderliche anerkennt. Abgesehen von kurzen Momenten der griechischen polis (Castoriadis 2010) bleibt dies für ihn das anzustrebende Ziel (vgl. Castoriadis 1984, 217) – das Ziel dieser (darin als postmarxistisch erkennbaren) politischen Philosophie, zu einer nicht entfremdeten Gesellschaft zu kommen. Abgesehen von diesem normativen Bezugspunkt bleibt festhaltbar, dass es sich im Fall der ‚Hinterhofmoscheen‘ um religiöse Kollektive in einer hegemonial anders imaginierten kollektiven Einheit handelt. Ist jede Gesellschaft imaginär instituiert und bedarf daher der Sichtbarkeit ihrer Bedeutungssysteme, insbesondere auch im Blick auf den letzten Grund, das fundierende Außen – die

 Zur Umstrittenheit und der spezifischen politischen Spaltung der Gesellschaften im arabischen Raum vgl. etwa Moaddel (2020).  Gauchet hat allerdings auf den islamisch-fundamentalistischen Terrorismus reagiert, diesen als genuin moderne politische Bewegung verstehend (Gauchet 2015). Er hat darüber hinaus die indigenen, von der Ethnologie (Pierre Clastres) untersuchten Kollektive als solche vorgestellt, die sich als ganze in die „Schuld“ des Anderen stellen (Gauchet 2005, 1986) – derart in ihrer Kosmologie eine ‚Verungleichung‘ oder ‚den Staat‘ abwehrend.

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zentrale religiöse Bedeutung – so impliziert dies (zumindest nach innen, für die Selbsterfahrung der Subjekte und ihr Zugehörigkeits- und Differenzgefühl) auch die sichtbare und erfahrbare Behauptung von Andersheit. Das religiöse Kollektiv der Muslime in einer hegemonial nichtmuslimischen Gesellschaft impliziert wahrnehmbar andere Praktiken, andere Formationen der Subjekte, ihrer Begehren, Wünsche und Vorstellungen; und es impliziert ganz grundlegend einen Ort, eine materielle Infrastruktur des Kollektivs.

4 Architektur, Religion und Gesellschaft Die imaginäre Institution der Einheit und Identität des Kollektivs beruht – eben weil sie vorgestellt, imaginär ist, und auf Imaginärem (dem vorgestellten Grund) beruht – auf zahlreichen Symbolsystemen, denn nur als solche können sie kollektiv geteilt werden, über individuelle Phantasmen hinausgehen. „Das Imaginäre muß das Symbolische benutzen […,] um überhaupt zu ‚existieren‘“, schreibt Castoriadis (1984, 218). Architektonische Artefakte gehören bereits aufgrund ihrer Dimensionen, ihrer visuellen und räumlichen Präsenz und in der direkten Anbindung an den Körper sowie in der Erzeugung von Affekten zu jenen kulturellen Modi, die (neben der Sprache) in ihrer Wirkmächtigkeit und ihren Effekten kaum zu überschätzen sind (vgl. ausführlich Delitz 2010; 2018a). Das gilt selbstverständlich auch für religiöse Kollektive und deren Architekturen,⁴ und im selben Maße, wenn es sich – wie bei den ‚Hinterhofmoscheen‘ – um marginale Bauten in einer von vielen anderen Architekturen geprägten Gestalt der Gesellschaft handelt; und um eine in anderem Imaginären instituierte Vorstellung der kollektiven Einheit und Identität. Auch wenn diese Gebäude gerade nicht die Präsenz und Affektivität einer großen Moschee haben, so bieten sie einen konkreten Ort, an dem das Kollektiv versammelt und zugleich als solches sichtbar wird – in der Infrastruktur für die religiösen Praktiken, als Bezugspunkt von Vorstellungen, in Bezug auf die Körper, in der Erzeugung von religiösen und gemeinschaftlichen Affekten. Zudem verweist jede Moschee zumindest in ihrer inneren Struktur und Anlage auf den Herkunftsort des Glaubens, auf die Geschichte der muslimischen Kollektive, auf deren Gründung – in Differenz zur profanen und zur religiösen Architektur der Umgebung, den damit verbundenen Kollektiven, sozialen Sphären und Individuen.

 Vgl. dazu beispielsweise die Beiträge in Karstein und Schmidt-Lux (2018); zur Bedeutung von Orten, zur Verortung für die christliche Gemeinschaft klassisch dazu Halbwachs (2003); zur Bedeutung der Kathedralen für die Imagination der Gesellschaft Warnke (1984).

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Dabei teilen die Moscheen mit allen weiteren urbanen Architekturen tiefgreifende Gemeinsamkeiten, die sie von ganz anderen „architektonischen Modi kollektiver Existenz“ (Delitz 2018a) unterscheiden: Sie gehören einer architektonischen Kultur an, die mittels der gebauten und fixierten Artefakte das Territorium aufteilt, infrastrukturiert; die permanent feste Orte und Orientierungen einrichtet – und zwar im Gegensatz namentlich zu dem, was bei nomadischen Gesellschaften der Fall ist. Sie, die nomadischen Gesellschaften oder die ‚Gesellschaften der Zelte‘ sind die Kollektive, die sich in ephemeren Architekturen instituierten, die eine permanente Bewegung des Kollektivs erzeugen sowie einen glatten Raum: [D]er Raum der Seßhaftigkeit wird durch Mauern, Einfriedungen und Wege zwischen den Einfriedungen eingekerbt, während der nomadische Raum glatt ist und nur mit ‚Merkmalen‘ markiert wird, die sich mit dem Weg verwischen und verschieben … Der Nomade verteilt sich in einem glatten Raum, er besetzt […] diesen Raum, und darin besteht sein territoriales Prinzip. (Deleuze und Guattari 1992, 524)

Der Islam ist „untrennbar mit einer festen und dauerhaften Orientierung verbunden“, schreiben Deleuze und Guattari (1992, 527), während die Architekturen hegemonial nomadischer Kollektive (die gewebten oder genähten Zelte der Tuareg oder die Yurten der Mongolen) eine permanente Bewegung über den Boden hinweg erzeugen. In diesen Kollektiven sind Mobilität und Veränderung identitätsstiftend – der Status der einzelnen Gruppen wie jedes Einzelnen bemisst sich an der Bewegung. Auch wenn namentlich die Tuareg einen tiefen Bezug zur Sesshaftigkeit haben; auch wenn sie eine urbane Kultur und auch wenn sie einen muslimischen Glauben praktizieren, so haben beide – die Städte und die in ihnen residierenden islamischen Autoritäten – eine dienende Funktion (vgl. dazu Bernus 1981a, 77– 79; Casajus 1987, 118 – 120).⁵ So orientieren sich die Tuareg zwar an Mekka und richten ihre religiösen Aktivitäten danach aus (Bernus 1981b; Casajus 1987, 55 – 56). Zugleich instituieren sie aber auch andere „Kardinalpunkte“ (Bernus 1981b) des Kollektivs – die Wasserstellen sowie die Gräber der ‚Ahnen‘, der Verstorbenen, an denen sich die kel esuf (die Geister der Einsamkeit, der Wüste) aufhalten (Casajus 1987, 327). Derart ließen sich – ex negativo, kontrastiv (zum Beispiel im Kontrast zwischen den Architekturen der mehrheitlich nomadischen

 „Die meisten Mythen erzählen die kel esuf als den Ursprung aller Tuareg“ (Casajus 1987, 345). Wenn der Sultan einigen Gründungsmythen zufolge „Vermittler zwischen Gott und dem Air ist“, so wird er zugleich als einer erzählt, der seinerseits auf die kel esuf zurückgeht (Casajus 1987, 333, vgl. zu den Mythen Casajus 1987, 117– 118, 283 – 284, 345 – 352). Vgl. zur Vermittlungsfunktion zum Beispiel für die Städte Ayoun und Nouakchott in der Islamischen Republik Mauretanien siehe Bernus (2006).

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Tuareg einerseits, und mehrheitlich muslimischer Kollektive andererseits) Aussagen über die Art machen, in der Architekturen je das kollektive Leben und die Vorstellung des Kollektivs miterzeugen: Auch über die Art, in der in den nichthegemonialen, nicht präsenten und wenig Aufsehen erregenden ‚Hinterhofmoscheen‘ die muslimischen Kollektive instituiert und Körper und Blicke geführt werden; wie hier religiöse und weitere kollektive Praktiken ablaufen und welche Rolle dabei die fixen geografischen Orientierungen ebenso haben wie die gemeinsamen Bezüge auf den imaginären Anderen: ‚Gott‘. Im Vergleich zu diesen Architekturen (der nomadischen Gesellschaften, etwa der Tuareg) sind Moscheen ebenso wie Kirchen, Synagogen und Kathedralen Teil einer architektonischen Kultur der Fundamentierung, der Instituierung einer fixierten, an den Ort gebundenen kollektiven Einheit und Identität aus harten, dauerhaften Materialien. Das gilt für die Moscheen in mehrheitlich oder hegemonial muslimisch instituierten Kollektiven, wie für diejenigen in den westeuropäischen Gesellschaften. In diesem Rahmen – der Vorstellung, dass es sich bei muslimischen Kollektiven und ihren religiösen Architekturen um eine grundlegend fixierte, an einen Ort, an regelmäßig wiederkehrende räumliche Praktiken gebundene Instituierung handelt; dass diese Architekturen und Orte zugleich auf einen Ursprungs-Ort (Mekka) verweisen; und dass sie sich innerhalb einer christlich-europäischen, mehrheitlich nichtmuslimischen Gesellschaft instituieren, in Differenzmarkierungen und Abgrenzungen, ebenso wie in Fremdzuschreibungen und Stereotypen – kurz, in dieser spezifisch territorialisierenden Instituierung des religiösen Kollektivs wäre dann über diesen Beitrag hinaus konkret zu erforschen, welche Praktiken und Bewegungen, Körperhaltungen und Geschlechtertrennungen, Subjektformierungen und Kollektive je erzeugt werden.⁶ Dabei wäre auch zu eruieren, auf welchen materiellen Mitteln und in der Wahl welcher Architekt:innen die Gebäude errichtet werden; wie sie ausgestattet sind und welchen behördlichen Restriktionen sie unterliegen. Dabei sind vielfältige lokale Unterschiede einzubeziehen, unterscheidet sich der Kontext der muslimischen Kollektive doch erheblich: So beschreibt Lucia Stöckli die Anreicherung von Funktionen, die Moscheebauten im westlichen Kontext ebenso erfahren wie die Transformation der Geschlechterbeziehungen (insofern Frauen sich zunehmend

 Zur Bedeutung und Transformation religiöser Architekturen in ‚muslimischen‘ respektive ‚westlichen‘ Gesellschaften gibt es selbstverständlich bereits zahlreiche Studien. Siehe neben den Beiträgen in diesem Band und unter vielen weiteren für Nordamerika und Europa Metcalf (1996); zu Moschee-Neubauten und Gemeinden in Westeuropa etwa Nasser (2005: Birmingham), Färber und Spielhaus (2006), Beinhauer-Köhler und Leggewie (2009: BRD), Maussen (2009: Niederlande, Frankreich), Becker (2019: Berlin und London), de Wildt et al. (2019: Köln), Stöckli (2020: Schweiz, England).

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in den Moscheen treffen). In ihrer Darstellung erweisen sich die Moscheebauten als „Heimat“ (Stöckli 2020, 61), als entscheidender Ort und als entscheidende Architektur des Kollektivs, da in ihr nicht allein religiöse Praktiken stattfinden; und da es diese Orte sind, an denen die Grenzüberschreitung, die Aufnahme in das Kollektiv stattfindet: In der westlichen Welt, in der die Muslime in der Minderheit sind, ist die Moschee der Raum, in dem sich die Neukonvertitinnen und Neukonvertiten mit ihrem neuen Glauben auseinandersetzen und die Rituale kennenlernen können. Sie erfahren Halt und Geborgenheit, die ihnen teilweise in der Gesellschaft nicht zugesprochen werden. […] Außer als Treffpunkt fungiert die Moschee auch als Ausbildungsstätte für alle Altersstufen sowie als Örtlichkeit für Feierlichkeiten. Zudem finden Gespräche und Konferenzen statt, wozu muslimische sowie nichtmuslimische Persönlichkeiten aus dem In- und Ausland eingeladen werden. (Stöckli 2020, 244)

Nicht zuletzt ist für die Bedeutung von Architekturen aussagekräftig, welche gesellschaftlichen Konflikte sich an ihnen – an ihrer Sichtbarkeit und Präsenz – entzünden. Es sind im Fall der Moscheen in den europäischen Gesellschaften oft mindestens ebenso sehr die Gebäude selbst, wie die muslimischen Kollektive, die auf Dispute, auf Bürgerbegehren und Abwehr stoßen (vgl. etwa Beinhauer-Köhler und Leggewie 2009; Stoop 2017; Suder 2014). An solchen Debatten und ihrer Emotionalität zeigt sich einmal mehr, wovon dieser Text ausging: Architektur ist politisch, ist Teil der Inform-Setzung von Gesellschaft als Einheit, trägt bei zur Erzeugung – und Transformation – der imaginären Identität und Einheit des Kollektivs. Zugleich ist interessant, dass die Muslime im Blick auf die sichtbare Präsenz der Moscheen durchaus verschiedener Auffassung sind – je nach gesellschaftlichem Kontext und der jeweiligen Migrationsgeschichte. So ist es nicht nur so, dass in der Schweiz 2009 aufgrund einer (sich auf das Schweizer ‚Volk‘ als dem letzten Signifikanten, dem Grund des Kollektivs berufenden) Volksabstimmung ein Verbot erlassen wurde, Minarette zu bauen, da diese Zeichen für den islamischen Herrschaftsanspruch seien. Die Frage des Minaretts wird aber auch in den muslimischen Gemeinden selbst durchaus differenziert und divers gesehen: Muslime in der Schweiz sehen in einer sichtbaren Moschee ein Zeichen für die gesellschaftliche Akzeptanz und dafür, dass der Islam sich nicht verstecken muss. In England werden die gesellschaftliche Teilhabe und Anerkennung weniger mit einem sichtbaren Moschee-Bau in Verbindung gebracht. Dies hängt vermutlich mit der englischen Tradition der Toleranz gegenüber von [sic!] Symbolen zusammen sowie damit, dass Muslime in England sich als Teil der Gesellschaft fühlen. (Stöckl 2020, 246)

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5 Fazit Für die Anerkennung der Bedeutung dieser Bauten und für das Verständnis der damit verknüpften Begehren und Debatten ist zu erinnern, wovon dieser Beitrag ausging: dass Kollektive nur imaginär eine Einheit sind und eine Identität ‚haben‘; dass sie diese Einheit, Identität und ihren letzten Grund (das zentrale Imaginäre oder das fundierende Außen des Kollektivs) in symbolischen Systemen – von Architektur über Diskurse bis zu den Körperpraktiken – immer erneut konstituieren müssen, ebenso wie die sichtbare Differenzierung oder Abgrenzung zu anderen Kollektiven oder sozialen Sphären. Zugleich legt der (hier angedeutete und auszuweitende) Kontrastvergleich mit nomadischen Kollektiven nahe, dass die ‚Hinterhofmoscheen‘ im Kontext europäischer Gesellschaften – so ephemer und ‚beweglich‘ sie auch je für sich sein mögen – gleichwohl einer urbanen, fixierten und infrastrukturierten Institution des Kollektivs angehören. So marginal die ‚Hinterhofmoscheen‘ im Kontext einer nichtmuslimischen Architektur und Gesellschaft sind (gegen die sie das muslimische als eigenes, anderes Kollektiv instituieren, mit eigenen Subjektformen, Praktiken, Vorstellungen von Sinn und Aufgabe jedes Einzelnen miterzeugen): Diese beiden architektonischen Kulturen – die nomadische einerseits und die sesshafte, urban konzentrierte und infrastrukturierte andererseits – unterscheiden sich in der Institution der Einheit und Identität des Kollektivs in der Zeit, im architektonischen Bezug auf eine Gründergeschichte und auf eine Herkunft ebenso, wie in der Instituierung eines Raumes durch Gebäude und Straßen oder aber Zelte – und in der Erzeugung von sozialen Ungleichheiten. Dasselbe gilt für die Formung von subjektiven Begehren, die sich auf jenen letzte, vollständig imaginäre Bedeutung, das fundierende Außen beziehen, in dem das Kollektiv seine Identität und Einheit letztlich behauptet: Auch diese Bedeutung gilt es nicht allein sprachlich, sondern auch architektonisch anwesend, präsent zu machen – in die Sichtbarkeit zu übersetzen. Die Heiligkeit des Einzelnen und die Nation; die fundierende Rolle Gottes und seines Propheten; oder der mythischen Ahnen der Tuaregg. Neben den Diskursen sind es auch Architekturen, die solche letzten Gründe oder Bestimmungen der kollektiven Identität mit erzeugen. Dabei entscheidet sich die Sichtbarkeit und die Präsenz solcher Architekturen, ebenso wie ihre Duldung immer auch darin, in welchem gesellschaftlichem Kontext sich das Kollektiv befindet, wie die hegemoniale Vorstellung der kollektiven Einheit und Identität fundiert wird.

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Mehmet Bayrak

Die multiperspektivische Analyse von Migrationsmoscheen Bewegungsarchitekturen Abstract: Die vorliegende Untersuchung liefert Einsichten in Moscheen der Migration als ‚Bewegungsarchitekturen‘. Hierzu nimmt sie sich des Beispiels einer Moschee an, die von 2004 bis 2017 in zentraler Lage in Köln bestanden hat, und liefert über ein multiperspektivisches Beschreibungsdesign, das über architektonische Parameter hinausgeht (Städtebau, Kulturanalyse, Fotoanalyse), ein mögliches Untersuchungspanorama von Migrationsmoscheen. Die Kale-Moschee ist eine dachverbandsunabhängige, heterogene Architektur im Sinne einer „Heterotopie“ (Foucault), die sehr spezifische und zugleich auch auf andere – abwertend als ‚Hinterhofmoscheen‘ bezeichnete – Religionsstätten der Muslime neuartige Blicke im Sinne einer postmigrantischen Perspektive (Hill und Yildiz 2018) möglich macht. Die qualitative Untersuchung stellt hierbei Thesen und Erkenntnisse im Hinblick auf die Konstitution solcher Architekturen auf und liefert so soziologische, architektonische, kulturelle und städteplanerische Anregungen für die künftige Forschung. Das zentrale Ergebnis hierbei ist: Moscheen der Migration befinden sich aufgrund der Notwendigkeit des permanenten Umzugs und ihrer architektonischen und sozialen Parameter – stets wieder neue Gemeinde- und Vereinsgründungen und Interaktionen mit der sozialen und gebauten Umwelt – in besonderer Bewegung; sie bewegen sich im städtischen Raum. Und auch auf der kulturell mikro-skopischen Ebene sind sie performativ und durch ein Prinzip der Migration geprägt; oder anders formuliert: Sie sind Bewegungsarchitekturen. Daher bedarf es für die künftige Auseinandersetzung mit ihnen einer anderen Sensibilität, um der Vielfältigkeit ihrer architektonischen und sozialen Besonderheiten gerecht werden zu können. Der Beitrag verfolgt so die zentrale These, dass Architekturen als „Medien des Sozialen“ (Delitz 2010a) dienen und Integration nicht erst über die Gemeindemitglieder formiert wird, sondern über die gesamten architektonischen und städtebaulichen Charakteristika der religiösen Gebäudekomplexe.

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1 Einleitung Sakralität und Architektur stehen seit Anbeginn des menschlichen Bedürfnisses nach religiöser Praxis in Wechselwirkung. Sakralarchitekturen formen sich neben ihrer kultischen Dimension also auch als performative Größe des Sozialen: In ihnen finden Handlungen statt, Gebäude – auch über einen längeren Zeitraum – verändern sich mit den Praktiken, die dort stattfinden, auch durch Renovierung, Restaurierung oder Veränderung von Raumprogrammen. Im Falle von Moscheen der Migration – die sich von Kirchen als Sakralarchitekturen unterscheiden, weil im Islam Symbolhaftigkeit und rituelle Praktiken stärker auch durch Profanität charakterisiert sind – wird diese performative Dimension auf sämtlichen Ebenen der Architektur deutlich: Moscheen verändern sich mit den Handlungen, die in ihnen stattfinden; gleichzeitig prägt die Architektur der Moscheen die sozialen Dynamiken, die innerhalb ihres Raumes stattfinden. Architektur reglementiert das Tun, das Tun reglementiert die Architektur. Eine solche Betrachtung von Moscheen der Migration als performatives Objekt ermöglicht in der Auseinandersetzung mit ihren architektonischen Grundelementen ein völlig unkonventionelles Verständnis von gebauter Umwelt – und dies auf vielerlei Betrachtungsebenen, wie beispielsweise der Stadtplanung. Gemeint sind hier Aspekte der Analyse von Architektur auf der Ebene des städtischen Maßstabs, auf der Ebene der Betrachtung in quartiersbezogenen Zusammenhängen, wie auch auf der Mikro-Ebene des Bauwerks (zum Beispiel in der Innenarchitektur). Bei genauer Betrachtung erfüllen die sogenannten ‚Hinterhofmoscheen‘ mit ihrer profanen Ausbildung und multifunktionalen, auf die alltäglichen Bedürfnisse der Nutzer spezialisierten Nutzungsschwerpunkten (Armenküche, Internat und weitere) die Konstitution einer Moschee in ihrer Urform (Korn 2012): Bei einer Moschee geht es um kultische Reinheit, Abgegrenztheit nach außen und die Ausrichtung nach Mekka; das bedarf keiner allzu komplexen Einrichtung. Auch die Eigenart, sich jeder Lebenslage und dem Bedarf der Nutzer:innen sowie der ständigen Anpassungsfähigkeit in das urbane Sozialgefüge mit ihren Funktionsangeboten entsprechend zu transformieren sind Kerneigenschaften der sogenannten ‚Hinterhofmoscheen‘, die die Mehrzahl der Moscheen in Deutschland bilden. Daher ändern sich die Raumfunktionen permanent, werden also bestehende räumliche Situationen immer wieder verändert und den Notwendigkeiten angepasst; und dies in immenser Geschwindigkeit und Fluktuation. Die Regel dieser Bauten bilden – so die zentrale These – sich im urbanen Gefüge bewegende Sozio-Architekturen, welche sich in permanenter Änderung auf sämtlichen konstitutiven Ebenen befinden und sich immer wieder aufs Neue den Situationen, nicht zuletzt auch in ihrem Funktions- und Nutzungsschwer-

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punkten (Koranschule, Armenküche oder Ort für Obdach) anpassen. Eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit solch permanent verändernden Gebilden birgt eine besondere Herausforderung in sich (siehe auch den Beitrag von Munsch und Herz) und erklärt vielleicht auch das bis heute wenig erforschte Forschungsfeld der Hinterhofmoscheen, obwohl diese fast 80 % der Moscheelandschaft in Deutschland ausmachen.

Abb. 1: Ansicht auf die Kale-Moschee von der Straße (Hansaring) aus (2017, Foto: Mehmet Bayrak).

Um diese – zusammengefasst gesprochen – ‚Beweglichkeit‘ aufzuzeigen, untersucht der vorliegende Text¹ eine solche ‚Hinterhofmoschee‘: die Kale-Camii (wörtlich ‚Burgmoschee‘) in Köln (2004 – 2017). Ziel des Beitrags ist es, anhand einer transdisziplinären architekturwissenschaftlich durchgeführten Tiefenanalyse einer besonderen Migrationsmoschee ein Untersuchungsdesign und zentrale Parameter für die Erforschung sowie ein Verständnis von sogenannten ‚Hinterhofmoscheen‘ zu liefern. Dabei geht die Untersuchung wie folgt vor: Zunächst wird die Entstehung der Moschee aus historisch-rekonstruierender Sicht im Sinne einer ‚Moscheebiographie‘ wiedergegeben. Darauf folgt eine detaillierte Beschreibung der städtebaulichen Verortung der Moschee. Dies ist deswegen not-

 Bei der hier vorliegenden Untersuchung handelt es sich um eine veränderte Version eines Kapitels aus meiner in der Entwicklung befindlichen Dissertation zu Diasporamoscheen (Arbeitstitel).

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wendig, da Architekturen erst in ihrem Verhältnis zu der städtischen Umwelt in ihrer Komplexität und Beschaffenheit angemessen erfasst werden können. Da jede Moschee zugleich über eigene soziale und rechtliche Entstehungsbedingungen verfügt, wird zur Verdeutlichung dessen die Vereins- und Gemeindebildung in ihrer historischen Entstehung nachvollzogen. Indem im nächsten Schritt die architektonische Beschaffenheit und Struktur der Moschee beschrieben werden, wird die Grundlage für die Deutungsprämissen geschaffen: Was bedeuten diese ‚Hinterhofmoscheen‘ für das urbane Gefüge und wie lässt sich das Medium dieser Architekturen beschreiben, das heißt: Welche Perspektiven sind erforderlich, um sie ihrer Komplexität gemäß beschreiben zu können? Erst ein genauer Blick auf die vielfältigen Dimensionen der Architektur legt den Blick frei für die Möglichkeiten der Beschreibung und Deutung von Architektur. Denn Architektur ist nicht nur durch das Soziale geformt, wie die Architekturtheorie bzw. -soziologie vielfach und vornehmlich behauptet, sondern die Architektur – mithin ihre vieldimensionale Beschaffenheit – ist es, die das Soziale erst als solches produziert (Delitz 2010a). Es erscheint absurd, Architektur als statische Morphologie oder gemeinhin statisch zu betrachten: Die Untersuchung steht daher unter der Prämisse, dass es sich bei Migrationsmoscheen im Sinne des vorliegenden Sammelbandes vornehmlich um ‚Moscheen in Bewegung‘ handelt.

2 Die Kale-Camii (‚Burgmoschee‘) Unscheinbarkeit, die im Zusammenhang der ‚Hinterhofmoscheen‘ als Laster betrachtet wird, verwandelt sich bei der Kale-Moschee (wörtlich ‚Burgmoschee‘) zu ihrer auszeichnenden Eigenschaft. Es ist der Hansapark in Köln – eine etwas abgelegene Grünfläche am Grüngürtel Kölns, in den Medien als ‚Angstzone‘ bekannt –, der die hier zu analysierende Moschee beherbergt. Die Stadtmauer Kölns zieht sich durch den Hansapark und hier steht ein Tor im Park weit geöffnet für jeden zugänglich. Daneben befindet sich ein Bolzplatz, der feldseitig im ehemaligen Wassergraben situiert ist. Flaggen am Tor, die meterhoch im Winde wehen, zeigen an, dass in der Einrichtung jede Nationalität willkommen ist. Leicht über der Torhöhe angesetzt steht zudem ein relativ großes Wandplakat, auf dem sich ein Händedruck und der Name der Einrichtung zeigt: Hand in Hand e.V. Passiert man die Eingangspforte und begibt sich auf den Hof, tritt die vorhin noch entfernt scheinende Stadtmauer Kölns mit ihrem Wehrturm nun prachtvoll vor den Besucher. Im Hof angekommen zeigt sich ein kleiner Brunnen vor einem Anbau, der an die Stadtmauer angegliedert ist. An der Stadtmauer führt eine Rampe auf eine tiefere Ebene an einen weiteren historischen Anbau. Dort zeigt sich nun ein Regal, in dem sich einige Schuhe befinden: Es ist der Gebetsraum. Die dunkle und mit

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rotem Teppich ausgelegte Räumlichkeit scheint allerdings nicht wie andere mescids (Gebetsräume) zu sein. Ein besonderer Umstand gibt ihm eine sakrale Note: In die Außenwand des Raumes ragt der Fuß des Wehrturms in seiner Wölbung. Sein rustikales Backsteinmuster fügt sich scheinbar nahtlos in die spirituelle Atmosphäre, die der vornehmlich in Rot gehaltene Gebetsraum für sich beansprucht. Gegründet wird die Kale-Moschee, die eigentlich ein eingetragener Sozialverein ist (Die Welt und der Mensch e.V.), im Jahre 1999. Şefik Karagüzel, Gründer des Vereins und einer der ersten Arbeitsmigranten aus den 1960er Jahren, ist zu dieser Zeit bereits in den beiden Vorgängermoscheen aktiv: Der Ebubekir-Moschee am Neumarkt (1984 – 1986) und der Osman-ı Zinnureyn-Moschee (1986 – 1999), die am Gereonswall, also in unmittelbarer Nähe zur jetzigen Kale-Moschee, gelegen waren; es sind ihre Vorgängermoscheen. Nachdem sich beide Moscheestandorte nicht halten können, kann Karagüzel auf Empfehlung von Mitarbeitern der Stadtverwaltung ein ungenutztes Gebäude der Stadtgärtnerei, das am Wehrturm am Hansaplatz gelegen ist, für die Vereinstätigkeiten ausfindig machen. Das verwahrloste Gelände muss aufbereitet werden, damit in der als ‚Angstraum‘ bekannten Grünzone die Aktivitäten der Begegnungsstätte – denn als solche war der Verein hauptsächlich konzipiert – einsetzen können. Dass ein Raum im Tiefgeschoss des Annexʼ an den unterirdischen Sockelbereich des Wehrturms mündet, nutzt Karagüzel, um dort den für die Vereinsmitglieder notwendigen Gebetsraum zu schaffen. Denn dieser soll zugleich die fehlende Gebetsmöglichkeit in der Kölner Innenstadt auffangen. Die bauliche Revitalisierung der Anlage vollzieht sich mit Hilfe von ehrenamtlichem Engagement und Spenden von Vereinsmitgliedern und Bewohnern umliegender Quartiere. Zunächst besteht das Vereinsgebäude aus kleinteiligen Einheiten, Räumen und fliegenden Bauten.

3 Moscheebiographie Ihren Ursprung hat die Kale-Camii in der Moschee am Neumarkt, die nach dem ersten muslimischen Kalifen Ebubekir benannt wurde. Hier wird sie 1983 von Migranten, die in der Innenstadt leben, am Marsilstein 9 – 13 an der Ost-WestErschließungsachse der Stadt Köln in Innenhof-Räumlichkeiten gegründet und stellte damit eine zweite Innenstadtmoschee neben der Barbarossa-Moschee dar. Die leerstehenden Garagen, die zu einem Anbau führten (sogenannte ‚Hinterlandbebauung‘) und relativ günstig angemietet werden konnten, wurden als Gebets- und Sozialräume genutzt und deckten vor allem den Bedarf für das Freitagsgebet. Sie standen den Bewohnern, Arbeitern des Ford-Werks und anderen sowie Angestellten und Händlern (etwa des Karstadt-Kaufhauses) aus der In-

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nenstadt zur Verfügung. Aufgrund des großen Bedarfs zum Freitagsgebet war der angedachte Gebetsraum so überfüllt, dass sogar der Innenhof als Gebetsstätte genutzt werden musste. Weil die Räume in den Garagen besonders groß waren, konnten neben Arabisch- und Koran- sowie Karatekursen noch Ringertrainings angeboten werden. Mit dem Aufkommen von Raumangeboten am Gereonswall wurde die Moschee allerdings rasch geschlossen und der Umzug zu den größeren Räumlichkeiten in der Innenstadt, die sich in relativ naher Umgebung befanden, realisiert. Die heute als Elektrofachgeschäft eines Migranten bestehenden Räumlichkeiten im Gereonswall 99 dienten 1985 der Gemeinde als neue Moschee, wobei sich die IGMG beim Aufbau engagierte. Die Moschee erhält den Namen Osman-ı Zinnureyn (arab. ‚Osman, Besitzer des zweifachen Glanzes‘) und bleibt trotz des erhöhten Engagements der IGMG von der Gemeindestruktur her so heterogen wie die Vorgängermoschee. Şefik Karagüzel, der bereits 1958 erstmals nach Deutschland migriert und im Zuge der Arbeitsmigration 1961 für eine Schweißer-Lehre endgültig nach Deutschland auswandert, wird in den Vorstand gewählt. Für den 1935 in Trabzon (Schwarzmeergebiet) Geborenen ist die Vorstandstätigkeit nichts Neues. Schon als Ford-Arbeiter kann er 1963 in den Werken die Etablierung eines mescids bemühen und umsetzen. Aufgrund seiner interkulturellen und sprachlichen Kompetenzen kann er auch später in Heimen als Interessensvertreter und Vermittler auftreten und setzt sich auch aktuell verschiedentlich für die Interessen von Migranten ein. Geschlossen wird die Moschee am Gereonswall nach zwölf Jahren Nutzung im Jahre 1998, nachdem sich gemeindeinterne Konflikte zwischen den Moscheemitgliedern häufen. Grund für die Konflikte sind Zweckentfremdungen der Räumlichkeiten, sodass nach der Schließung Karagüzel als letzter Vorstandsvorsitzender versucht, auf dem schwierigen Immobilienmarkt der Innenstadt neue Räumlichkeiten für die Gemeinde zu finden. Zwar konnten tatsächlich immer wieder geeignete Räumlichkeiten gefunden werden, doch mussten diese schnell auch wieder verlassen werden. Verkehrslärm und erhöhtes Menschenaufkommen im Innenstadtquartier erschwerten die Gebete und Moscheeaktivitäten. Auf der anderen Seite beschwerten sich Quartiersbewohner, weil sie sich durch das hohe Besucher- und Verkehrsaufkommen beim Freitagsgebet und zu anderen Anlässen gestört fühlten. Daher musste die Gemeinde permanent ihre Räumlichkeiten wechseln, sodass die Schließung der Moschee am Gereonswall im Jahre 1998 eine sechsjährige Wanderschaft der Gemeinde in je unterschiedlichen Räumlichkeiten in der Innenstadt zu Folge hatte und die Gemeinde auch immer wieder auf andere Moscheen ausweichen musste. Karagüzels Anliegen, Räume für die Stabilisierung der Gemeindeaktivitäten zu finden, war im Jahre 2004 von Erfolg gekrönt. Nachdem er sich an Bekannte bei der Stadtverwaltung Köln gewandt hatte, erhielt er schließlich einen Hinweis auf

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eine leerstehende städtische Anlage im Hansapark. Am dortigen Wehrturm an der historischen Stadtmauer wurde in den 1950er Jahren eine Fläche samt Anbau für die Tätigkeiten der Stadtgärtnerei angelegt (Initiative Stadtoasen 2016, 5), die nun ungenutzt war. Aufgrund der räumlichen Gegebenheiten betrachtete Karagüzel die verwahrloste Anlage für die Gemeindebedürfnisse als geeignet. So konnten nach einer langen Zeit des permanenten Raumwechsels und der ‚Wanderschaft‘ innerhalb des Stadtgebietes am 15.4. 2004 dauerhaft Räumlichkeiten bei dem städtischen Amt für Gebäudewirtschaft angemietet werden. Die unmittelbare Nähe des bestehenden Objekts und die Mitnutzung eines Teilbereichs der Stadtmauer machten aber die Involvierung des Amtes für Denkmalpflege erforderlich. Der desaströse Zustand des Objekts (verschütteter, teilweise unterirdischer Raum; heruntergekommener historischer Annex an der Stadtmauer) erforderte allerdings immense Sanierungsmaßnahmen, die die persönlichen und wirtschaftlichen Kapazitäten der Gemeinde herausforderten und insgesamt über drei Jahre andauern sollten (Abb. 2– 4). Die Gemeinde war zwar vornehmlich an der Etablierung eines Gebetsraums samt Unterbringung eines dauerhaft angestellten Imams interessiert, die Anmietung der Räumlichkeiten sollte aber aufgrund des sozialarbeiterischen Engagements Karagüzels weniger als Moschee, sondern als Sozialverein und interkulturelle Begegnungsstätte verwirklicht werden. Die sozial problematische Situiertheit der Anlage eröffnete nicht nur der Gemeinde einen sozialen und spirituellen Entfaltungsraum, sondern sie bot den sozial Bedürftigen in der Umgebung auch einen Ort mit Schutz- und Beratungsmöglichkeit. Da die Gemeinde sich keinem Dachverband unterordnen wollte, gestaltete sich das Finden eines Imams am Anfang schwierig.² Letztendlich wurde der Imam Fahri Özcan, der sich von Anfang an in den gesamten Raumfindungsprozess einbrachte, neben seinem Engagement für mehrere Moscheen im Großraum Köln auch für die Gemeinde des neu gegründeten Vereins aktiv. Nach mehrjähriger Aktivität wurde das Mietverhältnis mit der Kale-Moschee 2017 von städtischer Seite aus gekündigt. Die stillgelegte bauliche Anlage der ehemaligen städtischen Gärtnerei, wo sich die Kale-Moschee im urbanen Raum verwurzelt hatte, wurde zwischenzeitlich fast restlos abgerissen und der Hansapark erneut als städtische Dunkelzone seinem Schicksal überlassen.

 Dies ist ein generelles Problem der sich autark, also ohne Zutun von Dachverbänden organisierenden Moscheegemeinden. Die Religionsgemeinschaft der DITIB garantiert beim Eintritt in die Dachorganisation eine dauerhafte Bereitstellung eines Imams und erhält als Gegenleistung ggf. die Liegenschaft mit einer Überschreibung der Besitzverhältnisse des bis dato autark organsierten Moscheevereins.

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Abb. 2: Erstsanierung bei Bezug (2004; Foto: Şefik Karagüzel).

4 Städtebauliche Verortung Die Kale-Moschee befindet sich am Hansaplatz, der in der Innenstadt, genauer im Bezirk Altstadt-Nord gelegen ist. Vornehmlich als Grünfläche angelegt, wird der westlich vom Klingelpützpark situierte Platz häufig auch als „Appendix“ (Initiative Stadtoasen 2016, 6) des inneren Grüngürtels der Stadt Köln bezeichnet. Das Stadtareal um den Platz herum bildet heute ein Zentrum für Kultur und Bildung. Zentraler Bestandteil des Stadtareals ist ein städtisches Modellprojekt, das in einer Zusammenarbeit der Stadt Köln mit den Montag Stiftungen Bonn entwickelt wird. Durch die Involvierung von bildungsinstitutionellen und jugendhelferischen Akteuren in architektonisch-städtebauliche und organisatorische Maßnahmen wird das Stadtquartier in die Bildungslandschaft Altstadt-Nord umgewandelt. Im Zuge des Projekts ergibt sich ein Verbund zwischen den Schulen, der durch städteräumlich-architektonische Organisationsmaßnahmen zur Verbesserung der Lern- und Bildungsbedingungen der Schüler beitragen soll. Für Lars Niemann, der das Projekt städtebaulich untersucht hat, ist es

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Abb. 3: Freilegung und Sanierung der historischen Mauer bei Erstbezug (2004; Foto: Şefik Karagüzel). [d]ie Kombination dieser beiden Entwicklungsstränge – Raum und Pädagogik – im Verbund von Einrichtungen der Schule und Jugendhilfe, [… die] das Projekt zu einem besonderen Vorhaben [macht], welches in diesem Maße in Deutschland bisher fast einmalig ist. (Niemann 2014, 73)

Im Einzugsgebiet des Projekts Bildungslandschaft Altstadt Nord, in welche die Kale-Moschee durch ihren Standort im Hansapark unmittelbar eingebunden ist, befinden sich auch international agierende Sprach- (Carl Duisberg Centre Cologne) und private Hochschulen (Europa Fachhochschule Fresenius Hochschule für Wirtschaft und Medien). Zu ergänzen in dieser städtebaulichen Verortung der Kale-Moschee ist der Mediapark Köln,³ nordwestlich des Hansaparks gelegen, der mit dem nördlich umschließenden August-Sander-Park über eine eng angebundene Grünfläche verfügt.

 In den Gebäuden des Mediaparks sind diverse Branchen, Forschungsinstitute und unter anderem auch ein Kino untergebracht.

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Abb. 4: Fertiger Gebetsbereich im Untergeschoss mit Blick auf die historische Stadtmauer (2017, Foto: Mehmet Bayrak).

Setzt man die städtebauliche Verortung der Kale-Moschee fort, ist zur Beschreibung des Quartiers noch zu sagen, dass der Hansapark vom Mediapark durch die fünfspurige Hauptverkehrsstraße des Hansarings (Kölner innerstädtischer Verkehrsring) getrennt wird. Weitaus zentraler ist die Trennung des Hansaplatzes vom Klingelpützpark durch den bis heute erhaltenen Teil der mittelalterlichen Stadtmauer (1180 n.Chr., vgl. Stadt Köln 1.7.1980). An dieser Stadtmauer sind noch zwei Türme erhalten: ein „[s]üdlicher, privat genutzter Halbrundturm“ (Stottrop und Conoci 2007, 4) und ein nördlicher Halbrundturm, der „gegen 1400 stadtseitig als Mühlenturm vorgebaut [wurde]“ (Niemann 2014, 82), als sogenannte Gereonsmühle. Genau vor dem nördlichen Turm befindet sich die 632,58 m² große Liegenschaft der Kale-Moschee. Im nördlich gelegen Wehrturm, also der Gereonsmühle selbst, ist ein katholischer Jugendverband (Katholische Studierende Jugend, KSJ) untergebracht, dessen Eingang rückseitig zur Kale-Moschee im Turm selbst gelegen ist. Der zäsierende Hansaring ist nördlich durch die städtebauliche Kante einer geschlossenen Baureihe und südlich durch den Hansaplatz samt parallel verlaufender Stadtmauerkante eingefasst.

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Der Hansaplatz an sich ist eine rechteckige Grünfläche von ca. 1,3 Hektar. Planerisch angelegt wurde er vom Stadtbaumeister Joseph Stübben, wobei Adolf Kowallek die Weiterführung übernahm (Initiative Stadtoasen 2016). Bis in die Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts etablierte sich dort ein neues Kunstgewerbemuseum mit dem Namen ‚Schnütgen‘, wobei alle Museumsbauten am Hansaplatz von Franz Brantzky entworfen wurden. In Köln war damit am Hansaplatz ein beeindruckendes Museumsquartier entstanden, das im Zweiten Weltkrieg zerstört worden ist. An der Mauer, die ihn stadteinwärts vom Klingelpützpark trennt, verläuft stadtauswärts der ehemalige Mauergraben. Diese schon damals herabgesetzt angelegte Fläche erstreckt sich in ihrer Länge von einem Turm zum anderen. Auf dieser Fläche befinden sich zwei hintereinanderliegende, längs an der Mauer ausgerichtete Sportplätze, die wegen fehlender Erschließungen gering genutzt werden und entsprechend verwahrlost erscheinen (Abb. 5). Der Sportplatz ist von der restlichen Grünfläche an seiner Längsseite, die in Richtung des Parks zeigt, durch eine Stützmauer getrennt, wobei der Hansaplatz westlich von der Straße Am Klümpchenshof begrenzt wird. Der Eintritt von dort in die Grünfläche wird durch eine Erschließung ermöglicht, die an dieser Stützmauer ansetzt. Die Erschließung selbst verläuft entlang der Stützmauer, einmal durch den gesamten Hansapark hindurch und kreuzt das Einfahrtstor der Kale-Moschee. An dieser Kreuzung erstreckt sich die Quererschließung (senkrecht) westlich bis auf den Hansaring hin. Sie bildet damit eine direkte Wegeführung vom Hansaring auf die Anlage der Kale-Moschee.Vor dem Eingang der Kale-Moschee, genauer jeweils am Anfang und Ende der beschrieben Quererschließung, befinden sich zwei durch eine Zwingermauer eingefriedete halbrunde Terrassen am äußeren Zwinger der Stadtmaueranlage. In diesen Flächen sind jeweils Tischtennisplatten aus Stein angelegt. Das Stadtmobiliar darin in Form einer Sitzbank und Tischen ist stark beschädigt. Den Rest des sichtbaren Parks bildet eine von Trampelpfaden durchzogene Grünfläche. Unter der Grünfläche befindet sich eine städtische Sporthalle (Hansaring 56), die von den umliegenden Bildungseinrichtungen genutzt wird. Andere innenstädtische Moscheen sind lediglich die Hoca Ahmed YeseviMoschee der Union der Türkisch Islamischen Kulturvereine in Europa e.V. (ATIB) und die spontan genutzte mescid an der Roonstraße, die den Bedarf der Gemeinde nach der Auflösung der Barbarossa-Moschee zu kompensieren versucht. Die nordöstlich gelegene Weidengasse als interkulturelle Meile mit ihrer internationalen Gastronomie und anderen Kleinhändlern lässt sich vom Hansaplatz aus fußläufig über den Hansaring oder den Gereonswall erreichen. Verkehrsmäßig ist der Hansaplatz aufgrund der unmittelbaren Lage am Kölner Verkehrsring (Bereich Hansaring) sehr gut erschlossen, da dieser als

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Abb. 5: Ansicht auf den anliegenden öffentlichen Bolzplatz (2017, Foto: Mehmet Bayrak).

Hauptverkehrsstraße fungiert. Die S-Bahn Haltestelle Hansaring, die lediglich eine Haltestelle vom Kölner Hauptbahnhof entfernt ist, ist ebenfalls fußläufig zu erreichen. Ehrenfeld und Nippes sind die nächstgelegenen Stadtteile. Trotz seiner zentralen innenstädtischen Lage ist der Hansaplatz eine Dunkelzone und wird ähnlich wie der Ebertplatz nach wie vor als städtischer ‚Angstraum‘ Kölns verhandelt (vgl. (Baumanns et al. 2016; Stinauer 2005). Dabei ergibt sich die Abgeschirmtheit des Hansarings und des Hansaplatzes, die diese Bewertung veranlasst, besonders durch die städtebauliche Komposition in Verbindung mit der gegebenen Sozial- und Nutzungsstruktur. Die Sozial- und Nutzungsstruktur konstituiert sich entlang von Dienstleistungssektor, Kleingewerbe und Medien-, Bildungs- sowie Kulturzentren. Da sich die Kernzeiten der Nutzung dieser Akteure vom Vormittag bis in die frühen Abendstunden erstrecken, ist der Stadtteil dementsprechend in den späten Stunden inaktiv. Nur der Hauptverkehrsring als Erschließungsader bleibt durch den innenstädtischen Straßenverkehr stark frequentiert. Auch die vornehmlich durch Dienstleister genutzte geschlossene Baureihe gegenüber der Kale-Moschee trägt dazu bei, dass der Hansaplatz als eine Dunkelzone wahrgenommen wird. Die vorhandene Sozial- und Nutzungsstruktur des Quartiers entzieht ihm durch ihre Inaktivität in den Abendstunden soziale Aufmerksamkeit, die zum Beispiel im Falle einer bestehenden Wohnreihe stärker gegeben wäre. Die fehlende Parkund Denkmalbeleuchtung führt ebenfalls zu der vornehmlichen abendlichen

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Nutzung des Parks durch Drogenkonsumenten, Obdachlose und andere sozial Schwache, die hier abseits der städtischen Aufmerksamkeit verweilen können. Der Hansaplatz ist zäsiert durch den fünfspurigen Hansaring, die historische Stadtmauer und den davon rückseitig gelegenen Klingelpützpark, an den sich südlich eine städtische Hauptschule anschließt. Park und Schule stellen so eine deutliche Pufferzone zur Innenstadt dar. Dabei ist der Hansaring nicht nur deshalb besonders zäsierend, weil er aus einem fünfspurigen Fahrstreifen besteht, sondern auch weil eine neun Meter breite Parkzone mittig angelegt ist. All das trägt zur Einschätzung des Hansaparks als abgeschiedene, ja abgeschnittene städtische Grünfläche bei. In Anbetracht des Masterplans für Köln, der für die Grüngürtel die „Vermeidung von Angsträumen und die Schaffung offener und durchlässiger Räume“ (Denkel et al. 2010, 85) vorsieht, stellt der Hansaplatz ein städtisches Defizit dar, in dem die Kale-Moschee unscheinbar, aber umso effizienter wirkt. Die Analyse wird die städtebaulichen Charakteristika und damit die Rolle und Funktion des Vereins für die Stadt nochmal deutlich hervorheben.

5 Vereins- und Gemeindestruktur sowie Finanzierung Gegründet wird der Verein von Karagüzel am 21. Dezember 1997 als ‚Die Welt und der Mensch – Migranten-Integrationszentrum, Multikulturelle Sozialarbeit e.V.‘. Zur Gründungszeit besteht er aus fünf Fördermitgliedern und drei Ehrenamtlichen. Anfänglich noch durch städtische Unterstützung gefördert, wird der Verein durch Mitgliedsbeiträge und Einnahmen aus Veranstaltungen finanziert. Die anderweitige Finanzierung der baulichen Aufbereitung wurde durch Spenden ermöglicht, die in Form von Geld- aber auch Sachspenden besonders von Migrant: innen geleistet wurden. Um ein Beispiel zu geben: Die Zeltüberdachung der Teestube war eine konkrete Spende eines vereinsunabhängigen Geschäftsmannes.⁴ Wenige Jahre nach der Gründungsphase wurde der Verein in Hand in Hand e.V. umbenannt. Eingebunden in den Unterhalt des Vereins samt Anlage sind etwa 200 Personen. Besonders der Imam der Mevlana-Moschee, Fahri Özcan, engagiert sich anfänglich sowohl in der Planungsphase der Anlage als auch ehrenamtlich als Imam und Ansprechpartner in zahlreichen Belangen. Der Imam der Kale-Moschee wechselt unentwegt, da die dauerhafte Beschäftigung eines  Dieser möchte namentlich nicht genannt werden.

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Vorbeters nicht finanziert werden kann. Dieses Problem löst sich später: Während anfangs noch ehrenamtlich tätige und permanent wechselnde Imame für die Gemeindemitglieder in verschiedenen Funktionen (etwa für die islamische Trauung) aktiv sind, wird schließlich der verrentete Imam Nuri in der späteren Phase für etwa fünf bis sechs Jahre für den Verein (2011/2012 – 2017) aktiv. Ein ehrenamtlich engagierter Architekturstudent⁵ übernimmt die notwendigen planerischen Aufgaben im Zusammenhang mit der Etablierung des Vereins auf dem Gelände, wie zum Beispiel die Erstellung einer Bauaufnahme. Zwar wird eine Bauaufnahme erstellt, doch ein notwendiger Bauantrag für die Nutzungsänderung wird bei der Stadt Köln bis dato nicht eingereicht – ein Umstand, der der Moschee dreizehn Jahren später zum Verhängnis wird (siehe unten). Die soziale Struktur des Hansaplatzes sorgt anfänglich dafür, dass allerlei Schwierigkeiten vor Ort auftreten, da Drogenkonsumenten und andere sozial Schwache die Räumlichkeiten frequentieren und teilweise rücksichtslos beschädigen, weshalb anfänglich Polizei und Ordnungsamt die Anlage häufig aufsuchen. Zu den anderen Besucher:innen des Vereins gehören insbesondere muslimische Schüler:innen der anliegenden Schulen, aber auch Schüler:innen der Sprachschule, Sporttreibende an den Sportplätzen sowie Freizeitbesucher des Pantaleonparks und des Parks am Hansaplatz gehören zur Klientel, die den Verein ständig für je unterschiedliche Belange (Sozialarbeit, Gebet, soziale Unterhaltung und Austausch) aufsucht. Die innenstädtische Lage des Vereins führt zu vielen Kooperationen und Zusammenarbeiten, die sich bis in städtische Randbezirke Kölns, wie dem Porzer Verein für Migration, Solidaritätsbund der Migranten e.V., erstrecken. Die Interaktionen haben dahingehend ein besonders ausgeprägtes Ausmaß im städtischen Gefüge angenommen. So finden auch andere Kooperationen wie zum Beispiel mit der Hilfsorganisation Weltweiter Einsatz für Arme (WEFA) e.V. statt, mit der gemeinsam Essen für Hilfebedürftige angeboten werden kann. Auch für viele Flüchtlinge sind Karagüzel und die ehrenamtlich aktiven Vereinsmitglieder Ombudspersonen. Dabei erweist sich als zentraler Grund für das Aufsuchen der KaleMoschee der Wunsch zahlreicher Besucher nach der Herstellung von sozialen Kontakten; ein Charakteristikum der Moschee, das ihrem Selbstbild als interkulturelle Begegnungsstätte entspricht. Wegen der zahlreichen Drogenkonsumenten vor Ort nutzen viele der Betroffenen die Örtlichkeiten der Kale-Moschee auch zu gemeinsamen Treffen, so dass unter ihnen auch Selbsthilfe sowohl bei psychischen, aber auch anderen Problemen stattfinden kann. Häufig nutzen Obdachlose auch die Möglichkeit, in der

 Der deutsche Student möchte namentlich nicht genannt werden.

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Kale-Moschee zu speisen, sofern auch jenseits der großen Veranstaltungen mit Essensausgaben Mahlzeiten zubereitet werden. Im Ramadan ist dies durchgehend der Fall, während außerhalb des Fastenmonats der Muslime dies bedarfsweise vorkommt. Das iftar (Fastenbrechen) findet in der gemeinsamen Zeltüberdachung im Hof statt (zuvor im Hof selbst, bei selbst aufgebauten Sitzmöglichkeiten wie Bänken). Neben dieser Armenküche besuchen Betroffene die Kale-Moschee auch aufgrund der Möglichkeit des Übernachtens oder des zeitweisen Verweilens in beheizten und geschützten Wohnräumlichkeiten. Zeitweise werden auch Nachhilfe-, Arabisch- sowie Koranrezitationskurse in der Kale-Moschee angeboten, die von Kindern und Jugendlichen sporadisch in Anspruch genommen und durch den Imam sowie andere Ehrenamtliche durchgeführt werden. Das Angebot von spezifischen Kursen führt dazu, dass sich die islamischen Dachverbände VIKZ und IGMG darin involvieren wollen, zumal sich diese auf derartige Bildungsangebote spezialisiert hatten. Aufgrund der strengen Anforderungen und Unstimmigkeiten in einigen Organisations- wie Gestaltungsfragen wird diese Zusammenarbeit allerdings relativ schnell ausgesetzt.⁶ Eine andere Gelegenheit zur Zusammenarbeit mit organisierten muslimischen Gemeinden ergibt sich, als 2013 durch eine sufistische Gemeinde ein Engagement an die Kale-Moschee herangetragen wurde: Sie diente von da an unter Führung von Scheich Eşref Efendi (islamische Autoritätsperson und muslimischer Gelehrter) mystisch orientierten Muslimen als Sufi-Zentrum (Abb. 6). Im Rahmen jener Zusammenarbeit, die sich durch das Interesse an der besonderen Atmosphäre des Gebetsraums mit dem sichtbaren Teil des Wehrturms ergibt, kommt es zu einer Verbesserung des Raums dahingehend, dass eine elektrische Fußbodenheizung verlegt und gemeinsames Speisen mit Persönlichkeiten aus Öffentlichkeit und Politik stattfinden konnten. Interessant für ein Verständnis der sozialen Struktur des Vereins ist der Umgang mit der Regulierung des Zugangs zur Kale-Moschee. Ähnlich der ersten ‚Hinterhofmoscheen‘ wird der zentrale Schlüssel unter die Fußmatte gelegt und die Toreinfahrt steht stets offen. Die ent-institutionalisierte und ent-organisierte Struktur des Vereins, die maßgeblich darauf zurückzuführen ist, dass die Verantwortlichen im Verein über begrenzte projektorganisatorische Fähigkeiten verfügen, führt jedoch auch zu Defiziten in der Berücksichtigung rechtlicher wie anderer vereinsnotwendiger Regularien. Positiv sorgt die flache soziale Hierarchisierung, die sich im Umgang mit dem Eingangsschlüssel versinnbildlicht, für

 Karagüzel selbst spricht von teilweise zu strengen Bestimmungen durch die Lehrkräfte der Verbände, Bayrak (17. 8. 2017).

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Abb. 6: Gemeinschaftsveranstaltung mit einem sufistischen Verein (2013; Foto: Şefik Karagüzel).

Transparenz im Hinblick auf die Tätigkeiten des Vereins vor Ort. Alles ist von jedem begutachtbar. Trotz der begrenzten Organisationskapazitäten kann sich der Verein an seinem jetzigen Standort besonders auch durch die geringe Miete erhalten. Der Mietspiegel der an sich schon teuren Innenstadtlage ist entlang der Kölner Ringe noch einmal besonders erhöht. Demgegenüber ist die von der KaleMoschee entrichtete Kaltmiete von 350 Euro sehr niedrig angesetzt. Aufgrund dieser niedrigen Miethöhe weiß der Vorstand um den prekären Status des aktuellen Vereinsstandortes. Deswegen äußert Karagüzel den Wunsch nach einer langfristigen Pachtung des Objekts, da nur so das Fortbestehen des Vereins in der aktuellen Lage gesichert werden könne: Ich war nicht klug genug und habe mich mit einem Mietvertrag abgegeben. Mit der heutigen Auffassung kämpfe ich gegen einen Mietvertrag. Mal sehen, ob ich den Vertrag in einen 99jährigen Pachtvertrag umwandeln kann. (Karagüzel 27. 3. 2016)

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6 Architektur Die Anlage der Kale-Moschee besteht aus drei Elementen: zunächst dem nördlich der Anlage gelegenen Wehrturm, dessen Front allenfalls in ihrer äußeren Sichtbarkeit ein Element der Anlage, nicht aber einen konstitutiven Raum darstellt; dann dem feldseitig in den Hansapark verlaufenden, senkrecht zum Turm gelegenen Annex, der als Stadtgärtnerei fungiert; drittens einem eingeschossigen, Tförmigem Nachkriegsbau, der mit seiner längeren Nordseite unmittelbar an den Annex des Turms anschließt. Mit dem Zaun, der sich gegenüber dem Nachkriegsbau aus den 1950er Jahren befindet, wird die Hoffläche gerahmt, die mit der Eingangspforte erschließungsmäßig südwärts der Anlage den Eintritt in den Hansapark ermöglicht. Im Souterrain, dem Annex der Stadtmauer, befindet sich der Gebetsraum, der über eine überdachte Rampe vom Hof aus begangen werden kann, wobei die Rampe über ein grünes Stahlrohrgeländer als Absturzsicherung verfügt. Das ist zugleich der Baukörper, der mit dem Wehrturm in Verbindung mit dem Annex unter Denkmalschutz steht (Abb. 7).

Abb. 7: Hofansicht mit Blick auf Essbereich (rechts) und Vereinsräume (links) sowie die historische Wehrmauer (2017, Foto: Mehmet Bayrak).

