Montesquieu: Franzose - Europäer - Weltbürger
 305004165X, 9783050041650

Table of contents :
Inhalt
Einleitung der Herausgeber
OUVERTURE
Eröffnung des Symposions durch den Präsidenten der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften
Grußwort der Staatssekretärin für Kultur
Ansprache des Französischen Botschafters
MONTESQUIEU: SEINE ZEIT, SEIN LEBEN, SEIN WERK
Montesquieu auf der Suche nach Aufklärung
NATUR, NATURRECHT, RECHT
Natur als Gesetzgeberin und Natur als Erfahrung bei Montesquieu und Max Weber
Gewaltenteilung heute
DILEMMATA MODERNER DEMOKRATIEN
Montesquieu und die Stabilität der deutschen Demokratie
Zwischen Partikularismen und universalen Werten: Das Schicksal der providentiellen Demokratien
Neues vom Imperium. Reflexionen in Anschluß an Montesquieu
Individuum und Weltgesellschaft: Handlungsmöglichkeiten für Individuen in einem globalen Gesellschaftssystem
MONTESQUIEUS Lettres persanes
Montesquieus Lettres persanes in Deutschland - Zur europäischen Erfolgsgeschichte eines literarischen Musters
Lettres berlinoises sur la France - Französische Briefe über Deutschland
»Typisch deutsch? Typiquement français?« Uber die Halbwertzeit kultureller Vorurteile Ein Streitgespräch
DOKUMENTE
Montesquieu und die Académie Royale des Sciences et Belles-Lettres de Prusse
Protokoll der Akademiesitzung vom 30. Juni 1746 über die Zuwahl von Montesquieu als Auswärtiges Mitglied der Académie Royale des Sciences et Belles-Lettres de Prusse
Mitgliedsdiplom für Montesquieu als Auswärtiges Mitglied der Académie Royale des Sciences et Belles-Lettres de Prusse vom 4. Februar 1747
MONTESQUIEU. Brief an Jean Henri Samuel Formey vom 3. Juni 1747
Protokoll der Akademiesitzung am 15. Juni 1747, in der das Dankschreiben von Montesquieu anläßlich seiner Aufnahme in die Berliner Akademie der Wissenschaften verlesen wurde
MONTESQUIEU.Brief an Pierre-Louis de Maupertuis von Ende Juni 1747
Bronzemedaille Montesquieus von 1753 von J. A. Dassier
MONTESQUIEU. Brief an Pierre-Louis Moreau de Maupertuis vom 26. Januar 1754
Protokoll der öffentlichen Akademiesitzung am 5. Juni 1755, auf welcher Akademiepräsident Maupertuis die Gedenkrede auf Montesquieu hielt
Herrn de Montesquieu zum Lobe
Montesquieus Betrachtungen über die universale Monarchie in Europa Eine Einführung
MONTESQUIEU. Betrachtungen über die universale Monarchie in Europa
ANHANG
Auswahlbibliographie
Quellen- und Abbildungsverzeichnis
Autorenverzeichnis
Personenregister

Citation preview

Effi Böhlke/Etienne François (Hrsg.) MONTESQUIEU

Franzose - Europäer - Weltbürger

BERLIN-BRANDENBURGISCHE AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN

MONTESQUIEU Franzose - Europäer — Weltbürger Im Auftrag der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften herausgegeben von Effi Böhlke und Etienne François

Akademie Verlag

Einbandgestaltung unter Verwendung von: Charles Louis de Secondât, baron de la Brède et de Montesquieu, (nach dem Stich von B. L. Henriquez), Archiv der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften

ISBN 3-05-004165-X © Akademie Verlag G m b H , Berlin 2005 Das eingesetzte Papier ist alterungsbeständig nach DIN/ISO 9706. Alle Rechte, insbesondere die der Übersetzung in andere Sprachen, vorbehalten. Kein Teil dieses Buches darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages in irgendeiner Form - durch Photokopie, Mikroverfilmung oder irgendein anderes Verfahren - reproduziert oder in eine von Maschinen, insbesondere von Datenverarbeitungsmaschinen, verwendbare Sprache übertragen oder übersetzt werden. Lektorat: Mischka Dammaschke Satz: Martin Eberhardt, Berlin Einbandgestaltung: Ingo Scheffler, Berlin Druck und Bindung: Druckhaus »Thomas Müntzer«, Bad Langensalza Printed in the Federal Republic of Germany

Inhalt

Einleitung der Herausgeber

5 OUVERTURE

Eröffnung des Symposions durch den Präsidenten der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Dieter Simon

13

Grußwort der Staatssekretärin fur Kultur, Barbara Kisseler

17

Ansprache des Französischen Botschafters, Claude Martin

19

MONTESQUIEU: SEINE ZEIT, SEIN LEBEN, SEIN WERK JEAN LACOUTURE

Montesquieu auf der Suche nach Aufklärung

23

NATUR, NATURRECHT, RECHT JOACHIM RADKAU

Natur als Gesetzgeberin und Natur als Erfahrung bei Montesquieu und Max Weber

37

REGINA OGOREK

Gewaltenteilung heute

57

DILEMMATA MODERNER DEMOKRATIEN GESINE SCHWAN

Montesquieu und die Stabilität der deutschen Demokratie

73

DOMINIQUE SCHNAPPER

Zwischen Partikularismen und universalen Werten: Das Schicksal der providentiellen Demokratien

83

2

INHALT

STAAT, IMPERIUM, WELTGESELLSCHAFT HERFRIED MÜNKLER

Neues vom Imperium. Reflexionen in Anschluß an Montesquieu

97

RUDOLF STICHWEH

Individuum und Weltgesellschaft: Handlungsmöglichkeiten fur Individuen in einem globalen Gesellschaftssystem

MONTESQUIEU^

117

Lettres persanes

ROBERT CHARLIER

Montesquieus Lettres persanes in Deutschland Zur europäischen Erfolgsgeschichte eines literarischen Musters

131

BIRGIT FENNER

Lettres berlinoises sur la France - Französische Briefe über Deutschland

155

BÉATRICE D U R A N D

»Typisch deutsch? Typiquement français?« Über die Halbwertzeit kultureller Vorurteile. Ein Streitgespräch

165

DOKUMENTE EFFI BÖHLKE, WOLFGANG KNOBLOCH

Montesquieu und die Académie Royale des Sciences et Belles-Lettres

175

Protokoll der Akademiesitzung vom 30. Juni 1746 über die Zuwahl von Montesquieu als Auswärtiges Mitglied der Académie Royale des Sciences et Belles-Lettres de Prusse

183

Mitgliedsdiplom für Montesquieu als Auswärtiges Mitglied der Académie Royale des Sciences et Belles-Lettres de Prusse vom 4. Februar 1747 . . . . 184 MONTESQUIEU

Brief an Jean Henri Samuel Formey vom 3. Juni 1747

186

Protokoll der Akademiesitzung am 15. Juni 1747, in der das Dankschreiben von Montesquieu anläßlich seiner Aufnahme in die Berliner Akademie der Wissenschaften verlesen wurde

191

MONTESQUIEU

Brief an Pierre-Louis de Maupertuis von Ende Juni 1747

192

Bronzemedaille Montesquieus von 1753 von J. A. Dassier

196

3

INHALT

MONTESQUIEU

Brief an Pierre-Louis Moreau de Maupertuis vom 26. Januar 1754

197

Protokoll der öffentlichen Akademiesitzung am 5. Juni 1755, auf welcher Akademiepräsident Maupertuis die Gedenkrede auf Montesquieu hielt

200

PIERRE-LOUIS M O R E A U DE MAUPERTUIS

Herrn de Montesquieu zum Lobe. Gedenkrede Maupertuis' auf Montesquieu vom 5. Juni 1755

203

E F F I BÖHLKE

Montesquieus Betrachtungen über die universale Monarchie in Europa. Eine Einführung

219

MONTESQUIEU

Betrachtungen über die universale Monarchie in Europa

225

ANHANG Auswahlbibliographie

241

Quellen- und Abbildungsverzeichnis

253

Autorenverzeichnis

255

Personenregister

257

Einleitung der Herausgeber

»Wenn ich etwas wüßte, was mir nützen, meiner Familie aber schaden würde, würde ich es aus meinem Geist verbannen. Wenn ich etwas wüßte, was meiner Familie nützen, meinem Vaterland aber schaden würde, würde ich versuchen, es zu vergessen. Wenn ich etwas fur mein Vaterland Nützliches wüßte, wodurch Europa Schaden leiden würde, oder etwas, was Europa nützen und dem Menschengeschlecht schaden würde, käme es mir wie ein Verbrechen vor.« 1

Montesquieus »Gedanke« bringt seine weltbürgerliche Haltung zum Ausdruck, die kein leerer Kosmopolitismus war: Gebürtiger Franzose, dem Bordelaiser Adel entstammend, ist er seiner Heimat aufs engste verbunden und doch dem Wohl und Wehe Europas gegenüber aufgeschlossen, ja, er fühlt sich fur die Belange der gesamten Menschheit verantwordich. Was heute oftmals auseinanderzufallen droht - die Bindung an die eigene Nation, der Bezug auf ein geeintes Europa, und, unter den Bedingungen wachsender Globalisierung, das globale Dasein - all diese Bindungen und Bezüge hat er zu vereinen versucht und vermocht, und zwar in seiner Vita und in seinem Werk. In ebensolcher Weise vermochte er, die Vita activa und die Vita contemplativa in Einklang miteinander zu bringen. Wurde er einerseits durch seine Schriften zu einem der bekanntesten Autoren des 18. Jahrhunderts - erwähnt seien hier nur die nach wie vor vergnüglich zu lesenden Lettres persanes (1721), die eher historische Abhandlung Considérations sur les causes de la grandeur des Romains et de leur décadence (1734) und sein Lebenswerk De l'Esprit des lois (1748) - , so wirkte er andererseits als Richter am Parlament von Bordeaux auf die juristisch-politischen Belange seiner Heimatregion mit ein und trat als Mitglied der Akademie der Wissenschaften von Bordeaux mit Abhandlungen über die unterschiedlichsten Themen aus Natur- und Geisteswissenschaften hervor. All das verschaffte ihm Einblick in das praktisch-politische Leben und Überblick über den neuesten Stand der Wissenschaftsentwicklung - beides wesentliche Voraussetzungen für das Verfassen seiner sehr konkreten, lebendig wirkenden Schriften.

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Montesquieu: Meine Gedanken, S. 128.

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E I N L E I T U N G DER H E R A U S G E B E R

In diesen legt Montesquieu eine umfassende Weltsicht vor. Da er seine Werke noch vor der Herausbildung der modernen Wissenschaftsdisziplinen verfaßt, tragen sie universalen Charakter. Daher können sich ganz unterschiedliche Sozial- und Geisteswissenschaften auf ihn als einen Klassiker, Vorläufer oder Gründervater berufen. Seien es Philosophen, Politikwissenschaftler, Historiker, Soziologen, Juristen, Ethnologen - sie alle beziehen sich, und zwar seit dem 18. Jahrhundert und bis heute, auf Montesquieu, indem sie unterschiedliche Seiten und Theoreme seines umfassenden Œuvres akzentuieren und in ihrer spezifischen Perspektive weiterentwickeln.2 So etwa greifen Johann Gottfried Herder und Georg Wilhelm Friedrich Hegel Montesquieus Begriff des »esprit« bzw. des »esprit de nation« auf und integrieren diesen in ihre Vorstellungen von Geschichte respektive Weltgeschichte, bis später Wilhelm Dilthey, unter explizitem Rückgriff auf Montesquieu, das Konzept der »Geisteswissenschaften« formuliert. Die deutschen Polizeywissenschaften des 18. Jahrhunderts, Vorläuferinnen der modernen Politikwissenschaften, sind ohne Montesquieu undenkbar: Schriften von Johann Heinrich Gottlob von Justi und Johann Heumann von Teutschenbrunn lesen sich zunächst wie ein Exzerpt aus De l'Esprit des lois, versehen mit den Marginalien der »Autoren«. Die deutsche historische Rechtsschule um Savigny wiederum entlehnt bei Montesquieu die Vorstellung von der Bezogenheit rechtlich-politischer Institutionen auf die in einer Gesellschaft gegebenen Sitten, Gebräuche und Gewohnheiten und leitet daraus deren notwendige Historizität ab. Auguste Comte und, in seiner Nachfolge, Emile Durkheim und Raymond Aron hingegen sehen in Montesquieu einen Vorläufer der modernen Soziologie, da er die Gesetzmäßigkeiten von Gesellschaften aufzudecken suchte, wenngleich er den Fortschrittsoptimismus des 18./19. Jahrhunderts nicht teilte. Diese Liste ließe sich verlängern. Doch auch in der schöngeistigen Literatur hat er seine Spuren hinterlassen. So haben seine Lettres persanes das Genre des Brief- und Reiseromans nachhaltig geprägt und sind in der Folge zum Muster fur das Verfassen weiterer derartiger Romane avanciert. Rezipiert wurde und wird Montesquieu in unterschiedlichen Nationen. Sei es in seiner Heimat selbst, die allerdings stets ein etwas gebrochenes Verhältnis zu ihm hatte,3 oder in dem von ihm bewunderten England, das ihm diese Bewunderung mit hoher Anerkennung vergalt; sei es in Preußen-Deutschland, wo Friedrich II. einer seiner größten Bewunderer war, seine Werke las und mit Anmerkungen versah und ihn im Jahre 1747 zum auswärtigen Mitglied der Académie Royale des Sciences et Belles-Lettres, der Vorläuferin der heutigen Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, ernennen ließ, oder in Rußland, wo Katharina II. seit 1765 an einer Instruktion für die zur Verfertigung des Entwurfs zu einem neuen Gesetzbuche verordnete Kommission arbeitete und sich dabei auf Montesquieus

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Ausfuhrlicher zur Rezeptionsgeschichte Montesquieus vgl. Böhlke, Effi: »Esprit de nation«. M o n t e s quieus politische Philosophie, insbesondere Abschnitt II. 5. »Rezeptionslinien des »Esprit«-Konzepts i m 18. u n d 19. Jahrhundert«, S. 9 8 - 1 1 8 .

3

Deutliches Z e i c h e n dessen: Wenngleich Montesquieu die Vorstellungen u n d das H a n d e l n der Akteure der Französischen Revolution genauso tief geprägt hat wie Voltaire u n d Rousseau - u n d letzterer ohne M o n t e s q u i e u gar nicht zu denken ist - , hat er, im Unterschied zu den beiden, keinen Platz im Panthéon gefunden.

E I N L E I T U N G DER H E R A U S G E B E R

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De l'Esprit des lois als theoretischen Basistext bezog. Schließlich sei hier noch auf die USA verwiesen, wo, im Kontext der Debatten um die amerikanische Verfassung, sich insbesondere die Autoren der Federalist papers immer wieder auf Montesquieus Vorstellungen von Gewaltenteilung und Demokratie beriefen. Auf diese Weise ist Montesquieu nicht nur in die moderne Wissenschaftslandschaft eingegangen, sondern ebensosehr in die Welt der Politik. Doch auch hier sind es ganz unterschiedliche politische Lager, die ihn für sich reklamieren. Gilt er, wegen des auch von ihm favorisierten Prinzips der »distribution des pouvoirs«, gemeinsam mit John Locke als Klassiker des modernen Liberalismus, so berufen sich Anfang des 19. Jahrhunderts konservative Autoren wie Louis de Bonald und Joseph de Maistre auf seine Vorstellungen von Monarchie. Uber Alexis de Tocqueville und Hannah Arendt sind seine Kritik der Gewalt und die Betonung der Notwendigkeit von »pouvoirs intermédiaires« eingeflossen in die Auseinandersetzung mit Phänomenen der modernen Massendemokratien und des Totalitarismus, und die »Zwischengewalten« finden sich schließlich wieder im heutigen Kommunitarismus, etwa bei Michael Walzer. Doch wie aktuell ist ein Autor tatsächlich, der seine Schriften in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts verfaßte? Wie kann zu Beginn des 21. Jahrhunderts, unter stark veränderten sozialhistorischen Bedingungen also, sein Gedankengut operationalisiert werden? Wo liegen, kurz gesagt, sowohl die Potenzen als auch die Grenzen des Arbeitens mit Montesquieu heute? Die Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften nahm den 250. Todestag von Charles Louis de Secondât, baron de La Brède et de Montesquieu zum Anlaß, diese Fragen an sein Œuvre zu richten. Vom 9. bis 11. Februar 2005 veranstaltete sie unter dem Titel »Montesquieu: Franzose — Europäer — Weltbürger« ein deutsch-französisches Symposium, das den wissenschaftlichen Dialog und die künstlerische Darbietung integrierte und die Perspektiven der jüngeren Generation mit einbezog. Eröffnet wurde das Symposium durch den Präsidenten der Akademie, Dieter Simon. Er nahm auf die guten Beziehungen Montesquieus zum damaligen Präsidenten der Berliner Akademie, Maupertuis, Bezug, die sich unter anderem aus der gemeinsamen Gegnerschaft zu Voltaire erklären läßt. Die Kulturstaatssekretärin des Landes Berlin, Barbara Kisseler, hob Montesquieus enge Verbindung von Vita activa und Vita contemplativa, die dieser in Anlehnung an Cicero pflegte, als noch fìir heute vorbildlich hervor. Der Botschafter der Republik Frankreich in Deutschland, Claude Martin, wiederum befaßte sich mit dem facettenreichen, zwischen Amüsiertheit, Bewunderung und Kritik changierenden Deutschlandbild seines Landmanns. Den einfuhrenden Festvortrag hielt der französische Publizist Jean Lacouture (Paris), der im übrigen, ebenso wie Montesquieu, aus Bordeaux stammt. Er fragte, wie denn der wohlsituierte Sprößling des Bordelaiser Adels zu einem der härtesten Kritiker seiner Heimat werden konnte, und suchte Antworten darauf in einem ausgeprägten, durch das absolutistische Versailles jedoch vielfältig behinderten Freiheitsstreben. Probleme der heutigen Demokratien thematisierten Gesine Schwan (Frankfurt/Oder) und die französische Soziologin Dominique Schnapper (Paris). Gesine Schwan griff Mon-

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tesquieus Konzept von Natur und Prinzip einer Regierung auf und beleuchtete so die sittlichen Grundlagen der heutigen deutschen Demokratie. Sie konstatierte einen Mangel an sozialem Konsens, an »Liebe zur Demokratie« und Engagement für das Gemeinwohl. Zwar würden damit die demokratischen Institutionen der Bundesrepublik nicht ernsthaft gefährdet, dennoch machte sie hiermit auf ein gewisses in den demokratischen Bindungen der Bevölkerung aus. Dominique Schnapper, selber Mitglied des französischen conseil constitutionnel, hingegen verwendete Montesquieus Begriff der »extremen Demokratie«, um auf Selbstgefährdungen moderner »providentieller Demokratien« durch den ihnen inhärenten Drang zu Wohlstand und Gleichmacherei aufmerksam zu machen. Herfried Münkler (Berlin) untersuchte die Anschlußfähigkeit von Montesquieus Imperien-Kritik für die Analyse heutiger Phänomene, wie etwa der USA oder der Europäischen Union. Aus seiner antiimperialen Haltung heraus habe dieser Imperien a priori als dekadent bezeichnet und so ihre Möglichkeiten und Zukunftsfähigkeit übersehen. Regina Ogorek (Frankfurt/Main) thematisierte das Gewaltenteilungsprinzip und betonte, daß Montesquieu dieses nicht auf die Demokratie, sondern auf die konstitutionelle Monarchie bezog. Zudem: Zwar hätten die Verfasser des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland dieses Prinzip beherzt, doch die Verfassungswirklichkeit habe mit demselben weitaus weniger zu tun. Auf den oftmals als »Klimadeterminismus« kritisierten Topos der Bedingtheit sozialer Prozesse durch die natürliche Umwelt bei Montesquieu verwies Joachim Radkau (Bielefeld). Vor dem Hintergrund heutiger ökologischer Debatten ist die etwa im Esprit des lois nachvollziehbare Relation zwischen Lage und Klima einer Gesellschaft, dem in ihr herrschenden »esprit« und ihren politischen Institutionen durchaus neu zu bewerten. Rudolf Stichweh (Bielefeld) stellte die These auf, daß entgegen allem Anschein die Spielräume individuellen Handelns im Zeitalter der Globalisierung zugenommen haben. Institutionen in Wirtschaft, Politik und Kultur seien mehr denn je auf das Engagement des Einzelnen angewiesen. Ein Gravitationspunkt des Symposiums am Gendarmenmarkt waren die Lettres persanes. Akzentuierte Robert Charlier (Berlin) die Bedeutung von Montesquieus satirischem Bestseller für das Genre des Brief- und Reiseromans, so verlasen Schüler des Lycée International (Saint-Germain en Laye bei Paris) und des Französischen Gymnasiums (Berlin) selbstverfaßte Briefe über wechselseitige Vorurteile von Deutschen und Franzosen und debattierten anschließend über das Funktionieren stereotyper Wahrnehmungen. Die Veranstaltung klang in einer szenischen Lesung der Lettres persanes in der Bearbeitung von Sibylle Lewitscharoff aus. Als Darsteller wirkten mit: Kathrin Angerer, Gerd Wameling, Steffen Roll und Hanns Zischler. Das Resümee der Veranstaltung, die mit diesem Band dokumentiert werden soll, lautet: Montesquieu, dieser »philosophe« des 18. Jahrhunderts, ist von zuweilen erstaunlicher Aktualität. Jedoch: Seine Ideen müssen konkretisiert, präzisiert, modernisiert werden. Arbeiten heute mit Montesquieu heißt nicht, ihn einfach zu reproduzieren, sondern ihn produktiv weiterzuentwickeln. Die Konferenzbeiträge werden ergänzt durch Dokumente, die Montesquieus Beziehungen zur Berliner Akademie bezeugen, wie seine Ernennungsurkunde, Briefe an Maupertuis sowie die Gedenkrede, die letzterer nach Montesquieus Tod hielt. Beigefügt ist zudem eine

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deutsche Neuübersetzung von Montesquieus Schrift Réflexions sur la monarchie universelle en Europe, die, gerade was die Imperiumsproblematik anbelangt, sehr zentral und sehr aktuell ist. Die Veranstaltung wurde durch die Stiftung Deutsche Klassenlotterie Berlin und das Büro fiir Hochschulangelegenheiten bei der Kulturabteilung der Französischen Botschaft gefördert. Ihnen sei herzlich gedankt. Ebensosehr möchten sich die Herausgeber auf diesem Wege bei allen an der Vorbereitung der Tagung wie auch an der Erstellung des Bandes beteiligten Personen bedanken, insbesondere bei Martin Eberhardt, Freia Härtung, Wolfgang Knobloch, Gisela Lerch, Michael Vallo und Joachim Wilke. Effi Böhlke und Etienne François

Literatur Böhlke, Effi: »Esprit de nation«. Montesquieus politische Philosophie. Berlin 1999. Montesquieu: Meine Gedanken. Mes pensées. Aufzeichnungen. Auswahl, Übersetzung und Nachwort von Henning Ritter. München und Wien 2000.

OUVERTURE

Eröffnung des Symposions durch den Präsidenten der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Dieter Simon

Frau Staatssekretärin! Herr Botschafter! Meine Damen und Herren! Nur wenige von Ihnen werden Gelegenheit gehabt haben, als Beobachter an deutschen juristischen Staatsexamen teilzunehmen. Wäre das der Fall gewesen, dann könnten Sie aus eigener Erfahrung beglaubigen, daß es von den vielen großen Namen, die diese Akademie in ihren Registern fuhrt, nur einen einzigen gibt, der mit größter Regelmäßigkeit, schon fast mechanisch, an diesen Orten des Leidens auftaucht: Charles de Secondât, baron de la Brède et de Montesquieu. Wobei ich mich beeile hinzu zu setzen, daß der vollständige Name, selbst unter den Prüfern, weitgehend unbekannt sein dürfte. Unsere Ikone der Gewaltenteilung heißt schlicht »Montesquieu«, und als solche muß sie immer dort zitiert werden, wo Juristen und andere über demokratische Prinzipien reden oder geprüft werden. Wie sich die politische Realität zu den Ideen unseres, morgen vor 250 Jahren gestorbenen Mitgliedes verhält - dazu konnten Sie im Spiegel und in der Zeit in den letzten Tagen schon einiges lesen. Weiteres und Tieferes wird, wie ich vermute, von diesem Symposion beigetragen werden. Im übrigen haben wir das Symposion organisiert, weil wir den Todestag als willkommenen Anlaß nahmen, um über die Gegenwartsbedeutung des großen Franzosen nachzudenken - und nicht etwa deshalb, weil wir fur ein verdientes Mitglied ein Erinnerungszeichen setzen wollten. Denn, das muß umstandslos eingeräumt werden: Unter dem Gesichtspunkt »engagiertes Mitglied« war Montesquieu zu seinen Lebzeiten für die Akademie nur von bescheidenem Gewinn. Präsident Maupertuis, 1746 von Friedrich dem Großen berufen, schlug noch im gleichen Jahr Montesquieu für die Aufnahme in diese Akademie vor — sie hieß damals übrigens noch: Académie Royale des Sciences et Belles-Lettres de Prusse. Montesquieu wurde (zum auswärtigen Mitglied) gewählt und bedankte sich mit zeitgemäßer Höflichkeit und leichtem Überschwang fur die »grenzenlose Ehre«, die ihm mit dieser Wahl widerfahren sei.

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DIETER SIMON

Ich zitiere: »Mein sehr lieber und berühmter Herr Kollege, [ . . . ] « - schreibt er an Maupertuis - »Ich könnte Ihnen nicht sagen, mit welchem Respekt, mit welchen Gefühlen der Erkenntlichkeit und, wenn ich das zu sagen wage, mit welcher Freude ich aus Ihrem Brief die Nachricht erfahre, daß die Akademie mir die Ehre erweist, mich zu einem ihrer Mitglieder zu ernennen. [...] Wenn Sie bei irgendeinem Gespräch mit dem König von meiner Erkenntlichkeit reden könnten und dies gelegen sein sollte, bitte ich Sie, das zu tun. Ich habe diesem großen Fürsten nur Bewunderung zu bieten, und auch darin habe ich nichts, was mich irgendwie von den anderen Menschen unterscheiden könnte.«1 Solche Formen gibt es heute - leider - nicht mehr. Was es aber - wiederum zu meinem Bedauern - immer noch gibt, ist eine Anschlußhaltung, die die eilig in Aussicht gestellte »Empfänglichkeit wie auch Erkenntlichkeit« unter raschem Vergessen sichtbar vergilben läßt. Das soll heißen: Weder hat Montesquieu in den Jahren seiner auswärtigen Mitgliedschaft jemals eine wissenschaftliche Schrift eingesandt, noch hat er irgendwann einmal eine Reise nach Berlin unternommen. Ob dafür, wie er selbst angab, sein Augenleiden verantwortlich war, das ihn furchten ließ, überall hinzufallen, sich zu verletzen und niemanden, einschließlich des Königs von Preußen, zu erkennen, oder ob (wie Montesquieus Biograph behauptet) ihn die Absicht leitete, seine ganzen Kräfte und Fähigkeiten der Fertigstellung seiner Schrift De l'Esprit des bis zu widmen, kann man gewiß auf sich beruhen lassen, denn jede der beiden Rechtfertigungen bedürfte keiner Entschuldigung. Jedenfalls hat die Akademie den, den sie in diesen Tagen feiert, niemals zu Gesicht bekommen. Das hat sie ihm aber schon seinerzeit nicht übel genommen. Maupertuis, der am 5. Juni 1755 (wir würden heute sagen: am Leibniztag der Akademie) seine bekannte Gedenkrede (Eloge de Monsieur de Montesquieu) hielt, verteidigte nachdrücklich den seinerzeit vielfach kritisierten Esprit des lois: »Ein ewiger Schandfleck fur die Literatur bleibt die Vielzahl der gegen den Esprit des lois veröffentlichten Kritiken. Er wurde fast immer ungerecht, aber zuweilen auch unanständig angegriffen. [...] Herr de Montesquieu wurde zerrissen von jenen Geiern der Literatur, die ihren Unterhalt nicht mit ihren Produktionen sichern können und daher davon leben, was sie den Produktionen anderer entreißen [...].« 2 In diese Tradition brauchen wir uns heute nicht mehr zu stellen. Der Jurist Montesquieu wird in der europäischen Welt der Gegenwart als universeller Geist gefeiert, der mit seinen Ideen Politik, Wissenschaft und Kultur der modernen Gesellschaften beeinflußt hat und dessen Werkrezeption seit einigen Jahren geradezu eine Renaissance erfährt. Das Jahr 2005 wird demgemäß nicht nur ein Einstein-Jahr, sondern weltweit auch ein Montesquieu-Jahr werden; in Frankreich selbst wurden die Feierlichkeiten in den Rang von

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Montesquieu: Brief an Pierre-Louis Moreau de Maupertuis vom 25. Novemberi746, S. 2i4f. Maupertuis, Pierre-Louis Moreau de: Herrn de Montesquieu zum Lobe, S. 213.

ERÖFFNUNG DES SYMPOSIUMS

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»Célébrations nationales« erhoben - aber entsprechende Aktivitäten werden auch in vielen west-, mittel- und osteuropäischen Ländern vorbereitet. Sie alle gelten vorwiegend dem Werk des großen Gelehrten. Eine andere, die persönliche Seite, findet bedauerlicherweise in der Regel weder die nötige Aufmerksamkeit noch die gebührende Gefolgschaft - obwohl sie hier und heute jede Imitation verdiente. Ich bediene mich wieder der Beschreibung von Maupertuis: »Stets zu Sanftmut und Menschlichkeit neigend, fürchtete er Veränderungen, deren Folgen die größten Genies nicht immer absehen können. [...] Auf die Kleidung legte er sehr wenig Wert und verachtete alles, was über die Reinlichkeit hinausging; er trug nur die einfachsten Stoffe und ließ nie Gold oder Silber darauf anbringen. Dieselbe Einfachheit herrschte an seiner Tafel und in seiner gesamten restlichen Wirtschaft; und ungeachtet der Ausgaben, die ihn seine Reisen und das Leben in der großen Welt kosteten, seines schwachen Augenlichts und der Eindrücke aus seinen Reisen, hat er das dürftige Erbe seiner Vorfahren nicht angetastet, sich aber auch gescheut, es zu vermehren, und dies trotz aller Gelegenheiten, die sich ihm in einem Land und in einem Jahrhundert boten, wo dem geringsten Verdienst so viele Wege zu Vermögen offen stehen.«3 Vielleicht kann in unserem bunten Programm, das Ihnen vorliegt, jedenfalls dort, wo die Jugend sich des Erbes Montesquieus annimmt, auch dieser Gesichtspunkt ein wenig zum Tragen kommen. Als Hausherr wünsche ich Ihnen jedenfalls Erfolg und einen vielfältigen Gewinn. Frau Staatssekretärin - darf ich Sie um Ihr Grußwort bitten?

Literatur Maupertuis, Pierre-Louis Moreau de: Herrn de Montesquieu zum Lobe. In diesem Band, S. 203-217. Montesquieu: Brief an Pierre-Louis Moreau de Maupertuis vom 25. November 1746. Zitiert in: Pierre-Louis Moreau de Maupertuis: Herrn de Montesquieu zum Lobe. In diesem Band, S. 214-215.

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Ebenda, S. 216.

Grußwort der Staatssekretärin für Kultur, Barbara Kisseler

Sehr geehrter Herr Professor Simon, sehr geehrter Herr Botschafter, sehr geehrte Damen und Herren, der Regierende Bürgermeister von Berlin hat mich gebeten, an seiner Stelle an der Eröffnung des Symposiums der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften aus Anlaß des 250. Todestages von Baron de Montesquieu teilzunehmen. Gern hätte das der Regierende Bürgermeister selbst getan, doch andere Termine ließen das nicht zu. Ich darf Ihnen aber als erstes die herzlichsten Grüße des Regierenden Bürgermeisters und des Berliner Senats übermitteln. Mit Montesquieu ehren Sie in den kommenden beiden Tagen einen Intellektuellen und Politiker - man beachte bitte die Reihenfolge - , der es aufgrund eigener wissenschaftlicher Kraft und der Zeitereignisse vermocht hat, auf beispielhafte Weise Politik und Wissenschaft miteinander zu verbinden - eine Fähigkeit, die wir uns heute manchmal etwas intensiver ausgeprägt wünschen. Er verfaßte seine Schriften in einer Phase großer sozialpolitischer Umbrüche, in der sich moderne Gesellschaften zu konstituieren begannen. In dieser Situation des Ubergangs begegnete er sowohl dem vor als auch dem hinter ihm Liegenden mit kritischer Distanz. Die sich herausbildende Gesellschaft erschien noch nicht als die einzige Möglichkeit: Der Prozeß war offen, voller Chancen, Risiken und Gefährdungen. Hier, denke ich, liegt durchaus eine Parallele zu unserer Zeit, die mit ihren Globalisierungsprozessen zwingend Veränderungen und gesellschaftliche Umbrüche evozieren wird. Auch wir suchen Antworten auf die Fragen, die gesellschaftliche und soziale Veränderungen aufwerfen. Nicht nur die Politiker, die - so die Volksmeinung - »von Amts wegen« eine »Zuständigkeit« dafür haben; hier sind ganz besonders Sie als Wissenschaftler und wir alle als aufgeklärte und denkende Bürger angesprochen. Mit Blick auf die Vortragsthemen des heute beginnenden Kolloquiums ist das Spektrum der Montesquieuschen Gedankenwelt unschwer zu erkennen, deren Fragestellungen auch heute noch von besonderer Aktualität sind, so ζ. B. die Frage nach der Interaktion von Nation und Europa, nach dem Zusammenhang von Kultur und Region, nach dem Verhältnis von Individuum und Gesellschaft und nach der Stellung und Verantwortung von Intellek-

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BARBARA KISSELER

tuellen in modernen Gesellschaften. Die von Montesquieu entwickelten Ideen zum Prinzip der Gewaltenteilung spielen im Kontext der Diskussion um die europäische Verfassung eine nicht unbedeutende Rolle. Bedeutungsvoll und bemerkenswert zugleich ist, daß Montesquieu sich gedanklich nicht in nationalen Grenzen bewegt hat. Beispielhaft erwähnt sei die Rechtsphilosophie, die die Idee der Vereinbarkeit der verschiedenen nationalen Gesetze mit der Idee eines gemeinsamen, universalen Rechts entwickelt. Die Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften hat sich - das ist flir Außenstehende deutlich erkennbar - in ihrer Konzeption für das jetzt stattfindende Symposium vor allem diesen, von Montesquieu gestellten, grundsätzlichen Fragen zugewandt. Ihr geht es - so nehme ich es wahr - nicht vordergründig allein um die Ehrung des universellen Geistes durch Erinnerung an die von ihm gegebenen Antworten, sondern um die Darstellung der Aktualität und Wirksamkeit der zentralen Ideen Montesquieus aus unterschiedlichen disziplinären und nationalen Perspektiven und um das Suchen und Finden zeitgemäßer Antworten. Von Seiten des Senats wird außerordentlich begrüßt, daß die Berlin-Brandenburgische Akademie - wie heute anläßlich des sich jährenden Todestages eines bedeutenden Gelehrten - aktuelle, gesellschaftlich relevante Fragen aufnimmt und diskutiert. Sie macht damit deutlich, in welcher Tradition sie sich verstanden wissen will, um damit nicht nur die Wissenschaft, sondern auch die interessierte Öffentlichkeit ansprechen zu können. Ich bin daher sicher, daß die szenische Lesung der Lettres persanes am Freitagabend ein großes Publikum erreichen wird, ganz im Sinne von Montesquieu: «Cicerón est, de tous les anciens, celui qui a eu le plus de mérite personnel, et à qui j'aimerais mieux ressembler [...] Il est le premier, chez les Romains, qui ait tiré la philosophie des mains des savants, et l'ait dégagée des embarras d'une langue étrangère. Il la rendit commune à tous les hommes, comme la raison [...]» 1 Meine Damen und Herren, da ich sicher bin, daß Sie alle der Vernunft zugänglich sind, gehe ich für die kommenden Tage von anregenden, vielleicht sogar ertragreichen Diskussionen aus und hoffe, daß mein Grußwort Sie nicht an ein anderes Wort von Montesquieu erinnert hat: »Wo es den Rednern an Tiefe fehlt, da gehen sie in die Breite.« Vielen Dank.

Literatur Montesquieu: Discours sur Cicerón. In: Ders.: Œuvres complètes. Paris 1964, S. 34-36.

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Montesquieu: Discours sur Cicerón, S. 34 F.

Ansprache des Französischen Botschafters, Claude Martin

Frau Staatssekretärin, Herr Präsident, cher Jean Lacouture, cher professeur Etienne François, meine Damen und Herren, in diesen Tagen, da in Frankreich der 250. Todestag von Montesquieu begangen wird, war es Ihr Wunsch, daß sich Ihre schöne Stadt und Ihre Akademie der Würdigung meines Landes fur einen der größten politischen Denker anschließt. Diese Geste berührt uns zutiefst. Sie zeigt — wieder einmal — die starke und besondere Verbindung, die seit Jahrhunderten Berlin und Paris, Berlin und Frankreich vereint, zwischen denen seit jeher ein reger Gedankenaustausch, eine kulturelle Beeinflussung, ein intellektueller, künstlerischer und kreativer Dialog besteht, der sich heute intensiver und fruchtbarer denn je gestaltet. Als unsere Botschaft vor sechs Jahren nach Berlin kam und unser neues Domizil noch nicht gebaut war, hatte ich das Glück und das Privileg, gleich hier, nur wenige Schritte von der Akademie entfernt, in der Jägerstraße eine provisorische Residenz zu finden. Ich habe in dem Haus gelebt, in dem Rahel Varnhagen ihren Salon unterhielt, wo sie Germaine de Staël und Chateaubriand empfangen hatte. Im Nachbarhaus hatte die Familie Mendelssohn gewohnt. In dem Haus gegenüber war Wilhelm von Humboldt geboren worden. Vom Balkon aus fiel mein Blick auf die Kuppel des Französischen Doms, der daran erinnert, welche Rolle die Hugenotten, die vom Großen Kurfürsten so großzügig und weitblickend aufgenommen worden waren, für die Entwicklung und Entfaltung Ihrer schönen Stadt gespielt haben. Montesquieu besuchte Berlin, aber zu schnell und zu früh. Er konnte nicht Friedrich den Großen kennenlernen, aber seinen Vater, den Soldatenkönig, dessen rüdes Benehmen und militärische Besessenheit ihn abstießen. Er war jedoch klug genug zu verstehen, daß in diesem Land und in dieser Stadt ein Brodeln, eine verheißungsvolle Zukunft zu spüren war. Dank Maupertuis, dank d'Alembert, und ich würde sagen, trotz Voltaire (dem er nicht gerade sehr zugetan war), lernte Montesquieu zu schätzen, ja zu bewundern, was in Berlin passierte, in dieser Stadt, die eines der Zentren der Aufklärung werden sollte.

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CLAUDE MARTIN

Nach der Veröffentlichung von De l'Esprit des lois wurde Montesquieu in die Königlich-Preußische Akademie - die Académie Royale des Sciences et Belles-Lettres, wie sie damals hieß - aufgenommen, und er schätzte diese Ehre wie keine andere. Die Akademie Ihre Vorgängerin - spielte eine bedeutende Mittlerrolle im Europa des Geistes, des Stils und des Wissens. In seinem Nachruf auf Montesquieu stellte d'Alembert die Eigenschaft der Akademie-Mitgliedschaft über alle anderen, denn er wußte, wie stolz Montesquieu auf diese Auszeichnung war. Es war eines der großen Verdienste Montesquieus, daß er sein Urteil über Deutschland zu revidieren wußte. Er hatte das Land ein bißchen zu schnell durchquert, es sozusagen überflogen: Von Wien über München, Braunschweig und Hannover nach London; in Unterkünften, die er zu wenig komfortabel fand. Später hat er es noch einmal neu entdeckt und studiert. Wo er hinkam, hat er die Sitten und Gebräuche, die Verwaltung, die Landwirtschaft, das Steuersystem beobachtet. Er schätzte die Intelligenz, die Freude an der Wissenschaft und an der Kunst, die Gewandtheit, die Ernsthaftigkeit und Verläßlichkeit der Deutschen. Er zog daraus einiges an Lehren. Montesquieu ist es gelungen, Deutschland neu zu entdecken. Es ist jetzt an uns, Montesquieu wiederzuentdecken. Ich habe ihn - wie viele von Ihnen - aus gegebenem Anlaß noch einmal gelesen. Alles, oder fast alles: Die Lettres persanes, De l'Esprit des lois, die Considérations sur les causes de la grandeur des Romains et de leur décadence, Reiseberichte, Briefe. Und wissen Sie, was ich darin gefunden habe? Viel frischen Wind, Leichtigkeit und Humor, einen Hauch von köstlicher Freigeisterei und vor allem eine Menge Überlegungen von erstaunlicher Aktualität. Montesquieu ist, wie Alain Juppé jüngst in einem brillanten Essay anmerkte, modern. Er stellt uns aktuelle Fragen. Ich möchte ganz herzlich Jean Lacouture dafür danken, daß er zu uns gekommen ist, um uns Montesquieu zu erklären; ihn uns noch näher zu bringen; ihn so lebendig und präsent darzustellen wie in seinem anschaulichen und spannenden Werk Les vendanges de la liberté. Wie Montesquieu, wie Montaigne gehört Jean Lacouture in die Reihe der großen Reisenden und Moralisten aus Bordeaux, die durch die Welt gefahren sind, um zu beobachten, zu verstehen, zu bezeugen. Die dann nach Hause zurückgekehrt sind und die Lehren aus ihren Lebenserfahrungen gezogen haben. Sie, lieber Jean Lacouture, sind mehr als jeder andere geeignet, über den Baron de la Brède zu sprechen. Sie sind besser als irgendwer sonst in der Lage, ihn uns zu erklären - anhand seiner Herkunft und seiner Heimat, anhand des besonderen Geistes einer Stadt, einer Region, eines Bodens und eines Klimas, die den Frauen und Männern von dort seltene Eigenschaften verleihen. Eigenschaften, die bei den Weinen ebenso wie bei den Menschen das Besondere der Bordeaux-Gewächse ausmachen. Das Streben nach Vortrefflichkeit, ein aristokratischer Geist, aber auch Sinn für Zurückhaltung und Besonnenheit. Ausgewogenheit. Eine bestimmte Denkweise, eine gewisse Lebensart, die »Leichtigkeit des Seins«. Herzlichen Dank, lieber Jean Lacouture, daß Sie heute hierher gekommen sind, um diese Eigenschaften mit uns zu teilen.

MONTESQUIEU: SEINE Z E I T , SEIN LEBEN, SEIN W E R K

JEAN LACOUTURE

Montesquieu auf der Suche nach Aufklärung

Es ist bedauerlich, daß so wenige Franzosen so gründliches Wissen von Goethe haben wie André Gide oder Romain Rolland. Doch sehr viele von ihnen könnten, wenn auch in meiner Aussprache, die beiden Worte anfuhren, die man dem sterbenden Goethe zuschreibt »Mehr Licht!« - und die wir übersetzen mit: »Plus de lumière!«1 Die beiden berühmten Worte wären das passende Leitmotiv fur das Schaffen CharlesLouis de Montesquieus, das übrigens in Deutschland fast ebenso viele Bemerkungen und Kommentare angeregt hat wie in Frankreich oder England, bevor die Verfassung der Vereinigten Staaten niedergeschrieben wurde. Die Suche nach Aufklärung, worin sich Montesquieus Leben zusammenfassen läßt, gewann bei ihm die unterschiedlichsten Formen, von der wissenschaftlichen Abhandlung bis zum orientalischen Märchen, vom historischen Essay zum Philosophischen, vom Juridischen zum Ethnographischen, sogar zum Erotischen. Der Sinn aber ist immer der gleiche, nämlich: sowohl die politischen und juridischen Institutionen als auch die sozialen und internationalen Beziehungen auf friedlichen Wegen auf die gemeinsame menschliche Vernunft zu gründen. Dabei soll die Herrschaft der Vernunft, wohlverstanden, nur zur Achtung der Freiheit fuhren, die wiederum den Individuen wie den nationalen Gruppen Sicherheit verbürgen werde. Die Ziele des Herrn des Esprit des lois so zu definieren, heißt Augenscheinliches zu erwähnen. Weniger offenkundig und erhellenswert ist jedoch die Motivation dieses Vorgehens: Was bewog eingangs des 18. Jahrhunderts einen jungen französischen Edelmann, der dem Amtsadel entstammte, der aus dem Verkauf seiner ausgezeichneten Weine bedeutende Einkünfte bezog, der vier Brüder und Schwestern im Gewand katholischer Mönchsorden hatte, schließlich dazu, das politische, soziale und religiöse System in Frage zu stellen, dem er nicht nur als friedlicher Nutznießer zugehörte, sondern auch als Beschützer, nämlich als Vorsitzender Richter am Parlament von Bordeaux? Die Frage erhebt sich, was Montesquieu anbetrifft, ganz anders als in Bezug auf Voltaire, auf Rousseau, Diderot oder d'Alembert, die sämtlich mehr oder weniger im Streit mit der

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»Lumières«, Lichter, ist der französische Begriff fur die Epoche der Aufklärung. (Anm. des Übersetzers)

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damals herrschenden Gesellschaft lagen, nachdem sie wegen ihrer Herkunft, ihres Betragens oder ihrer ersten Schriften Ärger oder Nachteile erfahren hatten. Montesquieu ist weder arm noch krank, weder Findelkind noch Ausländer, weder Ketzer noch auch ungläubig; nichtsdestoweniger beginnt er gegen eine vom königlichen Despotismus, von aristokratischen Besitznahmen und vom strikten religiösen Konformismus dominierte und strukturierte Gesellschaft einen Kampf, der bei aller Absage an die Gewalt nicht wenig dazu beiträgt, das Ancien Régime zu erschüttern. Wir haben es hier also mit einem Dissidenten zu tun. Worin aber liegen die Gründe dafür? Zuallererst macht der junge Baron aus dem Bordelais dem in Frankreich eingangs des 18. Jahrhunderts herrschenden Regime zum Vorwurf, daß es das Land ruiniert, daß die berühmte Sonne, das Symbol König Ludwig XIV., von den Fehlern, den Exzessen, den Niederlagen des Despoten tragisch verdüstert wird, daß sie nichts mehr ist als ein toter Stern. Seit den Zeiten von der großen Hungersnot 1694 bis zum schrecklichen Winter 1709 war Frankreich, folgt man dem weisen Fénelon, ein »riesiges Hospital«. Wenn der Tod des Königs 1715 dem Regenten Philipp von Orléans politische Perspektiven eröffnete, zehrten die Gifte des Absolutismus doch weiter am Leib Frankreichs. Der Richter aus der Gironde macht es sich nun zur Mission, das Wirkprinzip dieses Gifts anzuprangern: den Despotismus des Rechts von Gottes Gnaden. Dies um so eher, als der Totalitarismus, der das Land erstickt, nicht nur von politischem, sondern auch von religiösem Schlage ist. Zu dem wahnwitzigen königlichen Versuch, den Protestantismus in Frankreich durch Widerruf des Edikts von Nantes (1685) auszurotten, gesellt sich das Wiederaufleben des heftigen Streits um den Jansenismus, worin der Sonnenkönig ein »republikanisches« Gift sah. Das Einschreiten des Erzbischofs von Paris, der alle Staatsdiener, die sich nicht zu der römischen Bulle Unigenitus bekannten, aus dem öffendichen Leben ausschließen will, droht den Staatsapparat zu zertrümmern. In all diesen Affären ist Montesquieu nicht unberührt; er hat eine Protestantin geheiratet und bezog seinen Titel als Parlamentspräsident von Bordeaux von einem Onkel und Beschützer, der mit dem Jansenismus sympathisiert und seinerseits dessen Verfolgung scharf ablehnt. Charles-Louis de Montesquieu selbst ist der Doktrin des Jansenismus nicht gewogen und meint, daß die Jesuiten im Grunde recht haben. Aber er hält den Feldzug gegen die Jansenisten fur verächdich, illegal und kostspielig für das Land als Ganzes. Montesquieu hatte zudem weitere Gründe, den Versailler Absolutismus anzufechten. Fünfundzwanzig Jahre nach dem Widerruf des Edikts von Nantes durch Ludwig XIV. hatte er eine Protestantin von den Ufern der Garonne geheiratet. Das Edikt, von Heinrich IV. erlassen, war ein Jahrhundert lang Unterpfand fiir den Frieden zwischen Katholiken und Protestanten gewesen; der Widerruf ließ Letztere zu Tausenden Zuflucht in Holland oder Deutschland suchen, namentlich in Berlin. Bedeutende Gemeinden von Reformierten bestanden gerade an der Garonne. Ob Montesquieus Entscheidung nun eine Herausforderung des katholischen Absolutismus darstellte oder nur seine Verachtung fiir jeden Ostrazismus ausdrückte, werden doch jedenfalls seine »protestantische Ehe« und der Umgang mit der angeheirateten reformierten Verwandtschaft bei Charles-Louis de Montesquieu den Geist

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der Anfechtung der religiös-politischen Gewalten genährt haben; jener Gewalten, wie sie das Ancien Régime ausgebildet und so verfestigt hatte, als hätte es die Heraufkunft der Aufklärung selbst rechtfertigen wollen. Ohnehin wegen der Dekadenz des politischen und sozialen Systems wie von der Arroganz der religiösen Hierarchie gegen den königlichen Despotismus aufgebracht, zürnt Montesquieu als Mann der Gironde den Versailler Herren obendrein wegen ihres Zentralismus. Die Leute des Königs wollen Bordeaux abstrafen, weil es zu Beginn der Herrschaft Ludwigs XIV. die Fronde der Fürsten, an der auch ein Onkel unseres Barons beteiligt war, unterstützt hat. Alle lokalen Freiheiten werden beschnitten; in der Stadtmitte entsteht eine Festung, deren Kanonen auf die Bürger zielen; die kommunalen Rechte, Hinterlassenschaften der englischen Okkupation vor drei Jahrhunderten, werden aufgehoben. Gerade an England ist nun der junge Richter aus dem Bordelais aus vielen Gründen besonders interessiert. Nicht nur wegen der Herkunft mehrerer Vorfahren, wegen seiner Lektüren, so insbesondere John Lockes, wegen seiner freundschaftlichen Beziehungen zu in der Provinz ansässigen englischen Grandseigneurs wie dem Herzog von Berwick, Marschall von Frankreich und Gouverneur der Guyenne. Der englische Geist, seit der Glorious Revolution von 1688 als unvereinbar mit dem Despotismus geltend, inspiriert ihn längst vor seiner Englandreise im Jahr 1729. Ein aquitanischer Richter wie er ist durchdrungen von einer Ideologie, die sich in seiner Provinz seit dem 14. Jahrhundert im Stil der Gemeindeverwaltungen offenbart. Es ist noch nicht die Demokratie, doch bereits die Ausrichtung auf den Parlamentarismus. Außerdem ist der junge Präsident de Montesquieu als Winzer sehr auf den Absatz seines La-Brède-Weins bedacht. Dieser ist zwar kein Grand Cru - ein Konzept, das sich im Bordelais durchzusetzen beginnt - , sichert ihm aber seine wirtschaftliche Freiheit, die nicht von der Freiheit schlechthin zu trennen ist. Was für eine Chance, Lebensunterhalt und Obdach nicht vom König erbetteln zu brauchen! Man weiß, daß Gedeih und Verderb des Weinbaus um Bordeaux von seinen englischen Kunden wie auch von denen in den Niederlanden und im Gebiet der Hanse abhängen. Aus diesem Grund, wie auch aus manchen anderen, kann der hervorragende Montesquieu-Exeget Jean Starobinski wohlfundiert behaupten: »Das Bild Montesquieus als Winzer gestattet, seine ökonomische Doktrin und sein politisches Denken zu verorten.« Die Fäulnis des Versailler Absolutismus, die Auswüchse des Papismus französischer Machart, die verschiedenen Bekundungen des englischen Genius, die Bekräftigung des Provinzstandpunkts - dies alles ergibt Beweggründe genug, den jungen Freiherrn von der Gironde zum Opponenten auf der Suche nach Aufklärung werden zu lassen. Aber Montesquieu ist auch Leser aller der Denkmeister und Philosophen seiner Zeit, die damals »das europäische Bewußtsein«, wie Paul Hazard es nennt, umgestalteten; angeregt wird er von Descartes wie von Leibniz, von John Locke und von Newton, von Fénelon, Pierre Bayle wie von Malebranche, schließlich von Vico. Europa als Ganzes war damals erfaßt von einem Beben; das dreifache Joch des Papsttums, des Escoriáis und von Versailles wurde erschüttert. Und niemand war besser befähigt als der Jurist Montesquieu, aus diesem europäischen Beben Lehren für Freiheit und Ausgewogenheit zu gewinnen.

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Europa — soweit dazu. Jetzt aber ist von der Welt zu reden. Man weiß ja damals erst seit einem guten Jahrhundert, daß die Erde rund ist... Das 18. Jahrhundert ist nicht mehr, wie das 16., eine Ära der Entdeckung eines vermeintlich von Löwen und Menschenfressern bevölkerten Universums. In Westeuropa ist es vielmehr geprägt durch die Veröffentlichung von Büchern, die die ehrbaren Leute von der - wie Fontenelle sagte - »Pluralität der bewohnten Welten« sowie davon unterrichten, daß dieses »Bewohnen« nicht ohne das Erfinden verschiedener gesellschaftlicher Lebensarten geschieht, von Lebensarten im Plural. Diese Entdeckung unterschiedlicher Menschen oder eher der Mannigfaltigkeit der Lebensarten, wozu der große spanische Missionar Bartolomeo de Las Casas so viel beigetragen hatte, wie auch die Bemerkungen Montaignes über die Indianer und andere »Wilde«, deren Lebens- und Verhaltensregeln womöglich ebenso gültig sind wie unsere, statteten damals eine Generation reisender >Soziologen< mit einem Scharfsinn aus, der großen Anteil an Montesquieus Vorschlägen zur Erklärung und Neubegründung der Welt bekommen wird. Aufschluß über die peripheren Kulturen geben oft Mönche wie die Verfasser der von Jesuiten in China oder Paraguay versandten Lettres édifiantes et curieuses, aber auch mehr oder minder vom römischen System schikanierte Laien, der calvinistische Reisende Jean Chardin oder der Genuese Maraña, und auch Menschen wie Daniel Defoe oder Tavernier, die vor allem unerhörte Abenteuerlust und Entdeckerdrang umtreibt. Dieses weltweite Hin und Her ergibt insgesamt nicht nur prächtige bildhafte Belege fiir die Universalität des menschlichen Genius, sondern auch einige große Lehren. Hier sei vor allem auf zwei davon eingegangen. Zunächst auf die ungewöhnliche Maxime des Jesuiten Lecomte: »Die meisten menschlichen Handlungen sind an sich gleich gültig, sie bedeuten eigentlich nur, daß es den Völkern beliebt hat, sich so zu verhalten.« Kann man noch weiter gehen im Relativismus, noch kühner werden im Anfechten des Dogmatismus eines Bossuet? Ja! Man kann auch, wie Jean Chardin, der Persien bereist, schreiben: »Das Klima eines Volkes ist immer, so meine ich, die Hauptursache der Neigungen und Bräuche der Menschen [...] Wer nichts anzweifelt, prüft nichts. Wer nichts entdeckt, ist blind.« Der ganze Geist des Zweifeins, des Prüfens, der ganze wissenschaftliche Geist, der Ursprung der Aufklärung, erscheint bereits in den Betrachtungen des Jesuiten in China wie des in Persien reisenden Hugenotten. Da wankt der große römische Bau, der das 17. Jahrhundert behaust hatte, wie es im übrigen Jean de la Bruyère als Autor der Caractères deutlich nahelegt, wenn er behauptet: »Ins Verderben geraten jene, die durch lange Reisen das Wenige an Religion, das sie noch besaßen, verlieren, [... ] indem sie von Tag zu Tag einen neuen Kult, unterschiedliche Sitten, andere Zeremonien entdecken [...]« Pascal sagt auf andere Weise das Gleiche. Reise, Entdeckung, Mission, die so lange Zeit Werkzeug der Verbreitung des christlichen Glaubens von Ostindien bis nach beiden Amerika, von Afrika bis China waren, gelten somit infolge einer gewaltigen Wende als Medium des Zweifels an Dogma und Gewißheit, als Schule des Skeptizismus oder, mehr noch, des Relativismus. Das Licht strahlt nicht mehr auf das andere, die anderen Welten; es wird empfangen, ist jedenfalls zu empfangen. Das Licht wurde vom stolzen Europäer projiziert; nunmehr wird die Erleuchtung reflektiert, jedenfalls ausgetauscht. Europa steht nun im Dialog, in Verhandlung, wenn nicht im Streit mit der Welt.

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Diese Umwälzung der Geister gewinnt in Montesquieu ihren scharfsinnigen Interpreten, der die Ordnung des Erkennens und Urteilens umkehrt oder vorgibt, sie umzukehren. Bislang waren die sogenannten Reisebeschreibungen das Werk von Europäern, die Untersuchungen über die Fremdheit der Außenwelt anstellten und diese, je nachdem, als entsetzlich oder wundervoll, als Ort der Verdammnis oder als wundertätigen Quell vorführten. Der Richter aus dem Bordelais tut ftir sein Teil so, als seien die Rollen vertauscht: Die anderen, die Fremden, die Asiaten treten auf als Ermittler. Und die Ermittlungen dieser Exoten werden zur Anklage. Als er die Lettres persanes schreibt, zwischen 1717 und 1719, ist Montesquieu noch nicht dreißig Jahre alt, und in Frankreich herrscht der Regent Philipp von Orléans, dessen erste, vom Rat der Granden gebilligte Amtshandlung darin bestand, das Testament Ludwigs XIV. zu annullieren: Das Königreich durchläuft, wenn nicht eine Revolution, so doch eine derart tiefgreifende Reform, daß sie der große Historiker Le Roy-Ladurie mit dem Wechsel von Stalin zu Chrustschow vergleichen konnte ... Diese Reform erfreut den jungen Baron Montesquieu sehr. Bei allem Wissen um die Laster des Regenten bewundert er dessen politischen Sinn und seine Bemühungen um ein dem Despotismus entrissenes Frankreich. Aber die fiktiven Personen, die unser Schriftsteller als Ermitdungsführer in Frankreich auftreten läßt, die beiden Perser, der außer Landes gegangene Grandseigneur Usbek und der junge Rica, rastlos wie ein Detektiv, achten weniger auf die angelaufenen Reformen als auf den Zustand, in den der Absolutismus des Sonnenkönigs und des Klerikalismus Frankreich versetzt haben. Auffallend ist an dem 1721 veröffentlichten Buch, daß es nur im Ausland, in Köln, bei dem des Landes verwiesenen französischen Verleger Pierre Marteau, und in Amsterdam publiziert werden konnte, also in Städten, die emigrierte Protestanten aufnahmen, und zudem anonym erschien: So virulent war diese Satire, daß Montesquieu, damals noch Richter, lieber getarnt vorging. Die Anonymität hielt allerdings nicht vor, und wenn der Autor der »Lettres persanes«· sechs Jahre danach in die Académie Française aufgenommen wurde, dann betraf ihn diese Wahl nicht als den Verfasser einiger mehr oder minder wissenschaftlicher Abhandlungen, sondern eben als den Autoren dieses getarnten Meisterwerks. Liest man heute, nach so vielen anderen Werken von beißender Ironie gegen die Ungerechtigkeiten der Monarchie, nach Voltaire und Diderot, wieder die Lettres persanes, dann zeigt sich abermals hinter der romanhaften Aufmachung ihre satirische Kraft. Gewiß riskierte Montesquieu nicht mehr, in die Bastille gesteckt zu werden. Aber die Bemerkungen Ricas und Usbeks über den Hof, den Klerus und sogar über das monarchische System und die katholische Religion sind von einer Schärfe, einer Respektlosigkeit, die um so stärker wirkt, als sie wie naiv und von Fremden vorgebracht werden, von Muslimen, die als in die Bande des Obskurantismus geschlagen, wegen der Verschleierung und Einschließung ihrer Frauen als verroht und als in der Dekadenz erschlafft gelten. Um so schärfer also ihre Spitzen gegen die politischen und religiösen Praktiken der Franzosen. So etwa in ihrer Rede von deren Herrscher als einem »großen Zauberer, der seine Untertanen von Übeln aller Art heilt, indem er sie berührt, denn so groß sind seine Kraft und seine Macht über ihre Gemüter«. Die Verspottung ist um so grausamer, als sie den frommen

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und gegebenenfalls wundertätigen Charakter der Macht der Nachfahren Saint Louis in Frage stellt, vermochte jener doch, einer frommen Legende zufolge, an Skrofeln - nässenden Wunden am Hals - leidende Kranke durch bloßes Berühren zu heilen. Die Respektlosigkeiten gegenüber dem Thron werden jedoch noch übertroffen von denen, die auf das Oberhaupt der katholischen Kirche abzielen. Einer der Helden Montesquieus beschreibt es wie folgt: » ... es gibt einen anderen, stärkeren Zauberer, der seines Geistes nicht minder Herr ist als dessen von anderen. Dieser Zauberer heißt der Papst: Er redet einem ein, daß drei nur gleich eins ist; daß das Brot, das man ißt, kein Brot ist, daß der Wein, den man trinkt, kein Wein ist; und tausend andere Dinge dieser A r t . . . Der Papst ist ein alter Götze, den man aus Gewohnheit beweihräuchert.« Wenngleich einem Muslim in den Mund gelegt, blieben derartige Äußerungen auch 1721 provozierend und geeignet, die Macht der Kirche gegen den Respektlosen aufzubringen, der sehr bald hinter der vorsichtigen Anonymität zum Vorschein kam. Im übrigen wird er damit nicht zu einem wirklichen Vorläufer der Französischen Revolution. Er hat die Gewalt so oft verurteilt, sogar bei seinen englischen Freunden, daß er nicht einmal als Taufpate jener Deputierten der Gironde gelten kann, die - obwohl Republikaner und »Königstöter« - 1793 wegen Moderantismus, also gemäßigter Einstellung, guillotiniert wurden. Die beste Definition dieses friedliebenden Vorkämpfers der Freiheit gab der bedeutende Kritiker René Etiemble: Der große Evolutionär. Die Lettres verdanken indessen ihren außerordentlichen Wert vielleicht weniger der Virulenz der Satire, die Voltaire dann bald überbietet; er erwächst vielmehr aus der Vornehmheit, die jenen Persern zuerkannt wird. Montesquieu behandelt sie nicht nur als Exoten, deren einzige Tugend, nämlich ihre drollige Naivität, die Lächerlichkeiten und Schandmale der damaligen französischen Gesellschaft zutage fördert; sie sind fur ihn Zeugen und Akteure einer anderen, auf ihre Weise sehr vornehmen Gesellschaft, die uns viel lehren kann. Denn die Suche nach Aufklärung besteht nicht nur im Anprangern der Laster, die Schatten auf die christliche Gesellschaft werfen, sondern auch im Aufzeigen der Tugenden der anderen Gesellschaften. Persisch sind die Lettres nicht nur, weil sie die Verblüfftheit der Besucher des Okzidents ausdrücken, sondern auch, weil sie eine andere, bewegende, Sympathie verdienende Menschlichkeit offenbaren. Man kann gewiß die Grausamkeit der Sitten im Harem von Isfahan geißeln und folgern, daß diese orientalischen Frauen schlechter behandelt werden als die Versaillerinnen oder die Venezianerinnen. Aber die Gestalt der Roxane überstrahlt in ihrer tragischen Größe, ihrer Klarheit, ja in ihrem revolutionären Gehalt die Heldin, der Racine 40 Jahre zuvor in seinem Bajazet denselben Namen gegeben hatte. Die Tragödie, die Montesquieu in Isfahan ansiedelt, zeigt eine sehr fremde Gesellschaft, die mehr zu bieten hat als das Pittoreske, eine tragische Gesellschaft, die aber auch Licht in sich birgt. Damit kennzeichnet Montesquieus erstes Meisterwerk gut das Vorgehen des jungen Philosophen aus dem Bordelais, des Soziologen der Differenz. Diese Reisenden sind nicht nur dazu da, sich unter ihrem Turban über die Pariser Gesellschaft, wie sie aus dem Grand Siècle hervorgegangen ist, lustig zu machen; sie sollen die Existenz einer anderen, ebenfalls von Konflikten zerrissenen, aber ebenfalls Werte in sich bergenden Gesellschaft offenbaren.

