Mosaikjournal: Raumdimensionen im Altertum> 9781463233341

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Mosaikjournal: Raumdimensionen im Altertum>
 9781463233341

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Herausgegeben von Maria Kristina Lahn und Maren-Grischa Schröter

Band 1 (2010) ² Raumdimensionen im Altertum ²

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© 2010 MOSAIKjournal (Lahn ² Schröter GbR) All rights reserved under International and Pan-American Copyright Conventions. No part of this volume may be reproduced or transmitted in any form or by any means, electronic or mechanical, including photocopy, recording, or any information storage and retrieval system, without prior permission in writing from the publisher, MOSAIKjournal (Lahn ² Schröter GbR), and the copublisher, Gorgias Press LLC. All inquiries should be addressed to MOSAIKjournal http://www.mosaikjournal.com [email protected] Co-Published by Gorgias Press LLC 180 Centennial Avenue Piscataway, NJ 08854 USA www.gorgiaspress.com [email protected] ISBN: 978-1-61143-955-7 ISSN: 2159-8541 This volume is printed on acid-free paper that meets the American National Standard for Permanence of paper for Printed Library Materials. Printed in the United States of America

MOSAIKjournal is distributed electronically free of charge at http://www.mosaikjournal.com.

INHALTSVERZEICHNIS Inhaltsverzeichnis

v²vi

Vorwort

vii²viii

Raumdimensionen im Altertum - Über die Anwendbarkeit des spatial turn in den historischen Wissenschaften Maria Kristina Lahn ² Maren-Grischa Schröter

1²8

Vorgestellte Orte und utopisches Denken im Alten Ägypten Janne Arp

9²32

Lokale Kulttraditionen vs. ´VHPLWLVFKHV 3DQWKeRQµ. Eine ´männliche Tycheµ in Dura Europos Julian Buchmann

33²66

Domestic Space and Community Identity in the Aegean Islands and Crete 1200-600 BC Anastasia Christophilopoulou

67²126

´5LWXDO/DQGVFDSHµ und ´Sacred Spaceµ. Überlegungen zu Kultausrichtung und Prozessionsachsen in Abydos Andreas Effland ² Ute Effland

127²158

Zwischen Kult und Kommerz. Architektur als erfahrbarer Raum in antiken Orakelheiligtümern Wiebke Friese

159²190

Magische und reale Räume im Tempel von Edfu Jan-Peter Graeff v

191² 220

The Spatial Adjunct in Middle Egyptian: Data from the Coffin Texts Carlos Gracia Zamacona

221² 258

Sepulkrale Hofarchitekturen im Hellenismus. Ein Vorbericht zur Architektur und Funktion ausgewählter Grabanlagen in Alexandria, Kyrene und Nea Paphos Anika Greve

259² 278

The Relationship between the Space and the Scenery of an Egyptian Temple: Scenes of the Opet Festival and the Festival of Hathor at Karnak and Deir el-Bahari under Hatshepsut and Thutmose III Alexandra V. Mironova

279²330

Räumliche Dimensionen historischer Gesellschaften ² ein Kommentar Susanne Rau

331² 344

vi

VORWORT Interdisziplinäres Arbeiten, multiperspektive Forschung und die Nutzung moderner Medien sind zu festen Bestandteilen der heutigen Wissenschaftslandschaft geworden. Diesen Leitideen folgend, wurde MOSAIKjournal 2009 gegründet, um die Zusammenarbeit zwischen den altertumswissenschaftlichen Disziplinen und die Entstehung wissenschaftlicher Netzwerke zu fördern. In den einzelnen Ausgaben von MOSAIKjournal werden daher Beiträge unterschiedlicher Fächer unter einem thematischen Schwerpunkt vereint. So widmet sich der vorliegende Band etwa den Raumdimensionen im Altertum und versammelt dabei Aufsätze aus der Ägyptologie, der Prähistorischen und Klassischen Archäologie und der Geschichte der Neuzeit. MOSAIKjournal erscheint einmal jährlich als Online- und Print-Version. Die Web-Präsenz (www.mosaikjournal.com) gewährleistet nicht nur einen unbeschränkten Zugriff auf alle Artikel, sondern auch ein unkompliziertes und zeitnahes Publizieren; darüber hinaus wird jede Ausgabe auch als gedruckte Fassung bei Gorgias Press (NJ, USA) herausgegeben. Es verbleibt noch der Dank an die Kolleginnen und Kollegen, die maßgeblich an der Fertigstellung der ersten Ausgabe des Journals beteiligt waren. Wir danken ganz besonders Anika Greve, die uns bei den redaktionellen Arbeiten tatkräftig unterstütze sowie Wiebke Friese, Andrea Harms und Falko Schnicke für die Durchsicht der Manuskripte. Susanne Rau versorgte uns in der Entstehungsphase des ersten Bandes mit hilfreichen Tipps und Hinweisen und bereicherte den Band mit ihrem synthetisierenden Kommentar der Einzelbeiträge. Für die engagierte Unterstützung sei ihr herzlichst gedankt. Auch die angenehme und unkomplizierte Zusammenarbeit mit Gorgias Press, insbesondere mit Katie Stott, bei der Erstellung der Print-Version hat uns stets viel Freude bereitet. vii

Ein besonderer Dank gebührt schließlich auch allen Autorinnen und Autoren, die durch ihre Artikel und Anregungen in zahlreichen Diskussionen dazu beigetragen haben, dass wir mit MOSAIKjournal 1 (2010) einen facettenreichen Band zu den Raumdimensionen im Altertum vorlegen können. Hamburg, im Januar 2011

Maria Kristina Lahn Maren-Grischa Schröter

viii

RAUMDIMENSIONEN IM ALTERTUM ² ÜBER DIE RELEVANZ DES SPATIAL TURN FÜR DIE HISTORISCHEN WISSENSCHAFTEN

MARIA KRISTINA LAHN ² MAREN-GRISCHA SCHRÖTER Altertumswissenschaftliche Forschungen sind seit jeher diversen Paradigmen unterworfen, die unterschiedliche Herangehensweisen an das Belegmaterial ermöglichten. Seit den 1970er Jahren können diese Zugänge über diverse ² von den Kulturwissenschaften ausgearbeitete ² sogenannte turns vonstatten gehen, die sich im Nachgang des linguistic turn heraus entwickelt haben. Dabei ist zu bemerken, daß durch diese turns keinesfalls Theoriegebilde auf das Material aufgezwungen werden; vielmehr verhelfen sie den Forschern zu einer neuen Methode, einen unverbrauchten Blick auf den entsprechenden Forschungsgegenstand zu werfen. Durch dieses Umlenken des Fokuses kann sich ein neuer Fragenkatalog entwickeln, der die Möglichkeit bietet, noch unbearbeitete Forschungsfelder zu erschließen, um diese in das Kulturgewebe einzuhängen. Dabei bieten die turns weitaus mehr: Über diesen Zugang können Disziplinen vergleichbar gemacht werden, um sie so in einen Dialog zu bringen. Ähnliche Phänomene können auf diese Art und Weise fächerübergreifend sichtbar gemacht werden. Wie ist ein turn von einer bloßen Fokussierung auf einen bestimmten Themenkomplex zu unterscheiden? D. BachmannMedick hat in ihrer Einführung zu den cultural turns einleuchtend

