Modelle als Denkräume, Beispiele und Ebenbilder: Philosophische Dimensionen [1. Aufl.] 978-3-658-20114-2;978-3-658-20115-9

Das Buch macht bedeutende Modellschemata deutlich, die in der Kunstgeschichte/Philosophiegeschichte eine Rolle gespielt

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German Pages IX, 346 [356] Year 2018

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Modelle als Denkräume, Beispiele und Ebenbilder: Philosophische Dimensionen [1. Aufl.]
 978-3-658-20114-2;978-3-658-20115-9

Table of contents :
Front Matter ....Pages I-IX
Front Matter ....Pages 10-15
Platons Höhlengleichnis (Wolfgang Meisenheimer)....Pages 16-21
Der Monochord des Pythagoras (Wolfgang Meisenheimer)....Pages 22-25
Die Zeuxis-Legende (Wolfgang Meisenheimer)....Pages 26-29
Das Labor des Alchimisten (Wolfgang Meisenheimer)....Pages 30-33
Leonardo da Vinci (Wolfgang Meisenheimer)....Pages 34-39
Das Benimmbuch des Erasmus von Rotterdam (Wolfgang Meisenheimer)....Pages 40-43
Goethes und Wittgensteins Suche nach Mustern für Sprache und Wahrnehmung (Wolfgang Meisenheimer)....Pages 44-47
Karl Poppers cooler Traum (Wolfgang Meisenheimer)....Pages 48-51
Ernst Bloch (Wolfgang Meisenheimer)....Pages 52-55
Gilles Deleuze. Hermann Schmitz (Wolfgang Meisenheimer)....Pages 56-59
Front Matter ....Pages 60-65
Der Globus, die Armillarsphäre, Weltmodelle (Wolfgang Meisenheimer)....Pages 66-69
Portulane-Karten (Wolfgang Meisenheimer)....Pages 70-73
Die Notation von Sphärenmusik (Wolfgang Meisenheimer)....Pages 74-77
Kalenderbauten in Jaipur. (Wolfgang Meisenheimer)....Pages 78-81
Meru, der indische Weltenberg (Wolfgang Meisenheimer)....Pages 82-85
Idealstädte (Wolfgang Meisenheimer)....Pages 86-89
Das Pantheon in Rom (Wolfgang Meisenheimer)....Pages 90-93
Il Redentore, Venedig (Wolfgang Meisenheimer)....Pages 94-97
Étienne-Louis Boullée (Wolfgang Meisenheimer)....Pages 98-101
Souzhou (Wolfgang Meisenheimer)....Pages 102-105
Kare Sansui (Wolfgang Meisenheimer)....Pages 106-109
Der gotische Chor (Wolfgang Meisenheimer)....Pages 110-113
Der Turm von Babel (Wolfgang Meisenheimer)....Pages 114-117
Meine Wohnung als Mandala (Wolfgang Meisenheimer)....Pages 118-121
Mein Spiegelbild (Wolfgang Meisenheimer)....Pages 122-125
Mein Taschenkalender (Wolfgang Meisenheimer)....Pages 126-129
Die Maske. Die Rolle. Das Kostüm (Wolfgang Meisenheimer)....Pages 130-133
Puppen. Mumien. Fetische (Wolfgang Meisenheimer)....Pages 134-137
Mode, Models und modische Modelle (Wolfgang Meisenheimer)....Pages 138-141
Stars (Wolfgang Meisenheimer)....Pages 142-145
Auch die »natürliche Schönheit« ist ein Konstrukt (Wolfgang Meisenheimer)....Pages 146-149
Das ewig jugendliche Menschenbild als Werbeversprechen (Wolfgang Meisenheimer)....Pages 150-153
Pygmalion (Wolfgang Meisenheimer)....Pages 154-157
Der Maler und sein Modell (Wolfgang Meisenheimer)....Pages 158-161
Dass die Malerei Wirklichkeit imitieren soll… (Wolfgang Meisenheimer)....Pages 162-165
Die Wachsäpfel im Kloster Admont (Wolfgang Meisenheimer)....Pages 166-169