Auf der Suche nach Aufklärung konnte der Präsident de Montesquieu nicht versäumen,

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die Begegnung von Kulturen und Völkern auch in der Praxis anzustreben, statt nur durch die Lektüre von Chardin, Tavernier oder der Briefe der Jesuitenpater. Die Gelegenheit bot ihm sieben Jahre nach der Publikation der Lettres persanes einer seiner englischen Freunde, Lord Waidegrave, als soeben ernannter Botschafter des Hofs von St. James beim Wiener Hof. Wenn das Vorhaben zunächst nicht einen Besuch Englands einbezog, so sollte die Rückreise von Wien doch den Umweg über Italien und Deutschland nehmen, der fur unseren Baron lehrreich sein mußte. Montesquieu ist ein guter Reisender, verliebt in Leute und Dinge und zugleich fähig, sich mit einem Schlag zur vergleichenden Soziologie aufzuschwingen. Sein Scharfsinn beruht ebenso auf dem Wohlwollen für die Menschen wie auf der wachsamen Beobachtung der Praktiken und Institutionen. Ständig ist ihm, so schreibt er, »das Herz zu eng für all die ehrbaren Leute, die man lieben könnte«. Fast überall, von Wien bis Venedig, von Rom bis München, von Amsterdam bis Braunschweig, sieht er diese »ehrbaren Leute« von ihrer Regierung recht schlecht behandelt; und wenn ihm auch keines ihrer politischen Systeme aufklärerisch inspiriert erscheint, so findet er doch in jedem von ihnen Anregungen für die Aufklärung, bis hin zu der Art, wie sich die Völker ihnen jeweils widersetzen. Hegte er womöglich, als guter Leser der Alten, eine gewisse Vorliebe fur das republikanische Regime, das sich, ihm zufolge, auf die Tugend gründet, so gehen die Lehren, die er aus seiner Reise zieht, in eine andere Richtung: Die Händlerrepubliken Venedig, Genua oder Amsterdam mißfielen ihm ebenso wie die klerikale Monarchie in Rom. Tatsächlich hat er, bevor er seine Rundreise auf England ausdehnt, nur ein einziges politisches System gefunden, das ihm zur Heraufkunft der Aufklärung beizutragen scheint, das System von Florenz. Im Großherzogtum Toscana regiert damals der letzte der Medici, der sehr nachsichtige Gian-Gastone, der es ablehnt, »diejenigen, welche Schmähschriften gegen ihn machen, auf die Galeeren zu schicken«. So wie Montaigne zwei Jahrhunderte zuvor bewunderte, daß an der Tafel des Großherzogs die Damen auf höheren Stühlen saßen als die Herren, hält Montesquieu voller Bewunderung fest, daß in dieser Stadt »die Männer zu Fuß, [... ] die Frauen in großen Karossen« einherkommen. Doch außer diesen Beobachtungen, aus denen ersichtlich wird, daß die Heraufkunft: der Aufklärung auch aus der Anfechtung einer gewissen männlichen Vorherrschaft herrührt, erfreut den Richter aus dem Bordelais jener Hauch von Freiheit, den man in der Toscana einatmet. Dort »kennt oder besser spürt niemand den Fürsten und den Hof. Dadurch hat dieses kleine Land den Hauch eines großen Landes...« Wäre das Licht davon abhängig, daß der Herrscher im Schatten bleibt? In England entdeckte der Baron de Montesquieu, wie allgemein bekannt, das System, wenn nicht seiner Träume, so doch seiner Vernunft. Der Aufenthalt in London war, wie schon gesagt, im Programm der Reise nicht vorgesehen, obwohl diese von einem Engländer angeregt worden war. Es geschah während seines kurzen Aufenthalts in Hannover, der Wiege der in London herrschenden Dynastie, daß er von dem zum Urlaub bei seinen Verwandten weilenden König Georg II. empfangen und zum Besuch Englands eingeladen wurde, woraufhin er seine Reise durch Deutschland abkürzte.



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Hier wird eine Bemerkung nötig, schon wegen der Stadt, in der wir sind: Montesquieu hat die Gelegenheit, Berlin zu besuchen, nicht ergriffen. Man schrieb allerdings 1728, zwölf Jahre vor der Inthronisation Friedrichs des Großen - für den er dann nie ebenso schwärmte wie der um neun Jahre jüngere Voltaire (vielleicht deshalb, weil sein Rivale ihn zu sehr liebte ...)· Was er bei seinem Aufenthalt in Braunschweig von dem preußischen Regime gehört hatte, ließ ihn zudem denken, daß dort das Waffengerassel noch nicht zur Erleuchtung der Philosophie beitrage. Wenn er auch Berlin nicht besuchte, so hatte der französische Reisende doch die gute Idee, einen Abstecher zu den Gruben im Harz zu unternehmen. Das ergab für ihn eine sehr gut dokumentierte Denkschrift über die Abbauverfahren, die Gesundheit der Arbeiter wie auch über die Leitung des Unternehmens, womit er sich als Vorläufer der Encyclopédie erweist. Der Geist der Aufklärung entspringt auch aus dieser Entdeckung des Anlagenbaus, der Techniken und der sozialen Beziehungen in der Welt der Produktion. Montesquieu hat zwar nicht unmittelbar zu dem großen Gemeinschaftswerk Diderots und d'Alemberts beigetragen, doch er bekundet hier, im Herzen der deutschen Industrie, wie die Aufklärung bereits vom Geist der Innovation, der Modernisierung gespeist wird. Dann also England. Sein Freund Lord Chesterfield öffnet ihm alle Türen, zum Königspalast wie zu den Kammern von Westminster oder zu den Schülern Lockes und Newtons (der kurz zuvor verstorben war). Er atmet dort einen Hauch, der die gesamte Landschaft erfüllt, und er bringt ihn auf dies eine Wort: Freiheit. Man sollte indessen nicht annehmen, der französische Philosoph entdecke da ein ideales System, das er von seinem Land übernommen sehen wolle. Das schon deswegen nicht, weil er zwar den Parlamentarismus mit seinen beiden Kammern für das beste System hält, aber den heftigen, rüden Ton mißbilligt, der seines Erachtens im Unterhaus vorherrscht. Desweiteren vor allem deshalb nicht, weil er bereits dem Gedanken folgt, das jeweilige geistige und materielle Klima liege allen menschlichen Institutionen zugrunde; daher wäre etwas, das an den Ufern der Themse taugt, womöglich an der Seine ebenso untauglich wie die Lebensregeln der Perser fur die Gascogner. Montesquieus bleibt fast 18 Monate in England. Immer stärker wird das Einvernehmen zwischen dem Winzer aus Bordeaux und den freien Engländern, die diesen Wein mögen. Markstein dieses Aufenthalts ist jedoch wohl vor allem der Beitritt des Besuchers zur Freimaurerei, und die war seinerzeit die Hochburg par excellence des Geists der Aufklärung. Die Freimaurerei, in ihrer nichtprofessionellen Gestalt als intellektuelle Gesellschaft, bestand damals erst seit recht kurzer Zeit (wahrscheinlich seit 1717). Sie war im übrigen das Werk des französischen Pastors Jean-Théophile Désagulier aus La Rochelle, der zur anglikanischen Kirche übertrat, in Oxford ein Physiker-Diplom erwarb und von der Königin Caroline, Tochter des vormaligen Kurfürsten von Brandenburg, protegiert wurde. Man weiß, daß diese Organisation damals eng mit dem Hochadel und der Kirche zusammenhing: Montesquieus Bürgen waren der Herzog von Richmond, Meister der Loge, und der Marquis de Beaumont, und zu seinen neuen »Brüdern« zählten der G r a f de Sade, der Vater des bekannten Marquis, und der Graf de Gouffier.

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Montesquieu nahm sein Engagement in der Freimaurerei sehr ernst, verkehrte in der Pariser Loge, traf sich in Frankreich wieder mit dem Pastor Désagulier und bekundete auf tausenderlei Art diesseits und jenseits des Ärmelkanals seine Treue zum Geist der »Illuminatene der Loge. Er konnte sich freilich auch auf anderen Wegen zum Geist der Aufklärung bekennen und ihn verbreiten. Aber er hütete sich davor, von jenem Königsweg abzuweichen, welchen die Freimaurerei damals darstellte. So ist er nun bereit zum großen Kampf für die Aufklärung. Man kann darüber erstaunen, daß er nicht die Form eines Essays über die freie englische Gesellschaft, wie sie sich ihm offenbart hatte, sondern eher jene einer bitteren Beschreibung des Römischen Imperiums gewählt hat. Sie bietet ihm allerdings die Gelegenheit, die Tyrannei zu geißeln und damit auf andere Art die Freiheit zu preisen. Auf die Gefahr hin, ungehörig zu erscheinen, stelle ich die Considérations sur les causes de la grandeur des Romains et de leur décadence nicht auf dieselbe Ebene wie die beiden Meisterwerke Montesquieus. Einige glänzende Porträts können meines Erachtens nicht ein recht unausgewogenes Werk retten, das (wenn auch als Betrachtungen und nicht als Geschichte überschrieben) grausam unter dem Fehlen chronologischer Bezugnahmen sowie unter dem Ungleichgewicht zwischen den - kaum skizzierten - Ursachen der Größe und den - wohlbekannten - Ursachen des Niedergangs leidet. Im übrigen finden sich packende, jedoch in ihrem Fatalismus anfechtbare Stellen zur Rolle der großen Männer: Ist es so offenkundig, daß sich auch ohne einen Cäsar, einen Pompejus über kurz oder lang Personen gefunden hätten, die deren Rolle übernehmen? Läßt sich die Geschichte dermaßen mit der Physik oder der Chemie gleichsetzen? Besser als mit diesem berühmten Werk hat Montesquieu, wie mir scheint, mit seinem kurzen Essay Dialogue de Sylla et d'Eucrates zum Verständnis Roms und der Römer beigetragen. Hier wird klar ins Licht gerückt, welch furchtbare Rolle der große Mann spielt - und was es die kleinen Leute kostet, seine Zeitgenossen zu sein. Doch der entscheidende Beitrag Montesquieus zur Heraufkunft der Aufklärung, das heißt zur Darstellung der vernünftigen Organisation der Welt, ist, wie man weiß, das Buch De l'Esprit des lois. Zwanzig Lebensjahre hat er an dieses Werk gesetzt, das ihm in Europa um so größeren Ruhm einträgt, als die zuerst in der Schweiz publizierte Schrift zeitweilig von der Zensur verboten und von den Hütern der römischen Orthodoxie auf den Index gesetzt wird. Wenn dieser Essay über die Organisation der menschlichen Gemeinschaften letztenendes kühner befreiend wirkte als der, wie erwähnt, auf Vorsicht bedachte und jede Form von Unordnung und Gewalt verabscheuende Richter aus dem Bordelais sich das vorgestellt hatte, so liegt das ebenso daran, daß ihm zufolge statt der Religion die Vernunft fur Ordnung in den Gesellschaften zu sorgen hat, wie daran, daß er das Gesetz nicht auf die Willkür der Macht, sondern auf die Regelung des materiellen Funktionierens der Gesellschaften gründet. Um zu erhellen, weshalb diese recht disparate Sammlung von Betrachtungen über den Zustand der menschlichen Gemeinschaften und ihre Organisation mehr als viele revolutionäre Aufwallungen und Gewaltakte dazu beigetragen hat, den zur Demokratie fuhrenden

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Prozeß anzubahnen, lassen sich am besten einige Sätze anführen, die sich der Nachwelt eingeprägt haben. Schon auf der ersten Seite seiner Abhandlung unterbreitet Montesquieu in wenigen Sätzen deren Philosophie, die gleichsam den Geist der Aufklärung am Ausgang der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts - im Jahr 1748 - zusammenfaßt: »Ich habe zuerst die Menschen untersucht, und ich habe angenommen, daß sie sich nicht allein von ihrer Phantasie zu dieser unendlichen Mannigfaltigkeit von Gesetzen und Sitten leiten ließen [...] Das Gesetz im allgemeinen ist die menschliche Vernunft insofern, als sie alle Völker der Erde lenkt und leitet. [Die Gesetze] müssen dem Volk, fiir das sie gemacht sind, dermaßen entsprechen, daß es ein sehr großer Zufall ist, wenn diejenigen einer Nation einer anderen passen können [...] Sie stehen in Beziehung [...] zur Ordnung der Dinge, aus denen sie entstanden sind. Die politische Freiheit findet sich nur unter gemäßigten Regierungen [... ] Und soll die Macht nicht mißbraucht werden, ist durch die Einteilung der Dinge die Macht von der Macht zu zügeln [...]« Diese berühmten Worte werden meist als Ursprung der Gewaltenteilung als des Prinzips der Demokratie selbst ausgelegt. Tatsächlich handelt es sich hier, wie mehrere hervorragende Juristen gezeigt haben, nicht so sehr um »Teilung« wie um Unterscheidung der Gewalten. Weder Montesquieu noch seine Schüler wollen der Exekutive untersagen, durch Ernennung der Richter einigen Einfluß auf die Judikative zu nehmen, und erst recht nicht der Legislative verbieten, die Exekutive durch Ausüben der parlamentarischen Kontrolle zu kanalisieren. Weil er nicht die Vorsehung, sondern Vernunft und Erfahrung als Grundlage des gesellschaftlichen Lebens unter den verschiedenen Breitengraden ansah, wurde Montesquieu zur Zielscheibe heftiger Angriffe seitens der religiösen Institutionen, insbesondere der Jansenisten, die ihn in ihrer Zeitschrift Nouvelles ecclésiastiques als »Feind Gottes« anprangerten. Der Philosoph erwiderte diesen religiösen Zensoren mit dem kleinen Essay Défense de l'Esprit des lois. Schöner noch als das Werk selbst, enthält er diese Stelle: »Wenn jemand über die Angelegenheiten der Religion schreibt, muß er nicht auf die Gottesfurcht seiner Leser setzen [... ] Denn um sich bei denen zu akkreditieren, die mehr Gottesfurcht haben als Aufklärung, muß er sich bei denen diskreditieren, die mehr Aufklärung haben als Gottesfurcht [...]« (So im Tonfall von Pascals Provinciales ...) Diejenigen, die mehr Aufklärung als Gottesfurcht besaßen - etwa Katharina die Große oder Friedrich der Große ebenso wie Walpole oder Diderot - , hielten den Autoren des Esprit des lois nicht für diskreditiert, wieviel Vorbehalte die betreffenden Herrscher auch gegenüber Montesquieus politischer Konzeption hegen mochten. Ob nun der Beifall für den Esprit des lois durch die Verurteilung seitens der römischen Kirche und der Jansenisten noch angefacht wurde oder nicht - jedenfalls war er schallend. Die Publikation dieses Buchs, die als erster europaweiter Sieg der Aufklärung gelten darf, konnte Montesquieu nicht die Aufnahme in die Akademie zu Berlin eintragen, weil ihm diese Ehre dank seines Freundes Maupertuis bereits im Vorjahr, im Juni 1747, zuteil geworden war.

MONTESQUIEU AUF DER SUCHE NACH AUFKLÄRUNG

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Damals hatte er jedoch die Einladung zur feierlichen Amtseinsetzung mit anschließendem Empfang durch den König - der noch keineswegs der große Friedrich war - in einem drolligen Brief an seinen Berliner Freund ausgeschlagen: Erblindet, taub geworden, sei er nicht fähig, solch eine Reise zu unternehmen. Friedrich hegte auch als Großer derartige Bewunderung für Montesquieu, daß er eigenhändig ein Exemplar der Considérations über die Römer annotierte. Es trug sich zu, daß Napoleon dieses Exemplar in Sanssouci fand und daß, noch ergötzlicher, Talleyrand, dem es auf eine Gaunerei mehr nicht ankam, es dem Kaiser stibitzte. Seinerseits scheint der große Potsdamer Herrscher den Esprit des lois mit kritischerem Blick gelesen zu haben, ist dieser doch nicht gerade ein Loblied auf den Despotismus, sei dieser auch durch die Erleuchtung der Philosophie aufgeklärt. Man versuche sich vorzustellen, was beim Auge in Auge des Autors des Antimachiavel und des gegenüber großen Männern so mißtrauischen Autors von Sylla et Eucrates geschehen wäre ... Das bliebe ein hübsches Dissertationsthema fur angehende Politikwissenschaftler an den Ufern der Seine wie am Strand der Spree.

Aus dem Französischen übersetzt von Joachim Wilke (Zeuthen)

NATUR, NATURRECHT, R E C H T

JOACHIM RADKAU

Natur als Gesetzgeberin und Natur als Erfahrung bei Montesquieu und Max Weber

Vom Schulunterricht her verbindet man den Namen Montesquieu üblicherweise mit dem Stichwort »Gewaltenteilung«. In der Tat hat er vor allem als der große Theoretiker der Gewaltenteilung eine Tradition des politischen Denkens begründet, die über die Jahrhunderte reicht. Ob seine Aktualität und zukunftsweisende Bedeutung jedoch gerade hier liegt, kann man bezweifeln; denn in der Demokratie, wo alle Gewalt - zumindest theoretisch - vom Volke ausgeht, darf es eigentlich streng genommen gar keine Gewaltenteilung geben, jedenfalls keine unterschiedlichen Quellen der Gewalt. Es ist nicht einmal sicher, ob das Thema »Gewaltenteilung« für Montesquieu selbst jene fundamentale Bedeutung besaß, die gewöhnlich unterstellt wird; denn im Esprit des lois behandelt er dieses Thema nur nebenbei, überhaupt mehr implizit als explizit, ungleich weniger ausführlich als die klassische Triade der Regierungsformen: Demokratie, Aristokratie und Monarchie. Wer zum ersten Mal den Esprit des lois aufschlägt und dort eine Theorie der Gewaltenteilung sucht, gerät in Verwirrung, denn danach muß er lange suchen - stattdessen stößt er erst einmal auf ganz andere Themen. So begegnet ihm gleich zu Anfang und auch in der Folge immer wieder das Leitmotiv Natur, und, in Verbindung damit, ein anderes Lieblingsthema Montesquieus: der Einfluß des Klimas auf die Völker und ihre Gesetze. Kein Zweifel: Für Montesquieu selbst war die Natur ein Hauptgegenstand, wenn nicht überhaupt das zentrale Thema seines politischen Denkens, vermutlich ein Thema mit emotionalem Untergrund. Haben wir es da mit einer zeitgebundenen, vergänglichen Seite von ihm zu tun, einer lediglich rhetorischen Mode des 18. Jahrhunderts, die uns heute nichts mehr bedeutet? Denn natürlich ist die Natur Montesquieus etwas anderes als die Natur der modernen Ökologie. Unser moderner Naturbegriff ist jedoch nur eine kümmerliche Schwundstufe einer einst sehr viel weiteren Naturidee, die von Montesquieu in klassischer Weise repräsentiert wird, aber noch bis in die Anfänge des 20. Jahrhunderts reicht. Vielleicht hat uns gerade deshalb dieses alte Naturdenken etwas zu sagen, und vielleicht liegt eine Bedeutung Montesquieus fur die Zukunft eben dort: in seinem weiten, sowohl rationalen wie lustvollen, abstrakten wie üppig-konkreten Naturbegriff. In der Geschichte des Denkens über die Natur hat Montesquieu einen prominenten Platz. Natur ist das Bindeglied zwischen den Lettres persanes und dem Esprit des lois. Im dreiundsechzigsten der Lettres persanes berichtet der junge neugierige Perser Usbek, bis dahin nur mit dem orientalischen Harem vertraut, mit spürbarem Entzücken von seinen

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ersten Erfahrungen mit den Pariser Frauen: »Ich kann sagen: die Frauen kenne ich erst, seitdem ich hier bin. In einem Monat habe ich mehr dazugelernt, als das in dreißig Jahren im Serail der Fall gewesen wäre. Bei uns gleichen sich die Charaktere, weil sie unter Zwang stehen; man sieht die Menschen nicht so, wie sie sind, sondern so, wie sie zu sein gezwungen sind. Leben, Herz und Geist in Knechtschaft, so spricht nur die Furcht aus ihnen, und deren Sprache ist immer dieselbe. Da spricht nicht die Natur, die sich ganz anders ausdrückt und die so vielerlei Erscheinungsformen hat.«1 Heute kann man immer wieder lesen, die Aufklärung habe im Unterschied zur Romantik lediglich eine abstrakte, ewig gleiche Natur gekannt, die Natur des Naturrechts und der Naturgesetze. Hier dagegen sieht man, wie wenig dieses Klischee von der Aufklärung zutrifft. Wenn die Natur eine Einheit ist, so ist sie eine Einheit in der Mannigfaltigkeit, ähnlich wie in dem heutigen ökologischen Leitbild der Biodiversity, der Artenvielfalt. Heute allerdings ist die Natur unter dem Einfluß des institutionellen Naturschutzes nur noch als nichtmenschliche, gegen den Menschen zu schützende Natur geläufig. In der Naturidee des 18. Jahrhunderts dagegen stand die menschliche Natur im Mittelpunkt; und diese Natur-Semantik lebte noch bis ins frühe 20. Jahrhundert fort. Die Naturbegeisterung kam ursprünglich aus einem Vollgefühl der eigenen sinnlichen Natur; heute muß man befurchten, daß die Abkehr von dieser alten Naturidee im Endeffekt die Wurzeln der Naturbegeisterung kappt, so daß »Natur« am Ende nur noch als Legitimation von Verbotsschildern fungiert. Bei Montesquieu dagegen steht die Natur im Bund mit der Freiheit; nur in einer freien Gesellschaft kann sich die Natur im Menschen in ihrem ganzen Reichtum entfalten. Man muß im übrigen kein Psychoanalytiker sein, um zu erkennen, daß der lebenslustige Rica bei der Natur der Frauen zuallererst an eine ganz bestimme Natur denkt: an die erotische. Auch da bewegt er sich in einer alten Tradition der Natursemantik, wenn man auch über diese in den historisch-philosophischen Wörterbüchern unter dem Stichwort »Natur« kaum etwas findet. Alan us ab Insulis (Alain de Lille), ein Dichter-Theologe und doctor universalis des Mittelalters, läßt in seinem Planctus Naturae die Natur, die sich als demütige Dienerin Gottes und Mittlerin zwischen Gott und Mensch bekennt, Anklage gegen die »Sodomie« erheben, die die Natur um die Zeugung von Kindern betrüge:2 ein Standardvorwurf gegen empfängnisverhütende Sexualpraktiken in der katholischen Morallehre, aber auch bei Rousseau. Das heißt jedoch keineswegs, daß diese Halbgöttin Natur eine Feindin der Sexualität wäre. Als 1443 der damals 28jährige Enea Silvio Piccolomini, der spätere Papst Pius II. im Spätmittelalter waren die Päpste bisweilen deutlich andere Charaktere als heute — seinem Vater gesteht, daß er einen unehelichen Sohn gezeugt hat, entschuldigt er sich, um dem väterlichen Donnerwetter zuvorzukommen, mit der Natur: Das Übel der Fleischeslust sei nun einmal »[...] weit verbreitet, wenn es ein Übel ist, sich natürlicher Fähigkeiten zu bedienen; obschon ich nicht einsehe, warum denn Liebeslust verdammt werden soll, da

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Montesquieu: Perserbriefe, 63. Brief, S. 112. Vgl. dazu Curtius, Ernst Robert: Europäische Literatur, S. 127 ff.

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die Natur, die nichts ohne Zweck erschafft, das Verlangen danach allem Lebendigen eingepflanzt hat, damit das menschliche Geschlecht weiterbestehe.«3 Und wenn wir von dort einen Sprung über ein halbes Jahrtausend machen, bis zu dem berühmten Essay des Philosophen Ludwig Klages Mensch und Erde, seiner Botschaft an das Treffen der freideutschen Jugend auf dem Hohen Meißner 1913, finden wir dort wieder die Verbindung von Natur und Liebe, hinreißend formuliert wie kaum je in allerjüngster Zeit. Der Niedergang der grünen und der blühenden Natur, die Verarmung der Landschaft und der Vogelwelt ist für den Philosophen gleichbedeutend mit dem »Untergang der Seele«: »die heimliche Herzenswärme der Menschheit ist aufgetrunken«. Rettung verheißt - so Klages allein die »weltschaffende Webkraft allverbindender Liebe«.4 Auf niederem Niveau trällert Marlene Dietrich in dem Film Der blaue Engel, der sie zum Weltstar machte: »Das ist was soll ich machen - meine Natur, kann nichts als Liebe nur, und sonst gar nichts«. Die Kontinuität der erotischen Natur reicht vom Mittelalter bis ins 20. Jahrhundert. Es gibt Grund zu dem Verdacht, daß die wahre Wurzel der Attraktivität von »Natur« nicht zuletzt hier zu suchen ist; und das Studium Montesquieus — des Denkers und des Menschen — ist geeignet, diesen Verdacht zu verdichten, unbeschadet der Distanz zwischen ihm und Marlene. Ganz gewiß beruht der Reiz der Natur nicht auf begrifflicher Klarheit; ganz im Gegenteil: Der Begriff der Natur erweist sich über die Jahrhunderte und Jahrtausende in dem, was er meint, als geradezu einzigartig widersprüchlich. Natur als das besonders Menschliche im Menschen und Natur als die nichtmenschliche, gegen den Menschen zu schützende Welt; Natur als Gesetzgeberin (»Naturgesetze«, »Naturrecht«) und Natur als die gesetzlose Wildnis, Natur als ewig gleiches Wesen und Natur als unendliche Vielfalt, die heilende Natur und die grausame Natur ... »Was heißt denn schon Natur?« lautete die Preisfrage eines von der Deutschen Gesellschaft für Gartenkunst 1992 ausgeschriebenen Wettbewerbs. Den Preis sprach die Jury dem Philosophiestudenten Wolfgang Ullrich zu, der darlegte, warum es die Natur als Berufungsinstanz nicht gebe.5 Schon im 18. Jahrhundert kursierte in Frankreich das Bonmot, die Natur sei eine Dame, die jeder kenne und deren Ruf dadurch zuschanden werde. Der im Jahre 1889 erschienene Artikel »Natur« des Deutschen Wörterbuches enthält den Stoßseufzer, es sei unmöglich, dieses »unendlich oft gebrauchte Wort [...] auch nur annähernd erschöpfend« abzuhandeln. 6 All die Begriffsgeschichten, die in dem semantischen Wirrwarr nach dem gemeinsamen Nenner suchen, geraten früher oder später ins Schleudern und geben irgendwann auf, spätestens im 19. Jahrhundert, als die Natur durch Darwin eine Brisanz bekommt wie noch nie zuvor. Von der antiken Stoa bis zur Scholastik des Hochmittelalters besitzt die historische Semantik noch eine leidliche Ordnung; aber schon in der Renaissance gerät die Natur ins Schwimmen - und dabei lassen die Autoren das erotische,

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Piccolomini, Enea Silvio: Briefe, S. 78 f. Mogge, Winfried/Reulecke, Jürgen (Hrsg.): Hoher Meißner, S. 181 und 188. Schäfer, Robert: Was heißt denn schon Natur, S. 8. Vgl. dazu Radkau, Joachim: Warum wurde die Gefährdung der Natur durch den Menschen nicht rechtzeitig erkannt, S. 48 f.

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therapeutische und juristische Bedeutungsfeld von Natur in der Regel aus, obwohl sich die Macht der Natur gerade in diesen Regionen besonders eindrucksvoll zeigt. In der Neuzeit lassen sich geradezu konträre Natur-Geschichten konstruieren: Die amerikanische Umwelthistorikerin Carolyn Merchant datiert seit Bacon und Descartes einen »Tod der Natur«; man kann jedoch mit nahezu beliebig viel Zitaten auch eine rasante neuzeitliche Karriere der Natur belegen. Vielleicht lag der Grundfehler darin, daß man »Natur« unter dem Einfluß der Philosophen als Begriff mißverstand. In Wahrheit handelt es sich dabei wohl um etwas anderes - und mir scheint, dafür kann gerade auch Montesquieu als Kronzeuge gelten: Ganz treffend nennt Norbert Elias das Wort »Natur« ein »Symbol, das eine Synthese auf sehr hoher Ebene repräsentiert« - eine Synthese von langer kollektiver Erfahrung und Reflexion.7 Eine Abstraktion, gewiß, aber eine, die sich immer wieder konkretisiert und als nützliche Orientierungshilfe bewährt: In dieser Richtung dürfte des Rätsels Lösung liegen. Wie läßt sich der Erfahrungsfiindus, auf den »Natur« anspielt, kurz skizzieren? Gewiß als eine Erfahrung dessen, daß unser eigenes Wohlbefinden auf vielerlei Art mit dem Gedeihen der Tier- und Pflanzenwelt, mit der Klarheit und Unerschöpflichkeit der sprudelnden Quellen zusammenhängt und all dies, wenn auch abseits der vom Menschen erlassenen Gesetze, bestimmten Regeln unterliegt, gegen die man nicht willkürlich verstoßen darf. Daß sich der an die Natur geknüpfte Kreis von Vorstellungen bei aller scheinbaren Widersprüchlichkeit über die Jahrhunderte doch als bemerkenswert stabil erwies, liegt wohl daran, daß »Natur« immer wieder eine nützliche, ja lebensnotwendige Fiktion war.8 Kein Wunder; denn der Mensch ist ein biologischer Organismus und unterliegt den gleichen Gesetzen wie andere Organismen: Er verdorrt ohne Wasser, verhungert ohne Pflanzen und Tiere, verkümmert ohne Licht, stirbt aus ohne Sex. Jean Ehrard schließt sein großes Werk L'idée de nature en France à l'aube des lumières mit der treffenden Beobachtung: »In der langen Geschichte der Naturidee unterscheidet sich die Epoche, die wir untersucht haben, deutlich von der vorausgehenden und darauffolgenden Zeit. Unsere Analyse hat jedoch zugleich gezeigt, daß jenseits der Unterschiede tiefe Analogien fortbestehen. In diesem Sinne täuscht die Trägheit des Vokabulars nicht. Wenn es zutrifft, daß sich der Inhalt des Wortes >Natur< von einer Generation zur anderen unmerklich verändert, so geschieht dies durch das wechselnde Gleichgewicht der Elemente, die sich, fur sich genommen, kaum verändern.«9 Diese Bemerkung gibt einen geeigneten Ausgangspunkt, um die Bedeutung Montesquieus zu bestimmen. Denn die einzelnen Bestandteile seiner Naturidee sind nicht neu, sondern reichen in der Regel bis in die Antike zurück: ob die Natur als die Welt des Wachsens oder als das Wesen der Dinge. Das Ideal des Lebens im Einklang der Natur, das heute vielfach als neue Offenbarung der Öko-Bewegung gilt, entstammt der antiken Stoa; die Vorstellung, daß die menschlichen Kollektivcharaktere entscheidend durch das Klima geprägt sind, geht auf Hippokrates zurück. Bei Montesquieu

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Elias, Norbert: Über die Natur, S. 471. Vgl. dazu Radkau, Joachim: Natur und Macht, S. 31 f. Ehrard, Jean: L'idée de nature, S. 419.

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bündeln sich jedoch die verschiedenen Natur-Aspekte in einer bis dahin einzigartigen Weise: zu einer Zeit, als die Natur als Gesetzgeberin gebieterischer denn je in Erscheinung tritt und die Natur als Lebenselixier zugleich intensiver als bisher erfahren wird. Die damals entstehende moderne »Naturwissenschaft« fuhrt die Natur auf einige wenige Prinzipien zurück; zugleich jedoch konfrontiert der Kolonialismus die Europäer mit der überwältigenden Vielfalt der tropischen Natur. Der Europäer muß furchten, von diesem Dschungel verschlungen zu werden. Und doch zeigt sich schon bald, besonders auf einigen neu kolonisierten Inseln - von Madeira bis Mauritius - , daß diese Natur manchmal überraschend fragil ist und durch menschliche Eingriffe rasch zerstört oder bis zur Unkenntlichkeit verändert werden kann. Alfred W. Crosby und Richard H. Grove haben dies in zwei Pionierwerken der Umweltgeschichte, Ecological Imperialism und Green Imperialism, eindrucksvoll dargestellt. Umweltzerstörung und Umweltbewußtsein liegen in der Geschichte oft nahe beieinander; diese Nähe besitzt ihre dialektische Logik. Im einhundertunddreizehnten der Lettres persanes sinniert Usbek: »An mehreren Stellen der Erde kommt es zu Ermüdungserscheinungen, die die Menschen ihrer Lebensgrundlage berauben. Was wissen wir, ob es nicht auch für die ganze Erde solche allgemeinen, langsam und unmerklich wirkenden Ermüdungserscheinungen gibt?«10 Die Vorstellung von einem Altern der Natur hat antike Wurzeln.11 Im Unterschied zu modernen Öko-Apokalyptikern assoziiert Montesquieu allerdings, darin ein Kind seiner Zeit, dieses Altern nicht mit Über-, sondern mit Unterbevölkerung und glaubt allen Ernstes an einen Bevölkerungsrückgang seit der Antike. 12 Sucht er die unverdorbene Natur in der exotischen Welt? Seine Lettres persanes zeugen von dem zu jener Zeit in Mode kommenden Reiz des Exotischen; dennoch kann sich die Natur der Frauen in Paris freier entwickeln als in den Harems des Orient. Lady Mary Montague allerdings, damals als Gattin des britischen Botschafters in Konstantinopel, fand sich beim Anblick der türkischen Frauen im Badehaus voller Entzücken »augenblicks in den Naturzustand zurückversetzt«.13 Auch das gehört zu den Orient-Phantasien jener Zeit, von denen Montesquieu nicht unberührt war. Während heute der Nahe Osten gemeinhin Assoziationen mit Öl, Krieg und Terrorismus hervorruft, assoziiert Montesquieu mit dem Orient, so wie es noch um 1900 gang und gäbe war, den Harem - zwar nicht für die Frau, dafür um so mehr für den Mann das Eldorado sexueller Freiheit. Wenn wir versuchen, die zunächst so verworrene Geschichte der Naturideen auf ein paar ganz einfache Linien zu bringen, öffnet sich in der Frühen Neuzeit zunächst eine immer tiefere Kluft zwischen der abstrakten und der konkreten Natur: der Natur der Naturwissenschaft, der Naturgesetze und des Naturrechts auf der einen, der sinnlich wahrgenommenen Natur auf der anderen Seite. Es lohnt sich, die Stellung Montesquieus vor diesem Hintergrund zu bestimmen. Bis zu einem gewissen Grade, wenn auch gewiß nicht perfekt und definitiv, gelingt ihm ein Brückenschlag über diese Kluft, eine Vermittlung zwischen der

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Montesquieu: Perserbriefe, 113. Brief, S. 198. Vgl. dazu Glacken, Clarence: Traces on the Rhodian Shore, S. 379 ff. Ebenda., S. 579. Vgl. dazu Diederichs, Ulf: Vom Glück, S. 23.

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abstrakten und der konkreten, der metaphysischen und der physischen, der absoluten und der empirischen Natur. Das Naturrecht ist ein Bindeglied zwischen der abstrakten und der empirischen Natur, zwischen der Natur der Naturgesetze und der sinnenhaften Natur im Menschen. Wie Friedrich Meinecke allerdings in dem Montesquieu-Kapitel seiner Entstehung des Historismus bemerkt, ging der Riß zwischen den beiden Naturen mitten durch das Naturrecht hindurch: »Schon innerhalb der naturrechtlichen, auf die Stoa zurückgehenden Denkweise gab es einen Gegensatz zwischen einem absoluten Naturrecht, dessen Quelle die menschliche, von Gott gegebene Vernunft war und dessen Aussprüche zeitlos gültige Normen waren, und einem relativen und differenzierenden Naturrecht, das, ohne diese Normen selbst grundsätzlich zu verleugnen, doch Rücksicht nahm auf die tatsächlichen Unvollkommenheiten der menschlichen Natur und die mannigfaltigen Besonderheiten des gesellschaftlichen Lebens.« 14 Meinecke bezieht sich dabei auf Ausführungen des Religionswissenschaftlers Ernst Troeltsch, der in engem Zusammenhang mit Max Weber stand und für den dieses Doppelgesicht des Naturrechts ein Leitmotiv seiner Deutung der Soziallehren der antik-christlichen Tradition war. Meinecke fährt fort: »Und der Begriff der >Natur< selbst mußte dabei andauernd schwanken zwischen einer irrationalen oder überrationalen Lebensmacht und Lebensquelle aller Wirklichkeit und einer rationalen, im Geiste des Menschen wirkenden Macht. [... ] Auch Montesquieu ist über solches Kompromiß und solches Schwanken nicht hinausgekommen.« Wenn er bei grundsätzlicher Verwerfung der Sklaverei gleichwohl einräume, daß diese in Ländern mit heißem Klima auf einer »raison naturelle« beruhe, nähere er sich dem »naturalistischen Naturbegriff, der die zwingenden Wirkungen irrationaler und physischer Gewalten auf das menschliche Leben anerkennen mußte, dann aber es auch für vernünftig erklären konnte, ihnen nachzugeben.«1? In den Lettres persanes geschieht die Vermittlung beider Naturen eher über Geschichten als über Philosophie. In den Briefen der liebeshungrigen Haremsfrau Roxane bricht die menschliche Natur in aller Sinnenhaftigkeit durch. Der reisende Perser Usbek entdeckt, wie er im siebenundneunzigsten Brief dem Derwisch auf dem Berge Jason berichtet, bei den Pariser Philosophen jedoch auch staunend die Erkenntnis von »allgemeinen, unveränderlichen und ewigen Gesetzen«, die der wahre »Schlüssel der Natur« seien und die westliche »Philosophie mit Wundern erfüllt« habe. 16 Im Esprit des lois schildert Montesquieu in aller Breite, wie gerade die Gesetze der natürlichen Natur, allen voran der Einfluß des Klimas auf den Menschen, es naturgemäß machen, daß die menschlichen Gesetze in verschiedenen Klimaregionen unterschiedlich seien. Das Naturrecht ist gerade nicht überall gleich, so wie es die Naturgesetze sind. Bei der Auflösung des antiken Gegensatzes zwischenphysis und nomos, Natur und Gesetz, nicht nur in den Natur-, sondern auch in den Rechts- und Staatswissenschaften, gewinnt die Klimatheorie strategische Bedeutung. »L'empire du climat est le premier des tous les

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Meinecke, Friedrich: Die Entstehung des Historismus, S. 130. Ebenda, S. 131. Montesquieu: Perserbriefe, 97. Brief, S. 170 f.

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empires«, konstatiert Montesquieu ohne viel differenzierende Skrupel als allgemeines Gesetz im Esprit des lois: »Die Herrschaft des Klimas ist unter allen Herrschaften die erste«,17 sie setzt die Grundbedingungen. Aus dem Klima ergeben sich vor allem die Chancen fur Herrschaft und Freiheit, für Trägheit und Vitalität. Wie so viele Aufklärer jener Zeit hegt er die Grundüberzeugung, daß die Wahrheit einfach sei und der philosophische Geist, je schärfer und kühner er denke, zu desto einfacheren Wahrheiten gelange, sehr im Unterschied zu dem heute verbreiteten Grundgefühl, daß der Fortschritt allenthalben, in der Wissenschaft wie in der Gesellschaft, die Komplexität erhöhe. Heutzutage, wo Klimatheorien auf das Niveau vulgärer Touristenweisheiten abgesunken sind und immer leicht den Geruch des Rassismus auf sich ziehen, gelten Montesquieus breite Ausführungen über den Einfluß des Klimas als ein peinliches und antiquiertes Element im Esprit des lois, über das man am liebsten hinweg liest. »II faut écorcher un Moscovite pour lui donner du sentiment« - »Einem Russen muß man die Haut abziehen, damit er etwas fühlt«:18 Welcher Rußlandkenner schreit bei solchen Sprüchen nicht innerlich auf? Schon Voltaire macht Montesquieus Klimatheorien lächerlich.19 Aber natürlich war der Ausspruch über den »Moskoviter« ein halber joke. Mit Verwunderung stößt man gerade vor der kategorischen Feststellung über die Hegemonie des Klimas auf Ausführungen darüber, daß jene Reformen Peters des Großen, die den Russen »die Sitten und den Lebensstil von Europa« verliehen hätten, genau deshalb erfolgreich gewesen seien, da sie dem dortigen Klima eher gemäß gewesen seien als die den Russen davor aufgezwungenen Sitten und Institutionen. Montesquieu ist gewiß von keinem engen Klima-Determinismus besessen; das würde zu der spielerischen Leichtigkeit seines Denkens nicht gut passen. Man muß jedoch bei alledem bedenken, daß die Zeit einer probabilistischen Naturwissenschaft, die nicht in festen Kausalitäten, sondern in Wahrscheinlichkeiten denkt, trotz mancher Ansätze - in der Versicherungsmathematik wie in den Morallehren20 - damals noch längst nicht gekommen war. Bis ins 20. Jahrhundert hinein verbindet sich »Natur« vielfach mit deterministischen Vorstellungen; diese Tradition bedeutet fur das heutige Naturdenken eine Belastung. Dennoch dürfte es heute, nach einem halben Jahrhundert enttäuschender Erfahrungen mit der Entwicklungshilfe, nur wenige geben, die nicht glauben, daß die Chancen für Demokratie, Modernisierung und ökonomischen Fortschritt in den gemäßigten Klimazonen weitaus besser sind als in den Tropen. Aber diese unterstellte Kausalität ist viel zu simpel und zu banal, um heutzutage darauf eine Theorie zu gründen; sie hat einen üblen Geruch, zerstört Hoffnungen und liefert keine Basis für Forschungs- und Entwicklungsprojekte. Der Wirtschaftshistoriker David S. Landes kombiniert heutzutage in seinem weltweit beachteten Opus über Wohlstand und Armut der Nationen die Klimatheorie mit der These, daß Wertvorstellungen, die ein hohes Arbeitsethos begünstigen, den

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Montesquieu: Vom Geist der Gesetze, XIX. 14., S. 195. Ebenda, XIV. 2., S. 257. Vgl. Glacken, Clarence: Traces on the Rhodian Shore, S. 576. Vgl. Daston, Lorraine: Classical Probability in the Enlightenment.

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ökonomischen Erfolg eines Landes bestimmen: Nur in Verbindung mit Max Weber kann man Montesquieus Klimatheorie noch heute präsentieren. Montesquieus Naturdenken beschränkt sich jedoch keineswegs nur auf klimatologische Spekulationen. In gewissem Sinne naturalistisch ist auch seine Grundidee, daß ein humanes Maß an Recht und Freiheit, wenn überhaupt, nur durch die Gewaltenteilung gewährleistet werden kann: nicht allein durch einen Fürsten, mag er noch so sehr guten Willens sein, und ebensowenig allein durch die - in der Realität doch stets fiktive - volonté générale Rousseaus. Dabei setzt er voraus, daß die Macht nur durch eine andere Macht in Grenzen gehalten werden kann: nicht durch die Herrschaft einer höheren Vernunft und auch durch keine Volksherrschaft. Er geht von einem skeptisch-realistischen Bild der menschlichen Natur aus, wenn auch nicht von einem radikal pessimistischen wie Hobbes: Der Mensch hat von Natur aus ein zu großes Vergnügen an der Macht, als daß er seiner Machtausübung freiwillig Schranken setzte. Immerhin besitzt er Vernunft genug, um sich, wenn er auf eine nicht leicht zu besiegende Gegenmacht trifft, mit dieser friedlich zu arrangieren, anstatt es auf einen potentiell selbstmörderischen Kampf ankommen zu lassen. Friedliche Koexistenz ist möglich und mündet nicht notwendig in Kampf und Herrschaft des Siegers. So wie in der Natur die Vielfalt herrscht, welche die Schönheit und Lebendigkeit der Natur bedingt, regiert auch in einer naturgemäßen Herrschaftsform eine Pluralität der Machtquellen. In dieser Hinsicht argumentiert auch Max Weber ganz im Geiste Montesquieus, wenn er ihn auch nur selten zitiert. Bei aller Faszination durch Bismarck verachtet er jenes Bismarckianertum, das danach lechzt, sich von dem Eisernen Kanzler am Gängelband fuhren zu lassen; ebenso versteht es sich jedoch auch für ihn von selbst, daß demokratische Wahlen allein kein Garant fiir menschliche Autonomie und Menschenwürde sind, zumal gemäß dem »Gesetz der kleinen Zahl« — herrschen können stets nur wenige — auch Demokratien de facto Oligarchien sind. Ein einheitlicher und handlungsfähiger »Volkswille« existiert fiir ihn ebensowenig wie fur Montesquieu. Nationale Harmonie ist für ihn — von Extremsituationen abgesehen - kein Ideal und kein realistisches Ziel. Daher ist es falsch, nach der in Deutschland einst beliebten Manier die Auseinandersetzung heterogener Kräfte innerhalb einer Nation als »Parteiengezänk« zu verdammen; es handelt sich dabei vielmehr um einen unvermeidlichen, ja nützlichen Kampf, der Kräfte freisetzt. Die Pluralität der Interessen und Ideale, der »Polytheismus der Werte«, ist für ihn eine gleichsam naturwüchsige Grundlage aller Politik, die durch keine höhere Vernunft aufzulösen ist. Montesquieu allerdings, von seinem glücklichen Naturell her im Unterschied zu Weber letztlich ein Optimist, traut der Lernfähigkeit der Menschen mehr zu als Weber. Berühmt ist die »Geschichte der Troglodyten«, die Montesquieu im elften der Lettres persanes erzählt.21 Diese höhlenbewohnenden Urmenschen standen noch den wilden Tieren nahe; »sie waren so bösartig und wild, daß es bei ihnen weder Recht noch Rechtsprechung gab.« Eine Zeitlang wurde ihre Bosheit durch einen strengen Despoten gezügelt; aber dann ermordeten

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Montesquieu: Perserbriefe, Ii. Brief, S. 26 ff.

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sie ihn und lebten hinfort hemmungslos nach ihrem »wilden Naturell«. Jeder folgte seinen eigenen Interessen ohne Rücksicht auf den anderen. Da der Ackerbau ein funktionierendes Bewässerungssystem mitsamt entsprechender Kooperation erforderte, ging er als Folge des bornierten Egoismus zugrunde, und eine Hungersnot brach aus. Am Ende brachten sich fast alle Troglodyten gegenseitig um, bis auf zwei Familien, die aus der Katastrophe lernten und den Segen der Rücksichtnahme auf das Gemeinwohl entdeckten. »Mit gemeinsamem Eifer bemühten sie sich um das Gemeinwohl. Sie kannten keine anderen Zwistigkeiten als solche, die die zärdichste Freundschaft aufkommen läßt.« Und mit der Harmonie und der Liebe gediehen die Äcker. Aus der traumatischen Erfahrung entstand eine neue menschliche Natur, eine historisch gewordene Natur. Die Vorstellung einer natura prima und einer natura secunda, bei der menschlichen wie bei der äußeren Natur, durchzieht das Naturdenken seit der Antike. Natürlich handelt es sich dabei um Metaphern; diese sind jedoch mit Einsichten der modernen Anthropologie und Soziobiologie in Einklang zu bringen. In der Tat gibt es neben jener Natur, die allen Menschen gemeinsam ist, auch tief eingewurzelte Gewohnheiten und Wahrnehmungsweisen, die sich zwar im Laufe der Zeit verändern, nicht jedoch in dem Begriff »Kultur« aufgehen, vielmehr mit der Kultur ihrer Zeit in Konflikt treten können. Heute würden viele Menschen gerne »ökologisch korrekt« leben; aber sie können nun einmal nicht anders als viel konsumieren, heizen, duschen und Auto fahren. Man könnte mit der spannungsvollen Dreiecksbeziehung zwischen der überhistorischen und der historisch gewordenen menschlichen sowie der nichtmenschlichen Natur eine ganze Geschichte der Mensch-Umwelt-Beziehungen über die Jahrtausende schreiben: Nicht zuletzt als Folge dieser Spannungen handelt es sich dabei um eine unendliche Geschichte. Auch jene Schrift Max Webers, die ihn weltberühmt machte und deren HundertjahresJubiläum in diesem Jahr 2005 begangen zu werden verdiente: Die protestantische Ethik und der >Geist< des Kapitalismus, handelt von der Entstehung einer zweiten menschlichen Natur, allerdings auf halbverdeckte Art, so daß dieser Aspekt in der Masse der Weber-Literatur anscheinend noch nie Beachtung fand: Allzu sehr empfinden die meisten Sozialwissenschaftler heute jeglichen »Naturalismus« in ihrer Wissenschaft als Fremdkörper und Kontamination. Da beschreibt Max Weber die Entstehung einer asketischen Arbeitsmoral, die den Gewinn immer weiter akkumuliert, ohne das Gewonnene zu genießen, und auf diese Weise die unendliche Dynamik des modernen Kapitalismus entfesselt. Dieser »Erwerb von Geld und immer mehr Geld«, so Weber, »unter strengster Vermeidung alles unbefangenen Genießens, so gänzlich aller eudämonistischen oder gar hedonistischen Gesichtspunkte entkleidet, so rein als Selbstzweck gedacht«, sei etwas derart Unnatürliches, daß man ihn als Massenerscheinung nirgends auf der Welt als im neuzeitlichen Westen finde.22 Aus purer Geldgier lasse sich die Genese dieses Kapitalismus nicht erklären; vielmehr müsse ursprünglich eine tiefere, leidenschaftlichere Triebkraft im Spiel gewesen sein, um die alte, von einem trägen Lustprinzip geprägte menschliche Natur zu besiegen. Diese Triebkraft erblickt Weber in der

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Weber, Max: Protestantische Ethik, S. 15.

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Angst vor ewiger Verdammnis und der Sehnsucht des Calvinisten, durch beruflichen Erfolg seine Prädestination zum Heil bestätigt zu sehen. Handelt es sich um eine Uberwindung der Natur durch den Geist? Die Arbeitsaskese besteht jedoch im Menschen zwanghaft auch dann weiter, wenn der alte religiöse Antrieb nachgelassen hat. In einer berühmten Passage am Schluß der Protestantischen Ethik schreibt Weber, im Sinne des puritanischen Predigers Baxter habe die »Sorge um die äußeren Güter« nur wie »ein dünner Mantel, den man jederzeit abwerfen könne«, sein sollen. »Aber aus dem Mantel ließ das Verhängnis ein stahlhartes Gehäuse werden. Indem die Askese die Welt umzubauen und in der Welt sich auszuwirken unternahm, gewannen die äußeren Güter zunehmende und schließlich unentrinnbare Macht über den Menschen, wie niemals zuvor in der Geschichte.«23 Man könnte meinen, daß Weber hier auf eine Allmacht des Gesellschaftssystems anspielt. Er hat jedoch im allgemeinen den Begriff »Gesellschaft« ganz bewußt vermieden — fur spätere Soziologen eine Paradoxie - und wiederholt heftig gegen die Vorstellung gewettert, man könne konkretes menschliches Verhalten aus Kollektivbegriffen deduzieren. Das »stählerne Gehäuse« ist offensichtlich im Menschen selbst verankert; es ist ihm zur zweiten Natur geworden, die selbst die Säkularisierung der Kultur überlebt. Weber hat an sich selbst eine zwanghafte Arbeitswut aus Flucht vor der Depression erfahren - eine Arbeitswut, die von ebenso zwanghafter sexueller Askese begleitet war - und auch an sich selbst erlebt, wie er zusammenbrach, als er große berufliche Ziele verlor und mit seinem Körper, mit seinen überreizten »Nerven«, allein war. 24 Danach fühlte er sich über viele Jahre zu jeder termingebundenen Verpflichtung unfähig: In dieser Lebenssituation verlor die Selbstdefinition durch Arbeit und beruflichen Erfolg ihre Selbstverständlichkeit und wurde es ihm zum großen Rätsel, auf welche Weise die Arbeits- und Berufsbesessenheit einst zustande gekommen war. Die Lösung des Rätsels öffnete ihm den Weg aus der Depression heraus. Die Protestantische Ethik ist von Montesquieu beeinflußt, allerdings vor allem durch eine eher beiläufige Bemerkung im Esprit des lois: »Unter allen Völkern der Welt« hätten es die Engländer »am besten verstanden, sich folgende drei großen Bereiche miteinander dienstbar zu machen: Religion, Handel und Freiheit.«2? Montesquieu, wenngleich im allgemeinen anglophil, schätzte den Puritanismus nicht; über die Jansenisten, die in Frankreich den Puritanern am ehesten ähnelten, spottete er: »Von allen Vergnügungen lassen uns die Jansenisten nur das, uns zu kratzen.«26 Max Weber folgert aus Montesquieus Bemerkung über die Engländer, Montesquieu erkenne diesem Volke den »Frömmigkeitsrekord« zu; und daran knüpft er die entscheidende Frage, ob zwischen diesem Rekord und dem Aufstieg

23

Ebenda, S. 153.

24

Ich begründe diese Deutung von Webers Zusammenbruch, die von Knut Borchardt angeregt ist, jedoch der Darstellung in Marianne Webers »Lebensbild« teilweise widerspricht, detailliert in meiner Weber-Biographie.

25

Montesquieu: V o m Geist der Gesetze, X X . 7., S. 325.

26

Hier zit. nach Stubbe, Helmut: Montesquieu, S. 31.

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zur ökonomischen Führungsposition in der Welt ein innerer Konnex bestehe.27 Die Art und Weise, wie er diese Frage bejahte und den Zusammenhang herstellte, ist die berühmte »Weber-These«. Montesquieu zieht aus seiner zitierten Bemerkung keine Folgerungen. Für seine Person kannte er, der Landadlige und Schloßherr, die geistige Arbeit vorwiegend als Liebhaberei; als ihn sein Richteramt dabei störte, verpachtete er diesen lukrativen Posten gegen eine Leibrente. Im Gegensatz zu jener freundlichen zweiten Natur, mit der seine Troglodyten-Geschichte endet, trägt die aus der puritanischen Ethik hervorgegangene neue Menschennatur Max Webers düstere und gequälte Züge. Uber weite Strecken scheint es so, als ob sich Weber mit diesen Puritanern und deren eiserner Energie identifiziere, und eine Zeitlang hat er da wohl tatsächlich ein Leitbild für sich selbst gesucht; im Finale dieser Abhandlung, die auch sprachlich ein Crescendo ist, wird dieses Leitbild jedoch abrupt zerstört. Zwischen den Zeilen von Webers Werk erkennt man eine wachsende Sympathie für die ursprüngliche menschliche Natur. Den Ausgangspunkt für jenes große Opus, das posthum unter dem Titel Wirtschaft und Gesellschaft erschien, bildeten nicht die in der Druckfassung vorangestellten Soziologischen Grundbegriffe, sondern der nachgestellte Teil über die »urwüchsigen« menschlichen Gemeinschaften. Obwohl er sozialromantische Töne geflissentlich vermied, erkennt man bei ihm doch immer wieder die Auffassung, daß auch die Prägekraft späterer Gesellschaftsformationen vor allem daran hängt, wieweit sie die an die »urwüchsigen« Gemeinschaftsformen geknüpften Emotionen an sich zu binden vermögen. Das erklärt Weber jedoch nicht explizit; ein volltönendes »Zurück zur Natur« wird man bei ihm vergeblich suchen. Er gilt sogar vielfach als Feind der Natur, der von »Ekel vor allem Natürlichen« erfüllt gewesen sei.28 Kein Zweifel: Max Webers Beziehung zur Natur war viel gequälter und gebrochener als die Montesquieus. In beiden Fällen ist es wichtig, das Werk zusammen mit dem Menschen zu sehen. Der französische Landadlige war, wie Jean Lacouture schreibt, »ein glücklicher Mann«: einer, der sich mit seiner eigenen Natur im Einklang fühlte und aus der Zuversicht heraus schrieb, daß eine Harmonie zwischen Mensch und Natur möglich sei - im Leben und Lieben wie in den Gesetzen und Herrschaftsformen.29 »Ich habe fast niemals Kummer und noch weniger Trübsinn verspürt«, bekennt Montesquieu von sich selbst. Er sei zufrieden mit dem Platz, »auf den die Natur mich gestellt hat«, und habe nie einen Kummer gehabt, »den eine Stunde Lesens mir nicht verscheucht hätte.«30 Beneidenswerter Mann! Bei Max Weber ist alles anders; in mehrfacher Hinsicht ist er geradezu der Antityp Montesquieus. Analog zu Maurice Joly's Dialog in der Unterwelt zwischen Machiavelli und Montesquieu möchte man sich einen Dialog in der Unterwelt zwischen Montesquieu und Max Weber ausdenken. Uber viele Jahre litt Weber unter schweren Depressionen, die ihn nicht nur geistig, sondern selbst körperlich lähmten; fast zwanzig

27

Weber, Max: Protestantische Ethik, S. 10.

28 29

Weiller, Edith: Max Weber, S. 305. Vgl. Lacouture, Jean: Montesquieu les vendanges de la liberté, Kapitel XI. »Autoportrait d'un homme heureux« . Montesquieu: Vom weisen und glücklichen Leben, S. 5.

30

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Jahre - die längste Zeit seines wissenschaftlich produktiven Lebens - sah er sich zu regulären Lehrveranstaltungen außerstande; bis an sein Lebensende fühlte er sich nervlich »unter dem Damoklesschwert«, quälten ihn ewige Schlaflosigkeit und Überreiztheit. Die Spannung zwischen einer starken sexuellen Veranlagung und einer schweren sexuellen Blockade brachte ihn derart zur Verzweiflung, daß seine Frau (wohl mit seinem Einverständnis) allen Ernstes mit medizinischen Kapazitäten darüber diskutierte, ob als einzige Therapiemethode die Kastration bleibe. Webers Leidensgeschichte ist von mehr als voyeuristischem Interesse, da sie sich auch in seiner wissenschaftlichen Arbeit spiegelt. Nicht umsonst erklärt Weber in Wissenschaft als Beruf : »Denn nichts ist für den Menschen als Menschen etwas wert, was er nicht mit Leidenschaft tun kann.«31 Gerade deshalb ist ihm der Kampf gegen Werturteile in der Wissenschaft so wichtig, weil das schöpferische Denken von Leidenschaft getrieben wird; zur Wissenschaft kann es nur dadurch werden, daß es sich selbst einer kalten Dusche aussetzt. In seiner Leidenschaft ist das Leiden enthalten; eine Lust an der Selbstquälerei durchzieht sein Denken und Empfinden und erzeugt das charakteristische intellektuelle Reizklima. Zu den großen Ambivalenzen seines Lebens gehört eine Haßliebe zur Natur: zu seiner eigenen Natur wie zum »Naturalismus« in den Sozialwissenschaften, der Übernahme von Denkmodellen aus der Natur und den Naturwissenschaften. Man kann darin ein Leitmotiv seines gesamten Werkes sehen.32 Gerade in den Jahren, in denen er sich mühsam aus der Depression herausarbeitete, entstanden jene Schriften, die heute unter dem Etikett Wissenschaftslehre laufen, und deren roter Faden vor allem in der Auseinandersetzung mit dem Naturalismus besteht. Friedrich Tenbruck, ein Querdenker der Weber-Forschung, hat jedoch darauf hingewiesen, was sonst gewöhnlich ignoriert wird: daß diese Arbeiten ein »naturalistisches Wirklichkeitsbild« voraussetzen und »von dort aus einzig verständlich« werden. »Sie bieten das seltsame Schauspiel eines leidenschaftlichen Angriffs auf den Naturalismus von naturalistischen Positionen aus.«33 Mag Weber auch unter dem Einfluß des Heidelberger Neukantianismus streckenweise einen anderen Eindruck erwecken, so setzt er doch im allgemeinen ganz selbstverständlich voraus, daß sich nicht der Denker seine Wirklichkeit durch Kategorien und Begriffe konstituiert, sondern daß die realen Phänomene, der unendliche Strom des Geschehens, allem Denken vorausgehen. In diesem Sinne war er Positivist reinsten Wassers. »Wirklichkeitswissenschaft« ist sein erklärtes Ziel, die Wirklichkeit der Wirklichkeit eine stets präsente Prämisse und das Trügerische der Projektionen des spekulativen Geistes eine Warnung. Der Sinn seiner »Idealtypen«, mögen diese mitunter wie Abkömmlinge der platonischen Ideen wirken, besteht darin, daß sie Grundstrukturen der Wirklichkeit deutlicher hervortreten lassen. Das Modell dafür bietet die Natur: Bei all ihren unendlichen individuellen Variationen bietet sie doch einheitliche Muster, die alle Angehörigen einer Art miteinander gemein haben. Man kann Webers Werk bis hin zu Wirtschaft und Gesellschaft nur auf der 31 32 33

Weber, Max: Schriften, S. 482. Ausfuhrlich dargestellt in Radkau, Joachim: Max Weber. Tenbruck, Friedrich: Das Werk Max Webers, S. 26.