1

2 | MARIA KRISTINA LAHN ² MAREN-GRISCHA SCHRÖTER dargelegt, daß es nicht darum geht, lediglich die Blickrichtung zu ändern.1 Vielmehr ist nur dann von einem turn zu sprechen, wenn dieser als Analysekategorie oder als Konzept wahrgenommen und entsprechend angewandt wird. So reicht es nicht aus, vermehrt z. B. Räume als Untersuchungsobjekte zu behandeln. Mit Hilfe des neuen Fragenkatalogs ² im vorliegenden Falle dem des spatial turn ² geht es vielmehr darum, die dahinter liegenden Strukturen zu erkennen und zu erklären. Neben der überzeugenden Argumentation D. Bachmann-Medicks sollen auch andere Ansichten darüber, wie die Anwendung eines solchen turn zu verstehen ist, hier nicht unerwähnt bleiben. So bemerkt etwa K. Schlögel recht lapidar: ÅSpatial turn: das heißt daher lediglich: gesteigerte Aufmerksamkeit für die räumliche Seite der geschichtlichen Welt ² nicht mehr, aber auch nicht weniger.µ2

E. Piltz faßt in seinem Aufsatz über die Anwendung des spatial turn in den Geschichtswissenschaften einen umsetzbaren Ansatz treffend zusammen: ÅSpatial turn, das heißt zunächst einmal, Geschichte in ihren räumlichen Bedingungen zu denken und den Veränderungen der Raumwahrnehmung selbst auf die Spur zu kommen. Und dabei zu bedenken, dass die damit einhergehende Veränderung des Raumbegriffs wiederum auf die Formen der Geschichtsschreibung selbst wirkt.µ3

Die Schaffung einer Kategorie wie der des spatial turn ist dabei nicht von der jeweiligen sozialen, politischen und gesellschaftlichen Umgebung abzutrennen. In Zeiten von Globalisierung, internationalen Finanzmärkten, transnationalen Gemeinschaften oder des Cyberspace scheint es ein größeres Interesse daran zu geben, sich verstärkt mit dem Thema Raum und Räumlichkeit auseinanderzusetzen.4 Dies und die historischen Hintergründe, die dazu geführt haben, können an dieser Stelle nicht näher ausgeführt werden. BACHMANN-MEDICK (2007) 26. SCHLÖGEL (2003) 68; zitiert nach PILTZ (2008) 76, Anm. 6. 3 PILTZ (2008) 94. 4 SCHROER (2006) 161²162. 1 2

RAUMDIMENSIONEN IM ALTERTUM| 3 Aufgrund der Komplexität des Themenapparates kann es auch nicht darum gehen, die einzelnen turns zu analysieren, ihre Entstehung zu eruieren und sie auf ihre Relevanz in den historischen Wissenschaften zu überprüfen.5 Aus der Vielzahl dieser turns, sei es der interpretative turn, performative turn, reflexive/literary turn, postcolonial turn, translational turn oder der iconic turn, hat sich die erste Ausgabe von MOSAIKjournal auf den spatial turn beschränkt.6 Warum gerade der spatial turn? Wie bereits angeklungen, geht es den Herausgeberinnen darum, die Forscherinnen und Forscher GHU $OWHUWXPVNXQGH PLW HLQHU ´QHXHQµ 0HWKRGH ]X NRQIURQWLHUHQ und sie zu animieren, sich mit dieser auseinanderzusetzen, um dadurch neue Erkenntnisse gewinnen zu können. Die große Skepsis, die den Vertreterinnen und Vertretern dieser Forschungsrichtung beizeiten entgegenschlägt, gründet in der Angst, daß dadurch der Blick auf den eigentlichen Untersuchungsgegenstand verstellt und dieser lediglich in Modelle und Konzepte anderer Fächer hineingepreßt wird. Wie anfangs erwähnt, kann davon allerdings keine Rede sein; eher findet auf diese Art und Weise eine neue Form der Kontextualisierung statt. Die Intention dieser Einführung ist es, den Blick auf den Raum als Analysekategorie zu lenken.7 Dabei ist nochmals hervorzuheben, daß es bei einem Zugang über den spatial turn nicht darum gehen kann, Forschungen zu Raum und Räumen, seien es politische, soziale, religiöse oder mythische, zusammenzufassen. Es reicht nicht aus, eine bloße Beschreibung vorzulegen. Das Denken sollte in einen neuen, methodischen und/oder konzeptuellen AnVDW] EHUJHKHQ GHU LP EHVWHQ )DOO LQ HLQHU ÅVSDWLDOHQ +HUPHQHutikµ8 seinen Abschluß finden sollte. Der Raum wird so zu

5 siehe dazu die Literatur-Übersicht bei BACHMANN-MEDICK (2007) am Ende jedes Kapitels. 6 Zu einer zusammenfassenden Darstellung dieser genannten turns siehe BACHMANN-MEDICK (2007). 7 Dazu auch BACHMANN-MEDICK (2007) 302²304. 8 SOJA (1989) 1 f.

4 | MARIA KRISTINA LAHN ² MAREN-GRISCHA SCHRÖTER ÅHLQer zentralen Analysekategorie [...], zum Konstruktionsprinzip sozialen Verhaltens, zu einer Dimension von Materialität und Erfahrungsnähe, zu einer Repräsentationsstrategie.µ9

In den historischen Wissenschaften sollte man es jedoch nicht dabei belassen, die kulturspezifischen Hinterlassenschaften ausschließlich auf eine abstrakte Ebene zu heben. Die Funde und Befunde sollten stets die Basis bilden. Å'LHVKDW]XU)ROJHGDVVGHU5DXPNHLQHDEVWUDNWH$QDO\VHNategorie bleibt, sondern anhand vorhandener Quellenbefunde als z. B. Beschreibungskategorie und/oder Medium in den Blick rückt.µ10

M. Middel faßt die Ergebnisse seiner Überlegungen zum spatial turn in den Geschichtswissenschaften folgendermaßen zusammen: Å9HUVXFKWPDQHLQH=ZLVFKHQELODQ]]X]LHKHQGDQQEefinden VLFK GLH 'LQJH LP )OXVV >«] [Es] drängt zu einer weiteren Auseinandersetzung mit dem Raum, der nicht einfach nur Voraussetzung der Geschichte ist, sondern in Form der gelebten Raumbezüge deren Produkt.µ11

Faßbar wird ein solches Vorgehen ² das des spatial turn ² in einem entsprechenden Vokabular, welches die zentralen Begrifflichkeiten einer Raumbetrachtung anwendet und in die unterschiedlichen Disziplinen integriert. Wenn z. B. von Zentrum vs. Peripherie, Grenzen und Grenzräumen, außen vs. innen, öffentlich vs. privat, usw. gesprochen wird, kommt der spatial turn zum Ausdruck. Dieser Ansatz ist mit den folgenden Fragestellungen in MOSAIKjournal 1 eingeflossen: -

Auf welche Art konstituieren und verändern sich Räume und Grenzen (Entstehung, Etablierung, Schließung, Verteidigung)? Können Räume und Grenzen Identität stiften? Wenn ja, auf welche Weise?

BACHMANN-MEDICK (2007) 304 mit Bezug auf CRANG ² THRIFT (2000) 1. 10 PILTZ (2008) 95. 11 MIDDEL (2008) 120. 9

RAUMDIMENSIONEN IM ALTERTUM| 5 -

Was kennzeichnet urbane, suburbane und extraurbane Räume und wie unterscheiden sie sich? Welche Rolle spielt die Zugehörigkeit zum Zentrum respektive zur Peripherie? Welches sind die Merkmale privater, öffentlicher und semiöffentlicher Räume? In welchem Verhältnis stehen sie zueinander und welche Formen von Zugang bestehen? Existieren multifunktionale Räume? Über welche Belege lassen sich diese unterschiedlichen Funktionen erschließen? Welche institutionellen und nicht-institutionellen Akteure nehmen an der Konstituierung von Raumphänomenen teil und welche möglichen Intentionen sind damit verbunden? Welche Formen von mythischen und religiösen Räumen können entstehen und in welchem Verhältnis stehen diese zu den ´5HDOHQµ" Welche Theorien bieten die Sozial- und Geisteswissenschaften zur Analyse von Raumphänomenen, d. h. welche Methoden wurden bisher erarbeitet, die in konkreten Fällen angewendet werden können?