Diese Anlagenstruktur gibt sogleich auch schon die Nutzungstendenzen vor: Während die beiden Bauten auf dem Hof Toiletten (II), Küche (III), Teestube (V) und Verwaltungsraum (I) sowie Übernachtungsraum des Imams (IV) beherbergen, schafft das Außenmobiliar das zaunseitig zum Bolzplatz hin an einem längs

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aufgestellten offenen Außenzelt situiert ist, Sitzmöglichkeiten im Freien. Von der Eingangspforte aus kann man über eine Quererschließung, die entlang eines Beets mit Maulbeerbaum und Weinreben verläuft, um den Nachkriegsbau herumgehen und in einen Werkstattraum gelangen, der das linke, obere Längsstück der T-förmigen Anlage bildet. Der Weg zu diesem Raum VII ist dabei entlang der Rückseite des Nachkriegsbaus überdacht und enthält einen Anbau in Form einer Leichtbau-Ständerwerkkonstruktion, der mit Sanitäranlagen als abdest-Bereich (türkisch ‚rituelle Waschung‘) fungiert. Im Inneren des rechteckigen Gebetsraums ist der Fuß des Wehrturms in seiner historischen Materialität sichtbar und stellt die rechte obere Ecke des Raums dar. Das mit einem begrünten Doppelstabmattenzaun aus der Zeit der Stadtgärtnerei eingefriedete Grundstück besitzt eine Gesamtfläche von 632,58 m². Die überbaute Fläche auf dem Grundstück beträgt 283,63m² (ohne befestigte Flächen) und umfasst eine prozentuale Überbauung von 44 % (0,44 GRZ). Diese Zahl der bebauten Fläche verändert sich mit dem Abbau baulicher Elemente wie dem Zelt, das sich entlang der östlichen Erschließungsachse des Hofes befand. Noch bis 2016 befand sich an der Stelle des Zelts eine provisorische errichte Baracke, die als Lernort für Schüler:innen fungiert hat. Diese Baracke wurde zu Sommerzeiten abgebaut und stattdessen eine Zeltüberdachung an derselben Stelle errichtet. Inzwischen ist auch das Zelt abgebaut worden (Abb. 8– 11). Der Hof, auf dem sich drei Bäume befinden, hat eine Kopfsteinpflasterung, die in ihren Fugen begrünt ist. Die Quererschließung durch den Hansapark wird zu Zeiten des Freitagsgebets von Besuchern der Moschee als Parkfläche genutzt, wobei der ansonsten freie Hof als PKW-Stellplatz genutzt wird. Die Anlage ist durchweg massiv erbaut. So gleicht der Annex in seiner historischen Fassadengestaltung und seiner Bausubstanz dem Wehrturm, der aus „Säulenbasalt und Tuffsteinschichten im Wechsel“ (Stadt Köln 1.7.1980) besteht. Der Nachkriegsbau besteht als Ziegel- oder Bimsmauerwerk. Der orangefarbene Anstrich setzt sich von dem historischen Appendix visuell ab. Die mit weißen Kunststofffenstern und einer Tür versehene Lochfassade wurde während der Sanierung 2004/2005 errichtet. In diesem Zuge wurden auch die im massiven Mauerwerk des Annexʼ vor dem Bezug der Moschee existierenden vier Fensterdurchbrüche mit weißen Kunststofffenstern ausgestattet, was auf die fehlende Fachkompetenz der für die Sanierung Verantwortlichen der Kale-Moschee im Umgang mit denkmalgeschützten Bauten hinweist. Die Stahltür als Zugang zum Gebetsraum ist als solche nicht durch die Sanierung verändert worden. Der Vorbereich des Eingangs zum Anbau ist mit einer aus dem Flachdach entwickelten Überdachung vor Witterung geschützt. Sowohl der ebenerdig zugängliche eingeschossige Anbau als auch der durch eine Rampe erschlossene Gebetsraum in der Tiefparterre sind barrierefrei zugänglich (Abb. 12). Die Innenwände der mescid

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Abb. 8 – 11: Ansichten von außen auf die Kale-Moschee (2013 – 2017) Fotos: Mehmet Bayrak.

und der Teestube (IV) sind im Sockelbereich vertäfelt, wobei die Resthöhe mit weiß gestrichener Raufasertapete bespielt ist. Die in der Grundsubstanz des Nachkriegsbaus zentral gelegene Nasszelle (II) dient als Sanitärbereich für Damen. Die Wasseranschlüsse dieser Nasszelle wurden für den rückwärtigen abdestBereich, also das Waschritual, genutzt, sodass dieser gesamte Bereich für die Herren reserviert ist. Die Waschbecken sind hier zur typischen Erleichterung des abdest auf einer unüblichen Tiefe an der Wand entlang montiert. Die Gesamtanlage verfügt insgesamt über 12 geschlossene Räume.⁷ Hierbei verteilt sich die Größe auf die Räume wie folgt: Windfang 3,80 m², mit 119,00 m² großem Gebetsraum im Annex, der Teestube mit 17,00m², der Küche mit 8,20m², den Damen WCs mit gesamt 3,14 m², Herren WC/Waschbereich von 11,20 m², den Fluren mit 10,80 m², Büroraum von 10,69 m², Schlafraum/Bibliothek mit 12,20 m² und der rückwertigen Garage samt Abstellraum über 19,88 m². So ergibt sich eine Ge-

 Die Anzahl der geschlossenen Räume ergibt sich aus der Zeit der Bestandsaufnahme (Dezember 2016).

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samtnutzfläche von 215,91m². Der Gebetsraum hat eine lichte Höhe von 2,45m. Die lichten Höhen für alle anderen Räume betragen 2,54 m.

Abb. 12: Rampe als Zugang zum Gebetsbereich im Untergeschoss (2017, Foto: Mehmet Bayrak).

Die lange Spannweite der Decken an der weitesten Stelle bemessen beträgt 10,21 m. Diese ermöglicht eine nahezu nahtlose Aneinanderreihung von fünfzehn Personen nebeneinander und sechs Reihen hintereinander für das Freitagsgebet. Lediglich zwei konstruktiv erforderliche mittig stehende Rechteckstützen und die nicht absolut orthogonale Anlage des Gebetsraumes schränkt die der Raumgröße entsprechende Auslastung ein. Die sichtbaren Unterzüge streben in Richtung der Gebetsreihen und damit parallel zur qibla-Wand, die die Gebetsrichtung anzeigt. Über das Jahr verteilt ergeben sich bei der Kale-Moschee verschiedene Nutzungsaufteilungen der Räumlichkeiten, die je nach Bedarf variieren. Aufgrund der mehrfachen Wechsel des Nutzungsprofils einzelner Räume ist es schwierig, einen Nutzungsschwerpunkt für die einzelnen Räume und damit für die gesamte Anlage festzumachen.

7 Detailanalyse Die Kale-Moschee ist als architektonisch-soziales Gefüge durch die beiden Charakteristika Flexibilität und Reversibilität mit variablem Schnelligkeitsindex gekennzeichnet, der sich durch die akkomodative räumliche Aneignungsstrategie

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eines denkmalgeschützten Anbaus einer historischen Stadtmauer ergibt. Dabei übernimmt sie die Funktion einer Imaret (osmanisch ʿimāret, ‚öffentliche Küche‘, eigentlich ‚Bauwerk‘). Diasporamoscheen mit akkomodativem Aneignungscharakter – und so auch die Kale-Moschee – sind „Geschwindigkeitsgefüge“ (Deleuze und Guattari 1992, 522– 523), die durch Reversibilität und Flexibilität ausgezeichnet sind. Damit korrespondieren sie in ihren Eigenschaften grundsätzlich mit nomadischen Architekturen (Delitz 2010b, 92), differieren in gewissen Hinsichten aber auch. Während das Nomadische den Wunsch und das Prinzip des Raumwechsels impliziert, ergibt er sich in migrantischen Zusammenhängen nur zwanghaft bzw. aus äußeren Notwendigkeiten. Dem Nomadischen liegt damit ein intrinsisches, selbstdynamisches Prinzip zugrunde, das bei Moscheen als Anpassungsarchitekturen eher extrinsischen Motivationen gleicht: Moscheen als Anpassungsarchitekturen sind damit hybride Architekturen zwischen Sesshaftem und Nomadischen. Die nachfolgende Analyse der ‚architektonischen Produktion des Sozialen‘ wird die Differenzen genauer aufzeigen. Weil bei ‚Hinterhofmoscheen‘, so wie hier bei der Kale-Moschee auch, Reversibilität und Flexibilität durch einen hohen Schnelligkeitsindex charakterisiert sind, können solche Einrichtungen auch aufgrund ihrer oftmaligen Mietsituation besonders schnell aufgelöst werden. Ganz deutlich zeigte sich das bei der Barbarossa Moschee, die trotz eines fünfzigjährigen Bestehens an ihrem Standort binnen weniger Tage vollständig aufgelöst werden konnte.

8 Flexibilität der Nutzungsstruktur und Reversibilität in der Aneignungsstrategie Reversibilität und Flexibilität der Moschee ergeben sich durch ihre jeweilige Anpassungsstrategie, die sich hier als akkomodativ beschreiben lässt. Akkomodativ ist sie deswegen, weil sie Umfunktionierungen bestehender Räumlichkeiten und hierbei zugleich Veränderungen an architektonischen Elementen vornehmen, ohne jedoch dabei den Grundriss zu ändern oder umfassende bausubstanzliche Änderungen an der bestehenden Architektur umzusetzen. Die Anpassungsstrategie zeigt sich genauer in der Umfunktionierung der Räume: Die Werkstatt, die eine Schmiede mit Kamin und Brennofen beherbergte, wurde in eine mescid umfunktioniert. Die Teestubenbaracke, die noch 2015 auf dem Hof stand, wurde in eine Kantine umfunktioniert oder als Unterhaltungsraum genutzt und hat weitere permanente Umnutzungen erfahren.

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Die Erweiterung der Gebetsfläche für die Freitagsgebete wird durch einen relativ einfachen, aber zugleich effektiven Handgriff umgesetzt. Es zieht sich entlang der Wände eine Vertäfelung. In der Teestube befindet sich konkret eine Holzvertäfelung, wahrscheinlich aus Laminat. Sie konzentriert die Blicke in Richtung des Bodens, der dadurch eine stärkere optische Orientierung erfährt. Die Zentralität des Bodens für das Gebet ergibt sich in den Räumen, die als mescid angedacht sind, also durch ihre Vertäfelungen. Sitzt die Gemeinde auf dem Boden, sind ihre Blicke durch diese Vertäfelungen, die genauso hoch angelegt sind wie ihre Blickhöhe, gefasst. Das resultiert nicht nur aus der Blickhöhe, sondern im konkreten Beispiel der Kale-Moschee auch daraus, dass die Farbgebung der Vertäfelung im Kontrast zur weißen Wandfarbe steht. Dieser visuelle Umstand resultiert in einem Eindruck der Einfassung des Blicks und einem dadurch sich umgrenzt gebenden Raumeindruck. Bei den Stützen gibt sich das farblich-kontrastive Verhältnis aus dem Rot, das aus dem Teppich fortgeführt wird, und der restlichen weißen Fläche der Stützen. Sitzende Menschen finden also nicht nur einen visuellen Halt in den nun dunkleren Farben, sondern dem Raumgefühl der Einfassung. Schon Ulya Vogt-Göknil (2003, 16 – 17) hat an der Licht- und Stützenführung in historischen Moscheebauten die Hinwendung der Kräfte der Linien und Lichter in der Architektur auf den Boden hin herausgestellt. Daraus lässt sich schlussfolgern, dass die Verteilung einer materiellen Differenz auf Brüstungshöhe, die sich durch die Vertäfelung gibt, die Gemeinde fasst und sie so als Gemeinschaft im Sinne der architektonischen Produktion des Sozialen erst kokonstituiert. In der mescid selbst hält sich in diesem Zusammenhang auch eine Zonierung im Vertikalen, die die Gewichtung des Bodens in der Gebetsituation und dessen besondere Stellung nochmal hervorhebt. Das Gebetsritual besteht aus dem mehrmaligen sich Niederwerfen (arab. masǧid) auf den Boden mit Berührung des Bodens durch Stirn und Nase. Die Garderobenhaken für Jacken und damit die Jacken selbst, aber auch Bücher, die sich an der hohen Fensterbrüstung befinden, sowie andere profane Elemente wie der Spendenkasten sind stets in Entfernung zum Boden angebracht, der für das Gebet die ‚kultische Reinheit‘ gewährleisten muss. Die Dinge streben vom Boden weg und belassen ihn gegenstandslos. Die Flexibilität der Kale-Moschee ergibt sich maßgeblich durch den Hof, an dem sich mit den wechselnden Auf- und Abbauten von Zelten und Leichtbauten vielfältige Nutzungsweisen indizieren: Sitzmöglichkeit, Möglichkeiten der Essensausgabe (ʿimāret), Speisemöglichkeit, Unterrichtsfläche oder Stellplatzfläche für Personenkraftwagen. Die offene Hoffläche, die auch bei anderen Diasporamoscheen in unterschiedlichen Figurationen vorkommt, passt damit ideal zu den verschiedenen sozialen und religiösen Nutzungsanforderungen der Gemeinde. Als funktionell vielbesetzte und Ausweichfläche stellt sie ein grundlegendes Charakteristikum der Anlage dar.

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Insbesondere das Mobiliar im mescid beeindruckt mit seiner flexiblen und reversiblen Aufmachung. Die Maßstäblichkeit der einzelnen Elemente ist an die Tragkonstruktionen des Raums wie beispielsweise die Stützen und Unterzüge angepasst. Beim miḥrāb (Gebetsnische) handelt es sich so um einen Vorbaumiḥrāb aus rotem Holz, der an die bauliche Struktur in der mescid angepasst ist, weshalb er an seiner Spitze entlang des Unterzugaufbaus geschnitten wurde (Abb. 13). Die Breite der kürsi (türkisch; arabisch kursī, erhöhter ‚Predigtstuhl‘) orientiert sich ebenfalls an der Stütze, an der sie sich befindet. Die Bi-Direktionalität zwischen bestehender Architektur und der Tragekonstruktion ergibt im Gegensatz zur Gesamtanpassungsstrategie nicht nur eine akkomodative, sondern assimilative Angepasstheit: Das Mobiliar passt sich nahtlos an, ‚verschmilzt‘ mit der Wand. Die Beziehung lässt das Vorgegebene intakt und das Anpasssungselement als zu verändernde Zukünftigkeit für eine potentielle Wiedermitnahme zurück. Wie mobil sich die Anpassungsarchitekturen der Diasporamoscheen geben, wird an diesem Umstand also deutlich: Es sind Artefakte, die aus der Vormoschee mitgenommen wurden. So wandert das Mobiliar mit der Gemeinde von Ort zu Ort (Abb. 14).

Abb. 13: Miḥrāb (Gebetsnische) in der Kale-Moschee (2017, Foto: Mehmet Bayrak).

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Abb. 14: Die minbar (Kanzel) aus der vorherigen Moschee wurde für die neuen Gegebenheiten der Kale-Moschee angepasst (2004; Foto: Şefik Karagüzel).

Aber auch das Mobiliar sowie die Beleuchtung wechseln permanent ihren Ort. Die Dinge in der Kale-Moschee sind in permanenter Bewegung. Bei jedem Besuch der Anlage hat sich vom kleinsten bis zum größten Artefakt nahezu alles geändert. Der Windfang, an dem die Betenden ihre Schuhe am Schuhregal ausziehen, besteht als einfacher, rückbaufähiger Holzrahmenbau, der sich leicht entfernen lässt. Die Bausubstanz des Raums bleibt so intakt. Während sich hierin eine Rücksichtnahme auf das Denkmal annehmen lässt, zeigt sich in anderen Maßnahmen ein defizitäres Verhalten. Die weniger leicht reversible Ausstattung der vier Fensterdurchbrüche mit Kunststofffenstern indiziert die Unfähigkeit der verantwortlichen Akteure (mithin der Gemeinde), auf bestimmte Anforderungen des Denkmalschutzes eingehen zu können. Die Inkompetenz, die sich hierin zeigt, ist als Mediokrität zu verstehen, die Migrantenvereine fast zwangsweise auszeichnet. Die Krux solcher selbständigen Vereine, die mit grundsätzlicher Achtung an ihre Bestandsbauten herantreten, aber dann bei der Umsetzung dieser versagen, hat mit spezifischen normativen und aus dem Migrantischen gespeisten Vorstellungen zu tun. Hier ist es der Wunsch der Gemeinde nach der Wahrung der Wärme im Gebetsraum, der scheinbar zwanghafte Lösungen ohne

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Rücksprache mit Experten mit sich zog. Nur in Rücksprache mit der Behörde oder Experten hätte eine angemessene Lösung gefunden werden können. In dieser Hinsicht stellen die eigenfinanzierten Kunststofffenster für die an sich finanziell und organisatorisch schwache Gemeinde zwar eine Leistung dar. Die Angemessenheit der Lösung bezüglich des Denkmalschutzes wird aber von den Akteuren nicht in Frage gestellt, sondern verbleibt als blinder Fleck im Wissen um den Umgang mit Bestandsbauten zurück. Finden also Maßnahmen statt, denen es an einer möglichen Reversibilität mangelt, so sind sie, zumindest im Beispiel der Kale-Moschee, zumeist nicht intendiert.

9 Städtebauliche Perspektive: Spontanitätsmoschee Die Kale-Moschee ist deshalb ein herausragendes Beispiel und der Analyse wert, weil sie in ihrem städtebaulichen Umfeld ohne stadtplanerische Steuerungselemente funktioniert. Um von hier aus zu den Charakteristika des Einzugsgebiets und der Nutzerstruktur zu kommen: Die Nutzer der Kale-Moschee als Gebetsstätte ergeben sich durch ihre städteräumliche Situation. Für Betende und Gebetsuchende ist sie dabei eine ‚Spontanitätsmoschee‘. Durch den Hauptverkehrsring, den Hansaring, und die passable Parksituation im Mittelstreifen dient die Kale-Moschee besonders für Taxifahrer, die im innenstädtischen Bereich unterwegs sind, nicht nur, aber ganz besonders am Freitag als Gebetsmöglichkeit. ‚Spontanitätsmoscheen‘ sind damit solche, deren Nutzungsverhältnis sich durch einen Einzugsbereich ergibt, an dem sich besonders wenige Anwohner, dafür aber verkehrsmäßig gut erschlossene Strukturen zeigen. Das Einzugsgebiet der Kale-Moschee involviert durch die städtisch zentrale Lage potentiell all jene, die in der innenstädtischen Sozialdynamik auf in der Nähe liegende Gebetsräume zurückgreifen müssen. Durch die immensen Pufferzonen, die der Hansaring und der Park bedingen, ist sie allerdings keine Moschee, die gemeindefremden Besuchern als besonders zugängliche Einrichtung erscheint. Es sind die Parkbesucher und diejenigen, die sich mit der Kale-Moschee als Gemeinde identifizieren, die ihr dauerhafte Klientel bilden. Zudem trägt die Kale-Moschee für die muslimischen und anderweitigen Schüler:innen der internationalen (Sprach‐)Schulen zur Profilierung Kölns dahingehend bei, dass darüber die Islamfreundlichkeit und der kosmopolitische Charakter der Stadt (vgl. Yildiz 2013) vermittelt wird. Karagüzel dazu: „Wir verschmelzen hier Kulturen“ (Karagüzel 17. 8. 2017).

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Mit Blick auf die Entstehungsumstände der Kale-Moschee ließe sie sich als Widerstandsbau verstehen, also als städtebaulich architektonisches Gefüge, das sich nicht in Korrespondenz mit stadtplanerischen Vorstellungen sieht. Der Wille der stadtverwalterischen Kontrolle über die städtischen Liegenschaften erfährt an der Kale-Moschee nämlich seine Grenzen. Ein späterer Wille der Stadtverwaltung, das Areal wieder in stadtplanerische Konzepte zu integrieren, wird nicht nur dadurch erschwert, dass die Kale-Moschee sich an ihrem Standort als integraler Bestandteil stabilisiert hat, sondern auch deshalb, weil eine mögliche Schließung einer muslimischen Einrichtung wie der Moschee ein politisch heikles Ereignis bedeuten würde. Ein kleiner Impuls einer Freundschaft hat die Niederlassung des Vereins überhaupt erst ermöglicht. Der Verein hat dadurch das Prinzip der stadtverwalterischen Ordnung, die noch jeden Quadratmeter im Sinne des Masterplans zu verwalten versucht, subvertiert. Mit dem Umstand, dass der Hansapark eine städtische Dunkelzone und damit besonders abendlicher Verweilort sozial Schwacher ist, hat dies zu einer symbiotischen Konstellation zwischen Sozialarbeiterverein bzw. gemeinnütziger Moschee und dem Umfeld sozial Benachteiligter geführt, die jedoch im Zuge von ökonomisch-kulturellen Verwertungsinteressen zu verschwinden scheint.

10 Die soziale Struktur der Moschee und ihre architektonische Produktion Die Kale-Moschee steht für jeden offen und sie will sich nicht für die anderen versperren. Diese Strategie der Offenheit der Einrichtung zeigt sich auch im Doppelstabmattenzaun: Er fungiert so als visuell durchlässige Einfriedung. Die Sozialität der Kale-Moschee ist eine transnationale und transkulturelle. Sie ist durch die Verflechtung eines transnationalen Akteursnetzwerkes gekennzeichnet. Als Symbole der Internationalität des Vereins, der sich in seinem ersten Vereinsnamen – Die Welt und der Mensch e.V. – noch global und damit sichtbar gab, wehen vier Flaggen an der Eingangspforte: die europäische, die türkische, die deutsche und die Flagge mit dem Kölner Stadtwappen, wobei die letztgenannte am höchsten gehisst ist. In dieser eindeutigen Symbolik der Flaggen zeigt der Umstand der höheren Lage der Kölner Flagge die Wichtigkeit der lokalen Identität an, die trotz der Globalität des Selbstverständnisses immer noch nach dem Lokalen hierarchisiert ist. Im Gesellschaftsraum finden sich sieben Porträts von türkischen und deutschen Staatsmännern und Staatsfrauen, die so auch die Identität des Vereins als

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mindestens bi-national charakterisiert. Eigenartigerweise weicht die KaleMoschee hier in ihrer Eigenart von anderen Moscheen ab. Während in den Teestuben der meisten Moscheen ein Hinweis zur Vermeidung politischer und mit Fußball verbundener Diskussionen zu finden ist, wird in der Kale-Moschee gerade mit Blick auf die Porträts der Staatsoberhäupter eine Politisierung durch die Bilder eingebracht. Politik ist so durchaus Bestandteil des gesellschaftlichen Austauschs im Gesellschaftsraum. Das entspricht insofern dem prophetischen Grundgedanken der Moschee als Diskussionsort, als den ihn Mohammed schon zu Lebzeiten betrachtet hatte (vgl. Korn 2012, 32).

Abb. 15: Gesellschaftsraum der Kale-Moschee (2017, Foto: Mehmet Bayrak).

Die einzelnen innenarchitektonischen Elemente verweisen ebenfalls auf eine transnationale Durchdringung der Anlage. So befindet sich in der abdesthane (ritueller Waschraum) bei einer der Toiletten ein in der Türkei oft noch vorzufindendes Hock-WC aus Porzellan. Ein Gartenzwerg, Inbegriff deutscher Garten-

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kultur, und der sich neben ihm befindende osmanisch-orientalische Krug, die beide am Brunnen positioniert sind, sollen die Interkulturalität symbolisieren, die der Verein in seinem Selbstverständnis mit sich trägt. Die Sozialität der Kale-Moschee zeichnet sich nicht nur durch ihre interkulturellen und transnationalen Aspekte und Selbstverständnisse aus, die sich in der Architektur und dem Raum offenbaren, sondern auch durch ihr Profil als gemeinnützige Einrichtung und der architektonischen Produktion eines solchen gemeinnützigen Sozialen. Für ihr Umfeld wirkt die Kale-Moschee durch ihre flache Hierarchie und die nahezu bedingungslose Ermöglichung der Nutzung ihrer Ressourcen. So gibt es immer wieder Anhäufungsmomente, in denen besonders viele Flüchtlinge aus unterschiedlichen Zusammenhängen sich zum Kochen, Unterhalten,Verweilen und manchmal auch zum Nächtigen dort treffen. Die kalte Jahreszeit macht die Kale-Moschee zu einem Raum, in dem ein Besuch durch sozial Schwache weniger gruppen- und mehr individualgeleitet stattfindet und macht sie zum Rückzugs- und Nächtigungsort für Obdachlose, wobei keine inflationäre (Über‐)Nutzung auszumachen ist, sondern anscheinend ein selbstdynamischer Schutzmechanismus das Überlaufen der Moschee zu verhindern scheint: so als gäbe es einen Code der Etikette für die nicht-missbräuchliche Nutzung der Kale-Moschee durch die bedürftigen Menschen. Die Moschee besteht so in einem Gefüge der sozial-selbstdynamischen Erhaltung aus Prinzipien der gegenseitigen, impliziten und ungesagten Achtung. Der Turm ist gleichzeitig ein symbolisches Schutzinstrument der Moschee. Der Denkmalschutz gewährleistet die Achtung der Umwelt. Obgleich der Turm ein Wehrturm ist, fungiert er als ein Symbol der Verteidigung, eine letzte Bastion Kölns, die dem Grundgedanken der stadtgesellschaftlichen Diversität gewidmet ist, welche das Selbstbild der Stadt Köln prägt. Auch wenn die Person Karagüzel sich selbst noch dem Türkischen als Ressource der nationalen Identität verschrieben hat, so verknüpft er die Ressource in seinem Wirken doch mit dem Prinzip der Egalität, das die Kale-Moschee als Architektur umsetzt. Jeder ist willkommen, es gibt keine sozialreglementierenden und -kontrollierenden Instanzen. Der mehrfache Verlust des Außenmobiliars wie etwa Stühlen über mehr als ein Jahrzehnt hinweg ist kein Grund, das Mobiliar auch weiterhin aus dem Zyklus des Verleihs und somit der Gemeinnützigkeit zu entfernen. Die soziale Überwachung, die die Kale-Moschee zum Schutz ihrer selbst bietet, ist eine der Selbstkontrolle, die in der Ordnung der heutigen Kontrollgesellschaft, in der der Mensch sich selbst kontrolliert (Deleuze 2017)⁸, als ein Ausnahmemodell erscheint.

 Eine eingängige Erläuterung zu dem Modell findet sich bei Janosik Herder: „Ich verstehe den

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Der Wohnwagen, den die Stadt durch Druck auf die Kale-Moschee entfernen lässt, bestand als eine multiple Reminiszenz an die Urcharakteristik des architektonischen Gefüges der Moschee: Er erinnert als eindeutigstes visuelles Element daran, dass die Kale-Moschee ein von Migranten geleiteter Verein ist und damit ein Ort, der jenseits der Ordnung der Mehrheitsgesellschaft funktioniert. Der Wohnwagen gleicht dem, was Foucault „Heterotopie“ genannt hat, weil es gleichsam wie das Schiff als „die Heterotopie par excellence“ (Foucault 2005, 942) fungiert. Damit ist gemeint, dass Räume der Bewegung wie Schiffe, Autos und Wohnwagen jenseits von Kontrolle ihre eigenen Räume verwirklichen, „Orte ohne Ort, ganz auf sich selbst angewiesen“, wodurch sie als das „größte Reservoir für die Fantasie“ (Foucault 2005, 942) wirken. Diese Charakteristika von ‚Heterotopien‘ als die ‚anderen Räume‘ einer Gesellschaft lassen sich auch für die KaleMoschee mobilisieren – Foucault nennt auch das Freudenhaus, die Kolonie sowie den Friedhof. Man kann diesen Gedanken im Verhältnis für die Kale-Moschee noch fortdenken: Der Wohnwagen ist die moderne Verwirklichung des Nomadentums, der Sesshaftigkeit in der permanenten Bewegung. Er ist nicht nur eine Erinnerung daran, dass die Gemeinde immer in Bewegung bleiben muss, sondern zugleich auch eine Mahnung an die Prekarität ihrer Niederlassung. Der Mietvertrag kann jederzeit aufgelöst werden und dann muss die Gemeinde weiterziehen. Der Wohnwagen war aber stets umgeben vom Grün des Gartens, er wurde quasi durch die Pflanzen sesshaft gemacht. Von der Initiative der Stadtoase, einem Bürgerverein, wurde der Wohnwagen als ästhetisches Defizit gewertet. In dieser Verkennung des identitätsstiftenden Charakters des Wohnwagens, den er als Symbol für die Gemeinde bildete, liegt die Verkennung der ureigenen Charakteristik der Migrationsarchitekturen, nämlich diejenige der permanenten Beweglichkeit und Bewegung der sogenannten ‚Hinterhofmoscheen‘. Dass mit seiner Entfernung eine zusätzliche Nächtigungsmöglichkeit für Obdachlose getilgt wurde, zeigt auf, dass die menschlich-solidarische Dimension einem ästhetischen Werturteil weichen musste (Abb. 16 und 17).

Unterschied zwischen beiden Gesellschaftstypen in Bezug auf die Macht vor allem in einer Verlagerung hinein ins Individuum. Die Disziplinargesellschaft versuchte stets den Einzelnen von außen zu erfassen und zu beeinflussen (mit Ge- und Verboten). Die Kontrollgesellschaft überlässt diese mühselige Arbeit vermehrt den Einzelnen selbst“ (Herder 2014).

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Abb. 16: Wohnwagen auf Freifläche (Hof, 2013, Foto: Mehmet Bayrak).

11 Religiosität: Fluktuationsverhältnis Zwischen dem, was die Bestandsbauten architektonisch bieten, und den religiösen Anforderungen der Gemeinde gibt es keine vollständige Kongruenz. Daher steht beides in einem je individuellen Fluktuationsverhältnis. Das heißt, dass die Beschaffenheit des Bestandsbaus sich im Hinblick auf die Nutzbarmachung als Moschee nur in gewissen Hinsichten eignet. Damit bedarf es beim Bezug von Bestandsimmobilien individueller Aneignungsstrategien der Gemeinde. Das dem Prinzip der Trennung zwischen Öffentlichem und Privatem zuarbeitende architektonische Konzept der ziyāda zeigt sich nicht nur in der Einfriedung der Kale-Moschee durch den Doppelstabmattenzaun, ja sogar durch den Hansapark, sondern auch durch die Tiefenlage des mescid. Unter ziyāda wird hierbei im Islamischen die Pufferzone verstanden, die sich zwischen der Außenfassade der Moschee und einer äußeren Einfriedung ergibt. Die Niveaudifferenz erhöht nämlich die Distanz zum öffentlichen Bereich der Anlage. Der Anbau hat einen Ebenenversprung, sodass dieser um 1,22 Meter tiefer liegt als der gewachsene Boden im Hofbereich der Gesamtanlage. Während in einer Vielzahl

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Abb. 17: Bedarfsabhängige Umnutzung derselben Freifläche (2017, Foto: Mehmet Bayrak).

traditioneller Moscheebauten die Distanz zum Öffentlichen in der Horizontalen durch Pufferzonen umgesetzt wird, wird in der Diaspora die Distanz zum öffentlichen Raum oftmals durch Höhenunterschiede, also im Vertikalen hergestellt. So zeigt die generelle axiale Distanz in Verbindung mit dem Wechsel von Raumeindrücken den Intensitätsgrad der räumlichen Getrenntheit zwischen mescid und öffentlichem Raum an. Bei der Kale-Moschee liegt eine solche Raumordnung dergestalt vor, dass die qibla-Wand mit der miḥrāb (Gebetsnische) übereinstimmt. Dabei passt die Eingangssituation zum Gebetsraum. Man tritt also in den mescid so ein, dass sich die qibla-Wand auf der gegenüberliegenden Seite des Raums befindet. In solchen Figurationen zwischen Eingangsbereich und qibla-Wand ist die miḥrāb-Nische mit einer zusätzlichen Kommunikationsfunktion ausgestattet, da sie es ist, die neben den Teppichen die Gebetsrichtung anzeigt (Limon 2009, 262). Bei der Kale-Moschee ergibt sich die Gebetsrichtung zugleich durch die Markierungsfunktion im vorgeprägten Teppich (Abb. 4). Früher gab es statt der vorgeprägten Teppiche häufig noch die Kombination von Rollteppich und Fädenmarkierung. Heutzutage findet sich diese Variante nicht mehr. Durch die kommerzialisierte Herstellung von Moscheemobiliar und anderen innenarchi-

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tektonischen Elementen sind derartige Improvisationslösungen fast vollständig verschwunden. Weil Anpassungsmoscheen die Position der qibla-Wand im Verhältnis zur Eingangssituation nicht maßgeblich bestimmen können, kann die qibla-Wand mit einer Rauminnenecke zusammenfallen. Die Folge ist, dass der miḥrāb dann ebenfalls an einer Raum-Innenecke positioniert werden muss. Diese Konstellation dient dann zugleich als Indikator für den Anpassungscharakter eines mescid. Dass das keineswegs nur für moderne, sondern auch für historische Anpassungsmoscheen gilt, zeigt sich am Beispiel der Hagia Sophia, wo die miḥrāb als mobiles Einbauelement an der Apsis steht. Bei der Kale-Moschee ergibt sich eine weitere Übereinstimmung mit historischen Moscheebauten durch die schmalen hohen Fenster, samt ihrem messingfarbenen, längs verlaufenden Stahlfenstergittern, die sich mit einer hohen Brüstungshöhe koppeln. Das stellt eine Korrespondenz mit den zıvanas dar. Diese auch in historischen Bauten verarbeiteten Gitterfenster arbeiten dem Konzept der Trennung von öffentlichem und Moscheebereich zu. Während Betende in der mescid aufgrund der geringen Distanz zum Fenster und den Kontrastverhältnissen zwischen Innen und Außen herausblicken können, bleibt der Blick von außen schon bei geringer Distanz aufgrund der optischen Bedingungen des Fenstergitters verwehrt. Man kann also noch gut heraus-, aber kaum hereinblicken. In den (innen‐)architektonischen und anderen architektonischen Charakteristika der Anlage ergibt sich eine ästhetische Homogenität. Hier hilft der Begriff der Emergenz – also das Zusammentreffen einzelner Faktoren oder Elemente, die mehr ergeben als die Summe ihrer Einzelteile – die Kontingenz dieser ästhetischen Homogenität zu verstehen. Die ästhetische Homogenität muss nicht auf ein intentionales Bewusstsein der Gemeinde zurückzuführen sein, sondern entsteht mindestens aus dem Zusammenspiel der Faktoren Akzidentialität, Unbewusstheit und bewusste Entscheidung. Die ästhetische Homogenität ergibt sich in dem sonst sehr heterogenen Ensemble des Geländes durch Folgendes: Der Kopfsteinpflasterboden greift die materielle Struktur der Mauerfassade auf und korrespondiert mit dessen grauer Farblichkeit. Auch der Sockelbereich an der Rampe ist grau gefliest. Die ästhetische Homogenität des Gebetsraums erhält sich durch die Ornamentik der Tapete, die sich am Kleiderschrank am minbar (Kanzel) noch fortsetzt und sich im cübbe (Imamgewand) und dessen sarık (Turban) wiederfindet. Die Bilder an der Wand, die über eine goldfarbene Kalligraphie vor einem türkisen Hintergrund verfügen, stellen in der türkis-dominanten Farblichkeit des Bildes eine Komplementarität zu den roten Farblichkeiten des Gebetsraums insgesamt dar, die sich wiederum im Teppich, dem minbar, der kürsi (erhöhter Predigtstuhl), der Dekoration und sogar noch der Polsterung der Stühle fortsetzt.

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Beim Blick auf die Farblichkeit des Mobiliars im Innenhof zeigt sich, dass das Farbprogramm dort größtenteils weitergeführt ist: Die Tischdecke des langen Sitztischs ist rot und auch die Stühle sind rot, wobei sie sich mit farbnahen Varianten wie orange, gelb und weiß abwechseln. Die Fassade des Anbaus ist orange gestrichen. Begibt man sich jedoch in die Innenräumlichkeiten, drängt sich eine Heterogenität der Farben auf, die den Bezug zum Farbkonzept zwischen Gebetsund Außenraum nicht mehr halten kann. Die Positionierung der Spendenkiste weist auf den karitativen Sozialgedanken der Kale-Moschee hin. Sie ist nicht wie in anderen Moscheen am Eingangsbereich situiert, wo die Spendenbereitschaft durch die Zurschaustellung des Akts des Spendens motiviert werden soll, indem das Spenden für andere Mitglieder der Gemeinde beim gemeinsamen Ausgang nach dem Freitagsgebet sichtbar wird. Vielmehr ermöglicht die abseitige Position der Spendenkiste gerade die Sichtbarkeit des Spendenakts zu mindern und den zumeist im Spendenakt liegenden Sozialdruck zu tilgen. Die Gemeinde der Kale-Moschee möchte keinen räumlich geschlechtergetrennten mescid, weshalb gemeinsame Gebete durch die räumliche Trennung, nicht aber ein dezidiertes Trennungselement stattfinden. Dabei beten die Frauen gemäß den religiösen Bestimmungen hinter den Männern. Karagüzel äußert zugleich den Wunsch nach der Umsetzung einer Geschlechtertrennung im Gebetsraum, die sich durch eine Raumaufteilung via Vorhänge realisiert – so wie es bei der Mevlana-Moschee tatsächlich umgesetzt wurde (Abb. 18).

Abb. 18: Raumaufteilung durch Vorhänge in der Mevlana Moschee (Köln, 2015, Foto: Mehmet Bayrak).

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Die spirituelle Atmosphäre des Gebetsraums ergibt sich sicherlich durch ihre lichtergedämmte Situation, die aus den zur Decke hin leuchtenden Deckenleuchten resultiert. In Verbindung mit dem Mauerelement des Wehrturms wird so eine visuelle Rustikalität erzeugt. Dabei arbeiten die Leuchten durch ihre Gerichtetheit zur Decke hin der Öffnung des Raums zu, der dadurch höher erscheint, auch strahlt das Licht indirekt auf die Objekte im Raum. Die Lichter mit ihrer Hinwendung zur Decke lassen sich durch diesen Umstand auch als Instrumentalisierungen zur Erschaffung einer imaginären Kuppel verstehen. Der Turm setzt sich im Gebetsraum fort in der Imagination der Besucher:innen der Anlage. Die Anwesenheit des historischen Turmelements im Gebetsraum produziert eine „Aura“ (Benjamin 2003, 13 – 25), da durch die denkmalgeschützte Situation das Original(!)mauerwerk vorhanden ist. Mit dem Begriff „Aura“ bezieht sich Walter Benjamin auf eine präsentische Wirkkraft unreproduzierter Dinge und Objekte, also der Welt in ihrer Unmittelbarkeit. In dieser Unmittelbarkeit bestünde ihre Fähigkeit, eine Atmosphäre auszustrahlen, die den Dingen bzw. den Objekten anhaftet. Die zentrale These seines vielzitierten Aufsatzes besteht nun darin zu argumentieren, dass mit dem Aufkommen von Reproduktionstechniken (Buchdruck, Fotografie, Film) eine „Verkümmerung der Aura“ (Benjamin 2003, 13) in der Welt eingesetzt habe. Diese ästhetische Besonderheit der „Aura“ hat zur besagten Kooperation mit einer islamisch-mystischen Gemeinde geführt, die sich noch in den Fotografien zu dem Ereignis erahnen lässt (Abb. 6). Die kurzzeitige Hybridisierung der Gemeindestruktur, die durch die Beteiligung der mystisch-islamisch orientierten Gemeinde entstanden war, konnte aber weder auf organisatorischen noch anderen Ebenen gewahrt werden. Dafür spricht auch die architektonische Produktion des Sozialen der Kale-Moschee, deren offene, flexible und spontane Raumstruktur kaum mit den rigiden Organisationsformen der dezidiert dort involvierten mystischen Gemeinden korrespondieren kann (vgl. Schimmel 2014, 68 – 89).

12 Nutzungsschwerpunkt: Gefüge einer Imaret (Armenküche) Zum Schluss der qualitativen Detailanalyse lässt sich Folgendes festhalten: Die Kale-Moschee ist aufgrund ihres Nutzungsschwerpunkts eigentlich eine ʿimāret (Armenküche), auch wenn die Fremdzuschreibung aufgrund der permanenten Verfügbarkeit eines kaum intensiv genutzten Gebetsraums sie als Moschee klassifiziert. Sie fungiert wohltätig für sozial Schwache, bietet ihnen einen Platz im Alltag, Lebensmittel, Obdach und soziale Hilfe. Die Übernachtungsmöglichkeit ist

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aufgrund der räumlichen Kapazitäten begrenzt, weshalb zumeist nur ein Schlafsofa für Obdachlose in kritischem Zustand zur Verfügung gestellt ist. Allerdings befindet sich unentwegt an der Tür zum Anbau auf dem Tisch ein Strohkorb, der die Lebensmittelspende für Bedürftige bereitstellt. Die Teeküche steht allen Besucher:innen offen.

13 Fazit Die Kale-Moschee ist eine Bewegungsarchitektur. Sie transformiert sich über die Jahre unentwegt, passt sich immer wieder neuen Situationen an, sodass sie die architektonischen und materiellen Gegebenheiten vor Ort immer wieder transformiert. Aufgrund ihrer ‚Moscheebiographie‘ wird deutlich, dass sie als sozioarchitektonisches Gebilde nicht aus dem Nichts ‚gestampft‘ wurde, sondern wie die meisten anderen Moscheen der Migration eine mittelfristig gewachsene Geschichte birgt, die eine hohe historische Komplexität der Ereignisse verdeutlicht und migrationshistorische Verwicklungen mit sich trägt. Zugleich strahlt sie als ein städtischer Akteur in die Stadt hinein und übernimmt hierin integrative Funktionen. Durch ihr transkulturelles Vermögen und ihre flachen Soziohierarchien kann sie gar als eine ‚Pionierarchitektur‘ verstanden werden. So gesehen handelt es sich bei der Kale-Moschee um eine Architektur, die im Besonderen als postmigrantisch (vgl. Hill und Yildiz 2018) zu verstehen ist, weil sie nicht nur über ihre generationenübergreifende und offene Struktur Pioniercharakter trägt, die einem neuen sozialen Verständnis von urbanem Zusammenleben zuarbeitet. Sie ist zudem besonders postmigrantisch, weil sich die Kategorie der Migration durch ihre gesamte kulturelle und architektonische Struktur zieht: Sie ist eine „Transtopie“ (siehe den Beitrag von Yildiz hier im Band). Die Mikro-, Meso- und Makroanalyse, die die verschiedenen Ebenen der Architektur berücksichtigte, zeigt auf, dass der „Modus der Bewegung“ sich in sämtlichen dieser Ebenen durchhält. Wie jede andere Moschee auch birgt sie Multifunktionalitäten für ihre Gemeinde, die die Gemeindestruktur ebenso prägen wie die architektonischen Besonderheiten der Moschee selbst. Die Raum- und Lagestrukturen sowie die entsprechenden Reglements prägen die Soziodynamiken der Nutzer:innen der Moschee und das Verhältnis der Architektur zur Umwelt: Auch hier besteht eine besondere Dynamik, die sich nicht im sonst üblichen soziologischen Konzept der Segregation oder Ghettoisierung erfassen lässt – im Gegenteil: Die Analyse konnte feststellen, dass die Dynamik und hohe Anpassungsfähigkeit der Moschee sie eher als organisches Gebilde verstehen lässt, das ‚lebt‘ weil es sich wie eine lebende Zelle stets wieder erneuern und ihre Ressourcen auch selbst erzeugen muss. ‚Hinterhofmoscheen‘ sind also besondere

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autopoetische Systeme, die sich mit üblichen Analyseparametern und -designs der Architekturwissenschaft nicht angemessen erfassen lassen. Die Untersuchung versuchte über das gegebene Forschungsdesign einer künftig differenzierteren Forschung und in der Folge gar der Praxis – wie beispielsweise der Stadtplanung – produktive Impulse zu geben.

Abbildungen Abbildung 1: Blick auf Kale-Moschee von Straße (Hansaring), 2017, Foto: Mehmet Bayrak. Abbildung 2: Dachsanierung, Erstbezug, 2017, Foto: Mehmet Bayrak. Abbildung 3: Sanierung der historischen Mauer, 2017, Erstbezug, Foto: Mehmet Bayrak. Abbildung 4: Fertiger Gebetsbereich im Untergeschoss mit Blick auf die historische Stadtmauer, 2017, Foto: Mehmet Bayrak. Abbildung 5: Blick auf den anliegenden öffentlichen Bolzplatz, 2017, Foto: Mehmet Bayrak. Abbildung 6: Gemeinschaftsveranstaltung mit dem sufistischen Verein (2013), Foto: Şefik Karagüzel. Abbildung 7: Hofansicht mit Blick auf Essbereich (rechts) und Vereinsräume (links) sowie die historische Wehrmauer, 2017, Foto: Mehmet Bayrak. Abbildung 8 – 11: Ansichten von außen auf die Kale-Moschee, 2017, Fotos: Mehmet Bayrak. Abbildung 12: Rampe als Zugang Gebetsbereich im Untergeschoss, 2017, Foto: Mehmet Bayrak. Abbildung 13: Miḥrāb (Gebetsnische) in der Kale-Moschee, 2017, Foto: Mehmet Bayrak. Abbildung 14: Die minbar (Kanzel) aus der vorherigen Moschee wurde für die neuen Gegebenheiten der Kale-Moschee angepasst, 2017, Foto: Mehmet Bayrak. Abbildung 15: Gesellschaftsraum der Kale-Moschee, 2017, Foto: Mehmet Bayrak. Abbildung 16: Wohnwagen auf Freifläche (Hof), 2017, Foto: Mehmet Bayrak. Abbildung 17: Veränderte Freifläche, 2017, Foto: Mehmet Bayrak. Abbildung 18: Raumaufteilung durch Vorhänge in der Mevlana-Moschee (Köln), 2017, Foto: Mehmet Bayrak.

Quellen Baumanns, Robert, Carsten Rust und Jonny Schmitter. 7. 9. 2016. „Kölner Angst-Orte. Sind wir nachts noch sicher? Das sagen OB und Polizeipräsident“, Express. www.express.de/ koeln/koelner-angst-orte-sind-wir-nachts-noch-sicher-das-sagen-ob-undpolizeipraesident-24703394 (Abruf: 10. 5. 2021). Bauwens-Adenauer, Paul und Ulrich S. Soénius, Hg. 2010. Der Masterplan für Köln. Albert Speers Vision für die Innenstadt von Köln. Köln: Greven. Bayrak, Mehmet. 27. 3. 2016. „Interview mit Şefik Karagüzel“. Hansaplatz 6, Köln. Bayrak, Mehmet. 17. 8. 2017. „Interview mit Şefik Karagüzel“. Hansaplatz 6, Köln. Benjamin, Walter. 2003. Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Drei Studien zur Kunstsoziologie. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Die multiperspektivische Analyse von Migrationsmoscheen

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Chantal Munsch & Kathrin Herz

Blickweisen auf Moscheen im Forschungsprozess Über die Konstruktion von Forschungsergebnissen in migrationsgesellschaftlichen Kontexten Abstract: Der Beitrag reflektiert die vielfältigen Blickweisen auf Moscheen in einem ethnografischen Forschungsprozess. Empirische Grundlage ist eine Studie über Moscheen in umgenutzten Gebäuden als Räume mit vielfältigen Funktionen, Nutzungsweisen und Bedeutungen. Ausgangspunkt der Argumentation ist ein konstruktivistisches und reflexives Verständnis von Forschung als einen Prozess, in dem Daten und Forschungsergebnisse in spezifischen Kontexten aus spezifischen Positionen heraus hergestellt werden. Die Konstruktion des Forschungsgegenstandes ‚Moschee‘ beginnt bereits mit der Auseinandersetzung mit der Literatur und der Formulierung der Fragestellung. Bei der Suche nach den Moscheebauten im Stadtraum sowie beim Zugang zum Feld werden spezifische Perspektiven auf Moscheen re-produziert. Forschende wie Beforschte positionieren sich in ihren Interaktionen zum Diskurs über Muslim:innen, Moscheen und das „deutsch-türkische“ Verhältnis. Ihre Verhandlungen über die Bedeutungen von Moscheen prägen die erhobenen Daten (Interviewtranskripte, Gesprächsnotizen, Beobachtungsprotokolle, Fotografien, Bauakten und Zeichnungen). Die Moschee erscheint dabei als eine unsichtbare und als eine gefährdete, die es zu verteidigen gilt. Sie wird zu einer, für die es keinen passenden Namen gibt und die mit den eingeschränkten Mitteln von Arbeitsmigrant:innen finanziert werden muss. Im Spiegel öffentlicher Diskurse und medialer Berichterstattung erscheint sie als eine, die wirkmächtigen Klischees unterworfen ist und gleichzeitig als eine, die vielfältiger ist als diese Klischees. Immer wieder gerät sie als „türkische“ in den Blick – worüber im Forschungsteam vielfältig gestritten wird. Aus der Perspektive von Architektur und Städtebau erscheint die Moschee im umgenutzten Gebäude als eine, die weder als Architektur noch als baukulturelles Zeugnis anerkannt wird und die potentiell gegen Bauvorschriften verstößt. Deutlich wird bei der Reflexion der Felderfahrungen und der darin re-produzierten Bilder, wie stark der gesellschaftliche Kontext der Migrationsgesellschaft die Herstellung des Gegenstandes Moschee prägt.

https://doi.org/10.1515/9783110668919-008

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1 Einleitung Der folgende Artikel¹ reflektiert, wie Moscheen von den Forschenden in einem Forschungsprojekt sowohl bei den Feldbesuchen als auch in der Bearbeitung der dort gemachten Erfahrungen in den Blick genommen werden. Ziel des dreijährigen Forschungsprojektes war eine möglichst differenzierte räumlich-ethnografische Analyse von Gemeindezentren „türkischer“² Muslim:innen als baukulturelle Zeugnisse deutscher Migrationsgeschichte³: Betrachtet werden sowohl die Bauten in ihrer materiellen Dimension als auch die sozialen Praktiken in den Räumen und die Bedeutungen, die den Moscheen in Gesprächen und Interviews verliehen werden. Die Beobachtungen der sozialen Interaktionen in den Räumen der Gemeindezentren, die Feldgespräche und Interviews sowie die zeichnerische und fotografische Erfassung der 15 als Fallstudien dargestellten Gemeinden erforderten regelmäßige Besuche im Feld und vielfältige Abstimmungen mit den Gemeindemitgliedern, insbesondere mit den Vorstandsmitgliedern. Im Folgenden wird reflektiert, wie soziale Bedeutungen von Moscheen in diesen verschiedenen Zusammenhängen re-produziert werden. Welche Blickweisen werden hergestellt, wenn Forschende Zugang zum Feld suchen und ihr Projekt vorstellen, wenn sich die Moscheegemeinden ihnen gegenüber präsentieren oder wenn die Forschenden mit Überraschung auf etwas reagieren, was sie im Feld sehen? Welche Bilder der Moschee stellen die Forschenden her, wenn sie im Forschungsprozess darüber diskutieren, was wie in der Publikation dargestellt werden soll oder kann? Welche Fragen haben das Forschungsteam im Forschungsprozess besonders beschäftigt? Und was sagt all dies über die gesellschaftliche Verortung der Moscheen aus? Die Frage der Konstruktion von Forschungsergebnissen ist Thema unterschiedlicher theoretischer und methodologischer Ansätze. Grundlegend für die  Wir danken Andreas Kewes und Hanna Weinbach für ihre wertvollen Anregungen zu diesem Beitrag.  Um den Konstruktionscharakter solcher Kategorisierungen hervorzuheben und weil mit ihnen Anderssein betont und Fremdheit hergestellt werden kann – und zwar ohne das subjektive Zugehörigkeitsempfinden der so Bezeichneten zu beachten –, werden sie im Folgenden in Anführungszeichen gesetzt.  Bei dem Projekt handelte es sich um eine interdisziplinäre Kooperation zwischen Sozialpädagogik und Architektur an der Universität Siegen sowie der Wüstenrot Stiftung. Die Projektleitung für die Wüstenrot Stiftung hatte Stefan Krämer. Das Forscher:innenteam bestand aus Chantal Munsch (Leitung) sowie den wissenschaftlichen Mitarbeiter:innen Kathrin Herz und Marko Perels. Wir danken Ulrich Exner, Dietrich Pressel und Gerrit Schwalbach für ihre Mitwirkung am Projektantrag und ihre Beratung des Forschungsprozesses sowie Ayşem Akbaş, Daniel Benthaus, Naima Brüggenthies, Jan Furche und Annette Demir-Utsch, die uns als studentische Hilfskräfte unterstützt haben.

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folgende Argumentation ist zunächst die Reflexion über Felderfahrungen in der ethnografischen Feldforschung: Die Erfahrungen der Forschenden, etwa ihre Unsicherheiten oder missglückten Feldzugänge, liefern wesentliche Hinweise über soziale Bedeutungen im Feld (vgl. Breidenstein et al. 2013, 38 – 39; Munsch 2015). Wie in den daraus entstehenden Beschreibungen bestimmte Gruppen als Andere mit bestimmten Eigenschaften, Denkweisen oder Traditionen repräsentiert werden, ist im Rahmen der Krise der Repräsentation insbesondere in den Kulturwissenschaften vielfach reflektiert worden. Die Texte der Wissenschaftler: innen werden hier als eine „kulturelle Herrschaftstechnik“ verstanden, welche das Besondere der Be-Schriebenen erst hervorbringen (Kaschuba 2006, 246 – 247). Im Rahmen von Konstruktivismus, von postkolonialen und feministischen Ansätzen sowie der Cultural Studies ist vielfach beschrieben worden, dass Erkenntnis jeweils von einem bestimmten Standpunkt gewonnen und Wirklichkeit somit von der Position der Betrachter:in aus konstruiert wird (vgl. Knorr-Cetina 1989). So ist Forschung auch immer maßgeblich von den „Perspektiven, Privilegien, Positionen, Interaktionen und geografischen Standorten der Forscher/innen“ (Charmaz 2011, 184) beeinflusst. In der ethnografischen Forschung bestimmt die soziale Position der Forschenden in besonderer Weise, welche Erfahrungen sie im Feld machen und welche Daten sie somit produzieren (vgl. etwa Hunold 2019). Georges Devereux (1967, 267– 269) hat nachvollziehbar beschrieben, wie die Menschen im Feld auf jeweils spezifische Weise mit den Forschenden umgehen, je nachdem welcher Ethnizität, welchem Geschlecht oder welchen sozialen Positionen sie zugeordnet werden. Auch die Wahrnehmungen der Forschenden sind durch ihre Positionierung und ihre Persönlichkeit geprägt. Dies zeigt sich auch in dem hier beschriebenen Forschungsprojekt: Alle drei Teammitglieder, das heißt die zwei feldforschenden wissenschaftlichen Mitarbeiter:innen und die Projektleiterin, sind in dem Sinne feldfremd, als dass sie keine Muslim:innen und nicht als „Menschen mit Migrationshintergrund“ markiert sind (obwohl zwei von ihnen statistisch dieser Gruppe zugerechnet werden). Sie werden von den Gemeindemitgliedern adressiert als solche, denen man das Feld erklären muss und die potentiell ähnliche Vorstellungen über Muslim:innen haben, wie viele andere „Deutsche“ auch. Alle drei arbeiten an einer Universität, und dies wird in den Interaktionen gelegentlich zum Anlass genommen, um zu betonen, dass die eigenen Kinder ebenso studieren oder an einer Promotion arbeiten. Dass ein Mitglied des Forschungsteams fließend Türkisch spricht, wird immer wieder lobend als besonders hervorgehoben, für die anderen wird selbstverständlich übersetzt. Die Forschenden werden im Feld angesprochen als Mann oder Frau, die mal selbstverständlich bestimmte Räume betreten sollten, mal eher nicht. Und sie schauen auf das Feld mit einem Blick von Feldfremden, die einerseits geprägt sind von den

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herrschenden Bildern über Muslim:innen, „türkische“ Menschen und Moscheen und die andererseits diesen Diskursen gern etwas entgegensetzen möchten. Grundlage für eine Reflexion von Felderfahrungen und der sich in ihnen reproduzierenden Blickweisen ist schließlich die Analyse, dass Forschungsergebnisse das Produkt eines Arbeitsprozesses sind. Daten sprechen nicht von sich aus, sondern sie werden nach bestimmten Kriterien und in spezifischen Kontexten hergestellt, ausgewählt und interpretiert. Forschungsfragen werden formuliert, Forschungsdesigns entworfen, Methoden ausgewählt, bestimmte Aspekte des zu erforschenden Phänomens werden als spannend für ein bestimmtes Publikum befunden und schließlich in Publikationsformaten dargestellt (vgl. Breuer 2003) – und all diese verschiedenen Arbeitsschritte sind geprägt durch soziale Beziehungen im spezifischen Feld der Wissenschaft: mit Kolleg:innen, die in Kolloquien sowohl unterstützend als auch normierend beraten, genauso wie in Begutachtungs- und Qualifizierungsverhältnissen (vgl. Dressel und Langreiter 2003, Abs. 3). Karin Knorr-Cetina hat diese Herstellung von Forschungsergebnissen in ihren wissenschaftsethnografischen Studien über die „Fabrikation der Erkenntnis“ (Knorr-Cetina [1991] 2012) in Laboren differenziert beschrieben. Dieser Herstellungsprozess von Forschung ist zum einen von den spezifischen Bedingungen im Wissenschaftsbetrieb geprägt, zum anderen von gesellschaftlichen Diskursen, die den Forschungsgegenstand betreffen und die Forschenden gesellschaftlich positionieren. Oft wird er in Publikationen über Forschungsergebnisse kaum expliziert, und auch wir merken beim Schreiben mancher Zeilen, wie schwer es uns fällt, unsere eigene Verwobenheit in den Forschungsprozess und unsere Anliegen, die wir mit der Forschung verfolgten, zu beschreiben. Die im Folgenden reflektierten Erfahrungen aus dem Forschungsprozess verdeutlichen somit, wie der Forschungsgegenstand unter den spezifischen Bedingungen der Migrationsgesellschaft mit ihren Diskursen und sozialen Ungleichheiten in den Blick genommen wird. Deutlich wird dabei insbesondere, wie die Relationen zwischen den Forschenden und ihrem Gegenstand durch gesellschaftliche Machtverhältnisse geprägt sind. In diesem Sinne verortet sich der folgende Text im Kontext einer reflexiven qualitativen Forschung (vgl. Alvesson und Sköldberg 2002, 238 – 292) sowie einer reflexiven Ethnografie (vgl. Day 2002). Da der Herstellungsprozess von Forschung beobachtet wird, kann der Beitrag auch den Science Studies, das heißt der Forschung über Forschung zugeordnet werden. Genauso kann er jedoch als Forschung über Moscheen als Räume mit vielfältigen Funktionen und Bedeutungen im Kontext von Migrationsgesellschaft gelesen werden.

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2 Die Konstruktion der Moschee in der Auseinandersetzung mit der Literatur Die Konstruktion des Forschungsgegenstandes beginnt bereits mit der Sichtung der Literatur und der Formulierung der Fragestellung. Bei der Auseinandersetzung mit der Literatur über Moscheebauten fallen uns immer wieder dichotomisierende, abwertende und stereotype Blickweisen auf. Architektur- und kunsthistorische Publikationen beschreiben nahezu ausschließlich Gebäude, die mit dem Zweck, Moschee zu sein, errichtet wurden. Moscheen in umgenutzten Gebäuden, die doch die Mehrheit darstellen,⁴ werden im Wesentlichen nicht, und – wenn doch – dann eher am Rande, rezipiert (exemplarisch hierzu Frishman und Khan 1995; Kraft 2002; Welzbacher 2008 und 2017). Gelten erstere als „repräsentativ“, so werden letztere unter dem Begriff „Hinterhofmoschee“ als nichtintegrativ, provisorisch, baufällig oder wenig einladend beschrieben. Immer wieder wird das Narrativ der Ablösung der „Hinterhofmoscheen“ hin zu sichtbaren Moscheen re-produziert, was zu einem „blinden Fleck im Hinblick auf Diasporamoscheentypologien“ für die Wissenschaft führt, so Bayrak und Alkin (Bayrak und Alkin 2018, 16). Ein weiterer Fokus der Literatur sind Rückschlüsse zwischen dem gebauten Raum der Moscheen und der Integration der Gläubigen: Moscheeneubauten mit Kuppel und Minarett werden als „sichtbare Symbole der Desintegration“ (Welzbacher 2008, 43) betrachtet, die ein „Heimatgefühl“ (Schmitt 2013, 155) bedienen. Moscheeneubauten mit gläsernen Fassaden hingegen gelten als Integrationserfolg (Bayrak und Alkin 2018). Dass Moscheen gesellschaftlich als problematische Gebäude wahrgenommen werden, verdeutlicht schließlich eine Reihe von Handbüchern (exemplarisch hierzu Leggewie 2002; Schoppengerd 2008; Zemke 2008), welche die sozialen und rechtlichen Probleme behandeln, die mit dem Bau von Moscheen assoziiert werden (vgl. Hohage 2013, 25). Vor diesem Hintergrund wird es uns zum Anliegen, die Moscheen in umgenutzten Gebäuden in ihren vielen verschiedenen Aspekten zu zeigen und Stereotype zu dekonstruieren. Spannend finden wir die Hinweise darauf, dass Moscheen viele verschiedene Funktionen erfüllen (exemplarisch hierzu Kuppinger 2018; McLoughlin 1998; Yükleyen 2012). Unsere theoretische Sozialisation prägt dabei unseren Blick auf die Literatur. Unsere Perspektive ist zum einen von konstruktivistischen und postkolonialen Ansätzen geprägt, in denen Kultur als ein Narrativ betrachtet wird, mit dem bestimmte Gruppen zu Anderen gemacht

 Von den geschätzten 2600 Moscheen, die es in Deutschland gibt (vgl. Allievi 2009, 23), befinden sich ca. 2000 in umgenutzten Gebäuden (vgl. Beinhauer-Köhler 2010, 412).