Spiele und Spielmodelle für Kinder und Künstler (Wolfgang Meisenheimer)....Pages 170-173
Alma, Kokoschkas Puppenfrau (Wolfgang Meisenheimer)....Pages 174-177
Automaten, Roboter, Cyborgs (Wolfgang Meisenheimer)....Pages 178-181
Das Atomium in Brüssel (Wolfgang Meisenheimer)....Pages 182-185
Die digitalen Wettermodelle (Wolfgang Meisenheimer)....Pages 186-189
Digitale Simulation durch mathematische Zukunftsmaschinen (Wolfgang Meisenheimer)....Pages 190-193
Das Yoni-Lingam (Wolfgang Meisenheimer)....Pages 194-197
Die Doppelhelix (Wolfgang Meisenheimer)....Pages 198-201
Étienne-Jules Marey und Eadweard Muybridge (Wolfgang Meisenheimer)....Pages 202-205
Hollywood (Wolfgang Meisenheimer)....Pages 206-209
Gunther von Hagens (Wolfgang Meisenheimer)....Pages 210-213
Kaufen, kaufen, kaufen! (Wolfgang Meisenheimer)....Pages 214-217
Front Matter ....Pages 218-223
Die Urhütte (Wolfgang Meisenheimer)....Pages 224-227
Rathas (Wolfgang Meisenheimer)....Pages 228-233
Mahabalipuram (Wolfgang Meisenheimer)....Pages 234-237
Tonmodelle (Wolfgang Meisenheimer)....Pages 238-241
Kuppelmodelle für den Florentiner Dom (Wolfgang Meisenheimer)....Pages 242-245
Die Klötzchen-Modelle in den Ateliers der Architekten (Wolfgang Meisenheimer)....Pages 246-249
Überredungsmodelle für Bauherren, Medien und Finanziers (Wolfgang Meisenheimer)....Pages 250-253
Nikolai Alexandrowitsch Ladowski, Moskau (Wolfgang Meisenheimer)....Pages 254-257
Wladimir Engrafowitsch Tatlin und Kasimir Severinowitsch Malewitsch (Wolfgang Meisenheimer)....Pages 258-261
Antoni Gaudí (Wolfgang Meisenheimer)....Pages 262-265
Le Corbusiers Modellbegriff (Wolfgang Meisenheimer)....Pages 266-269
Sigfried Giedion (Wolfgang Meisenheimer)....Pages 270-273
Richard Buckminster Fuller (Wolfgang Meisenheimer)....Pages 274-277
Bernard Tschumi (Wolfgang Meisenheimer)....Pages 278-281
Walter Pichler (Wolfgang Meisenheimer)....Pages 282-285
O. M. Ungers (Wolfgang Meisenheimer)....Pages 286-289
Peter Eisenman (Wolfgang Meisenheimer)....Pages 290-293
Daniel Libeskind (Wolfgang Meisenheimer)....Pages 294-297
Lebbeus Woods (Wolfgang Meisenheimer)....Pages 298-301
James Turrell (Wolfgang Meisenheimer)....Pages 302-305
Aldo Rossi (Wolfgang Meisenheimer)....Pages 306-309
Hannsjörg Voth (Wolfgang Meisenheimer)....Pages 310-313
Raimund Abraham (Wolfgang Meisenheimer)....Pages 314-317
Anne und Patrick Poirier (Wolfgang Meisenheimer)....Pages 318-321
Constantin Brancusi (Wolfgang Meisenheimer)....Pages 322-327
Hans Dieter Schaal (Wolfgang Meisenheimer)....Pages 328-331
Modelle für Netzwerke und Membranen (Wolfgang Meisenheimer)....Pages 332-335
Thomas Schütte und die »Düsseldorfer Denkmodelle« (Wolfgang Meisenheimer)....Pages 336-339
Die Metropolen der Erde (Wolfgang Meisenheimer)....Pages 340-343
Die Welt geht uns verloren. Modelle aber vermehren sich inflationär (Wolfgang Meisenheimer)....Pages 344-347
Über Modelle (Wolfgang Meisenheimer)....Pages 348-351
Back Matter ....Pages 352-356