Die Autoren des ersten Bandes von MOSAIKjournal nähern sich dem Thema auf unterschiedliche Weise. So wurde auf Räume Bezug genommen, die sich auf das Leben (die identitätsstiftende Wirkung sozialer Räume: A. Christophilopoulou), den Tod (soziale Interaktionsräume an Gräbern: A. Greve) und das Jenseits (als imaginärer Ort: J. Arp) beziehen. Die sakrale Landschaft wurde mit Hilfe des Fragenkataloges gleich mehrfach analysiert, und zwar topographisch (Rekonstruktion von Prozessionsrouten in einer spezifischen sakralen Landschaft: Effland ² Effland) und architektonisch (das Zusammenwirken magischer und realer Räume im Tempel: J.-P. Graeff; die Wechselwirkungen zwischen sakralen Räumen und den dort angebrachten Fest-Darstellungen: A. Mironova; eine bewußte Architekturgestaltung, die die Erfahrbarkeit sakraler Räume beeinflußt: W. Friese). Religiöse Räume sind aber nicht nur topographisch oder architektonisch, sondern auch ikonographisch faßbar (in ikonographischen Ausformungen in der religiösen Praxis der Peripherie: J. Buchmann). Schlußendlich kann auch Sprache dazu beitragen ein neues Licht auf das Verständnis der Räumlichkeit zu werfen (linguistischer Zugang über die Sargtexte: C. Grazia Zamacona).

6 | MARIA KRISTINA LAHN ² MAREN-GRISCHA SCHRÖTER Der vorgelegte Band kann somit eine Sammlung unterschiedlicher Ansätze zum spatial turn präsentieren, die über eine bloße Betrachtung von Räumen hinausgehen und die sich vielmehr der Anwendung des Spatialen als Analysekategorie und/oder als Betrachtungsmedium widmen. MARIA KRISTINA LAHN, M. A. ² MAREN-GRISCHA SCHRÖTER, M. A. Mosaikjournal e-mail: [email protected] www.mosaikjournal.com

RAUMDIMENSIONEN IM ALTERTUM| 7

BIBLIOGRAPHIE BACHMANN-MEDICK (2007) D. Bachmann-Medick, Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften 2(Reinbek bei Hamburg 2007). CRANG ² THRIFT (2000) M. Crang ² N. Thrift, Thinking Space (London 2000). MIDDEL (2008) M. Middel, Der Spatial Turn und das Interesse an der Globalisierung in der Geschichtswissenschaft, in: J. Döring ² T. Thielmann (Hrsg.), Spatial Turn. Das Raumparadigma in den Kultur- und Sozialwissenschaften (Bielefeld 2008) 101²123. PILTZ (2008) E. Pilt]Å7UlJKHLWGHV5DXPVµ. Fernand Braudel und die Spatial Stories der Geschichtswissenschaft, in: J. Döring ² T. Thielmann (Hrsg.), Spatial Turn. Das Raumparadigma in den Kultur- und Sozialwissenschaften (Bielefeld 2008) 75²102. SCHLÖGEL (2003) K. Schlögel, Im Raume lesen wir die Zeit. Über Zivilisationsgeschichte und Geopolitik (München 2003). SCHROER (2006) M. Schroer, Räume, Orte, Grenzen. Auf dem Weg zu einer Soziologie des Raums (Frankfurt a. M. 2006). SOJA (1989) E. W. Soja, Postmodern Geographies. The Reassertion of Space in Critical Social Theory (London 1989).

VORGESTELLTE ORTE UND UTOPISCHES DENKEN IM ALTEN ÄGYPTEN JANNE ARP ABSTRACT 'DV3URMHNW´Utopia: Annäherungen an den vorgestellten Ortµ des Berliner Exzellenz Clusters ´TOPOI. The Formation and Transformation of Space and Knowledge in Ancient CivilizationVµ stellt sich in diesem Aufsatz vor. Für die Laufzeit von einem Jahr liegt der Schwerpunkt auf der Recherche und dem interdisziplinären Austausch über die kulturelle Bedeutung und soziale Funktion von Darstellungen vorgestellter Orte. Anlass dafür waren Beobachtungen, die anhand der Wanddekoration der Amarnagräber gemacht wurden: Darin sind ausschließlich Raumstrukturen dargestellt, die in der diesseitigen Umgebung identifiziert und lokalisiert werden können. Es wird dafür argumentiert, dass sich diese Bilder dennoch auf Vorstellungen vom Jenseits beziehen. Im Laufe des Projekts ließen sich daneben verschiedene, aussichtsreiche Perspektiven für eine zukünftige Beteiligung der Ägyptologie an der UtopieIRUVFKXQJ HUNHQQHQ 'HU %HJULII ´8WRSLDµ EH]HLFKQHW Vowohl den nicht existierenden als auch den glücklichen Ort ² und diese Konstruktion ist keinesfalls eine abendländische Besonderheit. ,Q WKLV HVVD\ WKH SURMHFW ´Utopia: Approaching Imagined 3ODFHVµ RI WKH %HUOLQ EDVHG ([FHOOHQFH &OXVWHU ´TOPOI. The Formation and Transformation of Space and Knowledge in Ancient Civilizationsµ is presented. In the course of a one year-fellowship the focus is laid on interdisciplinary research as well as exchange on the cultural mean9

10| JANNE ARP ing and social function of pictures of imagined places. This interest resulted from observations made during a study of the wall-decoration of the tombs of Amarna. These exclusively show structures, which can be identified and localised in the actual surroundings. It is argued here, that the pictures nevertheless refer to the hereafter. In the running, the project led to diverse perspectives to be followed in the future and outlined in the essay. Egyptology can gain a lot from the contact to the field of utopian studies, but also add sigQLILFDQWO\WRWKHLUSHUVSHFWLYHV7KHWHUP´XWRSLDµGHVLJQDWHV the non-existing and the happy place, both at the same time ² a construction which is not at all bound to the occidental tradition.

ZEIT- UND ORTSANGABEN IN DEN GRÄBERN VON AMARNA Die Wandbilder der Felsfassadengräber von Amarna zeigen die Königsfamilie, den Grabherrn und sein Umfeld in unterschiedlichen Situationen.1 In Einzelfällen verweisen Beischriften auf konkrete Daten und Ereignisse2, häufiger jedoch bestimmen die Bildinhalte selbst einen Zeitpunkt, der innerhalb der Lebenszeit des Grabherrn gelegen zu haben scheint. Die dargestellten Orte können ihrerseits mit denen der tatsächlichen Umgebung, also der Lebenswelt der dargestellten Personen, identifiziert werden.3 Auf der Grundlage dieser Beobachtungen wurde schon vielfach festgestellt, dass es in den Amarnagräbern keine Darstellungen eines Jenseits gäbe. Daraus wiederum entwickelte sich die in der Ägyptologie verbreitete $QVLFKW GDVV GLH QHXH ´$WRQUHOLJLRQµ überhaupt keine Vorstellungen von einer Welt nachtodlicher Fortexistenz zugelassen habe.4 ´9RUJHVWHOOWHµXQG´UHDOHµ2UWHVSLHOHQDOVRLQGHUlJ\SWRORJischen Argumentation in dem sehr speziellen Fall Amarna eine entscheidende Rolle. Die Unterscheidung selbst wurde bislang jedoch 1

17.