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werden, sowie als eine Praxis, welche von Wandel und Vielschichtigkeit, von Machtverhältnissen und eigensinniger Aneignung geprägt ist (vgl. etwa Baumann 1995; Hall 1994; Wimmer 2008). Zum zweiten prägt uns ein Interesse an der Dekonstruktion der Begriffe von Typologie und Klassifizierung in der Architektur. Diese beiden Begriffe möchten wir auf der Grundlage einer empirischen Analyse hinterfragen. Ein wichtiger Kontext für das Anliegen, das wir mit unserer Forschung verfolgen, sind zum zweiten islamfeindliche Diskurse und Initiativen gegen Moscheebauten. Es ist uns ein Anliegen, den Stereotypen von in Hinterhöfen versteckten Moscheen eine differenzierte Analyse mit baulicher Dokumentation entgegenzusetzen und mit unserer Forschung zu einer Anerkennung der Moscheebauten beizutragen. Dieses Anliegen, die Moscheen sowohl in ihrer Vielfalt darzustellen als auch zu würdigen, sehen wir im Forschungsprozess immer wieder bestätigt. Je mehr Daten wir erheben und auswerten, desto deutlicher wird uns die Vielfalt der Moscheen – genauso wie die Anstrengungen und die besondere Leistung, die in diesen sich fortwährend wandelnden Bauten stecken. In der Reflexion des Forschungsprozesses werden wir den Zusammenhang zwischen Daten und Perspektiven diskutieren: Die Vielheit und den Wandel, welche wir am Ende des Forschungsprozesses als unsere zentralen Ergebnisse herstellen werden, sind einerseits in unserer theoretischen Perspektive begründet, mit der wir die Fragestellung entwickeln, Daten erheben und auswerten – wir sehen sie andererseits jedoch auch so deutlich und vielfältig in den Daten (das heißt den Beobachtungen, Interviews und Zeichnungen), dass wir sie gelegentlich fast objektivistisch⁵ begründen. Nicht jede Rahmung des Forschungsgegenstandes, die wir in der Literatur finden, hinterfragen wir jedoch. So übernehmen wir insbesondere die Eingrenzung des Forschungsgegenstandes auf Moscheen „türkischer“ Muslim:innen. Es scheint uns angesichts der als besonders herausgestellten Geschichte der ehemaligen „Gastarbeiter:innen“ sowie der unterschiedlichen, nach Entstehungszeit und Regionen geordneten Bauweisen von Moscheen nachvollziehbar, den Forschungsgegenstand auf diese Gruppe zu beschränken. Auf diese Weise re-produzieren wir die Moschee in Deutschland als eine „türkische“ und tragen zur Unsichtbarkeit der alevitischen Cem-Häuser sowie der „arabischen“ oder „pa-

 Wenn wir objektivistisch denken, gehen wir davon aus, dass Vielheit unabhängig von unserer Beobachtung in den Daten gegeben ist. Mit einem konstruktivistischen Verständnis von Forschung, wie es hier dargestellt wird, wird demgegenüber angenommen, dass Vielheit (wie alle anderen Ergebnisse auch) von den Forschenden im Forschungsprozess hergestellt wird (vgl. zu diesem Gegensatz Charmaz 2011).

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kistanischen“ Moscheen bei, obwohl diese unter ähnlichen Bedingungen (Migration, religiöse Minderheit) entstanden sind.

3 Die Suche nach der Moschee – das Unwissen der Forschenden und die Integration der Bauten Für die Untersuchung wurden insgesamt etwa 70 Gemeindezentren besucht und eine wesentliche Erfahrung fast jedes ersten Besuchs bestand darin, dass die Räumlichkeiten der Moscheegemeinden erst gesucht werden mussten. Die wesentlichen Aspekte einer solchen Suche verdeutlicht exemplarisch die folgende Erfahrung: Online vorrecherchiert und mit Adressen ausgestattet begibt sich die Ethnografin ins Feld. Sie will an diesem Tag gezielt ältere Moscheegemeinden aufsuchen. Bereits als sie aus der S-Bahn aussteigt, fällt ihr eine Moschee ins Auge. Es handelt sich um einen Neubau. Dass das Gebäude eine Moschee ist, erkennt sie sofort an der kleinen Kuppel und den zwei stilisierten Minaretten in Miniaturformat auf dem Dach. Sie ist irritiert – hatte sie aufgrund ihrer Vorrecherche am Schreibtisch doch ein ganz anderes Gebäude erwartet. Was war zwischenzeitlich passiert? Hat die Gemeinde neu gebaut? Als sie sich dem Gebäude nähert, stellt sie fest, dass die Hausnummer die falsche ist. Sie geht weiter die Straße runter, die durch eine gründerzeitliche Bebauung geprägt ist. Alle Häuser sind ähnlich gestaltet, die Fassaden sind sehr skulptural und plastisch ausgebildet. Die Ethnografin überprüft noch einmal die Hausnummer auf ihrem Adresszettel und sucht nach dem dazu passenden Gebäude. Schließlich entdeckt sie das Schild „Kocatepe Camii“ – nun weiß sie, dass sich hier eine Moschee befindet. Rechts und links des Schildes entdeckt sie noch zwei kleinere, kreisrunde Embleme des Dachverbandes. Dass die Gemeindezentren erst gesucht werden müssen, verweist erstens auf ein räumliches Spezifikum von Moscheen: einen typischen, in jeder Stadt immer wiederkehrenden Ort, an dem sie sich befinden, gibt es nicht. Sie scheinen sich vielmehr dort einzufügen, wo es der Moscheegemeinde möglich war, Zugriff auf den Raum zu erlangen: in Rand- oder Zentrumslagen genauso wie in Wohn- oder Gewerbegebieten. Die meisten Gemeindezentren befinden sich außerdem nicht in Gebäuden, die ursprünglich für die Nutzung als Moscheen entworfen und errichtet wurden. Vielmehr sind sie in Räumlichkeiten beheimatet, die zuvor etwa als Lokschuppen, Werkstatt, Kur- und Badeanstalt, Tankstelle oder, wie im Beispiel oben, als Wohn- und Geschäftshaus genutzt wurden. Mal bezogen die Mo-

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scheegemeinden diese ganz, mal nur einzelne Gebäudeteile oder Etagen. Die verschiedenen Räume der Moschee, wie etwa der Gebetsraum, die Teestube oder die Unterrichtsräume, fügen sich dabei flexibel in diese ganz unterschiedlichen Gebäudehüllen ein (vgl. Herz 2019). Das äußere Erscheinungsbild der Gebäude verweist in der Regel auf die frühere Gebäudefunktion – von außen verweist zumeist nur ein Schild auf das Gemeindezentrum. Selten ist ein solches Schild groß und plakativ; meist rückt es in den Hintergrund oder überlagert sich mit anderen Zeichen an der Gebäudefassade (vgl. Abb. 1).

Abb. 1: Wie sieht eine Moschee aus? (Foto: Espen Eichhöfer © Wüstenrot Stiftung).

Die Suche nach den Gemeindezentren verdeutlicht zweitens, dass Gebäude in ihrer materiellen Dimension als Zeichen gelesen werden, die auf ihre Funktion, etwa als Kirche oder Markthalle, verweisen können (exemplarisch hierzu Baumberger 2010; Eco 1972; Venturi, Scott Brown und Izenour 1972). Kuppel und Minarett sind die baulichen Merkmale, mit denen Moscheen typischerweise assoziiert werden – sie helfen, den funktionalen Gebäudetypus, in diesem Fall die Moschee, zu lesen. Deutlich wird dies in dem beschriebenen Beispiel daran, dass die Ethnografin die Moschee mit Kuppel und Minarett sofort erkennt. Fehlt einem Gebäude die Anzeigefunktion, so können anhand der äußeren Gestalt keine Rückschlüsse auf seine Nutzung gezogen werden. Infolge der architektonischen Umnutzung ist dies bei den von uns untersuchten Gebäuden der Fall. Daher

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orientiert sich die Ethnografin an Hausnummern, Schildern mit Moscheenamen oder Logos der Dachverbände, die an den Fassaden angebracht sind. Hilfreich ist zudem, dass die meisten Moscheegemeinden mal mehr, mal weniger stark auch im digitalen Raum präsent sind. So konnten die Forschenden im Vorfeld fast alle besuchten Moscheevereine über Plattformen wie „Moscheesuche.de“, Webpräsenzen der verschiedenen Dachverbände oder gemeindeeigene Internetauftritte finden. Drittens verweist das Suchen auf das fehlende Wissen der Suchenden. Die Gemeindezentren scheinen im Wissen der Forschenden über ‚ihre‘ Städte kaum vorhanden. Das scheint nicht daran zu liegen, dass sie die Moscheen zum Beten nicht brauchen, denn ihnen fallen viele andere Orte auf, die sie ebenfalls nicht benutzen, die sie aber sehr wohl erkennen, so etwa teure Modeboutiquen, Autohäuser, Piercingstudios oder Rehazentren. Im Laufe des Forschungsprojektes lernen die Forschenden jedoch, die Gemeindezentren zu lesen. Wie routiniert dies erfolgt, zeigt folgende Erfahrung, bei der die Ethnografin in ihrer Freizeit mit einem befreundeten Architekten unterwegs ist: Als wir das Theater verlassen, fällt mir auf der anderen Straßenseite an einem eingeschossigen Flachbau das Emblem eines Dachverbandes ins Auge. „Ach, guck mal eine Moschee“, sage ich. Mein Bekannter meint: „Wo? Ich sehe nur einen Gemüseladen.“ Ich weise ihn auf das kleine Schild mit dem Logo des Dachverbandes und das Wort „camii“ auf dem Schild hin. Er ist absolut verblüfft. Während also die Ethnografin die Moschee sofort erkennt, ohne dass sie diese suchen muss oder dass diese überhaupt in der Situation ein Thema gewesen wäre, kann der Architekt, mit dem sie unterwegs ist, diese auch auf einen Hinweis hin nicht erkennen. Mit dem erworbenen Wissen, die Codes und Zeichen der Moscheegebäude nun lesen zu können, sehen die Forschenden nun auch ‚ihre‘ Stadt neu und entdecken Moscheen, welche sie bislang immer übersehen haben. Dass die Forschenden sich dieses Wissen aneignen können, verweist darauf, dass Moscheen auch in umgenutzten Gebäuden nicht prinzipiell unsichtbar sind. Dass Nutzungen in Gebäuden bzw. Städten auf den ersten Blick nicht sichtbar sind, gerade dann, wenn sie sich in umgenutzten Gebäuden befinden, ist nicht spezifisch für Moscheen. Dies trifft in ganz ähnlicher Weise etwa auf das Finanzamt oder das Jugendamt zu. Gleichwohl scheint uns die fehlende Sichtbarkeit von Moscheen in mehrfacher Weise auf ihren gesellschaftlichen Status zu verweisen. Spezifisch für den untersuchten Gegenstand ist zum einen die häufig gezogene Schlussfolgerung von der architektonischen sowie stadträumlichen Unsichtbarkeit der Gebäude auf die Gemeindemitglieder, denen zugeschrieben wird, sich nicht integrieren zu wollen oder etwas zu verbergen. Zum anderen ist die räumliche Unsichtbarkeit wesentlich den finanziellen Ressourcen und dem sozialen Status der Moscheegemeinden geschuldet, da ihnen in vielen Fällen

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nicht nur die Mittel fehlen, zentral gelegene Gebäude zu errichten oder zu erwerben, sondern solchen Moscheen auch an vielen Orten die gesellschaftliche Akzeptanz fehlt. Schließlich lässt sich fragen, ob nicht auch das fehlende Wissen, eine Moschee in einem umgenutzten Gebäude erkennen zu können, mit der Marginalisierung der Moscheegemeinden zu tun hat. Dieses Wissen gehört nicht zum Allgemeinwissen, das gesellschaftlich vorausgesetzt wird und zum ‚guten Ton‘ gehört. Es ist nicht peinlich, eine Moschee im umgenutzten Gebäude nicht zu erkennen – und dies lässt sich, so unsere These, durchaus mit dem gesellschaftlichen Status von „Türk:innen“ und Muslim:innen in Deutschland begründen. In diesem Zusammenhang bekommen sowohl Neubauten als auch (nachträglich errichtete) Minarette eine spezifische Bedeutung: Sie tragen sozusagen als Lesehilfen für Unkundige und so zur Sichtbarkeit der Gemeindezentren bei.

4 Die Moschee als gefährdeter Ort Bereits bei den ersten Gesprächen mit Vertreter:innen der Gemeinden werden die Sicherheit und Fragilität von Moscheen zu zentralen Themen, welche den Blick des Forschungsteams während des gesamten Forschungsprozesses prägen werden. Beim Versuch, Zugang zum Forschungsfeld zu bekommen, hören wir immer wieder Bedenken. Die Gemeinden sind durchaus stolz auf die Arbeit, die sie in ihre Bauten gesteckt haben – aber viele von ihnen möchten sich nicht mit Fotos und Plänen in einem Buch veröffentlicht sehen. Je mehr Kontakt wir mit den Gemeinden haben, desto deutlicher wird uns, wie viel wir von ihnen fordern: Wir wollen nicht nur teilnehmend beobachten und Interviews führen, sondern darüber hinaus auch noch alle Räume fotografieren und Zugang zu den Bauakten bekommen. Die Veröffentlichung von Fotografien und Plänen ist in architekturwissenschaftlichen Publikationen eine Selbstverständlichkeit und wichtig für die Anerkennung von Gebäuden – dass sie für Moscheegemeinden jedoch tendenziell zur Bedrohung wird, leuchtet uns nach kurzer Zeit im Feld ein. In diesem Zusammenhang positionieren wir uns immer wieder als solche, welche den Schutz der Gemeinden im Blick haben. Viele Gesprächspartner:innen erzählen von Anschlägen: Von solchen, die ihnen selbst widerfuhren, wie etwa eingeworfene Fensterscheiben und am Zaun befestigte Schweineköpfe, oder von Übergriffen, die ihnen von anderen Moscheevereinen berichtet wurden.⁶ Auf andere Weise gefährlich werden können

 Zu Übergriffen auf Moscheevereine in Deutschland vgl. Pfaffenrath (2017).

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den Gemeindezentren Anzeigen, etwa wegen vermeintlich fehlender Parkplätze oder nicht eingehaltener Lärmverordnungen. In solchen Fällen drohen hohe Kosten für Strafen oder für bauliche Anpassungsmaßnahmen – oder gar eine Schließung der Moschee. Dass solche Anzeigen zu den typischen Erfahrungen von Moscheegemeinden gehören, verweist darauf, wie sehr sie unter kritischer Beobachtung von Anwohner:innen stehen. Eine Veröffentlichung von Fotos und Plänen, wie Abbildung 2 sie darstellt, kann dazu beitragen, dass Verstöße gegen geltendes Baurecht publik werden, um die man nicht weiß oder die man nur vage ahnt.

Abb. 2: Grundrisszeichnungen – in Architekturbüchern eine Selbstverständlichkeit, in Publikationen über Moscheen eine Bedrohung? (Foto: Espen Eichhöfer © Espen Eichhöfer).

Dies führt somit zu einigen Absagen. Manche Gemeinden entscheiden sich explizit gegen jegliche Aufmerksamkeit. Auch eine positiv gemeinte Würdigung durch eine Publikation wollen sie vermeiden, weil die Öffentlichmachung nur Ärger nach sich ziehe. Gemeinden mit konkreten Neubauplänen reagieren oft mit besonderer Vorsicht auf unser Anliegen, ihre Moschee zu beforschen. Zu fragil erscheinen in diesem Fall die Planungen für das Neue, das lange in der Gemeinde und mit Vertreter:innen der Stadt verhandelt wurde. Eine (öffentliche) Anerken-

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nung des Alten könnte eine Bedrohung für das Neue darstellen. So gerät die als wertschätzend gemeinte Forschung im Forschungsprozess immer wieder zu einer Gefährdung. Deutlich wird somit, dass die Moschee von den Forschenden immer wieder als ein gefährdeter und damit prekärer Ort in den Blick genommen wird. Bei allem Stolz und allem Wunsch nach Sichtbarkeit – diese Bauten scheinen nicht selbstverständlich einfach ‚da‘ zu sein und nicht einfach ‚so‘ gezeigt werden zu können. Die Forschenden erleben, wie sich die Gemeinden vor ihnen zu schützen wissen. Selten stehen diese lange allein vor dem Gebäude herum, fast immer kommt ihnen jemand entgegen, der nach ihrem Anliegen fragt. Auch Sicherheitskameras registrieren sie an vielen Orten; einmal erleben sie vor dem Freitagsgebet sogar Taschenkontrollen. Und gleichzeitig fällt den Forschenden bei ihren Felderkundungen immer wieder auf, wie leicht der Zutritt in die Gebäude ist. Fast immer sind die Türen offen, und die Gemeinden erklären immer wieder ihren Anspruch, offen für alle zu sein (vgl. Perels 2019a).

5 Die Moschee im Spiegel der Berichterstattung Bei dem Versuch, Zugang zu den Moscheen zu finden, wird schnell deutlich, dass diese nicht nur durch Anzeigen und Anschläge bedroht sind, sondern auch von der öffentlichen Berichterstattung. Einige Gemeinden, die wir besuchen, geraten ganz plötzlich bundesweit in den Fokus der Medien, etwa weil ein Gemeindemitglied bei Facebook mit demokratiefeindlichen Äußerungen aufgefallen ist und damit die Moscheegemeinde in Verruf und ins Visier des Verfassungsschutzes gebracht hat. Andere sind zum Gegenstand eines journalistischen oder wissenschaftlichen Berichtes über Moscheen geworden. Überraschend für die Forschenden ist, dass in nahezu jeder Gemeinde von negativen Erfahrungen mit Journalist:innen berichtet wird. Öffentliche Darstellungen werden fast durchgängig als schwierig für die Gemeinden dargestellt. Immer wieder hören wir, es seien Journalist:innen gekommen, welche im Nachhinein etwas ganz anderes geschrieben hätten als das, was man ihnen gezeigt hätte. Die Reportage hätte aus Zusammenschnitten bestanden, die aus dem Kontext gerissen wurden. Es seien eben doch die sich niederknienden Männer von hinten beim Beten gefilmt worden, obwohl man doch darum gebeten habe, dies aus ästhetischen Gründen zu unterlassen. Auch die Berichterstattung über bestimmte politische Ereignisse wirkt sich auf die Zusammenarbeit zwischen den Forschenden und den Gemeinden aus. In der feldintensiven Phase des Forschungsprozesses sind das insbesondere der Anschlag in Nizza (Juli 2016), der Putschversuch in der Türkei (Juli 2016), die Spitzel-Vorwürfe gegen Imame des Dachverbandes DITIB (Ende

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2016) oder die Volksabstimmung über das Verfassungsreferendum in der Türkei (April 2017). Diese Berichte und die durch sie re-produzierten Diskurse (über Islamismus, Geschlechterverhältnisse oder Demokratieverständnis) sind immer wieder Thema bei den Besuchen im Feld. Sie bringen sowohl die Forschenden als auch die Gemeinden regelmäßig in spezifische Rollen: Die Gemeindemitglieder bringen zum einen ihren Ärger über die Darstellungen zum Ausdruck. Sie wehren sich dagegen, dass bestimmte Ereignisse, wie etwa die Anschläge vom 11. September 2001, mit ihnen in Zusammenhang gebracht werden. So erzählt ein Gesprächspartner, dass von seiner Gemeinde erwartet worden sei, sich zu diesen Anschlägen zu positionieren. „Wo ist New York? Wo ist Oberdorf?“, hatte er damals in die Runde gefragt. Während er uns das berichtet schüttelt er, noch immer fassungslos und wütend, den Kopf. Eine Mutter sagt nach dem Fastenbrechen zur Ethnografin: „Wer den Islam versteht, wird kein Terrorist. Sehen wir aus wie Terrorristen?“ Deutlich wird in all diesen Aussagen, wie diese Berichte die Gemeinden immer wieder dazu bringen, zeigen zu müssen, dass sie nicht den dort kommunizierten Bildern entsprechen. Immer wieder adressieren sie die Forschenden als Stellvertreter:innen der „deutschen“ Gesellschaft, welche sehen (und dann auch in ihren Publikationen schreiben!) sollten, dass ihre Gemeinden offen sind und nichts verstecken. Sie betonen, wie wichtig Frauen in ihren Gemeinden sind, oder sie erzählen von ihren Bemühungen, islamistischen Gruppierungen keine Plattform zu bieten. Häufig berichten sie mit enttäuschter Stimme, dass das in der Berichterstattung gezeichnete Bild der Türkei, des Islam und der Moscheen auch von Arbeitskolleg:innen übernommen werde, trotz des langjährigen und guten persönlichen Verhältnisses. Deutlich wird gleichzeitig, dass diese Berichte nicht nur die Gemeinden betreffen, sondern dass auch die Forschenden immer wieder das Gefühl haben, Stellung beziehen zu müssen. Als nicht-muslimische Berichterstatter:innen geraten sie in die Rolle derjenigen, welche diese Bilder re-produzieren. Sie wissen, wogegen sie sich in den Gesprächen positionieren müssen, und betonen immer wieder, sie würden keine Studie über Salafismus machen, nicht in besonderer Weise auf Geschlechterverhältnisse schauen und Politik sei auch nicht ihr Thema. Immer wieder erklären sie, dass sie die den öffentlichen Diskurs dominierenden Bilder nicht teilen. Wenn jedes Handeln als eine Inszenierung in einem bestimmten Kontext verstanden werden kann (Goffman 1969), dann wird an vielen Stellen in den Forschungsprotokollen deutlich, wie die Diskurse über Geschlechterverhältnisse, verschlossene Parallelgesellschaften oder Terrorismus die Darstellungen der Gemeindemitglieder genauso wie die Wahrnehmungen der Forschenden prägen. So laden die weiblichen Gemeindemitglieder den Ethnografen etwa nachdrücklich

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dazu ein, doch beim Frühstück im Frauenraum zu bleiben und nicht zu den Männern zu wechseln, und den Forschenden wiederum fällt dies besonders auf, sie betonen es in ihrem Feldprotokoll und reden bei der Auswertung länger darüber – auch weil sie genau dies nicht erwartet haben. Diese Interaktionen zeigen, wie sich Forschende und Beforschte in „komplementären Rollen“ begegnen (vgl. Devereux 1973, 267– 269.): In ihren Interaktionen adressieren sie einander mit bestimmten Rollenbildern, die im gesellschaftlichen Diskurs angelegt sind und die sie in ihren Interaktionen und den Berichten immer wieder reaktivieren. Deutlich wird somit, wie der dominierende öffentliche Diskurs über den Islam und die Türkei Forschende und Beforschte zueinander positioniert und wie er die Daten prägt: Gesprächsnotizen, Interviews und Beobachtungsnotizen entstehen in diesem Zusammenhang und sind durch die beschriebenen Aushandlungen um den Umgang mit diesen Bildern geprägt.⁷ Schließlich wird dieser Diskurs auch in den Diskussionen über die Publikation deutlich.Welchen Stellenwert sollten etwa Geschlechterverhältnisse einnehmen? Soll man sie angesichts des stereotypen Diskurses nicht besser aus der Publikation herauslassen? Aber kann man sie angesichts dieses Diskurses überhaupt nicht behandeln? Das Forschungsteam entscheidet sich schließlich, sie in ihrer Ambivalenz, in ihrer Vielschichtigkeit darzustellen – als ein Verhältnis, welches im Feld unterschiedlich verhandelt wird und sich immer wieder verändert. In diesen Interaktionen entsteht zum einen das Bild von Moscheegemeinden als Objekte eines wirkungsmächtigen öffentlichen Diskurses. Gleichzeitig jedoch erleben wir die Gemeinden als solche, welche ihr öffentliches Bild im Blick haben, es zu steuern versuchen und Einfluss nehmen wollen. Die Gemeindevertreter: innen fragen in der Regel genau nach, worüber wir in dem Buch schreiben wollen. Wenn wir ohne Begleitung zum Fotografieren kommen, fragen sie, was wir wollen und wer uns die Erlaubnis gab. Nicht selten greifen sie zum Mobiltelefon, um sich bei der:dem Verantwortlichen über den Besuch der Forschenden zu erkundigen und abzusichern. In diesen Reaktionen zeigen sich sowohl die Fragilität der Gemeindezentren als auch die vielfältigen Schutzmaßnahmen.

 Für eine ähnliche Reflexion im Feld der Polizei siehe Hunold (2019, 61).

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6 Die Moschee als ein Ort, der von „Gastarbeiter: innen“ und ihren (Enkel-)Kindern finanziert werden muss Der hier beschriebene Forschungsprozess hat den finanziellen Aspekt von Migration relevant werden lassen – auch als eine alternative Perspektive zu dem oft betonten Fokus auf kulturelle Differenz als zentralem Aspekt von Migration. Moscheen sind als Räume in den Blick geraten, die zumeist Ende der 1970er bzw. Anfang der 1980er Jahre von Menschen geschaffen und finanziert wurden, die aufgrund ihrer gesellschaftlichen Position als „Gastarbeiter:innen“ nur geringe finanzielle Mittel investieren konnten. Auch gegenwärtig spielen finanzielle Zwänge in vielen Gemeinden eine wesentliche Rolle. Der Aspekt der knappen finanziellen Mittel wird zunächst beim Zugang zum Feld deutlich. Es ist meist nicht leicht, einen Termin mit einem Vorstandsvorsitzenden einer Moscheegemeinde auszumachen – oder ihn erst einmal ans Telefon zu bekommen. Dies liegt insbesondere daran, dass die meisten Gemeinden nicht über die finanziellen Mittel verfügen, Hauptamtliche einzustellen. Die gesamte Organisation und Verwaltung vieler Vereine wird deswegen von Ehrenamtlichen getragen, welche oft genug direkt nach ihrer (Erwerbs‐)Arbeit zum Termin in die Moschee kommen. Deutlich werden die finanziellen Ressourcen der Gemeinden auch an den Bauten: Insbesondere in den Anfangstagen mussten die Gemeinden solche Räumlichkeiten beziehen, die sie überhaupt finanzieren konnten. Oft sind dies Gebäude, welche aus dem Verwertungskreislauf der Mehrheitsgesellschaft herausgefallen und nicht attraktiv für andere Käufer:innen waren – also nicht nur Gebäude, welche sich die Gemeinde leisten konnte, sondern auch Liegenschaften, welche man ihnen überhaupt verkaufen wollte. Die erworbenen Immobilien befinden sich oftmals in städtischen Lagen, die als problematisch oder randständig gelten, sind oft renovierungsbedürftig und nur mit immensem Arbeitsaufwand in Eigenleistung der Mitglieder als Moschee umzubauen. Relevant gemacht wird die Frage der Finanzierung insbesondere in den Erzählungen von Vorstandsmitgliedern über die Entwicklung ihrer Gemeinde. Der Kauf der Gebäude, die notwendigen Sanierungen sowie die Kosten für Wasser und Strom verschlingen enorme Summen – und es bedarf eines großen Geschicks, die dafür notwendigen Gelder unter den Mitgliedern zu akquirieren. Notwendig wird dies, weil die Moscheegemeinden im Gegensatz zu den christlichen Kirchen nicht von einer staatlich erhobenen ‚Moscheesteuer‘ profitieren können. Für den Kauf der Gebäude leihen und spenden Mitglieder dem Moscheeverein hohe Summen.

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Für konkrete Sanierungsmaßen, zum Beispiel den Austausch von Fenstern oder die Nachrüstung von Photovoltaikanlagen, wird bei der Freitagspredigt oder mit Aushängen immer wieder um Spenden geworben. Bei den Festen werden regelmäßig Spender:innen geehrt und auch im Gebäude finden sich immer wieder Listen und/oder Plaketten mit den Namen von Spender:innen. Die Notwendigkeit, Mittel für den Kauf und den Erhalt der Gebäude ebenso wie zur Finanzierung von Kursen und Dienstleistungen in der Moschee zu erwirtschaften, zeigt sich auch in der Außenansicht der Moscheen. Diese ist zumeist durch Geschäfte geprägt: Bäckereien, Restaurants, Supermärkte oder Friseure haben die wichtige Funktion, zum Einkommen der Gemeinden beizutragen. Sie befinden sich daher an den gut einsehbaren und gut zugänglichen Positionen im Gebäude. Die Außenfassade der meisten Moscheen ist somit häufig durch kommerzielle Symbole geprägt: Die Reklametafel für das Restaurant ist oft größer und fällt schneller ins Auge als das Schild, das auf die Moschee hinweist. Die Entwicklung der Moscheegemeinden in Deutschland wird somit zwangsläufig zu einer Geschichte über die Erwirtschaftung von Geldern (vgl. auch Perels 2019b). In vielen Gesprächen mit Vorstandsmitgliedern spielt das Erwirtschaften und Einsparen von Geld, das ihr Tagesgeschäft wesentlich bestimmt, eine große Rolle. Schließlich verweist auch die Relevanz der Neubauten auf Finanzierungsfragen. Obwohl der Fokus unserer Forschung auf Moscheen in umgenutzten Räumlichkeiten liegt, werden wir im Feld vielfach mit dem Neubau konfrontiert. Sind wir in einer Stadt, in der es einen Neubau gibt, so werden wir oft zu diesem geschickt. Dieses Gebäude sollen wir uns für unsere Forschung über Moscheen anschauen. An anderen Orten verweigern uns die Vorstandsvorsitzenden Termine, weil ihr komplettes Engagement dem geplanten Neubau gilt – über ihre alte Moschee wollen sie nicht sprechen, geschweige denn wollen sie sie in einem Buch über Moscheen publiziert wissen. An vielen Orten wird der Stolz deutlich, den man teilt, wenn es einer Moscheegemeinde gelingt, neu zu bauen. Mit gemeindeoder sogar dachverbandsübergreifenden Spenden werden solche Projekte solidarisch unterstützt. Gleichzeitig wird jedoch auch oft deutlich, dass solche Neubauprojekte die Gemeinden, die es sich nicht leisten können neu zu bauen, unter Druck und Zugzwang setzen. Während die ältere Generation der Gründer:innen häufig keine Notwendigkeit für bauliche oder räumliche Veränderungen sieht, sind es oft die Jungen, die diese Pläne forcieren. Es ist somit die Relation zum oft als erstrebenswert dargestellten Neubau, die den Altbau überwindungswürdig macht. Auffallend erscheint uns in diesem Kontext die vorherrschende dichotome Unterscheidung zwischen neu und „re-

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präsentativ“⁸ einerseits, sowie alt, unzulänglich oder baufällig andererseits. Damit wird ausgeklammert, dass sich zwischen Neubauten und Bestandsbauten eine Kaskade sehr unterschiedlicher Gebäudezustände aufmacht, ebenso dass Altbauten (oder einzelne Räume von solchen) durchaus „repräsentativ“ sein können. Die Relevanz des Neuen und Hochwertigen, die hier deutlich wird, zeigt sich auch an Renovierungen und Sanierungen, die entweder das komplette Gebäude betreffen können oder sich auf einzelne Teile und Räume konzentrieren. Dies zeigt etwa eine Szene, die sich bei der Vorstellung unseres Projektes regelmäßig wiederholt: Um Einblick darüber zu geben, wie die Gemeinden als Fallstudie im Buch dargestellt werden, haben wir eine Bildschirmpräsentation ausgearbeitet. Besonderes Interesse weckt hier jeweils das kleine Foto eines Raumes für rituelle Waschungen. Immer wieder werden wir gebeten, dieses Foto zu vergrößern. Unsere Gesprächspartner:innen wollen sehen, wie die dargestellte Gemeinde ihr Abdesthane räumlich umgesetzt hat, entweder weil Renovierungen im eigenen Haus anstehen oder weil der Raum gerade renoviert worden ist und sie vergleichen wollen. Die Moschee erscheint hier in einem ständigen Vergleich – mit anderen Gemeinden, aber wohl auch mit den neuen Gebäuden in der Stadt. Es gilt eben auch, gut auszusehen – und das kostet Geld.

7 Die Moschee ist anders als das Klischee – Vielfalt statt Stereotyp Obwohl wir aufgrund unserer Literaturrecherche wissen, dass Moscheen nicht nur Orte zum Beten sind, überrascht uns das Kaleidoskop an Funktionen und Nutzungen, das sich bei der Begehung der Gebäude vor uns entfaltet. So entdecken wir neben den erwarteten Räumen für das Gebet und die rituelle Waschung, den Teestuben und den Büros auch Friseure, Lebensmittelläden, Reisebüros, Buchläden, Unterrichts- und Schulungsräume, Kindergärten, Restaurants, Bäckereien, (Groß‐)Küchen, Gemeindesäle, Räume zur rituellen Waschung Verstorbener, Studierendenwohnheime usw. Diese Funktionsvielfalt verweist auf die unterschiedlichen Nutzer:innen, welche die Moschee frequentieren, ebenso wie auf deren unterschiedliche alltägliche Bedürfnisse. Die Zusammensetzung der Funktionen ist an jedem Ort eine etwas andere.

 Der regelmäßig im Zusammenhang mit Moscheeneubauten verwendete Begriff „repräsentativ“ wird von verschiedenen Autor:innen mit unterschiedlichen und oft nicht erklärten Bedeutungen belegt, sodass ihm eine Unschärfe anhaftet. Wir setzen den Begriff daher in Anführungszeichen.

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Ebenfalls zum Staunen bringt uns der kontinuierliche Umbau, den wir an vielen Orten beobachten. Haben wir beim Erstbesuch in einem Gebäude fotografiert, so können die Fotos schnell historischen Wert erlangen, wenn schon beim zweiten Besuch ein Raum völlig verändert ist. So werden nicht nur Waschräume renoviert oder Höfe neu gepflastert, sondern auch die Nutzungen von Räumen geändert: Ein Raum, der zuvor an eine Nachhilfeschule vermietet war, wird zum Studierendenwohnheim, das die Gemeinde selbst betreibt. Einem Frauengebetsraum, der zu klein war, wird der einstige Raum des Friseurs zugeschlagen, der deshalb umziehen muss. Wird in einem Gemeindezentrum nicht umgebaut und gibt es keine Baustellen, so gibt es dennoch viele Ideen für Planungen, die man zukünftig realisieren will. Die Moschee im umgenutzten Gebäude, dies verdeutlicht unsere Studie, ist ein Ort, der Wandel zulässt und wesentlich durch diesen charakterisiert ist. Die Auswertung der Bauakten aus den kommunalen Archiven, in welchen Nutzungsänderungen und Veränderungen der Gebäude dokumentiert werden, zeigt diese Tradition des Umbauens. Diese wiederum verweist auf die sich verändernden Bedürfnisse der Mitglieder, die sich in verschiedene Gruppen ausdifferenziert haben, genauso wie auf die sich wandelnde Migrationsgesellschaft sowie auf Veränderungen in den lokalen Gegebenheiten. So ist das neu etablierte Studierendenheim in einer Moschee eine Reaktion auf die gewachsene Gruppe der Studierenden wie auch auf die Wohnungsknappheit und die hohen Mieten in urbanen Ballungsräumen. Das Erstaunen der Forschenden über die Vielfalt und den Wandel der Funktionen in den Moscheen entsteht jedoch nicht unbedingt aus dem Gegenstand, sondern durch die spezifische Art und Weise, mit dem er betrachtet wird: Wesentlich ist hier zum einen das Alltagswissen, das von vermeintlich „typischen Gebäuden“ ausgeht (Steets 2014, 185), an denen wiederum „typische Funktionen“ und „typische Handlungsprogramme“ hängen (Steets 2014, 185): So erkennen wir ohne langes Überlegen Supermärkte als zum Einkaufen konzipierte Gebäude und wissen uns als Kund:innen darin souverän zwischen den Regalen zu bewegen. Genauso erkennen wir Schulen als Orte zum Lernen oder Wohnhäuser zum Wohnen. Eine solche Vielzahl und Konzentration unterschiedlicher religiöser, kommerzieller, sozialer und kultureller Nutzungen innerhalb eines Gebäude(‐komplexe)s, wie wir sie bei den Moscheen sehen, kennen wir von anderen uns bekannten Gebäudetypologien nicht und sie erscheint uns daher sehr besonders. In den meisten kunsthistorischen Publikationen werden Moscheen als Gebäude dargestellt, die in der Regel ausschließlich Flächen für religiöse Funktionen vorhalten (exemplarisch hierzu Frishman und Khan 1995; Korn 2012). Die Vorstellung von „typischen Gebäuden“ (Steets 2014, 185), denen in der Regel eher wenige, spezifische Funktionen zugewiesen werden, blendet die Vielfalt von Alltags-

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praktiken aus, welche in all diesen Gebäuden – also nicht nur in Moscheen – stattfinden. Unser Staunen ist zum zweiten in unserer Vorstellung von religiösen Gebäuden und unserer religiösen Sozialisation begründet. Es macht deutlich, dass wir die Moschee von unserem Begriff von christlicher Kirche aus betrachten. Wir staunen über die spielenden Kinder, weil wir Kirchen als Orte erlebt haben, an denen man still sitzen muss. Wir staunen über die Baustellen, weil wir Kirchen als Bauten kennen, die selbstverständlich immer schon, mehr oder weniger prächtig, im Zentrum unseres Stadtteils stehen. Wir kennen ‚unser‘ Gotteshaus weder als renovierungsbedürftig noch als Orte, an denen man selber mit anpacken muss, um sie zu erhalten. Mit unserem Staunen re-produzieren wir in gewisser Weise die Besonderheit des Feldes – Staunen tut man über etwas, das man so nicht kennt, über etwas, das fremd und außergewöhnlich ist. Deutlich wird dies in unseren Gesprächen: Feldfremde lassen sich von unserem Erstaunen anstecken und bestätigen uns, was für ein interessantes Material wir da hätten. Vorstände, denen wir unser Staunen mitteilen, nutzen dies, um voller Stolz von ihren weiteren Planungen zu erzählen. Muslimische Studierende, denen wir von unseren Ergebnissen erzählen, nicken nur leicht: Ja, so kennen sie das. Nicht alle empfinden die Vielfunktionalität, etwa die Teestuben oder Geschäfte, als passend für eine Moschee – aber niemand staunt. Schließlich lässt sich fragen, ob der Überraschungseffekt, der bei NichtMuslim:innen entsteht, wenn Moscheen als besonders vielfältige Orte dargestellt werden, nicht in besonderer Weise in der stereotypen Wahrnehmung von Moscheen begründet liegt. Die Darstellung der vielfältigen und sich wandelnden Funktionen erstaunt nicht nur uns, sondern erzielt auch auf Konferenzen eine hohe Aufmerksamkeit – bekämen wir diese in gleicher Weise, wenn wir über die Vielfalt weniger stereotyp wahrgenommener Orte berichten würden? Dass wir Vielfalt als zentrales Ergebnis hervorheben, hat schließlich auch mit dem Geschäft der Wissenschaft zu tun: Recht früh im Forschungsprozess bewerben wir uns mit einem Beitrag auf eine internationale Tagung. Wie üblich ist ein Abstract gefordert – Vielheit und Wandel erscheinen uns als Begriffe, die nicht nur unsere vorläufigen Ergebnisse gut zusammenfassen, sondern mit denen wir auch Interesse wecken können, gerade weil sie im Kontrast zu der Darstellung von Moscheen in den anderen Beiträgen stehen.

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8 Ist die Moschee eine Moschee? Immer wieder stellt sich im Forschungsprozess die Frage, wie wir den Gegenstand unserer Forschung benennen. Obwohl es sich bei Moscheen mit vielen Funktionen in umgebauten Gebäuden um eine verbreitete und typische Form der Moschee in Deutschland handelt, scheint es hierfür keinen in allen Kontexten selbstverständlichen Namen zu geben.⁹ Vielmehr finden sich an unterschiedlichen Orten – das heißt im alltäglichen Sprachgebrauch, auf Schildern, in Bauakten und in Publikationen – unterschiedliche Bezeichnungen. Im alltäglichen Sprachgebrauch im Feld werden diese Gebäude in der Regel ganz selbstverständlich als „Moscheen“ bezeichnet. Wenn es jedoch darum geht, den Forschenden das Gebäude zu erklären, hören wir Gemeindemitglieder gelegentlich über ihr Gemeindezentrum sagen, dass dies keine „richtige Moschee“ sei. Unsere Gesprächspartner:innen begründen dies mit der Bauform. Eine „richtige Moschee“, so wird in den Gesprächen deutlich, assoziieren sie mit Kuppel und Minarett. Diese Vorstellung erfüllen die Moscheen in den umgenutzten Gebäuden nicht. Auf den Schildern über dem Eingang steht auf Türkisch fast immer „Camii“. Häufig wird dies mit dem deutschen Wort „Moschee“ kombiniert, selten erscheint dieses auch als alleinige Bezeichnung. In vielen Fällen lesen wir auf den Schildern außerdem „türkisch islamische Gemeinde“, „islamische Gemeinschaft“, „Islamisches Gemeindezentrum“ oder „islamisches Kulturzentrum“. In den Bauakten finden wir besonders viele verschiedene Bezeichnungen für die Gebäudeart, so etwa „Gebetsräume, Kultur- und Sozialräume“, „Gebets-, Aufenthalts-, Lager- und Ladenräume“, „Gebets- und Versammlungsgebäude“, „Versammlungshaus zu religiösen Zwecken mit Jugendraum, Cafeteria und Lebensmittel-Verkaufsraum“, „Moschee mit Sozialeinrichtungen“ oder „Moschee und Versammlungsraum für die Gläubigen“. Während die Schilder die Bezeichnungen tragen, mit denen die Gemeinden sich dem Publikum der Straße und ihren Besucher:innen präsentieren, finden sich in den Bauakten die Begriffe, die sie für genehmigungsrechtliche Prozesse nutzen (müssen). Ob und welche Aushandlungen Bauherr:innen, Planer:innen und Behörden zu genau diesen Begriffen geführt haben, können wir nicht rekonstruieren. Im Forschungsprozess diskutieren wir immer wieder, wie die Gebäude zu bezeichnen seien, sowohl im Projekttitel als auch in der Abschlusspublikation.

 Dass der für diese Form von Moscheen häufig genutzte Begriff der „Hinterhofmoschee“ auch hinterfragt wird, zeigt etwa die Reflexion von Beinhauer-Köhler (2010, 411) oder Schmitt (2003, 77– 78).

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Um den vielen Funktionen und Nutzungen der untersuchten Orte gerecht zu werden, die weit über das Religiöse hinausgehen, und angesichts der stereotypen Assoziationen mit dem Begriff „Moschee“, entscheiden wir uns für den Begriff „Gemeindezentrum“. Allerdings macht die nachträgliche Reflexion deutlich, dass die Wahl dieses Begriffs die Vorstellung re-produziert, dass als „Moscheen“ bezeichnete Gebäude eben doch nur Orte des Betens seien. Außerdem distanzieren wir uns mit dem Begriff des „Gemeindezentrums“ von dem im Feld üblichen Begriff „Moschee“. Dieser wird eben nicht übernommen und auch nicht mit den vielfältigen Funktionen in Verbindung gebracht. Schließlich bedarf der Begriff „Gemeindezentrum“ als eine Art Oberbegriff (es gibt ja viele verschiedene Arten von Gemeindezentren) immer eines Zusatzes „türkischer Muslime“ – und dieser trägt zu weiteren Zuschreibungen bei. In der distanzierten Reflexion wird schließlich deutlich, wie diese Suche nach dem passenden Begriff die Moschee als etwas herstellt, für das es (noch) keinen selbstverständlichen Begriff gibt. Die Moschee wird zu etwas, für das ein Begriff erst gefunden werden muss. In ähnlicher Weise wie etwa der neue Begriff der „Patchworkfamilie“ darauf verweist, dass eine solche über die von vielen geteilte Vorstellung von Familie hinauszugehen scheint, bezeichnet „Gemeindezentrum“, „Moschee in dem umgenutzten Gebäude“ oder „Moschee in Deutschland“ nicht einfach eine Moschee. Sie erscheint als etwas Besonderes.

9 Ist die Moschee „türkisch“? Eine Frage, die das Forschungsteam über die gesamte Projektzeit immer wieder bewegt, ist die Frage, inwieweit die Moschee als eine „türkische“ zu betrachten und zu benennen sei. Ein Ausgangspunkt für diese Frage ist das Forschungskonzept, welches die Moscheen als „Zeugnisse deutscher Migrationsgeschichte“ in den Blick nimmt. Diese Perspektive findet sich vielfältig in der Literatur über Moscheen, deren Darstellung eng mit der Geschichte der Arbeitsmigrant:innen aus der Türkei verknüpft wird (exemplarisch hierzu Ceylan 2006; Yükleyen 2012). Diese Geschichte ist nun etwa 50 Jahre alt, viele der Menschen, die heute Moscheen besuchen und wesentlich mitgestalten, sind in Deutschland aufgewachsen und/oder haben die deutsche Staatsangehörigkeit. Immer wieder wird deswegen im Projektverlauf debattiert, ob die Moscheen nicht genauso als „deutsche“ beschrieben werden sollten. Befinden sie sich nicht in Deutschland? Sind sie nicht gemäß dem deutschen Vereinsrecht als eingetragene Vereine organisiert und orientieren sich am deutschen Baurecht? Diese Debatte des Forschungsteams verweist auf die mit dem Begriff des othering verbundene Analyse, dass eine solche Benennung als „türkisch“ einen Forschungsgegenstand als an-

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deren, der eben nicht „deutsch“ sei, erst herstellt (Sökefeld 2004, 24). Es ist dem Forschungsteam ein Anliegen, die Gemeindezentren und damit auch ihre Mitglieder als zugehörig zu einer postmigrantischen Gesellschaft (vgl. Yildiz in diesem Band) anzuerkennen – dennoch verweisen ihre Diskussionen darauf, dass sie in den Gemeindezentren vielfach „Türkisches“ sehen. Sie sind sich nicht einig, ob Kleidungsstile, Fahnen und Sprache als „türkische“ verstanden werden sollten. Bei der Formulierung der Publikation wird die gleiche Diskussion wieder geführt. Es geht um „türkische“ Süßigkeiten, die vielfach in den Theken zu sehen sind und um das „türkische“ Essen – aber was macht eigentlich die Süßigkeiten und das Essen zu „türkischen“? Sind es überhaupt „türkische“ Speisen, oder werden diese nicht in verschiedenen Ländern ähnlich gekocht? Und überhaupt: Ist etwa Lahmacun nicht längst auch ein „deutsches“ Gericht? „Ja, aber die „türkischen“ Fernsehprogramme und Zeitungen …“ Und schließlich geraten auch vielfältige Einrichtungsgegenstände, die den Forschenden in dieser Form außergewöhnlich scheinen (etwa Salz- und Pfefferstreuer) als „türkische“ in den Blick. Deutlich wird: Ganz unterschiedliches wird von den Feldforschenden als „türkisch“ in den Blick genommen: Einrichtungsgegenstände, Speisen, Kleidungsstile, Flaggen, Aushänge, Zeitungen oder TV-Programme. Und gleichzeitig kann das „Türkischsein“ all dieser Dinge auch wieder in Frage gestellt werden. Die nationale Zuordnung dominiert den Blick, sie scheint kaum abzustellen – und gleichzeitig ist sie fragil und lässt sich schwer begründen. In den Diskussionen der Forschenden wird deutlich, wie politisch aufgeladen die Frage nach der nationalen Zuordnung der Dinge ist. Nimmt man den Menschen nicht ihre Identität, wenn man all diesen Dingen das „Türkischsein“ aberkennt – so könnte man die eine Position zusammenfassen. Macht man sie nicht zu anderen, zu Nicht-Zugehörigen, wenn man all dies mit der anderen Nationalität belegt, so die Gegenrede. (Fast) Alles, was wir in Moscheen sehen, sehen wir doch so (oder ganz ähnlich) auch an anderen Orten, so das eine Plädoyer. Wieso müssen wir alles nivellieren, so auch hier die Gegenrede. Schließlich entscheiden wir uns, den Begriff „türkisch“ zu benutzen, weil er den Diskurs und die Blickweisen so sehr prägt. Einige von uns setzen ihn in Anführungszeichen, um ihn als Konstrukt zu markieren, andere lassen die Anführungszeichen weg. Interessant ist, dass das Forschungsteam diese hitzigen Debatten nur unter sich führt. In den Gesprächen und Interviews betonen die Menschen im Feld eher Fragen der Zugehörigkeit. Zentral machen sie insbesondere das Verhältnis zwischen der Moscheegemeinde und der Stadtgesellschaft: Sie sehen ihr Gebäude als Symbol der Zugehörigkeit, weil es sich in das Stadtbild integriert. Sie sprechen von der Moschee als einem Ort, von dem aus mit Netzwerkarbeit und interreligiösem Austausch die Öffnung der Moscheegemeinde in die Stadt betrieben wird und werden müsse. Sie betonen, dass viele Gemeindemitglieder in Deutschland

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Häuser gekauft oder Betriebe gegründet haben, dass ihre Kinder an Universitäten studiert haben, sie mit ihren Enkelkindern hier leben und dass sie sich insgesamt zugehörig zu ihren Stadtteilen und in Deutschland fühlen – und auch so wahrgenommen werden möchten. (vgl. Herz und Munsch 2019, 93). Hervorgehoben wird in den Gesprächen und Interviews auch der Beitrag, den Einwander:innen aus der Türkei als Arbeiter:innen zum Aufbau des Landes beigetragen haben. Gleichzeitig werden immer wieder Fragen von Misstrauen und Diskriminierung gegen Muslim:innen beklagt. Manche betonen, dass die Moschee ein wichtiger Ort sei, wo Menschen ihre „Wurzeln“, also eine „türkische Kultur“ pflegen könnten. Manchmal werden Zuschreibungen recht emotional zurückgewiesen, so etwa von einem Vorstandsvorsitzenden, der das Wort „Integration“ aufgreift und sich in Rage redet: Er könne dieses Wort nicht mehr hören, er sei integriert und zahle Steuern. Es geht unseren Gesprächspartner:innen um Anerkennung, etwa als vertrauenswürdige Nachbar:innen, als Anbieter:innen förderungswürdiger Sozialer Arbeit oder als Leistungsträger:innen. Deutlich wird die Komplexität dieser Rede über Zugehörigkeiten im Kontext von Diskriminierung: An manchen Stellen ist mit Nachdruck und Selbstverständlichkeit von nationalen „Wurzeln“, „den Türken“ und „den Deutschen“ die Rede, an anderen Stellen – manchmal im gleichen Gespräch – werden solche nationalen Abgrenzungen vehement zurückgewiesen. Anerkennung wird nicht in erster Linie in Bezug auf Nationalität, sondern auf Leistung, auf den Alltag, das Gebäude und das Leben in der Nachbarschaft eingefordert.

10 „Dürfen die das? Und ist das Architektur?“ – Die Moschee im Blick von Baurecht und Baukultur Die Moschee wird nicht nur im Diskurs über Migration und den Islam in spezifischer Weise in den Blick genommen, sondern ebenso im Kontext von Stadtplanung und Architektur. Welche spezifischen Perspektiven hier erzeugt werden, wird exemplarisch aus der Diskussion auf einer kleinen Tagung deutlich, auf der wir einem Netzwerk aus Stadtplaner:innen und Architekt:innen Ergebnisse unserer Forschung vorstellen. Die Präsentation über die Moscheen irritiert und provoziert insbesondere in zweierlei Hinsicht. Zum einen gibt die Darstellung der vielen unterschiedlichen Funktionen der Gebäude(‐komplexe) Anlass zur Frage „Dürfen DIE das?“. Diese Frage bezieht sich auf Gebietskategorien, die regeln, welche Nutzungen für ein Baugebiet zulässig oder ausnahmsweise zulässig sind. Sind etwa eine Moschee und die

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Wohnung für den Imam in der Moschee¹⁰ im umgenutzten Manufakturgebäude im Gewerbegebiet überhaupt erlaubt? Laut § 8 BauNVO dient ein Gewerbegebiet „vorwiegend der Unterbringung von […] Gewerbebetrieben“ – „Wohnungen für Aufsichts- und Bereitschaftspersonen sowie für Betriebsinhaber und Betriebsleiter“ und „Anlagen für kirchliche, kulturelle, soziale und gesundheitliche Zwecke“ können nur ausnahmsweise zugelassen werden. Die Frage, ob die Moscheen mit dem deutschen Baurecht in Konflikt geraten, stellt sich auch in Bezug auf nicht genehmigte Nutzungsänderungen baulicher Anlagen,¹¹ fehlende zusätzliche Stellplätze oder erforderliche Rettungswege. Ursächlich ist hier insbesondere der Selbstbau: Aufgrund der eingeschränkten finanziellen Ressourcen werden viele Baumaßnahmen von motivierten Gemeindemitgliedern oder von Mieter:innen der Räume in der Moschee selbst initiiert und ausgeführt. Als Laien haben sie oft nur wenig Wissen über baurechtliche Abläufe, Vorschriften und Gesetze. Deutlich wird, dass die Moschee im Kontext des Baurechtes als ein nicht konformes, ja gesetzeswidriges Gebäude in den Blick gerät. Dies geschieht im Laufe des Projektes immer wieder. Einige der untersuchten Bauakten erzählen von Auseinandersetzungen zwischen Behörden und Moscheegemeinden, auch die Gemeinden berichten uns davon. Durch diese Fokussierung auf baurechtliche Fragen geraten andere Phänomene, welche für Stadtplanung und Architektur aus der Sicht der Architektin im Team eigentlich viel relevanter wären, in den Hintergrund: die Anpassungsfähigkeit der Gebäude an Veränderungen von Funktionen oder die Reaktivierung brachliegender Baukörper werden nicht diskutiert. Dies wird auch in Gesprächen deutlich, die wir mit Stadtplaner:innen und Architekt:innen führen: Es gelingt uns selten, lange über die Potentiale der Gebäude

 In den von uns besuchten Moscheen ist es üblich, dass die Gemeindemitglieder dem Imam eine Wohnung zur Verfügung stellen. Meist befindet sich diese in den Moscheegebäuden, auch um die Kosten für eine externe Anmietung zu vermeiden.  Der Begriff der Nutzungsänderung (einer baulichen Anlage) stammt aus dem öffentlichen Baurecht. Eine Nutzungsänderung darf nicht im Widerspruch stehen zu öffentlich-rechtlichen Vorschriften, möglichen Festsetzungen des Bebauungsplans, Vorschriften der Landesbauordnung, Denkmalschutzbestimmungen oder sonstigen Vorschriften. Rechtlich liegt eine Änderung dann vor, wenn für die neue Nutzung andere oder weitergehende baurechtliche Anforderungen als an die bisherige Nutzung bestehen. Da sich eine Baugenehmigung auf die ursprüngliche Nutzung bezieht, sind Änderungen in den meisten Fällen genehmigungspflichtig. Dies ist zum Beispiel der Fall bei der Nutzung von Büroräumen als Wohnung, eines Wochenendhauses als Wohnhaus oder eines Dachbodens als Aufenthaltsraum. Erfolgt eine Nutzungsänderung ohne Erlaubnis der zuständigen Behörde und ist keine Genehmigung erteilt worden, so kann die Einstellung der Nutzung, sogar der Abriss des Gebäudes, angeordnet werden. Zudem wird in der Regel auch ein Bußgeld fällig.

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zu sprechen – in den Fokus gerät immer wieder der Verdacht der Gesetzeswidrigkeit. Dieser Topos scheint im Diskurs so wirkmächtig, dass sich der anerkennende Blick etwa auf die Flexibilität der Raumnutzung einfach nicht durchsetzen kann. Die zweite Irritation, welche die Präsentation auslöst, betrifft die Anerkennung des Gegenstandes als baukulturellen Beitrag. So wird die Ethnografin nach dem Vortrag von einem älteren Herrn, der sich als Architekturkritiker zu erkennen gibt, zur Seite genommen. Augenscheinlich wohlwollend rät er ihr, den Begriff der Baukultur im Titel des Projektes zu überdenken. Deutlich wird, dass er den baukulturellen Beitrag, den die Gebäude leisten, gar nicht wahrnimmt. Diese Perspektive verweist auf ein (immer noch) sehr verbreitetes, normatives Verständnis von Baukultur, das auf Hocharchitektur fokussiert. Anonyme, das heißt nicht von Architekt:innen geplante Gebäude, genauso wie alltägliche oder gar von Migrant:innen initiierte Architektur werden kaum zur Kenntnis genommen und daher nur äußerst selten besprochen oder zum Gegenstand von Analysen. Damit wird die Moschee im umgenutzten Gebäude, wie viele andere auch, im Diskurs um Baukultur übersehen und damit quasi unsichtbar. Als irritierend kann eine architekturwissenschaftliche Besprechung von Moscheen in umgenutzten Gebäuden auch deshalb wahrgenommen werden, weil sie nicht als Gegenstand erscheinen, mit dem sich Architekt:innen befassen. Dies begründet sich insbesondere damit, dass es bei der Bauaufgabe ‚Moschee im umgenutzten Gebäude‘ selten um gravierende Eingriffe in die Bausubstanz geht, sondern vielmehr um eine Vielfalt an kleineren baulichen Anpassungen des Bestandes, etwa um das nachträgliche Anbringen einer Rettungstreppe zur Erfüllung von Brandschutzbestimmungen oder um die Genehmigung von Nutzungsänderungen. Daher sind in vielen Planungs- und Genehmigungsprozessen keine Architekt:innen involviert, meist genügt eine bauvorlageberechtige Person, etwa ein:e Handwerksmeister:in, Bautechniker:in oder Bauingenieur:in mit entsprechenden Befugnissen. In einem architektonischen Sinn erscheint die bauliche Herstellung der Moschee somit nicht als eine Frage von Gestaltung. Im Feuilleton oder in Architekturzeitschriften, die sich an praktizierende Architekt:innen oder Architekturinteressierte wenden, werden Moscheen in umgenutzten Gebäuden daher nicht besprochen. Publiziert werden in der Regel jene von Architekt:innen entworfenen Gebäude, die bereits ausgezeichnet wurden, wie zum Beispiel als Wettbewerbsbeiträge, deren Qualität von einer Fachjury begründet wurde.¹² So

 In ähnlicher Weise wurde im Rahmen der Cultural Studies, etwa von Paul Willis (1991), dafür plädiert, nicht nur die „Elitekultur“ (etwa Oper oder Ballett), sondern genauso die „Trivialkultur“

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wurde etwa der Kölner Moscheeneubau, der aus einem Wettbewerbsgewinn hervorging, vielfach veröffentlicht (exemplarisch hierzu Schulz und Schulz 2018). Die Moschee im umgenutzten Gebäude, die sich ständig verändert, wird somit zu einem Gegenstand, der für Architekt:innen wenig Prestige verspricht und folglich in ihren fachlichen Diskursen nicht thematisiert wird.¹³ Immer wieder setzen wir uns im Forschungsprozess mit Vorstellungen von Ästhetik auseinander – auch, weil die Gebäude nicht den Vorstellungen entsprechen, die in Publikationen dargestellt werden. Das, was die Gebäude aus unserer Perspektive auszeichnet, sind ihre Prozesshaftigkeit und ihre Anpassungsfähigkeit an sich verändernde Bedingungen und Bedürfnisse. Gleichwohl können wir die Gebäude nicht betrachten, ohne die normativen Vorstellungen von Gebäuden im Architekturdiskurs im Hinterkopf zu haben. Deutlich wird dies insbesondere bei der Auswahl der Fotografien für das Buch. Regelmäßig fragen wir uns, wie wir den Gegenstand, dem das negative Image eines alten, wenig wertigen Gebäudes anhaftet, darstellen können, ohne dieses Bild zu bedienen. Das Dilemma der fotografischen Darstellung ist ihre Mehrdeutigkeit (siehe Abb. 3). Wir sehen in dieser Aufnahme zwei wesentliche Aspekte von Moscheen: zum einen die gewachsene Struktur des Gebäudes und zum anderen mit dem älteren Mann, der hingebungsvoll an seinen Tomaten zupft, eine der vielen alltäglichen Gesten, die der Moschee ihre vielfältigen Bedeutungen verleihen. Andere hingegen sehen im gleichen Foto das Moos an der Fassade oder den Sanierungsstau. „Können wir diese Aufnahme dann zeigen?“, fragen wir uns immer wieder. Und werden sich die Gemeinden nicht fragen: „Warum zeigen sie das Moos und nicht unseren schönen neuen Teppich?“ Zusammenfassend wird deutlich, wie das Baurecht sowie die spezifischen Diskurse über Baukultur und Architektur dazu führen, dass die Moschee in umgenutzten Gebäuden kaum als ein für diese Disziplinen spannender oder gar innovativer Gegenstand sichtbar werden kann. Weder erscheint sie als Baukultur noch als Architektur, vielmehr wird sie zu einem Gegenstand, der Gesetze bricht. Mit der umfassenden baulichen Bestandsdokumentation der Gebäude in unserer Publikation versuchen wir in diesem diskursiven Kontext, das Potential der Moscheen in umgenutzten Gebäuden als Teil von Baukultur sichtbar zu machen. Zusammenfassend wird somit deutlich, wie architekturwissenschaftliche Analysen immer auch politische Aussagen über die Zugehörigkeit von Gebäuden (und ihren Nutzer:innen, die sie wesentlich mitgestalten) machen. So fordert die hier

(Diskotheken, Kino, Fernsehen etc.) als Kultur anzuerkennen, da diese überdies wesentlich verbreiteter sei.  Wir danken unserem Kollegen Doron Stern für seine inspirierenden Gedanken hierzu.

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Abb. 3: Wer sieht was? Reproduzieren Aufnahmen wie diese ein negatives Bild von Moscheen in umgenutzten Gebäuden? (Foto: Espen Eichhöfer © Wüstenrot Stiftung).

vorgestellte Studie bestehende architekturkulturelle Normen heraus und plädiert für eine Neubewertung von Moscheen.