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Grundlage der Prämisse verstehen, daß es auch eine Natur im Menschen und daher auch Quasi-Naturgesetze des menschlichen Verhaltens und Zusammenlebens gibt, mögen diese Gesetze auch eher Chancen als zwingende Kausalitäten bezeichnen. Weber bekämpft die im 19. Jahrhundert beliebten organologischen Vorstellungen von Staat und Gesellschaft; aber nicht deshalb, weil er ein konsequenter Gegner von jeglichem Naturalismus in den Sozialwissenschaften wäre, sondern weil er mit Recht erkennt, daß es sich dabei um spekulative Pseudo-Biologismen handelt, die die Sozialwissenschaften geradezu daran hindern, zu naturwissenschaftlicher Exaktheit zu gelangen. Wenn er davon ausgeht, daß die großen Kollektiva keine Organismen sind, sondern das Individuum die einzige wirkliche organische Einheit ist, war er ein besserer Naturalist als die, die er kritisierte. Webers Natur ist überhaupt kein Idyll, sondern ihr Lebenselixier ist der Kampf; in diesem Sinne steht er ganz unter dem Einfluß des Darwinismus. Wenn jedoch andere Sozialdarwinisten seiner Zeit glaubten, der struggle for survival werde vor allem auf der Ebene der Völker und Nationen ausgetragen, nicht auf der der Individuen, folgte Weber als Wissenschaftler dieser Auffassung nur sehr begrenzt, mochte er auch in seinen Emotionen ein deutscher Chauvinist sein. Kämpfer sind fiir ihn vor allem das Individuum und die einander durch Brüderlichkeit verbundene Gemeinschaft. Damit befand sich Weber bereits auf dem heutigen Stand der Soziobiologie, die nicht mehr wie noch Konrad Lorenz davon ausgeht, daß die Subjekte im Uberlebenskampf die Arten sind, sondern den Selbsterhaltungstrieb des Individuums fiir noch elementarer hält. Zwischen Montesquieu und Weber liegt der Aufstieg der modernen Naturwissenschaften. Der gequälte Weber hatte nicht nur zu seiner eigenen Natur ein ganz anderes Verhältnis als der glückliche Montesquieu; er fand auch in Wissenschaft und Literatur eine sehr andere Natur vor als Montesquieu anderthalb bis zwei Jahrhunderte zuvor. Die Natur war mittlerweile von den in rasantem Aufstieg befindlichen »Naturwissenschaften« okkupiert; die Humanwissenschaften, die ursprünglich zur Natur ein freundlicheres Verhältnis gepflegt hatten, suchten sich gegen die Naturwissenschaften in ihrem Defensivkampf als »Geisteswissenschaften« neu zu konstituieren. Auch Max Weber stürzte sich zeitweise in diesen Kampf. Da wäre ein offenes »Zurück zur Natur« ein Eigentor gewesen: Auch daraus erklärt sich, daß Webers Naturalismus im allgemeinen so bedeckt blieb, daß ihn die modernen Sozialwissenschaften bei allem Weber-Kult übersehen konnten. Zwar gab es zu Webers Zeiten durchaus eine Renaissance des Naturkultes und des emphatischen Naturbegriffs; es war die Zeit des entstehenden Naturschutzes, des ersten Booms der Naturheillehren und der auf Einklang mit der Natur gerichteten Lebensreformbewegungen. Anders als im 18. Jahrhundert war jedoch zwischen diesem emphatischen Naturbegriff und der Natur der »Naturwissenschaften« eine tiefe Kluft entstanden. Der Naturkult, einst ein Antrieb der Wissenschaft, war wissenschaftsfern, wenn nicht gar wissenschaftsfeindlich geworden. Nicht genug damit, war Weber in seiner Zeit mit einem heillosen Wirrwarr von Naturkonzepten konfrontiert, der den Naturbegriff einem Wissenschaftler, der das klare und saubere Denken liebte, suspekt machen mußte. Wilhelm Bölsche, um 1900 neben Haeckel der erfolgreichste Popularisierer des Darwinismus — der aus diesem jedoch kein Evangelium des Kampfes, sondern eines der Liebe

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machte - , klagte in seinen Gedanken zur Vertiefung des Darwinismus: »Kein Wort in unserer Zeit wiegt so schwer wie dieses Wort Natur. Alles drängt darauf, ringt und lechzt danach. Dieser Begriff Natur hat die Sterne erobert..., er hat den Menschen selber erobert, hat die Geschichte erobert... Und doch ist vielleicht kein zweites Alltagswort unserer Tage so wenig geklärt, so verschleiert, so mißverstanden wie >NaturKampf«< gelte, dürfe das »nicht darüber täuschen, daß tatsächlich Vergewaltigung jeder Art innerhalb auch der intimsten Gemeinschaften gegenüber dem seelisch Nachgiebigeren durchaus normal« sei.44 Ahnlich wie Foucault kennt er einen Unterschied zwischen lustvoller Gewalt und gefühlloser bürokratischer Herrschaft. Wie fiir Roxane verbindet sich auch für ihn am Ende seines Lebens Freiheit mit Natur und mit Kampf- und Todesbereitschaft. Wenn Montesquieu im Esprit des lois daran erinnert, daß im republikanischen Rom Selbstmörder nie bestraft, ihre Tat vielmehr von den Geschichtsschreibern stets gutgeheißen worden s e i , 4 5 trifft er sich da ganz mit der Grundüberzeugung Webers, fur den die Freiheit nach antikem Vorbild immer auch eine Freiheit zum Tode war. Und wenn Montesquieu im neunundsechzigsten der Lettres persanes die Ehre nicht als feudales Relikt, sondern als republikanische Tugend würdigt,46 würde ihm Weber ohne Zweifel recht geben, für den die Ehre stets zu den höchsten menschlichen Werten gehörte. Die moderne Öko-Bewegung, gerade die deutsche, besaß im allgemeinen nur wenig Geschichtsbewußtsein. Dieser Mangel an lebendig präsenter Geschichte kann zu einem Mangel an Zukunft werden. Es ist an der Zeit, die Jahrhunderte und Jahrtausende des Nachdenkens über Natur wieder zu entdecken, auch mitsamt all den Fehlschlüssen, Fallen und ideologischen Ingredienzen. Die Geschichte des Naturdenkens ist alles andere als eine

43

Montesquieu: Perserbriefe, 161. Brief.

44 45

Weber, Max: Wirtschaft und Gesellschaft, S. 30. Montesquieu: Vom Geist der Gesetze, X X I X . 9., S. 396.

46

Montesquieu: Perserbriefe, 69. Brief.

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unschuldige Geschichte; aber es gibt aus ihr unendlich viel zu lernen. Und durch dieses Lernen bekäme Montesquieu, bekäme aber auch Max Weber eine neue Aktualität.

Literatur Bölsche, Wilhelm: Aus der Schneegrube. Gedanken zur Vertiefung des Darwinismus. Neue Volksausgabe, Dresden 1909. Crosby, Alfred: Die Früchte des weißen Mannes. Ökologischer Imperialismus 900-1900. Frankfurt am Main 1991. Curtius, Ernst Robert: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter. Bern und München 1948. Daston, Lorraine: Classical Probability in the Enlightenment. Princeton 1988. Diedrichs, Ulf: Vom Glück des Reisens. München 1994. Ehrard, Jean: L'idée de nature en France à l'aube des lumières. Paris 1970. Elias, Norbert: Über die Natur. In: Merkur, 40/1986. Glacken, Clarence J.: Traces on the Rhodian Shore. Nature and Culture in Western Thought from Ancient Times to the End of the 18th Century. Berkeley 1967. Grove, Richard H.: Green Imperialism. Colonial Expansion, Tropical Island Edens, and the Origins of Environmentalism, 1600—1860. Cambridge 1995. Hellpach, Willy: Geopsyche. Die Menschenseele unter dem Einfluß von Wetter und Klima, Boden und Landschaft. Stuttgart 1950. Hettner, Alfred: Die geographischen Bedingungen der menschlichen Wirtschaft. In: Grundriß der Sozialökonomik, II. Abteilung, 1. Buch. Tübingen 1914, S. 1—31. Joly, Maurice: Gespräche in der Unterwelt zwischen Machiavelli und Montesquieu. Hamburg 1948. Lacouture, Jean: Montesquieu. Les vendanges de la liberté. Paris 2003. Landes, David: Wohlstand und Armut der Nationen. Warum die einen reich und die anderen arm sind. Berlin 1999. Meinecke, Friedrich: Die Entstehung des Historismus. München 1965. Merchant, Carolyn: Der Tod der Natur. Ökologie, Frauen und neuzeitliche Naturwissenschaft. München 1987. Merry, Henry J.: Montesquieu's System of Natural Government. West Lafayette 1970. Meyer, Axel: Die Entstehung der Arten. Neue Theorien und Methoden. In: Fischer, Ernst Peter/Wiegand, Klaus (Hrsg.): Evolution. Geschichte und Zukunft des Lebens. Frankfurt am Main 2003, S. 76-83. Montesquieu, Charles-Louis de Secondât: Vom Geist der Gesetze. Hrsg. von Kurt Weigand. Stuttgart 1984. Montesquieu, Charles-Louis de Secondât: Perserbriefe. Mit Anmerkungen zum Text und einem Nachwort. Aus dem Französischen von Jürgen von Stackelberg. Frankfurt am M a i n 1988.

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Gewaltenteilung heute1

Gewaltenteilung - das viel gerühmte Konzept Montesquieus.2 Jeder kennt es, und die meisten wissen auch, was Montesquieu im absolutistischen Frankreich um die Mitte des 18. Jahrhunderts seinen Zeitgenossen damit sagen wollte: daß Machtfulle grundsätzlich zum Mißbrauch verführt. Deshalb sei es zur Verteidigung der Freiheit notwendig, das Machtmonopol der Krone aufzulösen und die Staatsgewalt auf Monarch, Volk und Adel funktions-, aber auch >standesgerecht< zu verteilen. Dieser kleinen Einsicht war bekanndich eine große Karriere beschieden. Alle westlichen Staaten rühmen sich ihrer Beachtung - und mittlerweile sind es nicht nur diese. Ohne Montesquieu, so steht es im Prospekt fur diese Veranstaltung, wäre das antitotalitäre Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland undenkbar gewesen, und auch mit dieser Feststellung ist fraglos Gewaltenteilung gemeint, jenes Staatsorganisationsprinzip also, dessen Inhalt — kurz gefaßt — mit Trennung von Legislative, Exekutive und Judikative übersetzt wird. Doch wo und was ist Gewaltenteilung heute? ι. Ich könnte mir die Antwort auf die Frage leicht machen. Ich könnte ζ. B. an ein forschungsbegleitendes Spezifikum unseres heutigen Gastgebers Dieter Simon anknüpfen. Der kam regelmäßig - und ganz gleich, was er sich zum Objekt seiner wissenschaftlichen Neugier erkoren hatte - zu dem Ergebnis: Das hat es gar nicht gegeben, bzw., falls es sich um ein Phänomen der Gegenwart handelt: Das gibt es nicht. Von der Rechtstheorie des Byzantinisten Thaleleios bis zur nationalen Bildungspolitik haben die Gegenstände seiner Analyse stets mit dem Verdikt ihrer (mehr oder weniger eindeutigen) Nichtexistenz leben müssen. Auch auf die Frage nach Gewaltenteilung heute käme die karge Antwort genau genommen gibt es sie nicht der Wahrheit zweifellos am nächsten. Aber damit wäre es ja nicht getan. Einfache Antworten fordern oft komplizierte Begründungen, und diesbezüglich ist Gewaltenteilung bzw. die irritierende Feststellung ihrer mangelnden Greifbarkeit ein äußerst lohnendes Objekt. Schließlich werden mit diesem Topos blühende Diskurslandschaften betreten, die doch prima facie ein irgendwie geartetes Vorhandensein des Diskussionsgegen-

1 2

Die Vortragsform wurde beibehalten. Nachgewiesen werden daher im folgenden vornehmlich wörtliche Zitate und Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts. Montesquieu, Charles de: De l'Esprit des lois, Buch XI, Kap. 6 (deutsche Übersetzung: Ernst Forsthoff).



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standes nahe legen: historische, rechtliche und politische, soziokulturelle und philosophische Diskurse, die aus jeweils anderem Erkenntnisinteresse heraus andere Wahrnehmungen verbuchen und zu jeweils anderen Schlußfolgerungen kommen. So hat etwa der Philosoph Odo Marquard, der bekennende Theoretiker des Skeptizismus, das Gesuchte allerorten gefunden. In seiner jüngst erschienenen Aufsatzreihe Individuum und Gewaltenteilung hat er diesen Befund - über den Zwischenschritt, es handle sich dabei um die Bereitschaft zur geistigen Opposition, um die »Intervention gegen Absolutes« - zu der Synthese verdichtet, daß Gewaltenteilung nicht mehr und nicht weniger sei als der »Verzicht auf die Anstrengung dumm zu bleiben«.3 Dagegen ist an sich nichts einzuwenden. Aber ich stehe nicht hier, um aus der Perspektive der skeptischen Philosophie »Gewaltenteilung im Reiche des Geistes« (Marquard) zu ventilieren - da sind andere viel berufener. Ich bin Juristin, Rechtshistorikerin, und von dieser Warte aus will ich mich auf die Suche nach jenem Dogma von »kanonischem Rang« (Werner Weber) machen, dessen Vorhandensein zu bestreiten, verwerflich, und dessen Wirken konkret zu fassen, unmöglich zu sein scheint. 2. Diese These will begründet sein; denn: Juristen entscheiden, aber seit ca. 200 Jahren verlangt die Öffentlichkeit ihnen dafür nachvollziehbare Argumente ab. Ich fange mit Indizien an. Zunächst mit dem schlechtesten, das aber gut in die Misere einfuhrt, nämlich mit der Beobachtung, daß von Gewaltenteilung in unserer Verfassung gar nicht die Rede ist. Auch ein Synonym oder eine Umschreibung sucht man vergeblich; nur Art. 20 Abs. 2 GG bietet ein wenig Trost. Dort heißt es zunächst: »Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt.« An der Existenz verschiedener Organe der Staatsgewalt ist also nicht zu rütteln. Oder anders gesagt: Laut Verfassung gibt es in unserer Demokratie: Legislative, Exekutive, Judikative — aber ist das schon Gewaltenteilung? Gesetzgebung, Verwaltung und Richter hat es auch vor 2000 Jahren gegeben, aber daß etwa das römische Kaiserreich ein gewaltenteilender Staat gewesen sei, hat, glaube ich, noch niemand behauptet. Nun wäre es voreilig, aus dem Fehlen des Wortes im Verfassungstext gleich auf das Fehlen der Sache zu schließen. Das würde nur derjenige tun, der die naive Vorstellung hat, es müsse lückenlos ausformulierte Gesetze geben. Genauso gut ließe sich vertreten, Selbstverständliches braucht nicht eigens gesagt zu werden. Und in der Tat: In den Anfangsjahren des Grundgesetzes hat die deutsche Staats- und Verfassungslehre vom Gewaltenteilungsprinzip gern als von einer Selbstverständlichkeit gehandelt. Mit großer Emphase hat sie es als überzeitliches Phänomen beschrieben, hat es zum nicht zu erschütternden Fundament jedes freiheitlichen Staatsdenkens erhoben. Das in den fünfziger Jahren wiederbelebte Naturrecht im Verbund mit der Metaphysik der politischen

3

M a r q u a r d , O d o : I n d i v i d u u m u n d Gewaltenteilung. Philosophische Studien, Stuttgart 2 0 0 4 ; 7 , 7 6 ff., 87,123.

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Trinität erlaubte es, den Grundsatz zu einem a priori zu stilisieren - zunächst der reinen, dann der politischen Vernunft. Keine Idee, so wird gerührt konstatiert, war in den Beratungen der verfassungsgebenden Versammlung im Jahr 1948 so präsent wie die Gewaltenteilungslehre des großen Franzosen. Montesquieu hat gewissermaßen mit am Tisch gesessen, und seine nicht zu bezweifelnde Wahrheit (Max Imboden) ist durch ständige geistig-moralische Präsenz Teil unserer Verfassungsrealität geworden. a. - Wenn allerdings in normativen Wissenschaften von unbezweifelbaren Wahrheiten gesprochen wird, ist regelmäßig Vorsicht angesagt. Meist deutet die Apodiktik auf inhaltliche Schwächen hin. Und tatsächlich: Die Brücke zurück in die Geschichte war längst nicht so tragfähig, wie es auf Anhieb scheinen mochte. Genau genommen war sie sogar mehr als morsch, denn das, was nach dem Zusammenbruch des Nazi-Regimes rechtsstaatliche Kontinuität stiften sollte, die immer wieder beschworene Gewaltenteilung im Sinne Montesquieu, erwies sich bei näherem Hinsehen als nur bedingt demokratiekompatibel. Der Staatsdenker des 18. Jahrhunderts hatte seine Verfassungstheorie in der Absicht formuliert, die absolute Herrschaftsgewalt der Krone auf die großen sozialen Kräfte seiner Zeit zu verteilen - und sich davon Hemmung der Staatsmacht versprochen. So wie die Revolution in England Ende des 17. Jahrhunderts ein Gleichgewicht zwischen Monarch und Ständen herbeigeführt hatte, so sollte auch im französischen ancien régime die politische Macht auf König, Adel, Volk aufgeteilt werden. Es ging also aus ständischer Sicht zunächst einmal darum, am summum imperium des Königs teilzuhaben, nicht etwa darum, das vorkonstitutionelle, vordemokratische, monarchisch/ständische Herrschaftssystem grundsätzlich in Frage zu stellen. Anders freilich als die englische Staatslehre4 hat Montesquieu die Forderung nach ständischer Partizipation an der omnia potestas mit dem Gedanken der individuellen Freiheitssicherung verbunden. Durch Aufteilung der politischen Macht auf unterschiedliche Gewaltinhaber sollte der Leviathan gebändigt werden, die Macht sollte der Macht Grenzen setzen, damit der einzelne im Staat Freiheit genieße. Dabei war Freiheit allerdings nicht - wie später gern behauptet wurde — als liberale Handlungsfreiheit gedacht. Vielmehr sollten die drei Arten der öffentlichen Gewalt so organisiert werden, daß bestehende Rechte (und das hieß iura quaesita, wohlerworbene, also i.d.R. ständische Vor-Rechte) bestmöglich vor jedermanns Zugriffen gesichert waren. In der Sicherheit vor fremder Willkür (nicht unbedingt nur staatlicher Herkunft) lag die politische Freiheit des einzelnen begründet. 5 Dieses Motiv kommt nirgendwo deutlicher zum Tragen als bei der Beschreibung der richterlichen Gewalt. Die sollte nämlich gewissermaßen gar nicht vorhanden, en quelque façon nulle sein; und dies nicht etwa, weil der Richter an das Gesetz gebunden war und deshalb nur bouche de la loi (so aber seit 200 Jahren ebenso standhaft wie quellenwidrig die juristische Methodenlehre). Vielmehr war Justiz nur deshalb gewissermaßen ein Nichts, weil das Richteramt keinem bestimmten Stand überlassen werden

4 5

Locke, John: The Second Treatise of Government, London 1690. »Die politische Freiheit des Bürgers ist jene Ruhe des Gemüts, die aus dem Vertrauen erwächst, das ein jeder zu seiner Sicherheit hat. Damit man diese Freiheit hat, muß die Regierung so eingerichtet sein, daß ein Bürger den anderen nicht zu fürchten braucht«, Montesquieu, a.a.O. (Fn. 2).

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sollte, so daß jeweils nur Gleiche über Gleiche zu Gericht saßen (»man furchtet das Amt, aber nicht die [fremden] Beamten«6). Ziel aller Überlegungen war es demnach - mit einer auf die ständische Gliederung der Gesellschaft abstellenden Bereichsverteilung - , zwischen den politischen Akteuren ein Machtgleichgewicht zu erreichen und so die in der Machtkonzentration angelegten Mißbrauchsmöglichkeiten zu minimieren. Ziel war es nicht, mit einem abstrakten Prinzip der Trennung von Gesetzgebung, Regierung und Richteramt ein Axiom freiheitlicher Staatsorganisation zu setzen. b. - Wenn sich die deutsche Staatstheorie also nach 1945 damit begnügt hätte, die Gewaltenteilungslehre Montesquieus als die in einem bestimmten Geschichtsfeld verankerte Idee institutioneller Machtmoderation zu rekonstruieren, so wäre ihr manche Irrung und Wirrung erspart geblieben. Vor völlig veränderten historischen Rahmenbedingungen hätte man sich auf die Entwicklung von bereichsadäquaten Funktions- und Organisationsformen konzentrieren können, die geeignet waren, dort, wo die Demokratie des 20. Jahrhunderts Macht- und Mißbrauchspotential aufwies, moderierend und kontrollierend einzuwirken. Der Blick wäre freier gewesen, ζ. B. das Parteienwesen als künftiges Zentrum politischer Einflußnahme zu begreifen, das Verhältnis von Regierung und Opposition ebenso wie die Organisation der großen sozialen und wirtschafilichen Verbände. Alles das stand aber nicht im Zentrum der Sorge unserer Verfassungsväter und ihrer frühen Interpreten. In geradezu zwanghaftem Bemühen um nahtlose Anschlüsse an historische Autorität stellte man stattdessen neben pathetischen Bekenntnissen zum großen französischen Vorbild zunächst einmal die klassische Trias Legislative, Exekutive und Judikative in den Vordergrund des Gewaltenteilungsdenkens, ohne die Frage aufzuwerfen, ob sich dort eigentlich noch die entscheidenden Machtauseinandersetzungen abspielten. Die Gründe fur diese letztlich ahistorische Fixierung liegen bekanntlich in der noch frischen Erfahrung des totalitären Staates und in dem redlichen Wunsch, künftigem Mißbrauch staatlicher Macht mit bewährten Konzepten entgegenzuwirken. Der Alptraum der NS-Diktatur sollte mit einem klaren Bekenntnis zu den Verfassungsprinzipien der freien Welt vertrieben werden. Daher genügte es nicht, die ausgewogenen Kompetenzregeln des Grundgesetzes als die freiheitliche Errungenschaft der Nachkriegsordnung zu begreifen, die sie eigentlich darstellten. Mit kleiner Münze wollte man die Schuld der Vergangenheit nicht abtragen. Es sollte mehr, mindestens eine nicht zu bezweifelnde Wahrheit sein, auf die man die Zukunft Deutschlands baute. Was lag also näher, als mit fast religiösem Pathos an das Gewaltenteilungsdogma anzuknüpfen, das - so will es. jedenfalls die Geschichte - die Festung des englischen und französischen Absolutismus gestürmt hat und in der Menschenrechtsdeklaration von 1789 (ebenso wie kurz zuvor in Amerika) zur Voraussetzung rechtlicher Verfaßtheit überhaupt erklärt worden war. 3. Insofern war es nicht überraschend, daß sich auch das oberste Gericht dieses Landes, das Bundesverfassungsgericht, schon bald nach seiner Installation beeilte, Gewaltenteilung

6

A.a.O. (Fn. 2).

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als »ein tragendes Organisationsprinzip des Grundgesetzes«7 zu konstatieren - nicht überraschend, aber gleichwohl bemerkenswert, weil, wie gesagt, der Verfassungstext diesbezüglich wenig hergab. Auch eine Tradition, auf die man sich im Jahr 1953 hätte berufen können, ließ sich nicht wirklich überzeugend behaupten. Der Führerstaat schied hierfür sozusagen per definitiortem aus. Aber auch die erste Demokratie auf deutschem Boden war nur bedingt anschlußfähig: Die Weimarer Verfassung hatte sich in puncto Gewaltenteilung der gleichen Zurückhaltung befleißigt wie das Grundgesetz. Staatslehre und Staatspraxis der Weimarer Republik, auf deren demokratisch-rechtsstaadiche Substanz man sich in der jungen Bundesrepublik gerne bezog, hatten sich zwar zum Prinzip der Gewaltenteilung bekannt, dann aber mit Leidenschaft seine Durchbrechungen legitimiert. a. - Verwunderlich war auch das nicht: Die konservative Staatslehre hatte 1918 zwar ihre Monarchie, nicht aber ihre Mentalität eingebüßt. Die Superiorität der Exekutive wirkte nicht nur in der Staatspraxis, sondern auch in der Staatstheorie weit über den Umbruch hinaus. Gerichtliche Verwaltungskontrolle war nach wie vor mehr Angstgegner denn Hoffnungsträger. Und auch mit der Vorstellung, das Parlament als den alleinigen Repräsentanten des Souveräns akzeptieren zu müssen, freundete man sich nur zögernd an. Gewaltenteilung wurde zunächst nur (wie schon im deutschen Konstitutionalismus) als Sicherung des Gleichgewichts zwischen Parlament und Regierung gedacht, mit der neu erkannten Aufgabe freilich, den in der Demokratie angeblich drohenden »hemmungslosen und unkontrollierten« Parlamentsabsolutismus (Carl Schmitt) in die Schranken zu weisen. Die allgegenwärtige Sorge vor der Despotie des ungeliebten Legislativorgans lag der Staatslehre in Weimar wesentlich mehr am Herzen als das Prinzip der Gewaltenteilung. Das hatte eine weitere Konsequenz, die die Teilungsidee geradezu konterkarierte: Die Justiz nämlich, bis dahin als (wenngleich >unabhängig< operierendes) Anhängsel der Exekutive verortet, beförderte sich selbst zum Hüter der Verfassung und beanspruchte in quasi-revolutionärer Manier, parlamentarische Gesetze auf ihre Rechtmäßigkeit hin überprüfen zu dürfen. Zweifellos war auch das eine Form von Gewaltenteilung, aber nicht im Rahmen der Verfassung, sondern aufgrund einer Selbstautorisierung, die bis dahin ihresgleichen suchte. Es war dies der Anfang einer Entwicklung, die heute zutreffend als der unaufhaltsame Aufstieg der dritten Gewalt im 20. Jahrhundert beschrieben wird, und die - wenn man so will - mit einem klaren Übergriff der Judikative in den Kompetenzbereich des Gesetzgebers begann. b. - Da stehen wir heute besser da. Unser Bundesverfassungsgericht ist tatsächlich befugt, Gesetze und Exekutivakte am Maßstab der Verfassung zu messen. Aber wer sagt ihm, was die Verfassung sagt? Die Antwort scheint selbstverständlich: Es ist natürlich das Gericht selbst, das erkennt, was die Verfassung sagt, denn genau dazu ist es ja berufen. Aber man muß sich klar machen, was das bedeutet. Das Gericht, ein Organ der Judikative, stellt ζ. B. fest, daß Gewaltenteilung als tragendes Prinzip im höchsten unserer Gesetze steht (obwohl es doch gerade nicht drin steht und man im Lichte der Gewaltenteilungsdoktrin eigendich erwarten müßte, der Gesetzgeber selbst würde dafür sorgen, daß die tragenden Verfassungsprinzipien

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BVerfGE 3, 225 fr., 247.

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mit der erforderlichen Eindeutigkeit Gesetzeskraft erlangten). Fast will es scheinen, als ob auch unser verfassungsmäßiges Gewaltenteilungsprinzip durch einen Akt der Verletzung desselben (nämlich durch gesetzesschöpfenden Richterspruch - 8 Leute in Karlsruhe) konstituiert wurde. Liegt vielleicht auch hier (Weimar ist ja bekanntlich überall) ein eklatanter Übergriff der Judikative in die Befugnisse der Gesetzgebung vor? Ich kann Sie beruhigen. Nur ein juristischer Laie käme auf solche Gedanken. Juristen hingegen (und also auch Richter) haben mit wortlautübersteigenden Judikaten nicht die mindesten Probleme. Gesetzesinterpretation nach historischen, systematischen, teleologischen und vielerlei anderen Kriterien gehört vielmehr zu ihren genuinen Aufgaben; bei der interpretatio contra legem laufen sie erst richtig warm; und selbst die Handhabung der Rechtsfigur des verfassungswidrigen Verfassungsrechts verursacht ihnen keine Gewissensbisse. Und diese Bedenkenfreiheit wurde sogar von höchster Stelle autorisiert, nämlich vom Bundesverfassungsgericht. 8 c. - Dort sitzen bekanntlich die besten Juristen - und wohl auch die entscheidungsfreudigsten. Jedenfalls haben sie schon unmittelbar nach ihrer Inthronisierung klar gemacht, wie man sich die Kompetenzabgrenzung zwischen Legislative und Judikative unter dem Gewaltenteilungsprinzip des Grundgesetzes vorzustellen hat. In einem Urteil zur Neugliederung des Bundesgebietes aus dem Jahr 1951 heißt es knapp: »Das Bundesverfassungsgericht erkennt die Existenz überpositiven, auch den Verfassungsgesetzgeber bindenden Rechtes an.«9 Das waren große Worte, gelassen ausgesprochen, denn es handelte sich um nicht mehr und nicht weniger als um die Erfindung einer neuen Rechtsquelle. Ein neues Machtzentrum also, das verwaltet werden wollte, und der Prätendent wurde auch gleich mit benannt: Das Verfassungsgericht erklärte sich nämlich selbst fiir zuständig, die positiv geltenden Gesetze an diesem überpositiven (also von niemandem gesetzten, nirgendwo nachschlagbaren, aber gleichwohl auf geheimnisvolle Weise vorhandenen und den Richtern erkennbaren) Recht zu messen. 10 Dieses bemerkenswerte Judikat aus dem Gründungsjahr des Verfassungsgerichts hat seinerzeit kaum Widerspruch erfahren. Nur ein paar notorische Naturrechtsgegner hat es auf den Plan gerufen, die den Nazischock nicht mit der Preisgabe ihrer erkenntnistheoretischen Grundannahmen kompensieren wollten. Nicht aber hat es eine Debatte darüber ausgelöst, ob die selbstgeschaffene Rechtserfindungskompetenz möglicherweise den tragenden Grundsatz der Gewaltenteilung verletzte. In den siebziger Jahren, als gerade das Naturrechtsdenken in Deutschland eines seiner vielen Täler durchschritt, hat sich das Verfassungsgericht zur Legitimation von Richterrecht noch eindeutiger geäußert - diesmal freilich ohne die naturrechtliche Referenz: Es hat

Β

9 10

Vgl. B V e r f G E 3, 225 ff., 2. Leitsatz: »Die Norm einer Verfassung kann dann nichtig sein, wenn sie grundlegende Gerechtigkeitspostulate, die zu den Grundentscheidungen dieser Verfassung selbst gehören, in schlechthin unerträglichem Maße mißachtet.« B V e r f G E ι , 14 fr. (Leitsatz 27). BVerfG, a.a.O. (Fn. 9).

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generell eine richterliche (nicht nur verfassungsrichterliche) Rechtsfortbildungsbefugnis abgesegnet.11 Das war notwendig geworden, weil unsere Verfassung in Art. 20 Abs. 3 die Bindung des Richters an Gesetz und Recht vorsieht, also gerade nicht erlaubt, daß Richter sich rechtsschöpfend über das Gesetz erheben.12 Ein uneinsichtiges Presseorgan hatte deshalb geglaubt, es könne sich darauf verlassen, daß aus einem gesetzlichen A nicht ein richterliches Non-Α werde (im konkreten Fall ging es um Schmerzensgeld bei Persönlichkeitsrechtsverletzungen, welches durch den damaligen §253 BGB ausgeschlossen war). Falsch, sagte der Bundesgerichtshof in Zivilsachen - und sprach der Prinzessin Soraya (die aus dem deutschen Schadensersatzrecht ebenso wenig wegzudenken ist wie Caroline von Monaco) eine erkleckliche Summe Schmerzensgeld zu. 13 Das verurteilte Presseorgan zeigte sich uneinsichtig und rief das Bundesverfassungsgericht an: Der Richter dürfe zwar Gesetze interpretieren, aber doch nicht das genaue Gegenteil der gesetzlichen Regel erfinden. Falsch, sagten die Verfassungsrichter und formulierten ihre bis heute maßgeblichen Fundamentalsätze zur Richterkompetenz, und zwar in der fur juristische Begründungen typischen Regel-Ausnahme-Diktion: Zunächst wird der Gewaltenteilungsgrundsatz mit bewegenden Worten zum unverzichtbaren Bestandteil der Staatsorganisation erklärt - danach wird unbeirrt über ihn hinweggeschritten: »Die Aufgabe der Rechtsprechung«, so erfährt man, »kann es insbesondere erfordern, Wertvorstellungen, die der verfassungsmäßigen Rechtsordnung immanent, aber in den Texten der geschriebenen Gesetze nicht oder nur unvollkommen zum Ausdruck gelangt sind, in einem Akt des bewertenden Erkennens, dem auch willenhafte Elemente nicht fehlen, ans Licht zu bringen und in Entscheidungen zu realisieren«.14 Wenn also der Gesetzgeber, ohne es so recht zu durchschauen, ein »Schmerzen werden nicht bezahlt« vorsieht, dann gebietet es die Loyalität der Judikative mit dem fehlbaren Legislator, daraus im Bedarfsfall ein »Schmerzen werden doch bezahlt« zu machen. Derartige >Loyalitätsakte< der Judikative gegenüber der Legislative sind übrigens nicht neu: Schon im 19. Jahrhundert hatte man (zwar nicht mit dem Gewaltenteilungsgrundsatz, wohl aber mit dem insoweit funktional äquivalenten monarchischen Prinzip im Nacken) richterliche Abweichungen von den gesetzlichen Vorgaben legitimiert: Es würde der Majestät des Gesetzgebers nicht entsprechen, ihm zu unterstellen, daß er ein unvernünftiges Resultat gewollt habe.15 »Und es kommt häufig vor«, so liest man vor gut 100 Jahren bei Bernhard

π

BVerfGE 34, 269 ff., 286 ff.

12

Man könnte auf die Idee kommen, hier die Gewaltenteilung verwirklicht zu sehen, hätte aber zu berücksichtigen, daß Gesetzesbindung - und übrigens auch Unabhängigkeit der Justiz - eine ganz andere politikgeschichtliche Tradition hat und schon Teil der deutschen Gerichtsverfassung war, als die Forderung nach Gewaltenteilung noch mit Revolution gleichgesetzt wurde.

13

B G H , N J W 1 9 6 5 , 685, 686.

14

BVerfGE 34, 269 ff., 287.

15

Typisch das Reichsgericht im 74. Band: »Mit Recht ist in den Entscheidungsgründen betont, als allgemeiner Grundsatz der Auslegung sei auch anzuerkennen, daß im Zweifel der Gesetzgeber nützliche und nicht schädliche Vorschriften hat aufstellen wollen« ( R G Z 7 4 [1911], 69 ff).

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Windscheid, dem geistigen Vater des BGB, »daß der Gesetzgeber sich diesen [vernünftigen] Gedanken selbst nicht vollständig klar gemacht hat, daß er bei einer Erscheinungsform des Gedankens stehen geblieben ist, welche dessen wahrem Gehalt nicht vollständig entspricht«. Es sei deshalb »die höchste und edelste« Aufgabe des Richters, »in einem solchen Falle dem Gesetzgeber zu Hülfe zu kommen, und dessen ausgedrücktem Willen gegenüber seinen eigentlichen zur Geltung zu bringen«.16 ioo Jahre später - nun nicht mehr von einem partizipationsfeindlichen Monarchen, sondern von der Kompetenzordnung der Verfassung getrieben - vertreten Richter noch immer die Meinung, daß sie sich nicht etwa über den Gesetzgeber stellen, wenn sie Textfremdes aus dem Gesetz herauslesen, sondern daß sie kraft methodengeleiteter Erkenntnisfähigkeit nur das herausfiltern, was ohnehin drinsteht. Gewaltenteilung? Sicher nicht im Sinne einer überschneidungsfreien Trennung von Legislative und Judikative, wie es sich die Gesetzesbindungsapologeten erträumen mögen. Also: Bruch des Gewaltenteilungsprinzips? Genauso wenig. Denn davon könnte ernsthaft wohl nur gesprochen werden, wenn Rechtsanwendung ohne interpretatorisch-schöpferische Komponente überhaupt vorstellbar wäre - was sie nicht ist: Die Bücher, die zum Nachweis der Unmöglichkeit eines objektiven, logisch-mechanischen, richterlichen Gesetzesvollzugs geschrieben wurden (übrigens auch schon geschrieben wurden, als in Deutschland von politischer Gewaltenteilung allenfalls bei Revolutionstheoretikern die Rede war), diese Bücher füllen Bibliotheken. Und der traditionellen juristischen Methodenlehre (die ja bekanntlich den Weg zur richtigen Entscheidung weisen soll) kommt die geradezu leidenschaftlich wahrgenommene und offene Irrationalität tapfer integrierende Funktion zu, diesen Befund systematisch einzunebeln. Wir können also festhalten: Vor richterlichen Eingriffen in die Sphäre des Gesetzgebers braucht man sich unter Gewaltenteilungsaspekten nicht sehr zu fürchten. Es gibt schlechte Urteile, es gibt falsche Urteile, aber der Vorwurf, ein Urteil würde legislative Befugnisse okkupieren, unterstellt eine schöne, heile Gewaltenteilungswelt, die bei uns den Bereich der Fiktion ohnehin nie verlassen hat. Das heißt natürlich nicht, daß dieser Vorwurf nicht erhoben würde. Im Gegenteil, man hört ihn täglich. Aber Ankläger ist regelmäßig der, der mit dem Urteilsergebnis nicht zufrieden ist, nicht etwa derjenige, der die Pfeiler des Grundgesetzes einstürzen sieht. 4. Das Bundesverfassungsgericht, das vor 50 Jahren das Gewaltenteilungsdogma zum tragenden Verfassungsprinzip erklärte, hat bei seiner Urteilsfindung also fraglos im Rahmen seiner Kompetenzen gehandelt. Es hat dabei nicht nur die nackten Worte des Art. 20 GG, sondern die Verfassung in ihrer Gesamtheit gedeutet und, wie wir jetzt wissen, die dem Grundgesetz immanenten Wertvorstellungen »ans Licht gebracht«. Darüber hinaus hat es, seiner Aufgabe gemäß, das Dogma konkretisiert: Es sei eine grundlegende Maxime zur »politischen Machtverteilung, zum Ineinandergreifen der drei [Staats-]Gewalten und [zur

16

Windscheid, Bernhard: Lehrbuch des Pandektenrechts, Bd. 1, Düsseldorf 1870, § 21, 54.

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Mäßigung] der daraus resultierenden Staatsherrschaft«.17 Und nach diesen klaren Sätzen hat es das frisch erläuterte Prinzip nicht etwa angewendet, sondern das Vorliegen einer Ausnahme konstatiert. Im konkreten Fall ging es darum, ob der verfassungsmäßige Auftrag an den Gesetzgeber (Art. 117 Abs. ι GG), im Rahmen bestimmter Fristen für die Gleichberechtigung von Mann und Frau zu sorgen, bei Untätigbleiben des Parlaments auch vom Gericht realisiert werden dürfe. Ja, respondierten die Verfassungsrichter und sahen darin keinen Verstoß gegen die gerade noch hochgehaltene Gewaltenteilung. Magere Begründung: Das Prinzip sei schließlich »nirgends rein verwirklicht«,18 und es sei Sache des Gerichts, im Einzelfall festzustellen, ob es greife oder nicht. Die Regel-Ausnahme-Argumentation wird für lange Zeit geradezu zum Erkennungsmerkmal der einschlägigen Gerichtsurteile. Gewaltenteilung ist sakrosanktes Grundprinzip, wegen seiner Plazierung in Art. 20 G G selbst der Dispositionsbefugnis des Verfassungsgebers 20 e n t z o g e n , 1 9 aber seltsamerweise im konkreten Anwendungsfall kaum je verletzt. Von den zahlreichen Urteilen zur Gewaltenteilungsproblematik gibt es erstaunlich wenige, die tatsächlich einen Verstoß feststellen (und die sind eher in den Marginalbereichen anzutreffen, also etwa, wenn der Bürgermeister einer Gemeinde gleichzeitig Gemeindefriedensrichter ist 21 ). Das hängt vielleicht damit zusammen, daß die Staatsorgane in der Demokratie weniger als abgegrenzte Teilsysteme agieren denn als unterschiedliche Artikulationsformen einer einheidichen, vom Volk ausgehenden Staatsgewalt. Noch wichtiger aber dürfte sein, daß sich die komplexen Außerungsformen staatlicher Macht nur selten der überkommenen Gewaltentrias anverwandeln. Natürlich kann man definieren, was das >Wesen< von Legislative, Exekutive und Judikative ausmacht. Aber weder die Ordnung noch die Ausübung der Staatsfiinktionen halten sich an diese Beschreibung. Es geht eben nicht um separierte Machtbereiche, sondern um »Handlungsweisen, Verfahren und Strukturen«,22 die ständig in Bewegung und alle dem Ziel verpflichtet sind, eine möglichst sachgerechte Entscheidung sicher zu stellen.23 Gemäß den Worten des Bun-

17

BVerfGE 3, 225 fr., 247; zur Funktion von Gewaltenteilung vgl. auch B V e r f G E 22 (1967), 106 ff., m ; B V e r f G E 34 (1972), 52 fr., 59 f.

18

Ähnlich B V e r f G E 4, 331 fF., 346F.; BVerfGE 34, 52fr., 59f.

19

Vgl. Art. 79 Abs. 3 G G : »Eine Änderung dieses Grundgesetzes, durch welche die ... in den Artikeln 1 und 20 niedergelegten Grundsätze berührt werden, ist unzulässig.«

20

Seltene Ausnahme: Personelle Verzahnung von Rechtsprechung und Verwaltung bei Gemeindefriedensgerichten, BVerfGE 10 (1959), 200fF., 2i6ff.; vgl. auch B V e r f G E 18 (1964), 172fr., 183. Rückausnahme fur die allgemeine Gemeindegerichtsbarkeit: B V e r f G E 14 (1962), 56fF., 68.

21

Anders freilich der wichtige Kalkar-Beschluß, der einen Verwaltungsvorbehalt zu Lasten des Gesetzgebers konstatiert, B V e r f G E 49, 89fF., 124F.

22

Schmidt-Assmann, Eberhardt, in: Isensee, Josef (Hrsg.): Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 1, Heidelberg 1 9 8 7 , 1 0 1 6 .

23

Neben die Funktion der Machtmoderation ist die auF Sicherstellung einer sachgerechten Entscheidung getreten. Das BVerfG entnimmt Art. 20 Abs. 2 G G einen Auslegungsgrundsatz, der die Sinnermittlung anderer Bestimmungen der Verfassung leitet: »Die dort als Grundsatz normierte organisatorische und funktionelle Unterscheidung und Trennung der Gewalten dient zumal der Verteilung von politischer Macht und Verantwortung sowie der Kontrolle der Machtträger; sie zielt auch darauf ab, daß

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desVerfassungsgerichts zielt die so verstandene Gewaltenteilung darauf ab, »daß staatliche Entscheidungen möglichst richtig, das heißt von den Organen getroffen werden, die dafür nach ihrer Organisation, Zusammensetzung, Funktion und Verfahrensweise über die besten Voraussetzungen verfügen«, 24 und das sind keineswegs immer die, die man nach klassischer Denkweise für zuständig hält. So kann man ζ. B. eisern daran festhalten, daß Gesetze vom Parlament erlassen werden und kein anderes Verfassungsorgan in den Kernbereich dieser Tätigkeit eingreifen darf. 2 5 Aber richtig ist das nur mit Blick auf den formalen Abstimmungsakt, dessen Bedeutung man beileibe nicht unter-, aber bitte auch nicht überschätzen sollte. Denn wer macht die Gesetze? Das Parlament in einem souveränen Entscheidungsprozeß? Gewiß nicht! Die Ministerialbürokratie produziert Entwürfe, Ausschüsse mögen sie verfeinern, und das Parlament stimmt in der Regel so, wie es ihm von den Parteien vorgegeben wird. Die Fälle, in denen in den letzten 50 Jahren seitens der Parteien eine >Freigabe< des Abstimmungsverhaltens stattgefunden hat, lassen sich an einer Hand abzählen. Motiviert werden solche Freigaben (man lasse sich das Wort einmal >gewaltenteilungstheoretisch< auf der Zunge zergehen) mit antizipierten Gewissensnöten der Parlamentarier, die offenbar aber gerade keine Massenerscheinung sind. 5. Diese Okkupationsvorgänge, die in alle Richtungen verlaufen, bleiben von der Verfassungstheorie natürlich nicht unbemerkt. 2 6 Reagiert wird darauf allerdings nicht etwa mit Vorschlägen, wie man wieder zur Gewaltenteilung im vermeintlich Montesquieuschen Sinne zurückkehren könnte. Vernünftigerweise will niemand mehr die Justiz zur bouche de la loi machen oder den Bundestag zum Ort der sachlichen Erarbeitung von Gesetzesvorschlägen. In nicht-revolutionären Zeiten reicht es im Regelfall, rituell darauf zu verweisen, daß das Bundesverfassungsgericht nicht Ersatzkaiser ist, bzw. im Bundestag die parteipolitischen Marken zu setzen - letzteres jedenfalls dann, wenn die Art der Materie Bekenntnisse verlangt. Das ist ζ. B. beim Abtreibungsparagraphen mehr der Fall als bei der Novellierung des Anlagefondsgesetzes, obwohl dieses vielleicht stärker in das allgemeine gesellschaftliche Leben eingreift, als es dem § 218 des Strafgesetzbuches je beschieden war. Im übrigen beginnt man sich daran zu gewöhnen, daß Gewaltenteilung weder subsumtionsfähige Norm noch abstraktes Ordnungsprinzip, sondern eine black box ist. Solange

24 25 26

staatliche Entscheidungen möglichst richtig, das heißt von den Organen getroffen werden, die dafür nach ihrer Organisation, Zusammensetzung, Funktion und Verfahrensweise über die besten Voraussetzungen verfugen, und sie will auf eine Mäßigung der Staatsgewalt insgesamt hinwirken«, BVerfGE 68, ι ff., 86. BVerfGE68, i f f , 86. Z u r grundsätzlichen Unantastbarkeit der Kernbereiche BVerfGE 9, 2 6 8 f f , 2 7 9 f f ; BVerfGE 34, 52fr., 59f.; BVerfGE 6 7 , 1 0 0 f f , 139. Unter dem Titel »Staatswissenschaft« ist im Jahr 2003 das Werk des Berliner Staats- und Verfassungsrechtlers G . F. Schuppert erschienen. Es wird in Rezensionen als grundlegend bezeichnet, umfaßt nahezu 1000 Seiten, und weder im Inhalts- noch im Stichwortverzeichnis kommt das Wort Gewaltenteilung vor.

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man nicht den Versuch macht, allzu genau hineinzuschauen, taugt sie zur Begründung von nahezu allem, was bei der Ausübung von Staatsgewalt vernünftig erscheint.27 Dabei meint vernünftig, daß staatliche Entscheidungsprozesse durch Kompetenzregeln sichergestellt und Dysfunktionalitäten minimiert werden. Auch hat sich in die Gesamtbetrachtung ein Aspekt materieller Richtigkeit eingeschlichen, noch unklar hinsichtlich seiner Gewichtung, aber durchaus mit Entwicklungspotential. Der Aspekt der Mäßigung staatlicher Gewalt befindet sich dagegen auf dem Rückzug. Er taucht zwar nach wie vor in den Beschreibungen auf,28 aber Mißbrauchserfahrungen, die sich von der Beobachtung zusammengeballter Staatsmacht nähren, sind doch eher Erinnerung als aktuelle Bedrohung und beginnen im Dunst der Vergangenheit zu verschwimmen. 6. Die schleichende Veränderung der Zielvorgaben hat längst auch die Semantik erreicht: Da ist zwar nach wie vor von Gewaltenteilung, Gewaltenbalance, Gewaltenhemmung die Rede, auch von Kompetenz- oder Funktionenordnung - aber immer öfter wird von Gewaltenverschränkung gesprochen, also dem konzertierten Zusammenwirken der verschiedenen Gewaltenträger, worin die ursprüngliche Idee der Aufteilung nur noch der zu erkennen vermag, der sie um jeden Preis darin erkennen will. Gleiches gilt auch für die dynamische Komponente, die den Akteuren eine permanente Neubewertung der staatlichen Entscheidungsprozesse und das »Aushandeln« optimaler Entscheidungsprozeduren in Dienste höherer Sachgerechtigkeit abverlangt.29 Mit der so herausgeputzten Gewaltenteilungsidee lassen sich auch neue Aufgaben erschließen und alte in verfeinertem Gewand präsentieren: Rechnungshöfe, Bundesbank und Geheimdienste ebenso wie der Einsatz von Sonderbeauftragten geraten in die Reichweite des so elastisch gewordenen Dogmas. Selbst die bekannte Forderung der Justiz nach Verwaltungsautonomie hat wieder neue Impulse bekommen, und andererseits können Forderungen nach Zusammenlegung von Justiz- und Innen-Verwaltung mit empörtem Hinweis auf unantastbare Kernbereiche ihrer sonst so wirksamen Effizienzmagie beraubt werden. Ein neues Feld erobert sich die Gewaltenteilungslogik momentan im Föderalismussektor: Dem war zwar schon des öfteren ein stilles Hinscheiden bescheinigt worden. Doch unter der liebevollen Pflege durch das Bundesverfassungsgericht ist die sog. vertikale Gewaltenteilung geradezu zu einem Erfolgsmodell gediehen. Ich erinnere nur an die Entscheidung zu den Junior-Professuren30 und zu den Studiengebühren.31 Dem neuen Glanz föderativer Staatsinterpretation verdankt sich auch ein weiteres Grundsatzurteil unseres höchsten Gerichts, das ich als letztes kurz ansprechen will. Es verblüfft nämlich mit der Einsicht, daß ein Funktionsträger auch dadurch gegen das Gewaltenteilungsprinzip des Grundgesetzes verstoßen kann, daß er eine ihm zustehende Gewalt nicht

27

»Vertikale« Gewaltenteilung (föderale Gliederung in Bund und Länder, Kommunen).

28 29 30 31

Vgl. etwa BVerfGE 68, iff., 86. Schmidt-Assmann, a.a.O. (Fn. 22). BVerfG, D V B 1 2 0 0 4 , 1 2 3 3 ff. BVerfG, D ö V 2005, 338 ff.

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ausübt. Zu diesem Ergebnis ist das Gericht vor knapp einem Jahr im Zusammenhang mit dem Problem der nachträglichen Anordnung von Sicherungsverwahrung gekommen. 32 Zum Opfer fielen dem Verdikt die Ländergesetze von Bayern und Sachsen-Anhalt, welche allerdings unter den anfeuernden Rufen des Bundes zustande gekommen waren. Der war nach Überzeugung des Gerichts eigentlich zuständig, hatte dies aber heftigst bestritten und die Länder durch ministeriellen Brief ausdrücklich ermuntert, tätig zu werden. Noch vor den Schranken des Verfassungsgerichts kämpfte er (übrigens mit plausiblen Argumenten) gegen seine angebliche Kompetenz. Die Richter blieben jedoch unerbittlich. Es sei - so wörtlich - ein »mißlungener Kunstgriff«,33 das fragliche Gesetz als ein Polizeigesetz zu tarnen, um so Zuständigkeit der Länder zu suggerieren. In Wahrheit handle es sich um Strafrecht, und dieses sei Sache des Bundes. Das Gewaltenteilungsprinzip schütze eben nicht nur vor Machtanmaßung, sondern auch davor, daß der eigentliche Machtträger untätig bleibt. Ich komme zum Schluß: Montesquieus Geist der Gesetze und das dort mit Blick auf England beschriebene Gewaltenteilungsmodell gehören, daran besteht nach allem kein Zweifel, zu den »nicht hinterfragbaren Grundlagen des modernen demokratischen Staatsdenkens«, dies freilich nicht in dem Sinne, daß die Lektüre des Textes zu nicht hinterfragbaren Einsichten fuhren würde, sondern so verstanden, daß die Anrufung des historischen Vorbildes in westlichen Breiten einen Assoziationshorizont eröffnet, der durch Lektüre nur gestört werden könnte.34 Die Ungenauigkeit der kollektiven Lese-Erinnerung ist geradezu Voraussetzung für den nie abnehmenden Erkenntnisgewinn, der aus dem Gewaltenteilungskontext gezogen werden kann, erlaubt sie doch kontinuierliche Anpassung an neue Szenarien und inhaldiche Erstreckung auf nahezu jedes Glatteis, auf dem der menschliche Geist seine Pirouetten dreht. Braucht man hierfür noch einen Beleg, so nehme man wiederum Odo Marquards Individuum und Gewaltenteilung zur Hand. Dort erfährt man, daß es der vom »Lebenspluralismus« genährte Zweifel ist, der dazu befähige, »durch Gewaltenteilung ein Individuum zu werden«. Wie das, mag man sich fragen, und: Hat Marquard dabei wirklich an Montesquieu gedacht? Er hat, wird man vom Autor selbst belehrt, denn: »Das, was die politische Gewaltenteilung ftir die Ermöglichung der bürgerlichen Freiheit ist, das ist der skeptische Zweifel gegenüber dem Absoluten im Bereich der Überzeugungen fur die Ermöglichung des Individuums.«35 Gewaltenteilung ist also überall, man muß sie nur zu finden wissen. Angesichts solcher Elastizität des historisch völlig befreiten Begriffs braucht man um die Zukunft des Gewaltenteilungsmodells keine Sorge zu haben.

32 33 34

35

BVerfGE 109,190 ff. BVerfGE 109,190ff., 220f. Vgl. die - freilich affirmativ gemeinte - Bemerkung von Peter Haberle, Klassikertexte im Verfassungsleben, Berlin 1981, 55: »Ein Montesquieu-Zitat, zur rechten Zeit in der politischen Kontroverse eingesetzt, kann mehr bewirken als das Lebenswerk eines juristischen Grundgesetzkommentators.« A.a.O. (Fn. 3).

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Literaturempfehlungen Becker, Jürgen: Gewaltenteilung im Gruppenstaat. Baden-Baden 1986. Hesse, Konrad: Grundzüge des Verfassungsrechts. 20. Aufl. Heidelberg 1995, § 13. Imboden, Max: Montesquieu und die Lehre von der Gewaltentrennung. Berlin 1959. Kägi, Werner: Zur Entstehung, Wandlung und Problematik des Gewaltenteilungsprinzipes. Zürich 1937. Horn, Hans-Detlef: Über den Grundsatz der Gewaltenteilung in Deutschland und Europa. In: J ö R 49 (2001), S. 287-298. Horn, Hans-Dedef: Gewaltenteilige Demokratie, demokratische Gewaltenteilung. Uberlegungen zu einer Organisationsmaxime des Verfassungsstaates. In: AöR 127 (2002), S. 427-459. Mass, Edgar: Montesquieu und die Entstehung des Grundgesetzes. In: Merten, Detlef (Hrsg.): Gewaltentrennung im Rechtsstaat. Berlin 1989, S.47ÍF., 51 ff. Ogorek, Regina: De l'Esprit des légendes oder wie gewissermaßen aus dem Nichts eine Interpretationslehre wurde. In: Rechtshistorisches Journal, Bd. 2 (1983), S. 277-296. Ogorek, Regina: Die erstaunliche Karriere des >Subsumtionsmodells< oder wozu braucht der Jurist Geschichte? In: Prittwitz, Cornelius u.a. (Hrsg.): Festschrift für Klaus Lüderssen zum 70. Geburtstag. Baden-Baden 2002, S. 127-140. Schmidt-Assmann, Eberhard, in: Isensee, Josef/Kirchhof, Paul (Hrsg.): Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd.i, Heidelberg 1987, S.1009-1023. Schulze-Fielitz, Helmuth, in: Dreier, Horst (Hrsg.): Grundgesetzkommentar, Bd. II, Tübingen 1998, zu Art. 20, Rn 62 ff. Schneider, Peter: Zur Problematik der Gewaltenteilung im Rechtsstaat der Gegenwart. In: AöR 82 (1957), S.i-27. Weber, Werner: Die Teilung der Gewalten als Gegenwartsproblem. In: Barion, Hans/Forsthoff, Ernst/Weber, Werner (Hrsg.): Festschrift für Carl Schmitt zum 70. Geburtstag. 3. Aufl. Berlin 1994, S. 253-272.

DILEMMATA MODERNER DEMOKRATIEN

G E S I N E SCHWAN

Montesquieu und die Stabilität der deutschen Demokratie

I.

Hat sich die deutsche Demokratie bewährt?

ι.

Die Frage nach der Stabilität der Demokratie

Die jüngsten Ereignisse in Sachsen, beunruhigende Umfragen über die Zunahme rechter Gewalt, offensiv revisionistische Propaganda in Bezug auf den Nationalsozialismus haben bei vielen die beunruhigende Frage ausgelöst, ob die so oft als gelungen und stabil bezeichnete deutsche Demokratie gefährliche Erosionserscheinungen zeigt. Ich möchte diese Frage als Problem der deutschen politischen Kultur angehen und auf den vielleicht zentralen Beitrag Montesquieus zur Institutionenbildung des Verfassungsstaates - die Gewaltenteilung beziehen. Die herausragende, auch sorgenvolle Frage, der die bundesrepublikanische Demokratie im Westen seit ihrer Gründung ausgesetzt war, hieß: Wird sie Bestand haben oder wie die Weimarer Republik zusammenbrechen? Als historische Folie galt 1933 (»Bonn ist nicht Weimar!«), als theoretisches Paradigma die Stabilität des politischen Systems, die in der Regel nicht als graduelle, sondern in der Alternative »Entweder-Oder« gedacht war; dies, zumal jede reflektierte Definition von System-Stabilität Elemente der Flexibilität einschließt, deren »graduelles« Veränderungspotential deshalb nicht im Gegensatz zur Stabilität gedacht werden kann, vielmehr als deren Bedingung. Das Ende von Stabilität schien dann gekommen, wenn das politische System zusammengebrochen bzw. durch ein anderes abgelöst war. Scheinbar klare theoretische Verhältnisse... Gemessen an ihnen hat sich die deutsche Demokratie bewährt. Sie hat sich im Westen fünfzig Jahre lang gehalten, der Gesellschaft zu unerwartetem Wohlstand verholfen, gemäß einer großen Zahl von Umfragen in der Bevölkerung auch immer mehr Zustimmung erworben. Und sie hat sich nach 1989 auf den bis dahin undemokratischen Teil Deutschlands ausgestreckt, diesen, so scheint es, ohne große Probleme integriert. Zwar zeigen jüngste Untersuchungen - die allerdings im wesentlichen nicht Gegenstand meiner Interpretation sein sollen - , daß die Bevölkerung, insbesondere, aber nicht nur, in den neuen Bundesländern, immer pointierter eine Kluft zwischen nach wie vor bejahter Norm und der Wirklichkeit der deutschen Demokratie moniert. Aber an ihren Zusammenbruch im bisher bekannten Schema denkt wohl kaum einer in Deutschland.

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G E S I N E SCHWAN

Dies ist um so bemerkenswerter, als die Arbeitslosenzahl die Fünfmillionenhöhe erreicht hat. Die hohe Zahl der Arbeitslosen aber war traditionell der Faktor, dem als erstem das Ende der Weimarer Republik und der Aufstieg des Nationalsozialismus zugerechnet wurden. Offenbar hat die Hoffnung der demokratietheoretischen sog. Institutionalisten nicht getrogen, daß man nach dem Ende einer Diktatur schnell und beherzt demokratische Institutionen einführen solle und dann, möglichst flankiert durch ökonomischen Wohlstand, soziale Sicherheit und internationale Integration (z.B. Westdeutschlands in die E W G ) , auf »Eingewöhnung« der Gesellschaft in die Demokratie bauen könne. 1 In diesem Sinne ist der Aufbau der deutschen Demokratie also gelungen. Sie ist kein Gegenstand der Sorge mehr. Unkenrufe haben sich als falsch erwiesen. Schwierigkeiten gibt es natürlich, wie immer in der Politik, aber sie weisen nicht auf ein Defizit der deutschen Demokratie hin. So könnte man schließen.

2.

Die Frage nach der Qualität der Demokratie

»Um jedoch die politische Freiheit zu verlieren, genügt es, sie nicht festzuhalten, und sie entflieht« - diese Mahnung hat uns Alexis de Tocqueville ins Stammbuch geschrieben. In ihrem Licht ist, so scheint mir, über die Zukunft der deutschen Demokratie noch nicht alles gesagt. Wenn es stimmt, was der große französische Liberale Tocqueville unermüdlich anmahnt, dann hat man die Freiheit, den Grundstein der Demokratie, nie sicher in der Tasche. Vielmehr erfordert sie immer erneute Bemühungen, wenn sie nicht verloren gehen soll. Ein anderer Liberaler, Lord Dahrendorf, sieht ganz allgemein, nicht nur in Deutschland, die Freiheit durch einen schrankenlosen globalen Kapitalismus bedroht, der auch traditionell westlich-demokratischen Ländern die Versuchung nahelegen könnte, die neuen sozialen und moralischen (!) Probleme autoritär zu lösen. Wie man kapitalistischen Wohlstand und soziale Zusammengehörigkeit in einer freien Gesellschaft vereinbaren kann: In der Antwort auf diese Frage sieht Dahrendorf eine zentrale Aufgabe der gegenwärtigen Politik. Diese beiden Ausrufungszeichen geben einen Hinweis darauf, daß die traditionelle Fragestellung nach der als »Entweder-Oder«-Alternative gedachten Stabilität der Demokratie unergiebig oder den gegenwärtigen Problemen unangemessen sein könnte. Er wird durch einen neuen Aufschwung demokratietheoretischer Bemühungen bekräftigt, die im Zusammenhang der sog. Transformationsforschung die Unzulänglichkeit dieses Paradigmas konstatieren, weil die dichotomische Fassung: »Demokratie ja oder nein« nicht präzise operationalisierbar ist, die empirische Wirklichkeit ungenau und unzulänglich wiedergibt und auch fiir politisch-strategische Hinweise, wo man zugunsten neuer Demokratien Prioritäten setzen sollte, zu wenig erbringt. Stattdessen scheint es angezeigt, die Qualität der Demokra-

I

Vgl. dazu etwa Lepsius, Rainer M.: Die Prägung der politischen Kultur der Bundesrepublik durch institutionelle Ordnungen, sowie Lübbe, Hermann: Der Nationalsozialismus im politischen Bewußtsein der Gegenwart.