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Wolfgang Meisenheimer

Modelle als Denkräume, Beispiele und Ebenbilder Philosophische Dimensionen

Modelle als Denkräume, Beispiele und Ebenbilder

Wolfgang Meisenheimer

Modelle als Denkräume, Beispiele und Ebenbilder Philosophische Dimensionen

Wolfgang Meisenheimer Düren, Deutschland

ISBN 978-3-658-20115-9  (eBook) ISBN 978-3-658-20114-2 https://doi.org/10.1007/978-3-658-20115-9 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2018 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Springer ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH und ist ein Teil von Springer Nature Die Anschrift der Gesellschaft ist: Abraham-Lincoln-Str. 46, 65189 Wiesbaden, Germany

Inhalt

I Denkräume als Modelle. Philosophische Dimensionen. I

Einführung I 12

I/1

Platons Höhlengleichnis. Anthropologische Grundlagen. 16

I/2

Der Monochord des Pythagoras. Sphärenharmonie. 22

I/3

Die Zeuxis-Legende. Zum Verwechseln ähnlich. 26

I/4

Das Labor der Alchimisten. Die Welt im Experiment. 30

I/5

Leonardo da Vinci. Seine Welt als Experimental-Labor. 34

I/6

Das Benimmmbuch des Erasmus von Rotterdam. 40

I/7

Goethes und Wittgensteins Suche nach Mustern für Sprache

I/8

Karl Poppers cooler Traum. Trial and Error. 48

I/9

Ernst Bloch. Eine Philosophie der offenen Möglichkeiten. 52

I / 10

Gilles Deleuze und Hermann Schmitz.

und Wahrnehmung. 44

Das Vorläufige der philosophischen Begriffe. 56

II Modelle als beispielhafte Dinge. Als Werkzeuge der Produktion. II

Einführung II 62

II / 1

Der Globus und die Armillarsphäre, praktische Weltmodelle. 66

II / 2

Portulane-Karten. Spiegel der Meere und der Länder. 70

II / 3

Die Notation von Sphärenmusik. 74

II / 4

Kalenderbauten in Jaipur. Bauwerke als astronomische Instrumente. 78

II / 5

Meru, der indische Weltenberg. 82

II / 6

Idealstädte. Kreis und Quadrat als mythische Figur. 86

II / 7

Das Pantheon in Rom. Ein Weltmodell, magisch-mythisch und machtpolitisch. 90

II / 8

Il Redentore, Venedig. Der ideale Anblick. Architektur für Betrachter. 94

II / 9

Étienne-Louis Boullée. Der Kenotaph für Newton, ein Umkehrmodell. 98

II / 10

Souzhou. Philosophische Gärten bei Shanghai. 102

II / 11

Kare Sansui. Japanische Trockengärten. 106

II / 12

Der gotische Chor. Ein Blick in den Himmel. 110

II / 13

Der Turm von Babel. Das Modell aller Wolkenkratzer. 114

II / 14

Meine Wohnung als Mandala. 118

II / 15

Mein Spiegelbild. 122

II / 16

Mein Taschenkalender. 126

II / 17

Die Maske. Die Rolle. Das Kostüm. 130

II / 18

Puppen. Mumien. Fetische. 134

II / 19

Mode, Models und modische Modelle. 138

II / 20

Stars. Wer ist ein Darsteller? 142

II / 21

Auch die »natürliche Schönheit« ist ein Konstrukt. 146

II / 22

Das ewig jugendliche Menschenbild als Werbeversprechen. 150

II / 23

Pygmalion. Zum Verlieben schön. 154

II / 24

Der Maler und sein Modell. 158

II / 25

Dass die Malerei Wirklichkeit imitieren soll... 162

II / 26

Die Wachsäpfel im Kloster Admont. 166

II / 27

Spiele und Spielmodelle für Kinder und Künstler. 170

II / 28

Alma, Kokoschkas Puppenfrau. 174

II / 29

Automaten, Roboter, Cyborgs. Maschinen in Menschengestalt. 178

II / 30

Das Atomium in Brüssel. Mikrowelt im städtebaulichen Maßstab. 182

II / 31

Die digitalen Wettermodelle. 186

II / 32

Simulation der Erlebniswelt durch mathematische Zukunftsmaschinen. 190

II / 33

Das Yoni-Lingam. Ein hinduistisches Schöpfungsmodell. 194

II / 34

Doppelhelix. Eine magische Gestalt in der Mikro- und Makrophysik. 198

II / 35

Étienne-Jules Marey und Eardweard Muybridge. Bewegungsfotografie. 202

II / 36

Hollywood. Vom Drehbuch zum Set. 206

II / 37

Gunther von Hagens. Plastinate. Kunststoff-Mumien. 210

II / 38

Kaufen, kaufen, kaufen! Zivilisation und Konsum. 214

III Architekturmodelle. Arbeitsmodelle, Überredungsmodelle, Erinnerungsmodelle. III