11 Fazit: Fragen der Repräsentation In der Reflexion über qualitative Forschungsmethoden wird immer wieder betont, dass der Gegenstand der Forschung im Forschungsprozess in der Auseinandersetzung mit dem Feld und dem Material erst hervorgebracht wird. Daten sind kein Fallobst, das von Forschenden nur aufgelesen zu werden braucht. Da ist nichts, was auf eine ‚Erhebung‘ wartet. Es sind die Forschenden selbst, die die Entscheidungen treffen, die zur Herstellung des Korpus führen, die etwas zum ‚datum‘, dem Gegebenen, machen und ins Zentrum ihrer Analyse stellen. (Strübing et al. 2018, 89) Studien haben ihren Gegenstand nur vermittelt durch eine theoretische Optik, in der er eingangs entworfen wird, durch eine Reihe von Fragestellungen, mit denen er perspektiviert wird, durch eine oder mehrere Methoden, mit denen er erschlossen wird, durch Datentypen, in denen er aufscheinen soll und durch die Wahrnehmungen und Verhaltensweisen, über die Forschende mit ihm in Kontakt kommen. (Strübing et al. 2018, 86)

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In dem hier beschriebenen Projekt wird zunächst deutlich, wie sich unterschiedliche Forschungsmethoden auf die Herstellung des Gegenstandes auswirken: Es werden unterschiedliche Facetten der Moschee erfasst, je nachdem, ob mit Interviews oder Gesprächen danach gefragt wird, welche Bedeutungen die Menschen im Feld mit den Gemeindezentren verbinden; ob beobachtet wird, was die Nutzer:innen alltäglich in den verschiedenen Räumen tun oder ob die Materialität der Gebäude und der Dinge in ihnen mit Zeichnungen oder Fotografien erhoben und analysiert wird. Je nach Erhebungsmethode werden unterschiedliche Themen sichtbar: Fragen von Zugehörigkeit und Anerkennung sowie Finanzierung erhalten in den Interviews große Bedeutung, treten aber in den Beobachtungen kaum in Erscheinung. Bei den Beobachtungen wiederum können die Veränderungen von Räumen für verschiedene Zwecke (etwa das Beten, das Spielen oder das Unterrichten) deutlich werden, während diese alltäglichen Veränderungen in den Erzählungen kaum relevant gemacht werden. Im interdisziplinären Austausch im Forschungsteam und auf Tagungen wird außerdem deutlich, dass auch die disziplinäre Perspektive wesentlich mitbestimmt, wie der Gegenstand in den Blick genommen wird. Als Gegenstand der Religions- und Islamwissenschaften erscheinen Moscheen insbesondere als Räume, in denen spezifische religiöse Gemeinschaften mit spezifischen Traditionen spezifische Rituale praktizieren. Stadtplaner:innen und Architekt:innen stellen als Reaktion auf die vorgestellte Funktionsvielfalt insbesondere baurechtliche Fragen und betrachten die Moschee somit als einen Gegenstand, der potentiell gegen Baurecht verstößt. Disziplinäre Perspektiven sind allerdings keinesfalls homogen – auch theoretische Sozialisation und Präferenzen prägen die Herstellung des Forschungsgegenstandes. Die leitenden theoretischen Perspektiven in dem hier vorgestellten Forschungsprojekt richteten sich insbesondere auf alltägliche Praktiken, auf Differenzierungen als soziale Konstruktionen sowie poststrukturalistisch inspirierte Betrachtungen von Vielheit und Wandel. Während solche Reflexionen zuweilen als vornehmlich erkenntnistheoretische oder methodologische Fragen verstanden und somit implizit auch als eher apolitische gesehen werden, so wird bei dem hier vorgestellten Forschungsprozess deutlich, dass es eben nicht ausreicht, nur den Einfluss von Methoden, Datentypen, Fragestellungen, Theorien und Disziplinen zu reflektieren. Deutlich wird vielmehr, wie stark der gesellschaftliche Kontext, insbesondere der spezifische Kontext der Migrationsgesellschaft, die Herstellung des Gegenstandes ‚Moschee‘ prägt. In diesem Kontext erscheint die Moschee als unsichtbare, bedrohte, zu finanzierende, klischeebehaftete oder national zugeordnete. In dem so aufgeladenen und die Gemeinden ja auch existentiell betreffenden Diskurs zur Frage, ob „der Islam zu Deutschland gehört“ sowie im Kontext von antimuslimischem Rassismus und Gewalt gegen Moscheen und ihre Mitglieder wird die Frage der

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Darstellung der Moschee zu einer politischen Frage. Das Bild der Moschee ist ein umstrittenes und tangiert wesentlich die soziale Position der Moschee und ihrer Gemeinde – und dies wird in den Interaktionen zwischen Forschenden und Feld genauso wie in den Reflexionen im Forschungsteam immer wieder deutlich. Den Forschenden wie den Menschen im Feld ist der diskursive Kontext bewusst und sie nehmen implizit und explizit immer wieder darauf Bezug. Sie wissen, dass die angestrebte Publikation über Moscheegemeinden in einem spezifischen historischen Kontext mit einem spezifischen gesellschaftlichen Diskurs eine Wirkung entfalten wird. In ihren Interaktionen verhandeln sie über die Bilder, welche im Forschungsprozess hergestellt werden – und diese Verhandlungen prägen die erhobenen Daten (Interviewtranskripte, Gesprächsnotizen, Beobachtungsprotokolle und Fotos). Die Forschenden sind sehr stark damit beschäftigt, kulturalisierende und damit ver-andernde Zuschreibungen zu vermeiden – und die Analyse der Klischees, die sie ganz besonders zu vermeiden versuchen, und der Themen, über die sie besonders diskutieren, verweist auf die Wirkmacht der Bilder, welche im aktuellen Diskurs mit dem Islam verbunden werden. So hat das Forschungsteam etwa die Frage beschäftigt, wie Geschlechterverhältnisse, Minarette oder der Umgang mit islamistischen Strömungen in der Publikation dargestellt werden sollen. Die Relation zwischen Forschenden und Forschungsgegenstand, die sich im hier dargestellten Forschungsprozess beobachten lässt, ist von den Machtverhältnissen der Migrationsgesellschaft geprägt: Bei der Reflexion des Forschungsprozesses wird deutlich, wie sehr es die Forschenden beschäftigt, die Moscheen zu gefährden. Dabei stellen sie sich als solche dar, die die Gemeinden schützen wollen und deswegen darauf achten, was sie wie repräsentieren. Bei der Diskussion über die Buchgestaltung wird immer wieder betont, dass es ein besonders hochwertiges Buch werden soll, welches die Leistungen der Gemeinden würdigt. Gerade diese Vorsicht, die paternalistisch anmutende Beschützer:innenrolle und dieser unbedingte Wunsch der Würdigung verweisen – so unsere Lesart – auch auf die gesellschaftlichen Hierarchien und stellen die Moscheen als solche her, welche Schutz und Würdigung brauchen. Im Vergleich mit der oft radikalen Kritik, die etwa in der Sozialen Arbeit an den beforschten Einrichtungen und Konzepten geübt wird, wird die soziale Stellung des Forschungsgegenstandes sichtbar: Während die Kritik an der Sozialen Arbeit ihre Position als mächtige Institution in gewisser Weise bestätigt, gerät die Moschee durch die Perspektiven des Schutzes und der Würdigung als prekäre Institution in den Blick. Dies steht in Spannung zu den Leistungen ihrer Mitglieder, welche sowohl den Schutz als auch die Repräsentation ihrer Moscheen im Feld alltäglich übernehmen. Nachdenklich

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macht in diesem Zusammenhang schließlich auch die Buchpräsentation, mit der das Forschungsprojekt abschlossen wird: Die Projektleiterin gibt einen Einblick in das Buch. Es ist ihr wichtig zu zeigen, dass es um die Alltäglichkeit und Vielfältigkeit des Gemeindelebens geht und eben nicht um die Klischees – und die anwesenden Gemeindemitglieder reagieren mit einer großen Dankbarkeit, dass ihre Gemeindezentren so abgebildet sind, wie sie „wirklich sind“. In der emotional aufgeladenen Situation der Dankbarkeit und der Freude darüber, dass das Buch ‚gut ankommt‘, verdichten sich die hier beschriebenen gesellschaftlichen Bedingungen: Vor dem Hintergrund der Prekarität, das heißt, der eben nicht selbstverständlichen Anerkennung, sondern der vielfach in Frage gestellten Existenzberechtigung der Gemeinden sind die Gemeindemitglieder in besonderer Weise von der Repräsentation abhängig – haben diese, zumindest im Fall der hier besprochenen Publikation, jedoch nicht in der Hand. Die Deutungsmacht liegt in den Händen der Forschenden und ihre Erleichterung über die Zustimmung und Dankbarkeit der anwesenden Gemeindevertreter:innen verweist auch darauf, was es bedeutet, in Forschung Subalternität zu re-produzieren.

Abbildungen Abbildung 1: Wie sieht eine Moschee aus? Foto: Espen Eichhöfer © Wüstenrot Stiftung. Abbildung 2: Grundrisszeichnungen – in Architekturbüchern eine Selbstverständlichkeit, in Publikationen über Moscheen eine Bedrohung? Foto: Espen Eichhöfer © Espen Eichhöfer. Abbildung 3: Wer sieht was? Reproduzieren Aufnahmen wie diese ein negatives Bild von Moscheen in umgenutzten Gebäuden? Foto: Espen Eichhöfer © Wüstenrot Stiftung.

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Moscheeküchen. Materielle Kultur und soziale Praxis Abstract: Als Teil alltäglicher Praxis gehören Küchen und Speisemöglichkeiten elementar zur Ausstattung von Moscheeräumlichkeiten in Deutschland. Im Beitrag wird der Frage nachgegangen, welche sozialen Dynamiken sich um diese baulichen Bestände entfalten. Dies erfolgt anhand exemplarischer Einblicke nebst Seitenblick in die Niederlande. Es geht um die Entwicklung, Professionalisierung und Ausdifferenzierung von Küchen als Element der Institutionalisierung des Islam in Nordeuropa.¹ Den Hintergrund bilden Beobachtungen des Architekturhistorikers Jay M. Price in den USA zur Gestaltung von Sakralbauten seit dem Zweiten Weltkrieg. Auch hier lässt sich aus ersten baulich improvisierten Anfängen immigrierter Religionsgruppen über ein paar Jahrzehnte eine fortschreitende institutionelle und architektonische Etablierung beobachten. Mit Blick auf die verschiedenen Gebäudeteile kommen neben den ansonsten standardmäßig fokussierten Gebetsräumen nun die Gemeinschaftsbereiche in den Blick, wo neben Unterrichtsräumen auch Sozialräume mit Koch- und Essbereichen entstehen. Damit wird bei der Frage nach dortigen sozialen Handlungen auch eine Genderperspektive relevant. Eine nähere Betrachtung islamischer Gemeinden in Deutschland wird – bezogen auf die Aktivitäten von Frauen und Männern in den Gemeinschaftsräumen von Moscheen – keineswegs stereotype Ergebnisse ergeben. Die Theorieperspektive folgt der Forschungsrichtung der Materialen Religion, deren Zugänge eingangs erläutert werden, um menschliche Akteure und Akteurinnen in Interdependenz mit materiellen Gegenständen zu erfassen, seien es in unseren Fällen Teeküchen, zusammenmontierte Kellerküchen oder eingebaute professionellen Restaurantküchen nebst deren Gerätschaften. Dies eröffnet Einblicke sowohl in religiöse Praxis, etwa bei großen islamischen Festen wie dem Fastenbrechen, als auch in das Alltagsleben in Moscheen. Das Geschehen lässt sogar Rückschlüsse auf anthropologische Konstruktionen des menschlichen Körpers zu. Im Gegensatz zu christlichen Gemeindehäusern stellt sich heraus, dass Kochen und Essen in islamischen Gesellschaften eine positive Rolle spielen, die sich auch architektonisch niederschlägt. Bei alledem zeigen sich Moscheen und ihre Küchen angesichts

 Ich danke der Universität Utrecht und der Projektgruppe Religious Matters in an Entangled World (Leitung Birgit Meyer), wo ich im Frühjahr 2019 an fruchtbaren Diskussionen zum dort gerade eingeleiteten Schwerpunktthema ‚Food‘ partizipieren durfte. https://doi.org/10.1515/9783110668919-009

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sozialer Dynamiken von Migration, aber auch generationsspezifisch, als Orte multiethnischer und kulturell vielfältiger Aushandlungsprozesse unterschiedlicher Koch- und Speisekulturen.

1 Die Küche als Raum von Religion Der Architekturhistoriker Jay M. Price beobachtet für die Entwicklung von Gemeinderäumen verschiedener Religionen in den USA nach dem Zweiten Weltkrieg eine Professionalisierung angeschlossener Küchen und Kantinen: Zunächst improvisierten Einwanderer in den ersten Jahrzehnten ihr religiöses und soziales Leben, und in Eigenarbeit funktionierten sie Gebäude um oder bauten diese aus. Inzwischen ist man in vielen Fällen so weit, hochprofessionelle Küchen in Gemeindezentren einzubauen. Es gibt sogar Küchenhersteller, die sich auf solche Küchen in Baukomplexen von Religionsgemeinschaften spezialisiert haben. In den USA spielen Religionen eine große Rolle auch für eine soziale Infrastruktur, von Jugendarbeit bis Altenbetreuung; in jüdischen Gemeinden zirkuliert das Konzept einer „Shul with a Pool“, um die Einbindung einer ganzen Reihe von Lebenswelten in eine Synagoge auszudrücken. Natürlich benötigt man dafür auch Küchen (Price 2018, 67– 70). In Deutschland zeichnete sich ab der Wende zum 20. Jahrhundert eine ähnliche Entwicklung in Kirchen ab. Vor allem die negativen Begleiterscheinungen der Industrialisierung führten zu einer neuen Perspektive auf Baukomplexe um Kirchen, die nicht mehr wesentlich für den Gottesdienst gedacht waren, sondern auch darauf zielten, disparate Bevölkerungsteile wie Arbeitsmigranten – nicht selten alleinstehende Männer und Frauen – überhaupt zu sozialisieren. Teilweise gehörte dies zu Programmen der sogenannten ‚Inneren Mission‘ evangelischer Kirchen, die mit der Beseitigung sozialer Not auch den Protestantismus stärken wollten. Kirchenneubauten dieser Zeit spiegeln solche Bemühungen wider. So weisen Gemeinderäume Teeküchen auf, um geselliges Leben unter dem Dach der Kirche zu fördern (Spitzbart und Schilling 2014; Wittmann-Englert 2006).² Die genannten Beispiele reizen, einen Vergleich mit der Entwicklung von Moscheebauten in Deutschland vorzunehmen – mit kleinen Seitenblicken in die Niederlande. Denn es scheint, als vollziehe sich derzeit eine ähnliche Entwick Spitzbart und Schilling zum Architekten Martin Elsässer mit Konzepten für Gemeinderäume (2014, 128 – 131) und Grundrissen mit Küchen (2014, 134, 137, 142).Wittmann-Englert beschreibt die Entwicklung in der Nachkriegszeit in Deutschland mit Blick auf kirchliche Gemeindezentren (2006, 158 – 164). Davon abgesehen gab es auch im Mittelalter selbst im zentralen Kirchenraum mehr alltägliches Leben als meist angenommen wird, siehe Davies (1968).

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lung in islamischen Gemeinschaften in Europa. Wir sehen Moscheen in Deutschland als Folge der Arbeitsmigration der 1950er bis 1970er Jahre in einem stetigen Prozess der Etablierung. Hier wurden – vergleichbar mit den USA – zunächst im Ehrenamt und in Eigenarbeit Räume umfunktioniert, bevor es seit etwa 20 Jahren verstärkt zu Neubauten kommt (Beinhauer-Köhler 2010), deren Ausstattung analog zu den USA Gegenstand professioneller Unternehmen wird.³ Wer Moscheen besucht – als Gast bei religiösen Festen oder Kulturveranstaltungen, im Rahmen von Forschungsarbeiten oder auf Exkursion mit Studierendengruppen – erfährt regelmäßig kultivierte Gastfreundschaft und wird in sehr vielen Fällen verköstigt. Solches Essen wird, nach Beobachtungen über drei Jahrzehnte hinweg, entweder daheim gekocht und mitgebracht, in kleinen Küchen aufgewärmt oder gleich vor Ort zubereitet. Manchmal findet sich sogar eine Kantine mit einem professionellen Koch. Die folgende Betrachtung zielt darauf, solche Eindrücke bezogen auf die Ausstattung von Moschee-Räumlichkeiten mit Küchen mit Blick auf deren Nutzung genauer einordnen. Den Ausgangspunkt der Betrachtung bildet die geläufige Wahrnehmung, dass Moscheen in Deutschland auch eine kulturelle Heimat bieten und sich insbesondere ältere Generationen dort treffen, ähnlich wie im Café- oder Teehaus des Herkunftslandes (Frembgen 2014). Moscheen sind heute meist multifunktionale Komplexe, die dem Sozialleben großen Raum geben, ebenso wie dem Unterricht, seien es Koran- und Religionskurse für Kinder wie Erwachsene, sei es Hausaufgabenhilfe und Ähnliches. Allerdings sind die dafür vorgesehenen Gemeinschaftsbereiche als Teil umfangreicherer Gebäudekomplexe in der bisherigen Forschung weit weniger im Blick als die Gebetsräume oder das äußere Erscheinungsbild von Moscheen. Dieses Forschungsdesiderat hat Parallelen zur Erforschung der Räume auch anderer Religionen. Es sieht so aus, als sei regelmäßig eine theologische Prämisse wirksam, die bei der Untersuchung entsprechender Architekturen eher religiöse Praxis im engeren Sinne, also Gottesdienste, Predigten oder Gebete, im Blick hat. Dies mag auch mit den besonderen Herausforderungen für Architekten zu tun haben, in den Zentralräumen ‘Sakralität‘ oder im öffentlichen Raum Unverwechselbarkeit oder ‚Transparenz‘ (siehe den Beitrag von Fuess hier im Band) zu

 Eine Spezialisierung und Professionalisierung ist in der migrantischen Moscheebauhistorie in vielen bauteilspezifischen Bereichen erkennbar. Sich wiederholende Ausstattungselemente wie Teppiche werden zeithistorisch betrachtet immer erst behelfsmäßig organisiert, und in den Folgejahren entsteht ein spezialisierter Industriezweig mit eigenen Produktions-, Liefer- und Einbauketten. Durch die institutionelle Einflussreichweite der Dachverbände sind diese heute weltweit vernetzt. Beispiel: www.moschee-teppich.de/iletisim.html (Abruf: 17. 2. 2021). Ich danke Mehmet Bayrak für diesen Hinweis.

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inszenieren, während Gemeinschaftsräume mit Alltag assoziiert sind und nicht selten auch in der Raumverteilung sowie der architektonischen Ausgestaltung hinten anstehen. Dies mag durch die Küchen repräsentiert werden, die sich in Kellern, Durchgangs- oder Seitentrakten befinden. Allerdings muss und soll hier im Folgenden näher untersucht werden, ob eine solche Beobachtung räumlicher Randständigkeit von Kochen und Essen auch in Moscheekomplexen die Regel ist. Solche Vorüberlegungen führen zur generellen Frage nach dem Wechselspiel von Architektur und sozialer Dynamik, um die es im folgenden Artikel geht. Price stellt in seinen Ausführungen zu Küchen und Kantinen in US-amerikanischen Religionsneubauten eine weitere Beobachtung an, die für das vorliegende Thema der Moscheeküchen von Interesse ist: Such conversations hinted at a much larger, complex matter of gender in the role and functioning of the postwar house of worship. Recent scholarship has just started to reveal the extent to which women have formed the backbone of religious participation […]. (Price 2018, 70)

Demgemäß wurde die maßgebliche Rolle von Frauen im Gemeinschaftsleben von Religionen in den USA in der Vergangenheit weniger beachtet. Dies scheint bei christlichen Gemeinden in Deutschland ähnlich zu sein, da auch hier der Pfarrer oder auch die Pfarrerin als sichtbare religiöse Akteure in der Kirche fungieren. Fast immer verbleiben die Helferinnen in der Teeküche im Unsichtbaren – ihre Leistung wird nur intern wahrgenommen. Hier stellt sich die Frage, ob sich auch in Moscheekomplexen in Deutschland eine Nutzung von Räumlichkeiten mit bestimmten Zuschreibungen von funktionalen Rollen zu Männern oder Frauen belegen lässt. Diese Frage hat zudem eine zeitliche Dimension: Ändert sich etwas für den Umgang mit dem Kochen und Essen in Moscheen für die Geschlechter, wenn auch in Moscheen professionelle Küchen eingebaut und halböffentliche Kantinen eingerichtet werden? Alle diese Fragen nach der Entwicklung besonders der Küchen und Speisemöglichkeiten komplexer Moscheeräumlichkeiten in Interdependenz mit den dort Agierenden können nicht bearbeitet werden, ohne im folgenden Kapitel 2 kurz Theorieperspektiven zu umreißen und in Kapitel 3 überhaupt die Rolle des Essens in islamischen Kontexten zu beleuchten. Kapitel 4 ist dann exemplarischen Eindrücken aus den Küchen und Speiseräumen in Moscheen gewidmet, die für die weiterführende Betrachtung heuristischen Wert haben. Das Kapitel 5 führt abschließend Aspekte auf, die als Strukturmerkmale von Wechselwirkungen zwischen Küchen und dortigen Aktivitäten zutage treten.

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2 Materielle Kultur und soziale Praxis als Themen der Religionswissenschaft Im Hintergrund der vorliegenden Auseinandersetzung um Moscheeküchen stehen kultur- und religionswissenschaftliche Prämissen der Untersuchung materieller Kultur und sozialer Praxis. Im Zuge der Forschungsrichtung der Materialen Religion wird das Augenmerk darauf gerichtet, wie Kulturen und Religionen mit den menschlichen Sinnen erfahren und im Wechselspiel mit materiellen Dingen und Räumen praktiziert werden (Prohl 2012, 379). Diese Konzentration auf materialbasiertes körperliches Handeln bedeutet keine Vernachlässigung kognitiver Dimensionen; auch im vorliegenden Fall spielen normative Vorstellungen, Kommunikation darüber und die Kodierungen – in unserem Fall des Kochens und Essens – eine große Rolle für soziale Handlungen. Eine solche Perspektive wurde durch die Wissenssoziologie mit ihrer Beobachtung vielschichtiger Interdependenz von Denken, Wahrnehmen, Fühlen und Tun in materiellen Umwelten geschärft. Der Soziologe Andreas Reckwitz beleuchtet dabei paradigmatisch, ohne einer dieser Dimensionen einen Vorrang einzuräumen, soziale Routinen: Wenn eine Praktik einen Nexus von wissensabhängigen Verhaltensroutinen darstellt, dann setzen diese nicht nur als ‚Träger‘ entsprechende ‚menschliche‘ Akteure mit einem spezifischen, in ihren Körpern mobilisierbaren praktischen Wissen voraus, sondern regelmäßig auch ganz bestimmte Artefakte, die vorhanden sein müssen, damit eine Praktik entstehen konnte und damit vollzogen und reproduziert werden kann. (Reckwitz 2003, 291)⁴

Reckwitzʼ Beispiele sind Schreibmaschinen oder Computer bei Büroroutinen, die in ein unauflösliches Wechselspiel mit menschlichen Akteuren treten. Dies lässt sich leicht auf das vorliegende Beispiel Küchen übertragen. Für die Religionswissenschaft bedeutet dies, auf Basis eines seit einigen Jahrzehnten gängigen, erweiterten Religionsbegriffs, der nicht mehr dichotomisch zwischen sakral und profan, Religion und Kultur unterscheidet, auch scheinbar alltägliches Tun zu untersuchen. Dies erschließt dann nicht mehr primär Aussagen in oder Kommunikation über religiöse Texte, sondern größere kollektive Erfahrungszusammenhänge, etwa performatives, nicht nur rituelles Handeln, verbreitete Muster sinnlicher Wahrnehmung wie Gerüche oder die ge-

 Im Hintergrund erkennbar sind vorausgehende Auseinandersetzungen Reckwitz’ mit den Konzepten des Habitus von Pierre Bourdieu und mit der das Verhältnis Mensch und Technik beleuchtenden Akteur-Netzwerk-Theorie Bruno Latours.

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samte Ebene des Sichtbaren in der Umwelt einer Religion (Gladigow 1988, 33; Beinhauer-Köhler 2011, 17– 22) – alles Faktoren, die in hohem Maße Emotionen kodieren und Identitäten prägen (Morgan 2012). So können wir aufgrund der geschilderten theoretischen Vorannahmen antizipieren, dass der materielle Bestand, die jüngere, bewusste Konzeptionalisierung sowie die Nutzung von Moscheeküchen sowohl religiöse Ideen rund um das Essen als auch soziales Handeln in den Gemeinden greifbar machen. Im besten Falle kommt mit dem Fokus auf Küchen, Kochen und Essen ein ganz neuer Bereich des gleichermaßen gemeinschaftlichen wie des religiösen Lebens zum Tragen.

3 Islam und Essen Die Erforschung der materiellen Kultur des Essens spielt wissenschaftsgeschichtlich schon länger bei der Rekonstruktion antiker Opfer- und Mahlkulte eine Rolle. In der Archäologie wird als eine eigene Quellengattung den Überresten von Speisen eine große Bedeutung zugesprochen (Martens 2004; von den Driesch und Pöllath 2000). Für die Sozialgeschichte Europas fokussierte Norbert Elias Essgewohnheiten und Geschirre von Oberschichten (1976). Ein weiterer geläufiger Zugang ist ethnologisch und sozialwissenschaftlich geprägt und untersucht Formen des sozialen Austauschs, des Gebens und Nehmens in ihrer Symbolik und Zeichenhaftigkeit. Der Herd wurde hierbei vor allem in kolonialzeitlicher Perspektive als zentraler Ort eines außereuropäischen Hauses oder einer entsprechenden Siedlung und ihrer sozialen Dynamiken stilisiert bis romantisiert, während man in der „geisteswissenschaftlichen“ Tradition innerhalb der eigenen, nordeuropäischen Kultur solchen „profanen“ Lebensbereichen lange wenig Aufmerksamkeit schenkte (Därmann 2017, 11).⁵ Als Forschungsgegenstand kam bei christlich geprägten Religionsforschern die Geläufigkeit einer hochgradig ‚sakral‘ aufgeladenen Speisegruppe hinzu, nämlich das Speisen von Brot und Wein bei der Abendmahlsfeier als ein Fall, bei dem weniger ‚richtig‘ als vielmehr symbolisch gegessen wurde. Diese Prägung hatte offenbar Auswirkungen auf eine ganze Forschungslandschaft, so dass auch bei der akademischen Beschäftigung mit

 Därmann (2017, 11– 31) mit einem in die Forschungsgeschichte einführenden Kapitel Küche und Tischgemeinschaft.

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dem Islam reale Speisen und sie umgebende Körperpraktiken nebst materieller Kultur in der Tendenz bisher weniger im Blick waren.⁶ Dies steht in Spannung zur Praxis des Islam. Denn schon frühe Muslim:innen schenkten dem Körper in seinen Funktionen und sicher auch in seinen Möglichkeiten für religiöse Erfahrung große Aufmerksamkeit; siehe die Waschung (wuḍūʾ) und Bewegung beim Gebet (ṣalāt) mit haptisch erfahrbaren Komponenten von Gebetsplatz und Kleidung. Das tägliche Fasten (ṣaum) und abendliche Fastenbrechen (ifṭār) wurde für den Monat Ramadan zur religiösen Pflicht (Watt und Welch 1980, 311– 327).⁷ Betrachten wir Moscheen als Orte des Kochens und Essens, dann ist das gemeinsame Fastenbrechen einer der herausragenden Anlässe, für die in Moscheen und ihren Räumlichkeiten dahingehend besonderer Platz geschaffen wird. Dieser regelmäßig wiederkehrende große Anlass beeinflusst die Gestaltung von Küchen oder zumindest Koch- und Speisemöglichkeiten in Moscheen, wo sehr häufig an den Abenden des ifṭār kostenlose gemeinsame Mahlzeiten organisiert werden. All dies kulminiert mit dem festlichen Abschluss dieses Monats mit dem ʿĪd al-Fiṭr, dem Fest des Fastenbrechens. Ein zweiter größerer Anlass ist das ʿĪd al-Aḍḥā, das Opferfest im Pilgermonat, das in Mekka und parallel weltweit mit Schlachtungen von Tieren, der Verteilung von Fleisch vor allem an Bedürftige (Beinhauer-Köhler 2015) sowie gemeinsamem Essen begangen wird. Während in Deutschland islamische Schlachtungen von Tieren nur unter sehr kontrollierten Bedingungen möglich sind, kann in an Moscheen angeschlossenen Läden oder anderswo ḥalāl-geschlachtetes Fleisch erworben werden. Und auch dieses große Fest wird sowohl im privaten Kreis als auch in Moscheeräumlichkeiten in Form gemeinschaftlichen Essens begangen. Dass das Essen im Islam immer auch zur Festigung einer Gemeinschaft beiträgt und offenbar von Beginn an beitragen sollte, wird auch bei kleineren Anlässen wie dem qurbān deutlich. Varianten dessen finden sich seit alter Zeit: Schon seit den ägyptischen Fatimiden ab dem 10. Jahrhundert wissen wir, dass Kalifen und Sultane in der islamischen Welt religiöse und andere freudige Anlässe nutzten, um im Volk Nahrungsmittel und Süßigkeiten zu verteilen. Neben Palästen waren auch Moscheen Orte für solche Speisungen (Beinhauer-Köhler 2015). Heute spenden Privatleute in Deutschland ein Lamm oder Ähnliches. Dies erfolgt

 Eine Ausnahme stellt der englischsprachige Sammelband von Zubaida und Tapper (2000) dar, der im weiteren Sinne den food studies zuzurechnen ist. Peter Heine hat zu Essen und Trinken im arabischen Kulturraum publiziert, ebenso Jürgen Frembgen, siehe unten, jedoch kann im deutschsprachigen Raum damit nicht von einer Forschungsrichtung gesprochen werden.  Siehe als kulturhistorische Hintergründe für Speisen mit und ohne Hefe im Ramadan in Marokko: Diouri (2010) sowie für die materielle Kultur des Ramadan in Ägypten Beinhauer-Köhler (2013).

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auch unter dem Begriff ḏabῑḥa und sehr häufig zum Dank nach der Geburt eines Kindes oder der Genesung eines Angehörigen. Diese Tiere werden nach dem gleichen Modus wie beim Opferfest mit anderen geteilt (Beinhauer-Köhler 2005, 100). Ein weiterer Anlass, Speisen freigebig zu verteilen, sind traditionell Pilgerreisen. Eine populärwissenschaftliche Veröffentlichung des Franzosen Yann Richard informiert über eine Wallfahrt zum Schrein des Imam Reza (gestorben ca. 818) nach Maschhad im nördlichen Iran, wo die Besucher Gebäck verteilen und genießen sowie als religiöse Handlung sogar die Tauben füttern (Richard 1983, 78). All diesen Formen ist gemeinsam, dass es nicht nur um Geselligkeit oder einen Sozialausgleich geht. Es schwingt bei diesen Anlässen mit, dass das Teilen von Speisen von Gott als wohl angesehen gilt und als Teil der religiösen Pflichten auch gewollt ist. Dieses Konzept dürfte zur Bereitstellung von Speise- und Kochmöglichkeiten und einer spezifischen materiellen Kultur der Einrichtung von Moscheen führen. Die Tatsache, dass zur islamischen sunna – dem vorbildhaften Verhalten und den Aussagen Muhammads – auch Speisevorschriften gehören, bedingt weitere Aufmerksamkeit für das Essen. Wenn auch nicht ganz so für die alltägliche Küche ausbuchstabiert wie im orthodoxen Judentum mit den Regeln des kashrut, so werden nach den Regeln der Scharia Speisen in ḥalāl und ḥarām eingeteilt. Vor allem in einer nichtmuslimischen Umwelt erfordert dies für viele Gläubige, eigene Läden zu betreiben, so zum Beispiel mit einem Metzger, der die Regeln des Schächtens beherrscht, der im Sinne des islamischen Rechts zertifiziert ist oder entsprechend geschlachtetes Fleisch anbietet. Auch der Verzicht auf Speisen wie Schweinefleisch oder Getränke wie Alkohol führt zu einer Distinktion der Speisevorlieben. So entsteht nicht selten eine Dynamik, in der in Läden oder Moscheen angeschlossenen Kantinen vertraute Speisen und Getränke entspannt genossen werden können. In islamischen Gemeinschaften sind zudem Geselligkeit und Gastfreundschaft als soziale Praxis fest verankert. All dies führt zu der Annahme, dass Küchen, Koch- und gemeinsame Essgelegenheiten inhärent zum Sozialleben um Moscheen gehören, sei es als Teil der Sunna oder sei es im weiteren Sinne als soziale Form. Im Folgenden wird dem anhand exemplarischer Beobachtungen nachgegangen.

4 Einblicke in Moscheekomplexe Betrachten wir nun einzelne Beispiele, um auf dieser Basis dann anschließend Muster sozialer Praxis in Moscheeküchen herausarbeiten zu können. Exempla-

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rische Beobachtungen in Moscheekomplexen der Bundesrepublik und der Niederlande werden tendenziell als Momentaufnahmen geschildert, da dabei die räumlichen und sozialen Dimensionen des Essens für mich nicht im Mittelpunkt standen, aber durchaus wahrgenommen wurden. Ich greife hier auf Beobachtungen zurück, die über Jahre bei unterschiedlichen Anlässen gemacht und nun durch Literaturrecherchen zum Thema erweitert wurden. Die Geschichte der Küchen eines Moscheevereins in Marburg ermöglicht zudem spezifischere Einblicke auch in den zeitlichen Verlauf der Etablierung des Vereins und seiner Räumlichkeiten, alles mit besonderem Blick auf dortige soziale Handlungen. Für kleinere örtliche Moscheevereine mag der Islamische Kulturverein Warburg e.V. in Warburg/Westfalen⁸ stellvertretend stehen. Es reizt mit einer solchen Moschee zu beginnen, weil sonst häufig islamische Gemeinden in größeren Städten untersucht werden, während durchaus Muslim:innen auch in anderen Regionen leben. Im vorliegenden Fall handelt sich um einen multiethnischen Verein, gewissermaßen eine ‚Landgemeinde‘, die keinem Dachverband angehört und im Jahr 2014 in einem in Eigeninitiative umgebauten Haus in der Altstadt von Warburg ihren Ort gefunden hat. In den umgebenen kleinen Städten finden sich auch Moscheevereine mit Anbindung an überregionale Dachverbände, zum Beispiel im nahen Hofgeismar eine DITIB-Moschee, und die umliegende muslimische Bevölkerung hat somit eine Wahl, welche Moschee sie aufsuchen möchte. Verstärkt findet das religiöse Leben in Warburg an Freitagen und Wochenenden statt, wenn die sich mit der Moschee verbunden fühlenden Familien Zeit finden und aus Stadt und Umgebung kommen. Gleich hinter dem Eingangsbereich gelangt man, noch vor dem Gebetsraum, durch einen rund 40 m2 großen Durchgangsraum: Linker Hand befindet sich dort eine Einbauküche mit einem Tresen, der die offene Küche von dem rechten Raumteil mit Tischen und Stühlen abgrenzt. Dieser Raum wurde wie der Rest des Gebäudes in Eigenarbeit praktisch eingerichtet. An einem Wochentag im Jahr 2018 zu Besuch mit einer Studierendengruppe begleitete uns ein weibliches Vorstandsmitglied und moderierte ein Gespräch mit dem Imam, während ein älterer Herr ein abschließendes geselliges Zusammensein mit Tee und reichlich Gebäck in der Küche vorbereitete. Wir konnten erfahren, dass seine Küchennutzung alltäglichen Vorgängen entsprach. In der Regel kom-

 Warburg ist eine Stadt mit rund tausendjähriger Geschichte und etwas mehr als 20 000 Einwohnern im südöstlichen Nordrhein-Westfalen zwischen Paderborn und Kassel. Bei näherer Betrachtung erweist sich die traditionell katholische Stadt schon länger als religiös plural. Neben Protestanten und einer ehemals bestehenden jüdischen Gemeinde beherbergt ein katholisches Kloster heute eine Niederlassung der Syrisch-Orthodoxen Kirche, zusätzlich zum Moscheeverein in der Altstadt findet sich ein buddhistisches Zentrum im umgebauten Bahnhof.

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men wochentags arbeitsbedingt nur wenige ältere Männer zum Gebet, die die Küche und benachbarten Tische dann auch für das soziale Miteinander nutzen. Bei islamischen Festen hingegen wird in größerem Stil und geschlechtsübergreifend gekocht und gegessen, wie die Lokalzeitung Warburgs ebenfalls berichtete: „Es ist ein wichtiger Grundsatz unseres Glaubens, dass wir das abendliche Fastenbrechen in Gemeinschaft begehen“ […] Rund 30 Familien gehören dem Warburger IKV an. Hinzu kommen noch einige Flüchtlinge aus den Warburger Unterkünften. An den Wochenenden des islamischen Fastenmonats kommen sie im IKV-Gebäude zusammen, wo sie gemeinsam kochen und essen. „Wir haben das schon auf verschiedenste Arten organisiert, in diesem Jahr wollen wir es ganz offen halten. Wer kommt, ist da, und tut, was er kann. Auch das funktioniert.“ (Battran 2018)

Die Beschreibung entspricht Eindrücken auch aus anderen Moscheevereinen: Das Leben ist immer noch häufig von spontanen Initiativen geprägt, was die Formate der Aktivitäten betrifft, mit denen wie hier in Warburg durchaus experimentiert werden kann. Dies hängt wie in Warburg von wenigen besonders engagierten Familien und Einzelpersonen ab. Entgegen denkbarer andersartiger Lösungen oder Stereotypen ist auffällig, dass in Küche und Sitzbereich eingesessene Familien, Migranten und Migrantinnen zusammentreffen, ohne dass die Möglichkeit zu einer Geschlechtertrennung bestünde. Dies korrespondiert mit geschlechtsunabhängigen Aktivitäten, die vor allem von weiblichen Mitgliedern der Gemeinde nach außen in die Stadtöffentlichkeit getragen werden, wenn wie 2018 in der Moschee Nichtmuslim:innen zu offenen Kochabenden oder zum Frühstück eingeladen wurden.⁹ Ein wenig standardisierter mag das Leben in Moscheevereinen ablaufen, die Dachverbänden wie der DITIB, der Türkisch-Islamischen Union der Anstalt für Religion, angehören. Dieser Verband ist überregional organisiert, was für die Ausgestaltung des lokalen Lebens praktische Vorteile bringt. Informationen etwa zu deutschen Bauvorschriften müssen nicht allein vor Ort erschlossen werden, sondern das überregionale Netz erleichtert es in mancher Hinsicht, sich zu organisieren. Hier sind der Verfasserin vor allem in größeren Städten wie Köln, Bielefeld, Frankfurt am Main, Amsterdam und Utrecht sehr ausdifferenzierte Räumlichkeiten begegnet. Dabei scheinen sich bestimmte Standards zu verfestigen, mit Läden, Küchen sowie Sitzgelegenheiten nach Art von Cafés oder Kanti www.kreis-hoexter.de/service-kontakt/pressestelle/pressemitteilungen/2018/2733.Neuer-Termin-fuer-tuerkischen-Kochabend-in-Warburg.html mit Foto auch der Küche (Abruf: 26.9. 2019). Siehe zudem eine Einladung zu einem türkischen Frühstück, ausgehend von Frauen des Vereins, ebenfalls mit Foto der Küche: de-de.facebook.com/events/325012327702816 (Abruf: 27.9. 2019).

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nen, wobei es bezogen auf die Existenz solcher Elemente eines Gebäudekomplexes keine Rolle spielt, ob man sich in umgenutzten Räumen oder Neubauten befindet. Beispielsweise gelangt man in einem klassizistischen Straßenzug mit vorgegebener Bausubstanz durch einen kleinen Hof in die DITIB-Moschee in der Frankfurter Innenstadt, der Merkez Camii (Zentralmoschee). Links vom Hof gelangt man in einen Laden mit orientalischen Lebensmitteln. Rechts vom Hof befindet sich die Kantine bzw. das Café der Moschee. Dort ist aufgrund der starken Frequentierung einer Innenstadt-Moschee einer Großstadt stets ein soziales Miteinander gegeben.Vor allem ältere Herren mit türkischem Hintergrund finden hier Raum. Diese Moschee weist zudem einen ausgedehnten Frauentrakt in einem höheren Stockwerk auf. Hier befinden sich Unterrichtsräume und eine kleinere Küche. Auch dabei gehört das Speisen zum sozialen und religiösen Leben dazu. 2008 nahm ich als Teilnehmende Beobachterin an einem Islam-Unterrichtskreis teil (Beinhauer-Köhler 2008, 56), den die vaize (Predigerin), eine in der Türkei examinierte Theologin, mit ungefähr zehn jungen Frauen durchführte. Die Abendveranstaltung wurde jede Woche von einer längeren Pause unterbrochen, in der mitgebrachte Köstlichkeiten geteilt und die Gespräche informeller wurden. Auch wenn sich an religiösen Festtagen auch hier das Miteinander in der Gesamtheit der Räumlichkeiten dynamisieren wird, ist die Beobachtung der Geschlechtertrennung relevant: Der halböffentliche, von der Straße aus zunächst zugängliche Bereich ist von Männern geprägt, die dort sowohl Laden als auch Küche und Kantine professionell betreuen und als zahlende Gäste nutzen. Wohl aufgrund eines gängigen traditionellen Diskurses um Geschlecht sowie öffentliche und private Räume finden sich in diesen Räumen weniger Frauen. Die Frauen gelangen durch ein dem halböffentlichen Café vorgelagertes Treppenhaus in ihren Trakt, wo sie nicht weniger gut und gesellig in der Regel mitgebrachte, zuvor zuhause zubereitete Speisen zu sich nehmen – jedoch im privaten Rahmen, nicht gegen Entgelt. Wie beim Koch in der Kantine spielte während meiner Anwesenheit im Frauenkreis die Professionalität beim Kochen eine Rolle für die soziale Reputation der Köchinnen, die gegenseitig die mitgebrachten Speisen wertschätzten. Im zeitlichen Wechsel mit dem Unterricht durch die religiöse Autorität, die Predigerin, ermöglichte dies eine neue, eher durch Heterarchie als durch Hierarchie geprägte soziale Ordnung der Anwesenden. Besonders ausdifferenzierte Räumlichkeiten finden sich derzeit in der 2015 erbauten Ulu Moskee (Große Moschee), ebenfalls einer DITIB-Moschee, und zwar im niederländischen Utrecht (Verkaaik, Tamimi Arab und Beekers 2017; Beinhauer-Köhler 2019). Während es in Köln bekanntermaßen Konflikte um den Neubau in Ehrenfeld gab, gelang dem Verein in Utrecht ein Neubau an einem zentralen Platz hinter dem Bahnhof mit einer von innerstädtischen Verkehrs-

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achsen aus gut sichtbaren Moschee. Obwohl es sich um einen Bau in türkischmigrantischer Trägerschaft handelt, ist das dortige Milieu, jedenfalls in dem von mir besuchten Frauengebetsbereich, vorwiegend multiethnisch, inklusive Besucherinnen auf der Durchreise. Der Moscheeverein setzte auf ein modernes Äußeres im kubischen Bau und auf Zeichen der Transparenz. Besonders markant ist in dieser Hinsicht die Süd-Ostfassade mit einem riesigen Milchglasfenster im oberen Stock, hinter der der große Gebetsraum zu erahnen ist. Direkt darunter im Erdgeschoß findet sich ein Schnellrestaurant der Kette Kebap-Factory. Dies mag vor allem dann überraschen, wenn man in protestantischer Prägung die Gebäude von Religionsgemeinschaften mit einer Sphäre von ‚Sakralität‘ und dies nicht mit leiblichem Wohl assoziiert. Vor allem für umfangreichere Moscheekomplexe in der islamischen Welt ist die Präsenz auch von Restaurants jedoch nicht außergewöhnlich. Die islamische Stiftung (waqf) legt es nahe, an einen Baukomplex Ladenräume anzuschließen, die vermietet werden können und deren Einnahmen dann dem Unterhalt der Moschee zugutekommen. In Utrecht liegt das Restaurant in dieser Tradition in einem angemieteten Raum mit eigenem Eingang, unabhängig von der Moschee. Es ist allerdings als ḥalāl-Restaurant der Weltanschauung des Moscheevereins analog. Insgesamt hat das Restaurant, das dem Bahnhof zugewandt ist, eine Brückenfunktion, denn es ist mit seinem modernen Design ein öffentlicher Raum, den auch Nicht-Muslime mit Lust auf entsprechende Küche besuchen. Ferner steht mit diesem Schnellrestaurant, das bei meinem Einblick von ganzen Familien besucht war, auch den Moscheebesuchern eine Option zur etwas urbaneren Freizeitgestaltung nach dem Freitagsgottesdienst zur Verfügung. Man bewegt sich im Rahmen üblicher Speisevorschriften und kann sich nach dem Aufenthalt im Innenraum der Moschee ungezwungen mit Freunden und Verwandten treffen. Innerhalb des Gebäudes steht zusätzlich eine ganz eigene Küche zu gemeinschaftsinternen Zwecken bereit – in diesem Fall in dem Flur der Verwaltungs- und Konferenzräume mitsamt einer angeschlossenen Kantine. Der Raumplan im Eingangsbereich im Erdgeschoss bezeichnet sie mit dem türkischen Begriff als kantin und arabisch als maṭʿam (Restaurant). Hier geht es im Alltag um eine Versorgung von Personen, die sich in den Büros oder bei besonderen Anlässen in der Moschee aufhalten. Hinzu kommen in oberen Stockwerken Gebets-, Unterrichts- und Aufenthaltsräume der Frauen, wo wahrscheinlich ebenfalls in kleinerem Rahmen Koch- oder Aufwärmmöglichkeiten bestehen. Von Besucherinnen der Frauenempore des Gebetsraums konnte ich zudem erfahren, dass vor allem die jährlichen Veranstaltungen rund um die Tage der offenen Türen der Moscheen, türkisch kermes, eine Gelegenheit sind, bei der

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Abb. 1: Raumplan im Eingangsbereich der Ulu Moskee Utrecht mit Kantine im 1. Obergeschoss (Foto: Bärbel Beinhauer-Köhler, 2019).

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Frauen Speisen mitbringen oder präparieren.¹⁰ Die oben grundsätzlich erwähnten religiösen Feste haben ein ähnliches Gepräge. Eine Fotodokumentation auf Facebook zeigt Stände mit vorwiegend Verkäufern, aber auch Verkäuferinnen, von Speisen und einer gemischten Gesellschaft im großen Zelt. Besonders eindrucksvoll ist ein YouTube-Video von 2014 zu einer Frühlings-Kermes dieser Utrechter Moschee mit Köchinnen, die in ganz großem Stil gemeinsam Speisen zubereiten.¹¹ Eindrücke besonders aus den Jahren 2019 und 2020 aus der Islamischen Gemeinde e.V. aus Marburg sollen auf der Grundlage eines Expertinnengesprächs mit einem weiblichen Vorstandmitglied dieses Tableau um Details ergänzen.¹² Ein erster arabisch, international und akademisch geprägter Moscheeverein bestand in Marburg unter dem Namen Orientbrücke e.V.¹³ Seit den 1980er Jahren bis 2018 traf man sich in der Omar Ibn al-KhattabMoschee in einem Fachwerkhaus im Marbacher Weg, das eine ganze Geschichte von Um- und Ausbauten aufweist. Zunächst wurden die Aktivitäten um das Kochen und Speisen, etwa im Ramadan, noch wesentlich durch die weiblichen Teile der Gemeinschaft bestritten. Sie brachten Essen von daheim mit und stellten dies bei größeren Veranstaltungen zur Verfügung, was bis heute zum Beispiel bei Basaren oder besonderen Anlässen geschieht. Erst nach Jahren wurde im Keller in Eigenarbeit ein ca. 16 m2 großer Raum mit einer Küche ausgestattet. Dabei handelte es sich um eine gebrauchte Restaurantküche. Mit der Küche kam es bereits zu einer ersten sozialen Veränderung. Mit männlichen Studenten trat eine neue Gruppe von Nutzern in Erscheinung, die – für Teile der Gemeinde wegen des  Diese feierlichen Veranstaltungen dienen auch der Unterstützung der Moscheeeinnahmen und sind als Wohltätigkeitsveranstaltung zu verstehen. Das ehrenamtlich zubereitete Essen wird käuflich zur Verfügung gestellt. Ein musikalisches und Rahmenprogramm sowie eine Tombola begleiten zumeist die Festivitäten.  www.facebook.com/utrechtulumoskee/photos/pcb.2649631481720512/2649630211720639/?type=3&theater (Abruf: 26.9. 2019) sowie ein Video des gleichen Vereins von 2014 mit kochenden und Speisen verkaufenden Frauen: www.youtube.com/watch?v=xn4iuvM6SH8 (Abruf: 26.9. 2019).  Im Hintergrund stehen längere universitäre Kontakte zum Verein, bezogen auf andere, hier gleichwohl hineinspielende Themen, wie zum Beispiel den Neubau und das Baukonzept überhaupt oder die dortige religiöse Praxis mit Blick auf die Fünf Säulen, die vor dem Eingang durch eine Kunstinstallation repräsentiert werden. Mein Fragehorizont bei dem Expertinnengespräch mit Sichtung von Räumlichkeiten und Kochmöglichkeiten basierte auf den Überlegungen in den Kapiteln 1 bis 3 sowie den Eindrücken aus anderen Moscheen in Kapitel 4. Ich fragte während einer Begehung nach der Baugeschichte der Küchen – auch zurückreichend in das vorherige Gebäude –, nach deren funktioneller Gestaltung und Planungen beim Neubau, nach Gelegenheiten des Kochens und Essens sowie den Akteurinnen und Akteuren.  orientbruecke-marburg.de/index.php/ueber-uns (Abruf: 19.12. 2019).

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geringen Alters der Köche überraschend – große Fähigkeiten mitbrachten, auch komplizierte arabische Gerichte zuzubereiten. Im Jahr 2018 öffnete dann im Rahmen des Vereins Islamische Gemeinde Marburg e. V. in der innenstadtnäheren Straße Bei St. Jost 17 eine neu erbaute Moschee.¹⁴ Teil des Bauprojekts waren von Beginn an mehrere Küchen. Eine offene Küche befindet sich im Restaurant, das schon eingerichtet werden konnte, aber derzeit noch nicht eröffnet ist. Im Prinzip ist hier ein Restaurant angedacht, das strukturell große Ähnlichkeit mit dem Schnellrestaurant der Moschee in Utrecht aufweist, denn auch hier zeigen große Panorama-Fenster zur Stadt. Auch das Restaurant in Marburg soll an einen professionellen Koch verpachtet unabhängig von der Moschee betrieben werden und für die Stadtöffentlichkeit zur Verfügung stehen. Im Keller befindet sich eine zweite, umfangreiche Küche von 30 bis 40m2, also deutlich größer als im Marbacher Weg, was auf den gestiegenen Bedarf hineinweist. In der Planungsphase waren ein Architekt, der auch in anderen Moscheen Küchen einrichtet, eine Elektrofirma sowie ein Team der Gemeinde beteiligt. In weiten Teilen wurde die Küche ganz neu und passend eingerichtet; eine gebrauchte Industriespülmaschine wurde später von meiner Gesprächspartnerin in einer aufgegebenen Bundeswehrkaserne gefunden. Zunächst reinigte man bei großen Anlässen 300 Plastiktabletts in einer vielköpfigen Abwaschkolonne in großen Industriekochtöpfen. Während es bei der im Erdgeschoss befindlichen Eventhalle, die der Öffentlichkeit für Anmietungen zur Verfügung steht, keine eigene Küche gibt, besteht noch eine kleinere Küche in einem oberen Stockwerk, wo sich Büros und Unterrichtsräume befinden. Hier können sich dort Beschäftigte unkompliziert ein Getränk zubereiten, und bei Gelegenheit wird dort zu verschiedenen Anlässen auch gekocht. Beim Gespräch über die Nutzung all dieser Kochgelegenheiten kristallisierten sich kulturelle Fragen heraus, die über die gängigen islamischen Kontexte religiös konnotierten Essens aus Kapitel 3 hinausgingen und zeigen, dass der Themenkomplex tief in soziale Dynamiken des Alltags hinein weist. Die Moschee wird von meiner Gesprächspartnerin als ein halböffentlicher Raum wahrgenommen, denn es lassen sich verschiedene Kulturen des Umgangs mit einem solchen beobachten, wo die Nutzergruppen mit unterschiedlichem ethnischem Hintergrund verschiedenartig mit den bereitgestellten Geräten wie Kaffeemaschinen oder der großen Küche im Keller umgingen. Fand man sich in der Küche im Marbacher Weg eher spontan zusammen, wird inzwischen die Nutzung der professionellen

 ig-marburg.de (Abruf: 3.1. 2020).

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Großküche intern durchdacht und kontrolliert, um die korrekte Benutzung der teuren Anlage sicherzustellen. Hier wird deutlich, dass ein Verein als Betreiber eines solchen Gebäudekomplexes von stetigen Aushandlungsprozessen über die Nutzung geprägt sein wird. Selbst der zentrale Gebetsraum wird außerhalb der Gebetszeiten auch für andere Arten von Zusammenkünften genutzt. Entsprechend war eine Überlegung hinter der Ausstattung der Vorhalle mit einem Getränkeautomaten für unter anderem Kaffee die nötige Hygiene: Dies verhindere das Verschütten in Thermoskannen mitgebrachter Getränke auf dem Teppich im zentralen Gebetsraum. Entsprechend finden sich im Gebäude auch Wasserspender, etwa in einem Flur mit Unterrichtsräumen, wo Korankurse für Kinder stattfinden. Was in Kapitel 3 noch als gängiges Muster ‚islamischer‘ Ess- und Kochkultur beschrieben wurde, wird im Gespräch weiter ausdifferenziert und wieder als weniger religions-, sondern eher kulturspezifisch interpretiert: Dabei spielen das Essen und die Kochkultur in aller Regel bei Musliminnen und Muslimen eine erhebliche Rolle und werden mit Gastfreundschaft und Geselligkeit assoziiert. Im Einzelnen bringen die verschiedenen Gruppen, Studierende und Akademiker: innen sowie Migrant:innen aus diversen Ländern, eigene Vorlieben für das Essen und Kochen mit in die Räume der Moschee. Auch die von mir eingangs gestellte Frage nach dem Geschlecht von Akteurinnen und Akteuren ist hiervon betroffen: Während in manchen Herkunftsländern Männer vorzügliche Köche seien und dies mit in die Moscheeküchen hineintrügen, kochten in anderen Ländern die Frauen nach wie vor daheim oder in der Moschee, oder man koche bei Gelegenheiten in der großen Küche im Keller auch gemischt. Auch verschiedene Generationen bringen eigene Stile mit. Im Ansatz diskutieren in Marburg vor allem Studierende die vegane Küche, und ganz offiziell bemüht man sich seit 2018 unter dem Motto „Green Ramadan“ um Nachhaltigkeit und die Vermeidung von Wegwerfgeschirr aus Plastik sowie um die Mülltrennung. Inzwischen benutzt man im Ramadanzelt mit pro Abend weit über 1000 Gästen Holzbesteck und Pappbecher. Einerseits sind also alltagskulturelle und breite politische Debatten um Ernährung und Nachhaltigkeit in diesem Moscheeverein oder der Perspektive prägender Mitglieder präsent. Andererseits ist diese Ebene – analog zu einem holistischen Selbstverständnis vieler Muslime – unmittelbar mit einer Ebene des Glaubens verbunden: Denn ökologische Fragen wie die Vermeidung von Plastikgeschirr und die Mülltrennung wurden seit 2018 auch in den Pausen der nächtlichen tarāwīḥ-Gebete im Ramadan thematisiert, ein Monat, in dem man sich spirituellen ebenso wie sozialen Fragen widmet. Der gesamte Kontext des Kochens in der Moschee erweist sich auch in dieser Hinsicht als weit mehr als rein profan.

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Abb. 2: Wasserspender in der Marburger Islamischen Gemeinde-Moschee (Foto: Bärbel Beinhauer-Köhler, 2019).

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Insgesamt bestätigt das Geschehen in und um diese Moschee mit ihren professionellen Küchen Price’s zu Beginn zitierte These, dass größere eigens eingerichtete Küchen von Gemeinderäumen in Verbindung mit einer Geschlechterdynamik stehen. Für Marburg wird allerdings nicht wie in den USA die Institutionalisierung und auch finanzielle Konsolidierung von Religionsgemeinschaften als Motor genannt. Im ersten Schritt, noch im Marbacher Weg, brachte schon die besondere Prägung der Marburger Gemeinde durch Studierende auch männliche Akteure in die Küche. Mit dem Neubau kam eine weitere Veränderung der Akteure und Akteurinnen hinzu. Unter den um 2015 nach Marburg Geflüchteten befand sich ein ausgebildeter syrischer Koch, der seit einigen Jahren im Ramadan angestellt wird. Dabei ändert sich einiges: Es sind nicht mehr die Frauen oder Familien, die Speisen zum Fastenbrechen in die Moschee bringen oder dort zubereiten, wo sie gemeinsam genossen werden. Derartige Aktivitäten von Frauen gibt es nach wie vor bei anderen Gelegenheiten. Im Ramadan finanzieren hingegen einzelne Familien jeweils für einen Abend den Koch und sein etwa vierköpfiges Team, die in der Moscheeküche gewaltige Mengen an Speisen bereiten. Dies erinnert an die Gastmähler, die Wohlhabende seit Jahrhunderten in der islamischen Welt ausrichten lassen.Waren die ehrenamtlichen Köchinnen oder Familien intern zuvor bekannt und sind es auch die Finanziers der jetzigen Ramadanabende, so wird der Koch auch in der breiteren Öffentlichkeit hervorgehoben, und es existieren mindestens zwei YouTube-Videos seiner eindrucksvollen Aktivitäten als Vorbereitung des Fastenbrechens. Hierbei lässt sich auch ein Eindruck von der Küchenausstattung gewinnen.¹⁵ Die Dramaturgie dieser Videos, die musikbegleitet wesentlich das Füllen und Rühren riesiger Töpfe zeigt, kann sicher auch als ein Spiegel der Emotionslagen gedeutet werden, die mit dem Fasten und der Vorfreude auf das abendliche Essen in sehr großer Runde verbunden sind. Die Dynamik unter den Musliminnen und Muslimen hat sich so in diesem Moscheeverein beim eigentlichen Kochen im Ramadan und beim Fest des Fastenbrechens in den letzten Jahren geändert, allerdings ist immer noch Gelegenheit zum ehrenamtlichen Engagement. Für das Ramadanzelt, zu dem der Moscheeverein die Stadtbevölkerung einlädt, wurden dabei 2018 und 2019 mit steigender Tendenz pro Abend zwischen 1200 und 1500 Essen ausgegeben. Eine Annahme einer einfachen Geschlechterteilung mit einer Zuordnung von Köchinnen in den häuslichen Bereich und von professionellen Köchen in die zeitgenössischen halböffentlichen, immer größeren Moscheeküchen würde bei  www.youtube.com/watch?v=GtWpTTwzSuY (Abruf: 17.12. 2019); www.youtube.com/watch? v=wLO8Tf_sAUM (Abruf: 17.12. 2019). Natürlich dient ein YouTube-Video auch immer der Eigenwerbung und kann zur Teilnahme an solchen Veranstaltungen einladen (siehe den Beitrag von Rauf Ceylan im vorliegenden Band).