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tie genauer unter die Lupe zu nehmen. Ein Weg dazu ist die Untersuchung ihrer politischen Kultur als Komplement zum institutionellen Verfassungsgefuge. Ohne Zweifel war Montesquieu einer der wichtigsten Ahnherren dieser Untersuchungsperspektive. Mir geht es im Folgenden darum zu prüfen, ob in der gegenwärtigen deutschen Demokratie die politischkulturelle Voraussetzung der von Montesquieu propagierten Gewaltenteilung zureichend vorhanden ist. Diese Voraussetzung sehe ich in Fortführung von Montesquieus »Liebe zur Gleichheit« in einem besonderen Verständnis von Liberalität, das ich im Folgenden skizzieren möchte. Sie erscheint mir einerseits von herausragender Bedeutung für die Demokratie und andererseits in Deutschland durch mentale Erbschaften durchaus belastet.

3.

Demokratie und Liberalität

Liberalität bezeichnet nicht eint Haltung des indifferenten Laissez-faire, die sich für die Mitbürger und ihr Handeln erst dann interessierte, wenn es fur die eigene Person von Belang ist. Im Gegenteil: Liberalität speist sich wesentlich aus einer grundlegenden Achtung und einem ebenso grundlegenden Wohlwollen gegenüber den Mitmenschen, also nicht der Gleichgültigkeit, sondern im Gegenteil einer Zugewandtheit, die Konflikte nicht tilgt oder verdeckt, sondern aushält und zu überbrücken sucht. Sie wird von der Uberzeugung getragen, daß die Freiheit der privaten wie der politischen Selbst- bzw. Mitbestimmung den Grundstein der menschlichen Würde darstellt, die ich nicht nur für mich, sondern - untrennbar damit verwachsen - für alle Menschen reklamiere. Sie ist der Kompaß, der mich auch in den scheinbar unwichtigsten Situationen des Umgangs mit meinen Mitmenschen leitet. Sie schließt in der Tradition der wesdichen Demokratie nicht nur das Recht auf Privatheit und auf Dissens, die ausdrückliche Verteidigung meiner Freiheit wie derjenigen der Andersdenkenden oder -handelnden ein, sondern auch den Willen zur Verständigung. Der wäre illusionär, wenn ich dafür nicht auf eine tragende Gemeinsamkeit mit den anderen baute, in allem Widerstreit von Überzeugungen und Interessen. Liberalität bedeutet daher, den anderen nicht nur als Kontrahenten, gar mißtrauisch als Feinden zu begegnen, sondern auch als Partnern, die zu überzeugen gelingen kann. Ohne einen solchen Glauben - das Wort ist absichtlich gewählt kommt Liberalität in der Praxis nicht aus. Das hat nichts mit Blauäugigkeit zu tun und steht nicht im Gegensatz zur Kontrolle, einem anderen Grundstein der Demokratie. Denn selbst sie machte keinen Sinn, wenn man vom anderen nur das Negative, den Bruch des Gesetzes oder des Grundkonsenses erwarten könnte. Dann brauchte man gar nicht erst zu kontrollieren, man wüßte es immer schon. So umfaßt Liberalität eine Reihe von Glaubensannahmen, Tugenden, psychischen Dispositionen und »Gewohnheiten des Herzens«, ohne die sie verdorrt: Sie glaubt an Montesquieus Liebe zur Gleichheit, also an die gleiche Würde aller Menschen (trotz aller Endlichkeit und allen Scheiterns), sie engagiert sich dafür und baut prinzipiell auf die eigene wie die Fähigkeit der anderen zu vernünftiger, auch vertrauensvoller Kooperation, zur Selbstdistanz gegenüber den eigenen Interessen und Anschauungen, zur wohlwollenden Toleranz auch im Streit. Eine liberale Person öffnet sich und allen anderen immer erneut die Chance, Einsich-

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ten zu gewinnen und zu lernen. Sie lehnt Vorurteile und ungeprüfte »Einsortierungen« von Menschen ab. Sie gibt - bei allem Realismus - aus prinzipieller Überzeugung nicht auf, weil sie weiß, daß es unmöglich ist, zu einer freiheitlichen Übereinkunft zu gelangen, wenn man diese Chance von vornherein misanthropisch ausschließt, anstatt sie aktiv anzustreben. Das klingt wie eine Sonntagsrede, ist wohl auch eine. Aber so, wie die Woche ohne Sonntag keinen Anfang hätte, kann die Demokratie auf Liberalität als ihr Prinzip nicht verzichten. Zwar ist auch hier - wie bei der Operationalisierung von »Stabilität« - demokratietheoretisch nicht präzise bestimmbar, in welchem Maße sie verbreitet sein muß und wie intensiv die Bürger ihr gemäß leben müssen, damit eine Demokratie »funktioniert«. Aber daß ohne sie die wesdiche, gewaltenteilige Demokratie nicht funktionieren kann, läßt sich sogar logisch belegen. Rufen wir uns den diesbezüglichen klassischen topos von Montesquieu ins Gedächtnis. Über die Gewaltenteilung schreibt er in seinem großen Werk De l'Esprit des lois: »Dies ist die verfassungsmäßige Grundordnung der Regierung, von der wir handeln: die gesetzgebende Körperschaft aus zwei Teilen zusammengesetzt, deren jeder den anderen durch ein wechselseitiges Vetorecht bindet. Beide sind gebunden durch die vollziehende Gewalt, die es ihrerseits wieder durch die Gesetzgebung ist. Aus diesen drei Gewalten müßte ein Zustand der Ruhe oder Untätigkeit hervorgehen. Aber da sie durch die notwendige Bewegung der Dinge gezwungen sind, fortzuschreiten, werden sie genötigt sein, dies gemeinsam zu tun.« 2 Montesquieu erläutert nicht, was er mit der »notwendigefn] Bewegung der Dinge« meint. Man kann seinen Optimismus entweder als Folge eines mechanistischen Weltbildes oder seines historischen Kontextes deuten, in dem die Krone einfach auf Finanzierungen des Parlaments angewiesen war. In unserer modernen pluralistischen Massendemokratie liegen die Dinge erheblich komplizierter. Immerhin macht Montesquieu deutlich, daß die natürliche Folge der institutionellen Konstruktion von »checks and balances« die Blockade ist, wenn kein anderer intervenierender Faktor sie auflöst. Dafür gibt es zwei logische Möglichkeiten: die Erpressung der einen durch die andere Seite - was die Aufhebung des Prinzips der Gewaltenteilung bedeuten würde - oder Gemeinsamkeiten, welche die Blockade der Gegensätze überwinden. Das können z. B. gemeinsame äußere Feinde einer Gesellschaft sein. Die historische Erfahrung zeigt einerseits die Wirksamkeit eines solchen gemeinsamen Feindbildes. Sie legt aber auch die antipluralistische und antidemokratische Logik offen, die aus einer gesellschaftlichen Integration durch Feindbilder fur das Gemeinwesen im Innern folgt. Dies ist mithin keine demokratische Lösung des Blockade-Problems, das sich aus dem Prinzip der Gewaltenteilung ergibt. Die originär demokratische ist vielmehr eine Gemeinsamkeit als lebendiger Grundkonsens der Bürger, der in der beschriebenen Haltung der Liberalität verwurzelt ist. Wer mithin ihre Notwendigkeit prinzipiell oder in der Praxis leugnet, gerät mit dem Grundsatz der Gewaltenteilung in Schwierigkeiten. Eben dies erleben wir seit einiger Zeit in Deutschland. Ich komme darauf zurück.

2

Montesquieu: Vom Geist der Gesetze, XI. 6., Bd. i, S. 226.

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4.

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Historische Liberalitätsdefizite in der deutschen politischen Kultur

Zuvor scheint es mir angebracht, kurz auf die Hypothek hinzuweisen, mit der Liberalität in Deutschland belastet ist. Im 20. Jahrhundert kann man sie u. a. an drei Befunden erkennen. Der erste sind die sog. Ideen von 1914. Namhafte und repräsentative deutsche Gelehrte haben nach Ausbruch des Ersten Weltkrieges den Gegensatz zwischen der »deutschen« und der angelsächsischen, wesdichen Freiheit herausgestellt und dabei nicht nur das traditionelle, schon von Hegel wirkkräftig verbreitete Mißverständnis vertreten, die Angelsachsen hätten bei dem Wort Freiheit nur Atomismus, Egoismus und Materialismus im Sinn. 3 Bei ihnen kommt auch deutlich zum Ausdruck, daß der Gemeinschaftsvorrang, in den die deutschen Denker »ihre« Freiheit kleiden, Abweichung, Dissens, die Legitimität von Interessenkonflikten, nicht einbezieht, sondern diskriminiert. Eine Balance zwischen Dissens und Konsens, zwischen Abgrenzung und Zugewandtheit, die von Liberalität gerade gehalten und ausgehalten wird, ist hier nicht formuliert oder gefordert. Diese »deutsche« Freiheit legt den Akzent auf autoritative oder autoritäre Gemeinwohlanordnung, nicht auf freiwillige Ubereinkunft. Ein zweites Indiz sind die bis in die sechziger Jahre reichenden Befragungsergebnisse in Westdeutschland, denen zufolge eine Mehrheit der Deutschen den Nationalsozialismus fur eine theoretisch gute Sache hielt, der nur in der Praxis schlecht ausgeführt worden sei. Man kann mit guter Plausibilität vermuten, daß sich das »Schlechte« auf den Holocaust und den Krieg bezieht und das Gute auf den nationalsozialistischen Vorrang der Gemeinschaft und die so legitimierte »wohlfahrtsstaatliche« Politik. Daß auch sie von Anfang an mit der Ausschaltung von Dissens und von Gruppen der Gesellschaft (ganz zu schweigen von den kriminellen Maßnahmen der Nazis) verbunden, daß sie auch theoretisch nicht demokratisch-liberal, sondern diktatorisch und diskriminierend angelegt war, wird von den bejahenden Deutschen nicht als fundamentaler Geburtsfehler wahrgenommen. Liberalität zählt hier nicht. Schließlich gab und gibt es analoge Befragungsergebnisse in Bezug auf das kommunistische System in der D D R . Der Kommunismus sei eine theoretisch gute, aber praktisch schlecht ausgeführte Sache gewesen, heißt es da mehrheidich von Seiten ehemaliger D D R Bürger. Und wieder meinen sie soziale Sicherheit, staatliche Fürsorge, ohne den - auch theoretischen! - Preis der Antiliberalität, die - auch theoretisch fundierte - Ausschaltung politischer Gegner und vielfache Verlogenheit überhaupt wahrzunehmen. Fern liegt mir mit diesen knappen Reminiszenzen eine Diskreditierung von Gemeinwohlorientierung! Aber die beiden entscheidenden Aspekte demokratischer Liberalität: der Einbezug von als legitim erachtetem Dissens und die Konsensfindung durch die Bürger nicht als Ergebnis staatlicher oder allgemein autoritativer Anordnung - haben in den genannten empirischen Fällen eben keinen Rang.

3

So etwa Gierke, Otto von: Unsere Friedensziele, sowie Troeltsch, Ernst: Der Kulturkrieg. Deutsche Reden in schwerer Zeit.

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5.

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Ambivalente Folgen von 1968

Die studentische Rebellion von 1968 hat in dieser Hinsicht eine ambivalente Gestalt und ebensolche Folgen gehabt. Ihr radikaler, oft forcierter Anti-Autoritarismus zielte der Absicht nach wohl auf Liberalität, auf den Abbau duckmäuserischer Unterordnung und angemaßter, nicht gerechtfertigter Autorität. Oft übertrieb er allerdings kindisch in der naiven Illusion, eine Demokratie käme ohne Autorität aus. Vor allem aber traten viele Rebellen der Form nach ihrerseits autoritär, intolerant, ja oft inhuman auf. Inhaltliche Forderungen und formales Verhalten klafften hier weit auseinander. Übrigens zuweilen auch bei »liberalen« professoralen Kontrahenten der Rebellen. Auch sie verteidigten die liberale Demokratie - mit der Weimarer Erfahrung oder derjenigen der ersten Nazi-Jahre im Nacken und ihrerseits aufgewachsen in einer nicht gerade liberalen Mittelstandskultur - immer wieder intolerant, aufbrausend und autoritär. Eine ganze Reihe ehemaliger 68er hat das inzwischen auch öffentlich eingeräumt. Die »Gegenseite« verfährt in der Regel weniger selbstkritisch. Dies mag eine Frage des Alters sein oder daran liegen, daß sich die Verteidigung der damals als nur »formal« attackierten liberalen Demokratie zumal nach dem Zusammenbruch des Kommunismus sachlich als richtig erwiesen hat. Andererseits gilt inzwischen auch die communis opinio, daß die 68er-Rebellion bei aller inneren Widersprüchlichkeit insgesamt einen Liberalisierungsschub in die deutsche Gesellschaft gebracht hat, jedenfalls in dem Sinne, daß sich Autoritäten viel mehr als früher befragen lassen und argumentieren müssen, daß Mentalitätsbestände oder Redeweisen aus der NS-Zeit nicht mehr einfach durchgehen, daß man leben und die anderen leben lassen, ihnen keine Wahrheiten mehr vorschreiben will. Dieser letzte Aspekt nähert sich oft der Indifferenz, nicht aus genereller Gleichgültigkeit, sondern weil der Glaube an überzeugende, sich auch im Leben bzw. Vor-Leben der Älteren und vor allem in der Politik ausweisende Wahrheiten drastisch zurückgegangen ist. Der alte Autoritarismus wird in der Generation der ehemaligen 68er heute oft durch einen Modus fundamentaler Selbstironie bis hin zum Zynismus ersetzt. Eine gute Basis für Liberalität im oben genannten Sinn bietet das auch nicht, weil die Uberzeugungsgrundlage für eine positive Zuwendung zum Mitbürger dabei fehlt und das Verhalten häufig privatistisch-unpolitisch wird. Vielfach werden diese Reaktion sowie die Folgen des früheren Verhaltens daher von traditionellen Gegnern und seit einiger Zeit auch von enttäuschten 68ern als »Werteverfall« beklagt und kritisiert. Dabei zeigen die letzteren häufig eine Vehemenz, die dem Verhalten von »Renegaten« gleicht und gegen die es aus der Sicht der Liberalität angezeigt erscheint, die liberalen Intentionen von '68 sowie deren liberalisierende Wirkungen gegen ihre abtrünnigen Urheber zu verteidigen.

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6.

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Identitätsbrüche hindern Liberalität

Hier kommt ein grundlegendes Problem der deutschen politischen Kultur zum Ausdruck, das insbesondere aus der Geschichte des 20. Jahrhunderts rührt und der Entwicklung von Liberalität im Wege steht. Angesichts von Nationalsozialismus und Kommunismus in Deutschland, angesichts mehrfacher Regimebrüche und damit einhergehender biographischer Brüche liegt es für viele nahe, die Rekonstruktion von Identität als biographischer Kohärenz, wozu das redliche Prüfen der Gründe fiir diese Brüche gehörte, als zu schwierig aufzugeben oder gar nicht erst zu versuchen. Stattdessen werden die eigene Biographie wie die Menschen um sich herum und die gesellschaftlichen Gruppierungen in getrennte Schubladen gepackt, deren Inhalt nichts Gemeinsames verbindet. Ehedem und heute, Irrtümer und Einsichten, konservativ und links verbindet dann nichts mehr. Man kann eine Schublade nur öffnen, wenn man die andere geschlossen hat. Und es ist auch nicht tunlich, frühere Schubladen zu öffnen, weil darin Gefährliches lauern kann, bei sich selbst und bei den anderen. Außerdem muß man jederzeit befürchten, seinerseits von anderen einsortiert zu werden. Das ermutigt nicht gerade dazu, sich zu öffnen, sondern legt nahe, sich zurückzuziehen, gegebenenfalls Rechtfertigung im Selbstmideid zu finden. So wird ein Habitus von Identitätsbrüchen befördert und in eins damit von Unsicherheit, Angst, Mißtrauen, Abschottung und Unterstellung auf der einen, Rechthaberei auf der anderen Seite. Den Boden fiir gelassene und zugewandte Liberalität bereitet das nicht. Allenfalls fiir Indifferenz oder Zynismus.

7.

Reformblockaden wegen mangelnder Liberalität

Eine Reihe von Verwerfungen, die insbesondere in den letzten Jahren allgemein in der deutschen Politik und Gesellschaft beklagt werden, führe ich auf diese Schwierigkeit reflektierter Identitätsbildung zurück. Erhebliche öffentliche Finanznot angesichts kraß zunehmender sozialer Diskrepanzen und der Vernachlässigung wichtiger öffentlicher Aufgaben stellt fiir anstehende Reformen ganz andere Anforderungen an Verständigungsbereitschaft und Gemeinsamkeit der Deutschen als zu Zeiten, da der Kuchen immer größer wurde. Die Folge sind vielfach entmutigende Blockaden. Auffällig oft werden gegen sie institutionelle Reformen gefordert, die das System der »checks and balances« zwischen Bund und Ländern oder in den verschiedenen Subsystemen der Gesellschaft (z. B. auch in den Universitäten) zugunsten einliniger Entscheidungs- oder Anordnungsstrukturen einebnen sollen. Widerhaken oder gegenseitige Macht-Bremsen gilt es in diesem Verständnis zu überwinden, damit man die eigenen Konzepte, auch die eigenen Interessen, besser durchsetzen kann. Viele Repräsentanten der Wirtschaft, der Politik, auch der Kultur glauben nach den Erfahrungen der letzten Jahre nicht mehr daran, Kontrahenten überzeugen zu können, glauben nicht mehr an einen tragfähigen Grundkonsens oder common sense. Stattdessen streben sie nach »glatteren« Institutionen, in denen sich das

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Überzeugen erübrigt. Das Stichwort heißt »Deregulierung«. Es bietet die Möglichkeit, das Gesagte kurz zu illustrieren. Denn daß der Abbau von Unübersichtlichkeiten auf einer Reihe von Feldern der Gesetzgebung und auch im Verhältnis zwischen Bund und Ländern geboten erscheint, kann man als abwägender Zeitgenosse kaum bestreiten. Aber solche Vereinfachung impliziert in der Regel Vor- oder Nachteile für unterschiedliche soziale Gruppen, und sowohl diese Unterscheidung als auch die Regelung des unvermeidlichen Interessenausgleichs wären Gegenstand der Verständigung und praktizierter, nicht nur rhetorisch proklamierter Gemeinsamkeit. Sie ist offensichtlich nicht sehr lebendig, und das liegt m. E. nicht einfach am normalen Parteienwettbewerb oder am Versagen einzelner Politiker, auch nicht daran, daß plötzlich unser Grundgesetz zu viele »checks and balances« enthielte, sondern daran, daß die Schubkraft eines gemeinsamen Willens, eines gemeinsamen Zukunftsprojekts, überhaupt des Glaubens an politische Gemeinsamkeit unter den Eliten nicht stark genug ist, um eine Einigung unter nun schwierigeren Bedingungen zu realisieren.

II. Die Zukunft der deutschen Demokratie Daß die deutsche Demokratie wegen mangelnder Liberalität demnächst zusammenbräche, ist nicht zu vermuten. Sie genießt genug Vertrauen in der Bevölkerung wie bei den Eliten, sie bietet einer Mehrheit in der Gesellschaft deutliche Vorteile, ihre Institutionen und ihre Einbindung in internationale demokratische Systeme sind, soweit erkennbar, stabil genug, um sie zu halten. Aber fiir viele ist sie häßlicher, enttäuschender, entmutigend geworden. Begeisterung oder Engagement löst sie kaum aus; Churchills Einschätzung, sie sei das schlechteste aller politischen Systeme mit Ausnahme aller anderen, wird nicht mehr als witziges Understatement, sondern als resignative Realitätsbestimmung genommen. Das Gegenteil dessen wären Begeisterungsfähigkeit und Initiativbereitschaft, insgesamt: ein erheblich größeres Selbst-, Fremd- und Zukunftsvertrauen, derer wir als eines wichtigen »Produktivfaktors« bei der Lösung ökonomischer und sozialer Probleme dringend bedürfen. Robert Putnam hat das empirisch und demokratietheoretisch in seiner Analyse der Ursachen fiir die radikalen sozialen Unterschiede zwischen Nord- und Süditalien zu explizieren versucht. Die größere politische und soziale Stabilität im Norden ist demnach nicht Folge des größeren ökonomischen Wohlstands, sondern umgekehrt. Der größere Wohlstand, der seinerseits durchaus stabilisierend wirkt, rührt aus solideren, vertrauensvolleren sozialen Beziehungen, aus dem »Sozialkapital«. Es speist sich aus einer Erfahrung gegenseitiger Verläßlichkeit und Fairneß und gibt jene Flexibilität und Kreativität frei, auf die Reformen unter Bedingungen der Knappheit und unabwendbarer Einschränkungen wie Risiken angewiesen sind. Sonst hält man ängstlich fest, was man hat, und blockiert auf diese Weise die Anpassung an neue Herausforderungen und die Vorbereitung einer gemeinsamen Zukunft. Wenn Erneuerungsfähigkeit zum Fortbestand nicht nur eines lebendigen Organismus, sondern auch eines politischen Systems gehört — und das ist eine plausible Annahme —, dann würden po-

litisch-kulturell begründete Blockaden auch der deutschen Demokratie langfristig schaden.

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Die Deutschen können ihre historischen Hypotheken nicht einfach abwerfen und sich in eine künstliche demokratische Begeisterung flüchten. Das wäre sogar gefährlich. Aber es scheint mir wichtig, den Zusammenhang zwischen den historisch begründeten Identitätsbrüchen und einem erheblichen Vertrauensdefizit, damit einer mangelnden politischen Bereitschaft, ja Fähigkeit zur Verständigung auf Reformen in der Gegenwart zu verdeutlichen. Vielleicht entwickeln wir dann die Energie zu einem Anlauf in Sachen Liberalität und Grundkonsens, der Deutschland auch fur Europa gut tun würde. Die Einsicht dazu jedenfalls könnte uns Montesquieu — mit heutigen Augen gelesen - schenken.

Literatur Bund deutscher Gelehrter und Künstler (Hrsg.): Die Deutsche Freiheit. FünfVorträge von Harnack, Meinecke, Sering, Troeltsch, Hintze. Gotha 1917. Dahrendorf, Ralf: Die Quadratur des Kreises. Freiheit, Solidarität und Wohlstand. In: Transit, Nr. 12,1996, S. 5-28. Dahrendorf, Ralf: »Die Quadratur des Kreises. Ökonomie, sozialer Zusammenhalt und Demokratie in einem Zeitalter der Globalisierung«. Ein »Blätter«-Gespräch mit Ralf Dahrendorf. In: Blätter fur deutsche und internationale Politik, Nr. 9,1996, S. 1060-1071. Dahrendorf, Ralf u.a.: Report on Wealth Creation and Social Cohesion in a Free Society. London 1995. Gierke, Otto von: Unsere Friedensziele. O. 0 . 1 9 1 7 . Gunther, Richard et al.(eds.): The Politics of Democratic Consolidation. Southern Europe in Comparative Perspective. Baltimore und London 1995. Klingemann, Hans Dieter: Politische Orientierungen: Das Urteil der Bürger über das Funktionieren der Demokratie in Deutschland im Mai 1997. Wissenschaftszentrum Berlin, Manuskript, 1997. Lepsius, Rainer M.: Die Prägung der politischen Kultur der Bundesrepublik durch institutionelle Ordnungen. In: Ders.: Interessen, Ideen und Institutionen. Opladen 1990, S. 63-84. Lübbe, Hermann: Der Nationalsozialismus im politischen Bewußtsein der Gegenwart. In: Deutschlands Weg in die Diktatur. Internationale Konferenz zur nationalsozialistischen Machtübernahme im Reichstagsgebäude zu Berlin; Referate und Diskussionen. Ein Protokoll. Berlin 1983, S. 329-349. Merrit, Anna J. und Richard L.: Public Opinion in Occupied Germany. The O M G U S Surveys, 1945-1949. Urbana, Chicago und London 1970. Merrit, Anna J und Richard L., Public Opinion in Semisovereign Germany. The H I C O C Surveys, 1949-1955. Urbana, Chicago und London 1980. Montesquieu, Charles de: Vom Geist der Gesetze. Übersetzt und hrsg. von Ernst Forsthoff. 2 Bde. Tübingen 1992. Noelle, Elisabeth/Neumann, Erich Peter (Hrsg.): Jahrbuch der Öffentlichen Meinung 1947-1955. Allensbach 1956.

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Noelle, Elisabeth/Neumann, Erich Peter (Hrsg.): Jahrbuch der Öffentlichen Meinung 1958-1964. Allensbach und Bonn 1965. O'Donnell, Guillermo/Schmitter, Philippe C./Whitebread, Laurence (eds.): Transitions from Authoritarian Rule: Prospects for Democracy. Baltimore 1986. Przeworski, Adam: Democracy and the Market: Political and Economic Reforms in Eastern Europe and Latin America. Cambridge 1991. Putnam, Robert D., with Robert Leonardi and Raffaela Y. Nanetti: Making democracy work. Civil traditions in modern Italy. Princeton, New Jersey 1993. See, Klaus von: Die Idee von 1789 und die Ideen von 1914. Völkisches Denken in Deutschland zwischen Französischer Revolution und Erstem Weltkrieg. Frankfurt am Main 1975· Tocqueville, Alexis de: Uber die Demokratie in Amerika. Hrsg. v. Jakob P. Mayer in Gemeinschaft mit Theodor Eschenburg und Hans Zbinden. Zürich 1984. Troeltsch, Ernst: Der Kulturkrieg. Deutsche Reden in schwerer Zeit. Rede, gehalten am 1. Juli 1915. Hrsg. von der Zentralstelle für Volkswohlfahrt und dem Verein fiir volkstümliche Kurse von Berliner Hochschullehrern. Berlin 1915.

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Zwischen Partikularismen und universalen Werten: Das Schicksal der providentiellen Demokratien

Es ist eine Plattitüde, daran zu erinnern: Jede Generation liest einen großen Autor von neuem; sie findet darin Mittel, ihren Wissensstand von der Gesellschaft, der sie angehört, aus einigem Abstand zu überdenken. Das Motto dieses Kolloqiums - »Montesquieu heute« - ist also in dieser Art klassisch. Aber seine Ergiebigkeit steht außer Zweifel, und ich danke der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften für die mir gebotene Gelegenheit einer Neulektüre eines wichtigen Teils aus Montesquieus Schaffen. Wahr ist, auch wenn das abermals eine Plattitüde ist, daß die Neulektüre der großen Autoren die beste Quelle zur Erneuerung der Perspektiven ist. Es ist ein vorzügliches Mittel, auf Abstand zur eigenen sozialen Erfahrung und zum eigenen Wissen zu gehen und die Vernunft kritisch zu gebrauchen. Was Montesquieu anbelangt, so hat der Soziologe von heute die Qual der Wahl. Er kann betonen, daß unser Autor, als er über die notwendigen Beziehungen zwischen den Gesetzen und den verschiedenen Dimensionen der Gesellschaft nachdachte, die Grundlagen der spezifischen intellektuellen Sichtweise der Humanwissenschaften gelegt hat. Er kann zur Stunde, da die politische Philosophie im Zusammenhang mit dem Auslaufen der nahezu ausschließlichen Vorherrschaft des marxistischen Denkens einen neuen Frühling erlebt, auch den Denker des Politischen bevorzugen. Er interessiert sich dann fur den Denker der politischen Freiheit, der Teilung und wechselseitigen Einschränkung der Gewalten, fur den Theoretiker der Herrschaft des Gesetzes, d. h. des Rechtsstaats. Er kann bewerten, wie Montesquieu die politische Moderne im Unterschied zu den antiken Republiken gedanklich gefaßt und welchen Platz er dem »sanften Handel« eingeräumt hat, wenn er auch die beginnende industrielle Revolution in England außer Betracht ließ. Was mich heute anbetrifft, so möchte ich, im Zeitalter der Überwindung der Nation, des europäischen Projekts und des Phänomens der sogenannten Globalisierung, von Montesquieu ausgehend zwei Themen ansprechen, die mir im Mittelpunkt der Selbstbefragung der modernen demokratischen Gesellschaften zu stehen scheinen: die universalen Werte und die Relativität der Kulturen sowie die Wirkungen der inneren Dynamik der »Republik« oder der Demokratie, mit anderen Worten, das Risiko der »extremen Demokratie«.

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Universale Werte und Relativität der Kulturen Montesquieu war ein Patriot, der viele Male die Anhänglichkeit ausgedrückt hat, die er seinem Land entgegenbrachte. Außerdem wäre er gern in die Diplomatie gegangen. Zweimal, 1728,1 als er in Wien weilte, und 1730, bei seinem Aufenthalt in London, hat er um eine Stelle als Diplomat nachgesucht, aber seine Versuche fruchteten nicht. Das hat er ständig bedauert, was verschiedene Äußerungen in seinen Pensées belegen: »Ich werde es immer bereuen, daß ich nach der Rückkehr von meinen Reisen keinen Posten fiir auswärtige Angelegenheiten angestrebt habe. Gewiß hätte ich mit meiner Denkweise die Unternehmungen dieses verrückten Belle-Isle2 durchkreuzt [,..].« 3 »Wohl und Ehre meines Vaterlandes lagen mir natürlich am Herzen, kaum aber, was man Ruhm nennt. Ich habe stets insgeheim Freude verspürt, wenn etwas für das Allgemeinwohl angeordnet wurde.«4 »Auch wenn die Vaterlandsliebe zu allen Zeiten die Quelle der größten Verbrechen war, weil man dieser besonderen Tugend allgemeinere Tugenden aufopferte, kann sie doch, richtig verstanden, eine ganze Nation ehren.«5 Die Vaterlandsliebe ist für Montesquieu eng mit der republikanischen Tugend verbunden. So schreibt er in der »Vorerinnerung« zu De l'Esprit des lois: »Was ich die Tugend in der Republik nenne, ist die Liebe zum Vaterland, das heißt die Liebe zur Gleichheit. [...] Ich habe also die Liebe zum Vaterland und zur Freiheit als politische Tugend bezeichnet. «6 Und weiter heißt es im selben Werk: »Man kann den Begriff dieser Tugend bestimmen als Gesetzestreue und Vaterlandsliebe.«7 Aber es handelt sich nicht um eine blinde oder exklusive Liebe, sie bleibt wesentlich kritisch. Montesquieu denkt nicht daran, die Auswüchse zu leugnen, zu denen die »Vaterlandsliebe« zu fuhren droht, und er plädiert dafür, daß sie nicht zum Haß auf andere verleite. In sein Notizheft Mes Pensées schreibt er: »Aber wie die Liebe zur eigenen Familie nicht den Haß auf andere nach sich zog, so sollte die Vaterlandsliebe nicht zum Haß auf andere Gesellschaften fuhren.«8 Und: »Wenn ich in fremde Länder gereist bin, habe ich mich ihnen

ι

Nach einem Brief an den Abbé d'Olivet vom 10. Mai 1728: »Vor einigen Tagen schrieb ich an den Kardinal und Monsieur Chauvelin, daß es mich freuen würde, an den ausländischen Höfen beschäftigt zu werden, und daß ich viel dafür getan hätte, um dazu imstande zu sein [ . . . ] . Die Gründe, weshalb man ein Auge auf mich werfen sollte, sind, daß ich nicht dümmer bin als andere, daß ich mein Glück gemacht habe und fur die Ehre arbeite und nicht, um zu leben, daß ich sehr umgänglich und wißbegierig genug bin, um auf dem laufenden zu sein, in welches Land ich auch gehe.« Zit. nach: Louis Desgraves: Montesquieu, S. 172 f.

2

Gemeint ist der Marschall de Belle-Isle, Botschafter und Minister Louis XIV.

3

Montesquieu: Meine Gedanken, S. 249.

4

Ebenda, S. 62.

5

Ebenda, S. 217.

6

Montesquieu: Vom Geist der Gesetze, Vorerinnerung, Bd. 1, S. 3.

7

Montesquieu: Vom Geist der Gesetze, IV. 5., Bd. 1, S. 53.

8

Montesquieu: Meine Gedanken, S. 215.

D A S SCHICKSAL DER PROVIDENTIELLEN DEMOKRATIEN

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zugewandt wie meinem eigenen. Ich nahm an ihrem Geschick Anteil und hätte gewünscht, daß sie sich in glücklichen Verhältnissen befindend Die Vaterlandsliebe kann also weder den nationalistischen Willen zur Macht noch das Ablassen von der kritischen Haltung zum eigenen Land rechtfertigen, was zudem den Forschungen des Gelehrten widerspräche: »Es ist nicht Bürgergeist zuzusehen, wie das eigene Vaterland die anderen Vaterländer verschlingt. Der Wunsch, daß die eigene Stadt allen Reichtum der Nationen schlucken möge und daß die Augen sich ohne Unterlaß an den Triumphen der Feldherren und dem Haß der Könige weiden, dies alles ist nicht Bürgergeist. Er zeigt sich vielmehr in dem Wunsch, im Staat Ordnung zu finden und sich an der öffentlichen Ruhe zu freuen, an der pünktlichen Ausübung der Justiz, der Zuverlässigkeit der Beamten, der glücklichen Hand der Regierenden, der Achtung vor dem Gesetz und der Stabilität von Monarchie oder Republik.« 10 An anderer Stelle ist zu lesen: »Wenn ich handle, bin ich Bürger; aber wenn ich schreibe, bin ich Mensch. Von den verschiedenen Völkern Europas rede ich wie von den verschiedenen Völkern Madagaskars.«11 Erinnern wir uns an jenen sehr schönen Satz, der den kritischen Bürgergeist begründet und die Grenze benennt, welche die menschliche Vernunft jeder besonderen Anhänglichkeit setzen muß: »In allem wahrhaftig sein, sogar mit dem eigenen Vaterland. Jeder Bürger ist verpflichtet, für sein Vaterland zu sterben, aber niemand, für es zu lügen.« 12 So steht für Montesquieu die Wahrheit höher als die natürliche Anhänglichkeit an das Land, in welchem man durch Zufall geboren wurde und dessen Normen und Kultur man verinnerlicht hat. Generell stehen nicht nur die Wahrheit, sondern die universalen Werte höher als alle Formen besonderer Anhänglichkeit. »Das Herz hat sein Bürgerrecht in allen Ländern«, wie Ibben an Usbek schreibt.13 Montesquieu, der an seinem Land hängt, ist zugleich der Mensch der Überwindung der Nation durch die universalen Werte. Gerade damit nimmt er zweifellos an den aktuellen Debatten teil, die sowohl die Anthropologen über die Relativität der Kulturen als auch die Konstrukteure Europas oder die Theoretiker des Multikulturalismus fuhren. Die Anhänglichkeit an das eigene Land geht bei Montesquieu einher mit dem deutlichen Bewußt-Sein der Idee der Relativität der Kulturen. Das ganze Unternehmen von De l'Esprit des lois kann unter diesem Blickwinkel gelesen werden, wovon schon der vollständige Titel des Werks zeugt: »Vom Geist der Gesetze oder von der Beziehung, welche die Gesetze zur Verfassung jeder Regierung, den Sitten, dem Klima, der Religion, dem Handel usw. haben müssen«. Es ist nicht verboten, im »allgemeinen Geist einer Nation« (»esprit général d'une

9 10

Ebenda, S. 6z. Ebenda, S. 217.

11 12

Zit. nach: Jean Starobinski: Montesquieu par lui-même, S. 150. Teilweise in: Montesquieu: Meine Gedanken, S.115. Montesquieu: Meine Gedanken, S. 14z.

13

Montesquieu: Persische Briefe, 67. Brief, S. 126.

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nation«) den wesentlichen Begriff zu sehen, der Montesquieus Gedanken über die Relativität der Normen und Werte zusammenfaßt. Übrigens unterstreichen das bestimmte Kapitelüberschriften: »Wie sehr man darauf achten muß, die Geisteshaltung eines Volkes nicht zu ändern«,14 oder auch: »Wie die Gesetze den Sitten und Gebräuchen entsprechen müssen«.15 Aber diese auf die Relativität der Gesetze für verschiedene Gesellschaften bezogenen Analysen hindern ihn nicht daran, universale Werte zu formulieren. Montesquieu vereinigt die wissenschaftliche Erklärung der positiven Gesetze mit dem Festhalten an universalen moralischen Geboten. So kann er zum Beispiel »verstehen«, daß sich Institutionen wie die Sklaverei in bestimmten Klimazonen entwickeln können, und gleichzeitig die Sklaverei scharf und ironisch verurteilen, weil sie wider die natürliche Vernunft und Freiheit des Menschen ist. Aus der Analyse der Unterschiedlichkeit der Sitten und Gesetze, der Originalität des »allgemeinen Geistes einer Nation«, folgt bei ihm nicht der moralische Relativismus. Nun ist dieses Problem heute Gegenstand einer »großen Debatte« unter Anthropologen. Die moderne Entwicklung der Anthropologie hat dahin geführt, daß die Reflexion dem Gedanken der Relativität der Kulturen Vorrang gibt. Dieser Gedanke ging der Geburt der akademischen Disziplin voraus - von Montaigne bis Montesquieu, um nur bei der französischen Tradition zu bleiben - , aber die Inspiration der Anthropologen fußt auf dem Kampf gegen den Ethnozentrismus und auf der Bekräftigung des kulturellen Relativismus, das heißt auf einer Doktrin, die die Gleichwertigkeit aller Kulturen proklamiert. Gegenstand dieser »großen Debatte« sind heute nicht der inzwischen weit über den Kreis der Anthropologen hinaus einmütig angenommene kulturelle Relativismus, sondern der Sinn und die Grenzen dieses Relativismus. Ist er selbst absolut oder relativi Ist jede Kultur absolut nicht auf andere rückfuhrbar, so daß jedes Werturteil insofern unmöglich wird, als es zwangsläufig an die Kultur des Urteilenden gebunden ist? Oder gibt es jenseits der Relativität der Kulturen einen Horizont der Universalität, der das moralische Urteil gestattet? Wie soll man auf die Frage antworten, die Raymond Aron 1979 an Claude Lévi-Strauss richtete: »Sind universale Urteile über moralische Verhaltensweisen mit dem kulturellen Relativismus unvereinbar?«16 Die Debatte der Anthropologen über die Universalität der Moral ist nicht rein intellektuell; sie wird zur philosophischen Grundlage für den politischen Umgang sowohl mit Ureinwohnern der Länder, welche durch die europäische Kolonisation gebildet wurden, als auch mit bestimmten in den westlichen Ländern ansässigen Populationen ausländischer

14 15 16

Montesquieu: Vom Geist der Gesetze, XIX. 5., Bd. 1, S.413. Ebenda, XIX. 21., S. 428. Die Frage wurde am 15. Oktober 1979 nach einem Vortrag von Claude Lévi-Strauss an der Académie des Sciences Morales et Politiques gestellt. Die Antwort war: »Der Ethnologe trifft sowohl auf Glaubensinhalte, Gebräuche, Institutionen, die er studieren kann und von denen er ohne irgendwelche moralischen Anliegen eine Typologie vorschlagen kann, als auch auf Menschen, deren Kreationen jene sind und mit denen er etwas gemein hat. Ich werde deshalb nicht versuchen, die Frage zu beantworten. Ich werde sagen, daß das eine Aporie ist, daß wir mit ihr leben, sie in der Erfahrung vor Ort zu überwinden versuchen müssen, indem wir aus Weisheit auf eine theoretische Antwort verzichten.« Zit. nach: Commentaire, S. 372.

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Herkunft. Übernimmt man die Thesen der absoluten Relativisten, dann muß die Politik vor allem darauf abzielen, die Kulturen der Indianer der Vereinigten Staaten und Brasiliens vor jedem Kontakt zu schützen, denn wegen der Undurchlässigkeit der Kulturen würde sie jeder Anpassungsprozeß letztendlich zerstören. Man muß dann auch in Frankreich und Deutschland solche Traditionselemente wie die Beschneidung der aus bestimmten Regionen Afrikas stammenden Mädchen und die Zwangsehen im Namen der Gleichwertigkeit aller Kulturen dulden. Bezieht man die Positionen der relativen Relativisten, dann muß man im Gegenteil eine allmähliche und endogene Anpassung der Indianer an die vorherrschende modern-westliche Zivilisation fördern - eine Assimilation, die dabei nicht die kulturellen Eigenheiten negiert, soweit sie nicht mit der Freiheit und Gleichheit aller Menschen unvereinbar sind - und bestimmte Praktiken im Namen der universalen Idee vom menschlichen Wesen verurteilen. Nicht alle Anthropologen hegen die Auffassung des absoluten kulturellen Relativismus. Ihrerseits betrachten die Anhänger des relativen kulturellen Relativismus »die Relativität der Kulturen als an sich selbst relativ, so daß weder das Bestehen universaler Werte noch die Möglichkeit der interkulturellen Kommunikation oder die Vorteile der Anpassung ausgeschlossen werden«17. Sie gründen diese Entscheidung auf eine Erkenntnistheorie, der zufolge die Bedeutungs- und Wahrheitskriterien nicht zur Gänze vom kulturellen Kontext abhängen. Sie kommen wieder auf die klassische Kritik am Skeptizismus zurück: Es gibt einen logischen Widerspruch im Konzept des absoluten Relativismus. Wenn der Relativist seine Doktrin verficht, unterstellt er, daß diese wahr ist, daß es also eine Wahrheit gibt. Wenn er seine Untersuchungen anstellt, zeigt der Relativist, daß er es fur möglich hält, andere zu begreifen - innerhalb gewisser Grenzen, selbstverständlich, aber kennen wir uns selbst vollkommen? Er kann nicht umhin zuzugeben, daß es jenseits der Kulturunterschiede eine Möglichkeit zum Austausch zwischen unterschiedlichen Kulturen angehörenden Menschen gibt; er kann nicht umhin zuzugeben, daß es eine Möglichkeit, wenn nicht absolut, so doch relativ zu erkennen gibt; was hätte seine Praxis sonst fur einen Sinn? Der Ethnologe meint wie alle Wissenschaftler, daß Kenntnis besser ist als Unwissenheit, daß der Fortschritt der wissenschaftlichen Kenntnis als solcher ein menschlicher Fortschritt ist - was beinhaltet, sich auf einen universalen Wert zu beziehen. Wie kann man Anthropologe sein und denken, der Irrtum sei der Wahrheit vorzuziehen? Steht Toleranz anderen gegenüber nicht wahrlich höher als Intoleranz? Außerdem zeigen die Schriften der Anthropologen, daß es unmöglich ist, bei der absoluten Relativität der Werte zu bleiben. Sie fällen selbst stillschweigend oder ausdrücklich günstige Urteile über die Gesellschaften, die sie untersuchen. Schließlich beachten die radikalen Relativisten nicht die konkreten historischen Bedingungen, nämlich die allgemeine Verbreitung der westlichen Vorbilder. Wie es auch immer um den inneren Wert der unterschiedlichen Kulturen steht, werden sie doch alle von diesem grundlegenden Fakt auf die Probe gestellt. Konkret aber hat die auf absolute Achtung des Rechts auf den Unterschied gegründete Politik verhindert, daß indigene Kulturen gerettet

17

S e l i m A b o u : R e t o u r a u P a r a n a , S. 354.

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wurden. Wenn die westlichen Gesellschaften in der Vergangenheit viele indigene Kulturen vernichtet haben, so hat sich die Situation zutiefst geändert. Eine Uberlebenschance bietet man ihnen heute einzig dadurch, daß man ihnen erlaubt, bestimmte universale Züge der modern-westlichen Kultur in ihre eigene Kultur zu integrieren und sich so allmählich und vor allem endogen anzupassen beziehungsweise anzugleichen. Weder indem man sie isoliert, noch indem man ihnen eine gewaltsame Modernisierung aufzwingt, wird man die besonderen Kulturen bewahren können, sondern vielmehr indem man ihren Angehörigen die Mittel bietet, die Erfordernisse der Moderne der inneren Logik ihrer kulturellen Eigenentwicklung zufolge neu zu interpretieren. Die Angleichungspolitik ist heute die einzige, die es gestattet, die Kulturen zu bewahren, indem ihnen die Mittel zur Evolution geboten werden. Sonst wird man sie im Namen der Achtung des Rechts auf Unterschiedlichkeit zu bloßen Reserven machen, die über kurz oder lang zum Tode verurteilt sind. Es geht nicht um einen Rückfall ins 19. Jahrhundert und seinen naiv optimistischen Evolutionismus, der einen einheitlichen, unumkehrbaren und die ganze Menschheit gemeinsam erfassenden Prozeß vorsah und damit ein falscher Universalismus war; vielmehr ist die daran geübte definitive Kritik in den Gedankenbau des wirklichen Universalismus zu integrieren, desjenigen, welcher der Relativität und Unterschiedlichkeit ihren Platz einräumt, desjenigen, welcher überdies die Voraussetzung ihres Fortdauerns ist. Wie soll man formulieren, was heute das Universale sein kann, wenn wir alle den Gedanken der Relativität der Kulturen akzeptieren, und inwiefern hilft uns Montesquieu dabei? Es war der Fehler des falschen Universalismus des 19. Jahrhunderts, ersteres mit einer besonderen historischen Realität zusammenzuwerfen, mit der westlichen Gesellschaft. Der Fehler war infolgedessen, Angleichungspolitik zusammenzuwerfen mit einem, wie man sagen könnte, »Assimilationismus«. Keine konkrete Gesellschaft verkörpert das Universale. Das Universale ist kein Inhalt, es ist eine Bezugsgröße und ein Anzustrebendes. Die Vernunft selbst kann nur eine regulierende Idee sein. Das Universale ist der natürliche Horizont der Vernunft, es ist das regulierende Prinzip, das dem Vergleich der Kulturen und den interkulturellen Beziehungen vorsteht. Den Menschen kennzeichnet die Spannung in seiner Definition als historisches, durch seine Zugehörigkeit zu einer besonderen Gesellschaft konditioniertes Individuum und als transzendentales Subjekt. Universale Werte anzuerkennen heißt, sich notwendigerweise auf eine transzendentale Subjektivität zu beziehen. Den Menschen definiert nämlich seine Fähigkeit, sich inmitten seiner Einordnung in eine besondere Gesellschaft von den Determinanten zu lösen, die mit seiner historischen Existenz zusammenhängen, die Möglichkeit, zugleich sowohl Bürger als auch Mensch zu sein, die Möglichkeit, den nationalen Geist mit dem Ideal der Universalität zu versöhnen, kritischer Bürger zu sein. Der Mensch fällt nicht zusammen mit seinem besonderen gesellschaftlichen Geschick, er definiert sich vielmehr durch seine Fähigkeit, nicht bloßes Produkt dieser historischen Determinanten zu sein, durch seine Befähigung zu mindestens relativer Autonomie in Bezug auf Natur und Gesellschaft, philosophisch gesagt, durch seine Freiheit. Alle Denker, die sich auf den relativen Relativismus berufen, sind Erben der römischen Auffassung vom Bürger und der universalen Dimension des Christentums, beide übermittelt und neu durchdacht von Montesquieu. Sie tragen dazu bei, den modernen Universalismus

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zu denken, der, über das starke Bewußtsein der Relativität der Kulturen und der historischen Erfahrungen hinaus, den transzendentalen Horizont des Universalen beibehalten muß. Die moderne Gesellschaft müßte die Partikularismen des Lebens der Menschen respektieren und ihnen zugleich die Mittel zur Teilhabe an der Universalität der wissenschaftlichen Vernunft und des Bürgersinns bieten. Genau das ist die Denkweise Montesquieus. Die Anhänglichkeit an eine besondere Nation ist für ihn natürlich und wünschenswert. Aber sie darf darüber nicht die Teilnahme an der Konstruktion Europas und die Beziehungen zur Weltgesellschaft ausschließen, sie darf nicht die Priorität zugunsten der umfassenderen Wesenheit ersetzen. Die Anerkennung und Achtung der Unterschiedlichkeit der Kulturen und historischen Traditionen muß sich in eine universalistische Sicht auf den Menschen einfügen. Patriotismus ist nicht gleich Nationalismus. Das Erbe einer besonderen Kultur darf uns nicht gegenüber anderen Kulturen blind machen; mehr noch, dieses besondere Erbe ist die notwendige Voraussetzung für den Zugang zu anderen Kulturen. Nicht von einem gänzlich inhaltslosen Kosmopolitismus aus kann sich der historische Mensch anderen gegenüber öffnen; von seiner besonderen Verwurzelung aus kann er vielmehr den Sinn und den Wert Verwurzelungen der anderen anerkennen. Ich gestehe, daß ich nie ohne Bewegung wieder jene berühmten Sätze aus Mes Pensées lesen kann: »Wenn ich etwas wüßte, was mir nützen, meiner Familie aber schaden würde, würde ich es aus meinem Geist verbannen. Wenn ich etwas wüßte, was meiner Familie nützen, meinem Vaterland aber schaden würde, würde ich versuchen, es zu vergessen. Wenn ich etwas für mein Vaterland Nützliches wüßte, wodurch Europa Schaden leiden würde, oder etwas, was Europa nützen und dem Menschengeschlecht schaden würde, käme es mir wie ein Verbrechen vor.« 1 8

Wie steht es um die »innere Fehlerhaftigkeit« der Republik? Die zweite, direkt von Montesquieus Denken angeregte »große Debatte« der demokratischen Moderne betrifft die inneren Gefährdungen der Demokratie durch die Auswirkungen einer zur Gleichheit drängenden Dynamik, die niemals vollkommen befriedigt wird und werden kann. M a n spricht heute gern von der »Demokratie gegen sich selbst« (Marcel Gauchet) oder auch von der »demokratischen Melancholie« (Pascal Brückner). Man erwähnt die »Ungeduld angesichts der Grenzen« (Dominique Schnapper) oder den utopischen Charakter der Demokratie. Widerhallt darin nicht Montesquieus Analyse der »extremen« Demokratie aus einem Kapitel mit dem bezeichnenden Titel »Von dem Verfall des Prinzips der Demokratie«? 1 9 Ist die »providentielle Demokratie«, 2 0 in der wir leben, nicht durch den

18 19 20

Montesquieu: Meine Gedanken, S. 128. Montesquieu: Vom Geist der Gesetze, VIII. 2., Bd. I, S. 156. Zu diesem Begriff, der ausgearbeitet wurde, um die Spezifik der gegenwärtigen demokratischen Gesellschaften zu erfassen, siehe: Dominique Schnapper: La démocratie providentielle. (Der Ausdruck

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»Geist der extremen Gleichheit« so gefährdet, daß sie womöglich bestimmte Züge des Despotismus annimmt, insbesondere sein Agieren nach dem Augenblickswillen? In dem bereits erwähnten Kapitel VIII. z. von De l'Esprit des bis lesen wir dazu: »Die Demokratie muß sich also vor zwei Übertreibungen hüten, dem Geist der Ungleichheit, [...] und dem Geist überspannter Gleichheit [...].« 21 »Das Prinzip der Demokratie verfällt nicht nur, wenn der Geist der Gleichheit verloren geht, sondern auch, wenn man den Gleichheitsgedanken überspannt und jeder denen gleich sein will, die er sich als Regierung gewählt hat. Denn dann will das Volk, das nicht einmal die Macht, die es jemandem anvertraute, ertragen will, alles selbst machen, an Stelle des Senates beraten, für die Behörden vollstrecken und alle Richter ihres Amts berauben. [...] Schließlich findet jedermann an dieser Ungebundenheit Gefallen, Herrschaft und Gehorsam werden als gleich lästig empfunden. Frauen, Kinder und Sklaven werden niemandem mehr gehorchen. Es wird keine guten Sitten, keine Ordnungsliebe und schließlich keine Tugend mehr geben.«22 »Der Unterschied zwischen einer gut verfaßten und einer schlecht geordneten Demokratie besteht darin, daß man in jener nur als Bürger, in dieser aber auch als Beamter, Senator, Richter, Vater, Ehemann und Herr gleich ist. Der natürliche Platz der Tugend ist bei der Freiheit; aber bei einer übertriebenen Freiheit findet sie sich so wenig wie bei der Knechtschaft.«23 Abgesehen vom Gehorsam der Frau gegenüber ihrem Ehemann, der heute kaum als »politisch korrekt« gilt, sind die Gefahren fur eine auf das Gleichheitsprinzip gegründete Gesellschaft deutlich hervorgehoben. Das Streben nach Gleichheit droht die Unterschiede zwischen den verschiedenen sozialen Rollen und folglich das Prinzip jeder gemeinschaftlichen Organisation zu verdunkeln. Eine Gesellschaft setzt eine Hierarchie voraus, sie erfordert die Teilung der Arbeit und die Differenzierung der Rollen, um eine gesetzlich geregelte legitime Macht organisieren und die in jedem Gemeinschaftsleben unvermeidlichen Konflikte steuern zu können, die übrigens bis zu einem gewissen Punkt wünschenswert sind, weil sie die Freiheit der Menschen offenbaren. Die Behörden, die Richter oder die Senatoren, der Herr und der Vater usw. können nicht auf ihre Rolle verzichten, ohne jedes gesellschaftliche Organisationsprinzip infrage zu stellen. Das »Volk« kann, wie Montesquieu sagt, nicht »alles selbst machen, an Stelle des Senates beraten, für die Behörden vollstrecken und alle Richter ihres Amts berauben«. Nun besteht in unserer Gesellschaft, die aus der Gleichheit aller ihre Legitimität beziehen will,

wird hier nicht anlehnend an den schon eingebürgerten »Vorsorgestaat« eingedeutscht. »Providence« hat zwar im Englischen wie jetzt auch im Französischen die Nebenbedeutung von Vorsorge, doch die Hauptbedeutung bleibt jene der (göttlichen) Vorsehung, so insbesondere im Attribut »providential« bzw. »providentiel«. »Vorsorge« im eigtl. Sinn ist »précaution« bzw. »prévoyance«. Der verwendete Ausdruck gibt eher zu verstehen, daß die betreffenden Regime ihr Handeln als von der Vorsehung oder vom Schicksal bestimmt darstellen. - A n m . des Übersetzers.) 21

Montesquieu: Vom Geist der Gesetze, VIII. 2., Bd. 1, S. 158. (Im franz. Original heißt es hier »l'esprit d'égalité extrême« - A n m . des Übersetzers.)

22

Ebenda, S. 156 f.

23

Ebenda, S. 159 f.

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beständig das Risiko, daß die Individuen, nachdem sie rechtens die bürgerliche, juridische und politische Gleichheit ihrer sämtlichen Angehörigen eingefordert haben, so weit gehen, deren Gleichsetzung zu verlangen. Aber die Gleichheit der Bürger kann nicht die Gleichsetzung der sozialen Individuen nach sich ziehen. Das würde jedes legitime Hierarchieprinzip und jede geregelte Organisation des gesellschaftlichen Lebens infrage stellen. Nun sind die Unterscheidungen als solche keine Ungleichheiten. Die Unterschiede zwischen den Menschen sind tatsächlicher Art, wogegen die Gleichheit eine Idee, ein Wert und eine Norm ist. Sie leitet sich nicht aus dem Faktischen her. Es ist nicht die Ähnlichkeit zwischen den Menschert, die die Idee und das Ideal ihrer Gleichheit hervorbringt. Gleiche Rechte haben sie nicht, weil sie identisch sind oder sich grundsätzlich ähneln. Die Menschen sind unterschiedlich und ungleich. Die Feststellung der Unterschiede zwischen den Individuen und den historischen Gemeinschaften, die der gängigsten und unmittelbarsten sozialen Erfahrung entspricht, stellt darüber nicht den Wert der Gleichheit als Idee, als Wert und als das Gemeinschaftsleben organisierende soziale Norm infrage. Die Individuen sind an unterschiedlichen historischen Gemeinschaften beteiligt oder beziehen sich auf sie, sie erfahren unterschiedliche soziale Bedingungen, werden also in unseren vom Wert und von der Leidenschaft der Gleichheit beherrschten Gesellschaften als ungleich wahrgenommen. Die Differenz wird immer spontan als Ungleichheit aufgefaßt, also als illegitim beurteilt. In Anschluß an Montesquieu, der in diesem Punkt von Louis Dumont aufgegriffen wird, 24 ist an die für unsere Gesellschaften bestehende sozusagen anthropologische Schwierigkeit zu erinnern, Differenz und Gleichheit zugleich auf den Gedanken zu bringen, an die schwerwiegende Neigung, Gleichheit und Gleichsetzung zusammenzuwerfen, mit dem Risiko, zu einer ebenso »extremen« Demokratie zu gelangen. Uber diese Neigung zu Gleichmacherei bei den sozialen Rollen, die Montesquieu ins Licht gerückt hat, hinaus, werden unsere Demokratien auch vom Streben nach Wohlstand fur alle beseelt. Jedes souveräne Individuum droht nur noch seinen eigenen Interessen und Leidenschaften zu gehorchen, die Bekräftigung der »formalen«, das heißt bürgerlichen, juridischen und politischen, Freiheit und Gleichheit für schon errungen oder unerheblich zu halten und eine »reale« oder absolute Freiheit und Gleichheit anzustreben, die definitionsgemäß unmöglich zu erreichen ist. Dem demokratischen Menschen widerstrebt es, wie Montesquieu zu denken, daß »der Mensch, der sich an die Religion, an die Gesetze, an sein eigenes Wort hält, das menschlich Beste vollbringt, indem er sich freiwillig bindet. Vollständig Mensch ist er erst von dem Augenblick an, wo er an Verbote gerät, das heißt von dem Augenblick an, wo seine >natürliche< Gewalt an eine Gegengewalt gerät.«25 Die Ablehnung jeder Grenze und jeden Verbots kann dazu beitragen, die gemeinsamen Institutionen allmählich zu untergraben. Sie stimmt auch den homo democraticus ständig unzufrieden und »melancholisch«. Er neigt unwiderstehlich dazu, seinem »Ich« absoluten Vorrang vor jeder anderen Erwägung zu geben. Ist das nicht Verrat am Prinzip der demokratischen »Tugend«

24 25

Vgl. insbesondere Louis Dumont: Homo Hierarchicus. Jean Starobinski: Montesquieu par lui-même, S. 97; Hervorhebungen vom Verfasser.

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in der Bedeutung, die Montesquieu der »Tugend« als »Prinzip« der Demokratie gibt: Liebe zu den Gesetzen, Hingabe an die Gemeinschaft, Patriotismus? »Man kann den Begriff dieser Tugend bestimmen als Gesetzestreue und Vaterlandsliebe. Indem diese Tugend die beständige Bevorzugung des Gemeinwohls vor dem Eigenwohl verlangt, verleiht sie alle die einzelnen Tugenden, die sich durch diese Bevorzugung ausdrücken. Diese Liebe ist besonders mit der Demokratie verbunden, in der allein die Regierung jedem Bürger anvertraut ist. Nun geht es aber mit der Regierung genau so wie mit allen anderen Dingen in der Welt: man muß sie lieben, um sie zu erhalten.«26 Das demokratische Individuum ist versucht, das Gemeinwohl hicht mehr zu beachten, um nur noch seinem eigenen Gutdünken zu folgen und weiter nach der eigenen Bequemlichkeit zu streben. Der perverse Effekt der »providentiellen Demokratie«, die sich mit der Zielstellung legitimiert, jedem ihrer Angehörigen materielles, moralisches und kulturelles Wohlergehen zu bieten, besteht darin, daß sie die vorrangige Wertung aller Strebungen des Individuums zu Lasten der Sorge fur das Gemeinwohl, zu Lasten der »beständigen Bevorzugung des Gemeinwohls« heiligt. Es gibt tendenziell einen Widerspruch zwischen dem Individuum als »Händler« - nach Montesquieus Sprachgebrauch - oder, modern ausgedrückt, dem homo oeconomicus, der vom Willen nach Erwerb von Gütern und Komfort beseelt ist, und dem demokratischen Individuum, das dem Prinzip der Demokratie zufolge dem Gemeinwohl Vorrang zu geben hätte, gegebenenfalls zu Lasten des Eigenwohls. Mit anderen Worten, Montesquieu wirft, wie Bernard Manin mit Recht bemerkt hat, das aktuelle Problem der Demokratie und des Liberalismus auf, oder, wenn man so will, den problematischen Charakter der Beziehung zwischen der in ihrem »Prinzip« — im Sinne Montesquieus - tugendhaften Demokratie und der Bereicherung der Gesellschaft.27 Ist die Republik nicht schwach geworden in einer reich gewordenen Demokratie, die ihre Legitimität darin sieht, die reale Gleichheit ihrer Angehörigen zu erzielen, und zwar dadurch, daß sie diese »bemuttert«? Man weiß, daß Montesquieu mit Bezug auf die Republiken der Antike behauptet, die Republik müsse und könne nur anspruchslos leben. Ihm zufolge darf sie sich nicht der Bereicherung verschreiben. Sie ist ein Mönchsorden! Das bringt Montesquieu an verschiedenen Stellen von De l'Esprit des lois zum Ausdruck: »Die Liebe zum Staat in einer Demokratie ist die Liebe zur Demokratie, und die Liebe zur Demokratie ist die Liebe zur Gleichheit. Die Liebe zur Demokratie ist weiter die Liebe zur Einfachheit. Da jedem hier dasselbe Glück und dieselben Vorteile zustehen sollen, müssen alle auch die gleichen Freuden genießen, die gleichen Hoffnungen hegen dürfen; das aber ist nur bei einer allgemeinen Anspruchslosigkeit denkbar.«28 »So wie die Gleichheit die Einfachheit erhält, so bewahrt auch die Einfachheit die Gleichheit der Vermögen. Und wenn beides auch zwei verschiedene Dinge sind, so können sie doch nicht ohne einander

26

Montesquieu: Vom Geist der Gesetze, IV. 4., Bd. 1, S. 53.