DE GARIS DAVIES (1903²1908). siehe dazu auch ARP (2009) 7²

siehe neuerdings FITZENREITER (2009). siehe hierzu auch SCHLÜTER (2008). 4 Eine ausführliche Besprechung dieser Problematik erfolgt in ARP (in Vorb. 2010). 2 3

VORGESTELLTE ORTE UND UTOPISCHES DENKEN| 11 nicht thematisiert. Dieser Aufgabe widmet sich nun ein Jahresprojekt, das im Rahmen deV %HUOLQHU ([FHOOHQFH &OXVWHUV ´TOPOI. The Formation and Transformation of Space and Knowledge in Ancient Civilizationsµ durchgeführt wird.

UTOPIA: ANNÄHERUNGEN AN DEN VORGESTELLTEN ORT Das TOPOI-Projekt ´Utopia. Annäherungen an den vorgestellten Ortµ bringt unterschiedliche Aspekte und Formen der Darstellung von menschlichen Lebenswelten miteinander in Verbindung. Damit sollen neue Perspektiven und eine breitere Basis für die Beurteilung von altägyptischen Jenseitsbildern geschaffen werden. Der %HJULII´8WRSLDµGHXWHWH]X%HJLQQGDUDXIKLQGDVVGLH%UFNH]XU vergleichenden Betrachtung von der altorientalischen Welt bis zur abendländischen Tradition geschlagen werden sollte. Der interdisziplinäre Austausch führte das Projekt über diesen Weg allerdings sehr bald auf eine weitere interessante Frage: Kann das Konzept GHV´XWRSLVFKHQ'HQNHQVµDXFKIUGLHDOWlJ\SWLsche Kultur angenommen werden? Diese Entwicklung der Fragestellungen und erste Antworten sollen in dem vorliegenden Aufsatz dargelegt werden.

VORGESTELLTE ORTE IM ALTEN ÄGYPTEN ,QQHUKDOE GHU bJ\SWRORJLH ZXUGH GDV 7KHPD ´YRUJHVWHOOWH 2UWHµ bislang nicht behandelt. Einen Schritt in diese Richtung ist ein im Jahr 2003 von D. 2·&RQQRU XQG 6W. Quirke herausgegebener Sammelband gegangen.5 Der Fokus ist hier zwar, wie bereits in G. 0RHUV·0RQRJUDSKLH´Fingierte Welten in der ägyptischen Literatur des 2. Jts. v. Chr.µ von 2001, auf das (erfahrbare) Fremde gerichtet. A. Loprieno stellt in seinem Beitrag allerdings einen äußerst interessanten Aspekt der Wahrnehmung von Orten heraus, der meines Erachtens GLH REHQ DQJHVSURFKHQH 8QWHUVFKHLGXQJ LQ ´UHDOµ XQG ´YRUJHVWHOOWµEHWULIIW6 Zunächst sei eine Definition dieser beiden Kategorien versucht, die der Beurteilung der Darstellungen von Orten in altägyptischen Gräbern zugrunde liegen: Ein realer Ort kann bestenfalls 5 6

2·&ONNOR ² QUIRKE (2003). LOPRIENO (2003) 31²51.

12| JANNE ARP selbst betreten, zumindest aber optisch erfasst werden. Ein vorgestellter Ort ist dagegen nicht auf diese Weise erfahrbar. Wenn der Ort in einem (funerären) Bild Elemente aufweist, die sich nicht mit dem anzunehmenden Erfahrungshorizont in Übereinstimmung bringen lassen, wird er üblicherweise als Jenseitsvorstellung bezeichnet. Im Vergleich mit A. Loprienos Ausführungen lässt sich erkennen, dass die altägyptische Wahrnehmung und Kategorisierung der umgebenden Welt von jener Differenzierung abweicht: Anhand GHU*HVFKLFKWHQYRP´6FKLIIEUFKLJHQµXQGGHV´6LQXKHµ zeigt er, dass ihre Lebenswelt sich durch die Ausbreitung der Kultur definierte.7 Die Grenzen dieses Einflussbereiches zu überwinden, wurde als Übergang in andere Welten empfunden. Das Jenseits dagegen, das seinerseits zwar nicht sichtbar und nicht lebendig erfahrbar war, konnte der Vorstellung nach nur von Ägypten aus erreicht werden. Die Welt der Lebenden und die Welt der Verstorbenen derselben Gesellschaft standen sich dieser Auffassung nach also räumlich näher als die lebenden Fremden einander. Weitere Überlegungen zu Weltbild und Raumvorstellungen der pharaonischen Kultur8 deuten darauf hin, dass gar nicht die Möglichkeiten, vor allem aber nicht der entsprechende Anspruch bestanden, um jene 7UHQQXQJYRQ´UHDOµXQG´LPDJLQlUµKHUYRU]XEULQJHQ Mit dem funerären Charakter des Kontexts der Darstellungen lässt sich zusätzlich argumentieren, um die geläufige Beurteilung zum Jenseitsglauben in Amarna abzulehnen. Betrachtet man die rituelle Bestattung nach A. van Gennep als Übergangsritual, dann muss auch ein vorgestelltes Ziel der Fortexistenz der Verstorbenen angenommen werden.9 Die monumentalen Gräber selbst weisen darauf hin, dass eine Fortexistenz angestrebt und daher ein Jenseits vorgestellt wurde. Wenn sie überhaupt Orte zeigen, dann kann die Grabdekoration Gegenbilder, verzerrte Bilder oder Abbilder vom 7 Zu

diesen Texten später mehr. siehe vor allem BRUNNER (1957) 612²620. Jüngere Beiträge, die jedoch sehr unterschiedliche Argumentationen führen, sind LEITZ (1989) und ZEIDLER (1997) 1001²1112. Besonders interessant in diesem Zusammenhang: WESTENDORF (2002) 101²111. Vgl. dazu auch GRÜNBEIN (1996). 9 siehe dazu auch ARP (2009); ARP (in Vorb. 2010). 8

VORGESTELLTE ORTE UND UTOPISCHES DENKEN| 13 Diesseits entwerfen und sich doch immer auf dasselbe beziehen: Die von Lebenden nicht erfahrbare Existenzform nach dem Tod, die bestmöglich vorbereitet bzw. ausgestattet sein sollte. Es gab daher mit Sicherheit auch in Amarna eine Jenseitsvorstellung. Wenn dieser Aussage hinzufügt wird, dass im Grab dennoch ausschließlich jene Orte angesprochen wurden, die täglich in der Lebenswelt wahrgenommen wurden, dann liegt der Widerspruch allein im Auge jenes Betrachters, der eine klare Trennung erwartet. Es bleibt an dieser Stelle darauf hinzuweisen, dass eine Erklärung der im diachronen Vergleich feststellbaren Besonderheit der Gestaltung der Amarnagräber zwangsläufig in den Bereich von Spekulationen führen muss. Da die geläufige Beurteilung jedoch auf einer ungeprüften und widerlegbaren Vorannahme basiert, lohnt es sich einen neuen Blickwinkel zu erproben: Das Anliegen der Erbauer der Gräber des Alten Ägypten war es also zu allen Zeiten, die Verbindung zwischen den nicht räumlich getrennt voneinander vorgestellten Lebenden und Toten aufrecht zu erhalten. In Amarna gab es bekanntermaßen einen einzigen Gott ² und wenn dieser Umstand einmal nicht ausschließlich als Zwang und Einschränkung der Untertanen verstanden wird, dann kann auch gesehen werden, dass dieser eine Gott die Jenseitsexistenz als gesichert versprach. Keine Schwierigkeiten sollten den Verstorbenen bei ihrem Wechsel der Existenzform und Wiedereingliederung in die Gemeinschaft der Lebenden über das Grab begegnen, wenn sie sich voll und ganz auf ihn verließen. Damit gab es auch keinen Grund, hinderliche und unangenehme Strukturen zu entwerfen, die mit Wegweisern und Zaubersprüchen überwunden werden müssten. Diese Überlegungen können hier als Perspektive für zukünftige Untersuchungen lediglich angerissen werden. Eine umfangreiche Materialsichtung, vor allem aber auch eine ausführliche Überprüfung der These mithilfe der Sozial- und Religionswissenschaften, ist für definitive Aussagen dringend notwendig.