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Abb. 3: Der Koch in Aktion in der professionellen Großküche in Marburg (Sham TV: Zehn Jahre Marburger RamadanZelt, Standbild aus www.youtube.com/watch?v=wLO8Tf_sAUM, 2018, 3:51/5:56, Abruf: 17. 12. 2019).

alledem zu kurz greifen. Frauen sind vielmehr sichtbare Akteurinnen in und um die Moscheeküchen. So ist meine Gesprächspartnerin regelmäßig in die Organisation der Abläufe in der gesamten Moschee und auch um die Küchen involviert. Dies sind fraglos komplexe, professionell betreute Aufgabenbereiche, wenn es um die Ausstattung der Küche mit einer Industriespülmaschine oder den Erwerb von 50 000 Pappbechern aus der Betriebsauflösung von Air Berlin geht. Diese Beispiele illustrieren einerseits flexible Nutzungskontexte einfacherer Kücheneinrichtungen, wofür Warburg exemplarisch stehen mag, und andererseits belegen sie eine steigende Ausdifferenzierung und Professionalisierung der Kochmöglichkeiten in größeren Moscheen wie in Utrecht oder Marburg. Erwartbare islamische Formate wie das Kochen zum Fastenbrechen lassen sich kaum mit einem engeren Religionsbegriff abdecken; es geht nicht nur um die Ermöglichung der Erfüllung religiöser Pflichten. Akteurinnen und Akteure in den Vereinen haben vielmehr Teil an größeren gesellschaftlichen Aushandlungsprozessen, sei es wenn wie in Marburg Debatten um Ökologie in die Organisation des Ramadanzelts hineinspielen, sei es das Bemühen um Partizipation an städtischen Gesellschaften mit Läden oder Restaurants. Rollenmuster zeigen sich bei alledem als variabel. Schauen wir abschließend nach dennoch greifbaren Mustern in und um die Moscheeküchen und kommen gleichzeitig zurück zu theoretischen Vorannahmen um materielle Kultur und soziale Handlungen.

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5 Muster sozialer Interaktion in Moscheeküchen War in ersten Moscheen vergangener Jahrzehnte, die oft in umgenutzten Räumen primär zum Gebet eingerichtet wurden, die Ausstattung mit Küchen kein allererstes Anliegen, so kommt in den meisten Vereinen früher oder später dieser Gedanke auf. In der Islamischen Gemeinde in Marburg ließ sich diese Entwicklung anhand der Vereinsgeschichte und deren Räumlichkeiten gut nachvollziehen. Solche Entwicklungen sind nicht unbedingt linear und führen nicht immer zu einer Ausdifferenzierung von Küchentypen für verschiedene Anlässe: Auch wenn es in der beschriebenen Moschee in Frankfurt eine halböffentliche Kantine gibt, bringen Frauen in ihren Unterrichtskreis immer noch zuhause zubereitete Speisen mit. Die Küche in Warburg wurde im Ehrenamt aus verschiedenen Elementen zusammengebaut, und sie bietet Raum für alle Eventualitäten vom Nachmittagstee älterer Herren bis zum ganz großen kollektiven Fastenbrechen oder der Gästebewirtung. In größeren Moscheen in Innenstadtlagen wie in Frankfurt und Utrecht differenziert sich das soziale Handeln aus und führt zu fest eingerichteten professionellen Küchen mit hauptberuflich tätigem Personal für den Restaurantbetrieb. Hierher passt auch das Beispiel Marburg mit Restaurant, wo sich im Neubau der Moschee aber auch nach wie vor noch eine kleine Teeküche und zudem eine multifunktionale Großküche befinden. Materielle Kultur und soziale Interaktion differenzieren sich also aus, gleichzeitig gibt es nach wie vor situative Gelegenheitsnutzungen vorhandener Kochmöglichkeiten. Der Faktor der Institutionalisierung spielt bei der Einrichtung neuer Moscheeküchen eine Rolle. Einige von Price’s Beobachtungen für die USA, die islamunabhängig für diverse Religionen getroffen wurden, scheinen Parallelen auch in Nordeuropa und Deutschland zu haben. In Marburg war die Rede von einem Architekten, der sich auf den Einbau von Küchen in Moscheeneubauten spezialisiert hat, was an amerikanische Einbauküchenbieter für Religionsgemeinschaften erinnert (Price 2018, 69). Der kleine Seitenblick in die Niederlande lässt annehmen, dass die Entwicklung in Deutschland auch in ihrer Vernetzung mit zumindest Nordeuropa gesehen werden kann, wobei allerdings einzelne europäische Länder aufgrund der je eigenen Geschichte eine mehr oder weniger hohe Dichte islamischer Gemeinschaften aufweisen, deren rechtlicher Status sich im Detail unterscheidet. Auch dies wirkt auf die Möglichkeiten der Institutionalisierung und Finanzierung von Moscheen und ihrer Räumlichkeiten. In diesem Zusammenhang wäre es interessant noch näher zu untersuchen, wie die Organisation von Vereinen in Dachverbänden wie beispielsweise DITIB oder VIKZ auf

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die Professionalisierung von Kücheneinrichtungen wirken, wenn etwa regelmäßig bestimmte Küchenausstatter beauftragt werden. Beispiele wie Warburg oder auch Marburg, wo in Eigeninitiative eine möglichst kostengünstige aber funktionale Küchenausstattung gesucht wurden, haben auch mit fehlenden Rücklagen noch nicht übermäßig lange bestehender Vereine mit sehr heterogener Trägerschaft zu tun. Insofern ist das Beispiel der Finanzierung von Ramadanabenden durch Marburger Familien interessant, weil es ein Signal erfolgreicher Etablierung sowohl eines Vereins als auch muslimischer Bürgerinnen und Bürger ist. Die Platzierung von Küchen ist ein weiterer relevanter Faktor im Wechselspiel materieller Kultur und sozialer Handlungen. Prinzipiell sind in deutschen wie in anderen Moscheen die Gebetsräume von elementarer Bedeutung, was sich in ihrer zentralen Platzierung und ihrer Ausstattung zeigt. Und wie Price es für Gemeindehäuser in den USA beschrieb, finden wir auch Moscheeküchen den Gebetsräumen nachgeordnet in Kellern (im früheren Gebäude in Marburg sowie im Fall der Großküche im Marburger Neubau), oberen Stockwerken (die interne Küche in der Großen Moschee in Utrecht, die Teeküche im Neubau in Marburg), Seitentrakten (die Küche und Kantine in Frankfurt) oder in Durchgangsbereichen (Warburg). Eine Raumverteilung hat immer auch mit pragmatischen Überlegungen zu tun, vor allem wenn für einen Moscheekomplex vorhandene Gebäude umgenutzt werden. Und die große Küche in Marburg im Keller des Neubaus wird im Gegensatz zum zentralen Gebetsraum nicht täglich benötigt und ist so von den Abläufen her sinnvoll platziert. Aber die Beispiele zeigen keineswegs nur eine nachgeordnete Platzierung der Moscheeküchen, denn ein Typus sticht hervor: Halböffentliche oder ganz für die Öffentlichkeit zugängliche Restaurants sind sowohl sichtbar als auch gut zugänglich (Utrecht und Marburg im Neubau) oder im Eingangsbereich sofort präsent (Frankfurt oder auch Warburg). Dies ist ein deutlicher Unterschied zu gängiger Architektur christlicher Gemeindehäuser, und hieran verdeutlicht sich der positive Stellenwert der Geselligkeit in islamischen Gesellschaften. Eingangs wurde als theoretische Rahmung auf Reckwitzʼ Konzept sozialer Routinen im Wechselspiel mit materieller Kultur und technischer Ausstattung verwiesen. Diesbezüglich haben die Einblicke ergeben, dass weniger als angenommen von festen Routinen in den Moscheeküchen ausgegangen werden kann, es sei denn eine Küche wird von einem bezahlten Koch betrieben, der sie sich in ganz persönlicher Weise bei der täglichen Arbeit aneignet. Ist die Moschee samt Küche eher ein halböffentlicher Raum, wie in Marburg beschrieben, so findet statt, was auch in kirchlichen Gemeindehäusern oder zu mietenden Stadtteil- oder Büroküchen erlebbar ist: Geschirre und Geräte wechseln die Plätze, pfleglicher Umgang mit Utensilien oder Mülltrennung sind nur

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umständlich zu realisieren. Situativ wechseln die Nutzer oder Nutzerinnen und handhaben alle diese Dinge auf ihre je eigene Art. Dieser Eindruck vom Innenleben von Moscheeküchen oder gar deren Schränken spiegelt in nuce die den Sammelband rahmende Annahme dynamischer sozialer Prozesse in und um deutsche Moscheen. Diese sozialen Prozesse betreffen auch die Konstruktion von Geschlecht, die ebenfalls in Wechselwirkung mit den Küchen und ihrer Nutzung stehen, allerdings nicht so stereotyp wie vermutet werden könnte. Neben der Predigt, die in der Regel von männlichen Akteuren geleistet wird, spielt sich das Gemeinschaftsleben gemischtgeschlechtlich ab. Frauen und Männer bereiten Speisen für die festlichen oder öffentlichen Anlässe zu, siehe Warburg mit Kochevents von Frauen des Kulturvereins für die städtische Öffentlichkeit, siehe den dort tätigen älteren Herren, der die Gästegruppe versorgte. Dabei kam Frauen nach den Berichten aus Marburg in den ersten Jahrzehnten eine größere Bedeutung zu, als sie wesentlich die Versorgung mit Speisen gewährleisteten. In inzwischen üblichen Moscheeküchen wird abhängig von verschiedenen Anlässen gekocht, und beide Geschlechter sind aktiv. In institutionalisierten und finanzierten Kantinen und Cafés geraten Frauen allerdings erneut in den Hintergrund. Traditionellere Vorstellungen von Privatheit und Öffentlichkeit scheinen eine Rolle zu spielen, wenn sich Vereine maskuline Pächter, Köche oder Restaurantchefs suchen wie in allen besuchten DITIB-Moscheen. Wieder wäre es in einer breiteren Studie interessant zu überprüfen, ob hier eine bestimmte kulturelle oder ethnische Prägung verantwortlich zeichnen oder die Vorbilder vorhandener Fälle in den Netzwerken von Verbänden. In jedem Fall wäre es verfehlt, Frauen als Akteurinnen in und um Moscheeküchen auszuschließen. Frauen im Gegensatz zu Männern ausschließlich den Raum des Privaten und eine Versorgungsfunktion im häuslichen Bereich zuzuschreiben und diesen als sozial minder bedeutsam einzuordnen, ist eine Dichotomie europäischer Gesellschaftskonzepte vor allem des 19. Jahrhunderts.¹⁶ Eine solche Zweiteilung entspricht aber in den besuchten Moscheen nicht der Wirklichkeit, wo die soziale Interaktionen rund um das Kochen und Essen mit Blick auf Geschlechterzuordnungen vielfältig sind. So sind islamische Räume ein halböffentlicher Bereich, in denen Akteurinnen besonders große Handlungsfelder bespielen; und dies ist eben nicht automatisch die Arbeit in der Küche, sondern im Büro, als Kontakt nach außen, bei Moscheeführungen oder der Organisation  Auch das Kochen am häuslichen Herd ist seit über 100 Jahren international immer stärker professionalisiert und rationalisiert, maßgeblich siehe die damals einflussreiche Schrift von Christine Frederick, The New Housekeeping. Efficiency Studies in Home Management (1913) sowie Spechtenhauser 2006.

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größerer Ereignisse und der Planung ganzer Moscheetrakte wie der Küchen. Zudem erobern sich Musliminnen, die zahlreich Theologie studieren, selbst die Jahrhunderte lang Männern vorbehaltenen Funktionen, geben Korankurse und leiten Unterrichtsgruppen, meist in Frauenbereichen von Moscheen. Männer wiederum versorgen sich nicht selten als gute Köche selbst bei ihrem Aufenthalt in den Räumen der Moschee oder leisten Beiträge für deren festliche oder öffentliche Anlässe. Auch ihre sozialen Rollen sind vielfältig und erlauben auch die Beschäftigung mit dem Essen, nicht nur als professioneller Koch – obwohl ihnen hier ein besonderes Prestige zukommt, siehe die Eindrücke aus Marburg. Neben all diesen sozialen Dynamiken ist bei der Untersuchung von Moscheeküchen interessant, dass die Bedürfnisse des Körpers grundsätzlich positiv konnotiert sind und in das Leben in Moscheen hineinwirken. Das Essen und auch der Genuss sind verbunden mit Geselligkeit selbstverständlicher Teil der Kultur und des Lebens, und dies wirkt erkennbar auch auf den Baukomplex um eine Moschee. Dies unterscheidet sich von einem christlichen und auch buddhistischen Ideal, das in erweiterten Religionsräumen Kochen und Essen mit ganz speziellen Einschränkungen Raum gibt. Beispielsweise ist in einem Refektorium eines Klosters das tägliche Essen reglementiert, das in einem speziellen Interieur schweigend oder unter Bibellesungen eingenommen wird (Fritsch 2008, 136 – 141). Essen und Trinken und der Körper werden einer Ebene des Profanen oder Alltäglichen zugewiesen, die es geistig oder spirituell zu überwinden gilt. Dies wirkt auch in evangelischer Tradition fort, wo es zwar, siehe oben, in Gemeindehäusern oder Akademien Tee- oder kleinere Küchen gibt. Diese mussten aber kein Ausmaß annehmen, das gemeinschaftliches Kochen in größerem Stil ermöglicht, eben weil es hierzu keinen religiösen Anlass gibt. Rüsttisch, Tabernakel, Sakristei und Altar sind zwar materielle Zeugnisse des Essens und Trinkens, aber deutlich in Richtung einer zeichenhaften, geistlichen Ebene transformiert und reduziert. Eher in Ausnahmefällen wie der unmittelbaren Nachkriegs- und Wiederaufbauzeit finden sich Zeugnisse, wo die Einrichtung praktischer Küchen in kirchlichen Gemeindezentren nach Jahren des Hungers positiv hervorgehoben wird (Evangelische Gemeinschaft in Europa 1957).¹⁷ Dabei scheinen theologische Positionen auch in Debatten über zeitgenössischen Kirchenbau nach wie vor oder wieder den eigentlich ‚sakralen‘ Kirchenraum gegen Gemeinderäume des kollektiven Lebens auszuspielen (Erne 2017, 64– 79), während Bereiche, die die Nahrungsmittelversorgung sichern, wie beispielsweise Kantinen in kirchlichen  Die interne Publikation Neuerbaute Kirchen und Gemeindehäuser der Evangelischen Gemeinschaft in Deutschland 1948 – 1957 gibt viele Hinweise auf Tee- und andere Küchen und erwähnt die positiven Effekte dieser Gemeinschaftsräume (109) sowie Pläne (57, 80) und Hinweise auf Küchen in weiteren gelisteten Gebäuden.

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Akademien, weitestgehend unerforscht sind, was mit den eingangs umrissenen und kulturellen Konstanten analog geht, bei denen eine Höherwertung des Geistes und der spirituellen Erfahrung auf die bauliche Marginalisierung der Nahrungsmittelversorgung in kirchlichen Baukomplexen wirkten, was nicht nur auf die Architekturen selbst, sondern auch auf ihre Erforschung wirkte. Grundsätzlich wäre als Erweiterung des gewonnenen Bildes ein Vergleich von Moscheekomplexen mit dem Judentum erhellend. Besonders orthodoxe Gemeinden kultivieren eine geschlechtsbezogene Zweiteilung der Gesellschaft bei gleichzeitiger Hochschätzung des Essens. Frauen sind in orthodoxer Tradition – als ihr Teil religiöser Aktivitäten – für die Bereitung von gemeinsam genossenen Shabbat- und Pessach-Speisen zuständig, was von der Familie oder Gästen grundsätzlich honoriert wird. Bei besonderen Anlässen werden daheim zubereitete Speisen verschenkt, zum Beispiel Hamantaschen bei Purim¹⁸. Um Synagogen und in jüdischen Zentren entfaltet sich wie in Frankfurt am Main ein gemeinschaftliches Leben mit koscheren Restaurants. Auch hier besuchen solche Gäste die Gastronomie, die die Befolgung der eigenen Speisevorschriften und ebenso eine kulturelle Beheimatung schätzen. Hinzu kommt, dass alle diese Restaurants sich für eine städtische Öffentlichkeit öffnen. Der Einblick in das Alltags- und Festtagsleben rund um vor allem deutsche Moscheen konnte verdeutlichen, dass Küchen und Kochen ertragreiche Themen für die kultur- und religionswissenschaftliche Forschung darstellen. Die vorliegenden Einblicke in Kapitel 4 und Ergebnisse in Kapitel 5 zeigen Potenziale für weiterführende Erhebungen auf. Auch wenn das Thema ‚Essen‘ über Speisevorschriften und Feste für den Islam grundsätzlich große Relevanz besitzt, bleibt zu berücksichtigen, dass Musliminnen und Muslime zahlreiche kulturelle Hintergründe und persönliche Horizonte mitbringen, die in einem Verein gewöhnlich zur Aushandlung kommen. Insofern sind Moscheen ein großer Diskursraum, für Überlagerungen ebenso wie für Unterscheidungen – und soziale Distinktion wird immer schon gern über die Wahl bevorzugter Speisen und Möglichkeiten ihrer Zubereitung vorgenommen.

 Es sind Teigtaschen, die den Namen des „bösen“ Wesirs Haman in der Esther-Geschichte tragen. Siehe dazu eine charmante Kindersendung, in der in einer Familie in das Purimfest eingeführt wird: SWR, Nurey und Lea feiern Purim – Schmecksplosion (2017), www.kindernetz.de/schmecksplosion/ allefolgen/-/id=296128/nid=296128/did=468386/pv=video/1k6putz/index.html (Abruf: 7.6. 2019).

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Abbildungen Abbildung 1: Raumplan im Eingangsbereich der Ulu Moskee Utrecht mit Kantine im 1. Obergeschoss, Foto: Beinhauer-Köhler, 2019. Abbildung 2: Wasserspender in der Marburger Islamischen Gemeinde-Moschee, Foto: Beinhauer-Köhler, 2019. Abbildung 3: Der Koch in Aktion in der professionellen Großküche. Sham TV: Zehn Jahre Marburger RamadanZelt, Standbild aus www.youtube.com/watch?v=wLO8Tf_sAUM, 2018, 3:51/5:56 (Abruf: 17. 12. 2019).

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Roman Singendonk

Gemeinsam gegen die Fliehkräfte Wie Moscheen nach dem Terror von Hanau den gesellschaftlichen Zusammenhalt bewerten Abstract: In seiner Untersuchung widmet sich Roman Singendonk dem zuletzt in sozialgesellschaftlichen Diskursen an Popularität gewinnenden Begriff des gesellschaftlichen Zusammenhalts und geht der Frage nach, welche Rolle ein Museum wie das Museum für Islamische Kunst eigentlich für diesen Zusammenhalt spielt. Aus seiner jahrelangen Projektarbeit mit Moscheen und Islamischen Verbänden bestehen zahlreiche Kontakte in die muslimische Community. Ihre Perspektive steht im Mittelpunkt der Untersuchung und so entsteht ein klares Bild davon, wie sich die Qualität des Zusammenlebens aus Sicht dieser größten religiösen Minderheit in Deutschland darstellt. Ähnlich wie in ausgesuchten Bildungsprojekten am Museum für Islamische Kunst auch ist es in dieser Untersuchung Programm, nicht für eine gesellschaftliche Gruppe zu sprechen, sondern diese im Sinne einer angestrebten Vielstimmigkeit in öffentlichen Diskursen selbst zu Wort kommen zu lassen. Die Rolle von Museen für die gesamtgesellschaftliche Identitätsbildung wird hier ebenso reflektiert wie die Bedeutung von transkultureller Bildung und historischem Bewusstsein für diskursive Aushandlungsprozesse. So entsteht ein umfassendes Bild des untersuchten Feldes von der Mikroebene der Befragung von Akteur:innen der Moscheearbeit über die pädagogische Distribution von Inhalten und Narrativen bis hin zu grundlegenden Überlegungen auf der Metaebene des Selbstverständnisses der Gesamtgesellschaft.

1 Einleitung Am 19. Februar 2020 erschoss ein rechtsextremer weißer Terrorist in der Stadt Hanau in Hessen neun Menschen mit erlebten oder ererbten Migrationserfahrungen. In den Tagen nach dem Terrorakt wuchs die Angst vor weiteren Angriffen dieser Art vor allem unter Migrant:innen und Postmigrant:innen stark an. Ebenso wuchs die Hoffnung in vielen Teilen der Gesellschaft, dass ein so brutales und skrupelloses Verbrechen die Gesellschaft als Ganzes aufrütteln würde, dass sich die Betroffenheit und Solidarität nun endlich auch in konkretes Handeln übertragen lassen würden, und dass das Bedrohungsgefühl und die Ängste von nichtweißen Menschen nun endlich gehört würden. Zu Demonstrationen in Hanau am https://doi.org/10.1515/9783110668919-010

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Wochenende nach dem Terrorakt kamen mehrere tausend Menschen. Das Motto der Demonstration lautete: „Wir sind Deutschland, wir gehören zusammen“ (Lehne 2020). Der gesellschaftliche Zusammenhalt wird hier angesichts einer schlimmen Krise – einer Tat mit sehr weitreichenden Folgen – beschworen. Seine Stärkung gilt sozusagen als Gegenmittel zu der aktuell zu beobachtenden Verrohung und Polarisierung der Gesellschaft und ihrer Diskurse (vgl. Steinmeier 2020).¹ Während die Gesellschaft auf den einen Pol – die Aushandlung von Meinungsverschiedenheiten mit verbaler oder im nächsten Schritt physischer Gewalt – zuzudriften scheint, wird angeregt von einem Ideal – nämlich dem anderen Pol – gesprochen: einer toleranten und solidarischen Gesellschaft, in der Konflikte schon im Vorfeld dadurch entschärft werden, dass kooperative und ausgleichende Lösungen gesucht, gefunden und umgesetzt werden, anstatt Konkurrenzdenken und Missgunst zu befeuern (vgl. Gudehus 2020).² In einer Gesellschaft, die sich selbst als zusammengehörig begreift, wird niemand so sehr diskursiv und rhetorisch ausgeschlossen, dass sich potenzielle Gewalttäter berufen fühlen könnten, diesen Worten auch Taten folgen zu lassen. Zusammengehörigkeit ist also für Deutschland zu einer bedeutenden politischen Währung geworden. Doch was ist unter diesem Begriff überhaupt zu verstehen? Einer kompakten und daher nützlichen Definition³ nach setzt sich gesellschaftlicher Zusammenhalt aus folgenden drei Faktoren zusammen: resiliente soziale Beziehungen, die Teilhabe aller Menschen an der Gesellschaft und ihr Engagement für das Gemeinwohl (vgl. Saul 2019, 3). Der Begriff mag zunächst abstrakt klingen, aber der gesellschaftliche Zusammenhalt ist messbar (etwa durch Studien und Befragungen) und an ihm kann in gewisser Weise die Zukunftsfähigkeit einer Gesellschaftsordnung abgelesen werden. Schon wird in den entsprechenden politischen Debatten die Sorge geäußert, dass die vorhandenen Fliehkräfte die demokratische Ordnung an den Rand des Kollapses führen. Der Befund ist zwar keinesfalls eindeutig und si-

 Der Begriff ‚gesellschaftlicher Zusammenhalt‘ hat in hohem Maße Eingang in die politische Debatte gefunden. So verwendete ihn etwa Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier kürzlich in seiner Ansprache zum 30. Jahrestag der Deutschen Einheit und setzte ihn dabei in eine Reihe mit anderen Megathemen wie Klima und Digitalisierung.  Eine fortschreitende Polarisierung der Gesellschaft geht mit dem Abschmelzen der politischen Mitte einher. Fatalerweise fehlen dann Debattenbeiträge, die einen Ausgleich zwischen den zu den politischen Rändern tendierenden Positionen herbeiführen können.  Diese Definition lag dann auch der Befragung der Angehörigen aus Moscheegemeinden zu Grunde und sie macht deutlich, warum Museumsprojekte, die sich der kulturellen Teilhabe der vielfältigen Gesellschaft verschrieben haben, den gesellschaftlichen Zusammenhalt fördern.

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cherlich sind auch gegenläufige Entwicklungen zu beobachten; etwa, wenn Solidarität und Hilfsbereitschaft, wie zu Beginn der gegenwärtigen Corona-Pandemie, zunehmen (vgl. Follmer, Brand und Unziger 2020, 57– 59). Aber die im Herbst 2020 einsetzenden zunehmend hitzigen Debatten über die richtige Reaktion auf das Virus lassen vermuten, dass es sich dabei eher um eine kurze Erholung als um eine Trendumkehr handelt. Und so wird längst über die Wehrhaftigkeit und Resilienz von demokratischen Systemen diskutiert und werden Maßnahmen zu deren Stabilisierung ergriffen.⁴ Zusammengehörigkeit ist nicht ohne Weiteres herzustellen, aber ihr Fehlen macht die Gesellschaft zu einem weniger lebenswerten Ort – einige marginalisierte und vulnerable Gruppen sind hiervon schwerer betroffen als andere, die durch größere soziale und finanzielle Ressourcen mehr Handlungsspielraum haben –, und sie sind darüber hinaus auch anfälliger für Krisen. Die in Gewalt umschlagende politische Polarisierung ist ein deutlicher Hinweis auf ein Abnehmen des gesellschaftlichen Zusammenhalts in Deutschland und die Ursachen für dieses Auseinanderdriften sind vielfältig. Denn die Zusammengehörigkeit der Gesellschaft ist von einer ganzen Reihe von Entwicklungen bedroht: So haben die Menschen nach über 150 Jahren kapitalistischer Wirtschaftsordnung den Wettbewerbs- und Konkurrenzgedanken schon so weit verinnerlicht, dass Empathie und Solidarität für einige gesellschaftliche Gruppen stark gemindert sind (vgl. Neckel 2020). Von der Ausgrenzung, Ausweisung oder gar Tötung unliebsamer Mitmenschen wird sich von einigen wohl zumindest heimlich oder unterbewusst, von anderen ganz offen und unverblümt ein Vorteil für die eigene soziale Gruppe erhofft. Hinzu kommt die immer weiter zunehmende Unübersichtlichkeit und Komplexität der globalisierten Welt, die mit ihren rasanten Veränderungsprozessen bei vielen Individuen zu einem Gefühl der Unsicherheit und der Orientierungslosigkeit führt. Populistische Politiker:innen, rechte Ideolog:innen oder Verschwörungsmystiker:innen⁵ und andere ‚Verwirrte‘

 In diesem Zusammenhang wird vor allem die Frage kontrovers diskutiert, welche politischen Einstellungen sich noch innerhalb eines akzeptablen Diskursrahmens befinden – und welche nicht. Die Geister scheiden sich daran, wo die ‚rote Linie‘ beginnt und ob es im Zweifelsfall wichtiger ist, Gesprächsformate aufrecht zu erhalten oder eine klare Haltung zu beziehen. Vertreter:innen der erstgenannten Position priorisieren den gesellschaftlichen Diskurs möglichst vieler auch widerstreitender Meinungen, um einen Ausgleich zu erreichen. Dagegen fürchten Vertreter:innen letzterer Position um grundlegende demokratische Rechte und die Verschiebung der Diskurshoheit nach rechts.  Verschwörungsmystiker:innen haben zuletzt die Corona-Pandemie genutzt, um in großem Stil zusätzliche Aufmerksamkeit zu erlangen. Ihre menschenverachtenden und kruden Gedanken decken ein breites Spektrum ab und reichen von tief sitzender Misogynie über die Bewahrung der eigenen ‚Rasse‘ bis hin zum Widerstand gegen außerirdische Geheimregierungen.

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stoßen in die entstandenen Lücken vor und bieten den Verunsicherten mit ihren einfachen Antworten auf komplexe Fragen vermeintliche Hilfe an (vgl. Follmer, Kellerhoff und Wolf 2018, 19 – 21).⁶ In der Regel stilisieren sie sich dabei zu einer strukturell politisch unterdrückten Opposition hoch, die lediglich die durch die Verfassung verbriefte Meinungsfreiheit für sich beansprucht. All diese Entwicklungen sind Ausdruck einer zerfasernden, sich immer weiter individualisierenden unsolidarischen Gesellschaft, in der sich jede und jeder selbst die oder der Nächste ist. Befördert wurde diese Entwicklung in den vergangenen Jahrzehnten durch den massiven Einzug neoliberaler Denkmuster in Politik und Gesetzgebung, die in utilitaristischer Manier den ökonomischen Wert eines Individuums für die Allgemeinheit zur obersten Prämisse für die Gestaltung der Gesellschaftsordnung machten (vgl. Helly 2003, 21). Den Gegenentwurf dazu bildet eine egalitäre, auf Solidarität der Starken mit den Schwachen und auf Ausgleich ausgerichtete Gesellschaftsordnung, die es vermag, durch kommunikative Mechanismen kontroverse Themen immer wieder von Neuem und so lange auszuhandeln, bis am Ende eine Lösung steht, mit der zwar nicht alle gesellschaftlichen Gruppen in gleicher Weise glücklich sind, mit der sie aber immerhin leben können.⁷ Diese Gesellschaftsordnung ließe sich so zusammenfassen: Wir müssen uns nicht alle mögen, aber wir müssen darin übereinstimmen, im Rahmen unserer Möglichkeiten dieselben Rechte und Pflichten zu haben. Kurz: Wir gehören zusammen. Trotz allem. Irgendwie.

Eine zu Beginn der Pandemie im Frühjahr 2020 zu beobachtende solidarische Tendenz löste sich schnell in einer zunehmend als unübersichtlich empfundenen Bedrohungslage, den teilweise kakophonen Ansätzen der Pandemiebekämpfung durch staatliche Institutionen und dem mitunter offenen Widerstand gegen Maßnahmen zum Gesundheitsschutz auf, die von einigen vornehmlich als Einschränkung ihrer Grundrechte aufgefasst wurden.  Die Autor:innen verweisen auf die große Heterogenität der Menschen, die empfänglich für rechtspopulistisches und rechtsextremes Gedankengut sind und die sie ‚Antipluralisten‘ nennen. Sie unterscheiden vier Typen dieses Personenkreises, von denen die „Verunsicherten“ nur einer sind. Daneben identifizieren sie des Weiteren die „Zweifler“, die „Frustrierten“ und die „Ausgegrenzten“(vgl. Follmer, Kellerhoff und Wolf 2018, 19 – 21).  Interessanterweise kommt Helly zu dem Schluss, dass jegliches Bemühen um gesellschaftlichen Zusammenhalt eigentlich die demokratische Ordnung eines gesellschaftlichen Systems untergräbt, da es zur Perpetuierung von ungleich verteilten Ressourcen beiträgt und von den notwendigen sozialen Anstrengungen ablenkt, eine gerechtere Verteilung zu erwirken.

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2 Von Rechtsradikalismus sind häufig Muslim: innen betroffen Viele Jahre haben Innenpolitiker:innen in Deutschland die rechtsextremistische Bedrohung verharmlost und das Mantra, wonach jeder politische Extremismus gleichermaßen bekämpft werde müsse, unendlich oft wiederholt. Doch bei der Vorstellung des Verfassungsschutzberichts 2019 musste Innenminister Horst Seehofer nun zugeben, dass der Rechtsextremismus die größte Gefahr für die Sicherheit in Deutschland ist (vgl. Seehofer 2020). Es ist erfreulich, dass auch ein CSU-Minister inzwischen zu dieser Einschätzung gelangt ist. Es ist aber zumindest bedauerlich, dass es dazu offenbar ein derart gewalttätiges gesellschaftliches Klima inklusive der von Rechtsextremist:innen begangenen Morde bedurfte.⁸ Längst haben sich mehr oder minder offensichtliche und mehr oder minder zusammenhängende rechte Akteure in Deutschland formiert, die von neurechten Verlagen und ihren völkischen Autor:innen, den Nazi-Hipstern der Identitären Bewegung über rechte Netzwerke in Polizei, Verfassungsschutz, Bundeswehr und dem Kommando Spezialkräfte, Kampfsport-, Hooligan- und Preppergruppen oder Rechtsrockbands bis hin zu mordenden Rechtsterrorist:innen reichen. Zum parlamentarischen Arm dieses rechten Konglomerats verkommt die immer noch weiter nach rechts driftende Partei Alternative für Deutschland (AfD). Ein vorrangiges Thema rechter Propaganda ist der Themenbereich Migration, den sie mit allerlei Vokabeln bestücken, die verfälschte Eindrücke vermitteln und in der Bevölkerung Ängste hervorrufen sollen, und die sich im Mainstream-Diskurs festsetzen. Dahinter steckt eine klare Strategie, „übersteigt doch die Abwertung von Asylbewerbern und Geflüchteten bei Weitem das sonstige rechtsextreme Potenzial der deutschen Bevölkerung“ (Pickel und Yendell 2018, 217).Von der Thematisierung der Migration von Muslim:innen nach Deutschland und insbesondere von einer kritischen Haltung dazu versprechen sich die Rechten eine breitere Unterstützung in der Gesellschaft und eine gesteigerte Anschlussfähigkeit an größere Teile der Bevölkerung. Daher geben sie sich außerordentliche Mühe dabei, einen Widerspruch zwischen christlicher und muslimischer Prägung zu konstruieren, der ein gemeinsames Zusammenleben als schlechterdings unmöglich erscheinen lassen soll. Auch und gerade Menschen, die muslimisch sind oder als solche gelesen werden, werden abgewertet und diskriminiert.

 Es mag dabei auch eine Rolle gespielt haben, dass nach zahlreichen Linken und vor allem (Post‐)Migrant:innen mit Walter Lübcke am 2. Juni 2019 erstmals seit 1945 in Deutschland ein Politiker von Rechtsextremisten ermordet wurde.

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3 Exkurs I – Fehlendes historisches Bewusstsein und othering Ob die Rechten die enge historische Verbundenheit zwischen islamisch geprägten Regionen und Zentral-, West- und Nordeuropa auf dem Gebiet der Künste und Wissenschaften⁹ dabei aus Unwissenheit oder mit Absicht negieren, ist im Grunde unwesentlich. Der Befund, dass die Kenntnis von den Jahrhunderten des Austauschs durch Handel, Eroberung und Migration kaum vorhanden ist, trifft nämlich auf weite Teile der allgemeinen Bevölkerung zu (vgl. Weber 2018). Das soll gerade angesichts der genannten Komplexität der Welt auch in keiner Weise als Vorwurf verstanden werden.¹⁰ Aber es begünstigt eine Abwertung von als fundamental andersartig begriffenen Menschen und Gruppen, wenn gemeinsame historische Verbindungen und Weggabelungen der menschlichen Entwicklung unbekannt bleiben. Und daher ist der Mangel an historischem Bewusstsein ein lohnender Ausgangspunkt für die pädagogische Arbeit des Museums für Islamische Kunst, die gemeinsam mit Moscheegemeinden, aber auch mit anderen schulischen und außerschulischen Lernorten und Interessengruppen erfolgt. Hier kann ein Beitrag zu kultureller Teilhabe und damit zu mehr gesellschaftlichem Zusammenhalt geleistet werden. Der Grund, warum das Museum für Islamische Kunst ein Projekt ausschließlich für und mit Moscheen¹¹ auflegt, ist simpel: Viele der Sammlungsobjekte, die im Pergamonmuseum auf der Berliner Museumsinsel ausgestellt werden, stammen ursprünglich aus Regionen, in denen der Islam als gesellschaftliche Kraft eine wichtige Rolle spielt oder gespielt hat. An dieser Stelle sei darauf verwiesen, dass der Terminus ‚Islamische Kunst‘ als artifizieller Hilfsbegriff in akademischen Kreisen des globalen Nordens im 20. Jahrhundert etabliert wurde. Er soll Objekte einer bestimmten Zeit und Region zusammenfassen, um sie zu erforschen. Denn

 Bei wissenschaftlichen Weiterentwicklungen und technischen Neuerungen stützten sich die Gelehrten in den islamisch geprägten Gebieten oftmals auf Grundlagen, die ihrerseits aus der vorislamischen und teils hellenistisch geprägten Antike überliefert wurden.  Dieses Manko ist angesichts einer fortschreitend globalisierten Welt, in der Veränderungen und Entwicklungen schnell und umfassend sein können, kein Wunder. Menschen werden immer mehr zu Spezialist:innen mit besonderen Kenntnissen in ausgewählten, sehr differenzierten Bereichen. Wenn es aber bereits eine nicht unwesentliche Herausforderung ist, aktuelle globale Zusammenhänge und gegenwärtige sozioökonomische Entwicklungen zu verstehen, wie kann dann erst ein fundiertes Verständnis der menschlichen Kulturgeschichte vorausgesetzt werden?  Das partizipative TAMAM-Projekt (www.tamam-projekt.de) fördert die kulturelle Bildung in Moscheen. Es wurde 2015 ins Leben gerufen und ist heute mit einem großen Netzwerk aus Ehrenamtlichen, Moscheen und muslimischen Verbänden bundesweit aktiv.

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eigentlich meint dieser Terminus Objekte aus den Bereichen Kunst, Kunsthandwerk, Architektur und Archäologie, die seit dem Aufkommen des Islam in der ersten Hälfte des 7. Jahrhunderts n. Chr. in solchen Gebieten entstanden sind, in denen diese Religion eine gewichtige Rolle spielte und gegebenenfalls bis heute spielt. Die besagten Objekte wurden unter Umständen also gar nicht selbst von Muslim:innen, sondern von Angehörigen einer der zahlreichen anderen Religionsgruppen der betreffenden Regionen angefertigt. Die Verquickung der Objekte mit der Religion ist aber auch deshalb irreführend, da diese nur in wenigen Fällen einen rituellen Nutzen oder eine religiöse Konnotation haben (Shaw 2012, 3). Daher ist es dem Museum ein Anliegen, die Sammlung auch den Menschen stärker zugänglich zu machen, die sich selbst als Muslime identifizieren oder deren Vorfahren aus jenen Regionen nach Deutschland kamen. Die Kooperation ergab sich also aus der Sammlung des Museums selbst. In öffentlichen Debatten und medialen Diskursen werden Menschen, die sich selbst als Muslime identifizieren oder die als solche gelesen werden, häufig auf stereotype und abwertende Vorstellungen von ‚dem Islam‘ reduziert: ein Aspekt, der einer vielfältigen und solidarischen Gesellschaft mit starkem Zusammenhalt fundamental widerspricht. Wer sich nicht gewollt und nicht anerkannt fühlt, die:der wird wenig Motivation verspüren, sich dieser Gesellschaft emotional zu nähern – oder tut dies um den Preis der Selbstaufgabe. Unter einem fundierten historischen Verständnis wird hier die grundlegende Einsicht in die Momenthaftigkeit der Gegenwart verstanden, ein Bewusstsein für die nicht-lineare Entwicklungsgeschichte der Menschheit, die sich eben gerade nicht automatisch auf einen erlösenden Endpunkt, einen Idealzustand, hin zubewegt. Die menschliche Entwicklung – ganz gleich, ob gemessen an Wohlstand, Wissen oder kultureller Blüte – vollzieht sich über die Jahrhunderte und Jahrtausende vielmehr als ein stetes Auf und Ab. Als Beispiele gelten etwa frühe Hochkulturen, wie sie am Nil oder in Mittelamerika ausdifferenzierte Kulturtechniken und technologisch-wissenschaftliche Erkenntnisse entwickelten und dabei mitunter ein Niveau erreichten, von dem die Wissenschaften noch heute rätseln, wie dies unter den damaligen Gegebenheiten eigentlich möglich war. Zwischen dem 7. und 10. Jahrhundert n. Chr. erblühten dann in islamisch geprägten Regionen und mit Bagdad als Hochburg der Gelehrsamkeit die Künste und Wissenschaften, was in vielen kulturellen und technisch-wissenschaftlichen Bereichen zu einem immensen Vorsprung gegenüber dem nicht muslimisch geprägten Europa führte. Der nicht-muslimischen Mehrheit täte das Bewusstsein dafür gut, welche Grundlagen für heute als selbstverständlich angesehene technische, wissenschaftliche und kulturelle Errungenschaften entweder im Wechselspiel mit muslimisch geprägten Regionen entstanden oder dadurch wesentliche Entwick-

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lungsstufen erklommen haben. Es würde ihr Selbstbild möglicherweise nachhaltig modifizieren und erlauben, dieses multikausal und universal zu verstehen. Etwas mehr Demut und Dankbarkeit angesichts der Kontingenz der Geschichte könnten die Folge sein. Ein gestärktes historisches Bewusstsein würde ebenso dazu führen, Muslim:innen nicht mehr als das wesentlich Andere, als das Gegenüber zu begreifen, das sich fundamental vom Selbst unterscheidet. Edward Said identifiziert in seiner Analyse des Blicks von Kunstschaffenden oder wie hier Kolonialbeamten des 19. und 20. Jahrhunderts auf die muslimisch geprägten Regionen des Öfteren antagonistische Begriffspaare: „The Oriental is irrational, depraved (fallen), childlike, ‘different’; thus the European is rational, virtuous, mature, ‘normal’“ (Said 1978, 40). Der muslimischen Minderheit würde ein tieferes und fundierteres historisches Verständnis dabei helfen, aus der Rolle des Bittstellers, der:des ewig dankbaren Migrant:in herauszutreten und den gleichberechtigten Platz in der deutschen Gesellschaft ebenso selbstbewusst wie selbstverständlich einzufordern. Die lange und intime Verwicklung von muslimisch geprägten Regionen mit dem übrigen Europa und das aktualisierte Wissen davon sind ein außerordentlich guter Startpunkt, um in die Aushandlung der Gesellschaftsordnung einzutreten, Sichtbarkeit, Teilhabe und Gleichberechtigung einzufordern und auf ein positives Resultat hinzuwirken. Wo dieses historische Wissen bereits vorhanden ist, wird es von der Mehrheitsgesellschaft oft geflissentlich übersehen oder leichtfertig abqualifiziert. Das Fachwissen aus Kontexten der eigenen Herkunftsregion oder -kultur erscheint dann als glorifizierende Überhöhung, die keiner nüchternen Betrachtung standhalten würde. Zu tief sitzt das eigene Überlegenheitsgefühl und zu lieb gewonnen wurde es inzwischen wohl auch. Auch werden Kompetenzen – etwa Sprachkenntnisse – oft gar nicht als solche angesehen oder gar abgewertet. Während Kinder aus beispielsweise deutsch-französischem Elternhaus mit ihrer Zweisprachigkeit wohlwollend betrachtet werden, haben diejenigen mit deutschtürkischer Bilingualität mit dem Vorurteil mangelnder Bildung zu kämpfen. Ein klares Beispiel von double standards, die das Zusammenleben in der Einwanderungsgesellschaft massiv erschweren. Selbst wenn also das historische Verständnis unter deutschen Muslim:innen in Deutschland zunimmt, sind sie immer noch darauf angewiesen, damit auch Gehör zu finden. Ein weiterer positiver Effekt von einem vertieften historischen Bewusstsein wäre zudem, dass es der muslimischen Minderheit auch leichter fiele, essentialistische und verallgemeinernde Ansprachen und Narrative etwa von ultranationalistischer und islamistischer Seite zurückzuweisen, die in einigen (post-)mig-

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rantischen¹² Communities, etwa bei Gruppierungen türkischer Faschist:innen und salafistischen Bewegungen, existieren. Das hier skizzierte historische Verständnis ist nicht nur für Historiker:innen und sonstige Angehörige eines mit formaler Bildung gut ausgestatteten Teils der Bevölkerung wichtig. Denn seine sozialen Implikationen reichen bis hinein in eine Vielzahl alltäglicher zwischenmenschlicher Interaktionen eines großen Teils der deutschen Gesellschaft und in die gesellschaftlichen Aushandlungsprozesse auf den diesen Interaktionen übergeordneten Ebenen – etwa in Betrieben, Universitäten, Medien, politischen Gremien und der übrigen Öffentlichkeit. Täglich erleben auch und gerade muslimische Mitbürger:innen Ausgrenzung und Diskriminierung,¹³ was bei microaggressions ¹⁴ beginnt und bis hin zu offener Feindschaft oder sogar Gewalt reicht (vgl. Bayraklı und Hafez 2019). Diese Vorfälle und dazu die Gleichgültigkeit eines Teils der Gesellschaft schockieren Menschen in Deutschland, die sich selbst als Muslime identifizieren oder die als solche gelesen werden,¹⁵ Tag für Tag – und das vollkommen zu Recht. Weiße Menschen mit umfangreichen Privilegien und ohne Diskriminierungserfahrung stellen sich noch zu selten schützend vor ihre diskriminierten Mitmenschen. Ihnen mangelt es mitunter an Solidarität, und der Widerspruch gegen Diskriminierung wird den Opfern überlassen, die mit den seelischen Folgen dieser Erfahrungen allein bleiben. Suchen sie Hilfe in der Community, das heißt bei Menschen mit ähnlichen Erfahrungen, setzen sie sich dem Vorwurf aus, sich in Parallelgesellschaften abzuschotten, es sich in der Opferrolle bequem zu machen und Klientelpolitik oder essentialistische Identitätspolitik zu betreiben – sich auf eine andere Identität zu beziehen, reproduziere und verfestige erst das eigene Anderssein.

 Der Begriff postmigrantisch hat mehrere Bedeutungsebenen und wurde von der Berliner Theaterregisseurin Shermin Langhoff geprägt. Die Verwendung in diesem Text soll vor allem darauf verweisen, dass die tatsächliche Migration in vielen Fällen bereits mindestens eine Generation zurückliegt und dass der Begriff postmigrantisch/Postmigrant:in „Menschen mit Migrationshintergrund“ ablöst (Langhoff 2011).  Aktuelle Zahlen für Deutschland im Jahr 2019 können dem seit 2015 jährlich für ganz Europa erhobenen European Islamophobia Report entnommen werden.  Mikroaggressionen sind geringfügige abwertende Äußerungen oder Rahmungen, die in der alltäglichen Kommunikation vorkommen und die:den Gesprächspartner:in verletzen. Trotz ihrer vermeintlichen Geringfügigkeit sind sie nicht nur in der Häufung schädlich, sondern reproduzieren immer auch systematische und institutionalisierte Ausschlüsse.  Im Privaten wie in der öffentlichen Wahrnehmung werden Menschen, die selbst oder deren Familie aus muslimisch geprägten Regionen einwanderten, oft automatisch als Muslim:innen angesehen. Ursache dafür ist die Unkenntnis der religiösen Vielfalt in diesen Regionen oder der Unwille, sie in Betracht zu ziehen. Eine unter anderem davon betroffene Gruppe sind aramäische Christ:innen.

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Umgekehrt sind sich privilegierte Weiße ihrer Voreingenommenheit oft gar nicht bewusst¹⁶ und konfrontieren Menschen, die sich selbst als Muslime identifizieren oder die als solche gelesen werden, ohne jedes Problembewusstsein mit ihrem stereotypen Denken. Gut zu beobachten war dies, als viele Türkischstämmige nach dem gescheiterten Putsch in der Türkei plötzlich aufgefordert wurden, die türkische Innenpolitik zu erklären oder sich für oder gegen ‚ihren‘ Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan zu positionieren. Dieses ‚Zum-Experten-Erklären‘ ist ein typisches Merkmal von Ausgrenzung, genauer gesagt von othering, dem Zuordnen eines Menschen zu einer als fremd- und andersartig begriffenen Gruppe, die sich von der eigenen auf Grund von äußerlichen und anderen Merkmalen unterscheidet. Viele Menschen in Deutschland, die Muslime sind oder als solche wahrgenommen werden, kennen diese Erfahrung. Häufig mussten sie bereits ‚ihre‘ Religion erklären, ganz egal, ob sie diese oder eine andere Religion praktizieren – oder gar keine. Teils geschieht dies auch in größeren Runden, wie dem Klassenverband oder dem Kollegium, was zusätzlich erniedrigend wirkt. Manchmal reichen das Unwissen und die fehlende Differenzierung des weißen und privilegierten Teils der Bevölkerung sogar so weit, dass Menschen wegen falscher Zuschreibungen aufgefordert werden, kulturelle oder religiöse Zusammenhänge zu erklären, die mit ihrer Biografie und Erfahrung überhaupt nichts zu tun haben. Da werden Alawit:innen¹⁷ aufgefordert, die Gründe für das Fasten zu erklären, Menschen mit kurdischen Vorfahren werden zu türkischen Themen befragt, Berber:innen mit Araber:innen gleichgesetzt oder Sunnit:innen mit Schiit:innen verwechselt. All das ist in Deutschland Alltag und hinterlässt psychologische Spuren bei den Betroffenen, die dem gesellschaftlichen Zusammenhalt abträglich sind. Museen im Allgemeinen und archäologische Museen wie das Museum für Islamische Kunst in Berlin im Besonderen haben die Aufgabe, das historische Bewusstsein einer breiten Bevölkerungsschicht zu fördern und das Wissen von den intensiven Verflechtungen der Kulturen zu vermehren. Mit den Sammlungen haben sie zudem einen außerordentlich guten Ansatz, um über derlei Fragen ins Gespräch zu kommen und Zusammenhänge erlebbar zu machen. Wem diese Zusammenhänge unklar oder ganz verwehrt bleiben, die:der ist anfälliger für pau-

 Die Auseinandersetzung mit dem individuellen und strukturellen Rassismus hat mit dem gewaltsamen Tod von George Floyd in Minneapolis durch die Hände mehrerer weißer US-amerikanischer Polizisten am 25. Mai 2020 auch in Deutschland an Dynamik gewonnen. Die kritische Überprüfung der eingeimpften, über die Jahrhunderte verfeinerten und tradierten rassistischen Reflexe steht dennoch erst am Anfang.  Alawit:innen sind eine dem schiitischen Islam nahestehende Religionsgemeinschaft, die sich teilweise dem Islam zurechnet und teilweise als eigenständig begreift.

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schalisierende Selbst- und Fremdbilder und für nationalistische, essentialistische oder rassistische Narrative, in denen die Überlegenheit der eigenen Gruppe gegenüber anderen Gruppen behauptet wird. Wer sich jedoch vergegenwärtigt, dass es ein ganz und gar unverdientes und kontingentes Glück ist, auf der wohlhabenden und mächtigen Seite des Globus geboren zu sein, und wer sich darüber hinaus im Klaren darüber ist, dass Europäer:innen und andere Angehörige des globalen Nordens nicht immer diese Vormachtstellung innehatten, die sie aktuell einnehmen, die:der wird der Gesellschaft und ihren:seinen Mitmenschen mit mehr Demut und Solidarität begegnen – so jedenfalls die Hoffnung in liberalprogressiven Gesellschaftsteilen.

4 Gesellschaftlicher Zusammenhalt aus der Perspektive organisierter Muslim:innen Das historische Verständnis ist in vielen Teilen der Gesellschaft ausbaufähig – unabhängig von ihrer Konfession und dem Grad ihrer Religiosität. Im Kontext von gesellschaftlichem Zusammenhalt und noch spezifischer in Bezug auf den Zusammenhalt zwischen religiösen Minderheiten (hier Muslim:innen und der Mehrheitsgesellschaft würde ein fundiertes historisches Verständnis beiden gesellschaftlichen Teilen dabei helfen, den bestehenden Zusammenhalt zu festigen und gestärkt für dessen Verteidigung einzutreten. Denn die fundamentale Normalisierung des Minderheiten-Mehrheiten-Verhältnisses kommt in Europa bislang nicht entscheidend voran, obwohl sie spätestens seit 1997¹⁸ in ganz Europa weit oben auf der politischen Agenda steht (Irving Jackson und Doerschler 2018, 105 – 106). Ein wichtiger Bestandteil gesellschaftlichen Zusammenhalts ist Teilhabe. Und ein wichtiger Bestandteil von Teilhabe ist Sicht- bzw. Hörbarkeit und somit Anerkennung. Daher stehen die Aussagen der Muslimin:innen in Deutschland selbst im Zentrum dieses Stimmungsbilds. Wie bewerten sie den gesellschaftlichen Zusammenhalt momentan und nach Terrorakten wie dem in Hanau? Wie sehen sie sich aktuell im Land positioniert? Wie bewerten sie ihre gegenwärtige Rolle in dem sozialen Gefüge, das sich Gesellschaft nennt und das nach Jahrzehnten re-

 Bereits 1997 rief die Europäische Union das Europäische Jahr gegen Rassismus und Fremdenfeindlichkeit aus, um Ungleichheit und Polarisierung abzubauen und für eine vollständige Teilhabe von Minderheiten in den Mitgliedstaaten zu sorgen. Dies konnte jedoch nicht verhindern, dass die Agitation von rechtskonservativen und rechtspopulistischen Parteien auch und gerade gegen Muslim:innen in den folgenden Jahrzehnten in Europa drastisch zugenommen hat.

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lativer Ruhe derzeit wieder stärker ideologisch umkämpft ist? Was fürchten sie und was wünschen sie sich? Um diese Fragen bearbeiten zu können, wurde eine Forschungsreihe¹⁹ aufgelegt, um die privilegierte Position der Mehrheitsgesellschaft und der staatlichen Kulturinstitution zu verlassen, die Perspektive der Betroffenen in den Mittelpunkt zu rücken und ein authentisches Stimmungsbild der Muslim:innen in Deutschland zu ermitteln. Die Gesprächspartner:innen repräsentierten ein breites Spektrum von Organisations- und Gestaltungsformen von Moscheen in Deutschland. Zu jeweils in etwa einem Drittel waren darunter sowohl Moscheen, die auf Grund ihrer Bauweise klar als Sakralbauten erkennbar sind und die die Gestalt des Stadtteils optisch mitprägen, als auch solche, die für Außenstehende kaum oder gar nicht als Moscheen erkennbar sind, weil sie sich in Hinterhöfen oder hinter Ladenfassaden befinden. Ein weiteres Drittel sprach für Landesverbände, die als Dachorganisationen eine Vielzahl von Moscheen vertreten. Im Hinblick auf die Funktionsweise gab es in der Befragung dagegen eine klare Tendenz hin zu Moscheen, die über das ausschließliche Bereitstellen religiöser Betreuung und eines Gebetsraums hinaus auch kulturelle und soziale Angebote für Gemeindemitglieder im Programm haben und somit als sozialer Treffpunkt und Kulturzentrum fungieren. Dieser Umstand ergibt sich daraus, dass es vor allem diese Moscheen sind, die eine Kooperation mit dem Museum für Islamische Kunst eingehen. Zunächst einmal werden verallgemeinerbare Ergebnisse der Befragung vorgestellt, wodurch Rückschlüsse auf die grundsätzliche Stimmungslage bei Muslim:innen in Deutschland gezogen werden können. Diese Rückschlüsse werden zudem mit einzelnen Beiträgen aus der Befragung untermauert bzw. kontrastiert. Die der Befragung zu Grunde liegende These ist, dass die Stimmung unter den organisierten Muslim:innen in Deutschland aufgrund oben genannter Entwicklungen einen Tiefpunkt erreicht hat. Fast neun Jahre nach der Selbstenttarnung der Terrorist:innen des sogenannten Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU), der jahrelang beinahe unbehelligt Menschen mit erlebter oder ererbter Migrati-

 Die hier verwendeten Daten gehen auf eine nicht repräsentative Befragung im September und Oktober 2020 mit 13 Personen (N = 13) zurück, die als ehren- oder hauptamtliche Funktionsträger: innen in Moscheegemeinden, islamischen Verbänden oder anderen Vereinen mit religiösem Schwerpunkt tätig sind oder waren. Regionaler Schwerpunkt dabei war Berlin, wobei auch Personen aus Bayern, Baden-Württemberg, Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen befragt wurden. Die Gespräche wurden persönlich oder telefonisch geführt und dauerten 45 bis 60 Minuten. Dabei kamen sowohl Methoden der qualitativen als auch der quantitativen Sozialforschung zum Einsatz. Alle Befragten sind dem Autor vorab aus seiner Tätigkeit für das Museum für Islamische Kunst bekannt gewesen, wo er sich seit 2015 für die Zusammenarbeit zwischen dem Museum und Moscheen engagiert.

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onserfahrung ermordete, vor dem Hintergrund der Morde von Hanau, die in zwei Shisha-Bars und damit in safe spaces der (post‐)migrantischen Community verübt wurden, angesichts von andauernden Drohschreiben eines NSU 2.0 sowie zahlreichen rechtsextremen Netzwerken in deutschen Sicherheitsbehörden – so die Annahme – haben die reale physische Bedrohung und die mangelnde Solidarität der Mehrheitsgesellschaft ihre psychologischen Spuren in der Selbstwahrnehmung der organisierten Muslim:innen hinterlassen und sich somit negativ auf deren Wahrnehmung vom gesellschaftlichen Zusammenhalt ausgewirkt. Und tatsächlich wurde die Haltung der Mehrheitsgesellschaft in Bezug auf muslimische Communities klar negativ bewertet:

Abb. 1: Wie bewerten Sie die Haltung der Mehrheitsgesellschaft in Bezug auf die muslimischen Communities? (von 1 = „negativ“ bis 10 = „positiv“; Ergebnisse aus quantitativ-qualitativer Befragung von muslimischen Moscheefunktionsträger:innen aus Deutschland zum gesellschaftlichen Zusammenhalt, Zeitraum: September bis Oktober 2020, 13 Befragungen (N = 13), Roman Singendonk, Museum für Islamische Kunst).

Viele Befragte geben an, dass sich diese Aussage nur schwer verallgemeinern ließe (vor allem Unterscheide zwischen Bundesländern, aber auch zwischen der kommunalen, der Länder- und der Bundesebene wurden geltend gemacht). Dennoch entschieden sich vier von 13 Befragten für den Wert drei, und brachten damit eine – ihrer Einschätzung nach – deutlich negative Sicht der Mehrheitsgesellschaft auf die muslimischen Communities zum Ausdruck. Gestützt wird dieses Ergebnis von Aussagen wie der eines Imams aus Berlin-Neukölln, der mit Blick auf neu ankommende Muslim:innen erstaunt feststellt:

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Es ist mir unverständlich: Die Willkommenskultur 2015 war unglaublich positiv und nach nur zwei bis drei Jahren ist die Stimmung komplett gekippt. 2015 war ich der Meinung, Deutschland sei weltweit ein Vorbild für vielfältiges Zusammenleben – und jetzt nicht mehr.²⁰

Und der Pressesprecher einer Moschee in Berlin-Moabit gibt ergänzend zu bedenken: „Es gibt noch immer viele abwertende Einstellungen [gegenüber Muslim: innen]. Es herrscht keine Gleichbehandlung, obwohl die gleiche Leistung erbracht wird“ (Befragung, 10.9. 2020). Gerade das Gefühl, nach anderen Maßstäben bewertet und dabei grundsätzlich benachteiligt zu werden, erschwert die Identifikation mit dem Gemeinwesen und stellt somit ein Hemmnis für einen stärkeren gesellschaftlichen Zusammenhalt dar. Ähnlich negativ fällt der Blick auf die Entwicklung des gesellschaftlichen Zusammenhalts in der jüngsten Vergangenheit aus. Gefragt, wie dieser sich in den letzten fünf Jahren verändert hat, geben neun von 13 Befragten an, eine Verschlechterung wahrgenommen zu haben. Und obwohl sechs Personen dabei nur eine leichte Verschlechterung bemerkt haben, bleibt das ein deutliches Ergebnis dieser Befragung. Denn untermalt wird dieses Resultat von der Tatsache, dass sich die Verschlechterungen auf alle Lebensbereiche zu erstrecken scheinen. Von den privaten Kontakten über die Darstellung von Themen mit Islambezug in der medialen Öffentlichkeit bis hin zum Verhältnis zwischen muslimischen Organisationen und öffentlichen Institutionen. Zum Letztgenannten gibt der Vorsitzende eines muslimischen Kultur- und Gemeindezentrums in Berlin-Kreuzberg an: Gremien und Foren wie die Deutsche Islamkonferenz und das Islamforum verlieren an Bedeutung und machen Symbolpolitik. Die Skepsis der Politik gegenüber den organisierten Muslimen ist groß. Es gibt keine Fortschritte auf der konkreten Ebene.Vielmehr gibt es einen Generalverdacht gegen uns, wir würden definitiv irgendeinen ausländischen Einfluss vertreten. Die positiven Anstrengungen der Gemeinden werden dagegen verkannt. (Befragung, 29.9. 2020)

Hier verweist der Gesprächspartner auf einen wesentlichen Aspekt: Legislative und Exekutive kommt auf Ebene der Kommunen, Länder und des Bundes eine große Verantwortung und ein besonderer Gestaltungsspielraum im Verhältnis zu den muslimischen Organisationen zu. Sie haben es in der Hand, das Verhältnis

 Um keine:n Gesprächspartner:in zu exponieren, wird auf die Nennung der Namen verzichtet und stattdessen das jeweilige Datum der Befragung angegeben. Alle Gesprächspartner:innen sind dem Autor namentlich, oft auch persönlich und mit ihrer Funktion für die Gemeinde, den Verband oder den Verein bekannt, vgl. Befragung I vom 17.9. 2020.