27

Siehe Bernard Manin: Montesquieu et la politique moderne.

28

Montesquieu: Vom Geist der Gesetze, V. 3., Bd. 1, S. 63.

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bestehen; jedes ist gleichzeitig Ursache und Wirkung; wenn das eine die Demokratie verläßt, folgt ihm das andere immer nach.«29 »Es ist daher ein sehr richtiger Grundsatz, daß Gleichheit und Einfachheit in einer Republik durch die Gesetze vorgeschrieben sein müssen, wenn man sie lieben soll.«30 »Obgleich in der Demokratie die tatsächliche Gleichheit die Seele des Staates ist, läßt sie sich doch so schwer verwirklichen, daß eine zu peinliche Genauigkeit in dieser Hinsicht nicht immer angebracht sein dürfte. [...] Jede Ungleichheit in der Demokratie muß sich aus der Natur der Demokratie und dem Gleichheitsgrundsatz selbst ergeben.«31 Er dachte offensichtlich an die Republiken der Antike, insbesondere an Rom, im Anschluß an die Historiker, die den Sittenverfall als Folge der Bereicherung hervorgehoben haben. Daher konnte er sich die Republik nur in kleinen Staaten vorstellen. »[...] je weniger Luxus in einer Republik vorhanden ist, um so vollkommener ist sie. [... ] in den Republiken, in denen die Gleichheit noch nicht ganz verlorengegangen ist, bewirkt der Sinn fur Handel, Arbeit und Tugend, daß jeder von seinem eigenen Vermögen leben kann und will und es infolgedessen hier nur wenig Luxus gibt. [...] In dem Maße, wie der Luxus sich in einer Republik breit macht, wendet sich der Sinn dem Eigeninteresse zu. [...] Wenn sich jedermann mit gleichem Ungestüm der Wollust in die Arme warf, was sollte dann aus der Tugend werden?«32 »Alles dies fuhrt uns zu einer Überlegung: die Republiken gehen am Luxus, die Monarchien an der Armut zugrunde.«33 Meint Montesquieu zu Recht, die Anspruchslosigkeit sei eine notwendige Bedingung der Demokratie? Die historische Erfahrung kann uns weniger pessimistisch stimmen. Die Möglichkeit, die Republik in großen Staaten zu organisieren, wurde durch den Aufbau der repräsentativen Institutionen und die ihnen zuerkannte Legitimität vorgeführt - von Institutionen, die Montesquieu selbst analysiert und gelobt hat. »Da in einem freien Staate jeder, dem man einen freien Willen zuerkennt, durch sich selbst regiert sein sollte, so müßte das Volk als Ganzes die gesetzgebende Gewalt haben. Das aber ist in den großen Staaten unmöglich, in den kleinen mit vielen Mißhelligkeiten verbunden. Deshalb ist es nötig, daß das Volk durch seine Repräsentanten das tun läßt, was es selber nicht tun kann.« 34 Nicht so sehr die Entwicklung des »Luxus« als das Streben nach allgemeinem Komfort kleinbürgerlichen Stils - das Tocqueville ein Jahrhundert später anhand der amerikanischen Erfahrung besser wahrnehmen konnte - erlebte man in den europäischen Demokratien des 20. Jahrhunderts. Das Erzielen eines gewissen Wohlstands erwies sich aber in den »providentiellen Demokratien« während der historischen Stabilität in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg als Mittel, auch die am bescheidensten Gestellten in die demokratische Ordnung zu integrieren.

29 30 31 32 33 34

Ebenda, V. 6., S.70. Ebenda, V. 4., S. 65. Ebenda, V. 5., S. 68 f. Ebenda, VII. 2., S. 137 F. Ebenda, VII. 4., S. 141. Ebenda, XI. 6., S. 218.

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Das besagt noch nicht, daß das von Montesquieu betonte Risiko nicht bestehe. Wahr ist, daß die ausschließliche Sorge um das Wohlergehen der Individuen in den »providentiellen Demokratien« dahin tendiert, zu Lasten der politischen Teilnahme der Bürger und ihrer Sorge für das Gemeinwohl die Oberhand zu gewinnen. Wahr ist, daß die gegenwärtige genußsüchtige und individualistische Demokratie durch das Fehlen religiöser und politischer Transzendenz, durch die Sorge um den Augenblick gefährdet ist. Der Augenblickswille aber ist das Merkmal der despotischen Regimes, 35 die Montesquieu verabscheute, weil sie der in eine historische Gesellschaft eingeschriebenen Natur des Menschen zuwider handeln. Wir können ihm in dieser Abscheu folgen und, an ihn anschließend, hoffen, daß die Republiken nicht zu Gesellschaften des Augenblicks werden, die ihre Vergangenheit nicht kennen, die nicht fähig sind, ihren Genuß an materiellen Gütern einzuschränken, sei es aus Achtung vor ihren eigenen Werten, sei es, um die Zukunft ihrer Nachfahren zu sichern, und ihre gemeinsamen Werte vergessen. Was diese noch immer fundamentale Gefahr angeht, ist die Lektüre Montesquieus erhellend.

Aus dem Französischen übersetzt von Joachim Wilke (Zeuthen)

Literatur Abou, Selim: Retour au Parana. Chronique de deux villages guaranis. Paris 1993. Althusser, Louis: Montesquieu, la politique et l'histoire. Paris 1981. Commentaire, Nr. 15, Oktober 1981. Desgraves, Louis: Montesquieu. Aus dem Französischen von Chistoph Vormweg. Frankfurt am Main 1992. Dumont, Louis: Homo Hierarchicus. Paris 1966. Manin, Bernard: Montesquieu et la politique moderne. In: Cahiers de philosophie politique, Nr. 2/3 1985, S. 157-229. Montesquieu: Persische Briefe. Übersetzt und hrsg. von Peter Schunck. Stuttgart 1991. Montesquieu: Vom Geist der Gesetze. Übersetzt und hrsg. von Ernst ForsthofF. 2 Bde. Tübingen 1992. Montesquieu: Meine Gedanken. Auswahl, Übersetzung und Nachwort von Henning Ritter. München 2001. Schnapper, Dominique: La démocratie providentielle. Essai sur l'inégalité contemporaine. Paris 2002. Starobinski, Jean: Montesquieu par lui-même. Paris 1953.

35

Für Montesquieu »ist der Despotismus, ohne politische oder juridische Transzendenz, somit ohne Vergangenheit und Zukunft, das Regime des Augenblicks«. Siehe Louis Althusser: Montesquieu, S. 85.

STAAT, IMPERIUM, WELTGESELLSCHAFT

HERFRIED MÜNKLER

Neues vom Imperium. Reflexionen in Anschluß an Montesquieu

I. Montesquieu hat, um es gleich vorwegzunehmen, dem Imperium als politischem Ordnungsmodell nicht viel abgewinnen können, er hat es sogar entschieden abgelehnt. Montesquieus Ablehnung einer imperialen Ordnung hat historische, aber auch theoriesystematische Gründe, und es ist nicht immer leicht, beide voneinander zu trennen. Zunächst ist festzuhalten, daß zu Montesquieus Zeit keine der europäischen Mächte nennenswerten imperialen Glanz entfaltet hat: Spanien hatte den Höhepunkt seiner Macht überschritten und stellte nach dem Krieg um die Erbfolge der bis Ende des 17. Jahrhunderts in Madrid regierenden Habsburger nur noch einen Schatten seiner einstigen Größe dar. Rußland hatte im Gefolge der petrinischen Reformen seinen Aufstieg zur imperialen Macht erst begonnen, und es war noch nicht absehbar, wohin dieser Weg führen würde. 1 Montesquieu war im Hinblick auf die politische Zukunft Rußlands eher skeptisch: »Der Zar«, schreibt er in Mes Pensées, »sorgt in seinen Staaten für Ordnung zum Wohle des Menschengeschlechts und nicht seines Reiches: Denn wenn dieses Reich zivilisiert, bewohnt, kultiviert wäre, könnte es unmöglich bestehen.«2 Und das von Montesquieu ob seiner inneren Ordnung bewunderte England hatte seinen ersten imperialen Höhenflug zwar bereits begonnen, aber von den Zeitgenossen hatte noch keiner bemerkt, daß sich hier ein Weltreich herausbildete, das schon bald neben dem der Römer die größte Aufmerksamkeit der politischen Publizisten und Theoretiker auf sich ziehen würde.3 Was Montesquieu im Verlauf seiner Europareise, die ihn über Wien nach Ungarn und Italien, über die Schweiz und das Rheinland nach Holland und schließlich nach London führte, jedoch kennengelernt hatte, waren Armut und Elend an der imperialen Peripherie und Prosperität dort, wo man sich aus dem Imperium befreit hatte. Einerseits Süditalien,

ι

Zum Niedergang des spanischen Weltreichs vgl. Bernecker, Walter L.: Spanische Geschichte, S. 61 ff.; zum Beginn einer an westlichen Vorbildern ausgerichteten Imperialität Rußlands vgl. Hosking, Geoffrey: Rußland, S . 7 7 f f ; allgemein zu Aufstieg und Niedergang der großen Reiche vgl. Münkler, Herfried: Imperien, passim.

2

Montesquieu: Meine Gedanken, S. 307 F.

3

Vgl. Ferguson, Niall: Empire, S. 60 ff.

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HERFRIED MÜNKLER

namentlich Neapel: Das Leben einer ganzen Stadt war durch bitterste Armut und knechtischen Sinn gekennzeichnet, und in Montesquieus Augen war dies die Folge der Jahrhunderte langen spanischen Herrschaft über den italienischen Süden. Andererseits das blühende Wirtschaftsleben und der Wohlstand der Niederlande, die sich in einem mehr als achtzig Jahre währenden Krieg aus der spanischen Herrschaft heraus gekämpft hatten.4 Daneben haben die Eroberung des Azteken- und des Inkareichs durch die spanischen Conquistadoren Montesquieus Vorstellung von imperialer Expansion zutiefst geprägt; wenn er über sinnlose Vergeudung von Menschenleben und Reichtum schreibt oder über Grausamkeit und Hinterlist, kommt er wieder auf sie zu sprechen.5 Die Spuren des Spanischen Weltreichs sprachen für Montesquieu gegen die Ordnung des Imperiums. Bot Spanien für Montesquieu die Nahanschauung imperialer Politik, dann Rom die Fernanschauung. Aber selbst die Römer, so Montesquieu in seinen Anfang der 1730er Jahre geschriebenen, freilich erst posthum veröffentlichten Réflexions sur la monarchie universelle en Europe, die die ganze Welt verwüstet hätten, um die erste Universalmonarchie zu errichten, seien nicht so barbarisch gewesen wie die Spanier, die alles zerstört hätten, um alles zu behalten.6 Daß dabei schließlich nur ruinierte Länder übrig blieben, wie er es im Süden Italiens gesehen hatte, konnte Montesquieu also nicht verwundern. Dem Sprachgebrauch seiner Zeit entsprechend, verwendet er hier nicht den Begriff des Imperiums, sondern den der Universalmonarchie - eine Bezeichnung, die auf Campanella, Gattinara und natürlich Dante zurückgeht, welche die Vorstellung einer europaweiten und in diesem Sinne universalen Herrschaft als Lösung der innereuropäischen Konflikte und Kriege entfaltet hatten.7 Für Dante hatte es sich dabei bloß um die Installierung kaiserlicher Oberhoheit und damit einer letztinstanzlichen und inappellablen Entscheidungsebene gehandelt, die das »Auskunftsmittel des Krieges« bei zwischenstaatlichen Konflikten überflüssig machen sollte, unterhalb derer jedoch die Könige, Fürsten und Städte weitgehende Selbständigkeit bewahrten; Mercurino Gattinara, Großkanzler Kaiser Karls V., war um einiges weiter gegangen und hatte die Vorstellung einer die politische Ordnung der Einzelstaaten durchdringenden kaiserlichen Oberhoheit entwickelt; Tommaso Campanella schließlich hatte daraus das Konzept einer spanischen Herrschaft über Europa gemacht, die die protestantische Häresie beseitigen und die Türken besiegen sollte.8 Was Campanella vorschwebte, war die Schaffung eines europäischen Megastaates, der über eine einheitliche Sprache und einheitliches Geld verfügte, der aufgrund der Zusammenfassung aller Kräfte Europas die Steuern senken konnte, den innereuropäischen Bür-

4

Z u Montesquieus Vorstellungen über den Zusammenhang von Politik und Wirtschaft vgl. Hereth, Michael: Montesquieu, S. 121-138; zur Europareise Montesquieus vgl. Desgraves, Louis: Montesquieu, 8.167-236.

5 6 7 8

Etwa Montesquieu: Meine Gedanken, S. 56 f.; ders.: Vom Geist der Gesetze, IV. 6., S. 56. Montesquieu: Réflexions sur la monarchie universelle, S. 192-197. Dazu Bosbach, Franz: Monarchia universalis, S. 35-121. Dazu ausführlich Padgen, Anthony: Instruments of Empire: Tommaso Campanella and the Universal Monarchy of Spain, sowie Gollwitzer, Heinz: Geschichte des weltpolitischen Denkens, Bd. 1, S. 83-108.

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gerkrieg beendete, den katholischen Glauben überall durchsetzte und anschließend die Türken nicht bloß auf dem Balkan hinter Donau und Save zurückdrängte, sondern durch die Rückeroberung Kleinasiens und Nordafrikas die drei Teile des ehemaligen Römischen Reiches wieder zusammenfugte. In Verbindung mit dem spanisch kontrollierten Amerika sollte dieser Machtblock dann zur Eroberung Asiens ansetzen, um die Idee der Monarchia universalis im globalen Maßstab zu verwirklichen - so Campanellas utopisches Projekt einer Neuordnung der Weltpolitik, das er als Gottes verborgenen Auftrag an Spanien ansah. Im zeitlichen Abstand von mehr als einem Jahrhundert hat Montesquieu gegen die von Campanella entworfene Ordnung argumentiert und dabei ein grundlegend anderes Modell der politischen Ordnung Europas entworfen:9 Europa als ein Pluriversum gleichberechtigter Staaten, freilich mit einem Hegemon, einer Vormacht an der Spitze, und dieser Hegemon konnte nach Montesquieus fester Uberzeugung kein anderer sein als Frankreich. »Ich glaube nicht wie Ludwig XIV.«, notiert er in Mes Pensées, »daß Frankreich Europa ist, sondern die erste Macht in Europa.«10 Der Sache nach unterscheidet Montesquieu also sehr genau zwischen Hegemonie und Imperium, wenn er ersteres als die Position der Vormacht unter prinzipiell Gleichen begreift und letzteres in seinen Considérations sur les causes de la grandeur des Romains et de leur décadence als eine Macht definiert, die »nur von Meeren, Gebirgen und weiten Wüstengebieten umgrenzt« ist. 11 Was Montesquieu hier der Sache, freilich nicht dem Begriffe nach, ins Auge faßt, ist der Unterschied zwischen einem Pluriversum von Staaten und dem Universalanspruch des Imperiums, wie er auch in Campanellas Entwurf der Monarchia universalis hervortritt. Staatlichkeit, heißt das, gibt es nur im Plural.12 Der Territorialstaat, wie er in Europa zwischen dem 15. und 17. Jahrhundert entstanden ist, kann nicht allein, sondern nur im Ensemble auftreten. Nur dann nämlich entstehen die spezifisch zwischenstaatlichen Grenzen, erwächst der eigentümliche Vereinheitlichungsdruck im Innern und ist das Strukturgeflecht sich wechselseitig als Gleiche anerkennender politischer Akteure möglich, an dem die fur die völkerrechtliche Ordnung zentrale Kategorie der Reziprozität hängt. Imperialität dagegen gibt es, genau besehen, nur im Singular. Zwar hat es in der Geschichte immer wieder eine Koexistenz von mindestens zwei Imperien gegeben: Chinesisches und Römisches Reich, Britisches Empire und Zarisches Rußland, USA und Sowjetunion, aber seinem Geltungsanspruch nach hat jedes Imperium auf seiner Einmaligkeit und der universalen Gültigkeit seiner Prinzipien bestanden. Oder pointiert: Nur solange es darauf besteht und keinen anderen neben sich als Gleichen anerkennt, verteidigt es seinen Anspruch, ein Imperium und nicht eben ein Staat unter mehreren zu sein. Genau dies hat Montesquieu intuitiv

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Z u Montesquieus Europavorstellung vgl. Mandt, Hella: »Die Freiheit Europas und die Knechtschaft Asiens«, S. 99 ff, sowie Böhlke, Effi: »Esprit de nation«, S. Z45 ff.

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Montesquieu: Meine Gedanken, S. 90. Montesquieu: Größe und Niedergang Roms, S. 110. Montesquieu übernimmt diese Definition im übrigen fast wörtlich, wenn er die Despotie beschreibt; vgl. Montesquieu: Vom Geist der Gesetze, V. 14., S. 88. Dazu ausfuhrlich Münkler, Herfried: Staatengemeinschaft oder Imperium, S. 96 f.

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erfaßt, als er schrieb, ein solches politisches Gebilde werde nur von Meeren, Gebirgen und Wüsten umgeben. Staaten grenzen an andere Staaten. Imperien verlieren sich in der Weite des Raumes. Es hat also den Anschein, als könnten wir bei Montesquieu einiges über die spezifischen Merkmale von Imperien lernen, und das ist auch nötig, weil in den wissenschaftlichen wie publizistischen Arbeiten die Sensibilität ftir den Unterschied zwischen Staaten und Imperien verlorengegangen ist. 13 Das aber ist ein gefährliches Defizit, weil unter diesen Umständen das tatsächliche Agieren von Imperien falsch eingeschätzt wird und demgemäß die eigenen Handlungsspielräume auch falsch vermessen werden. Das hat sich zuletzt im Konflikt zwischen einigen europäischen Staaten und den USA vor dem Irakkrieg gezeigt. Montesquieu kann also als geistiger Führer dienen, wenn nachfolgend die Weltordnung nach dem Ende des Ost-West-Gegensatzes, die Rolle der USA in ihr, die Herausforderung der Europäer durch die instabile Peripherie des Kontinents im Osten und Süden usw. in Augenschein genommen werden sollen. Dabei geht es zunächst um Montesquieus Sicht seiner Gegenwart und der römischen Geschichte; daran anschließend soll eine etwas umfänglichere Perspektive auf Imperien entwickelt werden, die sich von dem absetzt, was sich üblicherweise in den Imperialismustheorien findet; anschließend geht es um die neuen Formen der Imperialität, die weitgehend von konkreten Territorien abgelöst sind, um abschließend zu fragen, ob wir Europäer in der gegenwärtigen Situation eher als Unterstützer oder als Gegner des US-amerikanischen Empire auftreten sollten.

II. Montesquieu optierte mit Blick auf Europa Zeit seines Lebens fur ein Pluriversum gleichberechtigter Staaten, das freilich nicht durch ein System des Gleichgewichts ausbalanciert werden sollte, sondern unter der Kontrolle eines dem Staatensystem selbst angehörenden Hegemons, eben Frankreichs, stand. Das ist eine antibritische Perspektive der europäischen Staatenordnung, denn die Briten legten Wert auf ein Modell des Gleichgewichts ohne Hegemon, bei dem sie sich selbst in der komfortablen Situation des Züngleins an der Waage befanden. 14 Als Montesquieu seine Überlegungen niederschrieb, war diese Alternative politisch freilich noch nicht virulent. Das wird sie erst in der Zeit des Siebenjährigen Krieges zwischen Frankreich und England um die Vorherrschaft in Amerika, der parallel dazu auch in Europa ausgetragen wurde und bei dem der königliche Leser Montesquieus, Friedrich II. von Preußen,1?

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Das Desinteresse an dieser Unterscheidung hat sich zuletzt sicherlich auch auf die verbreitete Diagnose vom Ende der Imperien gestützt; vgl. dazu etwa Demandt, Alexander: Die Weltreiche in der Geschichte, S. 223 f.; als eine der wenigen komparativ angelegten Arbeiten zu Imperien ist zu nennen: Doyle, Michael: Empires, insbes. S. 30 f.

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Dazu Vagts, Alfred: Die Chimäre des europäischen Gleichgewichts, insbes. S. 148 f. Z u Friedrichs Montesquieu-Rezeption vgl. Herdmann, Frank: Montesquieu im Urteil Friedrich des Großen, S. 124-128.

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als Festlandsdegen der britischen Politik agierte und dafür mit Subsidien durchhaltefähig gemacht wurde. Das »Mirakel des Hauses Brandenburg« ist, bei Lichte besehen, auch ein Ergebnis britischen Geldes. Wie auch immer: An eine politische Neuordnung Europas nach dem Modell eines Imperiums war während des 18. Jahrhunderts nicht zu denken. Erst mit Napoleon eröffneten sich zu Beginn des 19. Jahrhunderts solche Perspektiven, aber das ist nicht der Zeitraum, um den es hier geht. Die Imperiumsbildung europäischer Staaten findet also in einer bis dahin eher ungewöhnlichen Form statt, nämlich in der Form von Kolonialimperien, was heißt, daß diese politischen Gebilde in Europa als Staat, außerhalb Europas aber als Imperium agierten. Das war nicht gänzlich neu und galt in mancher Hinsicht bereits fur Portugal und Spanien, aber während es im 16. und 17. Jahrhundert weitgehend auf die iberische Halbinsel beschränkt blieb, erfaßte es nun ganz Westeuropa. Das änderte jedoch nichts daran, daß in den 30er und 40er Jahren des 18. Jahrhunderts, als Montesquieu seine Werke schrieb, an eine imperiale Neuordnung Europas nicht zu denken war. Wenn Montesquieu Imperien beobachtete, dann in der außereuropäischen Welt, vor allem in Asien. Die alte Entgegensetzung zwischen Europa und Asien findet sich bei ihm wieder in der Gegenüberstellung von europäischen Staaten und asiatischen Imperien, und entsprechend seiner Vorstellung von dem allen institutionellen Arrangements zugrunde liegenden esprit fuhrt Montesquieu dies im einen Fall auf den Geist der Freiheit und im anderen auf den Geist der Unterwürfigkeit zurück.16 Imperialität und Despotie werden für ihn dabei im wesentlichen eins. Nun ist diese Kontrastierung von Europa und Asien sicherlich nichts für Montesquieu Spezifisches. Allenfalls ist sie ein Knoten in einem das europäische politische Denken wie ein roter Faden durchziehenden Strang, in dem okzidentale Freiheit und orientalische Despotie einander gegenübergestellt werden. Das beginnt in Herodots Historien, wo die griechische Freiheitsliebe prägnant mit der Proskynese der Perser kontrastiert wird, und führt bis zu der marxistisch angeleiteten Studie Karl August Wittfogels über die orientalische Despotie, die als Ergebnis der hydraulischen Produktionsweise, also der Bewässerungswirtschaft in den großen Stromtälern, begriffen wird. 17 Die Freiheit ist dagegen das Produkt des europäischen Regenwaldes. Das hätte Montesquieu wahrscheinlich zugesagt, hat doch auch er die Freiheit als das Produkt der Wälder Germaniens angesehen. Freiheit ist fur Montesquieu - im Unterschied zu dem Marxisten Wittfogel — jedoch nicht unmittelbar aus der Organisation des Arbeitsprozesses, sondern vielmehr aus einer genuinen Sittlichkeit herzuleiten, die freilich permanent durch die Verlockungen von Reichtum und Luxus bedroht wird. 18 Zugespitzt könnte man also sagen: Es sind Distribution und Konsumtion, an denen sich in Montesquieus Augen die Frage von Despotie oder Freiheit entscheidet. Die Reichtümer und der

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Vgl. Mandt, Hella: »Die Freiheit Europas und die Knechtschaft Asiens«, S. 101 f., sowie Böhlke, Effi: »Esprit de nation«, S. 85 ff. Wittfogel, Karl August: Die orientalische Despotie; zur Unterscheidung der europäischen Geschichte als eine kleinräumiger Ordnungen von den Großreichen Asiens vgl. auch Jones, Eric Lionel: Das Wunder Europa, S. 98 ff. und 201 ff. Vgl. Böhlke, Effi: »Esprit de nation«, S. 150 ff.

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Luxus des Orients sind die eigendiche Bedrohung der politischen Freiheit - dieses zentrale Motto des politischen Republikanismus, das Montesquieu bei den Historikern der späten Römischen Republik kennengelernt hat, durchzieht auch sein Denken. Vor allem in den Considérations findet sich dafür eine Fülle von Beispielen.19 Es ist das Zusammenfließen von großem Reichtum und politischer Macht, die zur Basis der Vorstellung vom Imperium wird. Ein Volk, das sich in die Verfügung imperialer Macht gesetzt hat, wird dadurch, mag es zuvor noch so sittenstreng gewesen sein, moralisch korrumpiert, wie man, so Montesquieu, am Beispiel der Römer sehen könne. Deswegen sieht Montesquieu den Bruchpunkt der römischen Geschichte, den Einstieg in die Entwicklung des Imperiums, auch nicht am Ende des Zweiten Punischen Krieges, also in der Niederwerfung Karthagos, sondern in der Expansion nach Osten, in den Siegen über Perseus und die Seleukidenherrscher. Es waren die unermeßlichen Reichtümer des Ostens, die Rom moralisch korrumpiert und politisch ruiniert haben und von denen es sich besser ferngehalten hätte. Aber, so Montesquieu: »Die befreundeten und verbündeten Völker ruinierten sich allesamt durch die ungeheuren Geschenke, die sie den Römern machten, um deren Wohlwollen zu erhalten oder um ein noch größeres zu erlangen. [...] Als Herren der Welt setzten sie [die Römer] sich in den Besitz all ihrer Schätze. [...] Bald riß auch die Habgier einzelner an sich, was der staatlichen Habsucht entgangen war.«20 Rom zerfiel in Bürgerkriegen, und um diese zu beenden, mußte es sich selbst zum Opfer kaiserlicher Willkür machen. So lautet Montesquieus Diagnose. Wohlgemerkt: Montesquieu sagt nicht, Rom habe den Osten erobert, um sich in den Besitz von dessen Reichtümern und Schätzen zu bringen. Der Vermögenstransfer von Ost nach West war eine Folge der militärischen Expansion Roms, nicht deren Antrieb und Motiv. Das unterscheidet Montesquieus Sicht von den Imperialismustheorien des frühen 20. Jahrhunderts, von Hobson, Hilferding, Luxemburg, Lenin und Sternberg, wo der Trieb der Vermögensvermehrung bzw. der Zwang der Kapitalakkumulation zum eigentlichen Erklärungsansatz der Imperienbildung wird. 21 Diese Sichtweise hat sich dann durchgesetzt: Fast immer und überall wird Imperiumsbildung als das Ergebnis imperialistischer Bestrebungen in den Zentren der expansionsfähigen Macht angesehen, und diese imperialistischen Bestrebungen sind, so die vorherrschende Vorstellung, durch Habsucht und Geldgier motiviert. Paradigmatisch gebündelt findet sich diese Auffassung zuletzt in der Parole »Kein Blut für Öl«. Auch bei Montesquieu trifft man mitunter auf diese Sichtweise, freilich eingeschränkt auf die Spätphase der Imperiumsgeschichte und nicht als Motiv der Imperiumsbildung. Ich möchte Montesquieu im weiteren darum dazu nutzen, aus dem Bann der Imperialismustheorien herauszukommen, die auf ökonomische und psychologische Erklärungsfaktoren setzen. Es geht aber darum, die genuin politische Komponente von Imperiumsbildung wieder in den Blick zu bekommen.

19

Montesquieu: Größe und Niedergang Roms, S. 1 0 7 f., 113 f.

20 il

Ebenda, S. 44. Zusammenfassend M o m m s e n , W o l f g a n g J . : Imperialismustheorien, S. 2 7 - 4 8 , sowie ausfuhrlich Schröder, Hans-Christoph: Sozialistische Imperialismusdeutung, passim.

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Zunächst aber noch einmal zurück zu den Gründen, die Montesquieu in seinen Réflexions sur la monarchie universelle dafïir geltend macht, daß es in Europa nach dem Untergang des Weströmischen Reichs nicht mehr zu einer stabilen und länger währenden Großreichsbildung gekommen ist. Der erste Grund, den er dafür angibt, ist die ähnliche Kriegstechnik aller europäischen Nationen, was zur Folge hatte, daß selbst für kleine Eroberungen ungeheure Anstrengungen unternommen werden mußten. 22 So haben sich die Anläufe zu Großreichsbildungen schon frühzeitig erschöpft. In heutiger Terminologie heißt das, daß vor allem in militärischer Hinsicht die innereuropäischen Konstellationen keine hinreichend starken Asymmetrien aufwiesen, die als Ausgangspunkt einer folgenreichen Imperiumsbildung hätten dienen können.23 Die europäischen Konstellationen waren militärisch zu symmetrisch, und im Bereich der Waffentechnik gab es eine zu schnelle Proliferation der Innovationen, die einen dauerhaften militärtechnischen Vorsprung hätten sichern können, als daß eine Imperiumsbildung qua Eroberung möglich gewesen wäre. Das läßt sich an der raschen Verbreitung der für den Guß leichter und doch leistungsfähiger Kanonen erforderlichen Technologie innerhalb Europas zeigen. Weder den Engländern noch den Schweden, die hier zeitweilig erhebliche Vorsprünge hatten, ist deren Wahrung durch aktive Nonproliferation gelungen, und selbst wenn sie es versucht hätten, hätten die Niederländer, die mit allem handelten und fur fast ein Jahrhundert der Umschlagplatz für die besten Kanonen waren, dies zunichte g e m a c h t . D i e politisch-militärischen Konstellationen Europas, so Montesquieus erstes Argument, erlaubten nicht die Entwicklung starker Asymmetrien, die als Basis einer Großreichsbildung hätten dienen können. Aber wäre eine auf Eroberung fußende Großreichsbildung, wenn sie denn zu Montesquieus Zeiten möglich gewesen wäre, überhaupt wünschens- oder anstrebenswert gewesen? Nein, denn, so Montesquieus zweites Argument, Macht begründet sich inzwischen nicht mehr auf Krieg bzw. Sieg und Eroberung im Krieg, sondern auf Reichtum, der durch Industrie und Handel hervorgebracht wird. Montesquieu antizipiert darin die Beobachtungen vor allem italienischer Ökonomen des 18.Jahrhunderts, namentlich Antonio Genovesis, aber auch Pietro Verris und Cesare di Beccarias, denen zufolge Großräume nicht mehr durch politische Macht, sondern durch Handel effektiv integriert werden. Genovesi, der seit Mitte der 1750er Jahre einen Lehrstuhl fur Ökonomie an der Universität Neapel innehatte, konnte dort die Folgen der auf politische Macht gegründeten spanischen Imperialpolitik in Süditalien eingehend studieren.25 In seiner Histoire philosophique et politique des deux Indes hat dann Abbé Raynal die bei Genovesi, Montesquieu u. a. zu findende Kritik am Spanischen Imperium noch weiter zugespitzt, indem er Spanien zum Gegenbild der modernen aufgeklärten commercial society machte und es als den Widersacher des menschlichen Fortschritts darstellte.26

22 23 24 25 26

Montesquieu: Réflexions sur la monarchie universelle, S. 192 f. Dazu Münkler, Herfried: Imperien, S. 41 ff. Vgl. Cipolla, Carlo M.: Segel und Kanonen. Vgl. Pribram, Karl: Geschichte des ökonomischen Denkens, Bd. 1, S. 175 ff. Dazu Gollwitzer, Heinz: Geschichte des weltpolitischen Denkens, Bd. 1, S. 270 ff.

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Mit dem menschlichen Fortschritt hat Montesquieu freilich nicht argumentiert. Das wurde erst im späten 18. Jahrhundert üblich. Aber die Effektivitätsvorteile und Liberalitätsgewinne der commercial society hat auch er gesehen. Was Montesquieu jedoch infolge seiner Fixiertheit auf Rom und Spanien als Muster von Weltreichsbildung übersehen hat, war der Umstand, daß Imperien keineswegs nur durch Eroberung zustande kommen, sondern ebenso auch durch Handel entstehen können, der sich zu politisch gesicherten Handelsräumen verdichtet.27 Hätte sich Montesquieu stärker mit den portugiesischen und niederländischen seaborn empires beschäftigt, wäre ihm das kaum entgangen, und er hätte womöglich sogar die Anfänge des Britischen Empires in den Blick bekommen. Wenn Montesquieu über Imperien sprach, hatte er im wesentlichen Kontinentalimperien im Auge. Es gibt schließlich noch ein drittes Argument, das Montesquieu in seinen Réflexions dafür ins Feld führt, warum es in Europa nach dem Ende Roms nur noch zu instabilen und wieder schnell zerfallenden Großreichsbildungen gekommen ist: das Fehlen einer absoluten Autorität im Innern, also die Wirkung jenes Prozesses der Gewaltenteilung, den Montesquieu in De l'Esprit des lois nicht nur beschrieben, sondern auch als Lösung für das Problem einer Verbindung von Stabilität und Freiheit normativ ausgezeichnet hat.28 Montesquieu hat sich die Entstehung von Imperien nur auf der Basis einer schrankenlosen Machtkonzentration im Innern vorstellen können. Auch dies dürfte ein Ergebnis der Beschränkung seines imperialen Beobachtungsfeldes auf Spanien und insbesondere Rom gewesen sein. Spanien galt in Europa damals als das Paradigma absolutistischer Herrschaftsausübung, und aus dieser Position ist es ideengeschichtlich erst später durch Frankreich verdrängt worden. Noch wichtiger war fur dieses Argument aber das Beispiel Roms, bei dem seit den politischen Autoren der Renaissance die Entstehung des Imperiums und der Untergang der Republik enggefuhrt wurde. So auch bei Montesquieu, wenn er in den Considérations schreibt: »Solange das römische Volk nur von seinen Tribunen verdorben wurde, denen es nicht mehr Macht übertragen konnte, als es selbst besaß, konnte der Senat sich ohne Schwierigkeit verteidigen, weil er mit Beständigkeit handelte, während das Volk fortwährend vom Extrem begeisterter Aufwallung in das Extrem kläglicher Schwachheit fiel. Als aber das Volk seinen Günstlingen eine furchtbare Machtvollkommenheit nach außen geben konnte, wurde alle Klugheit des Senats nutzlos, und die Republik war verloren.«29 Für Montesquieu war es die imperiale Expansion, die die Römische Republik zugrunde gerichtet hat. Es sind also im wesentlichen drei antiimperiale Argumente, derer sich Montesquieu bedient: Er erklärt — erstens — das Scheitern von Imperiumsbildungen in Europa nach dem Untergang Roms mit dem Fehlen militärischer Asymmetrien, die weiträumige Eroberungen erst möglich gemacht hätten. Das ist das Argument der Unmöglichkeit. Er vergleicht zweitens - die Integration von Großräumen durch politische Macht und ökonomischen Austausch miteinander und kommt zu dem Ergebnis, daß politische Macht ineffektiv ist, weil sie bei zu hohen Kosten zu geringe Erfolge zeitige. Das ist das Argument der Dysfunk27

Dazu Münkler, Herfried: Imperien, S. 157 ff

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Montesquieu: Vom Geist der Gesetze, XI. 6.

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Montesquieu: Größe und Niedergang Roms, S. 57.

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tionalität. Und schließlich untersucht er - drittens - den Zusammenhang zwischen äußerer Expansion und inneren Machtarrangements und kommt zu dem Ergebnis, daß Imperiumsbildung zwangsläufig die innere Freiheit destruiert und zu absolutistischen Machtagglomerationen fuhrt. Das ist das Argument der politischen Nichtwiinschbarkeit.

III. Sind Montesquieus Argumente am Anfang des 21. Jahrhunderts noch stichhaltig, oder müssen sie relativiert und abgeschwächt werden? Immerhin sind auf der faktischen Ebene eine Reihe von Veränderungen zu beobachten, die auch für den Kern der Montesquieuschen Argumentation folgenreich sein müßten. So läßt sich der Problemhorizont der Frage nicht mehr, wie bei Montesquieu, auf Europa begrenzen, sondern die Frage nach dem Imperium muß von Anfang an in globaler Perspektive gestellt werden. Die Montesquieusche Zweiteilung zwischen Asien und Europa ist so nicht mehr möglich - wenn sie denn zu Montesquieus Zeit möglich und zulässig war. Immerhin war eine ihrer Folgen die Nichtwahrnehmung des britischen wie des französischen Kolonialimperiums durch Montesquieu. Entscheidend aber ist, so die erste Gegenbeobachtung, daß sich die Symmetrie-Asymmetrie-Konstellationen fundamental verändert haben: Hatte der Ost-West-Konflikt und das nukleare Patt der beiden Supermächte noch einmal eine weitgehende Symmetrie dargestellt, so ist seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion und dem Aufstieg der U S A zur einzig verbliebenen Supermacht eine stark asymmetrische Konstellation entstanden, in der die U S A über ein militärisches Drohpotential verfugen, dem sich keine andere Macht gänzlich entziehen kann. Die einzig ernst zu nehmende Gegendrohung ist inzwischen die mit eigenen Atomwaffen, weswegen in jüngster Zeit ein neuerlicher Wettlauf um Nuklearwaffen und Trägersystemen in Gang gekommen ist. Aber eine Resymmetrierung der militärischen Konstellationen durch systematische Proliferation, an deren Ende jeder Staat mehrere mit Atomsprengköpfen bestückte Interkontinentalraketen in seinem militärischen Portfolio hätte, ist keine sonderlich attraktive Alternative zur Asymmetrie. Kurzum: Es sind Asymmetrien entstanden, die den U S A eine weltweite Interventionsfähigkeit verleihen und von denen wir im Prinzip nicht wollen können, daß sie durch das Nachziehen anderer Akteure zum Verschwinden gebracht werden. Entscheidend fur die Entstehung der Asymmetrien war aber nicht so sehr der Zusammenbruch der Sowjetunion als vielmehr die von den U S A forcierte Revolution in Military Affairs, also die Nutzung des von der Mikroelektronik getragenen Innovationsschubs für neue Waffensysteme, in deren Gefolge mechanisierte gepanzerte Verbände mit großer Feuerkraft (und dementsprechend auch erheblichem Nachschubbedarf) dramatisch an Bedeutung verloren haben, während mit Präzisionswaffen bestückte Kampfflugzeuge und aus dem Weltraum gesteuerte Lenkwaffen gefechtsfeldbeherrschend geworden sind. Die Folgen dessen zeigten sich erstmals beim Golfkrieg von 1990/91, als es den US-Streitkräften bei minimalen eigenen Verlusten gelang, die irakischen Einheiten in und um Kuwait, die damals immerhin die funftstärkste Armee darstellten, innerhalb von 48 Stunden zu zerschla-

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gen. Danach war auch den Marschällen in Moskau klar, daß ihre gewaltigen Panzerarmeen nichts mehr wert waren. Das Militärzeitalter des Stahls war zu Ende gegangen und durch das der Mikrochips abgelöst worden - und darin besaßen die USA einen uneinholbaren technologischen Vorsprung. Im Gefolge dessen wurden fünf Zentralkommandos eingerichtet, die inzwischen für den globalen Anspruch der USA auf weltweite militärische Interventionsfähigkeit stehen. Es sind dies CENTCOM für den Mittleren Osten und Zentralasien, PACOM für den pazifischen Raum, EUCOM für Europa, SOUTHCOM für Südamerika und NORTHCOM für Kanada, die USA selbst, Mexiko und die Karibik.3° Man hat die an der Spitze des jeweiligen Regionalkommandos stehenden CINCs (»Commanders-inChief«) mit den römischen Prokonsuln der spätrepublikanischen Zeit verglichen, die die faktischen Herren der von ihnen verwalteten Provinzen waren.31 Wie auch immer: Montesquieus Unmöglichkeitsargument bei der Frage nach der Konsolidierung imperialer Macht in Europa war die Antwort auf eine quaestio facti, und diese Antwort lautet heute anders: Ja, die kriegstechnische Überlegenheit der USA ist so groß, daß es keinen ihnen auch nur entfernt ebenbürtigen Konkurrenten gibt. Ob dies auch für die politische und ökonomische Macht gilt, steht auf einem anderen Blatt. Zweitens ist da Montesquieus Dysfunktionalitätsargument, wonach eine Imperiumsbildung mit den Mitteln militärischer Gewalt einer handelspolitischen Integration von Großräumen unterlegen sei. Dieses Argument ist seit dem Eintritt Großbritanniens in den zweiten imperialen Zyklus brüchig, also seit der nach dem Verlust der nordamerikanischen Kolonien erfolgten Neuausrichtung des Imperiums entlang des Seeweges England, Gibraltar, Suez, Aden, Indien. Großbritannien entwickelte sich als seegestütztes Handelsimperium, ohne unter der notorischen militärischen Schwäche des portugiesischen und des niederländischen Handelsimperiums zu leiden. Grundsätzlich haben Seeimperien eine günstigere Struktur der Beherrschungskosten als Kontinentalimperien. Seeimperien verbinden nämlich regionale Formen des Self-government mit einer ökonomischen Integration des imperialen Großraums, in deren Gefolge die einzelnen Teile des Imperiums ein starkes Interesse an dessen Fortbestand als Ganzes entwickeln, weil sie selbst bei für sie schlechten Terms of trade davon profitieren.32 Kontinentalimperien sind dagegen auf die direkte Verwaltung der Teile seitens der Zentrale angewiesen, und die gefährdeten Peripherien müssen durch eine ständige Militärpräsenz gesichert werden. Seeimperien sind eher kostengünstig zu administrieren, während Kontinentalimperien gewaltige Unterhaltskosten verursachen. Das zeigt sich schon an den militärischen Kontroll- und Sicherungsmitteln: Landstreitkräfte müssen in den gefährdeten Provinzen in hinreichend großer Zahl permanent stationiert sein, um Bedrohungen von außen abzuwehren und innere Separationsbestrebungen zu unterdrücken; Flottenverbände dagegen können schnell und kostengünstig von einem Teil des Imperiums in einen anderen verlegt werden. In dieser Kostenrelation sind das Zarische Rußland dem Britischen Empire und die Sowjetunion den USA immer unterlegen gewesen.

30 31 32

Dazu ausfuhrlich Johnson, Chalmers: Der Selbstmord der amerikanischen Demokratie, S. 205 ff. Ebenda, S. 168, 174. Dazu Münkler, Herfried: Imperien, S. 82 ff.

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Montesquieus Vorstellung von Imperienbildung und imperialer Kostenstruktur ist also für die heutigen Verhältnisse zu eng, und im Prinzip war sie dies bereits mit Blick auf die Konstellationen des 19. Jahrhunderts. Imperienbildung allein durch Eroberung und mit den Mitteln militärischer Gewalt war bereits zu dieser Zeit antiquiert; längst war ihr Imperienbildung durch die ökonomische Durchdringung von Räumen zur Seite getreten. Die wichtigsten Instrumente, mit denen Großbritannien sein Imperium zusammenhielt, waren die Überlegenheit seiner Flotte und die Leitwährungsfunktion des Pfiind Sterling. Letzteres hat bei der Sicherung des Britischen Weltreichs eine ebenso wichtige Rolle gespielt wie die Kriegsmarine, und als London seine Rolle als führender Bankplatz der Welt an Washington abgeben mußte, war dies ein Indikator dafür, daß auch die imperiale Rolle der Briten auf die U S A übergehen werde. Auch fur die U S A gilt, daß ihre imperiale Stellung nicht nur am Militärpotential, sondern auch am Dollar als internationaler Leitwährung hängt, zumal diese Währungsdominanz die Voraussetzung nicht nur für die Finanzierung von Außenhandelsdefiziten der U S A durch andere Länder ist, sondern auch für ihren beherrschenden Einfluß auf die Weltbank und den Internationalen Währungsfonds. Für all dies hatte Montesquieu keinen Blick, weil der Reichtum Roms fiür ihn das Ergebnis der Schätze des Ostens war und die Zahlungsfähigkeit Spaniens am Zufluß des amerikanischen Silbers hing. Montesquieus Dysfunktionalitätsargument, das die Integration von Räumen durch Handel gegen deren militärische Eroberung und Kontrolle ausspielte, steht inzwischen auf schwachen Füßen, wenn es nicht gänzlich zusammengebrochen ist. Die Imperiumsbildung der U S A stützt sich eher auf ökonomische und ideologische Macht als auf die des Militärs. Aber warum hat Montesquieu nicht den Handel als eine Form der Imperiumsbildung zu erkennen vermocht? Zwar hat er ihn durchaus als eine imperiale Ressource in den Blick bekommen, aber er hat ihm nicht viel zugetraut. In der Gegenüberstellung von Rom und Karthago nämlich, die er in den Considérations vornimmt, weist er den Römern politische und militärische Tugenden, den Karthagern dagegen Reichtum und Handel zu. Die Niederlage Karthagos sprach gegen Imperiumsbildung durch Reichtum und Handel: »Karthago war sogar darin, daß es mit seinem Reichtum den Krieg gegen die römische Armut führte, im Nachteil. Gold und Silber erschöpfen sich, aber Tugend, Ausdauer, Kraft und Armut gehen nie zur Neige.«33 Und einige Absätze später: »Die durch Handel entstandenen Mächte können bei mittelmäßiger Ausdehnung lange bestehen, ihre Größe dagegen ist nur von kurzer Dauer. Sie werden nach und nach größer und mächtiger, ohne daß jemand dies bemerkt, denn sie vollbringen keine aufsehenerregenden Taten, die ihre Macht verraten. Aber wenn es soweit gekommen ist, daß man nicht mehr umhin kann, sie zu bemerken, dann sucht jeder, dieser Nation einen Vorteil wegzunehmen, den sie [ . . . ] nur durch Überrumpelung gewonnen hat.« 34 Einmal mehr hat sich Montesquieu durch seine Fixierung aufs römische Modell der Imperiumsbildung täuschen lassen.

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Montesquieu: Größe und Niedergang Roms, S. 21. Ebd., S. 23.

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In diesem Zusammenhang verdient es Erwähnung, daß die britische Aristokratie lange gezaudert hat, ob sie sich eher in der Nachfolge Karthagos oder derjenigen Roms sehen solle. Natürlich war der historische und literarische Glanz Roms überaus anziehend, aber gegen die Vergilsche Lobpreisung des Weltreichs stand stets die Skepsis des Tacitus angesichts der inneren Folgen machtpolitischer Expansion. Aristokratien, die auf den Spuren Roms wandelten, mußten den Verlust von Macht und Einfluß fürchten. Lange Zeit hatte man in England angesichts der Kontrastierung von karthagischer Handelsmacht und römischem Territorialimperium die Position Roms durch Frankreich besetzt gesehen, und wiewohl ab 1707 der Begriff British Empire Verbreitung fand, blieb die Rom-Karthago-Frage im 18. Jahrhundert offen.35 Erst nach dem Zusammenbruch des Zweiten Französischen Kaiserreichs wurde in England das eigene Empire mit Blick auf das Imperium Romanum beschrieben. Man kann also nachvollziehen, warum Montesquieu dieser Gestaltwandel von Imperialität am Anfang der Moderne entgangen ist. Fassen wir zusammen: Die Macht und Bedeutung eines Imperiums läßt sich kaum über die Summe der von ihm eroberten und kontrollierten Quadratkilometer definieren, denn damit wäre das Mongolenreich in der Zeit von Dschingis und Mönke Khan das größte je errichtete Weltreich gewesen. Tatsächlich hat es dieselben Räume umfaßt, die Zbigniew Brzezinski vor einiger Zeit als die einzige für die USA gefährliche antihegemoniale Koalition ausgemacht hat: die Verbindung von China, Rußland und dem Iran.36 Aber dieses Steppenimperium hatte nur wenige Jahrzehnte Bestand, und bleibende Spuren, die den Weltreichsbildungen der Römer und Chinesen oder der Osmanen und Briten vergleichbar wären, hat es nicht hinterlassen.37 Dafür hat es Hochkulturen, die auf seiner Expansionsbahn lagen, zertrümmert und dafür gesorgt, daß sie sich nach dem Abzug der Mongolen nicht mehr zu erholen vermochten. Was von den Mongolen in Erinnerung geblieben ist, sind ihre beeindruckenden militärischen Fähigkeiten, die Schlagkraft ihrer Reiterverbände und die frappierende Fähigkeit, deren Bewegungen großräumig zu koordinieren. Was ihnen aber völlig abging, war jener Brain drain aus der Peripherie ins Zentrum, der gerade für stabile, lange währende und kostengünstige Imperien typisch ist. Es ist der kulturelle Glanz - und wir Heutigen müssen hinzufügen: die Spitzenstellung in der Wissenschaft und Höchstleistungen im Sport —, der die Attraktivität eines Imperiums ausmacht und dazu fuhrt, daß es alle, die sich dazu berufen fiihlen, in die Metropolen des imperialen Zentrums zieht. In Rom begann dies mit den Vertretern der mittleren Stoa, Panaitios, Polybios u. a., die die ersten einer von nun an immer größeren Zahl von Intellektuellen waren, die von Griechenland nach Rom strömten, um dort Ansehen und Einfluß zu gewinnen. Das scheint sich im übrigen im Verhältnis der Europäer zu den USA heute zu wiederholen. Europäische Studenten können gegen das US-Empire so viel demonstrieren, wie sie wollen, und ihre Professoren können ihnen dabei immer neue Grußadressen zukom-

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Vgl. Vance, Norman: Vom Mare nostrum zu Kiplings »The Seven Seas«, insbes. S. 88 ff. Brzezinski, Zbigniew: Die einzige Weltmacht, S. 169 ff Einen zusammenfassenden Überblick zur mongolischen Weltreichsbildung bietet Weiers, Michael: Geschichte der Mongolen, 5.45-114.

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men lassen - solange ihre Bildungseinrichtungen an denen der USA gemessen und bewertet werden, ist die imperiale Dominanz der USA anerkannt. Es ist erstaunlich, daß Montesquieu kulturelle Attraktivität als Ressource imperialer Herrschaft weitgehend übersehen hat. Schließlich kann man kaum behaupten, es handele sich dabei um eine erst in jüngster Zeit zu beobachtende Entwicklung, denn bereits bei Thukydides findet man die Feststellung, Athen sei in der Zeit der ersten Thalassokratie den Gegnern aufgrund seines kulturellen Glanzes als doppelt so stark erschienen, wie es tatsächlich war. Der kluge Politiker Perikles wußte, warum er die Akropolis unter Zweckentfremdung der Bündnergelder innerhalb weniger Jahre erbauen ließ. Octavian/Augustus, der von sich sagte, er habe eine Stadt aus Ziegelsteinen vorgefunden und eine aus Marmor hinterlassen, hat dies ebenso gewußt. Und wenn wir die Dinge klar sehen, so haben dies auch die Angreifer vom 11. September 2001 gewußt, als sie das Pentagon und die Twin Towers zum Ziel ihrer Attacke machten. - Bei Montesquieu freilich erfahren wir darüber wenig: Symbolik und Repräsentation sind ihm als Faktoren imperialer Machtsteigerung weithin entgangen. Fassen wir zusammen: Moderne Imperien sind weniger durch die physische Kontrolle zusammenhängender Territorien gekennzeichnet, weswegen sie auf politischen Landkarten auch nicht wie Staaten durch farblich markierte Flächen eingetragen werden können. Will man moderne Imperien sichtbar machen, so muß man eine Weltkarte mit dickeren und dünneren Linien überziehen, die Kapitalströme anzeigen, aber auch den Fluß von Waren und Dienstleistungen sowie Brain drain markieren, dazu die Kontrolle von Kommunikationssystemen durch die Fähigkeit, weltraumgestützte Satelliten nach Belieben auszuschalten, und man muß Verknotungen dieser Stränge eintragen, etwa dort, wo die Zentren der weltmarktbeherrschenden Unternehmen oder die Provider des Internets usw. beheimatet sind. Das ergibt dann keineswegs ein politisch so amorphes Gebilde, wie Negri und Hardt es in ihrem Buch Empire entworfen haben, 38 sondern zeigt sehr genau, wie das US-Empire beschaffen ist. Die bereits erwähnten fünf Regionalkommandos sind nur ein Aspekt dessen und keineswegs der wichtigste.

IV. Bleibt abschließend - drittens - die Frage nach der Wünschbarkeit eines Imperiums, die Montesquieu unter Verweis auf die mit ihm, wie er meint, notwendig verbundene Zerstörung der Freiheit verbürgenden institutionellen Arrangements verneint hatte. Für ihn waren die Entstehung des Römischen Imperiums und die Zerstörung der Römischen Republik zwei Seiten einer Medaille, und diese Perspektive läßt sich kaum, wie die Frage nach der Möglichkeit von Handelsimperien, in eine quaestio facti verwandeln, um sie dann durch Verweis auf die Existenz der USA als demokratisches Imperium zu beantworten. Viele

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Hardt, Michael/Negri, Antonio: Empire, insbes. S. 24 fr.

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Kritiker des US-Empire argumentieren nämlich auf Montesquieus Spuren, indem sie den Prozeß der amerikanischen Imperiumsbildung von einer Selbstzerstörung der amerikanischen Demokratie begleitet sehen. Chalmers Johnson und Michael Mann seien hier nur stellvertretend für viele andere genannt,39 und einige ihrer Argumente sind so leicht nicht von der Hand zu weisen. Gewichtiger ist da schon der Hinweis, daß das Britische Empire auf dem Höhepunkt seiner Machtentfaltung durchaus in der Lage war, die bürgerlichen Freiheiten und die Partizipationsrechte der Aristokratie zu wahren. Aber das Empire der Briten könnte eine Ausnahme gewesen sein, mit der die römische Entwicklung als Regel nicht zu widerlegen ist. Sehen wir uns darum abschließend Montesquieus Argumentation etwas genauer an. In den Diskussionen der letzten Jahre über die amerikanische Außenpolitik ist ein Begriff ins Zentrum getreten, den der Historiker Paul Kennedy Ende der 8oer Jahre geprägt hat: imperial overstretch, imperiale Uberdehnung. 40 Kennedy hat darin Überlegungen Edward Gibbons weitergeführt, die dieser in seiner History of the Decline and Fall of the Roman Empire entwickelt hatte. Danach gibt es einen bestimmten Grad der räumlichen Ausdehnung eines Imperiums, jenseits dessen dieses seine Kräfte überfordert und dadurch seinen Fortbestand gefährdet. Auch bei Montesquieu finden sich derlei Überlegungen in den Considérations, etwa wenn er schreibt: »Es gibt gewisse Grenzen, die die Natur den Staaten gesetzt hat, um den Ehrgeiz der Menschen zu demütigen. Wenn die Römer sie überschritten, wurden sie fast immer von den Parthern geschlagen, wenn die Parther sie zu überschreiten wagten, wurden sie sogleich zur Umkehr gezwungen. Und zu unserer Zeit sind die Türken, die gleichfalls über diese Grenze vorgestoßen waren, gezwungen worden, wieder hinter sie zurückzutreten.«41 Montesquieu beschreibt das Problem des imperial overstretch als ein Wechselspiel von Expansion und Repulsion, während Gibbon es dazu genutzt hat, die politische Weitsicht und Urteilskraft des Octavian herauszustellen.42 Octavian bzw. Augustus hat die römische Expansion sowohl im Osten an Euphrat und Tigris als auch im Norden zwischen Weser und Elbe gestoppt, und als er erkannte, daß in Germanien die vorgeschobenen Grenzen nur um den Preis eines kräftezehrenden Kleinkrieges zu halten waren, hat er sie auf die Rheinlinie zurückgenommen. Psychologisch war dies eine Abkehr vom Vorbild des Makedonenkönigs Alexander, dessen weit greifende Eroberungszüge die römischen Politiker und Feldherrn der vorangegangenen Jahrzehnte angeleitet hatten. Montesquieu findet diese Entscheidungen des Octavian keiner Erwähnung wert, im Gegenteil: Er nimmt auf die umfängliche Reduzierung der römischen Legionen unter Augustus nur Bezug, um dem Princeps vorzuhalten, erstmals stehende Land- und Seestreitkräfte aufgestellt zu haben, was innenpolitisch negative Effekte gehabt habe. Ansonsten sei Octavian unter den römischen

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Johnson, Chalmers: Der Selbstmord der amerikanischen Demokratie; Mann, Michael: Die ohnmächtige Supermacht. Kennedy, Paul: Aufstieg und Fall der großen Mächte, S. 759 ff. Montesquieu: Größe und Niedergang Roms, S. 33 f. Gibbon, Edward: Verfall und Untergang des römischen Imperiums. Bd. 1, S. 12 f.

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III

Feldherrn der erste gewesen, der seine Soldaten durch Proben seiner Feigheit und nicht seines Mutes fiir sich eingenommen h a b e . 4 3 Montesquieu hat also nicht die Bedeutung dessen erkannt, was ich im Anschluß an Michael Doyle44 die »augusteische Schwelle« bei der Entwicklung von Imperien nennen möchte: den Wechsel des imperialen Aggregatzustands von äußerer Expansion auf innere Konsolidierung, von Eroberung auf Zivilisierung. Nicht alle Imperien haben diese Schwelle überschritten, einige sind auf ihr stehen geblieben, andere sind nicht einmal in ihre Nähe gekommen. Am Uberschreiten der »augusteischen Schwelle« aber hängt der politische Charakter eines Imperiums und damit letzten Endes auch die Frage seiner Wünschbarkeit oder Ablehnung. Will man die »augusteische Schwelle« knapp charakterisieren, so sind es vor allem drei Merkmale, die herauszustellen sind: Die zuvor nach dem Beuteprinzip erfolgende Amterverteilung wird neu geordnet und nach rationalen Prinzipien reguliert; das Selbstbild des Imperiums wird von kriegerischer Expansion auf dauerhaften Frieden umgestellt (Pax Romana), und schließlich wird die Ausbeutungsbeziehung des Zentrums zur Peripherie in eine der Zivilisierung verwandelt: Vor allem dort, wo ein starkes zivilisatorisches Gefälle besteht, wird Exploitation durch Investition überlagert. Der imperiale Raum wird auf diese Weise zu einer Ordnung des Friedens, die sich von der notorischen Gewaltsamkeit der Umgebung abhebt, zu einem Raum der Sicherheit und des Rechts, in dem Handel und Wandel ein deutlich höheres Wohlstandsniveau schaffen als in der Umgebung und in dem schließlich auch die Kultur zu einer Blüte gelangt, wie sie außerhalb dieses Raumes nicht anzutreffen ist. All dies hat Montesquieu so nicht gesehen, und deswegen hat er klar gegen das Imperium optiert. Uns heute fällt dies schwerer, zumindest dann, wenn wir so aufrichtig und ehrlich sind, uns zuzugestehen, daß wir die Nutznießer und Profiteure einer Weltordnung sind, die durch eine imperiale Macht gesichert und garantiert wird. Daß Hegemonialkriege wie die, die Europa in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zerstört haben, inzwischen weitgehend der Vergangenheit angehören, ist nicht zuletzt der weltweiten Präsenz der USA geschuldet. Daß vor allem Kriege um lebenswichtige Ressourcen auf die Peripherie der Wohls tandszonen beschränkt sind, wo regionale warlords im Bündnis mit der international organisierten Kriminalität und mit gelegentlicher Unterstützung multinationaler Unternehmen um die Kapitalisierung von Bodenschätzen und Rohstoffen k ä m p f e n , 4 5 ist vor allem das Verdienst eines imperialen Garanten der weltpolitischen Ordnung. Und der Verfall staatlicher Ordnungen in weiten Teilen der Welt übt zwangsläufig einen Sog zu imperialer Expansion aus. Natürlich wäre es wünschenswert, wenn die globale Ordnung nach dem europäischen OSZE-Modell funktionieren würde, aber das ist vorerst keine realistische Perspektive. Tatsächlich werden die politische Energie und wirtschaftliche Kraft der Westeuropäer fiir mindestens noch ein

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Montesquieu: Größe und Niedergang Roms, S. 81; ein etwas freundlicheres Augustusbild findet sich in: Ders: Vom Geist der Gesetze, V. 18., S. 98 f. Doyle, Michael: Empires, S. 136 f. Dazu Münkler, Herfried: Die neuen Kriege, insbes. S. 131 fif.