UTOPIE ± UTOPISCHES DENKEN Eine Utopie ist eine sehr spezielle Form der Beschreibung einer vorgestellten Welt. Sie bezieht sich auf Probleme der zeitgenössi-

14| JANNE ARP schen Gesellschaft, ist an die Zeitgenossen gerichtet und spielt Alternativen durch. Die Bezeichnung geht auf den Titel einer Veröffentlichung aus dem Jahr 1516 n. Chr. zurück.10 In der so geQDQQWHQ ´8WRSLHIRUVFKXQJµ ZHUGHQ DOOHUGLQJV DXFK lOWHUH VRZLH jüngere bis hin zu aktuellen Werken diskutiert ² nicht (bzw. äußerst selten11) dagegen altägyptische Texte und Bilder. In utopischen Texten äußern sich Individuen kritisch über den Zustand ihrer Gesellschaft und fordern damit auch eine Reaktion heraus. Sie benutzen das Mittel der Reproduktion und Verbreitung von Literatur, um mit ihrem Anliegen andere Menschen zu erreichen und zu überzeugen. Aus dem Alten Ägypten sind keine vergleichbaren Texte von Individuen bekannt, die nicht mit einem dahinter stehenden Interesse des Staates selbst in Verbindung gebracht werden können. Nach einem oberflächlichen Vergleich erscheint es daher gerechtfertigt, das Alte Ägypten nicht in den Utopiediskussionen zu berücksichtigen. Womit die grundsätzlichen Unterschiede allerdings zusammenhängen, wurde bislang nicht gefragt. Reproduktionstechnische Bedingungen und solche der Überlieferung sind mit Sicherheit dafür verantwortlich, dass jene sehr spezielle Form der utopischen Literatur nur unter bestimmten Umständen bekannt ist. Es bleibt daher zu bedenken, dass diese Gattung nicht das Maß setzen sollte, um die Existenz der dahinter stehenden sozialen Mechanismen zu be- oder widerlegen. Es lässt sich zusammenfassen, dass die Frage danach, warum die altägyptische Kultur keine utopische Literatur überliefert hat, auch für die Utopieforschung aufschlussreich sein kann. Auf diese Weise ließe sich der Gegenstand ihrer Forschung noch besser, da in kontrastiver Abgrenzung, fassen. Für die Ägyptologie andererseits bieten sowohl der Vergleich mit den Erkenntnissen der Utopieforschung als auch die ArEHLWPLWGHP.RQ]HSWGHV´XWRSLVFKHQ'HnNHQVµ]DKOUHLFKH0|JOLFKNHLWHQGHV(UNHQQWQLVJHZLQQV Zu diesem im Folgenden mehr. SARGENT (2000) 10 ]lKOW GHQ ´%HUHGWHQ %DXHUQµ DOV IUKH Form einer Utopie auf, jedoch ohne weitere Besprechung oder gar (UOlXWHUXQJ 'HU ´6FKLIIEUFKLJHµ LVW DOV IUKHU XWRSLVFKHU 7H[W LQ die Sammlung von CAREY (1999) aufgenommen. Zu beiden Texten werden im Folgenden weiterführende Verweise und Bemerkungen gegeben. 10 11

VORGESTELLTE ORTE UND UTOPISCHES DENKEN| 15

UTOPIEFORSCHUNG Die wissenschaftliche Beschäftigung mit utopischen Entwürfen ist nach dem zuvor Gesagten eng an die abendländische Kultur und ihre Tradition gebunden. Die entsprechenden universitären Fachbereiche widmen sich diesem Thema kontinuierlich, so vor allem die Literaturwissenschaften und die Altphilologien bezogen auf die ´3Ul]HGHQ]IlOOHµ12 und ihre Erben13, an diese wiederum anschließend ² und dabei nicht minder intensiv ² die Politik- und Sozialwissenschaften. Daneben setzen sich kunstproduktionsbezogene und museale Einrichtungen sowie eigene Forschungsgesellschaften immer wieder oder auch ständig mit Utopien auseinander.14 Als ein Begründer der modernen Utopieforschung kann R. von Mohl gelten, der Mitte des 19. Jhs. die bis dahin seit Platon entstandenen Staatsromane zusammenfasste.15 Dabei kommentierte er zwar die literarische Form, es ging ihm jedoch hauptsächlich um ihre politische Bedeutung. Seither ist es wohl einer der bemerkenswertesten und beständigsten Charakterzüge dieser Wissenschaft, dass Perspektiven und Erkenntnisinteressen ² bei Betrachtung des immer gleichen Materials ² sehr stark wechseln können. Ein Höhepunkt der wissenschaftlichen Diskussion ist in den 60er und 70er Jahren des 20. Jhs. festzustellen.16 Mit diesem kann die angesprochene kontinuierliche Auseinandersetzung nahezu in Dekadenabständen festgestellt werden. Die von W. Voßkamp her-

12

sen.

Als bekanntHVWHV%HLVSLHOVHLDXI3ODWRQV´Politeiaµ hingewie-

13 Das namengebende Beispiel, Th0RUXV· ´Utopiaµ von 1516, VHLKLHUQRFKHLQPDOJHQDQQWGHQQDOV´XWRSLVFKH/LWHUDWXUµ ist es der 3URWRW\SDOV´XWRSLVFKHU(QWZXUIµMHGRFK(UEHGHUNODVVLVFK-antiken Welt. 14 Beispielhaft sei hierzu auf entsprechende Internetseiten verwiesen: http://expositions.bnf.fr/utopie/index.htm, http://www.eflux.com/app/webroot/projects/utopia/index.html, http://www.utopianstudieseurope.org/index.php, http://www.utoronto.ca/utopia/index.html (30.12.2009). 15 VON MOHL (1855) bes. 167²214. 16 siehe dazu vor allem die Zusammenfassung der wichtigsten Texte dieser Zeit und ihrer Grundlagen aus den 20er Jahren (beispielsweise Ernst Bloch) durch VILLGRADTER ² KREY (1973).