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Abb. 2: Wie bewerten Sie die Entwicklung des gesellschaftlichen Zusammenhalts in den letzten 5 Jahren? (von 1 = „verschlechtert“ bis 10 = „verbessert“; Ergebnisse aus quantitativ-qualitativer Befragung von muslimischen Moscheefunktionsträger:innen aus Deutschland zum gesellschaftlichen Zusammenhalt, Zeitraum: September bis Oktober 2020, 13 Befragungen (N = 13), Roman Singendonk, Museum für Islamische Kunst).

zwischen Staat und den organisierten Muslim:innen zu gestalten und auf eine geordnete administrative Ebene zu heben. Davon – da sind sich viele der Gesprächspartner:innen sicher – würde eine enorme Signalwirkung ausgehen und ein Signal an alle Gesellschaftsteile: an die Muslim:innen, dass sie respektiert und gewollt sind und an die Mehrheitsgesellschaft, dass das Selbstbild von der vielfältigen, progressiven und toleranten Gesellschaft kein Lippenbekenntnis ist. Bisher werden muslimische Organisationen in ihren prekären Organisationsstrukturen weitgehend sich selbst überlassen und verharren daher in der sozialen Randstellung als marginalisierte Minderheit. Versuche, das Verhältnis zwischen Staat und organisierten Muslim:innen ordnungspolitisch zu regeln, bleiben halbherzig oder unterbleiben ganz. Der Vertreter einer bosnischen Gemeinde mit langer Erfahrung in politischen Gesprächsforen erkannte dabei neuerdings eine Aversion auf Seiten der politisch Verantwortlichen hinsichtlich der Themen mit Islambezug, die er so zusammenfasste: „Ich tu mir das nicht an“ (Befragung, 29.9. 2020). Für die nahe Zukunft bewerten die Gesprächspartner:innen die Chancen auf mehr gesellschaftlichen Zusammenhalt dagegen positiv. So geben sieben von 13 Befragten an, sie erwarten für die kommenden fünf Jahre eine Verbesserung und nur drei gehen von einer weiteren Verschlechterung aus. Interessant dabei ist, dass in den Begründungen ein eigentlich eher negatives Bild gezeichnet, der angegebene Wert jedoch in der Tendenz deutlich positiv ist.

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Abb. 3: Welche Entwicklung erwarten Sie in Bezug auf den gesellschaftlichen Zusammenhalt in den nächsten 5 Jahren? (von 1 = „verschlechtert sich“ bis 10 = „verbessert sich“; Ergebnisse aus quantitativ-qualitativer Befragung von muslimischen Moscheefunktionsträger:innen aus Deutschland zum gesellschaftlichen Zusammenhalt, Zeitraum: September bis Oktober 2020, 13 Befragungen (N = 13), Roman Singendonk, Museum für Islamische Kunst).

So gab etwa der Vorsitzende des Berliner Landesverbandes einer europaweit aktiven muslimischen Organisation zu bedenken: „Wenn man nichts tut, wird es schlimmer werden. Der Diskurs hat sich verschlechtert. Früher ging es um Integration, heute um Clans, Kriminalität, Gewalt“ (Befragung, 3.9. 2020). Damit gibt er zwei wichtige Punkte zu bedenken, die auch andere Gesprächspartner:innen verschiedentlich anmerkten: die Dringlichkeit des eigenen Engagements der muslimischen Organisationen und das framing des Diskurses über islambezogene Themen. Eine große Anzahl der Gesprächspartner:innen stellte die Forderung nach gegenseitigem Verständnis und eines ‚Auf-einander-zugehens‘ explizit sowohl an die Mehrheitsgesellschaft als auch an die muslimischen Communities. Und gerade, wenn es um den Handlungsbedarf der organisierten Muslim:innen in Deutschland ging, wurde dieser Aspekt meist zuerst genannt. Der zweite Punkt betrifft die öffentliche Debattenkultur, die politische Rhetorik und die Medien. Dort hat es eine Verschiebung in der Präsentation von Themen mit Islambezug gegeben, die eine Gleichsetzung der komplexen Lebenswirklichkeit von Muslim: innen mit Gewalt, Rückständigkeit und Fanatismus begünstigt. Ein Gesprächspartner aus Baden-Württemberg, der dort seit vielen Jahren in muslimischen Initiativen engagiert ist, beschreibt es so:

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Es wird übereinander geredet und nicht miteinander. Die persönliche Begegnung ist aber das Wichtigste. Schule, Nachbarn, Arbeit. Weg von der großen Politik, wie Terror und Extremismus. Denn trotz dieser Problematik, die es durchaus gibt, belastet das die persönlichen Beziehungen. Wir müssen hier abstrahieren. Menschen haben ja oft keine Bezugspunkte zu diesen Problematiken, also werden persönlich nicht von islamistischem Terror bedroht, aber meiden dann ggfs. ihre muslimischen Nachbarn. Hier müssen Politiker sich der Verantwortung für das bewusst sein, was sie sagen. (Befragung, 25.9. 2020)

Warum haben die Befragten einen optimistischen Blick in die Zukunft und berichten im Gespräch dann aber ausgiebig über ihre negativen Erfahrungen und die Belastungen? Darüber kann hier nur gemutmaßt werden, aber ein Grund für diese Art von Zweckoptimismus könnte sein, dass es sich hier um die existenziell in Frage gestellte Zukunft dieser Menschen, sowie ihrer Familien und Nachkommen handelt. Die Mehrheitsgesellschaft ist in ihrer Existenz nicht bedroht, wenn es den Minderheiten schlecht geht. Umgekehrt ist das anders. Was bleibt da anderes übrig, als irgendwie nach vorn zu gucken und auf Verbesserung zu hoffen, um nicht zu resignieren und die eigene gesellschaftliche Position grundlegend infrage zu stellen? Ein anderer Grund, der in den Gesprächen immer wieder durchschien, war der erklärte Wille der muslimischen Organisationen, nicht als lamentierende und stets unzufriedene Akteure zu gelten. Vielfach wurde Wert darauf gelegt, bestehende Missstände zwar zu benennen, aber gleichzeitig auch ein differenziertes Bild zu zeichnen und positive Seiten des Zusammenlebens in Deutschland hervorzuheben. Und so kristallisiert sich dann nach und nach auch ein Stimmungsbild heraus, das mit der eingangs genannten These nicht exakt übereinstimmt. Ja, die Enttäuschung darüber, auch nach Jahrzehnten noch immer nicht vollständig auf Augenhöhe angekommen zu sein, sitzt tief. Und gerade wenn es sogar Rückschritte im Binnenverhältnis der gesellschaftlichen Gruppen untereinander gibt, dann führt das zu Frustration: „Viele [aus den Moscheegemeinden] haben aufgehört, sich zu engagieren. Die Debatten werden Menschen überlassen, die nicht kompetent sind“ (Befragung, 29.9. 2020). Aber in erstaunlichem Maße und unerwartetem Umfang haben sich die Befragten positiv über das Zusammenleben in Deutschland geäußert und so stellenweise einem sehr selbstbewussten und gefestigten Selbstbild Ausdruck verliehen. Durch die Gleichzeitigkeit dieser optimistischen wie kritischen Einschätzung entsteht ein grundlegend disparates Stimmungsbild, das als das Hauptergebnis dieser Befragung angesehen werden kann. Die positive Einschätzung der eigenen gesellschaftlichen Position der organisierten Muslime (vgl. Irving Jackson und Doerschler 2018, 122) kommt in der Reaktion auf folgende Aussage eklatant zum Ausdruck. Die Frage an die Interviewpartner:innen lautete: „Stimmen Sie folgender Aussage zu oder nicht?: ‚Die

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Mitglieder unserer Gemeinde fühlen sich zunehmend ausgegrenzt und ziehen sich ihrerseits zurück/minimieren die Kontakte mit anderen gesellschaftlichen Gruppen.‘“ Acht von dreizehn Befragten vergaben die geringste oder zweitgeringste Zustimmung.

Abb. 4: Die Mitglieder unserer Gemeinde fühlen sich zunehmend ausgegrenzt und ziehen sich ihrerseits zurück/minimieren die Kontakte mit anderen gesellschaftlichen Gruppen. (von 1 = „stimme nicht zu“ bis 10 = „stimme zu“; Ergebnisse aus quantitativ-qualitativer Befragung von muslimischen Moscheefunktionsträger:innen aus Deutschland zum gesellschaftlichen Zusammenhalt, Zeitraum: September bis Oktober 2020, 13 Befragungen (N = 13), Roman Singendonk, Museum für Islamische Kunst).

Das Vorstandsmitglied einer Münchner Gemeinde erklärte dazu: „Viele leben seit zwei bis drei Generationen hier und fahren nur noch zum Urlaubmachen in die Herkunftsländer. Die emotionalere Beziehung haben sie immer mehr mit Deutschland“ (Befragung, 5.10. 2020). Entgegen einer in der Mehrheitsgesellschaft teilweise verbreiteten Annahme, wonach (Post-)Migrant:innen emotional häufig immer noch zu stark an ihre sogenannten Herkunftsländer bzw. an die Herkunftsländer ihrer Vorfahren gebunden sind, um sich nachhaltig mit der deutschen Gesellschaft zu identifizieren, hat es in dieser Frage offenbar längst eine Verlagerung gegeben. Diese sieht auch der befragte Neuköllner Imam und stellt fest: „Es gibt mehr ein Gefühl: ‚Wir sind Deutsche‘. Selbst diejenigen, die kaum deutsch sprechen, fühlen sich als Deutsche“ (Befragung I, 17.9. 2020). Dieser Befund erstaunt dann schon. Selbst jene, die über intensive Kontakte in die (post-) migrantischen Communities verfügen, kennen das Bild von den Senior:innen, die vor Jahrzehnten oft über Anwerbeabkommen nach Deutschland kamen und erst

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nach und nach realisierten, dass sich ihre Lebensplanung, die auf eine Rückkehr in die alte Heimat ausgerichtet war, erübrigte. Viele von ihnen haben Lebensweisen und Einstellungen konserviert und stellenweise auch keine tiefergehenden Sprachkenntnisse erwerben können. Die hier geborenen jüngeren Generationen bestätigen in Gesprächen mitunter diesen Eindruck. Mal eher liebe- und verständnisvoll, mal auch achselzuckend und leicht genervt. Dennoch sind es genau diese Menschen, von denen der Imam berichtet, die sich auf ihre alten Tage für die neue Heimat öffnen und eine emotionale Beziehung aufbauen, das heißt sich mit dem Gemeinwesen identifizieren. Wer möchte angesichts dessen bezweifeln, dass in den Moscheen einiges in Bewegung geraten ist? Die weitgehend positive Selbsteinschätzung wird von einer grundlegend zufriedenen Haltung gegenüber demokratischen Institutionen in Europa begleitet: Muslims in Europe feel at home with the democratic institutions and processes of their member-state, despite the hostility expressed toward them by right wing parties and the mobilization of these parties for political change that would negatively affect the religious minority. (Irving Jackson und Doerschler 2018, 125 – 126)

Dies lässt im Zusammenspiel den Schluss zu, dass Muslim:innen in Europa in weitreichendem Maße und in vielerlei Hinsicht eine gefestigte, selbstbewusste und sogar behagliche gesellschaftliche Position gefunden haben. Umso größer ist die Diskrepanz dieser Befunde zu der nach wie vor tendenziösen und voreingenommenen Behandlung fast aller Themen mit Bezug zu Muslim:innen im Privaten, in Öffentlichkeiten und Fachkreisen, wo doch oft zuallererst Probleme, Defizite und scheinbar unlösbare Herausforderungen im Vordergrund stehen. Dazu passt auch die Haltung der muslimischen Communities zur Mehrheitsgesellschaft. Neun von 13 Befragten gaben an, eine teils deutlich positive Haltung wahrzunehmen. Demgegenüber gaben nur vier Personen einen leicht negativen oder negativen Wert an. So deutlich diese Rückmeldung zu sein scheint: Auch hier spiegeln die ergänzenden Ausführungen, die die numerische Wertung begleiten, die andere Seite der Medaille wider. Erneut wird deutlich, wie ambivalent die Erfahrungen der organisierten Muslim:innen in Deutschland sind und wie nah Fortschritte und Rückschritte beieinander liegen. So wird durchaus anerkannt, dass der überwiegende Teil der Mehrheitsgesellschaft keine gefestigte islamfeindliche Einstellung hat und dass es eine gewisse soziale Durchlässigkeit in Deutschland gibt: „Der Großteil der Menschen ist nicht wie die AfD. Man kann heute als Muslim viel erreichen“ (Befragung, 3.9. 2020). Es sind wohl unter anderem die verbesserten beruflichen Perspektiven, die Aussicht auf – nicht nur, aber eben auch ökonomische – Teilhabe, die eine Identifikation mit der Gesellschaft befördern und

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Abb. 5: Wie würden Sie aktuell die Haltung der muslimischen Community in Bezug auf die Mehrheitsgesellschaft beschreiben? (von 1 = „negativ“ bis 10 = „positiv“; Ergebnisse aus quantitativ-qualitativer Befragung von muslimischen Moscheefunktionsträger:innen aus Deutschland zum gesellschaftlichen Zusammenhalt, Zeitraum: September bis Oktober 2020, 13 Befragungen (N = 13), Roman Singendonk, Museum für Islamische Kunst).

einen Unterschied zwischen der Gegenwart und der Vergangenheit markieren: „Es gibt eine enorm gute Entwicklung. Die soll noch weiter gehen. Je mehr Partizipation, desto mehr positive Haltungen zur Gesellschaft gibt es. Früher wollten Muslime nicht partizipieren, heute schon“ (Befragung I, 17.9. 2020). Nichtsdestotrotz mischen sich auch nachdenkliche und deutlich kritische Gedanken in die Reflexion organisierter Muslim:innen in Deutschland über die Mehrheitsgesellschaft. Etwa wenn davon gesprochen wird, dass die Diskriminierungserfahrungen, die nahezu alle in Deutschland lebenden Muslim:innen (und im Übrigen auch jene, die als solche gelesen werden) gemacht haben, dazu führen, dass das Vertrauen in eine faire Behandlung auf dem Tiefpunkt ist (vgl. Befragung, 14.9. 2020). Oder wenn die rassistisch durchsetzten Strukturen in öffentlichen Institutionen angedeutet werden: „Es gibt latente Diskriminierung und großen Nachholbedarf in Sachen Gerechtigkeit in Verwaltung und Behörden, z. B. bei der Polizei“ (Befragung, 1.10. 2020). So äußert sich etwa der Vorsitzende eines Berliner Moschee- und Kulturvereins, der zudem Grundschullehrer ist. Ein differenziertes Bild ergibt sich auch, wenn es um die Kooperation zwischen muslimischen Organisationen und öffentlichen Einrichtungen geht. Ein Teil der Gesprächspartner:innen stellt hier eine deutliche Verbesserung fest, während andere im Gegenteil einen Rückgang in der Zusammenarbeit und eine generelle Skepsis gegenüber Moscheen und Verbänden wahrnehmen. Positiv

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Abb. 6: Die muslimischen Communities werden immer mehr als Partner wahrgenommen und als selbstverständlicher Teil der Gesellschaft angesehen. (von 1 = „stimme zu“ bis 10 = „stimme nicht zu“; Ergebnisse aus quantitativ-qualitativer Befragung von muslimischen Moscheefunktionsträger:innen aus Deutschland zum gesellschaftlichen Zusammenhalt, Zeitraum: September bis Oktober 2020, 13 Befragungen (N = 13), Roman Singendonk, Museum für Islamische Kunst).

bewertet wurde vor allem die Tatsache, dass Moscheen als Gebetsstätten nicht zur Disposition stehen und individuelle Besuche von Interessierten zunehmen. Eindeutig negativ hingegen wurde die institutionelle Zusammenarbeit etwa mit Behörden bewertet. Nach ihrer Zustimmung zu einer entsprechenden Aussage („Die muslimischen Communities werden immer mehr als Partner wahrgenommen und als selbstverständlicher Teil der Gesellschaft angesehen.“) befragt, antworteten sieben Personen zustimmend und sechs teilweise deutlich ablehnend. Ein in Baden-Württemberg lebender islamischer Theologe, der bereits viele Jahre in verschiedenen Initiativen von Moscheegemeinden engagiert ist und in dessen Landkreis eine islamfeindlich agierende Lokalpolitikerin Kooperationen erschwert, erklärt: „Wenige Argumente stützen diese Aussage. Sie ist zumindest auf lokaler und regionaler Ebene nicht zutreffend“ (Befragung, 25.9. 2020). Auch in Berlin wird diese Auffassung mitunter geteilt, so dass der befragte Neuköllner Imam kritisiert: „Selbst die offenen Moscheen sind umstritten. Meine Erfahrungen aus dem Kontakt mit dem Quartiersmanagement: Öffentliche Einrichtungen machen ungerne Projekte mit Moscheen. Es gibt manchmal sogar diskreditierende Gerüchte, etwa in Behörden“ (Befragung I, 17.9.2020). Wenn aber nicht einmal auf den unteren administrativen Ebenen gemeinsame Projekte stattfinden und willige muslimische Akteur:innen auf diese Weise eingebunden werden,

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dann weist das darauf hin, wie weit Deutschland von einer umfassenden Regelung des Verhältnisses zwischen Staat und muslimischen Organisationen entfernt ist. Ein Befragter aus Düsseldorf, der dort einem nordafrikanisch geprägten und in ganz Nordrhein-Westfalen aktiven Verband vorsteht, bringt dagegen eine etwas andere und weniger kritische Sichtweise zum Ausdruck: „Die Landschaft der muslimischen Organisationen ist sehr divers und die Mehrheitsgesellschaft differenziert hier auch sehr stark“ (Befragung, 15.9. 2020). Diese Differenzierung nimmt auch der Vertreter einer muslimischen Bildungsinitiative aus Berlin-Mitte wahr und gibt mit Bedauern zu bedenken: Es gibt wenig bis keinen Kooperationswillen öffentlicher Institutionen mit Moscheen, Verbänden. Gläubige werden in gute und schlechte Muslime eingeteilt und Kooperationen entsprechend wenn dann nur mit Letzteren geschlossen. Es gibt eine große Skepsis staatlicher Einrichtungen gegenüber Moscheen. (Befragung II, 17.9. 2020)

Doch es gibt auch die gegenteilige Einschätzung, zumindest, was die praktische Ebene angeht, auf der jenseits von Kooperationen im großen Stil, Staatsverträgen oder gar der Anerkennung von Muslim:innen als Religionsgemeinschaft eine Verbesserung in der Beziehung zu öffentlichen Einrichtungen erkannt wird. Der Vorsitzende eines albanisch-muslimischen Kultur- und Gemeindezentrums etwa gibt an, diesbezüglich eine Veränderung zum Guten zu erleben: Im Allgemeinen ist es heute so: Die Moschee ist jetzt mehr als ein Gebetsraum. Sie ist auch ein Gemeindezentrum, das klarmacht: „Das kannst du in Deutschland erreichen“. Die Zusammenarbeit mit Behörden ist gut. Verwaltungen suchen inzwischen explizit nach Menschen mit Migrationshintergrund. (Befragung, 1.10. 2020)

Erneut zeigt sich kein eindeutiges Stimmungsbild, keine übereinstimmende Einschätzung der Lage. Muslimische Organisationen mögen sich in bestimmten religiösen Aspekten ähneln und Gemeinsamkeiten aufweisen. Sie bilden jedoch ein heterogenes Feld und ein breites Spektrum an Konfessionen, regionalen Bezügen, Ethnien, Kulturen und Sprachen. Und auch der deutsche Staat ist mit seinem föderalen System kein monolithischer Block und die Ausgestaltung des Verhältnisses zu religiösen Akteuren in weiten Teilen Ländersache. Hinzu kommen je nach Region unterschiedliche historische Migrationsbewegungen und Erfahrungen mit Muslim:innen. Während sie in einigen Großstadtbezirken oder industriell geprägten Regionen seit Jahrzehnten eine wesentliche Bevölkerungsgruppe bilden, ist ihre Zahl in manchen Landesteilen seit jeher eher gering. Trotz der genannten Differenzierungen bei den Akteuren, Herausforderungen und gesellschaftlichen Missständen kann das Ergebnis dieser Befragung nur eine deutlich positive Sicht der organisierten Muslim:innen in Deutschland auf den

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Abb. 7: Wie bewerten Sie aktuell den Zusammenhalt in der deutschen Gesellschaft? (von 1 = „nicht gut“ bis 10 = „gut“; Ergebnisse aus quantitativ-qualitativer Befragung von muslimischen Moscheefunktionsträger:innen aus Deutschland zum gesellschaftlichen Zusammenhalt, Zeitraum: September bis Oktober 2020, 13 Befragungen (N = 13), Roman Singendonk, Museum für Islamische Kunst).

gesellschaftlichen Zusammenhalt sein. Und so lässt sich dann auch die Reaktion auf diese in der Interviewreihe stets eingangs gestellte Frage deuten. Während sich nur zwei Personen leicht negativ äußerten, gaben elf Personen eine leicht oder sogar deutlich positive Bewertung ab. Ein klarer Hinweis darauf, dass der gesellschaftliche Zusammenhalt in Deutschland von den organisierten Muslim:innen im Allgemeinen als gut angesehen wird. Ein Fakt, den der Vorsitzende des Berliner Landesverbandes einer international aktiven türkisch geprägten muslimischen Organisation wie folgt zum Ausdruck brachte: „Die Morde und Terrorangriffe (Hanau, Halle etc.) zeigen, dass diejenigen, die gegen gesellschaftliche Vielfalt sind, bemerkt haben, dass sich die Gesellschaft in eine andere als die von ihnen gewollte Richtung entwickelt. Sie sind eine Reaktion“ (Befragung, 7.9. 2020). Aus dieser Äußerung spricht das Vertrauen in die Gesellschaft als Ganzes und der feste Glaube, dass mit Selbstbewusstsein und Zuversicht auf den Zusammenhalt in Deutschland geschaut werden sollte.

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5 Exkurs II – Die Rolle kultureller Bildung bei der Stiftung von gesellschaftlichem Zusammenhalt Obwohl ein direkter Zusammenhang zwischen dem Bildungsgrad einer Gesellschaft und dem Level ihres Zusammenhalts in der Fachwelt durchaus umstritten ist (Green und Preston 2001), geht das Museum für Islamische Kunst davon aus, dass durch seine Bildungsarbeit (und ähnliche Aktivitäten anderer öffentlicher Kultureinrichtungen) ein positiver Beitrag zur Verbesserung des gesellschaftlichen Zusammenhalts geleistet werden kann. Das liegt vor allem daran, dass bei den Projekten des Museums dem Aspekt der Partizipation besondere Bedeutung zukommt: Über die reine Vermittlung von formalem Wissen (hier Geschichte und Kunstgeschichte) hinaus trägt der partizipative Ansatz der Bildungsprojekte zu einer erhöhten Identifikation mit dem Gemeinwesen (hier in Form öffentlicher Kulturinstitutionen) bei. Wer sich in den Bildungsangeboten wiederfindet, wer sich gemeint fühlt, die oder der kann sich besser mit der Institution und der dahinter stehenden Gesellschaft identifizieren. Das Museum für Islamische Kunst setzt dabei auf bestimmte Narrative, die – wenn sie ihre Wirkung in der Gesellschaft entfalten – zu einer verstärkten Zusammengehörigkeit beitragen. Diese sind: · Migration ist multikausal, der menschliche Normalfall und keine Krise, die es zu verhindern gilt, · Episteme sind mobil und bewegen sich ebenso global wie Menschen, · zahlreiche Errungenschaften der Gegenwart gehen auf Erkenntnisse zurück, die nicht oder nicht ausschließlich im globalen Norden gewonnen wurden, · Kultur- und Wissenstransfer sind Katalysatoren für Fortschritt und Innovation, und · die Kulturen in islamisch geprägten Regionen und jene im nicht-islamischen Europa sind durch ein reiches gemeinsames Kulturerbe eng miteinander verbunden. Die Kooperation zwischen einem Museum und einer Moschee ist auf den ersten Blick erst einmal erklärungswürdig. Nicht nur, dass beide Einrichtungen unterschiedliche Ziele verfolgen: Der Moschee liegen das seelische Wohl und die religiöse Bildung ihrer Besuchenden am Herzen, wohingegen Museen die Besuchenden an die Sammlungen heranführen und ihnen ein angenehmes Besuchserlebnis verschaffen möchten. Sie sind – sofern staatlich finanziert – zur Neutralität angehalten und ihre Forschungstradition ist in der Regel säkular. Forschungstraditionen können im globalen Norden zudem mit der Kolonialgeschichte und rassistischen Denkmustern verknüpft sein. Moscheen sind in

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Abb. 8: Der Olifant (Ident. Nr. K 3106) aus dem 11. Jahrhundert n. Chr. vereint koptische, byzantinische und islamische Merkmale in sich und verkörpert damit die engen ästhetischen und künstlerischen Verknüpfungen der Mittelmeerkulturen (Museum für Islamische Kunst, Staatliche Museen zu Berlin – Johannes Kramer).

Deutschland Orte, die mehrheitlich von Menschen mit ererbter oder erlebter Migrationserfahrung betrieben und besucht werden und an denen über Sprache, Bräuche und Riten eine Verbindung zu jenen Regionen gehalten wird, aus denen die Besuchenden oder ihre Vorfahren kommen oder kamen. Sie sind Orte von gesellschaftlichen Minderheiten. Museen dagegen sind Orte, durch die gesellschaftliche Eliten die dominante Vorstellung von Nation und nationaler Identität zumindest gestärkt, wenn nicht gar konstruiert haben (vgl. Spielhaus 2013).²¹ Und gerade deshalb ist ein Museum prädestiniert dafür, die Konstruktionsweise und Aushandlung nationaler Identität zu öffnen und gesellschaftliche Minderheiten zu umarmen. Sie können neue Narrative aufsetzen – von Identitäten, die durchlässig sind und sich auf den Gedanken stützen, dass Kunst und Kultur besser in Netzwerken entstehen als in abgeschotteten und homogenen Strukturen und Räumen (vgl. Weber 2018). Das Beispiel des Museums für Islamische Kunst zeigt, dass es an dieser Stelle wichtig ist, einen ‚langen Atem zu haben‘. 2015 hat das 1904 gegründete Museum Menschen in Moscheegemeinden als eine unter mehreren wichtigen Interessengruppen definiert und arbeitet mit ihnen zusammen.  Natürlich haben Museen auch andere Funktionen, etwa als Forschungseinrichtungen, Bildungs- und Begegnungsstätten oder durch ihre Rolle bei der Bewahrung eines gemeinsamen Kulturerbes. Sie können nicht auf den identitätsstiftenden Aspekt reduziert werden. Genauso wenig sollte dieser jedoch verschwiegen oder kleingeredet werden.

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Durch diese und ähnliche Initiativen haben seitdem viele Menschen, die vorher selten die Angebote des Museums nutzten (und von diesen auch nicht primär angesprochen wurden), das Pergamonmuseum besucht oder in anderer Hinsicht an dessen Inhalten partizipiert – eine Grundvoraussetzung, um sich mit diesem Ort und dessen Narrativen zu identifizieren.

6 Fazit Ja, die Moscheen sind in Bewegung. Dabei sind sie offenbar deutlich weniger als zunächst angenommen von den erschreckenden und menschenverachtenden Worten und Taten beeinflusst, die Deutschland auch in den letzten 20 Jahren erschüttert haben (die Pogrome der 1990er Jahre nicht zu vergessen)²² und die sich häufig explizit gegen Muslim:innen richteten. Organisierte Muslim:innen in Deutschland verfallen auch angesichts der Dramatik der jüngeren Vergangenheit nicht in Panik – vielleicht weil sie sich anders als die Mehrheitsgesellschaft über ihre gefährdete Stellung nie Illusionen gemacht haben. Stellenweise ist es wohl auch der Blick auf die Herkunftsländer bzw. die Herkunftsländer der Vorfahren, der die Situation in Deutschland vergleichsweise gut erscheinen lässt; ein Aspekt, der wohl eher trotz und nicht wegen der Minderheitenpolitik in Deutschland zum Tragen kommt. Um diese Gründe zu erhellen, müssten weitere Befragungen durchgeführt werden. Es ließ sich zeigen, dass es eine mentale und emotionale Bewegung hin zu mehr Zusammengehörigkeit in den deutschen Moscheen gibt. Diese Verlagerung in der Wahrnehmung und auch der Gefühlswelt wird in öffentlichen Debatten wenig oder überhaupt nicht abgebildet und ist selbst Interessierten und Fachleuten nicht immer ersichtlich. Die Moscheen geben jedoch gerne Auskunft über Stimmungen, Wünsche und Ängste. Es muss ihnen nur zugehört werden.²³

 Pogrome: 22.–26.9.1992 Rostock-Lichtenhagen, 23.11.1992: Mölln und 29.5.1993 Solingen.  Mit Rückgriff auf G. C. Spivak (2008, 21– 41) muss jedoch festgehalten werden, dass die Betroffenen selbst für sich sprechen können müssen und eine Repräsentation durch privilegierte Wissenschaftler:innen und Intellektuelle kein Ersatz darstellt. Jeder Versuch einer privilegierte Person, für eine unterprivilegierte Gruppe (Spivak prägt dafür den Begriff subaltern) zu sprechen – wie etwa in diesem Text – kann sich seines inneren Widerspruchs nicht entledigen, den Spivak mit „Begehren“ und „Ideologie“ in Verbindung bringt: Das Bemühen, eine subalterne Gruppe zu repräsentieren, führt letztlich immer wieder zur Reproduktion und Verschleierung bestehender Machtverhältnisse und lenkt von der Notwendigkeit der Revolte dagegen ab.

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Abbildungen Abbildung 1 – 7: Ergebnisse aus quantitativ-qualitativer Befragung von muslimischen Moscheefunktionsträger:innen aus Deutschland zum gesellschaftlichen Zusammenhalt, Zeitraum: September bis Oktober 2020, 13 Befragungen (N = 13), Roman Singendonk, Museum für Islamische Kunst. Abbildung 8: Olifant (Ident. Nr. K 3106), Museum für Islamische Kunst, Staatliche Museen zu Berlin – Johannes Kramer.

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Kreuzberger Vorgeschichten Nicht realisierte Projekte und Initiativen für den Bau von Moscheen und türkischen Kulturzentren in Berlin in den 1980er Jahren

Abstract: Ab Mitte der 1990er Jahre entwickelte sich die heutige heterogene und plurale Moscheenlandschaft Berlins mit bislang sieben realisierten Moscheebauten. Die Bau- und Planungsgeschichte der Moscheebauten ist teilweise gut erforscht oder zumindest in Überblicksdarstellungen dokumentiert. Weitgehend unbekannt sind dagegen Projekte und Initiativen zum Bau von Moscheen, die bereits in den 1970er und 1980er Jahren von unterschiedlichen Akteur:innen entwickelt, letztlich jedoch nicht verwirklicht wurden. Als Beispiel dieser Projekte und Initiativen zeichnet der Beitrag die Vorgeschichte eines Moscheebaus in Berlin-Kreuzberg nach. In den 1980er Jahren löste die Fatih-Gemeinde eine Reihe von Projekten und Initiativen zum Bau von Moscheen und türkischen Kulturzentren aus. Der Beitrag untersucht ihre Entstehung und ihr Scheitern und fragt nach der Relevanz für das spätere Baugeschehen. Zur Rekonstruktion der Vorgeschichte des erst in den 2010er Jahren fertiggestellten Fatih-Kulturhauses wurden insbesondere bislang unveröffentlichte Dokumente von Stadtteilinitiativen und bürgerbeteiligten Planungsprozessen sowie Akten der Berliner Senatskanzlei recherchiert. Die Vorgeschichte des Fatih-Kulturhauses zeigt zum einen, wie im Kontext der Behutsamen Stadterneuerung lokale türkische Migrant:innenorganisationen, islamische Dachverbände und ein Zusammenschluss säkularer Aktivist:innen konkurrierende Projekte und Initiativen zum Bau von Moscheen und Kulturzentren entwickeln. Zum anderen wird deutlich, wie sich in den teilweise öffentlich geführten Auseinandersetzungen mit diesen Projekten und Initiativen Entstehungsbedingungen herausbilden, die den späteren Bau des Fatih-Kulturhauses prägen. Nicht zuletzt öffnet das hier nachgezeichnete Beispiel Möglichkeiten, die Rezeption bestehender Moschee-Neubauten durch den Einbezug nicht realisierter Planungen als Vorgeschichte zu erweitern.

https://doi.org/10.1515/9783110668919-011

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1 Einleitung Ausblick gewinnen. Trümmerberge und sonstige Anhöhen benutzen. Vom Kreuzberg aus eine Utopie entwerfen. Ich denke mir türkische, kroatische, spanische, griechische und italienische Straßenzüge und Stadtteile. Direkt neben Schultheiß am Fuße des Kreuzberges lasse ich eine Moschee samt Minarett wachsen. Schon in der zweiten Generation sind Türken, Kroaten und Italiener geborene und gelernte Berliner. Alle Grundrechte stehen ihnen zu. Sie wählen und werden gewählt. Vorurteile sind nur noch Legende, und selbst die Meierei Bolle kann ohne Scheu, also werbewirksam auf den türkischen Ursprung des Wortes Joghurt hinweisen. Nur Utopie? (Grass [1971], 1981)¹

Im Zeitraum der 1970er und 1980er Jahre entstanden in West-Berlin eine ganze Reihe von Projekten und Initiativen zum Bau von Moschen und türkischen Kulturzentren. Nichts davon wurde realisiert. Innerhalb der Mehrheitsgesellschaft wie auch auf Seiten der muslimischen Gemeinden und innerhalb der türkischen Community sind die Projekte weitgehend in Vergessenheit geraten. Sie sind nicht nur als vergessene Utopien zu verstehen. Vielmehr bilden diese Projekte und Initiativen eine Vorgeschichte für den Bau von Moscheen in Berlin ab Mitte der 1990er Jahre und eröffnen neue Zugänge zum Verständnis der lokalen Moscheenlandschaft. Betrachtet man die Forschungslage zu Moscheebauten in Deutschland, dann zeigt sich, dass die Anfänge des Moscheebaus türkeistämmiger Muslime in den 1980er noch kaum erforscht sind. Schmitt (2003, 87, 73) erwähnt in einem Überblick die Moscheebauten im nordrhein-westfälischen Iserlohn und Wesseling, die in den Jahren 1986 und 1987 begonnen wurden. Für Berlin untersuche ich in einem 2018 veröffentlichten Aufsatz die Vorgeschichte der ab 1996 realisierten Şehitlik-Moschee auf dem historischen islamischen Friedhof. Bereits in den Jahren 1981 bis 1985 hatte die Gemeinde in einem informellen Bauprozess ihren Gebetsraum auf dem Friedhof zu einer Kuppelmoschee erweitert und ein Minarett errichtet (Wiedemer 2018). Als ein anderes Beispiel der Projekte und Initiativen der 1970er und 1980er Jahre habe ich im Folgenden die Vorgeschichte eines Moscheebaus in BerlinKreuzberg ausgewählt. Die Fatih-Gemeinde ist eine der ältesten heute bestehenden muslimischen Gemeinden in Berlin. Im dynamischen Kontext der Behutsamen Stadterneuerung löste sie in den 1980er Jahren ein Geflecht von Projekten und Initiativen zum Bau von Moscheen und türkischen Kulturzentren aus.

 Der Text „In Kreuzberg fehlt ein Minarett“ von Günter Grass erschien am 30.1.1971 in der Süddeutschen Zeitung. 1981 wurde er in der Anthologie Berlin, ach Berlin von Hans Werner Richter wiederveröffentlicht, die in zahlreichen Auflagen bei verschiedenen Verlagen erschien.

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Die planungshistorische Rekonstruktion dieser Projekte basiert auf zumeist unveröffentlichten Quellen: Dokumente von Stadtteilinitiativen und bürgerbeteiligten Planungsprozessen aus den Archiven des Friedrichshain-KreuzbergMuseums und der Akademie der Künste sowie Akten der Berliner Senatskanzlei aus dem Landesarchiv. Ergänzend wurden Interviews mit einzelnen Akteuren geführt. Die Rekonstruktion vermittelt eine komplexe Berliner Migrationsgeschichte, in der sich die Entwicklung eines pluralen Islam, aber auch die Spaltung der türkischen Community in West-Berlin mit der Stadtentwicklungs- und Ausländerpolitik des Berliner Senats überlagern. Ausgehend vom Scheitern der Projekte in den 1980er Jahren interpretiert der Text ihre Relevanz und Auswirkungen für die gegenwärtige Moscheenlandschaft in Berlin. Am Beispiel des zwischen 2006 und 2011 realisierten Fatih-Kulturhauses zeigt er auf, wie sich mit dem Wissen solcher Vorgeschichten die Voraussetzungen und Entstehungsbedingungen späterer Moscheebauten bestimmen lassen.

2 Türkisch geprägte Migrant:innenviertel in West-Berlin Erst Ende der 1960er Jahre begann der Berliner Senat die Anwerbung von Arbeitskräften vor allem aus der Türkei und aus Jugoslawien. Damit schloss sich West-Berlin vergleichsweise spät der „Gastarbeiterpolitik“ der westdeutschen Bundesländer an (Häußermann und Kapphan 2002, 73). Das Rotationsmodell sah einen Austausch der Arbeitsmigrant:innen nach zwei Jahren vor und ihre Unterbringung in Heimen und Sammelunterkünften. Nach Kritik vor allem von Seiten der Wirtschaft wurde ihr Aufenthaltsstatus verbessert und der Familiennachzug erleichtert. Allmählich begannen die Migrant:innen nun auch, ihre Wohnräume selbst zu organisieren. Hier überschneiden sich in West-Berlin die Migrationsund Sanierungspolitik.² Ab Mitte der 1960er Jahre hatte der Berliner Senat zahlreiche innerstädtische Altbauquartiere als Sanierungsgebiet ausgewiesen. Der Altbaubestand sollte durch landeseigene Sanierungsträger aufgekauft, abgerissen und durch Neubauten ersetzt werden. Der Sanierungsprozess verteuerte und verzögerte sich jedoch dramatisch, da private Eigentümer:innen und die Sanierungsgesellschaften

 Dieser Zusammenhang ist in der Literatur vielfach dargestellt worden, vgl. Lanz (2007); Arın (1981); Arın, Gude und Wurtinger (1985); Stahr (1993); Häußermann und Kapphan (2002) sowie Hoffmeyer-Zlotnik (1977).

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mit dem Verlauf der Flächensanierung spekulierten und dabei den Altbaubestand herunterwirtschafteten und leer stehen ließen. In dieser Situation wurden die türkischen Arbeitsmigrant:innen und ihre Familien als Restmieterschaft entdeckt. So konzentrierte sich nach kurzer Zeit die migrantische Wohnbevölkerung WestBerlins in den zum Abriss bestimmten Altbauquartieren in Wedding, Kreuzberg und Tiergarten. Erstmals seit dem Zweiten Weltkrieg waren in Berlin wieder Migrant:innenviertel entstanden. Mit Lebensmittelläden, Teestuben und Vereinsheimen entwickelte sich eine migrantische Infrastruktur, die das Straßenbild veränderte. In der öffentlichen und politischen Debatte im Vorfeld des Anwerbestopps im November 1973 wurde besonders der Stadtteil Kreuzberg 36³ bundesweit zu einer Projektionsfläche für die Folgen von Arbeitsmigration und Familiennachzug nach Deutschland. In Reportagen wurde Kreuzberg 36 als Ghetto skandalisiert, in dem die öffentliche Ordnung bedroht sei und der soziale Frieden zusammenbräche (etwa Der Spiegel 1973; Kummer 1973). Der Abbau der ‚Ballung‘ der migrantischen Wohnbevölkerung in den Sanierungsgebieten bildet eine der Konstanten der Ausländerpolitik des Berliner Senats in den 1970er und 1980er Jahren (beispielsweise Reg. Bürgermeister von Berlin 1978, 61– 76). Die ausschließlich restriktiven Maßnahmen gegenüber den Migrant:innen aus der Türkei, wie beispielsweise eine 1975 in Kraft getretene Zuzugssperre für die Bezirke Kreuzberg, Wedding und Tiergarten, blieben jedoch weitgehend wirkungslos (Häußermann und Kapphan 2002, 84– 85).

3 Die Gründung der Fatih-Moschee und die Entstehung türkisch-islamischer Dachverbände in West-Berlin Auch die Gründung der Moscheen und die Entstehung von Gemeinden korrespondierten mit der Phase des Familiennachzugs. Zunächst hatten muslimische Migranten die Religionsausübung vor allem im Freundes- und Bekanntenkreis organisiert. Mit dem verstärkten Familiennachzug wurde die Nachfrage nach einer Organisation der Religionsausübung und religiösem Unterricht für die zweite Generation stärker (Blaschke 1985, 308). Wohnungen, Ladenlokale oder Fabrik-

 Kreuzberg 36 bezeichnet den östlich gelegenen Stadtteil Kreuzbergs zwischen Kottbusser Tor und Schlesischem Tor.

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etagen wurden angemietet und zu Moscheen aus- und umgebaut.⁴ Erste Moscheeräume sind in den 1970er Jahren in den Stadtteilen Wedding und Kreuzberg dokumentiert (Elsas 1980, 40 – 56; Jonker 2002, 119 – 220). Die Fatih-Moschee war eine der ersten Moscheen in Kreuzberg, ab 1974 organisierte sich die Gemeinde als Verein für Lehre von Koran e.V. Die angemieteten Moscheeräume befanden sich in einer Fabriketage in einem Quergebäude des Mietshausensembles Skalitzer Straße 100. Die Religionsbehörde des türkischen Staates, die Diyanet İşleri Başkanlığı (Präsidium für Religionsangelegenheiten), die in der Türkei seit den kemalistischen Reformen die Religionsausübung organisierte und kontrollierte, hatte die Gründung und den Betrieb der Moscheen zunächst nicht unterstützt. Der Islam in Berlin entwickelte sich von unten, unorganisiert und vielfältig (vgl. Blaschke 1985; Elsas 1980, 1983). Zugleich war seine Entwicklung geprägt von den politischen Konflikten in der Türkei.⁵ Die soziale Basis der Moscheegemeinde bildeten Arbeiter, die in der Nachbarschaft wohnten und zumeist aus der ländlichen Türkei stammten. Die aktiven Gläubigen der Fatih-Moschee standen der islamistischen Millî Görüş-Bewegung in der Türkei nahe, welche versuchte, auf parlamentarischem Weg eine islamische Umgestaltung der Türkei zu erreichen (Schiffauer 2010, 54). Vor dem Hintergrund einer zunehmend gewaltsamen Polarisierung zwischen rechten und linken Kräften in der Türkei war die türkische Community in WestBerlin tief gespalten (Blaschke 1985, 335 – 336). Mit dem gewaltsamen Tod eines türkischen Gewerkschaftsaktivisten durch Millî Görüş-Anhänger im Januar 1980 am Kottbusser Tor eskalierten in Berlin-Kreuzberg die Auseinandersetzungen zwischen islamisch-nationalistischen und säkular-linken Migrant:innenorganisationen.⁶

 Etablierte Gebetsorte in Berlin wurden von den muslimischen Arbeitsmigranten unterschiedlich angenommen. Die bereits 1927 von der Ahmadiyya-Bewegung in Berlin-Wilmersdorf errichtete Moschee spielte für die Muslim:innen aus der Türkei keine Rolle. Der historische Islamische Friedhof am Columbiadamm und das Friedhofsgebäude von 1921 wurden dagegen ab Ende der 1960er Jahre von muslimischen Arbeitsmigranten aus der Türkei vor allem zum Freitagsgebet und an islamischen Feiertagen aufgesucht (Wiedemer 2018, 319 – 321).  Seit den 1960er Jahren hatte die Türkei einen dramatischen gesellschaftlichen Wandel erlebt. Das Industrieproletariat wuchs, ebenso die Zahl der Studierenden. Die Wanderung vom Land in die Stadt, vom Osten in den Westen führte zu sozialen Spannungen. In den 1970er Jahren befand sich die Türkei in einer politischen Dauerkrise. Den bestehenden Parteien gelang es nicht, die neu entstandenen gesellschaftlichen Schichten zu integrieren, die sich in radikalen rechten, islamistischen und linken Bewegungen organisierten (Steinbach 2012, 44).  In der Folge der Eskalation der Gewalt im Januar 1980 kam es in Teilen der deutschen Öffentlichkeit in Berlin erstmals zu einer kritischen Auseinandersetzung mit der politischen Ent-

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Durch die Gründung von türkisch-islamischen Dachverbänden setzte zu Beginn der 1980er Jahren parallel zur Spaltung der türkischen Community eine Konsolidierung der Moscheenlandschaft in Berlin ein. Acht Moscheevereine der Millî Görüş-Bewegung, darunter die Fatih-Moschee, gründeten im Frühjahr 1980 die Islamische Föderation, den ersten islamischen Dachverband auf Landesebene in West-Berlin. Die Islamische Föderation verstand sich nicht nur als türkischsunnitischer Dachverband, sondern als Organisation aller Muslim:innen in Berlin (Blaschke 1985, 340 – 346; Elsas 1983, 104). Als Reaktion gründete die türkische Religionsbehörde Diyanet im Januar 1982 mit der DITIB (Diyanet İşleri Türk-İslam Birliği – Türkisch-islamische Union der Anstalt für Religion) einen eigenen Dachverband auf Landesebene. Mehrere bereits bestehende Moscheevereine schlossen sich der DITIB an, und in den folgenden Jahren gründete der Verband weitere Moscheen in Berlin (John und Caemmerer 1986, 4– 5).

4 Die Faith-Moschee auf dem Gelände des Görlitzer Bahnhofs Betrachten wir nun die bauliche Entwicklung der Fatih-Moschee: Im Frühjahr 1981 begann die Gemeinde, eine aufgegebene Lagerhalle auf dem Gelände des ehemaligen Görlitzer Bahnhofs zu renovieren und zu einer Moschee auszubauen. Eingeweiht wurde die neue Moschee am 1. Mai des Jahres (Südost Express 1981a). Sie verfügte über eine Gesamtfläche von ca. 300 qm. Der Vorteil der freistehenden Lagerhalle gegenüber einer Fabriketage war die Nutzung des Außengeländes (Südost Express 1981b, 6 – 7). Im Rahmen von islamischen Festen versammelten sich bis zu 1500 Gläubige auf dem Gelände (Knauf 1984a). Mit dem 1,5 m hohen Schriftzug „Fatih Camii“ war sie zudem im Straßenraum gut sichtbar. Der Umbau und die Umnutzung der Lagerhalle als Moschee waren jedoch weder vom Bezirksamt noch vom Vermieter, einer Bahnbehörde, genehmigt gewesen. Der Vermieter lehnte eine Nutzungsänderung ab und kündigte den Mietvertrag. Gegen die sich abzeichnende Räumung protestierte die Gemeinde mit der

wicklung der Moscheevereine. Die lokale Presse berichtete ausführlich über die Straßenschlacht und den Tod des Gewerkschafters Celalettin Kesim (etwa Berliner Morgenpost 1980; Bild 1980; Der Tagesspiegel 1980; Die Tageszeitung 1980).

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Besetzung der Moscheeräume.⁷ Dem Baustadtrat gelang es, in dem Konflikt zu vermitteln und zwischen Bahnverwaltung und Moscheeverein eine Duldung auszuhandeln (Südost Express 1981c, 16). Damit war der Konflikt um die Moschee auf dem ehemaligen Bahnhofsgelände jedoch nicht gelöst. Die versuchte Errichtung eines Minaretts im Herbst 1981 zeigt, dass die Gemeinde beabsichtigte, sich dauerhaft auf dem Gelände niederzulassen (Südost Express 1981d). Zwei Jahre später jedoch sollte das ehemalige Bahngelände als größte Infrastrukturmaßnahme der Behutsamen Stadterneuerung zu einem Stadtteilpark umgestaltet werden.

5 Die Behutsame Stadterneuerung und die partizipatorische Planung des Görlitzer Parks Die Behutsame Stadterneuerung stellte eine Abkehr von der Flächensanierung dar. Entwickelt worden waren die Grundsätze der Behutsamen Stadterneuerung von Mieterläden und Stadtteilinitiativen. Die Hausbesetzerbewegung im Winter 1980/1981 hatte zu ihrer politischen Durchsetzung geführt. Die Behutsame Stadterneuerung zielte darauf ab, die vorhandene Baustruktur grundsätzlich zu erhalten und die Bewohner:innen an der Instandsetzung der Wohnhäuser zu beteiligen. Durch neu geschaffene Stadtteilgremien hatten die Bewohnerschaft zudem einen maßgeblichen Einfluss auf die Planung öffentlicher Infrastruktureinrichtungen. Umgesetzt wurde diese neue Sanierungspolitik zwischen 1981 und 1990 im Stadtteil Kreuzberg 36 durch die Internationale Bauausstellung (IBA) (Bernt 2003, 43 – 60). Im Gegensatz zu ihrer Partizipation bei der Instandsetzung der Wohnhäuser hatten sich die migrantischen Bewohner:innen des Stadtteils an der Planung der Infrastruktur kaum beteiligt.⁸ Für die Planung des Stadtteilparks organisierte die Bürgerinitiative AG Görlitzer Bahnhof die Beteiligung der Bewohnerschaft. In ei-

 Die Berichterstattung in der BZ und der taz legt nahe, dass die Moscheegemeinde die Besetzung als Form der politischen Auseinandersetzung von der Hausbesetzerbewegung in West-Berlin übernommen hatte (BZ 1981; Die Tageszeitung 1981).  Die ehemaligen IBA-Mitarbeiter Cihan Arın und Wulf Eichstädt beurteilen die Beteiligungsprozesse der Migrant:innen in späteren Interviews und Gesprächen kritisch und als weitgehend gescheitert (Arın et al. 2005; Göktürk 1994). Die Architekturhistorikerin Ezra Akcan, die sich in zwei Aufsätzen mit der Beteiligung der migrantischen Bewohnerschaft in den Neubauprojekten der IBA auseinandersetzt, hebt hingegen hervor, dass eine zentrale Leistung der IBA gerade darin bestand, dass die Stadterneuerung in Kreuzberg ohne eine Verdrängung der migrantischen Bewohner:innen durchgeführt werden konnte (Akcan 2012, 2011).

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Abb. 1: Fatih Moschee mit Baugerüst und den Armierungseisen des Minaretts, Blick vom ehemaligen Bahnhofsgelände Winter 1981/82 (Foto: Michael Rädler, 1981/82. Quelle: Michael Rädler).

ner Reihe von ‚Bürgerversammlungen‘ sollten ab Herbst 1983 die Planungsgrundlagen für einen landschaftsplanerischen Bauwettbewerb entwickelt werden (AG Görlitzer Bahnhof 1984, 3). Auf einer ‚Bürgerversammlung‘ in einem evangelischen Gemeindezentrum im Februar 1984 forderten Vertreter der Fatih-Gemeinde den Erhalt ihrer Moschee auf dem Parkgelände. Die Forderung wurde von den anwesenden Bewohner:innen unterstützt und ins Protokoll aufgenommen. An den folgenden Versammlungen nahmen die Vertreter der Fatih-Moschee jedoch nicht mehr teil. Einer der Gründe dafür könnte sein, dass ihre Anregung, eine Versammlung in türkischer Sprache durchzuführen, nicht weiterverfolgt worden war (AG Görlitzer Bahnhof 1984, Anhang).

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6 Das Projekt eines türkischen Kulturzentrums der AG Ausländer Eine Gruppe von säkularen türkischen Sozialarbeiter:innen im Stadtteil, die sich als AG Ausländer organisiert hatte, sah in der Forderung nach Erhalt der FatihMoschee eine Möglichkeit, die türkische Bewohnerschaft am Stadterneuerungsprozess zu beteiligen. Sie griff die Forderung auf und entwickelte das Konzept eines türkischen Kulturzentrums mit einem Gebetsraum. Durch eine gemeinsame Trägerschaft von religiösen und säkularen Gruppen sollte die Spaltung der türkischen Community überwunden werden, gleichzeitig wollte die AG Ausländer den Einfluss von Millî Görüş und der Fatih-Gemeinde im Stadtteil zurückdrängen (Ayanoğlu und Harnisch 1985, 118). Der AG Ausländer gelang es, dass ihr Projekt eines türkischen Kulturzentrums in den vorläufigen Auslobungstext des landschaftsplanerischen Bauwettbewerbs für den Görlitzer Park aufgenommen wurde (FHXB SenStadtUm 1984, 98 – 99). Der Architekt Kemal Berker lieferte eine erste Planungsstudie, der zufolge die Baukörpergruppe des Kulturzentrums versucht, die bauliche Struktur des ehemaligen Güterbahnhofs aufzugreifen (Ayanoğlu und Harnisch 1985, 118).

Abb. 2: Planungsstudie des Architekten Kemal Berker für ein türkisches Kulturzentrum, Ansicht und Axonometrie, Architekt: Kemal Berker (1985. Quelle: Kemal Berker).

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Nach jahrelangen Kämpfen für eine senatsseitige Finanzierung des Stadtteilparks waren die entscheidenden Stadtteilaktivist:innen und Bezirkspolitiker jedoch nicht mehr bereit, die Realisierung des Parks mit dem Thema Ausländerpolitik zu verknüpfen. Auf der entscheidenden ‚Bürgerversammlung‘ des Planungsverfahrens Anfang Juli 1984, auf der die Anwohner:innen über die Nutzungsanforderungen des Parks abstimmten, erhielt das Projekt der AG Ausländer keine Empfehlung und wurde in der Folge aus der Wettbewerbsauslobung für den Görlitzer Park gestrichen (Ayanoğlu und Harnisch 1985, 22). Die Ablehnung des Projekts löste innerhalb des Stadtteils und der IBA eine Debatte aus über die Beteiligung der türkischen Bewohner:innen am Stadterneuerungsprozess und die Förderung der migrantischen Infrastruktur im Stadtteil.⁹ So schlugen Mitarbeiter der IBA den unmittelbar an der Berliner Mauer, am Rand des Stadtteils gelegenen Moritzplatz als Standort für ein Türkisches oder Islamisches Zentrum vor. Die IBA hatte dort den Auftrag, gemeinsam mit den Anwohner:innen ein städtebauliches Leitbild für die großen unbebauten landeseigenen Grundstücke am Platz zu entwickeln (FHXB IBA 1985a). Die Diskussion über die Nutzung eines öffentlichen Grundstücks am Moritzplatz verlief zunächst ohne Ergebnis, da es keine Konzepte für die Trägerschaft eines Türkischen oder islamischen Kulturzentrums gab. Die AG Ausländer hielt am Görlitzer Park als Standort fest und lehnte den Moritzplatz als in der Peripherie gelegen ab (Iskender und Kranz 1985).

7 Das Projekt der Islamischen Föderation einer Zentralmoschee am Moritzplatz In dieser Situation brachte sich der Dachverband der Fatih-Moschee, die Islamische Föderation, als Träger eines Islamischen Zentrums am Moritzplatz ins Spiel. Im Sommer 1985 bewarb sich der Dachverband beim Regierenden Bürgermeister um das 6000 qm große Grundstück für den Bau eines islamischen Zentrums, das als Zentralmoschee aller Berliner Muslim:innen fungieren sollte. Die Finanzierung sollte durch die Islamische Föderation erfolgen. Die wiederum von Kemal Berker erstellte Planungsstudie greift die städtebaulichen Ziele der IBA für den Moritzplatz auf. So schließt das Kulturzentrum den Blockrand und rekonstruiert

 Im Herbst 1984 wurde die Auseinandersetzung in einzelnen Beiträgen der IBA-Ausstellung Kreuzberger Mischung und der begleitenden Katalogpublikation dokumentiert (Arın 1984b; Härtig 1984).

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den Platzraum. Der Kubus des Gebetsraums ist nach Mekka orientiert und wird durch den entstehenden Hofraum aufgenommen (LA IFB 1985).

Abb. 3: Planungsstudie der Islamischen Föderation für ein islamisches Kulturzentrum am Moritzplatz auf dem ehemaligen Grundstück des Warenhauses Wertheim, Axonometrie, Architekt: Kemal Berker (1985. Quelle: Kemal Berker).

Beim konkurrierenden Dachverband DITIB löste das Projekt einige Monate später eine eigene Initiative zum Bau einer Zentralmoschee aus. In Briefen an den Regierenden Bürgermeister und an Senatoren bemühte sich die DITIB gemeinsam mit dem Türkischen Generalkonsulat um die Überlassung eines großen öffentlichen Grundstücks (LA DITIB 1985, 1986). Auf das Projekt der Islamischen Föderation hatte der damalige Regierende Bürgermeister Eberhard Diepgen zunächst mit Offenheit reagiert (LA SenKzl 1985). Die Ausländerpolitik war ein Feld am Rande des Politikbetriebs geblieben und der Islam spielte dabei noch keine Rolle. Erst in der Diskussion mit den betreffenden Senatsressorts wurden die ausländerpolitischen Implikationen des Projektes und der Initiative deutlich. Der Aufenthaltsstatus der meisten türkischen Arbeitsmigrant:innen und ihrer Familien hatte sich im Lauf der 1980er Jahre verfestigt. Mit 200000 ausländischen Bewohner:innen, davon knapp 100 000 aus der Türkei, war West-Berlin eine Einwanderungsstadt geworden. Die Ausländerpolitik des Bundes basierte jedoch noch immer auf dem Diktum, Deutschland sei kein Einwanderungsland.

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So blieb auch die Ausländerpolitik des Berliner Senats weiterhin unentschlossen und widersprüchlich. Maßnahmen zur sozialen und kulturellen Integration standen Programme zur Förderung der Rückkehrbereitschaft gegenüber. Als Repräsentation der geleugneten Einwanderung aus der Türkei fanden weder das Projekt der Islamischen Föderation noch die Initiative der DITIB zum Bau einer Zentralmoschee Unterstützung von Seiten des Senats. In der Antwort auf eine parlamentarische Anfrage zur Position des Senats gegenüber dem Bau einer Zentralmoschee argumentierte der Sozialsenator im Juli 1986, „daß in Innenstadtgebieten mit einem bereits hohen Ausländeranteil möglichst keine weiteren überregional ausstrahlenden Anziehungspunkte für Ausländer geschaffen werden sollten“ (Abgeordnetenhaus 1986).

8 Projekte für den Bau einer Moschee und eines türkischen Kulturzentrums auf dem Bolle-Grundstück In der Folge der Senats-Entscheidung, keine öffentlichen Grundstücke für den Bau von Moscheen zu verkaufen, versuchte die Islamische Föderation im Sommer 1987, auf einem Grundstück des privaten Immobilienmarktes einen Moscheebau zu realisieren. Durch den Brand eines Supermarktes in Kreuzberg bei Krawallen am 1. Mai 1987 stand das repräsentative sogenannte Bolle-Grundstück¹⁰ für eine Neubebauung zur Verfügung. In unmittelbarer Nähe zum Görlitzer Bahnhof bildete es eine Blockecke. Die Islamische Föderation stellte eine Bauvoranfrage, über die innerhalb des Berliner Verwaltungsaufbaus das Stadtplanungsamt des Bezirks Kreuzberg zu entscheiden hatte. Das Projekt sollte als Zentralmoschee fungieren und zugleich die Fatih-Gemeinde aufnehmen. Der Entwurf des Architekten Kemal Berker versuchte, die Funktionen des Supermarktes und eines islamischen Zentrums auf einer knapp 1000 qm großen Mietshausparzelle im geschlossenen Blockrand zu entwickeln. Das gesamte Grundstück sollte überbaut und der Gebetsraum in den Obergeschossen von einer Kuppel überwölbt werden. Der entstehende Baukörper sollte sich dabei von der historischen Blockrandbebauung lösen, zudem widersprach auch die monumentale und technoide Wirkung des Entwurfs den städtebaulichen Zielen der Behutsamen Stadterneuerung und des Bezirks.

 Der abgebrannte Supermarkt auf dem Grundstück hatte zur traditionsreichen Berliner Einzelhandelskette Bolle gehört.

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Abb. 4: Bauvoranfrage der Islamischen Föderation für ein islamisches Kulturzentrum auf dem Bolle-Grundstück, Perspektive, Architekt: Kemal Berker (1987. Quelle: Kemal Berker).