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Jahrzehnt damit beschäftigt sein, den postimperialen Raum zu stabilisieren, den der Zusammenbruch der Sowjetunion in Mitteleuropa hinterlassen hat. Und die nächsten Anwärter stehen bereits auf der Schwelle und suchen nach um Einlaß in die Europäische Union. So verwandelt sich die EU selbst langsam und unmerklich, aber irreversibel in eine imperiale Ordnung im eingangs umrissenen Sinn - eine Ordnung, die keine ein für allemal scharf gezogenen Grenzen hat, sondern sich ausdehnt und infolgedessen auch durch unterschiedliche Grade der Integration gekennzeichnet ist. Das macht auf ein Problem aufmerksam, das nicht nur Montesquieu, sondern alle Imperialismustheoretiker notorisch übersehen haben: den von politisch instabilen oder wirtschaftlich zurückgebliebenen Peripherien ausgehenden Sog, der oftmals für imperiale Expansion entscheidender ist als eine im Zentrum anzutreffende Dynamik. Für Montesquieu war die Sicht auf den von der Peripherie ausgehenden Sog jedoch durch jene römischen Historiker verstellt, in deren Darstellung die gesamte römische Expansionsgeschichte nichts anderes als ein Prozeß der Intervention auf Einladung gewesen ist. Das hielt er fur reine Ideologie. Inzwischen gibt es auch in den USA Publizisten, die das American Empire als ein »Imperium auf Einladung« bezeichnen.46 Zumindest die Altbundesrepublikaner und die Neueuropäer im Rumsfeldschen Sinn werden dem jedoch kaum widersprechen können. Vor allem in Deutschland wird die Ankündigung des Abzugs amerikanischer Truppen eher als Drohung denn als Versprechen wahrgenommen. Aber der Blick auf die lateinamerikanischen Interventionen der USA zeigt auch, daß es gelegentlich nur vereinzelte Einladende zu sein brauchten, um eine US-Militärintervention zu initiieren. Wie auch immer - eine gehaltvolle Imperiumstheorie hat die Sogwirkung instabiler Peripherien ins Auge zu fassen, wobei dieser Sog durch Medien und Menschenrechtsaktivisten in den imperialen Zentren verstärkt werden kann. Indem sie Bilder von Gewalt und Elend an der Peripherie verbreiten, fungieren sie als Wegbereiter von Interventionen mit imperialen Folgen. Es kommt nicht von ungefähr, daß Michael Ignatieff jüngst die Abfolge humanitärer militärischer Interventionen der USA als Empire lite bezeichnet hat.47 Auch Europa ist im Gefolge der Süd- und Osterweiterungen zu einem Machtfaktor geworden, der sich kaum von der Zumutung eines langfristigen Engagements an seinen östlichen und südlichen Rändern, vor allem aber im Südosten wird freihalten können. Über all dies erfahren wir bei Montesquieu wenig, weil er die verfassungspolitische Perspektive auf Rom als imperiales Zentrum gegenüber der auf die Ordnung des Gesamtraumes präferiert hat. Die äußere Entwicklung war fur ihn eine abhängige Variable der Innenpolitik. Diese Sicht ist in einer globalen Welt nicht mehr möglich. Dabei sollte die innere Komponente jedoch nicht aus dem Auge verloren werden. Chalmers Johnson hat mit Blick auf die USA den Begriff »blowback«, Rückschlag, geprägt,48 womit er unter anderem sagen will, daß das imperiale Zentrum auf Dauer von den Ver-

46 47 48

Vgl. Maier, Charles: Die Grenzen des Empire, S. 128. Ignatieff, Michael: Empire lite. Johnson, Chalmers: Ein Imperium verfällt, S. 19 fF.

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werfungen der Peripherie nicht frei bleibt. Der Vietnamkrieg ist dafür ein Beispiel, als die im vietnamesischen Dschungel eingeübten Verhaltensweisen nach einiger Zeit auch in den USA Einzug hielten. In ähnlicher Weise ist - u.a. auch von Hannah Arendt - versucht worden, die Praktiken des Faschismus als innere Fortsetzung von Kolonialpraktiken zu dec h i f f r i e r e n . 4 9 In diesem Sinne schreibt auch Montesquieu über die römischen Bürgerkriege, an denen die Republik zerbrochen ist: »Die Bürger wurden jetzt so behandelt, wie sie selbst die besiegten Feinde behandelt hatten, und wurden auch nach denselben Methoden und Grundsätzen regiert.«50 Es ist die Sorge vieler Imperiumskritiker, daß die Verhaltensweisen der Peripherie mit der Zeit ins Zentrum einwandern. Nur wer die Gefahr ernst nimmt, kann ihrer Herr werden. Gerade Montesquieu ist in dieser Frage ein ernst zu nehmender Warner, und es wäre leichtfertig, seine diesbezüglichen Bedenken in den Wind zu schlagen.

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49 50

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"5

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Individuum und Weltgesellschaft: Handlungsmöglichkeiten für Individuen in einem globalen Gesellschaftssystem

I. Individuum und Weltgesellschaft scheinen inkommensurable Begriffe zu sein. Auf der einen Seite jenes Kommunikationssystem von maximaler Extension, das alle Kommunikationen, die in der Welt überhaupt vorkommen, zu der - wie auch immer zu analysierenden — Einheit eines einzigen Gesellschaftssystems zusammenfaßt. Auf der anderen Seite eines jener sechs Milliarden menschlichen Individuen, das Soziologen gern der Umwelt der Gesellschaft zurechnen. Vor diesem Hintergrund überrascht es nicht, daß es Sozialtheorien gibt, die die Situation des Individuums in der Weltgesellschaft als eine problematische darstellen. Das vielleicht prominenteste Beispiel ist James S. Coleman, der eine wachsende strukturelle Asymmetrie von Korporationen (Organisationen, Regierung) und Individuen postuliert. 1 Die Vernetzung dieser beiden Ebenen - und das verschärft die Krisendiagnose - läuft nicht über direkte Kommunikation, sondern über Massenmedien. Verblüffend ähnlich ist die Theoriedisposition bei Jürgen Habermas. Das die Argumentation bestimmende Dual besteht bei ihm aus den Subsystemen zweckrationalen Handelns und aus der kommunikativ verfaßten Lebenswelt. 2 Die letztere ist der strukturelle Ort, wo man das Individuum piazieren würde. Die behauptete Technisierung der Lebenswelt gibt die Form an, in der die kreativen Handlungsmöglichkeiten von Individuen beschnitten zu werden drohen. Und erneut spielt der Verweis auf die Massenmedien, die eine Öffentlichkeit räsonierender bürgerlicher Individuen auflösen, eine signifikante Rolle. Beide Vorschläge für die Fassung einer Gesellschaftstheorie sind zurückzuweisen, weil die dualisierenden Konstruktionen von Gesellschaft, auf denen sie ruhen, nicht überzeugend sind. Es ist eine kompliziertere Analytik erforderlich als jene simplen Duale, die die Theorien von Coleman und Habermas postulieren und die diese beiden Theoretiker auf die Diagnose einer strukturellen Schwächung von Individualität hinführen.

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Siehe Coleman, James S.: Foundations of Social Theory; ebenso ders.: The Rational Reconstruction of Society. Vgl. Habermas, Jürgen: Theorie des kommunikativen Handelns.

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Bereits in der klassischen Soziologie des späten 19. Jahrhunderts gab es interessante Vorstellungen, die den Zusammenhang einer gesteigerten zeitgenössischen Wahrnehmung von Individualität mit der Perzeption eines weltweiten Verbundenseins aller Menschen herausarbeiten. Besonders plastisch tritt dies in Simmeis Uber sociale Differenzierung von 1890 hervor.3 Simmel skizziert einen Ubergang, in dem der Mensch weniger als Element seiner sozialen Gruppe, vielmehr als ein Individuum aufgefaßt wird. Mit Blick auf seine Individualität aber treten am Menschen die Eigenschaften hervor, die ihn als Menschen und nicht als Mitglied einer sozialen Gruppe auszeichnen, und daraus leitet Simmel eine erfahrbare Verbindung ab, die den Menschen mit allen anderen Menschen verknüpft und »ihm den Gedanken einer idealen Einheit der Menschenwelt nahe legt.»4 Schon im Fall des antiken Stoizismus sei aus dem Individualismus der Stoiker ihr Kosmopolitismus als ein unmittelbares Komplement hervorgegangen. 5 Einige Seiten später ist davon die Rede, daß die engsten und die innigsten Verbindungen, die das menschliche Herz eingeht, sich mit den engsten und zugleich mit den weitesten Kreisen, denen der Mensch zugehört, assoziiere. Am einen Pol stehen die Familie und die Individualität, am anderen das Vaterland und das Weltbürgertum.6 Man kann aus diesen Überlegungen folgern, daß für Simmel die Erfahrung der Individualität unmittelbar auf die weltbürgerliche Zusammengehörigkeit aller Individuen hinführte. Einen ähnlichen Schluß von der Menschlichkeit des Menschen auf eine weltweite Communitas aller Menschen findet man zwei Jahrhunderte früher bereits in John Lockes Two Treatises of Government (1690): »he and all the rest of mankind are one community, make up one society distinct from all other creatures, and were it not for the corruption and viciousness of degenerate men, there would be no need of any other, no necessity that men should separate from this great and natural community, and associate into lesser combinations. »7 Das ist in einer Hinsicht ähnlich formuliert wie bei Simmel, aber es fällt auch unmittelbar auf, daß die Zugehörigkeit zur Menschheit nicht in gleicher Weise auf die Diagnose der Individualität hingeführt wird. Locke beschreibt hier eine ursprüngliche Einheit der Menschheit als Spezies, die durch die Herausbildung vieler menschlicher Populationen (als eine Form des Sündenfalls) gewissermaßen unterlaufen worden ist. Demgegenüber verkörpert die moderne Form der Individualität eine Abstraktion, die das Individuum aus den Sozial- und Gruppenzusammenhängen, in denen es verankert ist, herauslöst und es auf jenes Kollektiv von maximaler Extension verweist, dem es zugehört: auf die Menschheit in der Weltgesellschaft.

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Vgl. Simmel, Georg: Über sociale Differenzierung. Ebenda, S. 181. Ebenda, S. 182. Ebenda, S. 198. Locke, John: Two Treatises of Government, Buch II, §128.

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II. Mit den gerade skizzierten Überlegungen, die eine innere Verwandtschaft von Individualität und Weltgesellschaft demonstrieren sollen, ist noch nichts über die Ausgangsfrage der Handlungsfähigkeit des Individuums in der Weltgesellschaft ausgesagt. Dies war aber gerade bei Coleman und Habermas die kritische Frage: der Zweifel, ob Individuen noch ernsthaft Handlungsmöglichkeiten in einem globalen Gesellschaftssystem zufallen. An dieser Stelle könnte man damit beginnen, daß man über den Handlungsbegriff nachdenkt. Das aber würde uns zu weit von unserem Argumentationsweg abfuhren. Deshalb nur eine Spezifikation hinsichtlich dessen, was im folgenden mit Handlungsfähigkeit gemeint sein soll. Es geht nicht um die intrinsische Effektivität des Handelns, also nicht um die Fähigkeit, beabsichtigte Wirkungen auch tatsächlich hervorzubringen; stattdessen konzentriere ich mich auf einen Handlungsbegriff, der mit dem Begriff der Handlung die (von relevanten anderen gemachte) Wahrnehmung und die aus der Wahrnehmung folgende Zuschreibung einer Handlungschance auf Individuen meint. Vieles spricht dafür, daß wir es in der Weltgesellschaft mit Umbauten in der gerade genannten Dimension der Zuschreibung von Handlungsfähigkeit fur Individuen zu tun haben. Meine Ausgabe von Montesquieus De l'Esprit des lois enthält eine Chronologie des Herausgebers, die unter dem Eintrag 1751 notiert, daß allein in diesem Jahr Friedrich II. von Preußen, die russische Zarin Katharina II. und schließlich der König von Sardinien Montesquieus Buch gelesen und annotiert hätten.8 In einer solchen Beschreibung der Leserschaft eines Buches steckt eine Vorstellung der Bedeutsamkeit von historischen Individuen, die heute nicht mehr wiederholbar scheint. Vielmehr fällt auf, wie sehr auch die Handlungsfähigkeit von sehr einflußreichen Individuen durch Limitationen insbesondere temporaler Art umschrieben wird. Verträge mit Managern sind zeitlich befristet, und in vielen Fällen gibt es in Unternehmen fixe Altersgrenzen, die nicht leicht zu überschreiten sind. Politische Mandate gelten nur bis zur jeweils nächsten Wahl, und gerade für hohe Wahlämter ist die Zahl der möglichen Wiederwahlen typischerweise begrenzt. Nur noch fur den Papst ist der nicht zu einem berechenbaren Zeitpunkt eintretende Tod die Grenze seiner Macht, und auch sonst lassen sich in Italien in der Politik und in den Unternehmen Residuen einer Gerontokratie beobachten. Bemerkenswert ist weiterhin, wie sehr das Quantum der verbleibenden Zeit bis zum voraussichtlichen Ausscheiden aus dem Amt bereits in der Amtszeit die Macht begrenzt. Der Augenblick der Wiederwahl des amerikanischen Präsidenten ist zugleich der Augenblick, in dem die im politischen System der Vereinigten Staaten zirkulierende Macht kontrahiert.9 Man weiß bereits jetzt, daß die fiir größere Initiativen verfugbare Zeit knapp ist und perzipiert den gerade

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Montesquieu, Charles de: Œuvres complètes, S. 13. (»Chronologie« von Daniel Oster). Vgl. Parsons, Talcott: On the Concept of Political Power, ftir eine Machttheorie, die Macht als ein im System zirkulierendes Medium behandelt, das ähnlich wie das Geld einer Expansion und Kontraktion seiner Menge und inflationären und deflationären Tendenzen ausgesetzt ist.

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wiedergewählten Präsidenten uno actu auch als geschwächt (zumindest im Vergleich mit der Macht, die seinem unterlegenen Kontrahenten zugefallen wäre, wenn dieser gewählt worden wäre). 10 Man sieht an allen diesen Beispielen, daß einerseits ein Bewußtsein davon vorliegt, daß man einzelnen Individuen eine außergewöhnliche Handlungsfähigkeit einräumt, daß aber gerade wegen des Ausmaßes der konzedierten Handlungsfähigkeit dieses Zugeständnis temporal präzise umschrieben werden muß. Bezeichnend ist beim Rücktritt oder bei der Entlassung eines Unternehmensfuhrers, daß der Entzug der Handlungsfähigkeit instantan erfolgt, 11 weil die Mißbrauchswahrscheinlichkeit bei Annäherung an die zeitliche Grenze des Innehabens der Macht dramatisch ansteigt. Das Argument zu temporalen Limitationen der Macht von Individuen kann man durch Überlegungen zu sachlichen Eingrenzungen ergänzen, bei denen es um die Kompetenzbereiche geht, fur die ein Individuum der Sache nach zuständig ist. In allen diesen Maßnahmen zeichnet sich einerseits eine Einschränkung der Erwartungen ab, die man an Individuen adressiert. Sie sollen nicht mehr zeitlich unbegrenzt und nicht in allen denkbaren Sachthemen Entscheidungen treffen können. Zugleich kann man aber auch das Moment der Steigerung betonen. Man erwartet von dem herausgehobenen Individuum präzise Leistungen und Erfolge, und wenn diese nicht eintreffen, darf man nicht permissiv reagieren. Man muß das Individuum zwangsläufig entlassen, worin sich die Bedeutung der von ihm erwarteten Handlungsfähigkeit dokumentiert. Sofort beginnt man mit der Suche nach einem Nachfolger, und die wirkliche Krise des Unternehmens (oder des Staates) beginnt eigentlich erst dort, wo der Eindruck entsteht, daß kein Nachfolger zur Verfugung steht und es niemanden gibt, der die Erwartung gesteigerter Handlungsfähigkeit auf sich attribuiert wissen möchte. Ahnlich wie mit politischen Führern und mit Unternehmensleitern verhält es sich im Sport mit Trainern in publikumsbestimmten Ballsportarten. Auch diesen wird eine überdimensionierte Handlungsfähigkeit zugeschrieben. Die Verträge sind zeitlich limitiert, und bei Ausbleiben des Erfolgs entläßt man die Trainer schnell, um die zugehörigen Hoffnungen und Erwartungen an einen Nachfolger zu adressieren. Im Unterschied zu Politikern und Unternehmensleitern ist der relative Erfolg von Trainern einigermaßen leicht zu messen. Die häufige Entlassung von Trainern führt, soviel zeigt die Forschung, vermutlich vor allem dazu, daß Innovationen relativ schnell durch das System diffundieren. 12 Der Erfolg des aufwendigen Vorgangs der Trainerentlassung läge dann weniger in der gesteigerten Handlungsfähigkeit des Einzelnen und deren Nutzung durch die Vereine, als vielmehr darin, daß das Individuum als Instrument des Innovationstransfers dient.

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Ein gutes Beispiel bietet in den Tagen, in denen dieser Aufsatz geschrieben wird, die deutsche Politik, in der ein Bundeskanzler, der noch gar nicht abgewählt worden ist, einen auffalligen Machtverlust gegenüber einer Kandidatin erleidet, die die Wahl noch gar nicht gewonnen hat. Man sieht, wie auch am »Markt» der politischen Macht vor allem Erwartungen gehandelt werden, die natürlich enttäuschungsanfällig sind.

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Zuletzt beim plötzlichen Rücktritt von Carly Fiorina bei Hewlett-Packard. Es kann vorkommen, daß einem nur wenige Minuten fur das Räumen des Büros konzediert werden. Siehe interessant am Beispiel des Trainerwechsels im Basketball: McCormick, Robert E./Clement, Robert C.: Intrafirm Profit Opportunities and Managerial Slack: Evidence from Professional Basketball.

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III. An diesem Punkt scheint ein Wechsel in der Wahl der betrachteten Kandidaten fiür Handlungsfähigkeit erforderlich. Auch wenn ich eingangs die Verabschiedung des historischen Individuums betont hatte, die sich beispielsweise darin dokumentiert, daß ein Buch mit politischer Wirkungsabsicht heute nicht länger an eine kleine Zahl herausragender Individuen adressiert würde, denen man eine solche Wirkungschance zutraut, so war doch im vorgehenden Abschnitt durchgängig von Individuen in herausgehobener (politischer, wirtschaftlicher, kirchlicher, sportlicher) Position die Rede. Für Weltgesellschaft ist aber viel eher charakteristisch, daß es um eine große Zahl von Individuen geht. In unserem Kontext ist es deshalb eine entscheidende Frage, wie die Weltgesellschaft eigendich dieses Moment reflektiert, daß sie fiir ihre strukturbestimmenden Entscheidungen nicht mehr auf historische Individuen zurückgreifen kann. An dieser Stelle wäre die historische Semantik der modernen Individualität zu schreiben, die als die Reflexionsform fungieren würde, in der sich die Selbstbeschreibung von Weltgesellschaft: vollzieht. Diese historische Semantik kann an dieser Stelle nicht ausfuhrlich vergegenwärtigt werden; deshalb wähle ich nur drei meiner Meinung nach wichtige Einträge aus dem Repertoire dieser historischen Semantik für eine kurze Charakterisierung: Population, Selbst, Humankapital. Der Begriff der Population ist deshalb ein signifikanter Begriff in der Selbstbeschreibung der Moderne, weil er zwei Gesichtspunkte miteinander kombiniert. Es geht in einer Population immer um viele einzelne Individuen. Dem Moment der großen Zahl ist damit Rechnung getragen, und zugleich ist es entscheidend fiir die Beobachtung einer Population, daß sie nicht nur aus vielen einzelnen, sondern auch aus vielen verschiedenen Individuen besteht. Von Individuen kann in der doppelten Hinsicht die Rede sein, daß sie als Mitglieder und Elemente der Population gleichberechtigt sind und in diesem Sinn unterschiedslos alle den Anspruch auf Individualität erheben können, und daß sie zweitens im Blick auf die anderen Mitglieder der Population das Moment der Verschiedenheit zum Ausdruck bringen, das sie als ein individuierender Gesichtspunkt von anderen Individuen unterscheidet. Ein Element einer Population trägt also zu dieser Population ein Potential von Variation bei; man kann dieses Potential auch als innere Unruhe bezeichnen; drittens kann mit Blick auf Selbstbeobachtungen, sofern sie vorhanden sind, von Differenzbewußtsein die Rede sein. Ein zweiter Leitbegriff für die Beschreibung der Rolle und der Handlungsfähigkeit von Individuen in der Weltgesellschaft ist der des Selbst. Man kann dies mit Montesquieu formulieren: Es gehört zur Natur der intelligenten Wesen, daß sie durch sich selbst handeln. 13 Und in dieser Selbstbezüglichkeit des Handelns liegt der Grund, daß sie in ihrem Handeln weder durch die Naturgesetze, die ihnen vorgegeben sind, noch durch die Gesetze, die sie

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»les êtres particuliers intelligents [...] il est de leur nature qu'ils agissent par eux-mêmes.« Montesquieu, Charles de: De l'Esprit des lois, S. 530.

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sich als positive Gesetze selbst geben, vollständig gebunden sind. 14 Ganz viele Einträge im Repertorium des modernen Individuums verknüpfen sich mit dem Begriff des Selbst. Man denke an Selbsterhaltung, Selbstverwirklichung und Selbstgestaltung. Eine treffende Charakterisierung der Zivilreligion des Selbst wählt in einem Interview eine zwanzigjährige Tochter türkischer Eltern, die aber ihr ganzes bisheriges Leben in Deutschland verbracht hat: »In der Türkei ... man heiratet früh, man kriegt Kinder ... hier (gemeint ist Deutschland als Kontrast, RS) kann man sich ... selbstverherrlichen ...». 1 5 Die Semantik von Selbst ist offensichtlich selbst als eine heterogene semantische Population zu verstehen.16 In ihr mischen sich positive und negative Wertungen, wie man an selbstsüchtig oder selfish einerseits, Selbstbewußtsein und Selbsttätigkeit andererseits sehen kann. Vielleicht liegt in dieser eingebauten Ambivalenz einer Semantik gerade der Grund ihrer historischen Bedeutung, weil sie gleichzeitig oder sukzessiv Bewegungen in scheinbar entgegengesetzte Richtungen stützt. Der letzte hier zu vergegenwärtigende Eintrag heißt HumankapitalXi Dieser Begriff ist deshalb für uns interessant, weil er in einer charakteristischen Weise die Abhängigkeit der Wirtschaft und anderer Funktionssysteme von den Kompetenzen und dem Wissen formuliert, das in Individuen inkorporiert ist. Humankapital ist also eine individuelle Ausstattung, die ein Individuum mit sich trägt und die zur Voraussetzung dafür wird, daß es verändernd und wirkmächtig tätig wird. Man kann Humankapital dann in einer zweiten Hinsicht als einen Begriff für die Gesamtheit der Kapitalausstattungen einer größeren Population benutzen und das auf diese Weise aggregierte Humankapital in seiner Bedeutung für die Gestaltung und Transformation einer Region analysieren. Aus diesem Blickwinkel gibt es eindrucksvolle Befunde aus jener Disziplin, die urban and regional economics heißt, und die belegt, wie viele Parameter, die sich sozialstrukturell zur Charakterisierung einer Urbanen Region eignen (Wirtschaftswachstum, Lohnhöhe, Wohnungspreise - aber auch die Lebensqualität und die Intelligenz der im Spiel befindlichen politischen Optionen) mit dem dort verfügbaren Humankapital zusammenhängen.18 In einer zugespitzten Wendung, die fast an Montesquieu erinnert, kann man mit Blick auf die Entwicklung urbaner Regionen in Nordamerika, aber teilweise auch in Europa in den letzten Jahrzehnten, betonen, daß das einzige funktionale Äquivalent zu Humankapital, das in gleichem Maße in den vergangenen Jahrzehnten ein überproportionales Wachstum einer Region befördert hat, in günstigen klimatischen Verhältnissen besteht, die überraschend viele Individuen und ihre Lebens- und Handlungsplanungen und die zugehörigen Organisationen in die auf diese Weise begünstigten Regionen gezogen ha-

14

»Iis ne suivent donc pas constamment leur lois primitives ; et celles mêmes qu'ils se donnent, ils ne les suivent pas toujours..« Ebenda.

15

Nieswand, Boris/Vogel, Ulrich: Dimensionen der Fremdheit, S. ιοί.

16

So auch Wilson, David S.: Species o f T h o u g h t .

17

Z u r Genese des Begriffs in den Sozialwissenschaften vgl. Coleman, James: T h e Impact of G a r y Beckers W o r k on Sociology.

18

Siehe Simon, Curtis J./Nardinelli, Clark: H u m a n Capital and the Rise of American Cities; Moretti, Enrico: H u m a n Capital Externalities in Cities; ders.: Estimating the Social Return to Higher Education; Shapiro, Jesse M . : Smart Cities.

I N D I V I D U U M U N D WELTGESELLSCHATT

123

ben.19 Wenn man aber kein in diesem Sinne ausgezeichnetes Klima hat, muß man auf Humankapital setzen, also auf jene inkorporierten Kompetenzen, denen sich die Handlungsfähigkeit des Individuums verdankt.

IV. Im letzten Schritt wechsele ich noch einmal die Perspektive. Es geht nicht mehr um die semantischen Figuren, die die Vielzahl der Individuen der Weltgesellschaft beschreiben, sondern um die Formen der Strukturbildung, die für Weltgesellschaft charakteristisch sind und die wiederum eine bestimmte strukturelle Form der Rezeption von Individualität definieren. Fünf Formen der Strukturbildung, die für Weltgesellschaft bestimmend werden, drängen sich unmittelbar auf: Funktionssysteme, Organisationen, Netzwerke, Epistemische Communities, Weltereignisse.20 Alle diese fünf Formen können mit Blick auf Individuen und deren Handlungsfähigkeit gelesen werden. In Funktionssystemen entstehen Möglichkeiten der Inklusion fur Individuen über Leistungs- und Publikumsrollen; 21 Organisationen können analog über Principal/Agent- Beziehungen analysiert werden. 22 Der interessanteste Fall aber ist für den Zweck unserer Argumentation das Netzwerk. Bereits auf der Ebene seiner Dekomposition in Elemente baut es sich - im Unterschied zu autopoietischen Systemen - aus Individuen auf, die es dann untereinander verknüpft. Die Strukturen von Netzwerken sind in vieler Hinsicht Strukturen der Ermöglichung von Handlungsfähigkeit fur die Individuen, aus denen ein Netzwerk besteht. Die Prominenz der sozialen Form Netzwerk im System der Weltgesellschaft hängt von Voraussetzungen ab, die mit Individualismus und mit Individualisierung zu tun haben. Man muß in der Lage sein, sich aus Kollektiven, auch aus familiären Zusammenhängen, herauszulösen, um in Netzwerken selbständig Verbindungen knüpfen zu können. Netzwerke sind, das ist eine ihrer prominentesten Darstellungsformen, häufig egozentrische Netzwerke, das aber setzt voraus, daß man ein solches individuelles Beziehungsnetzwerk gegen alle Verpflichtungen gegenüber sozialen Kollektiven isolieren kann und daß dies nicht nur ein Artefakt einer methodischen Betrachtungsweise ist. Auch einzelne Termini der Netzwerktheorie verraten die Nähe zur Form Individuum und zur Ausgestaltung von dessen Handlungsraum. Der weak tie, wie ihn Granovetter skizziert hat, 23 setzt lose Kopplungen unter sozialen Einheiten voraus, die deren Individualisierung begünstigt, weil relativ große Netzwerke aus ziemlich losen Kopplungen schwer in Zusammenhänge sozialer Kontrolle einzubringen sind. Fast noch deutlicher ist der Zusammenhang mit Individualität und der Ermöglichung von Handlungsfähigkeit bei Ronald Burts

19 20 21 22 23

Siehe Glaeser, Edward L./Saiz, Albert: The Rise of the Skilled City. Siehe dazu vorläufig Stichweh, Rudolf: Die Weltgesellschaft; ders.: Das Konzept der Weltgesellschaft. Stichweh, Rudolf: Inklusion und Exklusion. Siehe Coleman, James S.: Foundations of Social Theory. Granovetter, Mark: Getting a Job; ders.: The Strength of Weak Ties.

124

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Erfindung der structural holesM Dieser Begriff meint, daß Kontaktpartner, die je fur sich über relevante Quellen der Information verfugen, untereinander nicht in Verbindung treten können und dies nur über mich tun können, der ich mit beiden eine Vernetzung unterhalte. Damit wächst mir Handlungsfähigkeit zu, und die Theorie der structural holes zielt insgesamt auf eine Variante eines modernen Machiavellismus, der mir rät, redundante Kontakte abzubauen (was auf meiner Seite psychische Kosten des Verzichts auf die Annehmlichkeiten der Redundanz impliziert) und mich stattdessen auf ein Netzwerk zu konzentrieren, in das möglichst viele structural holes, also umfangreiche Machtpotentiale,25 eingebaut sind. Quer zur sozialen Form Netzwerk liegt eine weitere Eigentümlichkeit der Weltgesellschaft. Dafür schlage ich den Namen der globalen Kategorienbildung vor. Während Netzwerke die Sozialwelt durch Knotenpunkte (fur welche die Individuen in Frage kommen) definieren, unter denen Verknüpfungen entstehen, die Sozialstrukturen hervorbringen, die die individuellen Knotenpunkte schließlich auch mit Identitäten ausstatten, setzt die globale Kategorienbildung umgekehrt am Endpunkt dieser Reihe an.26 Eine Einheit in sozialen Systemen nimmt eine Selbstzurechnung zu einer globalen Kategorie vor, oder sie sieht sich einer Fremdzurechnung zu einer Kategorie ausgesetzt, die sie nicht so ohne weiteres ignorieren kann. Als Kategorie kommen beispielsweise in Frage: die Selbst- und Fremdidentifikation als Staat, Nation, als Universität, progressive oder konservative politische Partei, natürlich ist auch die Attribution von Individualität eine soziale Kategorie in diesem Sinn, und es liegen Hunderte von weiteren sozialen Kategorien auf der Hand. Eine Kategorie wird zu einer globalen Kategorie, wenn entsprechende globale Beobachtungsmöglichkeiten verfügbar sind und real genutzt werden. Kategorien bestehen aus normativen und kognitiven Erwartungen, die man an sich selbst und an andere adressiert. Die uns hier am meisten interessierende Kategorie ist die des Individuums, die man sich als ein set von Modellen für denkbare Individualität vorstellen kann. Diese Modelle fur Individualität wirken einerseits auf Standardisierung und Angleichung hin. Das Wissen um normative Vorgaben für wünschbare Individualität kann aber auch in der Form genutzt und umgesetzt werden, daß man fur ein sich Unterscheiden- und ein sich Absetzenwollen optiert. Schon bei Montesquieu taucht — im Aufsatz über Universalmonarchie von 1727 — das Argument der Intensität der Verhältnisse wechselseitiger Beobachtung im Kommunikationsraum der europäischen Staaten auf. Diese sich intensiv wechselseitig beobachtenden Staaten bilden im Grunde, so Montesquieu, nur noch eine einzige Republik.27 Jede Innovation, die fur einen dieser Staaten einen potentiellen Vorteil verkörpert, wird instantan und vielfach

24 25 26

2.7

Burt, Ronald S.: Structural Holes. Vgl. zu Macht als Funktion von Abhängigkeit Emerson, Richard M.: Power-Dependence Relations. Vgl. zum antikategorialen Imperativ der Netzwerktheorie Wellman, Barry: Structural Analysis; zu institutionalistischen Vorstellungen über Kategorienbildung vgl. Strang, David/Meyer, John W.: Institutional Conditions for Diffusion. »[...] aujourd'hui que les peuples tous policés sont, pour ainsi dire, les membres d'une grande République [...]« Montesquieu: Réflexions sur la monarchie universelle en Europe, S.193.

INDIVIDUUM UND WELTGESELLSCHAFT

125

kopiert. Und es ist die Ubiquität dieser Kopiervorgänge, die als das entscheidende Argument dafiir fungiert, warum es eine Universalmonarchie in Europa nie mehr geben wird, weil eine Universalmonarchie große Vorteile benötigen würde, große Vorteile aber durch das instantané Kopieren aller Vorsprünge nahezu ausgeschlossen sind.28 Individualität scheint unter Gegenwartsbedingungen die globale Kategorie zu sein, die in besonderem Maße dazu motiviert, sie in der Form von Modellen und normativen Erwartungen auszuformulieren. Auf diese Modelle und normativen Erwartungen beziehen sich immer neue Kopiervorgänge, die in Richtung auf Standardisierung, auf Diffusion von Innovationen, und schließlich auf das Erzeugen von Innovationen als Folge beabsichtigter Differenzbildung durch Individuen hinwirken können. Die Moderne pflegt, so lautet die Diagnose spätestens seit Durkheim, einen Kult der Individualität. Die Würde des Individuums tritt als Letztwertung an die Stelle der Ehre, die ständische Gesellschaften regiert hatte. 29 Gofïman hat diese Zusammenhänge überzeugend formuliert: »Viele Götter sind abgeschafft worden, aber der Mensch bleibt hartnäckig als eine wichtige Gottheit bestehen. Er schreitet mit Würde einher und ist Empfänger vieler kleiner Opfer. »3°

Literatur Burt, Ronald S.: Structural Holes. The Social Structure of Competition. Cambridge, Mass. 1992.

Coleman, James S.: Foundations of Social Theory. Cambridge, Mass. 1990. Coleman, James S.: The Rational Reconstruction of Society. In: American Sociological Review, 58,1993, S. 1-15.

Coleman, James S.: The Impact of Gary Becker's Work on Sociology. In: Acta Sociologica, 36,1993, S. 169-178.

Emerson, Richard M.: Power-Dependence Relations. In: American Sociological Review 27, 1962, S. 31-41.

Glaeser, Edward L./Saiz, Albert: The Rise of the Skilled City. In: HIER Report 2025 (Harvard Institute of Economic Research), 2003, S.i-46. Granovetter, Mark: Getting a Job: A Study of Contacts and Careers. Cambridge, Mass. 1974·

Granovetter, Mark: The Strength of Weak Ties: A Network Theory Revisited. In: Sociological Theory 1,1983, S. 203-233.

28

»A présent nous nous copions sans cesse: le Prince Maurice trouve-t-il l'art d'assiéger les Places? nous y devenons d'abord habiles. Coehorn change-t-il de manière? nous changeons aussi. Quelque peuple se sert-il d'une arme nouvelle? tous les autres l'essaient soudain. Un État augmente-t-il ses troupes, metil un nouvel impôt? c'est un avertissement pour les autres d'en faire autant. Enfin, quand Louis X I V emprunte de ses sujets, les Anglais et les Hollandais empruntent des leurs.« Ebenda.

29 30

Siehe Kohli, Martin: T h e World W e Forgot, S. 284. Goffman, Erving: Relations in Public. (1971). Zit. nach Knoblauch, Hubert: Kommunikationskultur, S. 62.

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Habermas, Jürgen: Theorie des kommunikativen Handelns. 2 Bde. Frankfurt am Main 1981. Knoblauch, Hubert: Kommunikationskultur. Die kommunikative Konstruktion kultureller Kontexte. (Habilitationsschrift). Konstanz 1994. Kohli, Martin: The World We Forgot: A Historical Review of the Life Course. In: Marshall, Victor W. (ed.): Later Life. The Social Psychology of Aging. Beverly Hills 1986, S. 271-303. Locke, John: Two Treatises of Government. (1690). London 1975. (nach der letzten Edition von 1706). McCormick, Robert E./Clement, Robert C.: Intrafirm Profit Opportunities and Managerial Slack: Evidence from Professional Basketball. In: Advances in the Economics of Sport ι, 1992, S. 13-35. Montesquieu, Charles de: Réflexions sur la monarchie universelle en Europe. (1727). In : Ders.: Œuvres complètes, Paris 1964, S. 192-197. Montesquieu, Charles de: De l'Esprit des lois. (1748). In : Ders.: Œuvres complètes, Paris 1964, S. 527-808. Montesquieu, Charles de: Œuvres complètes. Paris 1964. Moretti, Enrico: Human Capital Externalities in Cities. Unpublished Work 2003. Moretti, Enrico: Estimating the Social Return to Higher Education: Evidence from Longitudinal and Repeated Cross-Sectional Data. In: Journal of Econometrics, 21, 2004, S. 175-212. Nieswand, Boris/Vogel, Ulrich: Dimensionen der Fremdheit. Eine empirische Untersuchung anhand qualitativer Interviewdaten. (Diplomarbeit). Universität Bielefeld, Fakultät für Soziologie, 2000. Parsons, Talcott: On the Concept of Political Power. (1963). In: Ders. (ed.): Politics and Social Structure. New York 1969, S. 352-404. Shapiro, Jesse M.: Smart Cities: Explaining the Relationship between City Growth and Human Capital. Unpublished Work 2003. Simmel, Georg: Uber sociale Differenzierung. Sociologische und psychologische Untersuchungen. (1890). In: Georg Simmel Gesamtausgabe, Bd 2. Frankfurt am Main 1989, S. 109-295. Simon, Curtis J./Nardinelli, Clark: Human Capital and the Rise of American Cities, 1900— 1930. In: Regional Science and Urban Economics, 32, 2002, S. 59-96. Stichweh, Rudolf: Die Weltgesellschaft. Strukturen eines globalen Gesellschaftssystems jenseits der Regionalkulturen der Welt. In: Forschung an der Universität Bielefeld, H. 23, 2001, S. 5-10. Stichweh, Rudolf: Das Konzept der Weltgesellschaft: Genese und Strukturbildung eines globalen Gesellschaftssystems. In: Schulte, Martin/Stichweh, Rudolf (Hrsg.): Weltrecht. Berlin 2005. Stichweh, Rudolf: Inklusion und Exklusion. Studien zur Gesellschaftstheorie. Bielefeld 2005. Strang, David/Meyer, John W.: Institutional Conditions for Diffusion. In: Theory and Society 22, 1993, S. 487-511.

INDIVIDUUM UND WELTGESELLSCHAFT

127

Wellman, Barry: Structural Analysis: From Method and Metaphor to Theory and Substance. In: Wellmann, Barry/Berkowitz, S. D. (eds.): Social Structures: A Network Approach. Cambridge 1988, S. 19-61. Wilson, David S.: Species of Thought: A Comment on Evolutionary Epistemology. In: Biology and Philosophy 5,1990, S. 37-62.

MONTESQUIEUS

Lettres persanes

ROBERT CHARLIER

Montesquieus Lettres persanes in Deutschland - Zur europäischen Erfolgsgeschichte eines literarischen Musters

Mit seinen Lettres persanes (1721; 1754) schuf der politische Philosoph Montesquieu ein Stück Weltliteratur. Die Geisteskarriere eines der bedeutendsten Theoretiker der Gewaltenteilung und - im historischen Kontext der französischen Frühaufklärung - »ersten Soziologen« Europas wurzelt damit nicht zuletzt in der Literatur. Die fiktiven Briefe einer kleinen Gruppe hochgestellter Perser, die von ihrer Europareise zu Beginn des 18. Jahrhunderts kritisch in die Heimat berichten, bündelt eine ganze Reihe literarischer Traditionsstränge und reichert sie kongenial zu einer kritischen Masse an, die der pseudo-exotischen Briefsatire als Medium aufklärerischer Gesellschaftskritik in ganz Europa schlagartig zum Durchbruch verhelfen sollte. Kaum eine europäische Literaturform erfuhr so viele und vielfältige Übersetzungen, Bearbeitungen, Kontrafakturen und Steigerungen wie die Briefsatire im exotischen Gewand. Vor allem in Deutschland provozierte Montesquieu ein außergewöhnlich nachhaltiges Echo. 1 Denn an dieser Selbstexotisierung als utopischer Kontrastprojektion partizipierten neben Goethe und Kleist auch Jacob Michael Reinhold Lenz, Karl Philipp Moritz, Wilhelm Friedrich von Meyern und Johann Christian Friedrich Hölderlin. Vor allem die deutschsprachigen Nachahmungen der Lettres persanes trugen dazu bei, daß Europa zum ersten Mal im Geiste aufklärerischer Kritik und Selbstreflexion »vereint« zu sein schien.

ι.

Aufklärung und Exotik: Das doppelte Programm der Lettres persanes

In einem ersten Schritt seien zunächst der Inhalt und die formale Struktur der Lettres persanes rekapituliert. Da es sich nicht nur um ein literarisches Meister-, sondern auch ein genrebildendes Musterwerk handelt - man ist versucht zu sagen: ein literarisches Mutterwerk -, das eine einzigartige Fülle von Filiationen hervorgebracht hat, erscheint diese Vorgehensweise gerechtfertigt. Denn bei genauerer Betrachtung verdichtet die vielschichtige Anlage des Briefwerkes überwiegend dichotome Form- und Inhaltsaspekte. Diese Dichotomie bleibt

ι

Vgl. ζ. B. Vierhaus, Rudolf: Montesquieu in Deutschland, bes. S. 11 f., 27.

132

ROBERT C H A R L I E R

aber nicht bloß ein ästhetischer Kunstgriff. Sie bestimmt auch die europäische und insbesondere die deutsche Werkrezeption. Das formal-inhaltliche Wechselspiel zwischen Aufklärung und Exotik mündet in den deutschen Texten in eine Dialektik von Rationalismus und Irrationalismus, aufklärerischer Utopie und anti-aufklärerischer Reaktion. Während das Genre mit Wilhelm Friedrich von Meyerns Abdul Erzerum's neue[η]persische[η] Briefe[η] (1787) in eine ideologische Sackgasse der Literaturgeschichte gelangt, repräsentiert Hölderlins Briefroman Hyperion oder der Eremit in Griechenland (1797-99) e i n e einzigartige geschichtsphilosophische Steigerung und quasi-sakrale Überhöhung der Spielart. Die beiden Leitbegriffe »Aufklärung« und »Exotik« beschreiben eine Art doppeltes Programm der Lettres persanes. Denn einerseits fungieren die Protagonisten Usbek und Rica - aber auch Nebenfiguren wie Rhedi, Nargum oder Ibben - als Sprachrohre aufklärerischer Kritik mit Blick auf die Verhältnisse in Paris, Frankreich und Europa. Zum anderen aber bleiben diese Stimmen eingekörpert in den fiktionalen sozialen Kontext ihrer orientalischen Kultur. Innerhalb dieses vorgestellten Orients gelten vor- oder sogar anti-aufklärerische Werte und Normen. Im Persischen Reich - repräsentiert durch die Briefadressaten in Isfahan und Smyrna - dominieren politischer Autokratismus, persönliche Leibeigenschaft, rigorose Geschlechtertrennung und die absolute sexuelle Unterdrückung der Frau. Die Polygamie und das in jeder Hinsicht grausame Eunuchentum sind unverrückbar institutionalisiert. Montesquieus Perser artikulieren ihre Kritik also nicht im Zeichen eines vitalistisch verklärten Orients als Kontrastfolie zur abendländischen Sphäre. Der Orient ist hier keineswegs ein Reich des Natürlichen, Ursprünglichen und Unverdorbenen. Usbek und Rica sind mit den Figurationen des »Edlen« oder »Guten Wilden« also nur entfernt verwandt.2 Usbeks vermeintlich »kindliche« Blickweise dient lediglich der sensuellen und affektiven Motivation der Fremdwahrnehmung.3 Sie fungiert damit als perspektivische Kontrastverstärkung: »Ich verbringe meine Zeit mit Beobachtungen und notiere am Abend, was ich tagsüber bemerkt, gesehen und gehört habe. Mich interessiert einfach alles, und alles versetzt mich in Erstaunen; ich bin wie ein Kind, auf dessen noch zarte Sinnesorgane auch die geringsten Dinge einen lebhaften« [Stackelberg: »den lebhaftesten«] »Eindruck machen.«4 Betrachtet man die Struktur der aufklärerischen Programm-Passagen, so überwiegt wiederum eine dichotome Substruktur. Zum einen handelt es sich um ex negativo demaskie-

2 3

4

Vgl. Kohl, Karl-Heinz: Entzauberter Blick, S. 21-32, 202-222. Der - wohlgemerkt: hier vor-rousseauistische - Topos der >kindlichen< Wahrnehmung wurzelt in der Tradition der fingierten Briefe aus der Sicht eines unbedarften Menschen oder Provinzlers (der >junge< Eipeldauer). Dabei rückte sogar die - tumb-tölpelhaft charakterisierte - Schreiber- oder Adressatenfigur selbst in den Mittelpunkt des satirischen Interesses. Musterstiftendes Schema dieser Machart bildeten Josef Richters Eipeldauer Briefe (1785-1813). Dieser Werktypus begründete durch seine langjährige Publikation in großen Auflagen eines der ersten Massenmedien der Trivialliteratur. - Vgl. dazu Richter, Josef: Briefe eines Eipeldauers an seinen Herrn Vetter [...] von einem Wiener [...], I785[-I8I3], sowie Weißhaupt, Winfried: Europa sieht sich mit fremdem Blick, I., insbes. S.25Í. Montesquieu: Persische Briefe, 48. Brief, S. 88 - »Je passe ma vie à examiner: j'écris le soir ce que j'ai remarqué, ce que j'ai vû, ce que j'ai entendu dans la journée: tout m'interesse, tout m'étonne: je suis comme un enfant dont les organes encor tendre sont vivement frappez par les moindres objets.« (Eu-

MONTESQUIEUS Lettres persanes IN DEUTSCHLAND

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rende oder desillusionierende Briefe und Briefreihen, darunter die Texte mit den satirischkabarettistischen Höhepunkten. Ein Beispiel hierfür bildet der 73. Brief [LXXI], in dem sich Rica über das selbstherrliche Gebaren der Mitglieder der Académie française lustig macht: »Ich habe von einer Art Gericht gehört, das >Académie française< heißt. [...] Die Mitglieder des Gerichtshofes haben nichts anderes zu tun, als ständig zu schwatzen. Lobreden« [Stackelberg: »Lobsprüche«] »mischen sich wie von selbst in ihr ewiges Gewäsch, und sobald sie einmal in seine Geheimnisse eingeweiht sind, werden sie von der Sucht nach Lobeshymnen« [Stackelberg: »Panegyrik«] »gepackt und nicht mehr freigelassen. Dieser Körper hat vierzig Köpfe voller Redefiguren, Metaphern und Antithesen; so viele Münder reden fast nur in Ausrufen; seine Ohren möchten immer von Rhythmus und Harmonie beeindruckt werden. Von Augen ist nicht die Rede, denn es hat den Anschein, als sei er nur zum Sprechen, nicht aber zum Sehen gemacht.«5 Andererseits dominieren positiv erzählende Postulate bestimmter Ideen sowie diskursive briefliche Abhandlungen zu einzelnen Themenkreisen. Dazu gehören u. a. die Erzählung von den Troglodyten (»Höhlenbewohner«) als Gleichnis fur Montesquieus Sicht des Republikanismus (11.-14. Brief [XI-XTV]), das Märchen von Apheridon und Astarte im Hinblick auf die Idee des Weltbürgertums (67. Brief [LXV]) und der kurze Brieftraktat über das Verhältnis von privatem und öffentlichem (Völker-)Recht (94. Brief [XCI]). Auch die alternierende Reihenstruktur des Werks spiegelt diese programmatische Dichotomie. Fiktive Briefdokumente des räsonierenden Reiseberichts oder der kritisch-rationalen Betrachtung wechseln mit Zeugnissen aus der exotischen Sphäre, in der die orientalischen Gesetze gelten, also das Anti-Emanzipatorische, Despotische und vermeintlich Willkürliche der voraufklärerischen islamischen Gesellschaftsordnung. Zugleich strahlt diese orientalische Sphäre aber den besonderen Reiz des Geheimnisvollen, Sexuell-Dunklen und QuasiNuminosen aus - haftet doch gerade der absoluten Gewaltherrschaft: des Harems ein gewis-

vres Complètes de Montesquieu, I, XLVI. Brief, S. 253. [Da die Zählungen der Lettres persanes in der neuen Werkausgabe der Voltaire-Foundation von der alten Zählung abweicht, wird im folgenden stets die alte (arabische Ziffern) und die neue (römische Ziffern) Zählung angegeben.]

5

Der - wohlgemerkt: hier vor-rousseauistische - Topos der >kindlichen< Wahrnehmung wurzelt in der Tradition der fingierten Briefe aus der Sicht eines unbedarften Menschen oder Provinzlers (der >junge< Eipeldauer). Dabei rückte sogar die - tumb-tölpelhaft charakterisierte - Schreiber- oder Adressatenfigur selbst in den Mittelpunkt des satirischen Interesses. Musterstiftendes Schema dieser Machart bildeten Josef Richters Eipeldauer Briefe (1785-1813). Dieser Werktypus begründete durch seine langjährige Publikation in großen Auflagen eines der ersten Massenmedien der Trivialliteratur - Vgl. dazu Richter, Josef: Briefe eines Eipeldauers an seinen Herrn Vetter [ . . . ] von einem Wiener [...], 17851-1813], sowie Weißhaupt, Winfried: Europa sieht sich mit fremdem Blick, I., insbes. S.25Í. Montesquieu: Persische Briefe, 73. Brief, S.I42Í. - »J'ai ouï parler d'une espece de Tribunal qu'on appelle l'Academie Françoise [...]. Ceux qui le composent, n'ont d'autre fonction que de jaser sans cesse: l'Eloge va se placer comme de lui-même dans leur babil éternel; & si-tôt qu'ils sont initiez dans ses mystères, la fureur du panegyrique vient les saisir, & ne les quitte plus. C e corps a quarante têtes toutes remplies de Figures, de Métaphores, & d'Antitheses: tant de bouches ne parlent presque que par exclamation: ses oreilles veulent toujours être frappées par la cadence & l'harmonie. Pour les yeux, il n'en est pas question: il semble qu'il soit fait pour parler, & non pas pour voir.« Œuvres Complètes de Montesquieu, I, LXXI. Brief, S. 3x9 f.

134

ROBERT CHARLIER

ser Sex-Appeal an, ein Eros der Gewalt und des Todes, dem zur Zeit Montesquieus so viele Leser verfielen und der die trivialliterarische Attraktivität des Genres maßgeblich begründete.6

2.

Selbstexotisierung als utopische Kontrastprojektion

Die Konstruktion perspektivischer Verfremdung besitzt eine lange literarische Geschichte. Die Verfremdung von »Sprache« und »Blick« kennt seit der Antike nicht nur die fiktive Betrachtung der Welt und ihrer Verhältnisse aus der Sicht eines prominenten menschlichen Toten oder unsterblichen Gottes aus der Unterwelt (Tradition der sog. Totengespräche seit Lukian),7 sondern auch aus dem Blickwinkel eines Tieres (Fabeltradition) oder eines unbelebten, personhaft gedachten Gegenstandes (Ovidtradition).8 Mit Bernard de Fontenelles Nouveaux Dialogues des Morts (1683) und François de Salignac de la Mothe-Fénelons Dialogues des morts, composés pour l'éducation d'un prince (1692) lebte das Muster der satirischdidaktischen Totengespräche im weiteren Kontext der Querelle des anciens et des modernes wieder auf und wirkte ganz unmittelbar auf Montesquieu. Auch die Variante des Fremden im ethnischen Sinne, der ein Land oder eine Kultur bereist und kritisch betrachtet, erscheint in antiker Ethnographie und frühneuzeitlicher Reiseliteratur vorgeprägt. So war das sog. Skythenmotiv, der Ethnomythos des Skythen Anacharsis, der das Griechenland zur Zeit Solons bereist, um sich klassischer Kultur und Bildung auszusetzen, u. a. durch Lukians Skythen-Dialog präsent.9 Noch Jean-Jacques Barthélémy sollte dieser Fremdlingsfigur mit einem briefdurchsetzten Reiseroman ein literarisches Denkmal setzen.10 Montesquieus maßgebliche Einflußquelle bildeten zwei fiktive Briefsammlungen, die Ende des 17. Jahrhunderts entstanden. Es handelte sich dabei zunächst um die fiktiven Briefberichte eines Türken aus Paris nach Konstantinopel, verfaßt von dem Genueser Giovanni Paolo Maraña unter dem Titel L'Espion du Grand-Seigneur (1684, deutsch als Der türkische Spion und seine geheimen Berichte an die Hohe Pforte, 1717). Zu diesem Urahnen eines epistolären »Spionage-Romans« trat Charles Rivière Dufresneys Entretiens ou Amusements

Vgl. Martino, Pierre: L'Orient dans la littérature française au XVIIe et au XVIIIe siècles; Grosrichard, Alain: Structure du sérail: la fiction du despotisme asiatique dans l'Occident classique; Weißhaupt, Winfried: Europa sieht sich mit fremdem Blick, I., S. 372-374. 7 Lukianos von Samosata unterscheidet in seinen »Dialogoi« die fiktiven Stimmen von olympischen bzw. Meeresgöttern, toten Menschen und Hetären (ΘΕΩΝ bzw. ΕΝΑΛΙΟΙ bzw. ΝΕΚΡΙΚΟΙ und 'ΕΤΑΙΡΙΚΟΙ ΔΙΑΛΟΓΟΙ - Diaologi Deorum, Marini, Mortuorum und Meretricii). 8 Vgl. Moog-Grünewald, Maria: Metamorphosen der »Metamorphosen«. 9 Es handelt sich um das Gespräch ΣΚΥΘΗΣ Η ΠΡΟΞΕΝΟΣ (»Der Skythe oder der Fremdling«), Zur Rezeption im 18. Jahrhundert vgl. Weißhaupt, Winfried: Europa sieht sich mit fremdem Blick, S.7. 10 Vgl. Barthélémy, Jean-Jacques: Voyage du Jeune Anacharsis en Grece vers le milieu du IVe siede avant l'ere vulgaire, 1788-90; deutsch: Reise des jungen Anacharsis durch Griechenland, 1789-93. 6

MONTESQUIEUS Lettres persanes IN DEUTSCHLAND

135

sérieux et comiques von 1699, eine kritische Klatsch-Sammlung in Briefen aus der Sicht eines Höflings Ludwigs XIV., kursorisch erweitert um die briefliche Stimme eines »Siamesen«. In diesem Rezeptionsprozeß übernahm Montesquieu neben der fiktiven Briefform zugleich eine perspektivische Neben- oder Sonderform, das Modell der geschlechtlichen Verfremdung, wie sie sich in den fiktiven Briefzeugnissen seiner Perserinnen dokumentiert. Man denke in diesem Zusammenhang nur an den tragischen Schlußbrief Roxanes. Dieser Traditionsstrang ein männlicher Verfasser versetzt sich in die empfindsame Gefühls- und Gedankenwelt briefeschreibender Frauen — erlangte neue literarische Bedeutung mit Gabriel-Joseph de Guilleragues Lettres portugaises traduites en français, im Jahre 1669 veröffentlicht unter dem Pseudonym einer portugiesischen Nonne, Marianna Alcoforado. Das Werk stand in der Tradition der Heroïdes des Ovid, eine poetische Epistolographie der Briefzeugnisse der Frauen großer Helden (ζ. B. Deianeiras an Herkules). Diese Traditionslinie bildet eine Sonderform der Gattung des heroischen oder Helden-Briefs11 und antizipiert Elemente des empfindsamen Briefromans. Hellsichtig reflektiert Montesquieu diesen Rezeptionszusammenhang bereits in seiner Vorrede zur Neuauflage der Lettres persanes von 1754. 12 In einer erhaltenen früheren Fassung dieser Vorbemerkungen bezieht er sich ausdrücklich auf Schlüsselwerke der empfindsamen Briefromantradition wie Samuel Richardsons Pamela (1740) und die Lettres d'une Péruvienne von Françoise de Gravigny (1747): »Uberhaupt haben solche Romane im allgemeinen Erfolg, weil man über seine augenblickliche Situation selbst berichtet; dadurch gelingt es, die Leidenschaften deutlicher spüren zu lassen als in Erzählungen von ihnen. Und hier liegt auch der Grund für den Erfolg einiger reizender Werke, die nach den Persischen Briefen erschienen sind.«13 Adaptierten Maraña, Dufresny und Guilleragues lediglich die perspektivische Verfremdung im topischen Sinne, so modernisierte Montesquieu das überkommene Schema derart erfolgreich, daß es sich besonders in der deutschen Rezeption in den Rang eines literarischen Motivs erheben konnte. Auf dieser Ebene verlieh es dem Ursprung des modernen Romans zusätzliches Momentum. So wird das Motiv in einem der ersten protorealistischen deutschen Romane im Geiste eines modernen Subjektivismus bereits »sentimentalisch« reflektiert.14 Bei Friedrich Hölderlin mündet das Motiv wiederum in eine gesteigerte Form des antikisierenden Briefromans im Zeichen des deutschen Idealismus. In Hölderlins Hyperion (1797-99) sind es die Mitteilungen des Neugriechen Hyperion an den deutschen Freund Bellarmin, die das perikleische Griechenland als Vorbild für Deutschland bald in gräzisieren-

11 12

13

14

Vgl. Nickisch, Reinhard M . G.: Brief, S.i85f.; Doerri, Heinrich: Der heroische Brief. Allein 15 französische Repliken sind im Zeitraum zwischen den beiden Auflagen der Lettres persanes von 1721-1753 nachgewiesen. Vgl. Weißhaupt, Winfried: Europa sieht sich mit fremdem Blick, I., Tabelle S. 145, Spalte 1. Montesquieu. Persische Briefe, S. 5 - »D'ailleurs, ces sortes de romans réussissent ordinairement, parce que l'on rend compte soi-même de sa situation actuelle; ce qui fait plus sentir les passions, que tous les récits qu'on en pourroit faire. Et c'est une des causes du succès de quelques ouvrages charmans qui ont paru depuis les lettres persanes.« Œuvres Complètes de Montesquieu, I, S. 567. So etwa bei Moritz, Karl Philipp: Anton Reiser. Ein psychologischer Roman (1785-90).

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der Diktion überhöhen (sog. Athenerbrief), bald in prophetisch-messianischem Erlöserton geißeln (in einer Scheltrede an die Deutschen). 15 Die Erforschung der Zusammenhänge zwischen literarischer Produktion, Distribution und Rezeption in der frühen Aufklärung hat gezeigt, daß die pseudo-exotistische Kostümierung zunächst als Camouflage angesichts realer Zensurzwänge diente. Dies betraf aber vor allem die anonyme Veröffentlichung oder die Angabe von Pseudonymen sowie die Fingierung von Verlags- und Druckorten bzw. von Verlegernamen. 16 Die inhaltlich-motivische Entrückung des epischen Geschehens und der brieflichen Kritik wurzelte dagegen in einem produktions- und rezeptionsästhetischen Spannungsfeld zwischen Antike und Moderne. Dieses Kräftefeld läßt sich mit der doppelten Bedeutung des Begriffes »Motiv« auflösen. Im literarischen Sinne bestimmt »Motiv« zunächst die kleinste sinnhafte Einheit einer Geschichte, die innerhalb einer Tradition überliefert wird. 1 7 Ein Motiv verdichtet ein persistentes Mindestmaß an erzählerischer Authentizität, Plausibilität und Komplexität. In psychologischer Hinsicht ist »Motiv« dagegen eher im Sinne von »Movens« oder »unterbewußter Beweggrund« zu verstehen. Im Kräftefeld dieser Doppelvalenz von stofflichem Motiv und affektiver Motivation vollzieht sich die Transformation vom Schema der Verfremdung zum Motiv der Entfremdung. Im Sinne des literarischen Motivbegriffes vergewissern sich die Nachahmer und Bearbeiter des Schemas der perspektivischen Verfremdung gleichsam eines Kontinuums der Eigen- und Fremdbilder, die seit der Antike überliefert sind, und das komparatistisch beschreibbar ist. Hinter der Selbststilisierung zum ontologisch »Anderen« aber, im projektiven Spiel mit existentiellen Erfahrungen der Ausgeschlossenheit und des Fremdseins, steckt die traumatische Selbstentfremdung des modernen Subjekts. Auf dieser Stufe überwiegt nicht das affirmative Muster, sondern die Motivation zu Kritik und Reflexion der Verhältnisse. Die Selbstexotisierung dient der utopischen Kontrastprojektion, deren Analyse weit über bloße Toposgeschichte hinausgeht. Als literarische Folie verstärkt die Selbstexotisierung den Ausdruck einer Haltung, die mit dem Bestehenden in Widerspruch steht. Reale Fremdheitserfahrungen als »Paria« oder »Prophet« überlagern die Bilder und Figuren exotischer Fremdheit, wie sie das Genremuster tradierte. Es kommt zur Synthese mit Parallel- und Nachbarmotiven, wie dem Motiv des »Sonderlings«, »Heimkehrers« oder »Fremdlings im eigenen Land«. 18 Die Entstehungszeit der Lettres persanes umfaßte tatsächlich eine Lebensphase, die den jungen Montesquieu für eine motivisch-thematische »Arbeit« im genannten Doppelsinne geradezu disponierte. Als der junge Bordelaiser Landadelige Charles-Louis de Secondât 1709 nach Paris kam, um seine juristische Karriere im Urbanen Zentrum der damaligen westlichen Welt fortzusetzen, konnten reale Fremdheitserfahrungen mit dem metropolita-

15

16 17 18

Zur eingehenden Würdigung des Zusammenhangs zwischen dem Genre nach Montesquieu und Hölderlins Hyperion vgl. Charlier, Robert: Der Jargon des Fremdlings, insbes. S. 176f.; ebenso ders.: Heros und Messias, S. 27 (Anmerkung 29). Vgl. Mass, Edgar: Literatur und Zensur in der frühen Aufklärung, S. 153-177. Vgl. Lüthi, Max: Motiv, Zug, Thema aus der Sicht der Volkserzählungsforschung, S. 11. Charlier, Robert: Der Jargon des Fremdlings, S. 163 f.; ebenso ders.: Heros und Messias, S. 219-228.

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nen Moloch gar nicht ausbleiben. Man denke in diesem Kontext nur an den gascognischen Akzent, durch den der Neuankömmling seine Herkunft kaum verleugnen konnte. Kulturelle Kontraste und sprachliche Fremdheit wird Montesquieu, wie viele seiner Zeitgenossen, im Nabel des zentralistischen Frankreich unter Ludwig XIV. und der beginnenden Régence persönlich erfahren haben (»Exotisierung als Movens«). Auf der anderen Seite waren es die Begegnungen mit den Intellektuellen der Hauptstadt, den Historikern Henri de Boulainvilliers und Nicolas Fréret sowie dem Schriftsteller Bernard de Fontenelle, die den jungen Adeligen und angehenden Juristen thematisch-stofflich beeinflußten. Der »Sinologe « Fréret machte wiederholt in seinen Schriften und Gesprächen die Kultur und Philosophie Chinas zum Gegenstand. Die Gegenwart Fontenelles, des Satirikers in der Tradition der französischen Moralisten, blieb nicht ohne formalen und inhaltlichen Einfluß auf Montesquieu. So erinnert das Briefgespräch zwischen Montesquieus Usbek mit seiner Favoritin Roxane nicht von ungefähr an Fontenelles 17. Totengespräch. Darin räsoniert Agnès Sorel, die Geliebte Karls VII. von Frankreich, mit Roxelane, der Haremsdame Sultan Siileymans I., auf geistreiche Weise über die Unterschiede zwischen französischer und orientalischer Galanterie (»Exotisierung als Motiv«).

3.