Einführung III 220

III / 1

Die Urhütte. Ein Bild für den Anfang der Architektur. 224

III / 2

Rathas. Indische Tempelmodelle. 228

III / 3

Mahabalipuram. Ein typologisches Labor in Granit. 234

III / 4

Tonmodelle. Lebensbilder aus dem alten Ägypten. 238

III / 5

Kuppelmodelle für den Florentiner Dom. 242

III / 6

Die Klötzchen-Modelle in den Ateliers der Architekten. 246

III / 7

Überredungsmodelle für Bauherren, Medien und Finanziers. 250

III / 8

Nikolai Alexandrowitsch Ladowski, Moskau. Elementare Modelle für die Gestaltungslehre. 254

III / 9

Wladimir Engrafowitsch Tatlin und Kasimir Severinowitsch Malewitsch. Konstruktivistische und suprematistische Modelle. 258

III / 10

Antoni Gaudí. Architektonische Umkehrfiguren. 262

III / 11

Le Corbusiers Modellbegriff. 266

III / 12

Sigfried Giedion. Modelle für die Piloten des Raumschiffs Erde. 270

III / 13

Richard Buckminster Fuller. Die Dymaxion-Weltkarte. 274

III / 14

Bernard Tschumi. La Villette, Paris, eine philosophischer Collage. 278

III / 15

Walter Pichler. Die Zeichenwelt der magischen Bilder. 282

III / 16

O. M. Ungers. Morphologische Variationen. 286

III / 17

Peter Eisenman. Das House X-Projekt als Dekomposition. 290

III / 18

Daniel Libeskind. Intelligente Bruchstücke. 294

III / 19

Lebbeus Woods. Centricity, Architekturvisionen im Weltraum. 298

III / 20

James Turrell. Wahrnehmungsgeräte. 302

III / 21

Aldo Rossi. Ein Welttheater für Venedig. 306

III / 22

Hannsjörg Voth. Orion, ein Kosmosbild in der Sahara. 310

III / 23

Raimund Abraham. Bühnen der Sehnsucht, moderne Romantik. 314

III / 24

Anne und Patrick Poirier. Städte der Erinnerung. 318

III / 25

Constantin Brâncuĵi. Atelierfotos als Stadtbilder. 322

III / 26

Hans Dieter Schaal. Literarische und graphische Architekturmodelle. 328

III / 27

Modelle für Netzwerke und Membranen. 332

III / 28

Thomas Schütte und die »Düsseldorfer Denkmodelle«. 336

III / 29

Die Metropolen der Erde. Museen unserer Zivilisation. 340 Die Welt geht uns verloren. Modelle aber vermehren sich inflationär. 344 Über Modelle. Zum Schluss eine Vermutung. 348

Abbildungsverzeichnis 352

I

Denkräume als Modelle. 10

Philosophische Dimensionen.

12

Einführung

Modelle gehören zum Leben. Wahrnehmung und Vorstellung, Erlebnis und Erkenntnis sind von Modellen abhängig so wie das Handeln, die Körperbewegung, die geistvolle Erfindung, Technik, Kunst und darüber hinaus alle Vorgänge der Verständigung. Aber: Was ist ein Modell? Wodurch unterscheidet es sich von den wahrnehmbaren Dingen oder von sozialen und schöpferischen Vorgängen? Warum nutzen Künstler und Wissenschaftler mehr und mehr Modellstrukturen bei der Entwicklung ihrer Projekte? Welche Rolle spielen Modelle im Handlungszusammenhang des Alltagslebens? Und wie kommt es zu dieser überbordenden Fülle von Varianten? Als Architekt, Spaziergänger unter den Philosophen, möchte ich auf eine Reihe von faszinierenden Beispielen von Modellstrukturen aufmerksam machen, die mich seit Jahren als Denkwerkzeuge begleiten und fördern. Sie sind von dreierlei Art: 1. Modelle mit philosophischer Struktur, Denkfiguren, die bei vielerlei Erkenntnisvorgängen und beim Machen zur