Auf einer Sitzung des Stadtteilausschusses, dem Planungsgremium des Stadterneuerungsgebietes, in dem alle anstehenden Bauvorhaben öffentlich diskutiert und bewertet wurden, wurde das Moscheeprojekt aufgrund der Trägerschaft durch die Islamische Föderation vor allem von Vertretern der AG Ausländer kritisiert. Sie forderten, stattdessen auf dem Bolle-Grundstück ihr Konzept eines türkischen Kulturzentrums zu realisieren. Abschließend sprach sich der Stadtteilausschuss uneingeschränkt für ein türkisches Kulturzentrum aus; in einer Planungsstudie sollte das Bolle-Grundstück als Standort überprüft werden (AdK Stadtteilausschuss 1987). Die Bauvoranfrage der Islamischen Föderation hingegen lehnte das Stadtplanungsamt wenige Wochen später ab (Tagesspiegel 1987). Die Planungsstudie des Architekturbüros Müller Rhode wurde im Herbst 1987 im Stadtteilausschuss vorgestellt. Der Entwurf für ein türkisches Kulturzentrum folgt den städtebaulichen Zielen der Behutsamen Stadterneuerung, das Volumen des Baukörpers orientiert sich an der historischen Bebauung, die Ecke des Stadtblocks wird geschlossen und damit der Platzraum rekonstruiert. Ein kleinerer Gebetsraum im Obergeschoss wird durch drei Flachkuppeln baulich repräsentiert (FHXB Stadtteilausschuss 1987b; AdK Müller Rhode 1987). Neben dem Stadtteilausschuss unterstützten in den folgenden zwei Jahren auch das Bezirksamt und das Bezirksparlament das Projekt der AG Ausländer. Beispielsweise blockierte das Stadtplanungsamt einen Bauantrag des Grundstückseigentümers für ein Wohngebäude (FHXB Stadtteilausschuss 1988a). Neben der ungeklärten Finanzierung scheiterte das zweite Projekt der AG Ausländer schließlich an der Trägerschaft. Der AG Ausländer war es im Zeitraum zwischen 1987 und 1989 nicht gelungen, ihr Konzept einer pluralen Trägerschaft

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Abb. 5: Planungsstudie für ein türkisches Kulturzentrum auf dem Bollegrundstück. Perspektive, Blick von der Hochbahntrasse auf das Kulturzentrum und den rekonstruierten Vorplatz, Müller Rhode Architekten (1987. In: Testentwurf für das Grundstück Wiener Str. 1 – 6, Müller Rhode Architekten. 1987. Quelle: Müller Rhode Architekten).

umzusetzen (FHXB AG Kulturzentrum 1987). Die Differenzen und das Misstrauen zwischen linken, säkularen und islamischen Migrant:innenorganisationen standen Ende der 1980er Jahre einer Annäherung entgegen (FHXB Stadtteilausschuss 1988b).

9 Rezeption der Projekte Ausgelöst durch den Konflikt um den Erhalt der Fatih-Moschee im zukünftigen Görlitzer Park entwickelte sich Mitte der 1980er Jahre im Stadtteil Kreuzberg 36 eine Anerkennung der kulturellen und sozialen Belange der türkischen Bewohner:innen im Prozess der Behutsamen Stadterneuerung. Dabei wurden die Versuche der Fatih-Gemeinde und ihres Dachverbandes Islamische Föderation, sich als Interessenvertretung der türkischen Bewohnerschaft am Stadterneuerungsprozess zu beteiligen, jedoch zurückgewiesen. Denn nicht zuletzt durch die Arbeit der AG Ausländer hatte sich im Stadtteil eine kritische Haltung gegenüber den Moscheen der Islamischen Föderation verfestigt. Dies zeigt auch der Verlauf der Suche nach einem Ersatzstandort für die FatihMoschee in den Jahren zwischen 1984 und 1987. So lehnten sowohl der Stadtteilausschuss als auch die Fraktionen der Alternativen Liste und der SPD im Be-

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zirksparlament eine Unterstützung der Moscheegemeinde ab (AdK BA Kreuzberg 1987). Bereits anderthalb Jahre nach Beginn der Bauarbeiten für den Görlitzer Park, unmittelbar vor der drohenden Räumung im November 1987, akzeptierte die Gemeinde eine angemietete Gewerbeetage in der Nähe des Schlesischen Tors als Ersatzstandort (LA SKzl 1987). Neben der Behutsamen Stadterneuerung in Kreuzberg als äußerer Bedingung der Projekte und Initiativen bildete der Wettbewerb zwischen den beiden islamischen Dachverbänden den lokalen islamischen Entstehungskontext. Der Bau einer Zentralmoschee gehörte zu einer ganzen Reihe langfristiger Initiativen und Projekte beider Verbände, um die islamische Religionsausübung in West-Berlin zu verbessern. Die Islamische Föderation fokussierte ihr Engagement auf den islamischen Religionsunterricht, der DITIB gelang im Jahr 1987 die Einrichtung eines islamischen Gräberfeldes auf dem Landschaftsfriedhof in Berlin-Gatow. Das Projekt der Islamischen Föderation und die Initiative der DITIB zum Bau einer Zentralmoschee wurden hingegen nicht realisiert. Ihre damit verbundenen Ziele dürften zum einen aber auch darin bestanden haben, die eigene Anhängerschaft zu mobilisieren und sich gegenüber den Berliner Muslim:innen als aktive Vertretung islamischer Belange zu legitimieren, und zum anderen, erste Kontakte zu Behörden und Politiker:innen herzustellen. So bildeten sich mit diesen Projekten die lokalen Voraussetzungen für nachfolgende Entwicklungen, von wem, mit welchen Ressourcen und auf welchen Grundstücken später Moscheebauten in Berlin realisiert werden konnten.

10 Das Fatih-Kulturhaus in einer pluralen Moscheenlandschaft Abschließend betrachte ich ausgehend von dieser Vorgeschichte das Fatih-Kulturhaus im Kontext der heutigen Berliner Moscheenlandschaft. Berlin ist heute in Deutschland die Stadt mit der größten muslimischen Bevölkerung und den meisten Moscheen. Bezogen auf die Trägerschaft und die baulichen Formen weist die Stadt eine ausgesprochen plurale und heterogene Moscheenlandschaft auf. So bestehen im Jahr 2018 91 permanente und temporäre Moscheeräume sowie sieben bislang realisierte Moscheebauten (Spielhaus und Mühe 2018, 15), die teils von islamischen Dachverbänden, teils aber auch von unabhängigen Vereinen getragen werden. Die Islamische Föderation gab die Bemühungen zum Bau einer Zentralmoschee auf. Erst ab den späten 1990er Jahren verfügte der Verband über die finanziellen Ressourcen, um auf dem privaten Immobilienmarkt Grundstücke in

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der Nähe der Moscheeräume seiner Gemeinden erwerben zu können. Daraus entwickelte sich ein wenig pragmatisches Bauprogramm für Gemeindemoscheen, die von dem Verband als „Kulturhäuser“ bezeichnet werden. Durch Um- und Neubauten entstanden bis heute sieben solcher Kulturhäuser auf kleinen Miethausparzellen in Berliner Innenstadtquartieren. Der konkurrierende Dachverband DITIB dagegen verfügt durch seine Verbindungen mit der türkischen Religionsbehörde über andere Ressourcen. Auf dem historischen islamischen Friedhof, einem Grundstück im Eigentum des türkischen Staates, wurden zahlreiche historische Gräber umgebettet und die 1985 fertiggestellte Kuppelmoschee wurde zurückgebaut. So konnte dort zwischen 1996 und 2016 die hochrepräsentative neo-osmanische Şehitlik-Moschee als Zentralmoschee des Verbandes realisiert werden (Wiedemer 2018, 321– 323). In diese Entwicklungen fügt sich nun auch das Fatih-Kulturhaus ein, welches zwischen 2006 und 2011 in einer Seitenstraße zwischen Schlesischem Tor und Görlitzer Park realisiert wurde. Im belebten Straßenbild aus Cafés und Kneipen, Graffitis und Streetart fällt der einfach verputzte Geschossbau mit einem applizierten Minarett an der Fassade kaum auf. Die Planung des Fatih-Kulturhauses in den Jahren zwischen 2003 und 2006 gestaltete sich als Aushandlungsprozess mit dem Stadtplanungsamt des Bezirks Kreuzberg. Die Planungen der Gemeinde zielten darauf ab, ein Gemeindezentrum mit einer möglichst großen Nutzungsfläche zu realisieren. Daraus entwickelte sich im Ergebnis ein dekorierter Geschossbau, dessen Baukörper sich an die historische Blockrandbebauung anpasst. In der wenig auf Repräsentation ausgerichteten Architektur wird zum einen das heutige religiöse Profil der Islamischen Föderation erkennbar, die sich mit sozialen und religionspädagogischen Angeboten an Frauen, Jugendliche und Kinder wendet. Zum anderen zeigen sich darin auch die begrenzten lokalen Ressourcen der Gemeinde wie des Verbandes. Die häufig unterbrochenen Bauarbeiten wurden maßgeblich von Gemeindemitgliedern ausgeführt. Die Planung wie auch der Bau der Moschee stießen bei den Bewohner:innen des Stadtteils auf Desinteresse.¹¹ Auch in der Berliner Tagespresse ist bis heute kein Bericht erschienen. Parallel zur Fertigstellung und Nutzung des Kulturhauses setzte ein Gentrifizierungsprozess im Stadtteil ein, der auch zur Verdrängung der türkeistämmigen Bewohner:innen führt. Durch den Wegzug der Gemeindemitglieder aus der Nachbarschaft vergrößert sich gegenwärtig das Einzugsgebiet der Moschee auf das gesamte Stadtgebiet. So lässt sich von heute aus betrachtet sa-

 Eine neue Generation von Bewohner:innen und Aktivist:innen engagierte sich Mitte der 2000er Jahre vor allem gegen eine Bebauung des Spreeufers durch Dienstleistungsunternehmen und Medienkonzerne.

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Abb. 6: Das Fatih-Kulturhaus im Wrangelkiez im Stadtteil Kreuzberg 36, Stand 2017. Architekt: Mehmet Bayram. Planungen seit 2002, im Bau seit 2006 (Foto: Oliver Hartung, 2017. Quelle: Oliver Hartung).

gen, dass mit dem Kulturhaus für eine sich wandelnde Gemeinde vor allem ein permanenter Gebets- und Versammlungsort entstand, der über ausreichend unbestimmte Flächen zur Entwicklung der Gemeindearbeit verfügt.

11 Fazit Der Bau und der Entstehungskontext der frühesten Moscheebauten in Deutschland sind gut erforscht. Zu der 1915 im Kriegsgefangenenlager Wünsdorf errichteten Moschee wie auch zu der 1927 realisierten Moschee der Ahmadiyya-Bewegung in Berlin-Wilmersdorf liegen inzwischen wissenschaftliche Publikationen vor (so etwa Dressler et al. 2017; Höpp 1997; Jonker 2014; Kahleyss 1998). Nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden zwischen 1959 und 1973 in mehreren westdeutschen Großstädten einzelne Moscheebauten von verschiedenen islamischen Gemeinden aus unterschiedlichen Herkunftsländern, die in der veröffentlichten Dissertation von Kraft (2002) behandelt werden. Das Baugeschehen seit den 1990er Jahren ist vor allem von türkisch-islamischen Gemeinden geprägt. Die Bau- und Planungsprozesse vieler Moscheebauten ab den 1990er Jahren sind

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durch zahlreiche sozialwissenschaftliche Arbeiten dokumentiert, die intensiv ihre Konfliktdimension thematisieren (etwa Biermann 2014; Hüttermann 2011 und 2006; Schmitt 2003). In diesem Kontext belegt und ergänzt das Beispiel der Vorgeschichte des Fatih-Kulturhauses, dass in den 1980er Jahren in Berlin lokale türkische Migrant: innenorganisationen, islamische Dachverbände wie auch ein Zusammenschluss säkularer Aktivist:innen, konkurrierende Projekte zum Bau von Moscheen entwickelten. Mit diesen Projekten bildet sich in Berlin eine politische Grundlinie, die darin besteht, dass für den Bau von Moscheen keine öffentlichen Grundstücke verkauft oder in Erbpacht überlassen werden. Das Beispiel des Fatih-Kulturhauses zeigt, wie der Dachverband Islamische Föderation unter diesen Voraussetzungen den Bau einer Zentralmoschee aufgibt und ein Bauprogramm für Gemeindemoscheen umsetzt. Ob in anderen deutschen Großstädten und industriellen Regionen eine ähnliche Vorgeschichte aus Neubauprojekten und ersten Bauaktivitäten lokaler islamischer Gemeinden festgestellt werden kann oder ob die Projekte in BerlinKreuzberg in den 1980er Jahren einen Sonderfall darstellen, muss weiterer Forschung vorbehalten bleiben.

Abbildungen Abbildung 1: „Fatih Moschee mit Baugerüst und den Armierungseisen des Minaretts, Winter 1981/82“. Foto: Michael Rädler, 1981/82. Quelle: Michael Rädler. Abbildung 2: „Planungsstudie des Architekten Kemal Berker für ein türkisches Kulturzentrum“. Architekt: Kemal Berker, 1985. Quelle: Kemal Berker. Abbildung 3: „Planungsstudie für ein islamisches Kulturzentrum der Islamischen Föderation am Moritzplatz, Axonometrie“. Architekt: Kemal Berker, 1985. Quelle: Kemal Berker. Abbildung 4: „Bauvoranfrage der Islamischen Föderation für ein islamisches Kulturzentrum auf dem sogenannten Bolle-Grundstück, Perspektive“. Architekt: Kemal Berker, 1987. Quelle: Kemal Berker. Abbildung 5: „Planungsstudie für ein türkisches Kulturzentrum auf dem Bollegrundstück“ Architekt: Müller Rhode Architekten, 1987. In: Testentwurf für das Grundstück Wiener Str. 1 – 6, Müller Rhode Architekten. 1987. Quelle: Müller Rhode Architekten. Abbildung 6: „Das Fatih-Kulturhaus im Wrangelkiez im Stadtteil Kreuzberg 36“. Foto: Oliver Hartung, 2017. Quelle: Oliver Hartung.

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Archivakten Archiv der Akademie der Künste (AdK) Bezirksamt Kreuzberg. 1987. Protokoll der Sondersitzung des BA, Akte A3 SO 15. Müller Rhode Architekten. 1987: Testentwurf für das Grundstück Wiener Str. 1 – 6, Akte A30 SO 103.

Archiv des Friedrichshain-Kreuzberg Museum (FHXB) AG Kulturzentrum (o. D.). Trägerschaftskonzept für ein Kulturzentrum in SO 36. Ayanoğlu, Özcan und Ulrike Harnisch. 1985. Mit-Bürger-Beteiligung am Gülizar Bahnhof. Studie über die Notwendigkeit und Funktion eines türkischen Kulturzentrums mit Gebetsraum in Berlin-Kreuzberg SO 36. Im Auftrag der Internationalen Bauausstellung. Der Senator für Stadtentwicklung und Umweltschutz. 1984. Engerer landschaftsplanerischer-städtebaulicher Ideen- und Bauwettbewerb „Görlitzer Park“. Arbeitsentwurf. IBA. Projektgruppe Moritzplatz. 1985. Zwischenbericht, Januar 1985: 9. Mappe 48/292. Stadtteilausschuss. 1987a. Protokoll der 405. Sitzung, 30. 6. 1987. Stadtteilausschuss. 1987b. Protokoll der 425. Sitzung, 20. 10. 1987. Stadtteilausschuss. 1988a. Protokoll der 462. Sitzung, 1. 3. 1988. Stadtteilausschuss. 1988b. Protokoll der 467. Sitzung, 3. 5. 1988.

Landesarchiv (LA) DITIB. 1985. Brief an den Regierenden Bürgermeister, 17. 12. 1985, Akte B Rep 002 39244. DITIB. 1986. Brief an den Regierenden Bürgermeister, 27. 2. 1986, Akte LA B Rep 002 39245. Islamische Föderation Berlin. 1985. Brief an den Regierenden Bürgermeister, 3. 6. 1985, Akte B Rep 002 39244. Senatskanzlei. 1985. Vermerk zum Projekt der Islamischen Föderation, 5. 8. 1985, Akte B Rep 002 39244. Senatskanzlei. 1987. Vermerk zum Auszug der Fatih Moschee, 3. 11. 1987, Akte B Rep 002 39244.

Quellen Abgeordnetenhaus von Berlin. 30. 7. 1986. Kleine Anfrage Nr. 2084. Errichtung einer zentralen türkischen Moschee oder eines türkischen Kulturzentrums mit Gebetstätte in Berlin. Berlin. AG Görlitzer Bahnhof. 1984. Der Görlitzer Park ist für alle da. Ergebnisbericht der Betroffenenbeteiligung zur Vorbereitung des Wettbewerbs Görlitzer Park. Berlin.

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Rochus Wiedemer

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Ömer Alkin

Islam im Migrationskino – Moscheen im Modus des Films Culture Clash, Radikalisierungsdrama und Normalisierungsphantasien Abstract: Der vorliegende Beitrag untersucht die filmischen Entwürfe von Moscheen und ihren Gemeinden im deutschsprachigen Migrationskino. Anliegen ist es, die Fiktionalisierungen von Moscheen exemplarisch herauszuarbeiten und so eine erste forschungstechnische und -materielle Grundlage für die Untersuchung von abendfüllenden Spielfilmen zum Islam im deutschsprachigen Raum vorzulegen. Zum Vorgehen: Zunächst wird ein historischer Abriss zur migrantischen Filmkultur in Deutschland besonders aus integrationspolitischen Dispositiven seit den 1960er Jahren bis heute vorgelegt. Das ist notwendig, um zu verstehen, aus welchen Gründen und Dynamiken heraus die neuere deutschsprachige Filmkultur zum Islam überhaupt entstanden ist. Darauf folgt eine Beschreibung der seit den 2000er Jahren entstandenen filmischen Produktionen im Themenfeld Islam. Im dritten Unterkapitel werden filmische Konstruktionsweisen von Moscheen aus einer tendenziell makroskopischen Perspektive untersucht. Dabei liegt das Augenmerk auf antimuslimisch-rassistischen und repräsentationskritischen Aspekten. Der Beitrag endet mit Empfehlungen für die künftige fiktionalfilmische Beschäftigung mit Moscheen und ihren Gemeinden, also mit Hinweisen auf die Produktionskulturen deutschsprachiger Filmherstellung und der Notwendigkeit der Zusammenarbeit von muslimischen Akteur:innen.

1 Einleitung Mit dem vorliegenden Text¹ verbindet sich das Anliegen, jenen Diskursen um muslimische Gemeinschaften einen solchen zur Seite zu stellen, der nach der Rolle ihrer Fiktionalisierungen sowie den mit ihnen einhergehenden kulturellen Konstruktionen fragt. Dafür widmet sich der vorliegende Beitrag sogenannten ‚abendfüllenden‘² Spielfilmen, die sich seit den 2000er Jahren mit der Darstellung

 Der Artikel ist in englischer Übersetzung auch erschienen in Behr und Karakoç (2021).  Mit ‚abendfüllend‘ sind hier Spielfilme gemeint. Ausgenommen von meiner Analyse sind sämtliche (auch semi-)dokumentarischen Formate. Der Fokus liegt hier auf narrativ-fiktionalihttps://doi.org/10.1515/9783110668919-012

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muslimischer Gemeinschaften im deutschsprachigen Raum beschäftigen. Er untersucht die Filme im Kontext der seit den 1970er Jahren bestehenden Geschichte des Migrationskinos in Deutschland und analysiert die filmischen Visionen, die in den Filmen zu Moscheen und Moscheekulturen sichtbar werden. Im Kontext solcher Untersuchungssubjekte³ wie den moscheekulturellen Zusammenhängen wird zugleich die Notwendigkeit der Erläuterung der methodischen und theoretischen Grundannahmen virulent, da es sich bei ihnen um besonders ambigue und „onto-epistemologisch“ (Barad 2012) komplexe Phänomene handelt: also mindestens um solche, mit denen in ihrem Sein (Ontologie) und den mit ihnen verbundenen Erkenntnisprozessen (Epistemologie) aus wissenschaftskultureller Sicht schwierig(er) umzugehen ist (siehe hierfür den Beitrag von Herz et al. 2019). Für den vorliegenden Aufsatz stehen als Reflexionsmedium Filme im Zentrum der Überlegungen. Filmanalyse lässt sich, wie meist jede kultur- oder geisteswissenschaftliche Herangehensweise, fast immer auch als eine spezifische Experimentalanordnung verstehen (Slugan 2020): Im videographischen Umgang mit den Ästhetisierungsweisen des Films in Verbindung mit dem Wissenssystem des Forschers, der als Schnittstelle der Analyse fungiert, erzeugen sich in den unterschiedlichen Analysemomenten – auch unter (unbewusstem) Zugriff von kreativen Reflexionspraktiken wie dem Assoziieren, Verknüpfen, Vertauschen und Spekulieren (Bee und Egert 2020) – ungeahnte Schlüsse: zu den Bezugsfragen und -systemen, die die forschende Experimentalanordnung anpeilt. Für die vorliegende Untersuchung wurden die filmischen Arrangements meditativ befragt: Standbilder wurden extrahiert, nebeneinander gelegt, Querverbindungen hergestellt und im Zusammenhang mit dem Wissen über Moscheen und ihre Gemeinden, die der Autor der vorliegenden Untersuchung seit der Zusammenarbeit mit anderen Wissenschaftler:innen gesammelt hat, abgeglichen, hinterfragt und ergänzt. Die Fragen, die die vorliegende Untersuchung dabei leiteten, waren folgende: Wie gestalten sich die Fiktionalisierungen muslimischer Kulturen in Filmen aus dem deutschsprachigen Raum? Wie wird jener Ort ihrer gemeinschaftlichen Zusammenkunft, wie werden also Moscheen als muslimische Religionsstätten im Migrationskontext filmisch entworfen?

sierten Filmen. Zur teilweise problematischen Unterscheidungspraxis von Dokumentarfilmen und fiktionalen Spielfilmen siehe Mundhenke (2016).  Aus neumaterialistischer Sicht sind unsere Forschungsgegenstände – oft betrachtet als ‚Objekte‘ – eben mehr als das: Sie selbst haben agentielle Mächte, konstituieren also ein Forschungssetting stets mit und sind damit zugleich Subjekte und nicht nur Objekte unserer Forschung.

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Zur Struktur des Vorgehens: Zunächst wird ein kurzer historischer Abriss zur migrantischen Filmkultur in Deutschland seit den 1960er Jahren besonders aus seinen integrationspolitischen Dispositiven heraus und bis heute vorgelegt. Darauf folgt eine Beschreibung der seit den 2000er Jahren entstandenen filmischen Produktionen im Themenfeld Islam. Im dritten Unterkapitel werden exemplarisch filmische Konstruktionsweisen von Moscheen im Hinblick auf die Beschreibbarkeit filmischer Moscheekulturen untersucht. Der Beitrag endet mit Empfehlungen für die künftige fiktional-filmische Beschäftigung mit Moscheen und ihren Gemeindekulturen; also mit Hinweisen auf die Produktionskulturen deutschsprachiger Filmherstellung und der Notwendigkeit der Inklusion sowie Partizipation von muslimischen Akteur:innen.

2 Die ersten Ausgangspunkte: Anfänge des (des‐) integrativen Migrationskinos Ein Verständnis von den filmischen Konstruktionsweisen des Islams, der Moscheen und ihrer Gemeinden lässt sich nicht abkoppeln von der Historie des Migrationskinos, weil noch vor dem Schlüsselereignis der Anschläge vom 11. September 2001 hier Grundlagen gelegt wurden: nämlich dafür, wie die Filme zum Islam sich in Deutschland entwickeln konnten, mussten und sollten. So war schon in den Anfangsjahren der Darstellung von Migrant:innen in fiktionalen Spielfilmformaten eine Repräsentation vorherrschend, die durch eine sogenannte Betroffenheitsperspektive geprägt war.⁴ Die hauptsächlich weißen Regisseur:innen stellten die arbeitsökonomischen Ausbeutungs- und gesellschaftlichen Fremdheitserfahrungen der Migrant:innen in den Mittelpunkt der filmischen Handlung.⁵ Als in den 1970er Jahren sich allmählich die

 Kurz zur Geschichte der Arbeitsmigration: Es ist das Narrativ der Migrationsgeschichte für Deutschland vorherrschend, dass die Arbeitsmigration nach Deutschland seit Mitte der 1950er Jahre und somit im Zuge der Wiederaufbauphase und dem daraus entstandenen immensen Personalbedarf aus anderen Ländern der Ursprung dafür ist, dass das Land schließlich zu einem Einwanderungsland geworden ist. Zu den problematisierenden Aspekten jener Historisierung siehe Hill und Yildiz (2018) sowie Ha (2003). Allerdings unterschlägt dieses Ursprungsnarrativ die vielfältigen anderen Migrationen nach Deutschland, die unentwegt und permanent erfolgt sind (Oltmer 2011).  Die postkolonialen Auswirkungen einer solchen Lesart der Geschichte des deutsch-türkischen Films, die die frühen Filme diskreditiert und die neueren im Kontext von Transkulturalitätsdiskursen als progressiv erachtet, habe ich an anderen Stellen argumentiert (Alkin 2015, 2016), siehe auch Heidenreich (2015).

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Erkenntnis in Deutschland durchsetzte, dass sich die Migrant:innen aus Ländern wie der Türkei, Griechenland, Tunesien und weiteren in Deutschland dauerhaft niederlassen würden, reagierten die Filmförderstrukturen und die Filmkünstler:innen in Deutschland mit anderen Filmen. Im Mittelpunkt standen nun nicht mehr (links‐)solidarische Perspektiven auf die Lebensverhältnisse der Arbeitsmigrant:innen und ihre Sorgen, sondern der Fokus wurde nun auf integrationspolitische Aspekte gelegt, die in den Migrant:innen zu integrierende kulturfremde Subjekte sahen. Ihre Anpassung an die gesellschaftlichen Strukturen wurde so auch medial zu fördern versucht bzw. eingefordert. Aus Orientalismus-sensibler Sicht überrascht es nicht, dass ausgerechnet Themen wie die Unterdrückung der Frau im türkischen, kurdischen oder muslimischen Patriarchat und Ehrenmord bis heute noch beliebte und besonders filmförderfähige Felder für spielfilmische Produktionen abgeben. Als erster solcher Film lässt sich die Produktion Zuhaus unter Fremden (1979) von Peter Keglevic verstehen. Die Story folgt dem Archetyp des Zwangsverheiratungsdramas. Nachdem Ayşe sich in den deutschen Bernd verliebt, versucht die Familie die damit drohende Besudelung ihrer Ehre durch eine Verheiratung ihrer Tochter Ayşe mit einem Türken zu verhindern. Die Heirat mit einem gleichkulturellen Mann soll die familiär-kulturelle Ordnung wiederherstellen. Hinter den Filmen liegt oftmals ein Aufklärungswille der Filmherstellenden gegenüber einer als anders angenommenen Kultur, der integrations- oder gesellschaftspolitisch motiviert ist. Dass Zuhaus unter Fremden eine Redaktionsproduktion zwischen dem Sender Freies Berlin (SFB) und dem Österreichischen Rundfunk (ORF)⁶ ist, offenbart die bis heute fortdauernde integrationspolitische Produktionskonvention und damit die Regel für solche Filme. Auch hat beispielsweise in den 1980ern der Berliner Senat die Produktion des Films Aufbrüche (Horst und Lottmann 1986), der von der Flucht der Deutsch-Türkin Esma vor der Zwangsverheiratung handelt, mit 250000 DM bezuschusst – in der Hoffnung, so die problematischen Verhältnisse der Mädchen und Frauen in den türkischen und/ oder muslimischen migrantischen Familien verhandeln zu können (Alkin 2019).⁷ Es ging mit den Filmen um die Partizipation an einem Emanzipationsprojekt für Frauen. Dieser integrationspolitische Gestus lässt die Filme in dieser Form jedoch als „Desintegrationskino“ (Alkin 2019) entstehen. Schwierig werden diese Filme, weil sie einerseits Probleme wie Ehrenmord und Zwangsverheiratung kulturalisieren, indem sie jene Probleme vor allen Dingen in den  Siehe hierfür Deutsches Filmhaus (2020).  Der Höhepunkt für solche Produktionen wurde in den 1980er Jahren erreicht, als Hark Bohm das bekannteste unter den Ehrenmorddramen, nämlich Yasemin (Bohm 1988) drehte. Es folgen noch etliche weitere, siehe Alkin (2019).

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attestierten kulturellen muslimischen Zusammenhängen verorten und dadurch rassistisches Wissen reproduzieren: Die Verknüpfung von Rückständigkeit mit muslimischen oder türkischen Kulturen arbeitet ihrer Mythologisierung (Barthes 2003) und Stereotypisierung (Hall 2004; Schaffer 2008) zu und damit der Reproduktion anti-muslimisch rassistischer Dynamiken. Andererseits ergibt sich aus ihnen ein integrations-dispositiver Effekt, der auf der Betonung der Unterschiede zwischen einem ‚Wir‘ und einem ‚Ihr‘ besteht (Ezli 2010; Mecheril 2011). Ein potentielles migrantisches Publikum fühlt sich so mit einem paternalistischen, westlichen Aufklärungshabitus konfrontiert, der dadurch trennend, gar desintegrativ fungiert. Das Problematische an der kulturspezifischen Verhandlung solcher Filme ist auch, dass so eigentlich eine wirksame gesellschaftliche Auseinandersetzung gar nicht möglich wird. Denn die Projektion von Gewalt gegen Frauen auf als anderskulturell angenommene Andere distanziert und entkoppelt das Phänomen von der eigenen (nicht-migrantisch markierten) weißen Position und Verantwortung.⁸ Die Filme stabilisieren so ein „meta-rassistisches“ (Dietze 2009), also Kulturdifferenz als Rassismus konstituierende Instanz verstehendes Wissen. Es ist wichtig, an dieser Stelle diese Argumente einer okzidentalistischen Dynamik zu nennen, weil sie sich in der grundsätzlichen medialen Verhandlung um Muslime in Deutschland größtenteils fortführen. Unter Okzidentalismus verstehe ich im Anschluss an solche Auseinandersetzungen, wie sie unter anderem Gabriele Dietze vornimmt, zunächst einmal eine teils bewusste und teils im kollektiven Unbewussten stattfindende Referenz auf ‚Abendländischkeit‘ der ‚abstammungsdeutschen‘ Mehrheitsgesellschaft als ‚überlegene‘ Kultur […]. Okzidentalismuskritik versteht sich in diesem Zusammenhang als systematische Aufmerksamkeit gegenüber identitätsstiftenden Neo-Rassismen, die sich über eine Rhetorik der ‚Emanzipation‘ und Aufklärung definieren. (Dietze 2009, 24)

Bis heute fehlen weitergehende Untersuchungen jener Filme zum Islam, die dieser anti-muslimisch-rassistischen und okzidentalistischen Dynamik nachgehen. Der vorliegende Text sieht sich einem solchen Desiderat gegenüber zuarbeitend.

 Mit weiß meine ich hier jene kulturelle Matrix, die in der Kritischen Weißseinsforschung als unsichtbare Norm verstanden wird und die Privilegien und Rassismus (re)produziert (vgl. Sayed 2019; Eggers 2005; Dyer 2005).

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3 Postmigrantisches Kino ab den 2000er Jahren Gegen Ende der 1990er Jahre erscheinen integrationspolitisch diversere sowie auch filmkünstlerisch innovative Filme, so zum Beispiel die Filme von Regisseur:innen wie Fatih Akın, Ayşe Polat, Yüksel Yavuz oder Hussi Kutlucan (Halle 2009). Dabei kommt ein besonderer Verdienst der Redaktion von Das kleine Fernsehspiel des Zweiten Deutschen Fernsehens (ZDF) zu, die relativ früh filmischen Produktionen migrantischer Filmemacher:innen zur Umsetzung verholfen hat und dies auch weiter tut; siehe jüngst das auch international erfolgreiche Spielfilmdebüt Oray (2019) von Mehmet Akif Büyükatalay, das um die Lebenskrise eines jungen Muslims aus Hagen kreist. Inzwischen lässt sich eine genremäßige Vielfalt im Umgang mit Migrationsthemen für den Film aus dem deutschsprachigen Raum entdecken, die von Coming-of-Age-Dramen über Gangsterfilme bis hin zu intergenerationellen Culture Clash-Komödien reicht (vgl. Alkin 2019, 116 – 126). Diese filmische Vielfalt deckt sich mit der Diversität der kulturellen postmigrantischen Verhältnisse,⁹ die sie repräsentieren. Weil der Begriff ‚postmigrantisch‘ zugleich eine selbstbewusste Selbstmarkierung im Sinne eines „strategischen Essentialismus“ (Spivak 2008) mit sich bringt, hat er – trotz der andersmachenden Dynamiken jeder Zuschreibung von Nicht-Normalität an Migrierte oder deren Nachkommen – empowernde Effekte. Der Begriff ist nämlich aus einer Vielzahl an pro-migrantischen Ansätzen entstanden, um die Andersmachung von Migrant:innen zu enthebeln und selbstverfügbar zu machen und entwickelt bis heute eine eigenwillige, produktive und zugleich ambivalente Dynamik. Innerhalb dieser filmischen Vielfalt lassen sich dennoch Tendenzen und thematische Verdichtungen wiederfinden. Eine dieser Tendenzen ist die filmische Verhandlung von Themen des Islams und der Muslime im deutschsprachigen Kontext.

 Mit ‚Postmigration‘ ist unter anderem die soziokulturelle Situation solcher Menschen gemeint, die selbst nicht migriert sind, deren Leben jedoch durch Migrationsereignisse ihrer vorausgehenden Elterngenerationen geprägt ist (Foroutan 2015).

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4 Filme zum Islam im Migrationskontext in Deutschland seit den 2000er Jahren: Zwischen Radikalisierungsdrama und Culture Clash Bis in die 2010er Jahre wurden nur drei Filme zum Thema des Islams in Deutschland hergestellt.¹⁰ Nach den Anschlägen vom 11.September auf das World Trade Center übertrug sich die Hypersichtbarkeit des Islams in den medialen Diskursen nur relativ träge auf den Film in Deutschland. Auch wenn die hier recherchierte Zahl an Filmen, die sich vordergründig mit Themen des Islams beschäftigen, gering ist (etwa 30 Filme seit den 2000er Jahren), so lässt sich ihre Zunahme insbesondere seit den 2010er Jahren erkennen (mehr als zwei Drittel der Filme sind erst nach 2010 entstanden).¹¹ Der Forschungsstand zur Untersuchung genau dieser Filmkulturen ist absolut defizitär.¹² Was sich jedoch mit Blick auf die Jahreszahlen der Filme zeigt (siehe Filmographie) ist ihre grundsätzliche Zunahme. Ein Aspekt ihrer Erklärung wird verständlich mit Blick darauf, wie die Filmförderung im deutschsprachigen Raum gestaltet ist (hier kann nur auf die Förderstrukturen in Deutschland eingegangen werden). Die Filmproduktion in Deutschland und ihre Förderung ist noch stark geprägt durch diskursfilmische Ansätze. Unter Diskursfilm verstehe ich Filme, die solche diskursmächtigen Themen aufgreifen, die bereits in journalistisch-medialen Zusammenhängen immens verhandelt werden. Die Vorgehensweise von Fernsehredaktionen in Deutschland ist noch stark geprägt von diskursfilmischen Prämissen. Filme sollen relevante Themen verhandeln oder solche, die in Nachrichten oder journalistischen Formaten behandelt werden, um einen fiktional-filmischen oder dokumentarfilmischen Umgang erweitern und so zur Vertiefung der vorherrschenden Diskursthemen führen (Alkin und Tronnier 2017). Die institutionell-mächtige Rolle der Fernsehredaktionen bei der Produktion von Spielfilmen in Deutschland führt also dazu, dass besonders diskursfilmisch angelegte Projekte zumeist fördertechnisch favorisiert oder gar umgesetzt werden. Ein Hauptproblem liegt darin, dass damit künstlerische Auseinandersetzungen im Bereich Film ideologischen Prämissen unterliegen, die so – wie im Falle der

 Es liegt die Vermutung nahe, dass besonders dokumentaristische Formate in jenem Jahrzehnt enorm überwogen haben dürften.  Eine genauere Anzahl von Filmen kann hier noch nicht genannt werden, da systematische Überlegungen fehlen. Für eine Recherchegrundlage zumindest von TV-Spielfilmen siehe Alkin und Kapusuz (2019).  Eine Publikation zur Thematik ist Orth, Staiger und Valentin (2014).

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seit den 1970er Jahren entwickelten Ehrenmorddramen – oft auch staats- oder medienpolitisch (Vowe 2003), mindestens aber mehrheitsgesellschaftlich (weiß, deutsch, christlich) in fast konstitutivem Ausmaß beeinflusst sind. Aus dieser diskursdynamischen Situation resultiert eine normative Prämisse, die den künstlerischen Status von Film immens gefährdet: Es bleibt eben jener Bereich ausgeschlossen, den ein „sehendes Sehen“ (Waldenfels 2001) einfordert; Diskurse reglementieren Sag- und Sichtbarkeit, die Kunst zieht demgegenüber Schneisen in dieses verknöcherte Feld. Auch wenn die Weisen der filmischen Inszenierung immer noch in der Lage sind, diese künstlerischen ‚Schneisen‘ zu ziehen, weil sie andere Blicke auf Dinge ermöglichen und unsichtbare Zusammenhänge explizieren: Durch eine diskursfilmische Herangehensweise bleibt das thematische Umfeld jener Filme solchen Diskursdynamiken verhaftet, die sich aus den tagesmedialen Zusammenhängen speisen (Themenfeld ‚Flüchtlingskrise‘, Themenfeld ‚Politische Situation in der Türkei‘, Themenfeld ‚islamisch-fundamentalistische Radikalisierung‘ und weitere). Fremder Freund (Fischer 2003) nimmt als erster Film¹³ die Thematik der Radikalisierung an. Erzählt wird darin die Geschichte der beiden Freunde Chris und Yunes. Nachdem Chris den jemenitischen Migranten Yunes bei sich in der Studenten-WG aufnimmt, entsteht eine innige Freundschaft zwischen beiden. Allerdings wandelt sich Yunes in einem für Chris unzugänglichen Identitätsprozess zu einem Anhänger radikalislamischer Ansichten. Der Deutsche Chris kann die Fremdwerdung seines Freundes nicht verarbeiten und verbleibt mindestens verwirrt, wenn nicht gar traumatisiert zurück. Im Film wird der kulturell Andere so als bedrohlich entworfen. Allerdings verkompliziert der Film die Begehrensstrukturen durch den immensen Raum, den er der Freundschaft der beiden Protagonisten gibt. Weil Chris nicht nur überrascht von der Wandlung seines Freundes ist, sondern zugleich auch in Trauer, vermeidet der Film es, Verurteilungshaltungen gegenüber dem ‚Fremden Freund‘ einzunehmen. Die psychologisierende Dimension des Films hinsichtlich seiner Figuren erschwert eine repräsentationslogische Vereinfachung. Diese komplexe Diskurskonstellation der unabhängigen Filmproduktion, die Identitätsfragen ins Zentrum des Films stellt, setzt sich vier Jahre später mit einem Film zur Thematik des fundamentalistischen Terroranschlags fort: Zelle (2007)

 Bei der hier versammelten Filmrecherche kann es keine solche sein, die Vollständigkeit für sich behaupten kann. Sie berücksichtigt weder Kurzfilme noch Filme, die vor den 2000er Jahren besonders im und eventuell sogar exklusiv für das Fernsehen entstanden sind. Auch wurden für die Untersuchung hier keine Dokumentarfilme herangezogen. Sehr wohl handelt es sich bei der Filmrecherche um eine, die möglichst sowohl Spielfilme fürs Fernsehen als auch fürs Kino berücksichtigt.

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von Bijan Benjamin zeigt den terroristischen Anschlagsversuch eines in Deutschland lebenden radikalisierten Muslims und der ihn umgebenden soziokomplexen Clique. Der Film skizziert die Vision eines möglichen Attentats und holt so Möglichkeiten für das bis dato von einem Attentat verschonte Deutschland heran. Eine diametrale Inszenierungsstrategie verfolgt Romuald Karmakar in seinem Kunstfilm Hamburger Lektionen (2008). Darin liest der Schauspieler Manfred Zapatka vor der Filmkamera Predigten des Hamburger Imams Mohammed Fazazi vor, den die Attentäter des 11. Septembers vor ihren Anschlägen mehrmals besucht hatten. Damit setzt das spielfilmische Werk die Reihe an wenigen Filmen zum Thema des 11. Septembers vor den 2010er Jahren künstlerisch fort. Was der filmischen Verhandlung der Ereignisse des 11. Septembers 2001 und der Folgen, und hier dem Film Fremder Freund, zu eigen ist, ist dass die Filme hier insbesondere Unsichtbarkeitsphantasien erkennen lassen. Islam als religiöse Haltung wird als in Deutschland bestehendes radikalisiertes Phänomen und weniger von seiner alltagskulturellen Seite her betrachtet. Die problematisierende Haltung der Filme bleibt nahezu durchgängig: Der 2009 von Nina Grosse inszenierte TV-Film Der verlorene Sohn (2009) folgt der Logik von dem ‚unsichtbar‘ unter uns weilenden Feind insofern, als dass der Film die Frage nach einer noch verbliebenen Radikalisierung eines aus Terrorismusgründen verurteilten, heimkehrenden Konvertiten verhandelt. Zugleich markiert das Ereignis des 11. Septembers auch einen Diskurswechsel in den filmischen Verhandlungen zur Migration in Deutschland, da bis dahin die Rolle einer muslimischen Lebensweise und des Islams medial noch nicht derart bedeutsam oder exklusiv verhandelt bzw. adressiert wurden (vgl. für den Literaturbereich siehe Yeşilada 2012, 175 – 176). Neben diesen Filmen um den 11. September herum lässt sich ein Großteil der Filme als Culture Clash-Komödien identifizieren. Während in den genannten Filmen eine erfolgte terroristische Radikalisierung im Zentrum steht (ein Thema, das noch von weiteren Filmen aufgenommen wird), verlagert sich die Aufmerksamkeit in den Komödien in den gesellschaftlichen Lebensalltag in Deutschland, in dem Muslimischsein als Anderssein thematisiert wird. In Die Neue (Alakuş 2015), Womit haben wir das verdient? (Spreitzhofer 2018) und Die Freischwimmerin (Barthel 2014) sind mehr oder weniger die Widrigkeiten im Leben muslimischer oder zum Islam konvertierter Frauen Mittelpunkt der Handlung. Dabei stehen viele der Filme mit der Darstellung der Emanzipation einer muslimischen Frau in der Tradition des Desintegrationskinos: In Die Neue steht beispielsweise die selbstbewusste muslimische Identität einer Schülerin und ihre Befolgung islamischer Dogmen als Projektionsfläche für die Sinnkrise einer Lehrerin im Zentrum der Handlung. In Womit haben wir das verdient? wird die plötzlich zum

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Islam konvertierte Tochter zum Problemfall, an dem die Toleranz der Familie auf die Probe gestellt wird. In Die Freischwimmerin wiederum arbeitet sich die Story am Klischee der Muslima İlayda ab, die für ihre erfolgreiche Schwimmer:innenkarriere sich von den familiär-religiösen Dogmen nach dem Schwimmverbot zu emanzipieren hat. Muslimischsein wird als Problem innerhalb eines mehrheitskulturellen Deutschseins adressiert und mit dem westlichen Topos der Emanzipation der Anderskulturellen verknüpft: In dieser separierenden und Identitätspolitik betreibenden Geste werden muslimische Zuschauer:innen schon in einer Position des Anderen arrangiert und als solche adressiert. Einige andere Filme versuchen über einen desintegrativen Gestus hinauszukommen, weil sie sich der Frage nach der Identitätszuschreibung im Modus der Komödie tendenziell humoristisch oder gar karnevalesk (vgl. El Hissy 2011) widmen, also die Lust an Hybridität zelebrieren, wie es einmal Deniz Göktürk in Anlehnung an das britische Black Cinemav auch für die Migrationsfilme in den 2000er Jahren für Deutschland formulierte (Göktürk 2000). Damit ist gemeint, dass der Modus des Komödiantischen einen spielerischen Umgang mit essentialistisch gedachten Kategorien wie religiöser Identität ermöglicht. Die Culture Clash-Komödien wie beispielsweise Der Hodscha und die Piepenkötter (Alakuş 2016) nach dem gleichnamigen Roman von Birand Bingül um den Moscheebaukonflikt zwischen einem Imam und einer Bürgermeisterin speisen ihre Lust aus dieser Überzeugung. In einer rassismuskritischen Sicht bleiben sie jedoch ambivalent, weil sie zum Beispiel zentrale rassistische Dynamiken wie den „white savior complex“ weiter bedienen, also die Zentralisierung von weißen Figuren und auch andere kulturelle Überlegenheitsphantasien unbewusst reproduzieren.¹⁴ Die filmischen Verhandlungen erschöpfen sich in dieser Binarität von Radikalisierungs- sowie Konvertierungsdramen und Culture Clash-Komödien nicht. In Burhan Qurbanis Shahada (2010) und Mehmet Akif Büyükatalays Oray stehen (scheinbar) alltagskulturelle Themen von Muslim:innen im Vordergrund und werden mit Fragestellungen nach dem Dogmatismus und Fundamentalismus des Islam im Kontext von Identitätsfragen verhandelt – im einen Drama werden Fragen nach Homosexualität sowie religiöse Identitätskrisen nahezu episodenfilmisch dramatisiert und im anderen beschäftigt sich ein muslimischer Mann mit der vollzogenen Scheidung von seiner Frau und den Aufbauversuchen einer selbst-bewussten Existenz. Die beiden genannten Filme unterscheiden sich im

 Zuletzt haben Lima Sayed und Julia Dittmann sehr explizit herausgestellt, wie Filme, die sich selbst rassismuskritisch geben, noch Rassismus reproduzierend fungieren (Sayed 2019; Dittmann 2018).

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Grunde von den anderen Filmen insofern, als dass sie den diskursfilmischen und tendenziell integrationspolitischen Kontext verlassen. Weder in Shahada noch in Oray können die Narrative, aber auch die kunstfilmischen Modalitäten der beiden Filme (zumindest ohne tiefenanalytische Auseinandersetzung) an die diskursfilmischen und integrationspolitischen Dynamiken rückgebunden werden. Das Genre des Radikalisierungsdramas – damit bezeichne ich diejenigen Filme, in denen die die islamische Radikalisierung einer Person im Zentrum der Handlung steht – hat sich vorangetrieben: So inszenierte Züli Aladağ für die ARD den TV-Zweiteiler Brüder (Aladağ 2015b) um die Radikalisierung des Deutschen Jan Welke zum salafistischen Terroristen; und das ZDF veröffentlichte unter der Regie von Rana Chahoud 2017 die Miniserie Bruder – Schwarze Macht (2017), in der die deutsch-türkische Polizistin Sibel die dschihadistische Radikalisierung ihres Bruders zu verhindern versucht. In diesem Spektrum von Radikalisierungsdramen, die den Islam als verführerische Bedrohung entwerfen, Culture Clash-Komödien, welche die kulturellen Differenzen zwischen Muslimischsein und westlicher Mehrheitsgesellschaft subvertieren und Milieustudien, die sich einer muslimischen Alltagswelt tendenziell milieuanalytisch nähern, lassen sich die meisten Filme aus dem deutschsprachigen Raum zur Themenstellung des Islam verorten. Da es sich sowohl bei Radikalisierungsdramen als auch bei Culture Clash-Komödien um Filme im Modus des Ausnahmefalls handelt, können die filmischen Produktionen mit Blick auf die Repräsentation des Islam im deutschsprachigen Raum nur otheringProzesse stabilisieren. Die Gründe hierfür machen sich in den filmischen Entwürfen der Moscheen sichtbar.

5 Moscheen als filmische Orte: Optik der Geschlossenheit – und Gegenentwürfe? Ein makroskopischer Blick, der die filmischen Entwürfe der Moscheen überblickt, lässt einige Gemeinsamkeiten erkennen – zu jenen Beobachtungen komme ich durch eine Zusammenschau der Standbilder, die ich aus den Filmen entnommen habe und nun in einer Windows-Ordner-Vorschaustruktur angeordnet betrachte (scrolle, zoome), ähnlich bzw. im Sinne eines distant viewing analyzing-Ansatzes (Arnold und Tilton 2019); dabei weniger systematisch, meta-datenorientiert oder digital-analytisch unterstützt als meditatorisch-reflexiv überlegend. Wie sind die Moscheen in diesen Filmen nun also entworfen?

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Die Architektur von Moscheen ist durch eine scheinbare¹⁵ Binarität verbürgt: Einerseits die ulu camii (türkisch, ‚Freitagsmoscheen‘), die mit einem besonders großen zentralen Gebetsraum ausgestattet sind; andererseits die sogenannten ‚Hinterhofmoscheen‘, deren Raumhöhen im Vergleich zu den Räumen in Neubauten sehr niedrig sind und dies gar bei den zentralen Gebetsräumen. Generell offenbart ein Blick in die filmischen Produktionen ein grundlegendes visuelles Wissen von dieser Beschaffenheit der Moscheen. Darstellungen von ‚Hinterhofmoscheen‘ und von Moscheeneubauten finden sich über die Filme verteilt wieder. Eins vorweg: Die meisten Filme sind durch eine ästhetische Praxis gezeichnet, die darin besteht, die Räume in den Moscheen als düstere Handlungsorte zu entwerfen. Grundsätzlich bleibt für nahezu alle Filme eine Inszenierungsstrategie vorherrschend, die durch den Einsatz von low key light (starke Schattierungen [Schattenmalerei, also chiaroscuro], relativ viele dunkle Bildbereiche, Konturlichter) geprägt ist.¹⁶ Für ein erstes Verständnis lohnt es, die filmischen Konstruktionsweisen von Moscheen narrationstheoretisch einzuholen: Denn die Moschee nimmt genau solche architekturräumlichen Formen an, wie sie die Erzählung funktional erfordert. In dem Thriller Takiye (Verbong 2010) fungiert die Moschee neben ihrer Funktion als Gemeindestätte auch als Verführungsort für die Holdingverantwortlichen, die für das Investment in ihre Finanzgemeinschaft die cemaat bewerben (zu den islamischen Holdings und den Gründen ihres ambivalenten Erfolgs siehe den Beitrag von Rauf Ceylan in diesem Buch). Die Moschee ist hier nicht nur Gebetsort, sondern Versammlungsort muslimischer Gemeinden zur Geschäftsentwicklung. So verwundert es nicht, dass in dem tendenziell dunkel gehaltenen Verschwörungsthriller auch das Versammlungsgebet am Freitag nicht in einer größeren Neubaumoschee stattfindet, sondern in einem Raum mit niedrigeren Deckenhöhen. Die Empfindung der Verschlossenheit des gold-gelbfarben gehaltenen Raums – Resultat der Vielzahl der Betenden in engem Raum – wird mit den in Türkis und damit tendenziell komplementärfarben gehaltenen offenen Fenstern, die den Hintergrund des verführerischen Holdingvertreters bilden, konterkariert (Abb. 1). Im Ehrenmorddrama Die Fremde (Aladağ 2010) sehen wir in einer wenige Sekunden andauernden Szene, wie der Sohn der aus ihrer gewalttätigen Ehe geflohenen Deutsch-Türkin Umay mit Großvater und Onkel in einer Moschee zum Freitagsgebet betet. So markiert der Film nicht nur das Muslimischsein der Fa Zu architekturprozessualem Denken der Moscheen und der Unhaltbarkeit dieses Binarismus siehe Bayrak und Alkin (2018).  Dabei gilt die jeweilige Beleuchtungsstrategie zugleich als aktuelle Konvention kinofilmischer Produktionen.

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Abb. 1: Takiye (2017).

Abb. 2: Die Fremde (2010).

milie, sondern legt auch Annahmen nach der Vereinnahmung des jungen Kindes in die als patriarchalisch charakterisierte kulturelle Matrix nahe. Hier ist die Moschee nicht mehr als ein Gebetsort farblich in ein Gold-Gelb getaucht, wie in Takiye, sondern in ein kälteres Grün. Auffällig ist hier das low key lighting, das einer Assoziation von Moscheen mit Dunkelheit, Enge und Verschlossenheit und – wie sogleich zu zeigen sein wird – ihrer Mystifizierung zuarbeitet (Abb. 2) In Oray besticht der Gebetsraum durch seine Schlichtheit und Reduziertheit und zugleich durch die Fragmentarität der Teppiche, die auf dem Boden liegen. Die kleine Gruppe von Betenden ist hier eher in einer ‚Hinterhofmoschee‘ situiert. Die Einrichtung ist schlicht und sporadisch, was zugleich die Pragmatik des Raums vermittelt (Abb. 3). In Shahada ist in einigen Szenen ebenfalls eine kleinere Moschee zu sehen: Der Imam hält die Predigt vor einer relativ kleinen ce-

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maat. Der Raum ist so klein, dass der Bereich für Frauen – mit dem Vorhang trennbar – noch im selben Gebetsbereich ist. Die Enge des Raums entsteht einerseits aus dem an sich schon kleinen Raum und der jeweiligen Menge an Menschen, die ihn dort besetzen (Abb. 4). Auffällig ist hier, dass in beiden Filmen mit der Verkleinerung der Erzählwelt – sprich des sozialen Kosmos, der repräsentiert wird – auch die Darstellung relativ kleiner Moscheeräume einhergeht. Die Sozialwelt im Kleinen korrespondiert mit der gebetsräumlichen Welt im Kleinen. Das sollte nicht verwundern, insofern beide Filme sich als Mikrofilme des Alltags verstehen, die ihre großen Themen und Katastrophen im menschlich Kleinen suchen. Moscheeneubauten werden stets in ihrer Symbolik als gesellschaftliches Großprojekt und damit soziosystemisch konnotiert: Moscheeneubauten sind regulär, scheinbar organisiert und institutionsrechtlich makroskopisch. Den Erzählabsichten der beiden Arthouse-Filme widerspricht die Raumlogik einer Großmoschee. Dieser Fokus auf das Normalisierte, Normale im engen Raum entspricht jener Repräsentationsstrategie, die der vorliegende Aufsatz als (Handlungs-)Lösung für künftige Aktivitäten muslimischer Gemeinden im Hinblick auf die filmische Realisierung muslimischer Gemeinden ersieht (Stichwort: ‚Normalisierungsphantasien‘; siehe das letzte Kapitel). Für die Moscheerepräsentationen lässt sich auch hier zunächst festhalten, dass die Architektur der Moschee den narrativ-funktionalen Zusammenhang einlöst und ihm scheinbar kaum widerspricht.

Abb. 3: Oray (2019), Abb. 4: Shahada (2010).

Besonders in den Radikalisierungsdramen werden die eher engeren Orte radikalisierter Gruppen filmisch sichtbar. Stets sind es dann ebenfalls tendenziell Räume mit niedrigen Decken. Hier fügt sich nun die visuelle Konstruktion der Moscheen ihrer mystifizierten Darstellung auf paradigmatische Weise. In Bruder – Schwarze Macht ist es der Qualm der Shisha-Raucher darin, der die Räume umhüllt, und den Ort in mystische und damit eine Atmosphäre der Unzugänglichkeit taucht: Rauch verdeckt, verschleiert, erschwert unserem Blick auf die (verborgene) Sichtbarkeit der Radikalisierten, als der Protagonist Melih der

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Serie durch die mescid ¹⁷ geht. Schließlich erklärt sich sein Freund bereit, zu konvertieren und geht aufs Podium zum rhetorisch verführerischen salafistischen Imam, der in seiner visuellen Aufmachung unmittelbar an den deutschen ehemaligen Profiboxer und umstrittenen Salafisten Pierre Vogel erinnert. Hier offenbart die Halbtotale über die Schulter der Anfeuernden hinweg auf das Podium schon die farbliche Gestaltetheit der mescid der salafistischen Gruppierung. Dunkle Farben und ein in Grün gehaltenes Colorgrading realisieren in Verbindung mit den schwarzen Bildbereichen jene Optik der Geschlossenheit, die auch die anderen genannten Filme auszeichnete (Abb. 5.1).

6 Ein ambivalentes Momentum: Gen anti-muslimisch rassialisierender Mythenbildung Ist mit diesen filmischen Bildern schon ausgemacht, dass sie anti-muslimisch rassistisch sind? Roland Barthes hat in seinen Studien eindrücklich gezeigt, wie aus Zeichen Mythen werden (2003). Damit gemeint ist, dass Zeichen, wie die Moschee, in ihrer grundlegenden Bedeutung (ihrer Denotation) mit einer konnotativen Dimension ausgestattet werden. So können durch ausreichende Wiederholung (genauer genommen Iteration [Derrida], also die differenzproduzierende Wiederholung) Zeichen mit anderen Bedeutungsdimensionen belehnt, tradiert (Schade und Wenk 2011, 120 – 24) und dadurch materialisiert werden. Aus den ‚Hinterhofmoscheen‘ kann so mit zunehmender zeichentechnischer Wiederholung die Gleichschaltung zur Bedeutung von ‚Brutstätten der Radikalisierung‘ gezogen werden. Mit den genannten ästhetischen Strategien, die die kleineren Moscheen als Räume der Radikalisierung konnotieren und ihnen die Gestaltetheit als visuell entzogene, tendenziell unsichtbare Räumlichkeit gegeben wird, kann sich so die Konnotierung weiter verfestigen: „Hier sind wir beim eigentlichen Prinzip des Mythos: Er verwandelt Geschichte in Natur“, wie Barthes sagt (2003, 278), also wird die tendenziell bedeutungsoffene Konzeption von Moscheeräumlichkeiten statisch und neu belegt, und zwar so intensiv, dass die ursprünglich bedeutungsoffene Dimension (als Gebets- und Versammlungsstätte einer als Teil der Gesellschaft fungierenden Gruppe von Muslimen) von der Konnotation aus-

 Tendenziell kleinere, ausschließlich zur Verrichtung des gemeinsamen Gebets angedachte Räume.

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gehöhlt und nicht mehr erkennbar oder denkbar wird.¹⁸ Dieser Mechanismus greift in vielfacher Weise bei der Entstehung von Rassismen, wie semiotischdiskursanalytisch argumentierende Theoretiker:innen wie Stuart Hall und auch viele andere gezeigt haben. Gefühlt sind wir von einer Mythologisierung und damit anti-muslimisch rassialisierenden filmischen Repräsentation der Moscheen noch entfernt, doch es zeigt sich, dass für eine Bestimmung der Stereotypisierungen und Rassialisierungen islamischer Kultur durch Rezeptionsforschungen, die nach dem Grad des Wirksamwerdens oder dem Assoziationsniveau jener Stereotypen fragen, noch nicht viel gewonnen wäre. Uns bleibt so besonders das Studium der filmischen Bilder, die eine Theoretisierung des rassistischen Realisierungspotentials der Filme zuallererst vorlegen, und die uns in ihrer Gestaltetheit auf die kulturelle Produktion der Moscheen (ihren sinnlichen Eigenwert im Gesellschaftlichen) zurückführen und nicht nur auf ihre Bedeutung. Deutlich wird die analytische Differenzierungsnotwendigkeit zur Bestimmung des stereotypisierenden und so auch rassialisierenden Potentials der Filme angesichts der dichotomischen Strukturen, mit denen einige von ihnen operieren. Es ist gerade auch der letztgenannte Film (Bruder – Schwarze Macht), der die öffentliche, in weiß gehaltene Moschee der Stadt mit genau diesen Moscheeräumen der Radikalisierten, die in einer Optik einer Geschlossenheit bestehen, konterkariert. Die ältere Schwester des radikalisierten jungen Mannes (Sibel Kekilli, rechts in Abb. 5.2) appelliert an den Imam (links in Abb. 5.2), sich für ihren Bruder einzusetzen. Hier wiederum haben wir einen hohen offenen camii harimBereich¹⁹ vorliegen. Die Lichtsetzung, die hier als zentrale Lichtquelle auf die Fenster verwiesen ist, verstärkt das Weiß der Wände und die tendenziell hellblauen Teppichböden im harim-Bereich. Die Vorhänge sind zusammengebunden, um das helle Licht der Fenster lichtdurchlässig zu belassen und den Raum (somit auch den Bildraum) weiter aufzuhellen (Abb. 5.2). Die weiten Gebetsräume in den Moscheeneubauten konnotieren in dieser räumlichen Gestaltung Offenheit und kombinieren sie mit einer gütlichen ImamFigur: so auch in den Filmen der zweiteiligen Kommissar Pascha-Reihe (Bigler 2017b). Hier betet der Protagonist der Serie, Kommissar Zeki Demirbilek, in einem überaus hohen und weiten Gebetsbereich (es handelt sich um die Münchener Pasinger-Moschee). Die Szene seines Gebets (Abb. 6) ist aus einer besonders untersichtigen Perspektive und einer extremen Brennweite heraus aufgenommen  Der Vorgang ist für das Kopftuch bereits vollzogen worden, da es in Diskursen im deutschsprachigen Raum kaum mehr von der konnotativen Zeichendimension im Sinne „Unterdrückung der Frau“ enthebelt werden kann (Alkin 2017; Şahin 2014).  Der sakralisierte und reinlich zu haltende eigentliche Gebetsbereich einer Moschee.