Montesquieus Quellen und die Metamorphosen des »Orientalismus«

Die Stoffe, mit denen die Verfasser der exotischen Briefsatiren das Schema der Verfremdung auskleideten, und die Figuren, mit denen sie die Parts ihrer literarischen Stellvertreter besetzten, sind jeweils historisch oder gattungsspezifisch bedingt. So folgte Montesquieu mit der Wahl seines persischen Milieus der Orientmode seiner Zeit. Denn seit der Mitte des 17. Jahrhunderts hielten die echten oder imaginierten Stilzüge des Orientalischen Einzug in viele europäische Lebensbereiche. Dem Importstrom exotischer Waren wie Seide, Gewürze oder Kaffee seit der Frühen Neuzeit entsprach die Konjunktur der Fernreisen von Diplomaten und Händlern in entgegengesetzter Zielrichtung. Bedeutende Vertreter von Politik und Wirtschaft — zugleich hochgebildete hommes de lettres — wie Jean-Baptiste Tavernier oder Jean Chardin berichteten umfassend über ihre Erfahrungen im Nahen, Mittleren und Fernen Osten. Taverniers Les six voyages [...] en Turquie, en Perse et aux Indes (1676) und Chardins Journal du voyage [...] en Perse et aux Indes orientales (1686) kompilierten somit das wichtigste Realien- und Quellenmaterial fur Montesquieus Perserweit. Da den publizierten Berichten zumeist ein Reisetagebuch oder -journal zugrunde lag, begründete diese Parallelentwicklung von Proto- Tourismus und Proto-Journalismus die informationelle Infrastruktur für die Konjunktur des Orientalismus im 17. und 18. Jahrhundert. Reale Begegnungen mit exotischen Fremden beförderten diese Adaption orientalisierender Stilmerkmale in Mode und Musik. So war im Jahr 1669 eine Gesandtschaft des türkischen Sultans von Ludwig XIV. in Saint-Germain empfangen worden, und 1684 weilte eine

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Delegation aus dem fernen Siam in Versailles.19 Diese Ereignisse wurden ebenfalls erst im Spiegel der Publizistik zu hautnahen Ereignissen.20 Musik, Oper und Literatur vollzogen diese neumodische »Orientierung« des Geschmacks nach. Man denke an das türkische Flair der Vertonung von Molières Le Bourgeois Gentilhomme (1670) durch Jean-Baptiste Lully oder den Stoff zu Jean Racines Bajazet (1672) und die exotischen Märchenmotive in Lafontaines Fabeln von 1678-79. Nach der Jahrhundertwende war es schließlich die Ubersetzung der arabischen Sammlung Alf laila wa-laila, die Les mille et une nuits (1704-17, zu deutsch Märchen aus 1001 Nacht) durch den Gelehrten Antoine Galland, die das idealisierende europäische Orientbild festschrieb. Strenggenommen bildete dieser europäische Orientalismus jedoch nur eine Strömung innerhalb eines übergreifenden Pan-Exotismus. Denn mit den Entdeckerfahrten und Forschungsreisen der Frühen Neuzeit rückten auch China und Indien in den Horizont des spekulativen Interesses. So fungierte China in der rationalistischen Philosophie eines Gottfried Wilhelm Leibniz oder Christian Wolff als Fluchtpunkt für die Sehnsüchte nach einem Paradies der Vernünftigkeit und Nützlichkeit. Diese vielschichtigen Vorstellungen des okzidentalen Exotismus waren nicht in einem vorbegrifflichen Sinne »romantisch«, sondern schlichtweg von der Faszinationskraft des Neuen und vergleichsweise Unbekannten geprägt.21 Dabei blieben all diese Figurationen orientalisierender Exotisierung unauflösbar verflochten mit dem Prozeß der Emanzipation der bürgerlichen Welt. Neben die biblische und die klassisch-antike Uberlieferung trat die Vorstellung der exotischen Fremde als dritte wichtige Projektionsfläche. So heißt es bei Winfried Weißhaupt: »Für das Selbstverständnis des Bürgertums und im besonderen der bürgerlichen Literaten war die Aneignung literarischer und historischer Traditionen von großer Bedeutung. Traditions- und Bildungsmächte wie die Bibel und die Antike konnten zur Legitimation des eigenen moralischen und politischen Anspruchs dienen, zur Entdeckung und Einübung der eigenen historischen Rolle. [...] Wie Bibel und Antike, so konnte die außereuropäische Welt, die damals in den Bereich europäischer Erfahrungen rückte, mit den realen Anstößen, die sie durch ihre eigenen Traditionen gab, Anlaß für Rollenspiele des noch nicht geschichtsmächtigen Bürgertums werden [,..].« 22 Hielt das sich säkularisierende bürgerliche Abendland an der Bibel als physischem und metaphysischem Begründungsmythos fest - und fand es in der humanistischen Antike seine politisch-soziale, ethische und ästhetische »Verfassung« - , so projizierte es seine utopistischen Hoffnungen und Sehnsüchte auf die ethnogeographische »Außenwelt« (R. Koselleck). Luther, Homer und Montesquieu - Bibel, Antike und Orient: Erst innerhalb dieses Rezeptionsspektrums erhalten die deutschen Adaptionen ihre spezielle Strahlkraft.

19

Weißhaupt, W i n f r i e d : E u r o p a sieht sich mit f r e m d e m Blick, I., S. 6 4 - 8 5 .

20

V g l . die gesonderte Bibliographie zur Präsenz exotischer Besucher in E u r o p a in ebenda, S. 3 7 0 f.

21

V g l . dazu auch B u r u m a , Ian/Margalit, Avishai: Okzidentalismus, S . 18. D e r TitelbegrifF ist eine k o m plementäre Bildung z u m Terminus »Orientalismus«, der auf E d w a r d Said zurückgeht u n d die militante A b w e r t u n g alles Orientalischen meint.

22

V g l . Weißhaupt, W i n f r i e d : E u r o p a sieht sich mit f r e m d e m Blick, I., S. 14.

MONTESQUIEUS Lettres persanes IN DEUTSCHLAND

4.

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Die Rezeption in Deutschland: Eine deutsch-französische Erfolgsgeschichte

Im deutschsprachigen Raum kommt es nach Frankreich und neben England, Spanien, Dänemark und Nordamerika zu den meisten innovativen Wiederaufnahmen des Genres. Gut ein Dutzend Titel sind auffindbar. Die Kurztitel der Werke seien im folgenden der Übersichtlichkeit halber chronologisch nach Erscheinungsjahr wiedergegeben (arabisch numeriert und behutsam normalisiert): ι

David Faßmann: Der, Auf Ordre und Kosten Seines Käysers reisende Chineser. Leipzig 1721-33. 2 Johann Andreas Kayser: Menoza, ein asiatischer Prinz, welcher die Welt umher durchzogen. Hollstein 1755-57. [Bearbeitung von: Pontoppidan, Eric: »Menoza, Ein Asiatischer Printz, Welcher die Welt umher gezogen, Christen zu suchen«. Aus dem dänischen Original übersetzt von Nicolaus Carstens. Kopenhagen 1747.]

3 Izouf [Pseudonym]: Staats-Veränderungen von Tretucheschei und andern Epauroischen Staaten durch einen reisenden Persianer Izouf in einigen Briefen an seinen Bruder Machmud. Nürnberg 1761. 4 Anonym: Asiatische Briefe im deutschen Kleide. Frankfurt und Leipzig 1763. 5 Anonym [Johann Pezzi]: Marokkanische Briefe. Frankfurt und Leipzig 1784. 6 Hamid [Pseudonym]: Hamids Meynungen über die Marokkanischen Briefe. An seinen Freund Sidi. Leipzig 1785. 7 Anonym: Briefe eines reisenden Punditen über Sclaverei, Möncherei, und Tyrannei der Europäer an seinen Freund in U-pang. Leipzig 1787. 8 Anonym [Wilhelm Friedrich Meyern]: Abdul Erzerum's neue persische Briefe. Wien und Leipzig 1787. 9 Johann Wilhelm Tolberg/Wilhelm Friedrich Heinrich Bispink: Briefe eines Hottentotten über die gesittete Welt. Halle 1787-88. 10 Philaleth [Pseudonym]: Tuerkische Briefe ueber politische und religioese Angelegenheiten der christlichen Regentenhoefe und Nationen. Gotha 1790. 11 Hölderlin, Johann Christian Friedrich: Hyperion oder der Eremit in Griechenland. Tübingen 1797-99. 12 Anonym [vermudich Ignaz von Brenner]: Bruchstücke aus den Papieren des Türken Hassan. Berlin 1808. Hinzu kommen zwei »deutsche« Werke, die dem frankophonen Zeitgeist entsprechend in französischer Sprache verfaßt wurden. 23 Auch diese Beispiele seien im folgenden aufgeführt:

23

Vgl. ebenda, S. 145,159.

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I Phihihu [Friedrich II., König von Preußen]: Relation du Phihihu, émissaire de l'empereur de la Chine en Europe traduit du Chinois. [Berlin] 1760. II Traunpaur, Alphons Heinrich: Epître d'un marocain à sa belle pendant son séjour à Vienne. Wien 1784. Die teils epigonale, teils innovative Fortfuhrung des Genres vollziehen die deutschen Verfasser in drei Schritten. Schwerpunktmäßig setzt die deutschsprachige Rezeption zwar erst nach dem Erscheinen der ersten Ubersetzung von Friedrich von Hagedorn im Laufe der 1760er Jahre ein. Aber unabhängig von diesem übersetzerischen Transfer ist im frankophilen Dixhuitiime von einer primären oder zumindest parallelen Rezeption des Montesquieuschen Originalwerks auszugehen. Zu den im folgenden systematisierten Phasen (4.2. und 4.3.) tritt als Vorlauf der Sonderfall einer bemerkenswerten literarischen Simultaneität als Beispiel fur eine empirisch greifbare »Gleichzeitigkeit« des »Ungleichzeitigen« (4.1.). Die Betrachtung dieser Vorstufe berücksichtigt noch weitere mögliche Rezeptionszusammenhänge und würdigt das denkwürdige Jahr 1721 als Kairos einer ganz besonderen literarischen Kontingenz.

4.1.

Pluralität oder Polygenese? Das literarische Koinzidenzjahr 1721

Gleichsam un- oder vorbewußt nimmt die deutsche Behandlung des Genres durch David Faßmann ihren denkwürdigen Ausgang. Mit seinem riesigen Briefwerk unter dem barock anmutenden Titel Der, Auf Ordre und Kosten seines Käyser, reisende Chineser, Was er von dem Zustand und Begebnissen der Welt insonderheit aber derer Europäischen Lande, dem Beherrscher des Chinesischen Reichs, Bericht erstattet [...] schuf der (Berliner) Aufklärer einen kolossalen Zwitter zwischen fiktionaler Korrespondenz und periodischer Zeitungs- oder Zeitschriftenpublikation. Denn es handelt sich um ein quasi-periodisch publiziertes Mammutwerk, das im gleichen Jahr wie die Erstausgabe von Montesquieus Lettres persanes, 1721, zu erscheinen begann. Literaturgeschichtlich markiert das Jahr einen besonderen Moment, denn auch ein Schlüsselwerk der rationalistischen China-Projektion erschien zeitgleich, Christian Wolffs Rede von der Sittenlehre der Sineser. Aus dem Jahre 1/21M Handelt es sich bei diesem historischen Zugleich im Geiste der Aufklärung um einen Zufall? Oder kann man für die pseudo-

24

Wolffs antitheologische Thesen leisteten den beispielhaften Nachweis einer Vernunftbegründung der chinesischen Moral - unabhängig von einer bestimmten Offenbarungslehre - und initiierten den Konflikt um seine akademische Relegation und Verbannung. In den Horizont dieser erstaunlichen philosophisch-literarischen Koinzidenz des Jahres 1721 lassen sich spielerisch weitere Werkbeispiele des zeitgenössischen Exotismus rücken, wie z.B. das Theaterstück L'Arlequin sauvage von LouisFrançois Delisle de la Drévetière, das aus dem gleichen Jahr datiert. Diese Komödie in der Tradition der Commedia dell'arte thematisiert den Orient als Quelle des Befremdlichen und Burlesken. Dieser »komische« Orient hatte im 18. Jahrhundert innerhalb der Karriere des europäischen Orientalismus seinen festen Platz neben dem »grausamen« Orient bei Montesquieu oder dem »natürlichen« Orient nach Rousseau.

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exotische Briefsatire eine Polygenese annehmen - lag diese Form der Verfremdung derart in der Luft dieser Epoche, daß sie sich gleich mehrfach manifestieren mußte? Philosophischer China-Diskurs und chinoiser Exotismus in der Literatur hatten demnach zwei zunächst unabhängige Ursprungsmomente. Demzufolge vereinigte der berühmteste englische Beitrag zum Genre, Oliver Goldsmiths The Citizen of the World (1762, deutsch als: Briefe eines chinesischen Weltweisen an seine Freunde in den Morgenländern, 1763-64) den spekulativen Diskurs mit dem mytholiterarischen Motivstrang. Aber die enorm vielschichtige und vielstimmige Rezeptionsgeschichte läßt eine Mono- oder Doppelgenese eher zweifelhaft erscheinen. Im Gesamtkomplex des philosophischen und literarischen Exotismus werden chinesische Sphäre und Figur so oft variiert und mit verwandten Motiven verschachtelt, daß eher eine plurale Parallelgenese wahrscheinlich ist. 25 Faßmann, für den die Rezeption des Montesquieuschen Musters ungeklärt ist, nimmt in seinem über joooseitigen Werk die Briefform bloß zum Anlaß, um eine umfangreiche Korrespondenz seines Chinesen »Hérophile« an den deutschen Leser zu motivieren. Wie eine Zeitschrift sind dabei die einzelnen Briefe oder Artikel in thematisch verschiedene Ressorts oder Rubriken unterteilt. Mit Blick auf alle Aspekte des öffentlichen Lebens nimmt darin einer der ersten Zeitschriftsteller im Sinne eines modernen Journalismus' Stellung zu politischen Ereignissen, Naturkatastrophen, Verbrechen, Vertragsschlüssen und Kuriositäten des Stadtlebens. Das Ziel von Faßmanns Kritik sind dabei weniger die etablierten Institutionen wie Hof oder Kirche, als vielmehr die Werke und Vertreter der Aufklärung selbst. Deutlich erweist sich dieses epistolare Monument als ein typisches Symptom jenes »Strukturwandels« der bürgerlichen Öffentlichkeit (J. Habermas), der sich mit der europäischen Aufklärung abzeichnet. So begründet die Figur des Chinesen den Begriff des Korrespondenten in einem durchaus modernen Sinne. Begriffsgeschichtlich betrachtet erscheinen bei Faßmann zudem zentrale Schlagworte der modernen Kommunikations- und Mediengesellschaft in einem erhellenden Licht, darunter Schlüsselbegriffe der Moderne wie »(Welt-)Begebnis«, »Nachricht« oder »Zeitung«. Projekte wie die Chineser-Briefe und vor allem sein noch monumentaleres Hauptwerk, die Gespräche im Reiche derer Toten (1718-40), verbinden fiktionalisierte Informationsvermittlung mit den Dimensionen eines Massenmediums im ursprünglichen Sinne des Wortes. Immerhin untergliedern sich die Totengespräche in 240 »Entrevuen« (Unterredungen) und füllten in 22 Jahren kontinuierlicher Drucklegung 32 Teilbände. Bezieht man den Begriff auf Faßmanns Werkkonzept, so bedeutet er in seinem Ursprungsmoment im wörtlichen Sinne ein Medium, das kritisches Wissen massenhaft präsentiert. Mit Massenhaftigkeit ist hier der Umfang des Kompendiums und noch nicht zwingend die Höhe der Auflage gemeint. Im Gegensatz zu den Kompilationen der frühaufklärerischen Enzyklopädistik handelt es sich bei Faßmanns Kompendien jedoch um ein literarisch und didaktisch vermitteltes Wissen. 26

25 26

Vgl. Weißhaupt, Winfried: Europa sieht sich mit fremdem Blick, I., S. 20. Vgl. ebenda, S. 28 und II., S. 1 -66.

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4.2. Aufklärerische Kritik und Aufklärungskritik: 1750-1808 Im zeitlichen Kontext der ersten deutschen Ubersetzung27 der Lettres persanes durch Friedrich von Hagedorn 1759 kommt es gehäuft zu Plagiaten, Kontrafakturen und Varianten, die jedoch durchaus auch auf eine Rezeption des französischen Originalwerks zurückgehen können. In dieser ersten, eigentlichen Hauptwirkungsphase um 1750 bis 1808 gerät das Schema zum Universalmedium aufgeklärter Kritik (Nr. 2; 5; 9), aber auch der Kritik an der Aufklärung selbst (Nr. 1; 6; 8). So besitzt z.B. die polemische Erwiderung auf Johann Pezzls Marokkanische Briefe (Nr. 5), betitelt Hamids Meynungen über die Marokkanischen Briefe (Nr. 6), einen antiaufklärerischen Stachel. Der offensichtlich protestantisch-orthodoxe Verfasser entrüstet sich unter der Maske seines »Hamid« über die provokativen Forderungen von Pezzls Marokkaner »Sidi«, die christliche Religion zugunsten einer »natürlichen Religion« aufzugeben. Als »reaktionäres« Gegenstück zur aufklärerischen Mehrzahl der Briefsammlungen ironisiert dieses Beispiel den Anspruch des Genres, wenn der Verfasser Fürsten und Könige etwa vor einem Volk warnt, das durch Aufklärung aufgewiegelt sei.28 Erhabene wie satirische Figurationen eines kritischen Aufklärungsanspruchs werfen damit in letzter Konsequenz auch ihr eigenes Schattenbild, die Gegenfigur aufklärerischen Denkens in Gestalt von Irrationalismus und religiöser Schwärmerei. Die anti-aufklärerischen Credos der späten Exotenfiguren nehmen damit die romantischen Helden vorweg. Die Figur des »Klosterbruders« von Tieck/Wackenroder oder Novalis' Heinrich von Ofterdingen sind gleichsam die Abkömmlinge dieser Fremdlingstypen. Diese Erschütterung des Genres von innen manifestiert sich auch in seiner Entwicklungsgeschichte. Der Kritik im Sinne der europäischen Aufklärung wohnt die Kritik an der Aufklärung schon inne. Die irrationalistische Kritik der Aufklärung an sich aber besiegelt das Ende des Genres in Deutschland (von Meyern, Nr. 9; Hölderlin, Nr. 11). Mit den Ignaz von Brenner zugeschriebenen Bruchstücke[n] aus den Papieren des Türken Hassan (Nr. 12) findet die Blüte des Lettres-persanes-Typus in Deutschland ihr vorläufiges Ende.29

4.3.

Vom kritischen Exoten zum prophetischen Fremdling

Die zweite Phase der Rezeption kann im Grunde auch als eine simultan verlaufende Unterströmung der ersten Phase (4.1.) gedeutet werden. Im Verlaufe der 1780er und -90er Jahre steigern einzelne Autoren wie Moritz, Hölderlin oder von Meyern das Schema zum literarischen Motiv. Wie nah ζ. B. die Romanfiguren Anton Reiser, Werther oder Hyperion den Exoten der fiktiven Briefe stehen, beweist eine Reflexion von Moritz' Anton Reiser, der sich auf dem Tiefpunkt seiner Fremdlingsgeftihle in einen »Einwohner von Peking« versetzt. Kurz zuvor noch erinnerte sich Reiser an seinen Bruder und »Doppelgänger« Philipp Rei27 28 29

Vgl. ebenda, I, Tabelle S. 146. Vgl. ebenda I, S. 240. Zur Einzelwürdigung der deutschen Beispiele vgl. ebenda, II/2 (z. B. S. 407-39 fur Hassan 1808).

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ser, was eine interessante Verwandtschaft des exotischen Alter ego mit dem romantischen Doppelgängermotiv verrät. Allein auf sich gestellt, sucht Reiser nach einer anderen (literarischen) Wunschidentität, die seinen Empfindungen der Entzweiung und Entfremdung Ausdruck verleiht: »Es fällt einem ein, daß man sich bei der Lektüre von Romanen immer wunderbarere Vorstellungen von den Gegenden und Ortern gemacht hat, je weiter man sie sich entfernt dachte. Und nun denkt man sich mit allen großen und kleinen Gegenständen, die einen jetzt umgeben, z. B. in Vorstellung eines Einwohners von Peking — dem dies alles nun ebenso fremd, so wunderbar deuchten müßte - und die uns umgebende wirkliche Welt bekommt durch diese Idee einen ungewohnten Schimmer, der sie uns ebenso fremd und wunderbar darstellt, als ob wir in dem Augenblick tausend Meilen gereist wären, um diesen Anblick zu haben. - Das Gefühl der Ausdehnung und Einschränkung unsere Wesens drängt sich in einen Moment zusammen, und aus der vermischten Empfindung, welche dadurch erzeugt wird, entsteht eben die sonderbare Art von Wehmut, die sich unserer in solchen Augenblikken bemächtigt.«3° Winfried Weißhaupt ist nicht nur der Hinweis auf diese wichtige Stelle im Anton Reiser zu verdanken. Er macht in der Einleitung seiner maßgeblichen Untersuchung des Briefgenres auch auf die sozialpsychologische Einbettung der literarischen Konstruktion des fiktiven Exoten aufmerksam, freilich ohne die eigenständige Bedeutung des Motivs zu erfassen. Aber erst die Wechselwirkungen zwischen Fremdlingsmotiv und Exotisierung setzen beide Formen der literarischen Verbrämung eines gesellschaftskritischen Anspruchs in ihr volles Recht. Und die sind in der Tat verblüffend: So bedienen sich prophetischer Polemiker und kritischer Exot der prophetischen Verkehrung, um die entfremdete Gesellschaft zu geißeln. Es handelt sich dabei in beiden Fällen um polemische Zuspitzungen der herrschenden Zustände, die die Paradoxien und die Widersprüchlichkeit des Bestehenden drastisch vor Augen fuhren sollen. Vor diesem Hintergrund gewinnt Hyperions Deutschenschelte erst ihre volle prophetische Bedeutung. Viele kritische Elemente in den fiktiven Briefen seines Hyperion hat Hölderlin in seinen eigenen Briefen vorweggenommen. Als reale Zeugnisse ihrer Zeit bilden sie auch eine Parallele zu den fiktiven Briefen der reisenden Exoten. So brandmarkt Hölderlin in seinem Brief an Johann Gottfried Ebel vom 10. Januar 1797 die »Verkehrtheit« der deutschen Verhältnisse: »Man kann wohl mit Gewißheit sagen, daß die Welt noch nie so bunt aussah wie jetzt. Sie ist eine ungeheure Mannigfaltigkeit von Widersprüchen und Kontrasten. Altes und Neues! Kultur und Roheit! Bosheit und Leidenschaft! Egoismus im Schafpelz, Egoismus in der Wolfshaut! Aberglauben und Unglauben! Knechtschaft und Despotism! unvernünftige Klugheit, unkluge Vernunft! geistlose Empfindung, empfindungsloser Geist! Geschichte, Erfahrung, Herkommen ohne Philosophie, Philosophie ohne Erfahrung! Energie ohne Grundsätze, Grundsätze ohne Energie! Strenge ohne Menschlichkeit, Menschlichkeit ohne

30

Moritz, Karl Philipp: Werke, Bd. II, S. 257 f.

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Strenge! heuchlerische Gefälligkeit, schamlose Unverschämtheit! altkluge Jungen, läppische Männer!« 31 Diese parodoxen Verhältnisse nehmen sich im orientalisierenden Gewand des kritischen Marokkaners »Sidi« aus Johann Pezzls Marokkanischen Briefen (1787) rhetorisch ganz ähnlich aus, wenn er Kleingeisterei, Partikulardenken und Zerrissenheit der Deutschen anprangert: »Hier herrscht ein Sultan, dort ein Emir, dort ein Mufti, hier ein Derwisch, weiter hin ein Dey, dort ein Nest voll Imans, nebenbei ein Divan von Pantoffelflikern; hier ein kleingrosser Pascha, dort ein großkleiner Aga; und so weiter.«32 Die chiastische Verkehrung (»kleingroß« bzw. »großklein«) und paradoxe Widersprüchlichkeit zeugt stilistisch und metaphorisch vom selben polemischen Tonfall beider Texte. Die deutschen Beispiele des Genres dokumentieren sogar in Einzelmerkmalen ihre Affinität zur polemischen Fremdlingsliteratur, wenn der Exot wiederum mythisiert wird. Die Titelvignette der anonymen Briefe eines reisenden Punditen (Nr. 7) ζ. B. zeigt den briefeschreibenden Tibetaner (»Pundit«) als Satyr, der mit spitzer Feder in ein Buch schreibt. Die »satyrisch«polemische Stimme erhält damit ein mythologisches Gewand in gattungskritischer Absicht; Antike und Orient sind zu einer Synthese verbunden. Neben der »exoterischen« Haltung des Polemikers und prophetischen Kritikers findet sich auch das esoterische Verhaltensmuster unter der exotischen Maske. Montesquieus Perser Usbek zieht sich zunächst vom Hofe zurück und lebt seinen Privatstudien über Europa.33 Usbek antizipiert damit die eremitenhaften Züge des im Verborgenen wirkenden Intellektuellen, wie er sich allerdings erst nach 1750 in der Literatur der deutschen Empfindsamkeit ausprägen wird (Goethes Die Leiden des jungen Werthers, 1774; Lenz' Der Waldbruder, 1797; Hölderlins Hyperion oder der Eremit in Griechenland). Auch die Sympathie des reisenden Punditen mit den Freimaurern, die er als Positivbild gegen kirchliche Orden wie Jesuiten oder Franziskaner anfuhrt, unterstützen diese Affinität zur esoterischen Sphäre als Hort aufklärerischer und antikirchlicher Ideale.34 Schließlich klingen Wilhelm Friedrich von Meyerns Phantasien über soldatische Männerbünde aus seinem utopischen Roman Dya-Na-Sore (1787-91) auch im Abdul Erzerum an.35 Meyern überstrapaziert den esoterischen Grundgedanken der auserwählten großen Einzelnen allerdings mit einem merkwürdigen Gemisch aus Winckelmannscher Griechenerotik, Spartanermythos und Militarismus. Diesen Aspekt eines militärisch disziplinierten Geheimbundes wird Hölderlin später verwerfen. Deutlich grenzt sich Hyperion gegen Alabanda und den »Bund der Nemesis« ab, eine teils messianisch, teils militaristisch und natürlich philhellenisch inspirierte Gruppe von Freiheitskämpfern, die auch vor Terror nicht zurückschreckt.3^

31 32

Hölderlin, Friedrich: Sämtliche Werke und Briefe, Bd. III, S. 251. Pezzi, Johann: Marokkanische Briefe, S. 11.

33 34 35 36

Vgl. Weißhaupt, Winfried: Europa sieht sich mit fremdem Blick, II/i, S. 43. Vgl. ebenda, ΙΙ/α, S. 340. Meyern, Wilhelm Friedrich: Abdul Erzerum's neue persische Briefe, S. 304 f. Hölderlin, Friedrich: Sämtliche Werke und Briefe, Bd. II, S. 41 ff.

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Auch diese Übereinstimmung zeigt, wie ergiebig die Briefsatire für die untersuchten Literaturbeispiele des Fremdlings im eigenen Land ist. Das Schlußstück dieser polemischen Fremdlingsliteratur, Hölderlins Hyperion (und darin ganz besonders die Deutschenschelte), weist frappierende Ähnlichkeiten mit dem Briefgenre in Rahmenkonstruktion, Stil und Metaphorik auf. Hyperion, der Neugrieche, fungiert als briefeschreibender Exot; Hauptadressat ist im Gegensatz zur Konvention der Lettres persanes kein Sultan, Diplomat oder gelehrter Freund in der außereuropäischen Heimat, sondern ein fiktiver deutscher Freund mit dem wortspielerischen Namen »Bellarmin« (von »bei ami« oder »bellum«, lat. für »Krieg« und »Arminius Teutonicus«). Selbst die Anspielungen dieses Namens sind in den anagrammatischen Verschlüsselungen einer typisch deutschen Variante des Briefgenres, den anonym verfaßten Staats- Veränderungen von Tretucheschei (Nr. 3) vorgeprägt, in der »Tretuschen« fur »Deutsche«, »Pensures« ftir »Preußen« und »Epaurisch« für »europäisch« steht. Zwar verbringt Hyperion die meiste Zeit in Griechenland und Kleinasien, doch kommt es schließlich zu der genretypischen Europareise (»So kam ich unter die Deutschen...«). Kritisch-polemisches Zeugnis dieses Deutschlandbesuchs ist die Scheltrede (2. Band, 2. Buch). Und darin gibt es eine Fülle von fast wörtlichen, zumindest aber motivischen Echos von Meyerns Deutschenkritik im Sechzehnten Brief des Abdul Erzerum, 37 w i e im folgenden kurz ausgeführt. Abdul Erzerum richtet sich wie Hyperion emphatisch an die Deutschen. 38 Schon im nächsten Atemzug folgt der berühmte Barbarentopos als polemischer Vergleich. Der griechische Föderalismus wird als gutes Beispiel dem realen deutschen Partikularismus entgegengehalten. Beide benutzen die gleichen polemischen Schlagwörter, das Bild von »Sklaverei«39 ftir die deutsche Mentalität und »Bettlertum« fiir die Misere der edlen Einzelnen. 40 Stellenweise drängt sich hier sogar der Eindruck einer Meyern-Kontrafaktur Hölderlins auf. Umgekehrt muß Hyperions anfängliche Sympathie mit Alabanda und den Nemesis-Brüdern vor dem Hintergrund von Meyerns Männerbünden neu bewertet werden. Hölderlin gestaltet darin nicht bloß harmlos mythische Verklärungen revolutionärer Tatentschlossenheit oder artig geschichtsphilosophische Spekulationen über eine überhistorische Nemesis. Er verabschiedet damit vielmehr ein soldatentümelndes, liebesfeindliches und irrationalistisches Gedankengut, das in Meyern eine einsame, aber vernehmliche Stimme im 18. Jahrhundert gefunden hat. Auch Meyerns Aufwertung Spartas gegen das athenische Staats- und Menschenideal, die freilich bei Rousseau vorgebildet ist, könnte Hölderlin in der Beschreibung des spartanischen Gemeinwesens im Athenerbrief des Hyperion beeinflußt haben. Damit schließt sich der Kreis: Weil die kritisierte Wirklichkeit so widersprüchlich ist (Zensur, Absolutismus und Partikularismus), wird ihr nur eine widersprüchliche Instanz der Kritik gerecht. Der Doppelgesichtigkeit und Doppelzüngigkeit der Gesellschaft begegnet

37 38 39 40

Meyern, Wilhelm Friedrich: Abdul Erzerum's neue persische Briefe, S. 85 ff. Hölderlin, Friedrich: Sämtliche Werke und Briefe, Bd. II, S. 168,1; Meyern, Wilhelm Friedrich: Abdul Erzerum's neue persische Briefe, S. 85. Hölderlin, Friedrich: Sämtliche Werke und Briefe, Bd. II, S. 169, 11; Meyern, Wilhelm Friedrich: Abdul Erzerum's neue persische Briefe, S. 88. Hölderlin, Friedrich: Sämtliche Werke und Briefe, Bd. II, S. 171, 27; Meyern, Wilhelm Friedrich: Abdul Erzerum's neue persische Briefe, S. 86.

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ihr Kritiker mit einer »zweyköpfigten« literarischen Figur: dem Exoten, der beides zugleich besitzt: naive Spontaneität und Gelehrtenwissen, satirische Naivität und utopischen Aufklärungsanspruch, Nähe und Distanz. Hinter der Satire der Exoten, die von ihren geistigen Vätern buchstäblich als »Satyrn« angelegt sind, verbirgt sich stets auch die Polemik des Propheten. Nur die Analyse pseudo-exotistischer Sprachverfremdungen macht diesen Zusammenhang offenbar. So ruft der Perser Usbek bei Montesquieu im Namen des Propheten polemisch aus: »Ich bin hier umgeben von einem nichtgläubigen Volk. «41 Erst vor diesem Hintergrund des exotistischen Sprach- und Maskenspiels erhält auch Hyperions prophetische Deutschenschelte ihre weltliterarische Kontur.

5.

Utopie und Aufklärung: Das Schema im 19. und 20. Jahrhundert

In Deutschland kommt es im 19. und 20.Jahrhundert nur noch zu vereinzelten Wiederaufnahmen und Verarbeitungen des Schemas. Stellvertretend für das Fortleben des Werktypus in eher unbekannt gebliebenen Werken der politischen Publizistik seien zwei Werke genannt, Paul Lindaus Neue Persische Briefe von Usbek Khan an Mirza Rhedi in Isphahan (Köln 1865)42 und Hans Paasches Die Forschungsreise des Afrikaners Lukanga Mukara ins innerste Deutschland. Geschildert in Briefen Lukanga Mukaras an den König von Kitara, das wohl vor dem Ersten Weltkrieg entstanden ist.43 Schematische und motivische Elemente des Genres haben — neben Einzel- oder Grenzfällen wie Dieter Kühns Erzählung Festspiel für Rothäute - in der utopischen und phantastischen Literatur überlebt und wichtige Vorformen der epischen Science fiction geprägt. Für die modernen Verarbeitungen des Motivs vom exotischen oder mythischen Fremdling ist vor allem das Konstrukt zeitlicher Verfremdung zentral. Im Sinne der bisher verwandten Terminologie handelt es sich dabei um das Motiv des »Fremdlings in der Zeit«, also um fiktionalen Anachronismus. So modernisiert Christoph Ransmayr die perspektivische Verfremdung in seinem Entfremdungsepos Die letzte Welt (1988), ein Roman »aus einem Ovidschen Repertoire«. »Naso« und seine neomythischen Antagonisten fahren darin Passagierschiff und Auto, rauchen Zigaretten und unterhalten sich per Telefon. Herbert Rosendorfer dagegen aktualisiert in einem Unterhaltungsroman das Muster der exotischen Briefe auf ebenfalls anachronistische Weise: Ein alter Chinese besucht das heutige München ( B r i e f e in die chinesische Vergangenheit, 1986).

41 42 43

Montesquieu. Persische Briefe, 16. Brief, S.39. »Je suis au milieu d'un Peuple profane [...].« Œuvres Complètes de Montesquieu, I, XV. Brief, S. 174. Die Briefe erschienen von Juli bis Dezember 1865 in der Rheinischen Zeitung. Einzelnachweis bei Weißhaupt, Winfried: Europa sieht sich mit fremdem Blick, II/2., S.469. Erstnachweis: Werther bei Bielefeld o. J. [ca. 1921]. Vgl. dazu Weißhaupt, Winfried: Europa sieht sich mit fremdem Blick, II/2., S. 465-489.

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Es kann in diesem Rahmen nicht erschöpfend geklärt werden, inwieweit solche Anachronismen zu Konstituentien der utopischen und phantastischen Literatur geworden sind (ζ. B. im Motiv der Zeitreise). Ein Quellenfund legt diese erstaunliche Produktivität der beschriebenen Verfremdungsmotivik aber nahe. In den anonym publizierten Asiatischefη] Briefe[η] im deutschen Kleide (Nr. 1 - s. Abbildung), vollzieht sich nämlich eine bemerkenswerte Potenzierung der zeitlichen Verfremdung. In einem seiner kryptischen Exkurse beginnt der Briefeschreiber mit der Zeitangabe: »Im Jahr der Welt 9 0 4 1 « . D a s kann einerseits auf exotische Zeitrechnungen (wie etwa im Judentum oder Islam) verweisen. Auch Montesquieus subtile Einbettung seiner Korrespondenz in den Zeitrahmen des persischen Kalenders leuchtet hier wie von ferne auf.45 Andererseits erzielt der Verfasser mit diesem zeitlichen Pseudo-Exotismus eine Überzeitlichkeit der Geschehnisse, von denen er durch seine Figur berichtet. Dieser zeidiche Utopismus als Mittel der Gesellschaftssatire ist hier um so bemerkenswerter, als der erste Zukunftsroman erst sieben Jahre später erscheinen sollte: Louis-Sébastian Merciers L'an 2440 (1770). Allerdings geht es Mercier nicht primär um eine Kritik der Gegenwart, vielmehr phantasiert er auf poetische Weise das Bild einer schönen neuen Aufklärungswelt, in der die Encyclopédie nicht nur Schullektüre ist, sondern die Mauern der Bastille geschleift sind und allgemeines Vernunftdenken herrscht. Mercier modifiziert mit seiner Paris-Beschreibung aus dem dritten Jahrtausend die herkömmlichen Staats- und Gesellschaftsutopien auf buchstäblich zukunftsträchtige Weise. Verlegten Thomas Morus, Tommaso Campanella oder Johann Gottfried Schnabel (Die Insel Felsenburg, 1731-43) ihr Utopia noch auf fiktive Inseln, so wichen Francis Godwin oder Cyrano de Bergerac auf ferne Planeten aus. Die Jahreszahl 9041 könnte aber auch im Sinne einer Zukunftsvision aus der Perspektive des Jahres 1763 gemeint sein, in dem das Werk erschien. Allerdings erscheint diese Deutung spekulativ. Für den heutigen Leser liegt diese anvisierte Zukunft in der Vergangenheit, etwa in dem Sinne, wie ein heutiger Leser auf die »Zukunft« von Edward Bellamys Looking Backward: 2000-1887 (1888, deutsch Ein Rückblick aus dem Jahre 2000 auf 1887) oder George Orwells ip84 zurückblicken kann. Das satirische Schema der Lettres persanes erschiene dann vom Räumlichen ins Zeitliche übersetzt und stellte ein enorm innovatives Evolutionsphänomen der Literaturgeschichte dar. Die Weiterentwicklung von Montesquieus literarischem Erfolgsrezept erweist sich angesichts des entfalteten Panoramas als Idealtyp einer produktiven Rezeption, wie sie nur wenigen Literaturformen zuteil wurde. Auch der französisch-deutsche Charakter dieser singulären Erfolgsgeschichte erhellt erst vor dem Hintergrund der beschriebenen Diskurs- und Motiv-Verflechtungen im Geist der europäischen Aufklärung. Utopischer Orientalismus und Exotismus verdienen mit Blick auf die späte kulturelle Selbstwerdung der Deutschen eben jene vielbeschworene »kurze Geschichte der deutschen Literatur« (H. Schlaffer) - eine fundamental neue Betrachtung, und zwar von Goethes West-östlichem Divan bis

44 45

Anonym: Asiatische Briefe im deutschen Kleide, S. 69. Zu den persischen Kalendersystemen vgl. Œuvres Complètes de Montesquieu, I, S. 72.

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ROBERT CHARLIER

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zu Hölderlins Beschwörung des »Orientalischen«. Schließlich war es nicht die Tragödienform der Iphigenie, des Empedokles oder Faust, die der literarischen Moderne zu »klassischer« Geltung verhelfen, sondern der multiperspektivische, polyphone Roman, der sich als unausschöpfliches Leitmedium sprachlicher und perspektivischer Verfremdung erweisen sollte.

Literatur ι.

Quellen

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I



ROBERT C H A R L I E R

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2. Halle 1787-88.

MONTESQUIEUS Lettres persanes IN DEUTSCHLAND

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2.

Werkausgaben

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3.

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ROBERT C H A R L I E R

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MONTESQUIEUS Lettres persanes IN DEUTSCHLAND

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BIRGIT F E N N E R

Lettres berlinoises sur la France Französische Briefe über Deutschland

Die im folgenden in leicht gekürzter Form wiedergegebenen Briefe haben Schülerinnen des Französischen Gymnasiums, Berlin, verfaßt. Die Briefe, ganz in der Tradition der Lettres persanes von Montesquieu stehend, haben, ebenso wie das anschließende Streitgespräch, wechselseitige Vorurteile von Deutschen und Franzosen zum Gegenstand. Zum Teil beruhen sie auf einer Umfrage, die die Schülerinnen selbst durchgeführt haben. Sie wurden während des Montesquieu-Symposiums der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften vorgelesen. Franziska Molder und Johanna Wallbaum stellen zunächst das Französische Gymnasium vor, eine Schule, die schon seit über 300 Jahren die Verbindung zwischen Deutschland und Frankreich pflegt, und berichten anschließend, was man ihnen auf der Straße über diese Verbindung erzählt hat. Nadine Schlegel und Sandra Katzwinkel haben Briefe geschrieben, in denen deutsche und französische Eigenheiten festgehalten werden, Briefe, wie sie Schüler einander schreiben, wenn sie zum Beispiel als Austauschpartner im jeweils anderen Land weilen. Tamara Granzow hat eine kleine Umfrage gestartet, nach Spontanassoziationen, Klischees und Vorurteilen gefragt und die Ergebnisse zusammengefaßt.

FRANZISKA M O L D E R / J O H A N N A W A L L B A U M

Das Französische Gymnasium in Berlin Das Französische Gymnasium wird oft als ein kleines Stück Frankreich mitten in Berlin bezeichnet. Tatsächlich ticken die Uhren hier mehr französisch als deutsch. Es wird auf Französisch unterrichtet, das französische Schulsystem wird in großen Teilen übernommen, und sogar die Ferien sind den französischen angepaßt. Für die aus Frankreich geflohenen Hugenotten 1689 gegründet, wurde die Schule später das Collège fur die französischen Alliierten. Heute wird das Französische Gymnasium hauptsächlich von frankophonen Diplomatenkindern, bilingualen und Berliner Schülern besucht, fiir die die französische Sprache in acht Schuljahren mehr und mehr zum Bestandteil des alltäglichen Lebens wird. Die meisten Schüler bereiten sich gleichzeitig auf das französische Baccalauréat und auf das deutsche Abitur vor, auch wenn der Weg dahin manchmal beschwerlich ist, zumal die

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BIRGIT FENNER

Prüfungen, dem französischen Schulsystem entsprechend, bereits nach zwölf Schuljahren zu absolvieren sind. In der fünften Klasse haben die Deutschmuttersprachler zunächst intensiven Französischunterricht, sprich: acht Wochenstunden. Für die frankophonen Schüler wird entsprechend Deutschunterricht auf verschiedenen Niveaus angeboten. In der siebenten Klasse werden die Gruppen gemischt und gemeinsam auf Französisch unterrichtet. Unterrichtet wird von deutschen und französischen Lehrern. Dabei machen wir die Erfahrung, daß die pädagogischen Lehrmethoden in Deutschland und Frankreich unterschiedlich sind. Während französische Lehrer eher auf Auswendig-Lernen und Methodik achten und große Disziplin und Ordnung erwarten, wird bei den deutschen Lehrern mehr Wert auf Diskussion und persönliche Ideen gelegt. Außerdem hat die Schule zwangsläufig ein anderes Programm als die deutschen Einrichtungen. Im Geschichtsunterricht übernehmen wir ζ. B. eher den französischen Blickwinkel und lernen in Sozialkunde (»éducation civique«) viel über Frankreich (oft auch im Vergleich zu Deutschland), während parallel ein Kurs über Deutschland fur die Franzosen eingerichtet ist. Neben dem Spracherwerb gilt also auch der Einblick in die Kultur und Geschichte der jeweils anderen Nation als sehr wichtig. Dies bringt einander sehr nahe, denn so entwickeln sich eine Wertschätzung des »anderen« und auch mehr Verständnis für das jeweils andere Land. Trotzdem findet die Integration deutscher und französischer Schüler nicht automatisch statt. Anfangs sind alle doch recht schüchtern und unbeholfen in der fremden Sprache, so daß Freundschaften nur langsam entstehen. Mehr als der Unterricht fördern Klassenfahrten die Integration. Die anfängliche Scheu und vor allem die Sprachbarrieren werden langsam, aber sicher überwunden, und das Resultat ist eine multikulturelle Klasse, in der unter Schülern eine - Neulingen etwas merkwürdig anmutende - Mischsprache aus Deutsch und Französisch gesprochen wird: »Si vous avez une Kette qui est en Silber, vous la mettez dans la Alufolie et puis vous la mettez dans l'eau et elle devient tout sauber« — ein Originalzitat aus dem Chemieunterricht der 8. Klasse. In einer Übung fur das mündliche Bac konnte man Sätze hören wie: »Wurdest du schon interrogiert? Du bekommst die questions und gehst dann in die classe préparatoire ...« - und das von Lehrern! Beispiele für deutsch-französische Freundschaften gibt es viele. Natürlich ist es nicht immer leicht, solche Freundschaften aufrecht zu erhalten, denn jedes Jahr verläßt eine beträchdiche Anzahl von Schülern, oft Diplomatenkinder, die Schule, doch ist es interessant und einzigartig, Freunde aus der ganzen Welt zu haben: aus Frankreich, der Schweiz, Belgien, la Martinique, dem Québec, vielen afrikanischen Ländern - um nur ein paar zu nennen. Das Französische Gymnasium ist ein wirklicher Schritt zur Völkerverständigung, zumal viele seiner Absolventen im Ausland studieren. Da für uns Schüler die französische Sprache und Kultur inzwischen einen vertrauten Platz in unserem Leben eingenommen haben, fragten wir uns, wie wohl Menschen ohne speziellen Kontakt zu Frankreich dieses Land sehen. Uns interessierte, ob die Frankreich u n d D e u t s c h l a n d , »les piliers de l ' U n i o n Européenne« (»die Eckpfeiler der Europäischen

Union«), betreffenden Fakten im Urteil der Bevölkerung irgendeine Wirkung zeitigen. Des-

L E T T R E S BERLINOISES SUR LA F R A N C E - FRANZÖSISCHE B R I E F E ÜBER D E U T S C H L A N D

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halb sind wir mit Notizblock und Stift auf den Kurfürstendamm gegangen und haben ein bunt gemischtes Publikum interviewt, inwieweit sie etwas über Frankreich, das Land, seine Kultur und seine Berühmtheiten wüßten, ob sie dort Bekannte haben und wie sie zu den politischen und wirtschaftlichen Beziehungen stehen. Auf der gezielten Jagd nach Vorurteilen (umschrieben als »Assoziationen«) über die »Franzmänner« wurden wir weitgehend enttäuscht. Das noch vor wenigen Jahren verbreitete Bild des typischen Franzosen, der, den Kopf mit einer kecken Baskenmütze bedeckt, Chansons pfeifend auf seinem Fahrrad an der Seine entlang radelt, bereit zu einem Picknick mit Baguette und Akkordeon, hat sich verflüchtigt. »Ich kenne keinen Franzosen, kann also nichts dazu sagen«, antwortete ein junger Mann, was immerhin zeigt, daß generalisierende Vorurteile vermieden werden. Aber vielleicht zeugt es auch von Distanz - oder Ignoranz? zu unserem Nachbarland und seiner Kultur? Für viele Deutsche ist Frankreich vor allem ein beliebtes Reiseziel, mit dem sie Sonne, Wein und kulinarische Genüsse verbinden und in dem sie sich freundlich empfangen fühlen - unter der einen Voraussetzung: Daß man die französische Sprache beherrscht! Mit Englisch als Aushilfe kommt man nicht sehr weit und fällt auch leicht in Ungnade. Aus der Generation der circa Fünfzigjährigen erinnerten sich einige gern an ihre aktive Mitarbeit im Deutsch-Französischen Jugendwerk. Ein Herr trällerte Barbaras Lied »Göttingen« aus der Zeit der sich häufenden Freundschaftsbekundungen zwischen beiden Ländern. Er bedauerte das nachlassende Interesse an dieser Organisation und somit auch am kulturellen Austausch der Jugend. Auffallend fanden wir, daß in der Erinnerung oft nur bis zur Zeit der Freundschaft zurückgegangen wurde und daß »klassische« Themen wie Krieg und Feindschaft überhaupt keine Rolle mehr zu spielen scheinen. Uns begegneten zwei Touristen, die an der deutschfranzösischen Grenze wohnen und erstaunlicherweise völlig verschiedene Situationen schilderten. Die Dame aus Freiburg berichtete, daß sie trotz der Nähe keinen Kontakt zu Frankreich habe und sich - so ihr Kommentar - offenbar mit jedem anderen Land mehr verbunden fühle. Der andere Tourist, ein Herr aus Trier, schwärmte indessen von dem freundschaftlichen und vertrauten Verhältnis und lobte die Bereitschaft, miteinander zu kommunizieren. Ob jemand aus Deutschland oder Frankreich stamme, sei bei ihm zu Hause von geringer Bedeutung. Man lebe miteinander, kulturelle Differenzen seien kein Problem. Zu wirtschaftlichen und politischen Fragen konnte sich kaum jemand ein konkretes Bild machen. Die Zusammenarbeit sei »eine gute Sache«, hieß es, doch wie genau und auf welchem Niveau zusammengearbeitet wird, konnte keiner erklären. So blieb der Eindruck, daß das, was die meisten mit Frankreich verbinden, letztlich doch recht oberflächlich ist. Es herrscht so etwas wie freundliche Neutralität. Man ist fur die Verstärkung der Beziehungen, aber gezielte Vorschläge, wie es zu größerer Vertrautheit kommen könnte, konnte niemand nennen. Daher unser Fazit: Die Freundschaft der beiden Länder findet noch weitgehend auf politischem und wirtschaftlichem Niveau statt. Damit aus der »Männerfreundschaft Chirac— Schröder«, wie ein Passant es zusammenfaßte, eine wirkliche Völkerfreundschaft wird, müssen gemeinsame Projekte fur die Bevölkerung gefördert werden. Die Gleise dafür sind zwar gelegt, aber der Zug muß erst noch richtig ins Rollen kommen.

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BIRGIT FENNER

NADINE SCHLEGEL

Ein Brief aus Frankreich an Tanja in Deutschland Liebe Tanja, du hattest mich in deinem letzten Brief gebeten, dir von meinen Erfahrungen mit Franzosen zu erzählen, da du noch nie in Frankreich warst und immer noch den stilisierten »Künstler mit Baguette unter dem Arm und Baskenmütze« vor Augen hast. Eines kann ich dir sofort sagen: Dieses Bild trifft auf genauso viele Franzosen zu wie der beleibte »Lederhosen-Bayer« mit Brezel und Bier in der Hand auf uns Deutsche. Den Franzosen gibt es nicht, aber Vorurteile gibt es dennoch auch hier, und manche sind gar nicht mal so falsch .... Ich war bis jetzt in Paris und in Perpignan im Süden Frankreichs und habe, da ich in Paris bei einer französischen Familie zu Gast war, einige typisch französische Eigenschaften kennengelernt. Das fing schon bei der Ankunft an: Die Franzosen legen Wert auf Begrüßungszeremonien. Drei Bisous - jeder jeden ... das dauert, wenn man in größerer Besetzung anreist! Das gesamte Ritual wurde jeweils morgens vor dem Frühstück, vor dem Ins-BettGehen und überhaupt vor und nach jeder noch so kurzen Trennung wiederholt. Irgendwann habe ich aufgehört, mich über diese Ausdauer zu wundern. Zum Frühstück gab es ausschließlich Croissants und jeden Abend die obligatorische Käseplatte mit Baguette. Dazu Rotwein - auch für die Kinder! »Rotwein ist ja schließlich gesund, und dann schlafen die Kleinen auch schneller ...!« Der Vater war in dieser Familie der Herr im Haus, er verdiente das Geld, und die Mutter kümmerte sich um die Kinder. Die Tochter reitet, die Söhne spielen Fußball. Daraus könnte man schließen, daß Franzosen Wert auf Traditionen legen und eher konservativ sind, aber ich will mir nicht anmaßen zu verallgemeinern. Tendenziell ist das aber nicht ganz abwegig ... Paris entspricht insofern den Klischees, als es an jeder Ecke Crepe-Stände gibt und viele Künstler aller Art. Die Restaurants sind klein und relativ »keimig« - man könnte auch sagen, urig. Auf jeden Fall gibt es da die seltsamsten Sachen. Ich wußte nicht, daß man Mageninnenwände vom Schwein ernsthaft essen kann! Die Weinkarte ist in der Regel gigantisch die Preise auch. Und so ziemlich alle Kellner weigern sich beharrlich, auch nur ein Wort Englisch zu verstehen. Der verzweifelte Versuch meiner Mutter, ein Glas Apfelsaft fur meinen Bruder zu bestellen, endete jedenfalls in einem großen Glas Mineralwasser für alle. Sie hatte das Wort »jus« falsch ausgesprochen. Einmal als Touristen entlarvt, kam der Kellner dann überhaupt nicht mehr. Hätten sie mich dabei gehabt, wäre das anders gelaufen! Franzosen sprechen eben in ihrer Heimat Französisch - basta! In Südfrankreich lebten wir in einem Feriendorf, also naturgemäß ein wenig abseits von der einheimischen Bevölkerung. Trotzdem war dort der mediterrane Einfluß spürbar, sowohl in der Mentalität der Leute als auch in der gesamten Atmosphäre und Landschaft. Statt Mageninnenwänden gab es dort Paella, eine Art Fischpfanne. Die umfangreiche Weinkarte blieb allerdings.

Wie schon in Paris war es selbst als Ferienhaus-Urlauber praktisch unmöglich, sich nicht

LETTRES BERLINOISES SUR LA FRANCE - FRANZÖSISCHE BRIEFE ÜBER D E U T S C H L A N D

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den französischen Eßgewohnheiten anzupassen. Es gibt einfach kein Schwarzbrot. Die Käsetheken füllen ganze Wände aus, und der Versuch, ein kleines Töpfchen Crème fraîche zu kaufen, scheiterte erbärmlich, denn es gibt keine Töpfchen. Es gibt nur ausgewachsene Eimer! Überhaupt sind die Kaufhallen oft gigantisch, im Norden wie im Süden. Allein die Gefrierfach-Abteilung ist so ausgedehnt, daß man dem Erfrierungstod nahe ist, ehe man da herausgefunden hat. Die Einkaufswagen sind so voluminös, daß man einen Kleinwagen darin verstauen könnte. Als Ausgleich gibt es dann an der Kasse nur Mikroeinkaufsbeutel, so daß man am Ende lauter kleine pralle Tütchen hat, die man zu Fuß niemals allein abtransportieren könnte. Ich frage mich ernsthaft, wie ein Franzose ohne Auto einkaufen geht! ... Wenigstens mußte ich in diesen Riesensupermärkten nicht jedes Mal als Dolmetscher fungieren, was in den kleinen Tante-Emma-Läden undenkbar gewesen wäre. Die fast sprichwörtliche »Schlampigkeit« der Franzosen kann ich nur teilweise bestätigen. Dieses Vorurteil entspricht ungefähr dem »Ordnungsdrang« von uns Deutschen: Es gibt jeweils genug sehr überzeugende Gegenbeispiele. Aus meiner Erfahrung kann ich nur sagen, daß meine Pariser Gastmutter sich an »ein bißchen Unordnung und Staub«, wie sie selbst sagte, nicht störte. Ich auch nicht. Nur der »Hausherr« betonte schnell, daß er durchaus Wert auf eine gewisse Ordnung lege. Gemacht hat er sie allerdings nicht. Der Hotelaufenthalt meiner Eltern schien das Vorurteil jedoch voll zu bestätigen. Alles ging dort drunter und drüber, nur weil das Haus voll belegt war. Das Personal war völlig überlastet, und schon beim Frühstück reichte das Buffet nur für ein Drittel der Gäste - natürlich war keiner für irgend etwas zuständig. Andererseits war in Südfrankreich alles perfekt durchorganisiert. Bei Problemen jeglicher Art war z. B. in zehn Minuten ein »Serviceteam« mit kleinem Reparaturwägelchen zur Stelle. Du siehst, die Franzosen sind so unterschiedlich wie eigentlich jede Nation. Na gut - sie trinken mehr Rotwein als Bier und sind ziemlich eigen, was »fremde« Sprachen betrifft. Aber daß sie sich bis jetzt ziemlich erfolgreich gegen Anglizismen wehren konnten, ist eigendich eher lobenswert — oder? Weitere Eigenheiten kannst du selbst in Erfahrung bringen. Die Reise lohnt sich. Viele liebe Grüße Deine Nadine

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BIRGIT FENNER

SANDRA KATZWINKEL

Lisa aus Deutschland ist zum Austausch in Nancy und schreibt an Charlotte, die zur gleichen Zeit in Berlin ist. Ein Briefwechsel Liebe Charlotte, wie geht es dir bei meiner Familie? Mir gefällt es bei deiner wirklich gut! Aber ich habe mindestens schon drei Kilo zugenommen, seit ich hier bin. Wie könnt ihr nur abends immer so spät, so lange und sooo viel essen? Deine Mutter kocht allerdings auch wunderbar. Letztens gab es so eine komische Pizza, die sehr, sehr lecker war. Die hieß ... Flammekuche oder so ähnlich. Hmmm, mit Zwiebeln und Sahnesauce. So etwas gibt es bei uns nicht. Deine Mutter meinte, es sei eine typisch französische Spezialität. Ich dachte immer, typisch französische Spezialitäten seien Froschschenkel, Schnecken und Baguette (das gab es allerdings wirklich!) und Rotwein! Ich meine, jeder kennt doch den Bordeaux. Aber bei euch gab es Weißwein dazu. Er hieß - ahm - Nipot blanc ... ? Nein! Pinot blanc. Ich habe gerade noch mal nachgesehen. Pinot blanc - sagt dir das was? War sehr lecker! Genug vom Essen geredet, sonst denkst du noch, ich hätte nichts anderes im Sinn. Dein petit chaton gewöhnt sich allmählich an mich. Es hört jetzt sogar auf manche deutsche Worte wie »Na komm!« oder »Hier!« Am Ende versteht es kein Französisch mehr. Dann kommst du nach Hause, und es sitzt in der Ecke und guckt dich fragend an, wenn du »Salut, Coucou, viens!« sagst. Aber wenn ich eine Katze wäre, würde ich lieber auf »Mon petit chatón« hören. Das hört sich viel schöner, runder und weicher an und ist viel passender für sensible Katzen. Ich weiß nicht, ob du das einschätzen kannst - wahrscheinlich nicht, aber Französisch klingt meiner Meinung nach viel melodischer und weicher, also viel schöner als Deutsch. Ich nenne mal ein Beispiel: Die Stadt ist heute angenehm leer — »la ville est agréablement vide aujourd'hui«. Ich finde, das klingt mehr nach dem, was es ist, nämlich »angenehm« Wie ich deine Schule erlebe? Ich finde deine Geschichtslehrerin extrem streng! Sie sagt, sie gebe schon aus Prinzip nicht mehr als »i6 points sur 20«. Genauso wie deine Französischlehrerin und dein Geo-Lehrer. Ich frage mich, warum nicht? Sie sagen, man müsse schon herausragend sein, wenn man mehr Punkte erhalten will. Aber man kann sich noch so viel Mühe geben und ist in deren Augen trotzdem nicht herausragend. Das ist ziemlich deprimierend, und das gefällt mir an deiner Schule nicht so gut. Aber ansonsten finde ich sie toll. Extrem erstaunt war ich darüber, daß fast alle Schüler mittags zur Kantine gehen, sogar die Oberstufen! Ich wäre in Deutschland nie in die Kantine gegangen, aber jetzt, wo ich auch ein paar Freunde gefunden haben, macht es richtig Spaß, mit ihnen essen zu gehen. Cool finde ich auch, daß ihr mittwochs so früh Schluß habt. Aber daß ihr dann samstags noch zur Schule gehen müßt, finde ich hart. Daran muß ich mich erst noch gewöhnen. Übrigens gibt es bei euch auch nicht viel mehr oder weniger

Schüler, die rauchen, als bei uns in Deutschland.