Verfügung stehen, nicht nur in der Kunst. 2. Vorbildliche Dinge, das sind materiell hergestellte Modelle mit der Aufgabe, Ordnung zu erzeugen. Insbesondere dabei 3. die Architekturmodelle in mehreren Varianten: als Arbeitshilfen, als Objekte der Erinnerung und als Werbematerial. Aufgaben und Ziele aller Modelle: Modelle sind ausdrücklich auf Zukunft angelegt; sie wollen die sinnvolle Fortführung einer gegenwärtigen Situation in eine Zukunft hinein. Sie können allerdings auch Bewährtes festhalten und zur Nachahmung empfehlen, Traditionen deutlich machen. In diesem Sinne sind sie pädagogisch sinnvolle Werkzeuge; sie helfen, sich zu erinnern und zugleich, Möglichkeitsdimensionen darzustellen; sie sind Wegweiser für jemand, der an Veränderung denkt. Sie vervielfältigen die Wirklichkeit durch utopische Züge und geben Anstöße, sinnvoll zu handeln. Sie verbinden das Sein mit dem Tun. Modelle meinen mit ihren Erscheinungsbildern Typisches, nicht einmalige

I

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Wahrnehmungen oder einmalige Situationen. Schon die steinzeitlichen Wandmalereien von Lascaux (15000– 17000 v. Chr.) bilden Wahrnehmungsdinge und Erlebnissituationen ab, meist Jäger und Tiere, aber sie lassen das existentielle Interesse der Maler an den Darstellungen erkennen, nicht einmalige Beobachtungen, vielmehr sich wiederholende, typische Szenen und Gefühle. Konkrete Erfahrungen werden als etwas Schicksalhaftes dargestellt, auf das man sich existentiell einstellen muss, das magisch wirksam ist und wiederkommen wird. Die Malerei weist über das Einmalige hinaus; sie vertieft die GegenwartWirklichkeit in einen geistigen Raum hinein. So wird das Jagderlebnis durch seine Darstellung auf einer Felswand mit Modellvorstellungen versorgt. Der Handlungsraum der Jäger wurde durch die Abbildungen zauberhaft bereichert. So funktioniert ja bis heute alle Kunst: Aus einem Wahrnehmungsraum wird durch eine schöpferische Handlung ein Vorstellungsraum, angefüllt mit Sinnlichem und Geistigem. Das Kunstwerk als ein geistiges Werk löst die Aufmerksamkeit seiner Erfinder und

Betrachter vom vitalen Erleben ab. Schon die frühen und frühesten Werke der Kulturgeschichte, Bilder, Schriftzeichen, Gebäudestrukturen waren in diesem Sinne Ewigkeitswerke, d. h. über das Jetzt und Hier hinaus führende Utopien einer gedachten Welt. Schon die Körperwelt des Menschen ist von modellhaften Zügen durchdrungen; Das Handeln des Leibes, mit Sinnen und Verstand auf der Suche nach Zielen, ist durch Vorbilder geleitet. Die Richtung der Schritte, die Gestik der Hände, die alltäglichen Körperrituale beim Sich-Erheben, Setzen, Springen, Gehen, Sich-Niederlegen, Umarmen, Dinge-Festhalten etc. sind mit Modelltendenzen ausgestattet. Der Leib holt Erfahrungen aus der Vergangenheit zurück und macht beim Agieren sogar sein genetisches Erbe verfügbar; er »weiß« von möglichen Risiken, Folgen und Wirkungen. In den Handlungen des Leibes liegt ZukunftWissen, er denkt, indem er handelt. Seit seiner Vorgeschichte, also seit 1,5 Millionen Jahren, verfügt der Homo sapiens über diese ahnungsvollen Fähigkeiten. Allerdings: Das ausdrückliche

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Wissen über Modellstrukturen, erst recht das verbalisierte, in Begriffen wiederholbare, gibt es in Europa erst seit der frühen griechischen Philosophie, dem Entstehen der Erkenntnistheorie und Naturwissenschaft, also seit ca. 450 v. Chr. Parmenides berichtet noch im Ton der magischen Erzählung von der Entstehung des »Wissens vom Wissen«, d. h., er unterscheidet Arten der Erkenntnis und bringt damit die Konzeption eines wahrnehmenden und denkenden Subjekts gegenüber einer Welt von Dingen in die Denklandschaft der europäischen Philosophie. Plato instrumentiert dann die Welt der Ideen, indem er ihr einen höheren Wert zuschreibt als der sinnlichen Wahrnehmung. Ideen sollen Situationen steuern, das Denken beherrscht seitdem das Physische, es wird dem Leben des Leibes vorgeordnet. Philosophische Figuren sind das ganze Mittelalter hindurch, bis in die Gegenwart hinein, Modelle des Seins. Während der gesamten Kulturgeschichte wurde um geistige, besonders um religiöse Denkfiguren erbittert und unbarmherzig gekämpft, oft bis zur Vernichtung der Gegner.