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Abb. 5.1, 5.2: Bruder – Schwarze Macht (2017).

worden, die die Kuppeldecke und so den gesamten Gebetsbereich umso größer wirken lässt. Die Verzerrung entlang der die Gebetsrichtung markierenden Zellen auf dem Teppichboden strecken den Raum. Die Lichtverhältnisse sind tendenziell hell gehalten, die beiden Lichtbereiche erscheinen überbelichtet, die weißen Wandbereiche verstärken diesen Eindruck.

Abb. 6: Kommissar Pascha (2017).

Nun ließe sich sagen, dass die mit Offenheit konnotierten Moscheerepräsentationen genau jenen mit Geschlossenheit und Mystifikation (Undurchsichtigkeit im Hinblick auf rationales Wissen) konnotierten Moscheen sichtbarkeitslogisch entgegenarbeiten: dass das Spiel darum, ob die Filme aus dem Migrationskino nun anti-muslimisch rassistische Dispositionen stabilisieren offen und noch ohne Ausgang ist. Wie gesagt, ganz so leicht scheint es nicht: Denn die zunehmende Binarisierung der Moscheen zwischen Neubau (offener Islam) und Hinterhof

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(radikalisierter Islam), die eine Vereinfachung der architektonischen Vielfalt darstellen und die zugleich auch mit einem spezifisch kulturellen, dezidiert sunnitisch-muslimischen Bild arbeiten, bilden hier keine entsprechende moscheekulturelle Vielfalt ab. Sie arbeiten jener anti-muslimisch rassistischen Stabilisierung vom Wissen von Moscheen zu, insofern sie genau jenen Binarismus zwischen Moscheen als sichtbarkeitsentzogenen Räumen und offenen Moscheen durch den Fokus auf muslimisch-sunnitische Moscheekulturen reproduzieren. Der Binarismus stabilisiert, weil er eine dichotome Struktur intakt lässt, innerhalb derer die Möglichkeiten der Ambiguität getilgt sind. Oder anders formuliert: In der Logik von einem Entweder-Oder, das nur Gegensätze zulässt, wird der machtvolle Diskurs um ‚gute‘ und ‚böse‘ Muslime nur stabilisiert – nicht in Frage gestellt. In gewisser Hinsicht lassen sich die Filme als okzidental-panoptische Ängste lesen, weil sie Offenheit mit dem Signifikationskomplex ‚Demokratie, Grundrechte, westliche Freiheit‘ und geschlossene mescids als andere Moscheen mit dem Signifikationsbereich ‚Salafismus, Extremismus, anti-demokratisch, grundgesetzinvers‘ und zunächst einmal binaristisch konfigurieren.

7 Bedeutungsöffnungen im filmischen Raumwissen zu Moscheen Letztendlich liefert das Raumwissen, das die Filme vermitteln, den Grund ab, an dem sich die visuelle Kultur zum Islam im Migrationsraum detektieren lässt: Insofern Moscheen und ihre Gemeinden vielfältige Funktionen erfüllen, hängt ein Verständnis ihrer sozialen Funktion von der Sichtbarmachung jener Multifunktionalitäten ab. Zwar sehen wir von dieser Multifunktionalität in den Filmen nicht viel, da die Moscheen hauptsächlich als Gebetsorte imaginiert werden. Doch es gibt auch Gegenbeispiele: In Züli Aladağs Integrationskomödie 300 Worte Deutsch (Aladağ 2015a) wird die Moschee auch in ihrer Lehrraumlogik sichtbar, denn hier werden die Migrantinnen unterrichtet, um wegen unzureichender Deutschkenntnisse nicht wieder abgeschoben zu werden. Auch in Womit haben wir das verdient? werden die vielfunktionellen Räume der Moschee sichtbar: als Speisestätte oder auch hier als Lehrräume – nämlich dann, als die Mutter der konvertierten Tochter einen Aufklärungsbesuch in der benachbarten Moschee vornimmt, um ihre eigenen Vorurteile gegenüber Muslimen abzubauen. Die Moschee in ihren vielfältigen Raumprogrammen wird so durch die Filme nahbar. Im Film Oray stellt die Moschee einen Diskursraum dar. Es ist ein Ort, in dem junge Männer besonders eines tun: sie tauschen sich aus und sie diskutieren. Wir sehen in vielzähligen Szenen, wie die jungen Männer miteinander sprechen,

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einander predigen. Einige von ihnen nächtigen gar dort, was zugleich an die weiteren vielfältigen Funktionen von Moscheen erinnert: nämlich ihre Funktion als Wohltätigkeitsstätte, Armenküche oder Unterkunftsstätte für Obdachsuchende. Auffällig ist also auch: Die Moscheen werden zu Orten einer diskursiven Verständigung oder Kommunikation, in denen besonders dem Imam eine wichtige Funktion zukommt. Oder mehr noch: Die Moschee gilt in den Filmen zunächst als der Ort, über den der Imam oder eine predigend vorstehende Person zentral verfügt. Nicht nur die Vorkommnisse in Moscheen spielen eine Rolle, sondern auch der im wissenschaftlichen wie medialen Diskurs extensiv verhandelte Moscheebaukonflikt findet in den Filmen seinen Widerhall:²⁰ In Der Hodscha und die Piepenkötter und auch in Das deutsche Kind – einem Adoptionsdrama, das sich um den Sorgerechtsstreit um ein deutsches Mädchen zwischen einer muslimischen Familie und den Großeltern des Kindes dreht – steht der Neubau einer Moschee noch an. Die Gemeinde möchte die bestehende ‚Hinterhofmoschee‘ durch einen osmanisch inspirierten Minarett-Kuppel-Bau ablösen. Als einer der wenigen Filme macht der Film Das deutsche Kind zugleich die patriarchalische Gemeindelogik von Moscheen sichtbar, weil hier dem Imam tendenziell eine untergeordnete Rolle zuteilwird. Es ist die Gemeinde, die im Film den Ausschluss des angehenden Imamkandidaten Cem Balta beschließt; vor ihnen sind die Gemeinde betreffende Entscheidungen zu erörtern: Es wird diskutiert, ob eine Pressekonferenz für den geplanten Moscheebau dienlich sein wird. Die Imame sind dabei grundsätzlich in ihrer verführerischen und Rat gebenden Funktion illustriert, also gleichermaßen den vielfältigen Inszenierungsweisen auch andersreligiöser Geistlicher im Film. In der Culture Clash-Komödie Herrgott für Anfänger (Bigler 2017a) werden gar die Inszenierungsweisen von Imam und Pfarrer parallelisiert; der Plot baut auf der Inszenierung religiöser Differenz auf, weil der Protagonist – Taxifahrer Musa – sich im Film zwischen der Konvertierung zum Islam und/oder zum Christentum entscheiden muss bzw. sogar in beide Religionen (schein‐)konvertiert: zum einen, da er sich in eine Muslima verliebt und nur so mit ihr zusammen sein kann, und zum anderen, weil er nur so die Erbschaft für eine Kneipe erlangen kann: Die Kneipenbesitzerin hat im Testament verbürgt, dass Musa (der Name ist die turkisierte Version von Moses) Christ werden muss, wenn er die Kneipe erben möchte.

 Interessant ist zur Thematik noch der Film Moschee DE, mehr dazu unter bpb.de/mediathek/ 290935/moschee-de (Abruf: 15. 5. 2021).

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In den Radikalismusdramen sind die Prediger als Verführer dargestellt, und es verwundert nicht, dass gerade im Film Brüder die Raumlogik verführerisch inszeniert ist: Während in vielen Szenen, in denen sogenannte ‚Hassprediger‘ filmisch gezeigt werden, zwar das verführerische Moment ihres Tuns in ihre diabolische Rhetorik gelegt wird (Nur eine Frau [Hormann 2019], Bruder – Schwarze Macht) zeigt uns Brüder das Gebet auch in einer halboffenen, farblich entgegen bekannter Farbstrategien von Moscheeszenen (grün, dunkel, weiß, hell, gelblich, kalt, blau) gehaltenen pastell-rosarot-weiß gezeichneten Form mit weichem Licht (also kein hartes Konturlicht, sondern eher weichzeichnende Konturränder durch gefiltertes, diffundierendes Licht) und allenfalls Säumen grünlicher Lichteinflüsse (Fluoreszenzleuchte an der Decke), die sich als dezent gräuliche Akzente in der Kleidung der cemaat fortführt.

Abb. 7.1 – 7.4: Brüder (2017).

In dieser Szene liegt ein Moment begründet, das bislang noch unerwähnt geblieben war, für die rassialisierende Dynamik innerhalb des Filmkulturellen jedoch zentral und in den Radikalisierungsdramen der frühen 2000er Jahre auch schon angelegt ist. Der Film Brüder subvertiert die dichotomische Struktur von Offenheit und Geschlossenheit durch die hier beschriebene Inszenierungsweise, weil er so das doppelbödige Spiel der Verführung und Verschleierung, die er dem Salafismus zuschreibt, vor Augen führt. Die dichotomische Struktur von Gut und Böse ist als Meta-Wissen in salafistische Kulturen bereits eingegangen, sodass diese im Sinne instrumentalisierender Diskursproduktion darüber zugleich als

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Metawissens verfügen können. Das entspricht der Medientaktik dschihadistischer Bewegungen, wie die zahlreichen Studien zur Thematik aufgezeigt haben (vgl. Ceylan und Kiefer 2013; Günther und Pfeifer 2020). Der Film stellt sich dieser Doppelbödigkeit, weil er sie in der ästhetischen Gestaltung der Gebetsszene doppelt: Filme verweisen nicht nur auf ein Außen (Repräsentation), sondern nehmen die medialen Dopplungen mit auf (und dies geschieht selten in so subtiler Form wie hier). Die Soziologin Meltem Ahıska nennt eine solche Reflexionsposition, die diese Diskursverwicklungen von West und Ost sowie deren Meta-Strategien untersucht, „kritischen Okzidentalismus“ (2008): anders formuliert ist in die Ästhetiken der Bilder ein „mehr als die bildliche äußere Wirklichkeit“ eingeschrieben. Sie sind Zeugen und Kunden von medialen Verhältnissen und ko-konstituieren damit unsere Verhältnisse auf die Medialität, in der wir leben (müssen). Obgleich summarisch festzuhalten ist, dass die Inszenierung von Moscheeräumen in düsteren Lichtverhältnissen, Räumen der Enge und Tiefe (was ich als Optik der Geschlossenheit zusammenfasse) inszeniert bleibt, lassen sich also zugleich auch ambigue und offene Moscheerauminszenierungen wiederfinden. Im Kontext der Thematisierung des Verführungsaspekts fundamentalistischer Strategien wird so zudem die Bandbreite filmischer Inszenierungsweisen deutlich, die in komplexe (geopolitische, weil Okzidentalismus aufgreifende) Diskursstrukturen und -dynamiken sowie meta-mediale Überlegungen (der Filme und ihrer Herstellenden) eingebettet sind.

8 Fazit der Analysen Die Analyse der Moscheebilder, ihrer repräsentationskritischen Dynamik und filmischen Plots, die nur einen ersten Ausgangspunkt für weitere Forschungen bilden kann, hat gezeigt, dass die Moscheen vielfältig dramaturgisch eingebunden werden – und dass neben dem Binarismus von zurückgezogenen, tendenziell fundamentalistisch bedrohlichen Moscheen und offenen demokratischen Großmoscheen auch die vielfunktionelle und damit auch die gesellschaftlich funktionelle Dimension von Moscheen in den Filmen verhandelt wird: Momente der Mythologisierung der Moscheen und damit ihre Entwicklungsrichtung in antimuslimisch rassistische Tendenzen waren darin genauso angelegt wie die Versuche, ihnen etwas entgegenzusetzen (dabei aber diese wiederum stabilisierten, weil sie ihnen entgegenarbeiteten; wie im Fall Bruder – Schwarze Macht). Die meta-reflexive Diskursdynamik wurde am Film Brüder untersucht, was die Notwendigkeit einer komplexen diskursanalytischen Perspektive („kritischer

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Okzidentalismus“) verdeutlicht – und hier als Plädoyer für einen genaueren analytischen Blick auf die filmischen Ästhetiken zu verstehen sein sollte. Filme sollten also nicht nur als Zeichen verstanden sein, als eine kommunikativ vermittelnde/vermittelte Textur, die in Bild- und Tonarrangements etwas repräsentiert. Es sollte auch das epistemologische Potential der gesamten Sinnlichkeit der Filme ins Spiel gebracht werden: Das heißt, es geht hier darum, die ästhetische Mannigfaltigkeit von Filmen (Elsaesser und Hagener 2011) und die daraus resultierende Produktivität im Hinblick auf das Erkenntnispotential von Filmen ernst zu nehmen. Reduzieren wir Filme auf ihre ‚inhaltliche‘ Funktion, kommt dies einer Marginalisierung medialer Produktionen des Sozialen gleich, sodass wir analytisch – auch in unserem sogenannten ‚Alltagsbewusstsein‘ – hinter den ‚Dingen‘ zurückbleiben. Wir sehen in den Filmbildern immer nur das, was wir wissen (können). Jede Medienanalyse, die sich der Modalität von Filmen widmet, wird in einem solchen Ansatz, der ihre Mannigfaltigkeit bedenkt, zu einem Plädoyer, an den Ordnungen des Sichtbaren zu rütteln, anders gesprochen: zu einem Plädoyer in der Kunstform des Films über unser Leben hinweg zu denken. Im Grunde genommen heißt das, jenen Bereichen dessen, was wir wissen, nicht an jeder Stelle unseres Denkens den Vorzug zu geben. Der Phänomenologe Bernhard Waldenfels hat für das Nachdenken über bildmediale Aspekte in Anlehnung an den Kunsthistoriker Max Imdahl zwei Formen des Sehens unterschieden, die meines Erachtens auch die Befragung der Rolle von Fiktionalisierungen beschreiben. Er unterscheidet ein „wiedererkennendes“ und ein „sehendes Sehen“: Das wiedererkennende Sehen von Gegenständen, die uns bereits vor der Bilderfahrung vertraut sind, berücksichtigt den inhaltlichen Bildsinn, die Semantik des Bildes: das, was gemeint und gezeigt wird. Dieses Sehen gilt als hetero-nom, weil die Gesetze des Sichtbaren nicht dem Bild selbst entstammen. […] Das sehende Sehen, das zunächst einer ästhetischen Ernüchterung entspringt, die in der Folge in ästhetische Bewunderung umschlagen mag, berücksichtigt den formalen Bildsinn, die Syntaktik des Bildes: die Art und Weise, wie etwas dargestellt wird. (Waldenfels 2001, 234– 235, 239)

Wenn wir also ein ‚sehendes Sehen‘ versuchen wollen, das in den filmischen Entwürfen jener Moscheeräume mehr sieht, gilt es Distanzen zu schaffen: zum Wissen, zu den Sehweisen und im forschungspraktischen Umgang mit dem filmischen Material selbst. Der Fluss der Wahrnehmung muss unterbrochen werden, um jenen reflexiven Modus hervorrufen zu können, den ein ‚sehendes Sehen‘, verstanden als Modus des Mehr-Sehens, einfordert. Die Analysen versuchten genau das einzulösen.

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9 Künftige Herausforderungen und Ausblick: Normalisierungsphantasien & künstlerisch-analytische medial-reflexive Bündnisse Zu fragen ist, ob und wie die Moscheen als Lebens- und nicht als Ausnahmeorte gemeinschaftlicher Praxis sichtbar gemacht werden können: wie also Filme jenseits integrationspolitischer und anti-muslimisch rassistischer Darstellungsstrategien als Orte gelebten Lebens, also als Erfahrungsorte ‚normalisierter‘ (gemeint ist nicht: normiert) Alltagsphantasien phantasmiert werden können. Die Möglichkeiten hierfür werden sich nur in einer Zutageförderung jener unterdrückten Wissens- und Erfahrungsformen finden lassen, die bis heute in den diskursfilmischen Schichten sich im Genre des Migrationskinos hie und da bislang nur selten ihren Weg bahnen konnten. Normalisierung bedeutet hierbei nicht eine Unsichtbarmachung und Nivellierung des kulturellen Vermögens jener Orte: im Gegenteil. Normalisierung bedeutet den mikroskopischen Effekten des Zusammenlebens ihren Raum zu geben, in denen sich die kleinen Katastrophen des (Zusammen‐)Lebens ereignen (Oray und Shahada): Es sind die Katastrophen im Kleinen (und Inneren), die uns verbinden (die Katastrophen im Großen verbinden uns auch; aber dazu müssen wir es ja nicht immer erst kommen lassen). Normalisierungsphantasien konzentrieren sich auf die Sichtbarmachung spezifischer Normalitäten, die nicht normal sind, sondern das Resultat einer kinematographischen Auseinandersetzung mit den ursächlichsten Dingen der Erfahrungen. Mit Kracauer gesprochen: Der Film macht sichtbar, was wir zuvor nicht gesehen haben oder vielleicht nicht einmal sehen konnten. Er hilft uns in wirklicher Weise, die materielle Welt mit ihren psycho-physischen Entsprechungen zu entdecken. Wir erwecken diese Welt buchstäblich aus ihrem Schlummer, ihrer potentiellen Nichtexistenz, indem wir sie mittels der Kamera zu erfahren suchen. Und wir sind imstande, sie zu erfahren, weil wir fragmentarisch sind. Das Kino kann als ein Medium definiert werden, das besonders dazu befähigt ist, die Errettung physischer Realität zu fördern. Seine Bilder gestatten uns zum erstenmal [sic], die Objekte und Geschehnisse, die den Fluß des materiellen Lebens ausmachen, mit uns fortzutragen. (Kracauer 1985, [1964], 460)

Kenntnisse von den Bildern, dem Wissen und den Phantasien über Islam im deutschsprachigen Lebenskontext zu haben erfordert einerseits die Bereiche der Kunst und der Populärkulturen über den Unterhaltungsbereich oder den Bereich des künstlerischen Selbstausdrucks hinweg als Medium der eigenen gesell-

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schaftlichen Erzeugung zu verstehen und am Wissen zu arbeiten, das dafür erforderlich ist: die vorliegende Untersuchung versteht sich als Beitrag einer solchen Wissensproduktion. Für die Frage danach, welche Handlungsfelder sich mit der Moschee verbinden und welche Aufgaben sich ihr stellen, ist es erforderlich, sich der eigenen populären wie künstlerischen Darstellungen in medialen Umfeldern bewusst zu sein. Dies erfordert somit, Wissens- und Erfahrungsressourcen in filmkulturelle und -institutionelle Kontexte zu bringen, weil sich so der Beitrag von Diversität der heterogenen muslimischen Kulturen in jene filmischen Produktionsprozesse speisen lässt. Die diskursiven Mechanismen zur Unhörbarmachung spezifischer Erfahrungsformen sind an den Förderdynamiken in Deutschland sichtbar. Nach wie vor werden Filme produziert, die medienwirksame Themen adressieren sollen. Wenn wir jedoch davon ausgehen, dass die (nachrichten‐)mediale Ebene stets einen Vorrang vor denjenigen Themen und ihrer filmkünstlerischen/-fiktionalen Ausarbeitung erhält, kann dies nur zur einer zirkulären Diskursdynamik führen, die ihre eigenen Themen sich stets spiegelt (vgl. Alkin und Bayrak 2018). Während in anderen vereinstechnischen Zusammenschlüssen gesellschaftlicher Minoritätsgruppen Bewusstsein für die eigene auch künstlerische sowie populärkulturelle und damit mediale Erzeugung besteht,²¹ fehlt auf Seiten muslimischer Vereine und Verbände eine über die üblichen Medienmonitore hinaus sich auch mit der Produktion populärer Wissensformen beschäftigende Forschungsaktivität oder auch deren Initiierung. Angesichts der Blindheit auch der kulturwissenschaftlichen Medienwissenschaften mit Blick auf die Untersuchung der Produktion anti-muslimisch rassistischer oder gar migrationsrassistischer Dynamiken in jenen massenmedialen und künstlerischen Bereichen darf dies aber auch nicht verwundern: denn so sind vornehmlich sozialwissenschaftlich verstandene Medienwissenschaften oder Kommunikationswissenschaften nach wie vor jene Untersuchungsakteure, die zu den Fragen medialer Erzeugung muslimischer Gemeinden einen produktiven Beitrag leisten (so etwa Hafez und Schmidt 2020). Im Sinne eines ‚Mehr-Sehens‘ gilt es auch, das Augenmerk auf das künstlerische Eigenpotential der Filme zu richten. Andererseits gilt es, einer Aushöhlung der Erfahrungsformen durch die Schaffung von Kontakt- und Übergangsräumen zwischen den institutionellen, institutionalisierten, verrechtlichten und verwirtschaftlichten Zusammenhängen  Beispielsweise hat sich der Zentralrat Deutscher Sinti und Roma 2018 mit den audiovisuellen Konstruktionsformen des Antiziganismus beschäftigt, siehe https://zentralrat.sintiundroma.de/ tagung2018-antiziganismus-und-film/ (Zentralrat Deutscher Sinti und Roma 2018, Abruf: 15.5. 2021).

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entgegenzuwirken. Dies bedeutet, dass sich muslimische Gemeinden mit anderen kulturaktivistischen und insbesondere künstlerischen (!) Bewegungen zusammentun, um so gemeinsam die eigenen Aufgaben der Verbands- und Vereinsarbeit mit den anti-rassistischen und anti-klassistischen (insbesondere linke Kultur) und sichtbarkeitsreflexiven (Kunst- und Kulturbetrieb) Dynamiken anderer Akteure zu verschalten: nicht zur Realisierung eigenkultureller Bedürfnisse, sondern im Sinne kritischer und gegenseitig produktiver Reflexionsbewegungen in einer tendenziell hochkomplex digitalisierten und medialisierten Welt. Der vorliegende Aufsatz hat zu der Forschungslücke durch die präsentierte Filmrecherche und einordnende repräsentationskritische Analyse der Darstellungsweisen von Moscheekulturen in den Filmen einen Beitrag zu leisten versucht. Auf weitere Forschungen zur Thematik und politische wie NGO-Initiativen zur vermehrten Auseinandersetzung zu Filmkulturen des Islams im Migrationskontext bleibt zu hoffen.

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Abbildungen Abbildung 1: Standbild aus Takiye, 2017. Abbildung 2: Standbild aus Die Fremde, 2010. Abbildung 3: Standbild aus Oray, 2019. Abbildung 4: Standbild aus Shahada, 2010. Abbildung 5.1 – 5.2: Standbilder aus Bruder – Schwarze Macht, 2017. Abbildung 6: Standbild aus Kommissar Pascha, 2017. Abbildung 7.1 – 7.4: Standbilder aus Brüder, 2017.

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Autor:innen Dr. Ömer Alkin, Medien- und Kulturwissenschaftler sowie Filmemacher, ist derzeit Projektleiter im eigenen DFG-Forschungsprojekt Ästhetik des Okzidentalismus. Yücel Çakmaklıs islamisch-nationales Millî Sinema (Nationales Kino) (1964 – 2006) am Institut für Medienwissenschaft der Philipps-Universität Marburg. Neben seinen wissenschaftlichen Tätigkeiten ist er im Bereich interkulturelle Bildung sowie digitales Lernen tätig. Forschungsschwerpunkte sind: Film, kulturelle Bildung, digitales Lernen und Rassismus, Migration, Islam und audiovisuelle Kultur, globale Identitätspolitiken wie Okzidentalismus und Themen der Postmigration. Zuletzt erschienen: Ömer Alkin. 2020. Die visuelle Kultur der Migration. Geschichte, Ästhetik und Polyzentrierung des Migrationskinos. Bielefeld: transcript. Demnächst erscheint der mit Lena Geuer herausgegebene Sammelband zu Postkolonialismus und Postmigration. Münster: Unrast. www.oemeralkin.de. Prof. Dr. Bärbel Beinhauer-Köhler lehrt im Fach Religionsgeschichte an der Philipps-Universität Marburg. Ihr Arbeitsschwerpunkt ist der Islam aus religionswissenschaftlicher Perspektive. Seit über zehn Jahren arbeitet sie zu gesellschaftlichen Aushandlungsprozessen um Moscheen. Dabei interessiert die Religionsästhetik, also die sinnliche Wahrnehmung und emotionale Kodierung religiöser Zeichen in unterschiedlichen Medien. In diesem Zusammenhang erschien Gelenkte Blicke. Visuelle Kulturen im Islam (2011). Architekturen in einem Spektrum von Sakralbauten, Räumen der Stille bis hin zu Museen gehören wiederholt zu ihren Arbeitsvorhaben. Gesellschaftliche und religiöse Pluralität bearbeitet sie auch in historischer Perspektive wie in der Studie Spielräume religiöser Pluralität. Kairo im 12. Jahrhundert (2018). Mehmet Bayrak, M.Sc.Rwth, ist Lehrbeauftragter zu Themen der Ethik und Nachhaltigkeit in der Immobilienwirtschaft sowie zu Themen der Architektur an der Hochschule Fresenius. Er studierte Architektur und Stadtplanung an der RWTH Aachen und der Fachhochschule Aachen. Forschungsaktivitäten umfassen die theodosianische Stadtmauer in Istanbul sowie aktuell seine Promotion zum Thema der architektonischen Konstruktion von ‚Hinterhofmoscheen‘ in Deutschland mit dem Forschungsschwerpunkt ‚Muslimische Religionsstätten der Migration‘. Seine Publikationen und Vorträge behandeln Themen der Sakralarchitektur und Einflüsse auf die Stadt, Architektursoziologie, Migration und Architektur. Er ist außerdem geschäftsführender Inhaber des Kölner Architekturund Ingenieurbüros Atelier Baumeister. https://doi.org/10.1515/9783110668919-013

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Autor:innen

Prof. Dr. Dr. Rauf Ceylan ist Professor für Gegenwartsbezogene Islamforschung am Institut für Islamische Theologie an der Universität Osnabrück und Mitglied im Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien (IMIS). Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen Türkische Moscheen und Imame, türkisch-islamische Strömungen und Organisationen in westlichen Gesellschaften, Transformationsprozesse türkisch-religiöser Gemeinden in der Diaspora sowie Fundamentalismus/Extremismus in der muslimischen Community Deutschlands. Zudem ist Ceylan Mitglied im Rat für Migration (RfM e. V.). Zuletzt ist 2021 die Neuauflage seines Buches Imame in Deutschland im Herder Verlag erschienen. PD Dr. Heike Delitz, studierte Architektur, Soziologie und Philosophie. Lehrt als Privatdozentin Soziologische Theorie an der Otto Friedrich Universität Bamberg, und an der Johannes Gutenberg Universität Mainz (in Vertretung). Ihre Arbeitsschwerpunkte sind soziologische Theorie, Theoriegeschichte und Kultursoziologie (insbesondere Architektursoziologie); sowie Vergleichende Soziologie. Sie vertrat Professuren für Soziologische Theorie, Vergleichende Gesellschaftsforschung respektive Vergleichende Kultursoziologie an den Universitäten Heidelberg, Wuppertal, Bremen und Frankfurt/Oder.Von 2019 bis 2023 forscht sie am DFG-Projekt Architektonische Modi kollektiver Existenz. Ausgewählte Publikationen sind 2010. Gebaute Gesellschaft. Architektur als Medium des Sozialen. Frankfurt am Main/New York: Campus; 2015. Bergson-Effekte. Aversionen und Attraktionen im französischen soziologischen Denken. Weilerswist: Velbrück Wissenschaft; 2018. „Architectural Modes of Collective Existence“. Cultural Sociology und 2018. Kollektive Identitäten. Bielefeld: transcript. Prof. Dr. Albrecht Fuess studierte Geschichte und Islamwissenschaft an der Universität zu Köln und der Universität Kairo. Seit 2010 ist er Professor für Islamwissenschaft am Centrum für Nah- und Mittelost-Studien (CNMS) der PhilippsUniversität Marburg. Seine Hauptforschungsfelder sind die Geschichte des Nahen und Mittleren Ostens (13.–16. Jahrhundert) und die zeitgenössische Präsenz von Muslim:innen in Europa. Aktuelle Publikation: Albrecht Fuess, Stefan Schreiner und Volker Leppin. Hgg. 2021. Jerusalem – Ziel, Vision, Vorbild. Fünf Geschichten eines Erinnerungsortes in Judentum, Christentum, Islam und Baha’i. Tübingen: Mohr Siebeck. Kathrin Herz hat an der Bauhaus-Universität Weimar und der Technischen Universität Graz studiert und arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin, freie Stadtplanerin und Architektin. Als wissenschaftliche Mitarbeiterin war sie von 2010 bis 2018 im Department Architektur und von 2016 bis 2019 im Department Erziehungswissenschaft – Psychologie der Universität Siegen tätig. Ihre Arbeits-

Autor:innen

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schwerpunkte sind anonyme/vernakulare Architektur, Typologie und Umnutzung, informelle (Stadt-)Räume, Raum und Zeit sowie urbane Transformationen. Jüngste Veröffentlichungen: Kathrin Herz und Chantal Munsch. 2020. „Ebenen der Raumaneignung: Die Herstellung von Gemeindezentren türkeistämmiger Muslime in Deutschland“. In: Raum und Teilhabe. Interdisziplinäre Perspektiven (Beiträge zur Sozialraumforschung 21), hg.v. Sabine Meier und Kathrin Schlenker, 83 – 98. Opladen/Berlin/Toronto: Barbara Budrich; Kathrin Herz, Chantal Munsch und Marko Perels. 2019. Gemeindezentren türkeistämmiger Muslime als baukulturelle Zeugnisse deutscher Migrationsgeschichte, hg.v. Wüstenrot Stiftung. Ludwigsburg: Wüstenrot. Prof. Dr. Chantal Munsch ist Professorin für Erziehungswissenschaft mit dem Schwerpunkt Sozialpädagogik an der Universität Siegen. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind migrationsbezogene Differenzierungen, Partizipation, bürgerschaftliches Engagement und ethnografische Forschung. Wichtige Veröffentlichungen: Chantal Munsch und Falko Müller. Hgg. 2020. Jenseits der Intention – Ethnografische Einblicke in Praktiken der Partizipation, Weinheim: Beltz Juventa; Dies., Kathrin Herz und Marko Perels. 2019. Gemeindezentren türkeistämmiger Muslime als baukulturelle Zeugnisse deutscher Migrationsgeschichte, hg.v. Wüstenrot Stiftung. Ludwigsburg: Wüstenrot; Dies. und Andreas Kewes. 2019. „Anders als gedacht. Migrationsspezifische Kategorisierungen in Narrationen über beendetes bürgerschaftliches Engagement“. In: Soziale Passagen 11.2: 99 – 118; Andreas Kewes und Dies. 2019. „Should I Stay or Should I Go? Engaging and Disengaging Experiences in Welfare-Sector Volunteering“. In: voluntas: International Journal of Voluntary and Nonprofit Organizations 30: 1090 – 1103. Roman Singendonk, M.A., studierte an der Freien Universität Berlin Arabistik sowie Islam- und Politikwissenschaft. Bereits während des Studiums war er für Museen und Gedenkstätten tätig und sammelte Erfahrungen in der interkulturellen Jugendarbeit. Seit 2018 ist er Kurator und Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Museum für Islamische Kunst im Pergamonmuseum. Bereits zwischen 2015 und 2018 führte er als Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Islamische Theologie (IIT) der Universität Osnabrück ein Kooperationsprojekt (www.tamamprojekt.de) mit dem Berliner Museum durch, in dessen Zuge Moscheen mit dem Museum Unterrichtsmaterial für die Kulturelle Bildung erstellten. Zudem koordinierte er am IIT von 2015 bis 2018 die berufsbegleitende Weiterbildung für Imame und ehrenamtliches Moscheepersonal. Im Jahr 2019 kam er einem Lehrauftrag für das al-Mustafa-Institut für Kultur- und Humanwissenschaft und Islamische Studien in Berlin nach. Seit 2020 verantwortet er im Museum für Islamische Kunst das MuseumsLab, in dem neue Formen der Kunstvermittlung und

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Autor:innen

Museumspädagogik erprobt und gelebt werden. Schwerpunkte seiner Tätigkeit sind Islamische Kunstgeschichte und deren partizipative Vermittlung, postkoloniale Kritik und transkulturelle Pädagogik. Dr. Rochus Wiedemer studierte Architektur an der UdK Berlin und Freie Kunst an der HfBK Hamburg. An der TU Dresden unterrichtete er als wissenschaftlicher Mitarbeiter Freihandzeichnen für Architekten, am KIT Karlsruhe und der ETH Zürich war er als Lehrbeauftragter tätig. Im Rahmen einer planungshistorischen Dissertation an der Fakultät Architektur der TU Dresden forschte er zu Moscheebauten in Berlin und ihrem Entstehungskontext. Zum Gegenstand der Arbeit entwickelten sich Projekte und Initiativen zum Bau von Moscheen und türkischen Kulturzentren in den 1970er und 1980er Jahren. Die Dissertation mit dem Titel Minarette für West-Berlin wurde 2018 abgeschlossen (Veröffentlichung in Vorbereitung). Aktuell lebt Rochus Wiedemer in Köln und arbeitet dort als Architekt in einem Planungsbüro. Prof. Dr. Erol Yildiz studierte Pädagogik, Soziologie und Psychologie an der Universität zu Köln. Er wurde 1996 im Fach Soziologie promoviert. 2005 habilitierte sich Erol Yildiz an der Universität zu Köln für das Fach Soziologie, war Gastprofessor in München, Graz, Wien und hatte Vertretungsprofessuren in Hamburg und Köln. Erol Yildiz war zwischen 2008 und 2014 Professor für den Schwerpunkt Interkulturelle Bildung an der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt. Seit März 2014 ist er Professor für den Lehr- und Forschungsbereich Migration und Bildung an der Universität Innsbruck. Forschungsschwerpunkte: Postmigrantische Studien, Migration, Urbanität, Vielheit. Ausgewählte Publikationen: 2013. Die weltoffene Stadt. Wie Migration Globalisierung zum urbanen Alltag macht. Bielefeld: transcript; 2015. Nach der Migration. Postmigrantische Perspektiven jenseits der Parallelgesellschaft, hg. von Dems. mit Marc Hill. Bielefeld: transcript; 2018. Postmigrantische Visionen, hg. von Dems. mit Marc Hill. Bielefeld: transcript.

Register abdesthane 101, 129 AfD 179, 193 Ahmadiyya-Bewegung 207, 219 Aischa 27 Akın, Fatih 230 Aladağ, Züli 235 f., 242 Alakuş, Buket 233 f. Alkin, Ömer 1, 3, 8 f., 51, 53, 117, 225, 227 f., 230 f., 236, 239, 248, 255 Alvesson, Mats 116 Amsterdam 156 Archäologie 152, 181 Architektur 1 – 6, 25, 27 – 29, 31, 37 – 39, 57 – 60, 66 – 70, 75 f., 78, 91, 95 – 97, 102, 109, 113 f., 117 f., 135 – 138, 149 f., 167, 170, 181, 218, 236, 238, 255 – 258 – Bewegungsarchitektur 6, 75, 109 Arnold, Taylor 235 Artefakte 57 – 59, 66 f., 97, 151 Ästhetik 8 f., 138, 245, 255 ästhetische Homogenität 106 Aura 108 Ayanoğlu, Özcan 211 f. Bagdad 181 Balkan 28 Barad, Karen 226 Barbarossa-Moschee 79, 85 Barthes, Roland 229, 239 Battran, Burkhard 156 Baukultur 135, 137 f. Baumanns, Robert 86 Baumberger, Christoph 120 Bayraklı, Enes 183 Bayrak, Mehmet 1, 3, 6, 12, 51 f., 75, 77, 84, 86, 89, 91, 93 f., 97, 101, 104 f., 107, 110, 117, 149, 236, 248, 255 Bee, Julia 226 Beekers, Daan 157 Beinhauer-Köhler, Bärbel 8, 26, 68 f., 117, 132, 147, 149, 152 – 154, 157, 159, 163, 171, 255 Benjamin, Bijan 233 https://doi.org/10.1515/9783110668919-014

Benjamin, Walter 108 Berker, Kemal 211 – 215, 220 Berlin 4, 45, 50, 68, 165, 180, 183 f., 186 – 188, 190, 194 – 197, 199, 201, 203 – 209, 212 – 214, 217 – 220, 228, 257 f. Bernt, Matthias 210 Bernus, Edmond 67 Bettini, Maurizio 47 Bewegungsarchitektur 6, 75, 109 Bhabha, Homi K. 49 Bielefeld 156, 255 f., 258 Biermann, André 220 Bigler, Sascha 240, 243 Bildung 8, 34, 82, 86, 175, 180, 182 f., 198 f., 255, 257 f. Blaschke, Jochen 206 – 208 Bloch, Marc 64 Böhm, Paul 29 f. Bourdieu, Pierre 47, 151 Brain-Drain-Prozesse 21 Brand, Thorsten 177, 214 Brantzky, Franz 85 Breidenstein, Georg 115 Breuer, Franz 116 Brubaker, Roger 47 Brumlik, Micha 46 Bukow, Wolf-Dietrich 48 f. Burgmoschee 6, 77 f. Büyükatalay, Mehmet Akif 230, 234 Byzanz 28 Caemmerer, Hartmut 208 Camii, siehe Moschee Casajus, Dominique 67 Castoriadis, Cornelius 5, 57 f., 61 – 63, 65 f. Çelik, Faruk 29 cemaat 3, 236 f., 244 Ceylan, Rauf 1, 4, 9, 11, 13 f., 18, 20, 22, 44, 50, 133, 164, 236, 244, 256 Chahoud, Rana 235 Charmaz, Kathy C. 115, 118 Christentum 11, 19, 28, 243, 256 Conoci, Anna Maria 84

260

Register

Corona 12 f., 33, 177 cübbe 106 Cultural Studies 115, 137 Culture Clash-Komödie 230, 233 – 235, 243 ḏabῑḥa 154 Dachverband 4, 12 – 15, 22, 36, 81, 89, 119, 121, 124, 149, 155 f., 166, 203, 206, 208, 212 f., 216 – 218, 220 Därmann, Iris 152 Day, Eileen 116 Deleuze, Gilles 67, 95, 103 Delitz, Heike 5 f., 57 f., 60 f., 66 f., 75, 78, 95, 256 Denkel, Michael 87 Denkmalschutz 91, 98 f., 102 Desintegration 117 Deutsche Islam Konferenz 15 Deutschland 1, 3 f., 8, 11, 14 – 17, 19 – 23, 25 f., 28, 30 – 39, 43 – 45, 48, 51, 76 f., 80, 83, 117 f., 122, 128, 132 – 135, 140, 147 – 150, 153, 166, 169, 175 – 177, 179, 181 – 197, 199 – 201, 204, 206, 213, 217, 219, 225 – 229, 231, 233 f., 248, 255 – 257 Devereux, Georges 115, 126 Diaspora 2, 13, 105, 256 – Diasporamoschee, siehe Moschee Dietze, Gabriele 229 Die Welt und der Mensch 79, 87, 100 Diskriminierung 135, 183, 194 DITIB 1, 13 – 15, 19, 23, 29 – 32, 39, 81, 124, 155 – 157, 166, 168, 208, 213 f., 217 f. Diversität 102, 230, 248 Diyanet 207 f. Doerschler, Peter 185, 191, 193 double standards 182 Dreß, Malte 13 Dressel, Gert 116 Dressler, Torsten 219 Durkheim, Émile 58 – 61, 63 Ebubekir-Moschee 79 Eco, Umberto 120 Egert, Gerko 226 Ehrenmord 228

Eisenstadt, Shmuel 58 Elger, Katrin 46 El Hissy, Maha 234 Elias, Norbert 152 Elsaesser, Martin 246 Elsas, Christoph 207 f. El-Zayat, Bilal 34 Empathie 177 Erdoğan, Recep Tayyip 30, 184 Erne, Thomas 169 ethnische Kolonie 44 f., 47 f., 50, 52 europäische Gesellschaft 60, 69 f. Ezli, Özkan 229 Familiennachzug 46, 205 f. Familienzusammenführung 1, 13 Fastenbrechen 89, 125, 147, 153, 156, 164 – 166 Fatih-Gemeinde 203 f., 210 f., 214, 216 Fatih-Kulturhauses 203, 205, 218, 220 Fatih-Moschee 206 – 208, 210 – 212, 216 Fatimiden 153 Fatwas 17 Fazazi, Mohammed 233 Felsendom 37 Feminisierung 21 Fiktionalisierungen 225 f., 246 Film 9, 108, 225 – 236, 238 – 249, 255 Fischer, Elmar 232 Flüchtlingskrise 11, 232 Follmer, Robert 177 f. Forschung – Forschungsgegenstand 1 f., 113, 116 – 118, 133, 140 f., 152 – Forschungsprozess 7, 113 f., 116, 118, 122, 124, 127, 131 f., 138 – 141 Foucault, Michel 6, 47, 75, 103 framing 190 Frankfurt 156 f., 166 f., 170, 256 Frankfurter Rundschau 34 Französische Revolution 64 Frau 13, 21, 27, 31, 44, 46, 68, 107, 115, 125, 147 f., 150, 156 – 158, 160, 162, 164 – 166, 168, 170, 218, 228 f., 233 f., 237, 239, 244 Freitagsgebet 12 f., 28, 32, 39, 79 f., 92, 94, 96, 107, 124, 207, 236

Register

Frembgen, Jürgen 149, 153 Frishman, Martin 117, 130 Fritsch, Susanne 169 Fuess, Albrecht 4, 25, 35, 39, 149, 256 Fundamentalismus 45 f., 234, 256 Fünf Säulen des Islam 35 Funktionsvielfalt 129, 140 Gastarbeiter 13, 23, 28, 36, 43 – 46, 48, 118, 127 Gauchet, Marcel 64 f. Gebetsraum 27, 34, 50 f., 78 – 81, 89, 91 – 94, 98, 105 – 108, 120, 155, 158, 162, 167, 186, 196, 204, 211, 213 – 215, 236 f. Gemeinde 2 – 5, 8 f., 11 – 23, 25 f., 30, 32 – 35, 68 f., 75, 80 f., 85, 89, 96 – 99, 103 f., 106 – 109, 114, 119, 122 – 130, 132, 136, 138, 140 – 142, 148, 150, 152, 155 f., 160 f., 164, 170, 188 f., 192, 204, 206 – 209, 217 – 219, 225 – 227, 236, 238, 242 f., 249, 256 – Gemeindemitglied 1, 8, 12, 36 f., 75, 88, 114 f., 121, 124 f., 132, 134, 136, 142, 186, 218 – Gemeindezentrum 5, 50 f., 114, 119 – 123, 126, 130, 132 – 134, 140, 142, 148, 169, 188, 196, 210, 218, 257 Geschlechterverhältnisse 65, 125 f., 141 Gesellschaft 3, 8, 15, 19, 22 f., 33, 38, 41 – 44, 46 f., 51, 57 – 70, 103, 125, 134, 147, 160, 165, 167, 170, 175 – 179, 181 – 183, 185, 189, 192 – 195, 197 f., 239, 256 – gesellschaftlicher Zusammenhalt 8, 175 – 178, 180, 184 f., 187 – 190, 192, 194 f., 197 f., 201 – Parallelgesellschaft 42, 45 – 48, 50, 52, 125, 183, 258 Gewalt 140, 176 f., 183, 190, 207, 229 Giesen, Bernhard 58, 64 f. Gladigow, Burkhardt 152 Goffman, Erving 125 Göktürk, Deniz 210, 234 Gott 26, 59, 62 – 65, 67 f., 70, 154 Grass, Günter 204 Green, Andy 162, 198 Grosse, Nina 233

261

Gründungsphase 20, 87 Guattari, Félix 67, 95 Gudehus, Christian 176 Günther, Christoph 244 Hafez, Kai 183, 249 Hagener, Malte 246 Hagia Sophia 106 ḥalāl 153 f., 158 Halle, Randall 230 Hall, Stuart 47 f., 118, 197, 229 f., 240 hamam 7 han 7, 204 Hanau 8, 175 f., 185, 187, 197 Hand in Hand e. V. 78 Hansapark 78, 81, 83 – 85, 87, 91 f., 100, 104 Hansaplatz 79, 82, 84 – 88 Hansaring 77, 84 – 87, 99, 110 ḥarām 154 Harnisch, Ulrike 211 f. Häußermann, Hartmut 45, 205 f. Heckmann, Friedrich 44 Helly, Denise 178 Herz, Kathrin 5, 7, 37, 50 f., 77, 113 f., 120, 135, 198, 226, 256 f. Heterotopie 6, 75, 103 Hill, Marc 75, 109, 227, 258 historische Verständnis 181 – 183, 185 Hoca Ahmed Yesevi-Moschee 85 Hohage, Christoph 117 Höpp, Gerhard 219 Hormann, Sherry 244 Horst, Hartmut 228 Houston, Christopher 65 Hunold, Daniela 115, 126 Hüttermann, Jörg 220 Ibn Isḥāq 26 f. Idriz, Benjamin 32 Iftar 89, 153 Imam 12, 14, 16 f., 22, 32, 37, 81, 87 – 89, 91, 124, 136, 154 f., 187, 192 f., 195, 233 f., 237, 239 f., 243, 256 f. – Imamausbildung 17 – Imam-Kolleg 22 imāret 95 f., 108

262

Register

Imdahl, Max 246 Integration 1, 3, 9, 19, 25 f., 29, 34 f., 41 – 46, 50, 52, 75, 117, 119, 135, 190, 214, 228 f. – Integrationsdispositiv 5 f., 42 f., 47 Internationale Bauausstellung 210, 212 Iran 16, 64, 154 Irving Jackson, Pamela 185, 191, 193 Iserlohn 204 Islam 8 f., 11, 13 f., 17, 25, 38, 52, 67, 69, 76, 125 f., 135, 140 f., 147, 152 f., 157, 170, 180 f., 184, 205, 207, 213, 225, 227, 229 – 231, 233 – 235, 241 – 243, 247, 249, 255 – 257 – islamische Gemeinde 25, 28, 31, 33 – 35, 38 f., 132, 147, 155, 160 f., 163, 166, 171, 219 f. – islamische Holdings 11, 14, 17 f., 236 – islamische Kunst 180 – islamfeindliche Diskurse 118 – Islamismus 125 Islamische Föderation 208, 212 – 218, 220 Islamische Theologie 16, 21 f., 256 f. Islamrat für die Bundesrepublik Deutschland 15 Istanbul 28, 255 Izenour, Steven 120 Jasarevic, Alen 31 John, Barbara 208 Jonker, Gerdien 207, 219 Judentum 11, 154, 170, 256 Jugendliche 15, 20, 89, 218 Kaaba 20 Kahleyss, Margot 219 Kale-Moschee 6, 75, 77 – 79, 81 – 110 Kalifen 79, 153 Kalligraphie 35, 106 Kantine 95, 148 – 150, 154, 157 – 159, 166 – 169, 171 Kantorowicz, Ernst H. 64 Kapphan, Andreas 205 f. Karagüzel, Şefik 79 – 83, 87 – 90, 98, 100, 102, 107, 110 Kaschuba, Wolfgang 115 kashrut 154

Keglevic, Peter 228 Kekilli, Sibel 240 kel esuf 67 Kellerhoff, Jette 178 Khan, Hasan-Uddin 117, 130 Kiefer, Michael 244 Kinder 15, 20, 44, 51, 89, 115, 127, 131, 135, 149, 162, 182, 218 Kirche 12 f., 21, 27, 31, 35, 68, 76, 120, 127, 131, 148, 150, 155, 169 Klischee 45, 113, 129, 141 f., 234 Kneip, Ansbert 46, 218, 243 Knorr-Cetina, Karin 115 f. Kollektiv 57 – 70, 151, 166, 169, 229, 256 Köln 1, 6, 15, 23, 29 – 32, 36 f., 39, 43 f., 50, 68, 75, 77 – 88, 90, 92, 99 f., 102, 107, 110, 138, 156 f., 255 f., 258 Konsolidierungsphase 20 Konstruktivismus 115 Konya-Modell 17 Koranschule 15 f., 26, 77 Koranunterricht 15 Korn 7, 27, 39, 76, 101, 130 Koschorke, Albrecht 64 Kowallek, Adolf 85 Kraft, Sabine 2, 47 f., 117, 180, 206, 219 Krämer, Stefan 51, 114 Kreuzberg 188, 203 – 207, 210, 212, 214, 216 – 221 Küchen 6, 129, 147 – 156, 160 f., 164 – 170 külliye 7 Kultur 8, 29, 57, 60, 63, 67 f., 70, 82, 100, 117, 132, 135, 138, 147, 151 – 154, 161, 165 – 167, 169 f., 182, 184, 188, 196, 198 f., 226, 228 f., 240, 242, 244, 248 f., 255, 257 – Kulturzentrum 37, 132, 186, 211 – 216, 220 Kummer, Jochen 206 Kuppel 29, 35, 108, 117, 119 f., 132, 214, 243 Kuppinger, Petra 117 kürsi 97, 106 Kutlucan, Hussi 230 Laclau, Ernesto 58, 61, 63 Langreiter, Nikola 116

Register

Lebensmittel 108, 132, 157 Lefort, Claude 59, 61 – 65 Leggewie, Claus 26, 68 f., 117 Lehne, Eva 176 Limon, Ihsan D. 105 Lottmann, Eckart 228 Maneval, Stefan 58 Männer 28, 107, 124, 126, 147 f., 150, 156 f., 162, 168 f., 242 Mannheim 38 Marburg 8, 28, 34 – 36, 39, 155, 160 – 169, 171, 255 f. Marchart, Oliver 61 Martens, Marleen 152 Maschhad 154 McLoughlin, Seán 117 Mecheril, Paul 19, 229 Medina 26 f. medrese 7 Mehmet, Fatih Sultan 14, 219 Mehrheitsgesellschaft 4, 16, 25, 30, 38, 44 f., 65, 103, 127, 182, 185 – 187, 189 – 194, 196, 200, 204, 229, 235 Mehrheitskultur 42, 44 Mekka 20, 26 f., 67 f., 76, 153, 213 mescid 1, 79 f., 85, 92, 95 – 97, 104 – 107, 238 f., 242 – masǧid 27, 96 Mevlana-Moschee 87, 107, 110 microaggressions 183 Mignolo, Walter D. 43, 47 Migration 1 – 3, 6 f., 11, 25 f., 41 – 44, 48, 52, 75 f., 88, 109, 119, 127, 135, 148, 179 f., 183, 198, 205, 227, 233, 255 f., 258 – Migrant 6, 11, 19 – 21, 43 – 50, 52, 79 f., 87 f., 103, 137, 156, 162, 175, 179, 192, 203, 205 – 207, 210, 216, 220, 227 f., 230, 232 – Migrationserfahrung 41 – 43, 175, 187, 199 – Migrationsforschung 5, 41 – 43, 256 – Migrationsgeschichte 42, 52, 69, 114, 133, 205, 227, 257 – Migrationsgesellschaft 7, 9, 51, 113, 116, 130, 140 f.

263

– Migrationshintergrund 7, 115, 183, 196 – Migrationskino 8, 225 – 227, 241, 247, 255 – Migrationskontext 4 – 6, 8, 13, 17 – 19, 25 f., 46, 53, 226, 231, 249 miḥrāb 97, 105 f., 110 Millî Görüş 13, 32, 80, 89, 207 f., 211 Minarett 27, 35, 69, 117, 119 f., 122, 132, 141, 204, 209, 218, 220, 243, 258 minbar 98, 106, 110 Mohammed 101 Mongolen 67 Morgan, David 152 Moschee 1 – 9, 11 – 15, 17 – 23, 25 – 39, 49 – 53, 57, 59 f., 66 – 69, 75 – 81, 85, 88, 92, 95, 98 – 104, 107 – 110, 113 f., 116 – 125, 127 – 142, 147, 149 f., 153 – 158, 160 – 171, 175, 180, 186, 188, 193 – 196, 198, 200, 203 f., 206 – 210, 212 – 214, 216 – 220, 225 – 227, 235 – 243, 245, 247 f., 255 – 258 – camii 119, 121, 132, 157, 208, 236, 240 – Diasporamoschee 2, 77, 95 – 97 – Hinterhofmoschee 1, 3, 5 – 7, 25, 41 – 43, 46, 48 – 52, 59 f., 65 f., 68, 70, 75 – 78, 89, 95, 103, 109, 117, 132, 236 f., 239, 243, 255 – Moscheebau 1, 3, 25, 28, 36, 38, 60, 203 f., 214, 243 – Moscheegründung 4, 20, 36 – Moscheeküche 8, 147, 150 – 152, 154, 162, 164 – 169 – Moscheekulturen 8 f., 13, 226 f., 242, 249 – Moscheenlandschaft 203 – 205, 208, 217 – ulu-camii 7 – Ulu Moskee 157, 159, 171 Mouffe, Chantal 58, 61, 63 – 65 Muezzinruf 33, 35 Mühe, Nina 179, 217 Müller, Joachim 45, 60, 215 f., 220, 257 Multifunktionalität 2, 9, 109, 242 München 27, 39, 50, 240, 258 Munsch, Chantal 5, 7, 50 f., 77, 113 – 115, 135, 257

264

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Museum für Islamische Kunst 8, 175, 180, 184, 186 f., 189 f., 192, 194 f., 197 – 199, 201, 257 Musil, Robert 53 Muslimbruderschaft 13, 32 muslimische Organisationen 16 – 18, 21, 25, 188 – 191, 194, 196 Nachhaltigkeit 35, 162, 255 Natur 57, 63, 239 Neckel, Sighard 177 Neo-Muslime 9 Niederlande 68, 147 f., 155, 166 Niemann, Lars 82 – 84 Nizza 124 Normalisierungsphantasien 225, 238, 247 NSU 186 f. Okzidentalismus 229, 245, 255 Omar Ibn al-Khattab-Moschee 160 Opferfest 12, 153 f. Osman-ı Zinnureyn-Moschee 79 Osnabrück 22, 256 f. Österreich 43, 48 othering 133, 180, 184 – othering-Prozesse 45, 235 Özcan, Fahri 81, 87 Partizipation 165, 194, 198, 210, 227 f., 257 Penzberg 31 – 34, 39 Perels, Marko 5, 50, 114, 124, 128, 257 Pergamonmuseum 180, 200, 257 Pfeifer, Simone 244 Pickel, Gert 179 Polat, Ayşe 230 Pöllath, Nadia 152 Prägung 152, 158, 164, 168, 179 Preston, John 198 Price, Jay M. 147 f., 150, 164, 166 f. Prohl 151 Prophet 26 f., 37, 70 qibla 27, 94, 105 f. qurbān 153 Qurbani, Burhan 234 Radikalisierung

9, 26, 232 – 235, 239

Radikalisierungsdrama 9, 225, 231, 235, 238, 244 Ramadan 12, 89, 153, 160, 162, 164 Rassismus 46, 48, 140, 184 f., 229, 234, 255 Rechtsextremismus 179 Rechtsschule 28 Reckwitz, Andreas 151 Reker, Henriette 30 Religion 13, 19, 22, 25, 29, 58 – 62, 66, 140, 147 – 152, 162, 166, 181, 184, 208, 243 Religionsgemeinschaft 11, 34, 58, 81, 148, 158, 164, 166, 184, 196 Richard, Yann 154 Ronneberger, Klaus 49 Said, Edward 6, 42, 47, 52, 182 Sakralbauten 186 Sakralität 76, 149, 158 Säkularisierung 19 Salafismus 125, 242, 244 ṣalāt 153 sarık 106 Saudi-Arabien 64 Saul, John Ralston 176 ṣaum 153 Schade, Sigrid 239 Schiffauer, Werner 207 Schilling, Jörg 148 Schimmel, Annemarie 108 Schmidt, Sabrina 66, 249 Schmitt, Thomas 117, 204, 220 Schoppengerd, Johanna 117 Schröder, Helmut 45 Schulz, Ansgar 138 Schulz, Benedikt 138 Schweiz 48, 68 f. Science Studies 116 Scott Brown, Denise 120 Seehofer, Horst 179 Şehitlik-Moschee 204, 218 Selim, Yavuz Sultan 14 Senocak, Zafer 52 11. September 9, 25, 28, 31, 125, 227, 231, 233 Seyfert, Robert 61, 64 f.

Register

Shaw, Wendy K. 181 Singendonk, Roman 8, 175, 187, 189 f., 192, 194 f., 197, 201, 257 Sköldberg, Kaj 116 Slugan, Mario 226 Sökefeld, Martin 134 Solidarität 175, 177 f., 183, 185, 187 soziale Praxis 147, 151, 154 Sozialisation 20, 117, 131, 140 Sozialität 100, 102 Sozialräume 2, 6, 79, 132, 147 SPD 217 Speisevorschriften 154, 158, 170 Spenden 12, 37, 79, 87, 107, 127 f., 153 Spielhaus, Riem 68, 199, 217 Spitzbart, Elisabeth 148 Stadtplanung 76, 110, 135 f., 255 Steets, Silke 130 Steinmeier, Frank-Walter 32, 176 Stereotyp 68, 117 f., 126, 129, 131, 133, 147, 156, 168, 181, 184, 240 Stöckli, Lucia 68 f. Stoop, David C. 69 Stottrop, Regina 84 Strübing, Jörg 139 Stübben, Joseph 85 Suder, Piotr 69 Sultane 153 Sunna 154 Syrien 18 f. Tamimi Arab, Poojan 157 Teeküche 109, 147 f., 150, 166 f. Teestube 6, 18, 87, 91, 93, 96, 101, 120, 129, 131, 206 Terkessidis, Mark 47 Terror 8, 175, 191 Terrorismus 65, 125 Theile, Merlin 46 Ther, Philipp 46 Tilton, Lauren 235 Tradition 17, 28, 30, 58, 69, 115, 130, 140, 152, 158, 169 f., 233 Transformationsphase 20 transkulturelle Praxis 49 Transtopie 5 f., 41, 48, 51, 109 Tronnier, Claudia 231

265

Tsianos, Vassilis 49 Tuareg 67 f. Tunahan, Süleyman Hilmi 36 Türkei 13 f., 17 f., 30, 36, 44 – 46, 102, 124 – 126, 133, 135, 157, 184, 205 – 207, 213 f., 228, 232 – türkisch 9, 14, 18, 23, 28 – 30, 36, 44 f., 50, 85, 92, 97, 100 – 102, 113 – 116, 118, 132 – 135, 156 – 158, 182 – 184, 197, 203 – 208, 210 – 216, 218 – 220, 227 – 229, 235 f., 256, 258 ulu camii, siehe Moschee Union der Islamisch-Albanischen Zentren in Deutschland 15 Union der Türkisch Islamischen Kulturvereine in Europa e.V. 85 Unterrichtsräume 120, 147, 157, 161 f. Unziger, Kai 177 USA 26, 147 – 150, 164, 166 f. Utrecht 8, 147, 156 – 161, 165 – 167, 171 vaize 157 Venturi, Robert 120 Verband 11, 14, 36, 156, 188, 196, 208, 217 f., 249 Verband der Islamischen Kulturzentren 13, 15, 36 – 39, 89, 166 Verfassungsschutz 28, 124, 179 Verfassungsschutzbericht 32, 35, 179 Verkaaik, Oskar 157 Vogel, Pierre 239 Vogt-Göknil, Ulya 96 von den Driesch, Angela 152 Vowe, Gerhard 232 Waldenfels, Bernhard 232, 246 waqf 158 Warburg 8, 155 f., 165 – 168 Waschräume 130 Watt, William Montgomery 153 Weber, Stefan 180, 199 Welch, Alford T. 4, 6, 9, 22, 50 f., 57, 60, 64, 68 – 70, 76, 78, 83, 102, 114 f., 117 f., 121 f., 124 – 127, 129 – 133, 135 – 137, 140 f., 147, 153, 155, 175, 177, 181, 190, 207, 217 f., 225, 235, 248

266

Register

Weltweiter Einsatz für Arme e.V. 88 Welzbacher, Christian 2, 31, 117 Wenk, Silke 239 Wesseling 204 white savior complex 234 Wiedemer, Rochus 4, 12, 203 f., 207, 218, 258 Wien 50, 216, 220, 258 Wimmer, Andreas 118 Winterhager, Uta 29 Wissenschaft 16, 18, 116 f., 131, 180 f., 256 – Wissenschaftsrat 16 Wittmann-Englert, Kerstin 148 Wolf, Fridolin 178 wuḍūʾ 153 Wüstenrot Stiftung 7, 114, 120, 139, 142, 257

Yavuz, Yüksel 230 Yendell, Alexander 179 Yeşilada, Karin E. 233 Yildiz, Erol 5 f., 9, 15, 41, 49, 51, 75, 100, 109, 134, 227, 258 Yükleyen, Ahmet 117, 133 Yurten 67 Zapatka, Stefan 233 Zemke, Reinhold 117 Zentralrat der Marokkaner in Deutschland 15 Zentralrat der Muslime 15 Zinsverbot 17 ziyāda 104 Zwangsverheiratung 228