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Stell dir vor, letztens in der Französischstunde wollte deine Lehrerin wissen, ob wir so eine typische Geschichte kennen, in der es einen Bösen, einen Guten und einen Intriganten gibt, egal ob in Literatur, Theater oder Musik. Da habe ich die Oper Der Freischütz von Weber mit Caspar, Max, Kilian, Samuel usw. genannt - und sie kannte die Oper nicht! Nie gehört! Sie sagte nur: »Aber gut, daß du mitgemacht hast.« Dabei ist das eine der berühmtesten Opern! Deine Eltern kannten sie auch. Also wird sie doch nicht so unbekannt sein, wie die Lehrerin tat. Und ich dachte immer, gerade Französischlehrerinnen interessierten sich für so etwas. Kennst du Weber? Auf jeden Fall kennst du doch Bach, Beethoven, Händel, Brahms... Deutschland hat ziemlich viele gute Komponisten hervorgebracht, finde ich. Genauso wie Frankreich auch: Debussy, Ravel, Bizet... Mit Fidelio konnte sie dann aber was anfangen - immerhin! Neulich bin ich zu spät gekommen, und da meinte dein Mathelehrer ganz verwundert: »Nanu, ich dachte immer, die Deutschen wären so ein pünktliches Volk!« Also - das wußte ich wirklich noch nicht! Ich finde nicht, daß die Deutschen pünktlicher sind als die Franzosen. Bevor ich aufhöre, noch eine kleine Sache, die mich aber tierisch aufgeregt hat: Letztens lief ich mit ein paar Freunden durch die Straße, und als dann ein paar Jugendliche irgendwie mitbekommen hatten, daß ich Deutsche bin (wahrscheinlich am Akzent), riefen sie mir total dumme Sachen hinterher: »Heil Hitler!« und »Fous le camp, enfant nazi« ... Ich war ja so schockiert. Wie konnten sie nur so etwas sagen? Ich habe mit dieser Zeit überhaupt nichts mehr zu tun! Aber irgendwie scheinen dieses Nationalsozialismus-Thema und der Zweite Weltkrieg noch lange nicht aus den Köpfen der Menschen zu sein. Das war's für heute! Ich bin neugierig, wie es dir ergeht. Bis dann deine Lisa

Liebe Lisa, erst einmal vielen Dank fur deinen langen Brief! Es war sehr interessant zu hören, was du an Frankreich so faszinierend findest. Das mit dem »enfant nazi« tut mir echt leid. Das waren einfach ein paar dumme Kinder, die überhaupt keine Ahnung haben und Lust hatten zu provozieren. Glaube mir, es gibt genug Menschen, die wissen, daß du genauso wenig wie andere in der heutigen Zeit etwas dafür kannst, was damals passiert ist. Es sind nicht alle Franzosen so voller Vorurteile. Aber wenn ich mir vorstelle, daß man mir hier »dumme Hugenottenvertreiberin« oder »Afrikanerunterdrückerin« nachrufen würde, wäre ich auch nicht gerade begeistert. Obwohl das so dumm ist, daß es fast schon wieder lustig ist. Zumal mein Freund Afrikaner ist! Das, was du gegessen hast, kenne ich natürlich. Flammekuchen und Pinot blanc sind typisch elsässische Spezialitäten. Hattet ihr dazu noch das Geschirr mit den Störchen

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BIRGIT FENNER

drauf? Ja, so etwas ißt man in Alsace/Lorraine. Das Gerücht von den Schnecken und den Froschschenkeln habe ich auch schon gehört. Das ist aber totaler Unsinn! Es gibt kaum eine normale Familie, die oft so 'was ißt. Spät essen - das stimmt! Aber viel? Mir ist aufgefallen, daß man bei uns zwar relativ viel, aber nur zu festgelegten Zeiten ißt. Und bei euch habe ich das Gefühl, man ißt dafür den ganzen Tag über immer Kleinigkeiten um sich 'rum. Typisch deutsches Essen gab es bei euch bis jetzt nicht, aber vielleicht kommt das noch. Bier habe ich auch noch nicht vorgesetzt bekommen. Ach, eine echte Berliner Currywurst habe ich natürlich probiert, ist aber nicht so mein Geschmack. Das, was du über die Lehrer und über die nicht mehr als 16 Punkte schreibst, verstehe ich gut. Geht mir genauso, aber mich stört es nicht so sehr, weil ich es ja gewohnt bin und weil ich weiß, daß es auf anderen Schulen auch so ist. Und meine Französischlehrerin kennt den Freischütz nicht! Also, ich kenne die Oper, und Weber, Bach, Händel und Brahms habe ich natürlich auch schon mal gehört. Kann aber auch daran liegen, daß meine Mutter Berufsmusikerin ist. Ich weiß nicht, ob andere Franzosen das kennen. Aber schön! Ich weiß was, was meine Französischlehrerin nicht weiß. Danke, daß du mir das erzählt hast! Aber ich frage mal die Leute hier, ob sie Pelléas undMélisande kennen. Mal sehen, wie bekannt Debussy bei den Deutschen ist. Aber auf jeden Fall kennen sicher beide Länder Fausts Verdammnis, denn das ist ja eine Oper, in der sich euer Goethe und unser Berlioz vereint haben. Du, laß ja die Finger von meiner Katze! Sei nicht zu nett zu ihr, sonst versteht sie mich nachher wirklich nicht mehr. Oder wir lassen sie zweisprachig aufwachsen. Hauptsache, sie verwechselt nicht »Komm!« und »Va-t'en!«. Du siehst, mir gefällt es hier gut. Ich finde, Deutschland ist ein ziemlich kulturoffenes Land. Wenn ich allerdings an diesen glatzköpfigen, wie deine Freunde sagen, »Prolls« vorbeigehe, bleibe ich lieber still, aus Angst, sie könnten hören, daß ich Ausländerin bin. Aber das ist in Frankreich ja nicht anders. Wenn man mal überlegt, daß in manchen Gebieten die rechte Partei teilweise bis zu 40 % der Wahlstimmen erhalten hat! Schreib mir bald wieder! Bis dann Deine Charlotte

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TAMARA G RANZOW

Frankreich und Deutschland - Freunde oder doch eiserne Konkurrenten? Um die 20 Personen habe ich zum Thema »Deutschland und Frankreich« befragt. Ein großer Teil davon war unter 20 Jahre alt, aber auch einige Vierzig- bis Sechzigjährige waren dabei. Fast alle der von mir Befragten sind schon einmal in Frankreich gewesen, wenn auch manche »nur« zur Klassenfahrt. Sie waren vor allem in Paris, aber auch in der Normandie, in der Bretagne, in Reims, Chamonix und anderen Orten. Auf die Frage nach dem ersten Eindruck von Frankreich antworteten viele, das Land sei schön, gepflegt und sauber, und die Bewohner freundlich und hilfsbereit. Allerdings wurde, wie so oft, auch darüber geklagt, »überhaupt nicht verstanden« worden zu sein, und daß man ohne französische Sprachkenntnisse wirklich aufgeschmissen sei. Die Verständigung scheint wirklich ein konstantes Problem darzustellen. Bei meiner Befragung hatte ich zunächst großen Wert darauf gelegt, daß spontane Assoziationen zu Frankreich und Deutschland genannt wurden. Und da waren sie doch wieder da: Paris und der Eiffelturm, Strafiencafés und die Baskenmütze, das gute Essen, Rotwein, Baguette und Croissant. Die spontanen Assoziationen zum eigenen Land fielen schwerer. Aus lauter Verzweiflung rutschten einigen Kommentare heraus wie »Scheißsprache« oder »Oh Mann, jetzt denk ich an die Türkei!«, bis dann doch Phänomene wie unsere »ach so schöne Hauptstadt«, das Brandenburger Tor und unser Nationalgetränk, das Bier, genannt wurden. Na, noch einmal Glück gehabt! Zur Verbindung der beiden Länder fiel einem Großteil immerhin der Elysée-Vertrag ein. Aber auch Begriffe wie Krieg, politische Machtkämpfe und Sprachprobleme (s. o.) wurden angesprochen. Anschließend fragte ich nach möglichen gegenseitigen Vorurteilen und bekannten Gerüchten über die jeweiligen Länder. Zum Teil wurden die anfangs genannten ersten Eindrücke wiederholt, aber dann wurden auch Bewertungen deudich, wie ζ. B. »trinken immer Rotwein«, »Froschfresser«, »Frauenliebhaber«, »deutsch-feindlich eingestellt«. Und wieder das Sprachproblem: »Franzosen können/wollen kein Englisch sprechen« ... Z u Gerüchten und Vorurteilen gegenüber Deutschland sagten mir die meisten, daß viele Deutschland offenbar immer noch für ein rassistisches Land hielten. Außerdem würden Deutsche von Franzosen als pünktlich, unhöflich, rechthaberisch, hektisch, kleinkariert und arbeitsam dargestellt. In anderen Ländern werde die deutsche Sprache fiir hart und unangenehm gehalten, insbesondere wenn sie geschrien werde. Und auch ein uns sehr bekanntes Vorurteil wurde genannt: »Die Deutschen fahren alle nach Mallorca.« Als ich von den Befragten etwas über ihre Meinung zur Kultur beider Länder wissen wollte, sagten einige, daß Frankreich die bessere Kultur habe, und begründeten dies so: »Da ist einfach mehr los, man kann immer etwas unternehmen.« Andere hielten beide Kulturen

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fur gleichwertig, da aus beiden bekannte Künstler hervorgegangen seien und beide einen wichtigen Platz in der Kulturgeschichte einnähmen. Ich hörte jedoch auch, daß Franzosen ihre Kultur als höherwertig einschätzten und daß es eine rein deutsche Kultur gar nicht gebe, weil diese eine Mischung aus vielen Einflüssen bilde. Beide Länder wurden als konservativ bezeichnet, und sowohl über Franzosen als auch über Deutsche wurde gesagt, sie seien sehr bzw. sogar zu sehr organisiert und strukturiert. Auf der anderen Seite hieß es aber auch, die Franzosen seien lebenslustiger: »Deutsche leben, um zu arbeiten, und Franzosen arbeiten, um zu leben.« Einige meinten zu wissen, daß die Mauer immer noch nicht aus den Köpfen der Deutschen verschwunden sei und daß sie immer noch in den Kategorien »Wessis« und »Ossis« dächten - dies wurde gewertet als Indiz ihrer inneren Zerrissenheit. Wie immer die - ja durchaus nicht immer widerspruchsfreien - Äußerungen bewertet werden können, so mag doch erstaunen, wie die Befragten reagierten, als sie einen typischen Franzosen darstellen sollten. Die Zusammenstellung der verschiedenen Entwürfe ergab folgendes Bild: Ein dünner Mann mit dunklen Haaren und Schnauzbart, der entweder ein blauweiß gestreiftes oder ein schwarzweiß kariertes Hemd, wahlweise mit Weste dazu, und eine Baskenmütze trägt. Er sitzt auf einem Fahrrad, hat einen verträumten Gesichtsausdruck und hält in der einen Hand ein Glas Rotwein und in der anderen eine Baguette (wie immer das funktioniert). Auf seinem Gepäckträger (nehme ich an) sitzt eine sehr schlanke und schick gekleidete Französin. Sie hat im Gesicht einen Schönheitsfleck und in einer Hand eine lange Zigarettenspitze mit einer Gauloise darin. Mit welcher Marke auch sonst? Dieselbe Frage über den typischen Deutschen ergab folgendes Resultat: Ein dicker Mann mit blonden Haaren und einem Vollbart. Er trägt bayerische Tracht und hat weiße Socken in Sandalen (!) an. Außerdem hält er in der einen Hand ein Bier. Sein Gesichtsausdruck ist verschlossen. Vom Aussehen her wurden als typische Vertreter beider Länder Louis de Funès, Gérard Depardieu und - Bismarck genannt. Ich fragte auch nach typischen Eigenschaften: Franzosen gelten demnach als charmant, locker, lebensfröhlich, freundlich, hilfsbereit, optimistisch, sensibel, aber auch als chauvinistisch, Deutsche als egoistisch, stur, pessimistisch, pflichtbewußt, pünktlich, unfreundlich und arrogant. Sind die Vorurteile wirklich im Verschwinden begriffen? Oder haben sich manche auch nur einen Spaß gemacht? Jedenfalls zeichnete sich auf den Gesichtern der Befragten mehrfach Erleichterung ab, wenn ich sagte, daß dies die letzte Frage gewesen sei...

BÉATRICE D U R A N D

»Typisch deutsch? Typiquement français?« Uber die Halbwertzeit kultureller Vorurteile

In Anschluß an die Lektüre der Lettres berlinoises und der Französischen Briefe fand zwischen den Schülern aus Paris und Berlin ein Streitgespräch über die Halbwertzeit kultureller Vorurteile statt. Im Sinne der »gekreuzten Blicke« tauschten sich die Schüler über ihre gegenseitige Wahrnehmung der beiden Länder aus und überprüften dabei die Macht überlieferter Vorstellungen. Aus dem Lycée international, Saint-Germain-en-Laye, nahmen daran Michael Kranz und Zvetelina Stancheva teil, aus dem Französischen Gymnasium, Berlin, Flora Conte, Anja Sommer und Norbert Widowski. Alle sind Schüler der n. Klasse bzw. der première. Alle kennen beide Länder, sind zwei-, wenn nicht mehrsprachig, also schon professionelle Grenzgänger. Das Gespräch fand in beiden Sprachen statt, denn was wäre ein Gespräch zur gegenseitigen Wahrnehmung, das sich nur in einer Sprache abspielen würde? Für die gedruckte Fassung wurden jedoch der Lesbarkeit halber alle Beiträge ins Deutsche übertragen. Das Gespräch moderierten Béatrice Durand und Etienne François. Zunächst wurden die Teilnehmer aufgefordert, auf die gerade vorgetragenen Lettres berlinoises und die Französischen Briefe zu reagieren. Für Deutsche ist nach wie vor die Meßlatte des Französischen das Essen. Das finde ich, ehrlich gesagt, schade, denn Frankreich hat mehr zu bieten als das Essen. Mir fiel auch auf, daß die Briefe die Unterschiede als nicht mehr so groß einschätzen. Unterschiede gibt es aber immer noch: Die Franzosen kommen tatsächlich immer etwas später. Es sind die berühmten 15 Minuten. Man kann also nicht sagen, daß es keine Unterschiede gibt. Man sollte vielmehr damit leben lernen. Die Unterschiede sind eine Bereicherung. Dabei haben viele Leute gar keine Möglichkeit, mit dem anderen Land in Kontakt zu kommen. Damit die deutsch-französische Freundschaft für die Menschen kein abstrakter BegrifFbleibt, damit die Leute etwas Existentielles mit ihr verbinden können, müssen sie reisen und in die andere Kultur eintauchen können. Deshalb müßte man den Austausch zwischen Deutschland und Frankreich noch intensivieren. MICHAEL KRANZ:

Ich finde schon, daß das Essen in Frankreich eine ganz andere Rolle spielt. Wenn ich nach Frankreich fahre, kaufe ich mir immer als erstes ein Croissant und ein éclair au chocolat. Eine Freundin, die aus einem Schüleraufenthalt in Deutschland zurückkommt, hat mir erzählt, wie schwer es ihr fiel, zu unregelmäßigen Zeiten essen zu müssen. FLORA CONTE:

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Also geht Kulturerkenntnis über den Magen. FLORA CONTE: Was mir in den Briefen gut gefiel, das sind die Beobachtungen zum Supermarkt. Es ist viel schwieriger, sich in einem deutschen als in einem französischen Supermarkt ordentlich zu ernähren. Für mich zeigt dies, daß Klischees eine gewisse Realität haben. Auf der anderen Seite gibt es in Deutschland nette kleine Geschäfte - türkische, italienische, Bioläden - , die es in Frankreich gar nicht gibt. Umgekehrt haben jetzt Aldi und Lidi in Frankreich Fuß gefaßt. A N J A SOMMER: Ich habe in Frankreich von Leuten gehört, die 7 0 % ihres Geldes fiir Essen ausgeben. Das kann man sich in Deutschland nicht vorstellen. ZVETELINA STANCHEVA: »La poésie montre nues sous une lumière qui secoue la torpeur les choses surprenantes qui nous environnent et que nos sens enregistraient machinalement.« (»Nackt und in einem Licht, das ihre Trägheit abschüttelt, zeigt uns die Dichtung die wundersamen Dinge, die uns umgeben und die wir nur mechanisch registriert hatten.«) Dieses Zitat trifft auch auf die Lettres berlinoises und die Französischen Briefe zu. Durch Gewohnheit verliert man die Fähigkeit, sich zu wundern. Diese Briefe halten uns Spiegel vor Augen und stellen so unsere Wahrnehmungsgewohnheiten in Frage. BÉATRICE DURAND:

Ich habe bei der Lektüre an eigene Erfahrungen denken müssen. Ich hatte einen Schüleraustausch in Frankreich, habe dort auch Urlaub verbracht. Das erste, was einem in Frankreich auffällt, sind tatsächlich die Eßgewohnheiten. Es ist schon ein großer Unterschied. Frankreich ist auch ein weniger offenes Land. Zum Beispiel habe ich gesagt, daß ich aus Berlin komme, und mein Gesprächspartner wußte nicht einmal, wo Berlin liegt. Es ist hier in Deutschland bekannt, daß Paris das Zentrum Frankreichs ist. FLORA CONTE: Eine meiner Freundinnnen hat sogar gefragt, ob man in Berlin Spanisch spricht. BÉATRICE DURAND: Sie haben alle fünf sehr unterschiedliche Biographien. Einige haben deutsche, einige deutsche und französische Eltern, Zvetelina kommt aus Bulgarien. Welche Rolle spielt die eigene Biographie — die Familie, die Schulgeschichte — in der Entstehung dieser Vorstellungen von dem einen und dem anderen Land? MICHAEL KRANZ: Ich komme aus einem kleinen Dorf in der Nähe von Stuttgart. Mein Vater wurde von seiner Firma nach Paris geschickt, und die Familie ist mitgezogen. Für mich war das ein doppelter Schock: von Deutschland nach Frankreich und dann von einer Klein- in eine Großstadt! Der hat sich aber schnell gelegt. Ich war am Lycée international, und diese Schule hat mir sehr geholfen. Im ersten Jahr lernt man sehr schnell Französisch. Dadurch habe ich viele Freunde verschiedener Nationalität gehabt. Dazu muß man sagen, daß man am Lycée international wenig mit »normalen« Franzosen zu tun hat, sondern mit Menschen, die auch Ausländer sind. Also bewege ich mich in Kreisen, die gar nicht so typisch fur Frankreich sind. Dennoch lebe ich gern in Frankreich. Ich hätte nicht unbedingt Lust, nach Deutschland zurückzuziehen. Mein Bild von Frankreich ist eher positiv. FLORA CONTE: Ich bin wirklich »deutsch-französisch«. In meinem Leben habe ich genauso NORBERT WIDOWSKI:

viel Jahre in Deutschland wie in Frankreich verbracht — einige Jahre auch in Ägypten. Mir

fallen schon die Unterschiede auf. Ich war in Deutschland in der Krippe, in Frankreich in

» T Y P I S C H DEUTSCH? T Y P I Q U E M E N T FRANÇAIS?«

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der Maternelle, in Berlin an der Europa-Schule, dann im Lycée im 16. arrondissement von Paris mit Leuten, die Frankreich nie verlassen hatten - also mit sehr französischen Leuten - , dann wieder am Französischen Gymnasium in Berlin, wieder in Paris, und schließlich wieder am Französischen Gymnasium in Berlin. Beide Länder ergänzen sich gut. Ich freue mich, wenn ich nach Paris fahre, bin aber auch immer glücklich, wieder in Berlin zu sein. Wenn ich gefragt werde, was ich fur Vorstellungen und Stereotype über Deutsche und Franzosen habe, gibt es vielleicht ein paar Kleinigkeiten, aber nichts Wichtiges. Die Kraft der Stereotype bekam ich vor allem durch französische Deutschlehrer und -schüler zu spüren. Für die Deutschlehrerin in meinem Pariser Lycée war Deutschland München und der Weihnachtsmarkt. Manche Lehrer, finde ich, kennen Deutschland gar nicht gut und vermitteln Stereotype. Umgekehrt kann ich es nicht wirklich beurteilen, weil ich am Französischen Gymnasium zur Schule gehe. Ich habe aber das Gefühl, daß die Deutschen Frankreich besser kennen, als die Franzosen Deutschland. In den Briefen und Berichten ist der Unterschied der Schulkulturen angesprochen worden. Sie werden mit beiden konfrontiert. Wie kommen Sie damit klar? ZVETELINA STANCHEVA: Ich will nicht sagen, daß die einen besser sind als die anderen. Wir erleben einfach zwei unterschiedliche Lernmethoden. Wir haben vier Stunden deutsche Literatur, vier Stunden Geschichte in deutscher Sprache, und die restlichen Stunden auf Französisch. Die deutschen Lehrer verlangen von uns, daß wir unsere Meinung sagen, selbst nachdenken und uns beteiligen. Mündliche Mitarbeit ist wichtig. Im Gegensatz dazu zählt bei den französischen Lehrern eher das Schriftliche. Dafür ist es oft viel klarer strukturiert. Für die dissertation müssen wir eine Einleitung, drei Hauptteile und eine Schlußfolgerung schreiben... ETIENNE FRANÇOIS: Als einer, der in Deutschland lehrt, muß ich zugeben, daß ich mich mit der Zeit geändert habe. Ich war zu Beginn »deutscher« und habe bei der Gestaltung schriftlicher Arbeiten alles angenommen. Auf Dauer aber fuhrt diese Unstrukturiertheit ins Leere. Inzwischen lege ich immer mehr Wert darauf, daß die Studenten von dieser französischen Sitte profitieren, schriftliche Arbeiten strukturieren zu müssen. BÉATRICE DURAND:

Mir fällt auch auf, daß die französischen Lehrer ihr Programm durchziehen und am Ende noch eine conclusion bringen - und das genau auf die Minute. Der positive Aspekt bei den deutschen Lehrern ist, daß sie auch mal diskutieren. Sie sind wirklich offen. Dafür verlieren sie manchmal den Faden... FLORA C O N T E : In Deutschland ist man in der Schule viel weniger gestreßt. Es ist einfach lockerer. Das sagte auch ein Austauschschüler, der bei uns an der Schule war: In Frankreich ist man wegen der Programme, die man einhalten muß, sehr unter Druck. MICHAEL KRANZ: SO ist es bei uns jedenfalls nicht. Der deutsche Unterricht gewährt mehr Freiheit. Und das finde ich positiv. Der französische Unterricht ist sehr konzentriert. Was vermittelt wird, ist savoir. Französische Schüler haben un tris grand savoir. Dieses Wissen können sie aber nicht immer artikulieren. Wenn die Klassen gemischt sind, sind es meistens deutsche Schüler, die dem Lehrer widersprechen. BÉATRICE DURAND: Und wie reagieren die französischen Lehrer darauf? MICHAEL KRANZ: Viele sehen das gerne und nehmen es mit Humor. Manche nicht. Aber ich glaube, daß es sie im Grunde stört. Es bringt auch nichts, weil die anderen Schüler nicht ANJA SOMMER:

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einsteigen. Im deutschen Unterricht dagegen fehlt manchmal das Niveau an Wissen. Man bräuchte beides: le savoir, und daß man damit argumentieren kann. FLORA C O N T E : Was den deutschen Schülern fehlt, ist, daß sie zu wenig zu Hause arbeiten. Es gibt in Deutschland ganz viele Regelungen, daß man z. B. am Wochenende keine Hausaufgaben aufgeben darf... Umgekehrt ist es in Frankreich übertrieben. Wir bräuchten un juste milieu. In Frankreich war auch ich in der Situation, daß ich mit dem Lehrer überhaupt nicht einverstanden war. Ich habe prompt widersprochen. An der Reaktion der Klasse merkte ich, daß das nicht üblich war. Alle waren plötzlich still. Der Lehrer war auch etwas geschockt. Allerdings gab es nicht nur strenge Lehrer. Es gab auch sehr wenig qualifizierte Lehrer, die keine Ordnung in der Klasse halten konnten, die auch keinen strukturierten Unterricht machten. Tendenziell sind aber deutsche Lehrer offener fur Mitarbeit, und es gibt in Frankreich mehr System. Aber: Auf beiden Seiten lassen sich auch Gegenbeispiele finden. ANJA SOMMER: Interessant finde ich, daß dies den vermeintlichen Stereotypen widerspricht. Angeblich sind die Deutschen sehr korrekt, pünktlich und auf Disziplin bedacht, während die Franzosen das Leben genießen. Mein Gefühl ist aber, daß es im schulischen Bereich geradezu umgekehrt ist. NORBERT WIDOWSKI:

Nicht nur im schulischen. Wir haben in Frankreich ein Haus gebaut und haben lange gebraucht, bis wir die Baugenehmigung hatten. Der Giebel mußte genau parallel zur Straße sein... Ich glaube, Bürokratie ist nicht nur ein deutsches Phänomen. ANJA SOMMER: Das ist schön zu hören. ZVETELINA STANCHEVA: Wenn französische Lehrer den Schülern zwei Stunden lang etwas vortragen, stellen sie sich gar nicht die Frage, ob die Schüler es verstehen und etwas davon behalten. Es kommt zu dem Punkt, wo man gar nichts mehr aufnehmen kann. ANJA SOMMER: Ich hatte das Gefühl, die französischen Lehrer würden in den Lettres berlinoises etwas negativ dargestellt, und das finde ich nicht ganz korrekt. BÉATRICE DURAND: Beide Traditionen ergänzen sich und fördern unterschiedliche Fähigkeiten und Leistungen. In einer idealen Welt müßten beide nicht verschmelzen, sondern einander bereichern. ANJA SOMMER: Dafür ist unsere Schule ein sehr gutes Beispiel. Wir kriegen manchmal Lehrer aus Frankreich, die ihre Ausbildung gerade abgeschlossen haben. Es kam ein Physiklehrer, der uns alle beim Nachnamen genannt hat. Keiner hat sich gemeldet, wir waren sehr irritiert. Er hat sich aber binnen weniger Monate verändert und sich zu einem hervorragenden Lehrer entwickelt. Und er hatte Autorität: Bei ihm war es still und ruhig. Es gibt viele an unserer Schule, die diesen Mittelweg gefunden haben. ETIENNE FRANÇOIS: Der Mittelweg, le juste milieu, das könnte auch die mediocritas sein. Der Mittelweg ist nicht immer die beste Lösung. Ihr Bild ist sehr harmonisch: Man hat das Gefühl, daß Sie vom anderen nur das Beste nehmen. Ist es wirklich so? Gibt es nicht Reibungen? MICHAEL KRANZ: Die französischen Lehrer machen den Unterricht auf französische Art, die deutschen auf deutsche, und wir sind in der Mitte. Lehrer lernen nicht voneinander. Die Mischung entsteht bei den Schülern. MICHAEL KRANZ:

»TYPISCH DEUTSCH? TYPIQUEMENT FRANÇAIS?«

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Bei uns ist es genauso. Mittlerweile wird das Wort »Fusion« am Französischen Gymnasium nur mit Ironie ausgesprochen ... BÉATRICE DURAND: Wie entwickelt man sich, wenn man täglich mit verschiedenen Lehrern konfrontiert ist? Entsteht da eine neue Identität? FLORA C O N T E : Es kann ganz angenehm sein. ANJA SOMMER: Ich komme aus einer rein deutschen Familie, und dazu aus dem Osten. Das heißt: Bei mir spricht keiner Französisch. Es ist Zufall, daß ich auf diese Schule kam und die Sprache und die Kultur kennenlernte. Keiner hat bei mir über Frankreich gesprochen oder etwas gewußt. Es gab also keine Vorbelastung, keine Stereotype. Am Anfang hatte ich auch wenig Kontakt mit französischen Schülern, weil wir in unterschiedliche Klassen aufgeteilt waren. Der Kontakt hat sich erst wirklich in diesem Jahr entwickelt, weil unsere Sprachniveaus es jetzt erlaubt haben und auch weil das Kurssystem flir das Abitur die Schüler neu gemischt hat. Es ist complètement égal, ob man Deutsch oder Französisch spricht. Wir denken nicht mehr darüber nach - wir haben einen eigenen Kauderwelsch. BÉATRICE DURAND: Führt die Beschäftigung mit der jeweils anderen Kultur dazu, daß man die eigene anders wahrnimmt?

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Auf jeden Fall. Wenn ich jetzt nach Deutschland, also nach Stuttgart, zurückgehe, habe ich die Verbundenheit zu meinem Heimatort etwas verloren. Ich bin jetzt ein Beobachter, der nach Deutschland kommt und habe das Gefühl, daß die Menschen dort etwas engstirnig sind. Ich bin skeptischer geworden. Wer nie weg von zu Hause war, hat eine engstirnige Vision der Welt. Wichtig ist nicht nur, daß man andere Kulturen kennt, sondern, daß man die eigene Kultur hinterfragt und an dieser Kultur etwas ändern will. ETIENNE FRANÇOIS: Sie sind in einem Ausbildungssystem, das noch sehr außergewöhnlich ist. Noch gehören Sie zu einer Minderheit. Kommen Sie sich als Exoten oder als Vorreiter vor? Haben Sie den Eindruck, daß man die Erfahrungen, die Sie gerade machen, ausweiten könnte? Oder meinen Sie, daß Sie eine Ausnahme bleiben werden? ANJA SOMMER: Auf keinen Fall. Europa soll nicht nur im Politischen und im Wirtschaftlichen entstehen. Es gibt in Europa so viele verschiedene Nationen. Man muß mehr Kontakte fördern. Das Französische Gymnasium ist dafür ein gutes Modell. Wir sind offiziell eine deutsch-französische Schule. Es sind aber sehr viele andere Nationen an der Schule vertreten, aus dem frankophonen Bereich und aus aller Welt. MICHAEL KRANZ:

Würden Sie der Behauptung mancher Politiker widersprechen, daß die deutsch-französische Zusammenarbeit zu einer neuen Exklusivität führt? MICHAEL KRANZ: Ich glaube schon, daß das der Fall ist. Letztes Jahr, als sich der Elysée-Vertrag jährte, gab es ein Jugendparlament. Es wurden Schüler aus deutschen und französischen Schulen, u. a. aus unserer Schule und aus einem Lycée technique in der banlieue, eingeladen. Die hatten mit der deutsch-französischen Geschichte überhaupt nichts zu tun und waren vollkommen desinteressiert. Sie haben nicht gewußt, was sie mit der Frage anfangen sollten. Es besteht, glaube ich, die Gefahr, daß die deutsch-französischen Beziehungen etwas elitär werden. Ich glaube nicht, daß sich daran schnell etwas ändern wird. Ich glaube auch nicht, daß es ein Lycée internationale einem kleinen Provinzdorf, in Bayern oder in der Picardie, geben könnte, weil die Schüler dort damit nichts anzufangen wüßten. Das wäre complètement absurde. ETIENNE FRANÇOIS:

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Nicht unbedingt. Wenn ich in Frankreich auf dem Land bin, werde ich von Jugendlichen gefragt: Warum hast du nicht zu gleicher Zeit Ferien wie wir? Wie ist es an einem französischen Gymnasium in Deutschland? Sprechen die dort Französisch? Ich muß viel erzählen. Sie sind schon interessiert. N O R B E R T WIDOWSKI: Seit einigen Jahrzehnten gehen immer mehr Menschen ins Ausland. Dadurch werden Schulen wie das Französische Gymnasium immer wichtiger. MICHAEL KRANZ: Manche gehen ins Ausland, aber nicht alle. Das bleibt eine Minderheit. Zuerst muß es Kontakte geben. Und erst dann hat es Sinn, ein Lycée international aufzubauen. FLORA C O N T E :

Aber mit uns! ZVETELINA STANCHEVA: Solche Schulen sollten keine vereinzelten Fälle bleiben. »Europa« wird es nur geben, wenn die Bürger ein gemeinsames Bewußtsein entwickeln. Das heißt nicht, wie heute morgen im Referat zu Montesquieu gesagt wurde, daß man dabei die eigene nationale Herkunft vergißt, sondern daß man ein europäisches Bewußtsein entwickelt. Dafür muß Europa nicht nur als juristische Institution auf dem Papier existieren, sondern auch in den Köpfen der Bürger. Dafür braucht man internationale Schulen, weil man dort vom frühesten Alter an mit dem, was Europa ausmacht, konfrontiert wird: mit der Vielfalt der Kulturen. Dafiir muß man offen und tolerant sein. Wenn man irgendwohin geht, sollte man nicht als erstes sagen: »Nein! Meine Kultur ist die bessere.« Man sollte sich in die anderen einfühlen und fragen können: »Warum denken die, wie die denken?« Deshalb brauchen wir europäische Schulen. FLORA C O N T E :

Die Fähigkeit zum Perspektivwechsel ist demnach das wichtigste. Auch Montesquieu hat den Perspektivwechsel praktiziert: Wie sieht die Welt aus, wenn ich mich in die Perspektive des anderen versetze? ZVETELINA STANCHEVA: Wie Malraux bereits sagte, wird Kultur nicht vererbt, sondern erobert. Dafür ist aber das gemeinsame Bewußtsein unabdingbar. Dafiir brauchen wir Jugendparlamente. Und Geschichte. Wenn man die Geschichte eines Landes und auch die der europäischen Konstruktion kennt, versteht man einiges besser. ETIENNE FRANÇOIS: Im Esprit des lois analysiert Montesquieu die verschiedenen Regierungsformen im Zusammenhang mit der Organisation der Gesellschaften und dem Verhalten der Individuen. Es gibt auf der einen Seite die »Gesetze«, und auf der anderen die »Sitten«. Wenn ich Ihnen zuhöre, habe ich das Gefühl, daß Sie nicht nur deutsch-französische, sondern schon sehr europäische »Sitten« im Sinne Montesquieus haben. Haben Sie das Gefühl, daß die politische Realität, in der Sie leben, mit dem, was Sie sind, harmoniert? Oder denken Sie im Gegenteil, daß noch tiefe politische Veränderungen notwendig wären, damit Europa Ihnen gerecht wird? In vielen Hinsichten - durch Ihre Fähigkeit, perspektivisch zu leben, für andere Kulturen aufmerksam zu sein usw. - haben Sie Entwicklungen vorweggenommen. Aber dafür braucht man einen politischen Rahmen. Was erwarten Sie von der Politik, wenn Sie nicht Vorreiter oder Außenseiter bleiben wollen? FLORA C O N T E : Politik ist dabei nicht so wichtig. Ich versuche nur Leuten, die nichts als ihr Zuhause kennen, zu vermitteln, daß es anderswo schön sein kann, daß man sich davor nicht zu furchten braucht. Das ist nicht politisch. In Paris habe ich ein Plakat gesehen, das ein BÉATRICE DURAND:

»TYPISCH DEUTSCH? TYPIQUEMENT FRANÇAIS?«

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junges deutsch-französisches Paar darstellte: Es sollte beide Länder einander näherbringen. Es war aber lächerlich. Politiker machen solche Plakate. Aber so etwas nützt nichts. Das ist nicht ehrlich. Die deutsch-französische Freundschaft als politische Angelegenheit berührt mich nicht sehr. Man braucht nur offen zu sein. BÉATRICE DURAND: Politisch ist aber nicht nur das, was die Politiker tun! ETIENNE FRANÇOIS: Die Gründung des Französischen Gymnasiums und der Europa-Schulen, das waren doch politische Entscheidungen! MICHAEL KRANZ: Ich denke, daß die Regierungen aufhören sollten, bloß ihre nationalen Interessen zu vertreten, wie man es beim Kampf um die Sitze im Sicherheitsrat der UNO sieht. Mich interessiert kein deutscher oder französischer Sitz. Ich bin fiir einen europäischen Sitz. Wenn es eine europäische Außenpolitik gäbe, wäre das schon ein großer Fortschritt. Deshalb glaube ich schon, daß die Politik eine wichtige Rolle hat. Und daß sie diese Rolle ungenügend wahrnimmt. In allen Ländern gibt es europäische Tendenzen, aber auch viele Leute, die einfach noch nicht wissen, warum Europa für sie gut ist. Das ist eine dezidierte Meinung, aber Zufall oder nicht, ist diese Meinung von einem Jungen und nicht von einem Mädchen vertreten worden. Ist es so, daß die Politik immer noch eine Sache von Männern ist? ZVETELINA STANCHEVA: Die Politik ist die Basis. Das Jugendparlament hat konkrete Vorschläge gemacht: mehr Austausch zwischen den Schulen, ein service des volontaires européens anstelle des nationalen Militärdienstes. NORBERT WIDOWSKI: Schüleraustausch ist der erste große Schritt. Schüler, die eine Woche in Frankreich waren, wußten schon mehr als Schüler des Französischen Gymnasiums nach Jahren. ANJA SOMMER: Man muß immer viel fordern. Die Politik wird wohl oder übel darauf eingehen, wenn wir Interesse oder Engagement zeigen. ETIENNE FRANÇOIS:

Übersetzung derfranzösischenGesprächspassagen von Béatrice Durand

DOKUMENTE

EFFI BÖHLKE, WOLFGANG KNOBLOCH

Montesquieu und die Académie Royale

des Sciences et Belles-Lettres de Prusse

Montesquieus Beziehungen zu Deutschland datieren spätestens aus den 1720er Jahren. Auf seiner großen Europareise,1 die ihn ab 1728 zunächst über Österreich und Ungarn nach Italien fiihrt, macht er auch seine Erfahrungen mit deutschen Ländern und deutschen Leuten: Im Sommer 1729 trifft er im Tirol ein, fährt, über München und Augsburg kommend, den Rhein entlang Richtung Westphalen, Hannover und Braunschweig, um dann, via Holland, nach England zu gehen und dort längeren Aufenthalt zu nehmen. Wie in den anderen Ländern interessieren ihn in Deutschland insbesondere die diversen Sitten, Gebräuche und Traditionen der Menschen und ihr Zusammenhang mit den je spezifischen juridischen und politischen Institutionen. Das Resultat der Reise ist ein in sich sehr differenziertes Bild von Deutschland, das von dem Amüsement über bestimmte - insbesondere bayerische - Sitten, über die Bewunderung technischer Errungenschaften (wie etwa den Bergbau im Harz) und religionspolitischer Einrichtungen, bis hin zur kritischen Beobachtung des état politique reicht. Seine Erfahrungen, Beobachtungen und Begegnungen hält Montesquieu bzw. sein Sekretär in Reisetagebüchern fest, und sie fließen in die Verfassung seiner Hauptschriften mit ein. Eine große Bewunderung hegte Montesquieu zeitlebens auch fur historische politische Institutionen, wie sie ihm durch die Lektüre der Germania des Tacitus vertraut waren. So findet sich noch im Esprit des lois die Bemerkung, daß die Engländer die von ihm so geschätzte Idee ihrer politischen Regierung in den Wäldern Germaniens gefunden hätten.2 1716, d. h. mit 27 Jahren, wird Montesquieu zunächst zum Mitglied der Akademie seiner Heimatstadt Bordeaux gewählt.3 Neben seiner Tätigkeit als président à mortier am parlement von Bordeaux ist dies eine zweite Funktion, die er sehr ernst nimmt und in welcher er sich sehr engagiert. Zwei Jahre später erfolgt seine Wahl zum Direktor der Bordelaiser Aka-

1 2

3

Zu dieser Europareise in der Tradition seines Landsmannes Michel de Montaigne vgl. Böhlke, Effi: »Reisen - eine nützliche Übung«. »Si l'on veut lire l'admirable ouvrage de Tacite sur les moeurs des Germains, on verra que c'est d'eux que les Anglais ont tiré l'idée de leur gouvernement politique. Ce beau système a été trouvé dans les bois.« Montesquieu: De l'Esprit des lois, XI. 6., S. 590. Z u Montesquieus Mitgliedschaft in der Akademie von Bordeaux vgl. Desgraves, Louis: Montesquieu, Kapitel »Montesquieu als Parlamentarier und Akademiemitglied (1714-1721)«, S. 49-97.

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demie. Bis in die 1720er Jahre hinein verliest er auf den Sitzungen der Akademie eigens für sie verfaßte Schriften, oder er kommentiert in die Akademie eingesandte Schriften anderer Autoren, seien diese natur- oder geisteswissenschaftlicher Provenienz.4 Sicher hat diese breitgefächerte Tätigkeit den universalen Charakter seines Denkens entscheidend mitgeprägt. Am 15. Januar 1728 wird Montesquieu in die Académie Française gewählt. Wegen seiner kritischen Haltung gegenüber politischen und religiösen Institutionen, ja gegenüber der Académie selbst, die er in seinem 1721 publizierten Erstlingswerk, den Lettres persanes, zum Ausdruck gebracht hatte, war diese Aufnahme zunächst nicht unumstritten;? doch schließlich konnte sich Montesquieu auch hier durchsetzen. In den 1740er Jahren nun sollte die Aufnahme in die Berliner Akademie folgen.6 Zwischenzeitlich hatte Montesquieu weiteren Ruhm ernten können. Nach dem großen Erfolg seines Briefromans, mit dem er sein Können als Schriftsteller bewiesen hatte, publizierte er 1734 die umfangreichen Considérations sur les causes de la grandeur des Romains et de leur décadence, mit welchen er sich als an der Antike geschulter Historiker präsentierte. Und es war bekannt, daß er seit dieser Zeit an einem umfangreichen Werk rechtspolitischen Charakters arbeitete, das demnächst vollendet werden sollte. In Berlin hatte Montesquieu einen Mentor - Pierre-Louis Moreau de Maupertuis, mit welchem er in gutem Einvernehmen war. Maupertuis war am 1. Februar 1746 von Friedrich II. zum Präsidenten der Académie Royale des Sciences et Belles-Lettres de Prusse ernannt worden. Mit dieser Ernennung und dem neuen Akademiestatut vom 10. Mai 1746 hatten die seit seiner Regierungsübernahme im Jahre 1740 einsetzenden Bemühungen des Preußenkönigs um eine grundlegende Reorganisation der Akademie ihren Abschluß gefunden. Schon frühzeitig schien ihm Maupertuis, seit 1735 Auswärtiges Mitglied der Berliner Akademie der Wissenschaften, die geeignete Person fiir das Präsidentenamt zu sein. Maupertuis genoß hohes wissenschaftliches Ansehen, hatte er doch durch die von ihm geleitete Gradmessungsexpedition nach Lappland in den Jahren 1736/37 den wissenschaftlichen Nachweis erbracht, daß die Newtonsche Auffassung von der Abplattung der Erdkugel an den Polen richtig ist. In Maupertuis sah Friedrich II. den Garanten fiir eine zu erneuernde Akademie, die sich dem neuen Zeitgeist der Aufklärung öffnen und eine zentrale Rolle im System der europäischen Akademien einnehmen sollte. Schon am 10. Juni 1741 hatte Maupertuis Francesco Algarotti mitgeteilt, daß ihn der König im Jahr zuvor an seinen Hof gerufen hätte, um eine Akademie zu gründen.7 Doch die beiden Schlesischen Kriege verzögerten die Reorganisation der Akademie, so daß Maupertuis 1741 unverrichteter Dinge nach Frankreich zurück-

4 5

Eingehender zu diesen Schriften vgl. Böhlke, Effi: »Esprit de nation«, S. 49 ff. Z u den Auseinandersetzungen, die Montesquieus Aufnahme in die Académie Française vorhergingen, vgl. Desgraves, Louis: Montesquieu, S. 155 ff.

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Z u den Beziehungen Montesquieus zur Berliner Akademie vgl. auch Herdmann, Frank: Montesquieurezeption in Deutschland im 18. und beginnenden 19. Jahrhundert, S. 127 ff. »J'avois eté apellé par le Roy pour venir fonder une Academie [...]«. Maupertuis, Pierre-Louis Moreau de: Brief an Algarotti vom 10. Juni 1741, Bl. iv.

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MONTESQUIEU UND DIE Académie Royale des Sciences et Belles-Lettres de Prusse

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kehrte. Erst im September 1745 kam er wieder nach Berlin, um bald darauf die Leitung der Akademie zu übernehmen. Als Akademiepräsident setzte er sich für die Berufung französischer Gelehrter in die Akademie ein, die als bedeutende Vertreter der Aufklärungsbewegung galten. So wurden in der Akademiesitzung am 2. Juni 1746 zunächst d'Alembert, eine Woche später dann Voltaire und La Condamine als auswärtige Mitglieder in die Akademie gewählt. Am 30. Juni 1746 wurden auf persönlichen Vorschlag Maupertuis' 20 weitere Mitglieder aufgenommen, unter ihnen »Montesquieu, President à Mortier du Parlement de Guyenne, & Γ un des quarante de l'Ac[adémie] Française]«. 8 Diese gezielte Aufnahmepolitik zeigt, daß auch durch Zuwahl hochrangiger Gelehrter zu auswärtigen Akademiemitgliedern das Ansehen der friderizianischen Akademie gesteigert werden sollte. Zu jenen damals berufenen Mitgliedern gehörten u.a. die bedeutenden Astronomen James Bradley aus London, Jacques Cassini und sein Sohn César François Cassini von der Sternwarte in Paris, Peter Nielsen Horrebow aus Kopenhagen, die bekannten Mathematiker Johann (II) und Daniel Bernoulli aus der Schweiz und Petrus van Musschenbroeck aus Utrecht sowie die berühmten Botaniker Karl von Linné aus Uppsala und Louis Guillaume Le Monnier aus Paris. Das nach seiner Zuwahl ausgestellte Mitgliedsdiplom fiir Montesquieu als Auswärtiges Mitglied der Berliner Akademie datiert vom 4. Februar 1747. Es ist mit dem Siegel der Akademie und den Unterschriften von Maupertuis, dem Präsidenten, und Formey, dem amtierenden Akademiesekretar, versehen. 9 Die Dispositio der Mitgliedsurkunde lautet: »Virum Excellentissimum, suisque titulis condecorandum Carolum Ludovicum Secondât de Montesquieu In Regiam nostram Academiam, hoc Diplomate suscipimus Eumque honore, privilegiis ef beneficiis Academicorum ordini concessis Rite ornamus.» Montesquieu hat sich in mehreren Schreiben fiir diese Ehrung bedankt, so in dem Brief an Maupertuis vom 25. November 1746, welchen Maupertuis in seiner Gedenkrede zitiert. Montesquieu schreibt hier u.a.: »Ich könnte Ihnen nicht sagen, mit welchem Respekt, mit welchen Gefühlen der Erkenntlichkeit und, wenn ich das zu sagen wage, mit welcher Freude ich aus Ihrem Brief die Nachricht erfahre, daß die Akademie mir die Ehre erweist, mich zu einem ihrer Mitglieder zu ernennen.«10

8

Vgl. das Protokoll der Akademiesitzung vom 30. Juni 1746 über die Zuwahl von Montesquieu ais Auswärtiges Mitglied der Académie Royale des Sciences et Belles-Lettres de Prusse, in diesem Band, S. 183.

9

Vgl. das Mitgliedsdiplom fiir Montesquieu als Auswärtiges Mitglied der Académie Royale des Sciences et Belles-Lettres de Prusse, in diesem Band, S. 184. Montesquieu: Brief an Pierre-Louis Moreau de Maupertuis vom 25. November 1746. Hier zitiert nach: Maupertuis, Pierre-Louis Moreau de: Herrn de Montesquieu zum Lobe. In diesem Band, S. 215.

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EFFI BÖHLKE, WOLFGANG KNOBLOCH

In gleicher Weise bedankt er sich in seinem Brief vom 3. Juni 1747 bei Jean Henri Samuel Formey, dem damaligen »Sekretär« der Akademie. 11 Hier heißt es: »Mein Herr, die grenzenlose Ehre, die mir die Akademie angetan hat, wird sehr gesteigert durch den Gedanken, daß ich sie aus Ihrer Hand, mein Herr, empfange. Ihnen werde ich wahrhaft verpflichtet sein. Wollen Sie bitte der Akademie meine Empfänglichkeit wie auch meine Erkenntlichkeit bekunden.« 12 Und angelegentlich erkundigt er sich, was er, um dieser Ehre zu genügen, für ein Werk einschicken müsse, in welchem Genre, doch schränkt er gleich ein: »Ich könnte kaum mehr bieten als ein Stück Belletristik oder einige kleine Beobachtungen, die ich auf meinen Reisen gemacht habe.« 13 In seinem Brief an Maupertuis von Ende Juni 1747 teilt er dem Adressaten die Gründe mit, welche ihn von einer Reise nach Berlin abhalten — Vergnügungen am Hofe Stanislaw Leszczmskis, aber auch sein gesundheitlicher Zustand, insbesondere seine Augenkrankheit. Wieder kommt er auf die Werke zu sprechen, die er für die Berliner Akademie zu verfassen gedenkt: »Ich habe Gott sei Dank die Werke, die ich begonnen hatte und die ich absolut machen wollte, zu Ende gebracht, und ich empfinde das Vergnügen, das man hat, wenn man vom Collège abgeht. Wenn ich wieder in Paris bin, nutze ich die Ehre, die mir die Akademie mit der Erlaubnis antut, etwas von mir in ihre schönen Werke einzureihen.«14 Das oben erwähnte gute Einvernehmen zwischen Montesquieu und Maupertuis beruhte nicht zuletzt auf einer gemeinsamen Gegnerschaft zu Voltaire: Montesquieu und letzterer standen zeitlebens in starker Konkurrenz zueinander, gerade auch was ihre Anerkennung als Historiker betraf, und Voltaire war wohl eifersüchtig darauf, daß Friedrich II. Maupertuis und nicht ihn zum Präsidenten der Akademie ernannt hatte. 1 ? Das schlägt sich auch im Briefwechsel nieder. Im Brief Montesquieus an Maupertuis vom 26. Januar 1754, also ein Jahr vor seinem Tode, verteidigt er diesen nämlich in einer Fehde gegen Voltaire. 16 Montesquieu schreibt: »Alles, was mir gefällt, ist, daß man Ihnen Gerechtigkeit widerfahren läßt

η

F o r m e y w a r erst ab 1 7 4 8 beständiger »Akademiesekretar« (alte deutsche Funktionsbezeichnung; frz. »secrétaire perpétuel«). In den Jahren 1 7 4 6 u n d 1 7 4 7 w a r er nur Sekretär-Adjunkt, der den überlasteten Akademiesekretar P. J . de Jariges unterstützen sollte. Bei Abwesenheit des letzteren n a h m F o r m e y in den Akademiesitzungen die Funktion eines »secrétaire adjoint« (»Sekretar-Adjunkt«, stellvertretender oder amtierender Sekretär) wahr. D a s Mitgliedsdiplom für M o n t e s q u i e u hat F o r m e y als amtierender Sekretär unterschrieben, da Jariges offensichtlich nicht zur Stelle war. Deshalb hat M o n t e s q u i e u sein Dankschreiben auch an F o r m e y als Akademiesekretar adressiert.

12

Montesquieu: Brief an Jean Henri Samuel F o r m e y v o m 3. J u n i 1 7 4 7 . In diesem Band, S . 189. V g l . ebenso das Protokoll der Akademiesitzung a m 15. J u n i 1 7 4 7 , in der dieses Dankschreiben verlesen wurde. In diesem B a n d , S . 191.

13

Montesquieu: Brief an Jean Henri Samuel F o r m e y v o m 3. J u n i 1 7 4 7 . In diesem B a n d , S. 189.

14

Montesquieu: Brief an Pierre-Louis M o r e a u de Maupertuis v o n E n d e J u n i 1 7 4 7 [ E n t w u r f ] . In diesem

15

V g l . D i e Registres der Berliner A k a d e m i e der Wissenschaften 1 7 4 6 - 1 7 6 6 . Einleitung, S . 38, 5 2 f.

B a n d , S. 1 9 4 . 16

E s handelte sich hierbei u m die A u s w i r k u n g e n eines Prioritätsstreits über das Prinzip der kleinsten A k t i o n , in den zunächst nur Maupertuis als Akademiepräsident u n d der Mathematiker J o h a n n Samuel K ö n i g , Auswärtiges M i t g l i e d der Berliner A k a d e m i e der Wissenschaften seit 1 7 4 9 , verwickelt waren. Letzterer hatee in einer Schrift E i n w ä n d e gegen das Prinzip der kleinsten A k t i o n , als dessen Entdecker sich Maupertuis verstand, erhoben u n d darüber hinaus behauptet, daß schon Leibniz in einem Brief

MONTESQUIEU UND DIE

Académie Royale des Sciences et Belles-Lettres de Prusse

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und daß Sie in Paris viel mehr Freunde haben, als Sie glauben. Ihr Widersacher destruiert sich selbst, indem er sich Tag fur Tag mehr besudelt: Um dieses Volk zu destruieren, brauchst Du sie nur machen zu lassen; die Universalgeschichte hat ihm das Tor von Paris verschlossen [...]« 1 7 Von den immer wieder angedeuteten und versprochenen, eigens fur die Berliner Akademie anzufertigenden Werken ist jedoch keines bekannt. Anders als fur die Akademie zu Bordeaux hat Montesquieu für die Berliner Akademie offenbar keine Schrift verfaßt - weder »ein Stück Belletristik« noch »einige kleine Beobachtungen«, die er auf seinen Reisen gemacht hat. Dennoch war die Berliner Akademie sehr stolz auf die Mitgliedschaft Montesquieus. Das kommt auch in der Gedenkrede zum Ausdruck, die Maupertuis am 5. Juni 1755 in einer öffentlichen Akademiesitzung auf den am 10. Februar desselben Jahres verstorbenen Montesquieu hielt. 18 Maupertuis beginnt diese Rede mit folgenden Worten: »Es ist keineswegs Brauch an dieser Akademie, lobend auswärtiger Akademiker, die wir verlieren, zu gedenken: Das wäre gewissermaßen ein Ubergriff auf die Rechte der Nationen, denen sie angehört haben. Aber es gibt Menschen, die so sehr über den Menschen einer jeden Nation stehen, daß keine mehr als die anderen berechtigt ist, sie ihr eigen zu nennen, und daß sie nur dem Universum gegeben erscheinen.«19 In seiner Rede würdigt Maupertuis Leben und Werk Montesquieus und stellt beides als vorbildlich und nachahmenswert dar. Doch nutzt er interessanterweise diese Gelegenheit zu einer Auseinandersetzung mit Montesquieu, was die den Gesetzen letztlich zugrunde liegenden Prinzipien anbelangt. Während Montesquieu in seinem Esprit des lois ein aller Gesetzgebung vorausgehendes Gerechtigkeits-Verhältnis (»rapport d'équité«) annimmt, schlägt Maupertuis vor, stattdessen eher von dem Prinzip des größten Glücks auszugehen.20 Darin jedoch, so Maupertuis, bestehe die einzige Differenz zwischen ihm und Montesquieu - trotz unterschiedlicher Ausgangsprinzipien kämen beide zu denselben Schlußfolgerungen.

aus d e m Jahre 1 7 0 7 an den Baseler Mathematiker J a c o b H e r m a n n dieses Prinzip aufgestellt habe. A l s Maupertuis die Veröffentlichung dieses Aufsatzes in den Akademieschriften ablehnte, ließ K ö n i g seine A r b e i t 1 7 5 1 in Leipzig erscheinen. Maupertuis betrachtete dies als A f f r o n t gegen sich u n d ließ die A n g e legenheit in der Akademiesitzung a m 7 . O k t o b e r 1751 erörtern. D i e A k a d e m i e forderte n u n K ö n i g auf, binnen vier W o c h e n das Original des Briefes v o n Leibniz an H e r m a n n vorzulegen. A l s i h m dies nicht gelang, zog die A k a d e m i e in ihrer Sitzung a m 13. April 1 7 5 2 den Schluß, daß die v o n K ö n i g in seinem Aufsatz zitierten Briefstellen v o n Leibniz eine Fälschung seien. N a c h diesem vernichtenden Urteil der A k a d e m i e blieb K ö n i g nichts anderes übrig, als sein Mitgliedsdiplom zurückzugeben. F ü r Voltaire war diese Auseinandersetzung ein willkommener A n l a ß , u m in mehreren Pamphleten gegen Maupertuis Partei zu ergreifen u n d diesen in boshafter Weise zu verspotten. Z w a r stand Friedrich II. loyal hinter seinem Akademiepräsidenten, ließ auch die Schmähschriften Voltaires verbrennen, doch hatte das wissenschaftliche Ansehen Maupertuis' unter dieser Kontroverse stark gelitten. 17

Montesquieu: Brief an Pierre-Louis M o r e a u de Maupertuis v o m 2 6 . Januar 1 7 5 4 . In diesem Band,

18

V g l . das Protokoll der öffentlichen Akademiesitzung a m 5. J u n i 1755, in der Akademiepräsident M a u -

19

Maupertuis, Pierre-Louis M o r e a u de: H e r r n de M o n t e s q u i e u z u m Lobe. In diesem Band, S . 2 0 3 .

20

V g l . ebenda, S . 2 0 8 ff.

S.199· pertuis die Gedächtnisrede auf Montesquieu hielt. In diesem Band, S . 2 0 0 f .

ι8ο

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Mehrere Akademiemitglieder haben sich in verschiedenen Akademievorträgen direkt auf Montesquieu bezogen, so etwa, und zwar durchaus kritisch, Johann Peter Süßmilch, der sich mehrfach mit der Bevölkerungstheorie Montesquieus auseinandersetzte, und zwar am 8. Februar 1753 und am 23. August 1759. 21 Die positiven Beziehungen der Académie Royale des Sciences et Belles-Lettres de Prusse zu Montesquieu beruhen in letzter Instanz auch auf dem Verhältnis Friedrichs II. als dem »protecteur«22 der Akademie zu ihm. Friedrich war nachweislich ein großer Bewunderer Montesquieus. Sicherlich lag das ganz auf der Linie seiner stark durch französisches Gedankengut geprägten Bildung, hatte er doch auch enge Beziehungen zu Voltaire und Diderot; und sicherlich spielt hier auch sein Ansinnen eine Rolle, sich als aufgeklärter Monarch zu gerieren. Doch ist sowohl seine tatsächliche Montesquieu-Lektüre nachweisbar wie auch seine Beeinflussung durch zentrale Ideen Montesquieus. In einem Brief an Maupertuis vom 15. November 1748 bezieht er sich, im Rahmen eines Gedichtes, u. a. auf die Lettres persanes und schreibt dort, daß (der Hauptheld) Usbek seinen Persern »ein tolles Gemälde unserer Sitten« gezeichnet habe.23 Auch die Considérations sur les causes de la grandeur des Romains et de leur décadence hat Friedrich aufmerksam studiert und mit zahlreichen Marginalien versehen, in welchen er seine durchaus kritische Einstellung zu bestimmten Anschauungen Montesquieus äußert und diese mit seinen eigenen Auffassungen und Erfahrungen vergleicht, insbesondere was die Rolle der »großen Männer« in der Geschichte anbelangt.2^ Ebenso hat Friedrich mit großer Wahrscheinlichkeit den Esprit des lois gelesen. Mit dem Gedankengut des Esprit hat er sich intensiv befaßt, auch wenn er ihn nicht direkt zitiert. 1749, ein Jahr nach der Veröffentlichung von Montesquieus Hauptwerk also, beendet er seine Dissertation sur les raisons d'établir ou abroger les lois (Über die Gründe, Gesetze einzufiihren und abzuschaffen), die am 22. Januar 1750 in der Akademie verlesen wird. 25 Darin heißt es u. a.:

21

22 23

24 25

Vgl. das Protokoll der Akademiesitzung am 8. Februar 1753, in der das Akademiemitglied Johann Peter Süßmilch einen gegen Montesquieu gerichteten Vortrag hielt. Mit seinem Vortrag wollte er den Beweis fuhren, daß das Christentum in keiner Weise gegen eine Vermehrung des menschlichen Geschlechts sei, wie Montesquieu sowohl in den Lettres persanes als auch im Esprit des lois behauptet hatte. Vgl. ebenso das Protokoll der Akademiesitzung vom 23. August 1759, in der Süßmilch eine Abhandlung über die Behauptungen Montesquieus zur Bevölkerung in Deutschland in der Zeit Julius Casars vortrug. Als »protecteur« wurde Friedrich II. nachweislich in einer gedruckten Mitgliederliste aus dem Jahre 1768 aufgeführt. »Là prenant une autre tournure, Chiche de mots, mais plein de sens, Usbec crayonne à ses Persans De nos moeurs la folle peinture.« Friedrich II.: Brief an Pierre-Louis Moreau de Maupertuis vom 15. November 1748, S. 234. Vgl. Montesquieu: Betrachtungen über die Ursachen von Größe und Niedergang der Römer. Mit den Randbemerkungen Friedrichs des Großen. V g l . das Protokoll der ö f f e n t l i c h e n A k a d e m i e s i t z u n g a m zz. J a n u a r 1 7 5 0 , in der das E h r e n m i t g l i e d

Claude Étienne Darget, Vorleser und Privatsekretär Friedrichs II., die Abhandlung des Königs vortrug.

MONTESQUIEU UND DIE Académie

Royale des Sciences et Belles-Lettres

de Prusse

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»Untersuchen wir das Verfahren der weisesten Gesetzgeber, so sehen wir ferner, daß die Gesetze der Regierungsform und dem Geist des Volkes, fur das sie bestimmt sind, angepaßt sein müssen, daß die besten Gesetzgeber das Gemeinwohl im Auge hatten, und daß im großen und ganzen, einige Ausnahmen abgerechnet, die Gesetze die besten sind, die der natürlichen Billigkeit am nächsten kommen [...] Die Gesetze müssen zum Geiste der Nation passen oder man darf nicht auf ihre Dauer hoffen.«26 Das aber sind zentrale Ideen aus De l'Esprit des lois. Montesquieu wiederum waren seine Beziehungen zu Friedrich II. sehr wichtig. Das geht auch aus dem hier schon angeführten Briefwechsel mit Mitgliedern der Berliner Akademie hervor: Es gibt kaum einen Brief, in dem er nicht auf Friedrich zu sprechen kommt, sich dafiir entschuldigt, daß er ihn aus gesundheitlichen Gründen nicht persönlich aufsuchen kann,27 oder darum bittet, diesem seine Erkenntlichkeit zu übermitteln und seine Bewunderung auszudrücken. So zitiert Maupertuis in seiner Gedenkrede aus Montesquieus Brief vom 25. November 1746: »Wenn Sie bei irgendeinem Gespräch mit dem König von meiner Erkenntlichkeit reden könnten und dies gelegen sein sollte, bitte ich Sie, das zu tun. Ich habe diesem großen Fürsten nur Bewunderung zu bieten, und auch darin habe ich nichts, was mich irgendwie von den anderen Menschen unterscheiden könnte.«28 Daß »die Welt« ihrerseits dem Verfasser des Esprit des lois Bewunderung entgegenbrachte, geht aus vielen Details hervor, nicht nur aus Wort und Schrift. Schon 1753, also fünf Jahre nach Erscheinen des Esprit des lois, entwarf J. A. Dassier eine Bronzemedaille, deren Vorderseite das Brustbild des C A R O L . D E SECONDÂT BARO DE M O N T E S Q U I E U zeigt. Auf der Rückseite hält ein weiblicher, in Wolken schwebender Genius das aufgeschlagene Buch des E S P R I T DES LODC in Händen, während Justitia, das Schwert zu Füßen, Waage und Tuch - die Symbole der Rechtssprechung - in Händen, sich dem Genius zuneigt.29

Literatur Böhlke, Effi: »Reisen — eine nützliche Übung«. Uber die Bildung von Denkstilen im Kontext von Reiseerfahrungen. In: Archiv fur Kulturgeschichte, Heft 1/1997, S. 51—82. Böhlke, Effi: »Esprit de nation«. Montesquieus politische Philosophie. Berlin 1999. Friedrich II.: Brief an Pierre-Louis Moreau de Maupertuis vom 15. November 1748. In: Briefwechsel Friedrichs des Großen mit Grumbkow und Maupertuis. Hrsg. von Reinhold Koser. Leipzig 1898, S. 233-238.

26 27

Friedrich II.: Uber die Gründe, Gesetze einzuführen oder abzuschaffen, S. 30. Vgl. Montesquieu: Brief an Pierre-Louis Moreau de Maupertuis von Ende Juni 1747 [Entwurf], In diesem Band, S. 195.

28

Vgl. Montesquieu: Brief an Pierre-Louis Moreau de Maupertuis vom 25. November 1746. In diesem Band, S. 215. In diesem Band, S. 196.

29

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Friedrich II.: Über die Gründe, Gesetze einzuführen oder abzuschaffen. In: Die Werke Friedrichs des Großen. Achter Band. Philosophische Schriften. Hrsg. von Gustav Berthold Volz. Deutsch von Friedrich von Oppeln-Bronikowski. Berlin 1913. Herdmann, Frank: Montesquieurezeption in Deutschland im 18. und beginnenden 19. Jahrhundert. Hildesheim, Zürich und New York 1990. Maupertuis, Pierre-Louis Moreau de: Brief an Algarotti vom 10. Juni 1741. In: Archiv der BBAW, Allgemeine Briefsammlung, Bl. IV. Montesquieu: Betrachtungen über die Ursachen von Größe und Niedergang der Römer. Mit den Randbemerkungen Friedrichs des Großen. Übersetzt und herausgegeben von Lothar Schuckert. Bremen 1958. Montesquieu: De l'Esprit des lois. In: Ders.: Œuvres complètes. Paris 1964, S. 527-808. Montesquieu: Mes voyages. In: Ders.: Œuvres complètes. Paris 1964, S. 211-363. Die Registres der Berliner Akademie der Wissenschaften 1746-1766. Hrsg. von Eduard Winter. Berlin 1957.

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