16| JANNE ARP DXVJHJHEHQHQ GUHL %lQGH ]XU ´Utopieforschungµ17, die auf die Arbeit einer interdisziplinären Forschergruppe zurückgehen, sind als einschlägiges Beispiel für die 80er Jahre zu nennen. Mit Beginn des 21. Jhs. werden Thema und Herangehensweise noch weiter geöffnet als jemals zuvor. Dafür kann wiederum ein Sammelwerk beispielhaft angeführt werden, in dem literarische Formen von der Antike bis zur Gegenwart vergleichend betrachtet werden.18 2EZRKOGHVVHQ7LWHODXIGDV6WLFKZRUW´8WRSLHµYHU]LFhtet, begegnet eben jenes in den Beiträgen vielfach. Parallel zu dieser Entwicklung allerdings setzte sich ein Zweig der Utopieforschung fort, der vergleichsweise stark disziplinär ² und zwar entweder politikwissenschaftlich oder literaturwissenschaftlich ² ausgerichtet ist. Als ein durch zahlreiche Veröffentlichungen und Diskussionsteilnahmen herausragender Vertreter sei der Politikwissenschaftler R. Saage genannt. Saage verteidigt einen engen Utopiebegriff, mit dem er den Anschluss an die Klassische Antike über den Weg der Frühen Neuzeit behalten möchte, jedoch vornehmlich mit Blick auf ihre aktuelle sozialpolitische Relevanz an den Staatsentwürfen interessiert ist.19 Als Verfechter eines engen Utopiebegriffs innerhalb der Literaturwissenschaft andererseits ist auf P. Kuon zu verweisen.20 In engem Zusammenhang mit dieser Aufspaltung der Diskussion sind die Jahreskolloquien 2005 und 2006 der Schweizerischen Akademie der Wissenschaften zu sehen, die unter das Thema ´Utopie heuteµ gestellt wurden. Offenbar wurde hiermit versucht, eine Zusammenführung des traditionellen mit dem offenen Zweig zu erreichen. Eine der vom Herausgeber der beiden Tagungsbände21, B. Sitter-Liver, formulierten Fragen dieser Veranstaltungen ist aus ägyptologischer Perspektive besonders interessant:

VOßKAMP (1982). HÖMKE ² BAUMBACH (2006). 19 siehe beispielsweise SAAGE (2005) 291²298. 20 KUON (1986) bes. 9²10. 21 SITTER-LIVER (2007a); SITTER-LIVER (2007b). 17 18

VORGESTELLTE ORTE UND UTOPISCHES DENKEN| 17 Å,Q $QVlW]HQ ZLUG JHSUIW RE 8WRSLH HLQH %HVRQGHUKHLW abendländischer Kultur darstelltµ22.

'LH ´)URQWHQµ EOLHEHQ OlQJHUIULVWLJ DOOHUGLQJV GHQ KRKHQ =LHOHQ zum Trotz bestehen. Ein Grund dafür kann meines Erachtens gerade darin liegen, dass es bislang nur eine vermeintliche Öffnung der Diskussion gegeben hat. Es wurde in der Tat nämlich nicht jedes Thema zu einem Utopie-Thema, wie P. Kuon einst beklagte, DOV HU VDJWH GHU %HJULII YHUNRPPH ]X ÅZLVVHQVFKDIWOLFKHP 0RGeschmuckµ23: Die Beschäftigung blieb nach wie vor auf Vorkommen innerhalb der abendländischen Tradition beschränkt.24 In der Regel stellten die von traditioneller Seite aus kritisierten Studien tatsächlich keine Prüfung der Vergleichbarkeit dar, sondern ihrerseits innerdisziplinäre Beschäftigungen mit Phänomenen, die oberflächlich betrachtet Parallelen zur Utopie aufweisen. Es muss daher festgestellt werden, dass die Frage, ob Utopie eine Besonderheit abendländischer Kultur darstelle, noch nicht zufriedenstellend EHDQWZRUWHWZHUGHQNRQQWH'LH´Ansätzeµ, von denen B. Sitter-Liver spricht, müssen zukünftig vertieft und ausgeweitet werden. Der %HJULII´8WRSLHµVROOWHGDEHLVHLQHQXUVSUQJOichen Zusammenhängen vorbehalten bleiben; im Vergleich mit 3KlQRPHQHQ GLH PLW HLQHP ´XWRSLVFKHQ 'HQNHQµ LQ 9HUELQGXQJ gebracht werden können, lassen sich dann auch die Besonderheiten erörtern.

UTOPISCHES DENKEN IM ALTEN ÄGYPTEN? Die altägyptische Literatur wurde, wie oben bereits angemerkt, innerhalb der Utopieforschung sehr vereinzelt und oberflächlich als Vergleich angesprochen; einzelne Passagen wurden von ägyptologischer Seite, ebenfalls selten, mit dem AdjHNWLY ´XWRSLVFKµ Eedacht.25 Insgesamt drei Texte begegneten mir auf diese Weise in

siehe das pdf-Dokument ´HLQOHLWXQJ-beat-sitter-liver.pdfµ DXI http://www.sagw.ch/de/sagw/oeffentlichkeitsarbeit/publikationen/ schriftenreihen/publis-koll-sagw.html (30.12.2009). 23 KUON (1986) 10. 24 Vgl. jüngst CARSANA ² SCHETTINO (2008). 25 LOPRIENO  ]X´6LQXKHµXQGGNIRS (2000) 126²127 mit Anm. 14 zu ´Der Beredte Bauerµ. 22

18| JANNE ARP der jeweiligen Literatur, die ich im Folgenden in aller Kürze vorstellen möchte. Im ´Schiffbrüchigenµ26 wird die Insel, auf der sich ein Gestrandeter wieder findet, als eine Art Schlaraffenland beschrieben. Allerdings verlässt der Seefahrer dieses Paradies, um wieder in den Genuss der Vorzüge der sozialen Eingebundenheit seiner Heimat Ägypten zu kommen. Parallelen mit Quellen anderer Zeiten und Orte lassen sich hier vor allem in dem Schiffbruchsmotiv selbst finden, aber auch in der Erzählweise, die keine Namen und keine weiteren Informationen gibt, jedoch einen sonderbaren Schwerpunkt auf Quantitäten setzt. In seinem Wesen sehr ähnlich zu dieser namenlosen und nach der Abreise des Gestrandeten nicht mehr existierenden Insel wird GDV´UHDOHµ3DOlVWLQD lJ\SWLVFK´«@ VRZLH GHU 2EMHNWYHURUWXQJµ verstanden, ferner dient er Åals Werkzeug der räumlichen Visualisierung von Artefakten.µ10 Räume spielen in der Archäologie demnach vor allem auf zwei Ebenen eine Rolle: bei den Grabungen und in der späteren Darstellung der Ergebnisse. Bei den Grabungen werden Schichten freigelegt, um anschließend die Funde in ein raumzeitliches Beziehungssystem zu stellen. Von diesem klassischen Tätigkeitsbereich der Feldarchäologie, bei der die Suchrichtung normalerweise in die räumliche (und abgeleitet davon: zeitliche) Tiefe geht, hebt sich die Siedlungs- oder Landschaftsarchäologie dadurch ab, dass sie großflächige Gebiete untersucht, also in die Breite geht und sich damit auch für Lagerelationen von Orten oder lokalisierten Objekten interessieren kann. Die zweite Ebene ist die der Darstellung: Hierbei werden die Lokalisierungen wie auch die räumlichen Verflechtungen der Funde entweder auf klassischen Karten oder mit Hilfe Geographischer und Archäologischer Informationssysteme dreidimensional, bisweilen sogar dynamisch, also in ihren zeitlichen Veränderungen dargestellt. Konzentrieren wir uns auf die erste Ebene und stellen ihr die im Zuge des spatial turn entstandenen Interessen und Fragestellungen gegenüber, so müssen wir allerdings feststellen, dass insbesondere die diskursiven Aspekte allein durch die archäologische Herangehensweise nicht abgedeckt werden können. Auch Fragen nach Raumwahrnehmungen und Raumaneignungen, nach den alltäglichen Regionsbildungen (der handelnden Subjekte), nach ephemeren Eigenräumen, die keine bleibenden Spuren hinterlassen haben, nach dem Verhältnis von realen und imaginierten Räumen u. a. m. sind damit schwer zu beantworten. Wenn die Siedlungsarchäologie ´Landschaftsräumeµ untersucht,11 so scheint sie prinzipiell ² ohne hier die neuere For10 11

LANG (2009) 30. LANG (2009) 31.

336 | SUSANNE RAU schung zu kennen ² dasselbe Problem zu haben, wie die historische (Kultur-)Landschaftsforschung oder die ältere Landesgeschichte, die ihre Landschaften bzw. Länder lange zu statisch erscheinen ließ bzw. die von einer Raum- oder Umweltdeterminiertheit von Gesellschaft, Kultur und Wirtschaft ausging. Um diese Probleme zu umgehen, müsste eine sehr klassisch arbeitende Archäologie hermeneutische bzw. kulturwissenschaftliche Ansätze integrieren, die sich vornehmlich auf Texte als Quellen, gegebenenfalls auch auf materielle Handlungsspuren stützen können müsste. Doch die disziplinäre Ausweitung müsste noch weiter gehen: Um die komplexe Gemengelage der Genese eines Ortes oder ´Landschaftsraumsµ und die Faktoren seiner (ständigen) Veränderung zu rekonstruieren, lässt sich nur fächerübergreifend arbeiten: durch die Zusammenarbeit von Archäologie, Geschichtswissenschaft (sofern es schriftliche oder mündliche Quellen gibt), Bildwissenschaft, Geologie, Chemie, historische Bauforschung und Umweltgeschichte. Man könnte es als Ironie der Geschichte bezeichnen, dass die Verstrickung der deutschen Geschichtswissenschaft und Geographie mit der Politik in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts dazu geführt hat (wenigstens seitdem eine Auseinandersetzung stattfinden konnte), sich schneller analytischen Ansätzen zu öffnen. Infolgedessen ist die Raumwende der Geschichtswissenschaft ² zumindest auf der Ebene der Methodenreflexion und der Absichtserklärungen ² heute um ein paar Grad weiter fortgeschritten als in der Archäologie, bei der freilich Raum Haupt-Objekt wie grundlegende Kategorie der Forschung ist und in der archäoinformatische Darstellungsmethoden schon längst zum Handwerkszeug gehören. Um nun zu der ersten Frage, die ich mir hier gestellt habe, zurückzukommen: Worin bestehen die disziplinären Unterschiede ² sei es in der Themenwahl, sei es in der methodischen Vorgehensweise ² zwischen Neuzeithistoriker/inne/n, die im Moment ebenfalls ihren spatial turn erleben und Altertumswissenschaftler/inne/n? Hierzu möchte ich zwei Beobachtungen formulieren. Zum einen beschäftigen sich Altertumswissenschaftler/innen nicht nur mit weit zurückliegenden Zeiträumen, für die viele Neuzeithistoriker/innen kaum ein Vorstellungsvermögen haben, sondern häufig auch mit sehr viel längeren Zeiträumen als die Neuzeithistoriker/innen. Obgleich es auch bei uns ² nicht zuletzt dank F. Braudel ² Überlegungen gibt, welche Strukturen über längere Zeiträume (longue durée) wirksam waren, würde man es nicht wagen, ja man

RÄUMLICHE DIMENSIONEN |337 würde sich dem Vorwurf des Dilettantismus· aussetzen, sich mit einem Zeitraum von tausend Jahren oder sogar ² wie in dem Beitrag von Andreas und Ute Effland ² mit einem Zeitraum von 2.700 Jahren zu beschäftigen.12 Der Dilettantismus-Vorwurf begründet sich darauf, dass wir davon ausgehen, dass sich schon innerhalb einer Generation (demographisch, ökonomisch, politisch, konfessionell, sozial- und berufsstrukturell etc.) in der Regel so viel ändert, dass dieselben Aussagen schon für eine Generation oder ein Lebensalter danach nicht mehr haltbar wären. Schon Kontinuitätsbehauptungen allein für eine nachchristliche Gesamtepoche (´das Mittelalterµ, ´die Frühe Neuzeitµ) gelten heutzutage schon kaum mehr als seriös. Meine zweite Beobachtung bezieht sich auf die verwendeten Quellen: Es liegt auf der Hand, dass die Neuzeithistoriker/innen mehr Schriftquellen benutzen können, weil seit dem 16. Jh. n. Chr. so viel geschrieben und gedruckt wurde, dass wir es ² sofern keine Bestandsverluste zu beklagen sind ² schon tendenziell mit einem Masseproblem zu tun haben; Altertumswissenschaftler stützen sich dagegen in der Regel eher auf die Gesamtheit der materiellen Hinterlassenschaft, untersuchen Gebrauchsspuren auf Objekten, ziehen chemische oder geologische Befunde heran; was die Schrift betrifft, stützen sie sich zunächst auf Inschriften (Epigraphik), des Weiteren auf Schriftrollen oder Papyri als Schriftträger. Diese Feststellungen sind weniger banal, als sie auf den ersten Blick erscheinen mögen, denn die möglichen Erkenntnisse in Bezug auf eine Fragestellung hängen durchaus von den Quellenarten ab, die zur Verfügung stehen bzw. die man bewusst auswählt. Und da sich Quellen nun einmal nicht erfinden lassen, lassen sich für schriftarme Zeiten/Räume eben bestimmte Fragen ² etwa zum Bereich diskursiver Aushandlungsprozesse ² nicht beantworten. Wo andererseits keine materiellen Hinterlassenschaften vorhanden sind oder wo sie nicht in die Analyse mit einbezogen werden, kann auch nur wenig über die Materialität der Räume oder den Zusammenhang von Materialität und Wahrnehmung bzw. Diskursivität gesagt werden. Hieraus ließe sich schon eine Empfehlung für uns 12 Ein neuerer Trend zu Großerzählungen zeichnet sich im Bereich der makrohistorisch angelegten Globalgeschichten ab; vgl. DARWIN (2010).

338 | SUSANNE RAU Historiker/innen ableiten: die Untersuchung der materialräumlichen Hinterlassenschaft historischer Gesellschaften nicht den Denkmalschützer/inne/n, Bauhistoriker/inne/n, Museumskurator/inne/n, Volkskundler/inne/n zu überlassen, sondern die materialisierten Raum-Spuren sowie die kulturellen Artefakte der Repräsentation von Räumen stärker einzubeziehen oder aber mit den Disziplinen, die sich mit materialisierten Räumlichkeiten beschäftigen, stärker zu kooperieren. Meine zweite Frage an die Texte betrifft die räumlichen Dimensionen, mit denen sich die Beiträge des vorliegenden e-Heftes beschäftigen. Da der call for papers keine engen geographischen und zeitlichen Vorgaben gemacht hatte und auch der thematische Zuschnitt mit ´Raumdimensionen im Altertumµ relativ weit formuliert wurde, ist das Spektrum der Beiträge, die recht unterschiedlichen Formates sind, entsprechend breit. Ich möchte daher einige Leitlinien formulieren, die mir bei der Lektüre aufgefallen sind: diese betreffen Raumrepräsentationen, die Relationalität von Räumen, Raumnutzungen (gelebte Räume, Interaktionsräume, agency) und Raumsemantiken. Raumrepräsentationen spielen in mehreren Beiträgen eine Rolle. Auch wenn es nicht immer explizit gesagt wird, so zeigt die Entscheidung für eine solche Themenwahl ² die von mentalen Vorstellungen bis zu ikonographischen Repräsentationen reichen können ², dass die wichtige Bedeutung dieser Ebene erkannt wurde. Raumrepräsentationen erzählen uns immer etwas über die Wünsche der historischen Gesellschaften. Folgen wir H. Lefebvre, so können sie im Grunde nicht von den Raumpraktiken getrennt werden, da sie diese anleiten und vorstrukturieren.13 So untersucht Janne Arp den doppelten Verweis auf diesseitige Raumstrukturen und jenseitige Vorstellungen in den Wanddekorationen der Feldfassadengräber von Amarna (Ägypten). Sie widmet sich damit generell der gesellschaftlichen Notwendigkeit vorgestellter Orte und leistet dadurch einen Beitrag zu einer altertumswissenschaftlichen Utopieforschung. Um Jenseitsvorstellungen geht es auch in dem Beitrag von Anika Greve, die Grabhöfe an drei ausgewählten Orten in Ägypten, Libyen und Zypern untersucht. Funde und Ge13

LEFEBVRE (2000).

RÄUMLICHE DIMENSIONEN |339 brauchsspuren lassen sie Interaktionsräume, Jenseitsvorstellungen sowie Mysterien- und Grabkulte rekonstruieren, die lokal unterschiedlich waren, nirgendwo aber auf eine negative Einstellung zum Leben nach dem Tod schließen lassen. Auf die Relationalität von Räumen macht der Beitrag von Anastasia Christophilopoulou aufmerksam. Die soziologische Formel, dass der Raum das Resultat von Anordnungsprozessen (spacing) ist, dreht sie um zu der archäologischen Formel, dass Raumstrukturen Rückschlüsse auf historische Gesellschaften und das Handeln der Menschen ermöglichen. Die Parameter ihrer Analyse von Haushalten aus der späten Eisenzeit sind Größe, Anordnungen, Vorhandensein eines Lagerraums und symbolische Dimension, womit sie materielle, funktionale, zeitliche und symbolische Aspekte zusammenbringt (und auf jeder Ebene, soweit möglich, gender-Aspekte mitberücksichtigt). Ausgehend von ihrem Untersuchungsraum, der Inselwelt der Ägäis, fragt sie, ob die Insularität nicht eine spezifische Form der Identität und der räumlichen Arrangements hervorgebracht habe. Unterschiedliche Formen von Raumnutzungen, die sich immer auch institutionalisieren können, schließen mehrere Autor/inn/en in ihre Betrachtungen ein. Ging schon Anika Greve auf den Zusammengang von Architektur, Nutzung und Bedeutung von Räumen ein, findet sich auch bei Wiebke Friese der Ansatz, dass Architektur ein erfahrbarer Raum sei. Im Zusammenhang mit religiösen Ritualen (an Orakelstätten) orientiere die Architektur den Ritualablauf, gebe z. B. den Prozessionsweg vor und beeinflusse damit das Ritualerlebnis. Doch ist diese Beeinflussung keineswegs einseitig: Die Orte der Kulte, die somatisch und spirituell erfahren werden, wandelten sich auch in dem Maße wie die Klienten andere Ansprüche formulierten, etwa häufiger überrascht und stärker ergriffen zu werden - ein schönes Beispiel für den Zusammenhang von Körper/Erfahrung und Raum/Gestaltung. Weniger die Erfahrungs- als die Nutzungsdimensionen von Königsgräbern untersuchten Andreas und Ute Effland. Ihnen geht es zum einen um die religiöse Gesamttopographie, hier insbesondere um die Rekonstruktion der Prozessionsstrecken, zum anderen aber auch um das Kultgeschehen am Osirisgrab auf Grundlage der dort deponierten

340 | SUSANNE RAU Objekte. Es erscheint allerdings befremdlich, dass in keinem der Beiträge zu religiös genutzten Räumen der Begriff religiöser/sakraler Raum definiert wird.14 Ein interessanter Ansatz dazu findet sich in dem Beitrag von Julian Buchmann über die Kultorte im Vorderen Orient in hellenistisch-römischer Zeit. Offenbar konnten manche Kultorte nicht einer bestimmten Gottheit zugeordnet werden, weil es eine Rolle spielte, welche Bedeutung die Besucher des Heiligtums in den Kultort ´hineingelesenµ haben. Eine von den Raumnutzern abhängige Funktion und Definition der Orte führte nicht nur zu einem Nebeneinander verschiedener Kultorte (für unterschiedliche Klientele), sondern muss eigentlich zwangsläufig auch zu einer Art Doppelleben der Götter geführt haben, die an mehreren Orten verehrt werden konnten. Zum Thema der Raumnutzung gehört immer wieder auch der Aspekt der Multifunktionalität von Orten/Räumen. Jan-Peter Graeff verdeutlicht dies an dem schönen Beispiel der Mauern des Tempels von Edfu. Dort dienten Mauern als materielles Objekt, also der Abgrenzung nach außen, aber auch der magischen Abwehr schädlicher Einflüsse. Die auf ihnen angebrachten Texte und Bilder eröffnen eine weitere funktionale Dimension, nämlich die der schriftlichen bzw. visuellen Kommunikation. Was man mit Räumen tun kann, lässt sich gewöhnlich nur dann beschreiben, wenn eine soziale Gemeinschaft auch die entsprechende Sprache, also das Raum-Vokabular dazu hat. Der linguistische Beitrag von Carlos Gracia Zamacona erscheint etwas losgelöst von den anderen Beiträgen, doch macht er mit seiner strukturalistischen Analyse der räumlichen Attribute von Bewegungsverben im Mittelägyptischen auf der Basis von Sargtexten etwas vor, was viele Raumanalysen systematisch mit einbeziehen könnten: die Untersuchung einer der wesentlichen Voraussetzungen für das Sprechen und Denken über Räume, nämlich des räumlichen Vokabulars und der räumlichen Semantiken. Insgesamt kommt Gracia Zamacona in seiner Untersuchung auf zwölf räumliche Funktionen von Verben, die entweder Positionen oder Ortsveränderungen angeben.

14

Vgl. dazu die Diskussion in RAU (2008).

RÄUMLICHE DIMENSIONEN |341 Auffällig ist schließlich auch noch, dass zeitgenössische Raumkonzeptionen, etwa der antiken Philosophen, in den Beiträgen kaum thematisiert werden. Sehr viel stärker geht es um agency. Und auf Raumtheorien der Neuzeit oder der Gegenwart wird noch weniger Bezug genommen. So werden außer in der Einleitung der Herausgeberinnen, die auf die Geographen M. Crang, N. Thrift und E. Soja sowie den deutschen Soziologen M. Schroer verweisen, einzig in dem Beitrag von Anastasia Christophilopoulou als ´social space theoristsµ ² T. M. Ciolek und C. A. Doxiadis - erwähnt. Doxiadis jedoch ist Siedlungsarchäologe und hat in den 1960er Jahren ein Modell für Siedlungsmuster entwickelt; und Ciolek, auch für seine GIS-basierten Karten bekannt, wird wegen seiner Überlegungen zur symbolischen Funktion von eisenzeitlichen Häusern bzw. der sequentiellen Anordnung von Räumen zitiert. Dass damit nicht gerade eine starke Theoriefront aufgebaut werden kann, muss nicht per se als Makel gewertet werden. Allein für eine interdisziplinäre, epochenübergreifende Debatte wäre es sinnvoll, einige Leitfragen zu formulieren; und dies würde ohne Systematik und etwas Theorie wohl kaum möglich sein. Auch die Wahrnehmung und Erfassung geographischer Räume in der Antike ² inklusive der neueren Studien zur antiken Kartographie ² hätten noch einbezogen werden können.15 Doch auch dieses Desiderat ist ja nur ein weiteres Zeichen dafür, dass es im Bereich der Räumlichkeiten noch Stoff zum Denken und zum Forschen gibt. Insofern ist dieses e-Heft ein wunderbarer Anstoß. PROF. DR. SUSANNE RAU Universität Erfurt, Germany www.uni-erfurt.de/geschichte/geschichte-der-raeume

15

RATHMANN (2007); BRODERSEN (1995).

342 | SUSANNE RAU

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