Die Intolleranz wird meist begründet mit der angeblichen Ungültigkeit, Falschheit des jeweils anderen Systems und der Überheblichkeit des ideologischen Gegners. Fast alle Kriege der Welt waren in solchen Missverständnissen begründet, auch Hitlers fataler Vernichtungskrieg. Erst in jüngster Zeit werden um den Demokratie-Begriff Instrumente der Duldung entwickelt. Der moderne Homo sapiens muss seine Lebensformen entwickeln können, auch wenn seine Nachbarn von anderen ideologischen Systemen überzeugt sind. Alle Modelle sind zielgerichtet. Sie zeigen Strategien auf, in einem Handlungszusammenhang etwas zu erreichen. In den Bereichen Gesellschaft und Politik werden sie benutzt, um Macht zu etablieren, zu erhalten oder zu zerstören. In den Bereichen Technik und Kunst werden sie offen konzipiert, d. h. spielerisch, um sie als Entwicklungsinstrumente bei der Produktion von Dingen einzusetzen. Das Wissen um Modelle wird in Schulen, Werkstätten und Labors weitergegeben. Modellstrukturen sind nützlich beim Ausprobieren unbekannter Wege.

I

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Der Philosoph Karl Popper hat eindrucksvoll gezeigt, wie in Probesituationen Vorschläge und Hypothesen benutzt und wieder verworfen werden. Er stellte die Kulturgeschichte als eine Akkumulation von Modellvorschlägen, eine Folge von Trial-and-Error-Situationen vor. Modelle versuchen, durch Vereinfachung der Wirklichkeit sinnvolle Veränderungen aufzuzeigen. Sie wollen verständlich sein und bleiben häufig auf wenige Züge des angestrebten Ideals beschränkt. Die Konsequenz ist: Sie stellen die Wirklichkeit dar, aber sie vernachlässigen deren Komplexität. Aber auch umgekehrt: Sie zielen auf das Hervortreten bestimmter Merkmale und tragen dadurch zum Verständnis einer Idee bei, eindeutig, klar und herausfordernd. Die Geschichte des Modellbegriffs hat sich nach ihren ersten Höhepunkten in der griechischen Antike (um 450 v. Chr.), in der Kunst der Renaissance (um 1500 n. Chr.) und der französischen Revolutionsarchitektur (um 1790 n. Chr.) bei der Entfaltung von Naturwissenschaft und Technik sprunghaft entwickelt. Durch die Kybernetik (Norbert Wiener,

Ch. S. Pierce etc.) wurde die Darstellung der modernen Wirklichkeit durch ZeichenBegriffe begründet; diese wiederum leiteten die Ausbreitung der digitalen Medienwelt und die Herrschaft der Computer ein. Während die technische Entwicklung seitdem zu unermesslicher Leistungfähigkeit von Geräten und Systemen führte, blieb die sinnliche Kultivierung der Leibwelt des Menschen unverhältnismäßig weit zurück. Die Erlebnisfähigkeit des Körpers wird durch den rational-technischen Vordergrund unserer Zivilisation vernachlässigt. Wie in der Frühzeit der europäischen Kultur durch Platos Ideenlehre die elementaren Erkenntnisfähigkeiten des Leibes angezweifelt wurden und dann durch die Bemühungen des christlichen Kirchenvaters Augustinus geradezu verloren gingen, so ist in unserem digitalen Zeitalter der Leib, unser kostbarstes Erkenntnisgerät, ebenfalls gefährdet. Er droht, durch die rigorosen technischen Dressuren der globalen Zivilisation seine Würde zu verlieren. Die modische Vergöttlichung des Körpers, manipulierbar und »schön«, gerät dabei ins Puppenhafte.

16

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2018 W. Meisenheimer, Modelle als Denkräume, Beispiele und Ebenbilder, https://doi.org/10.1007/978-3-658-20115-9_1

Platons Höhlengleichnis. Anthropologische Grundlagen. 16

I/1

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Zu den Anfängen des »Denkens über das Denken« in Europa gehört sogleich der Entwurf eines berühmten Modells, Platons Höhlengleichnis. Es ist ein Modell aus Worten, eher ein poetischer Text als eine philosophische Abhandlung und stellt eine Theaterszene dar, deren Bedeutung sich auf das Denken über die Welt bezieht, ein schaurig schönes, szenisches Bild. Anschaulich und konkret wird eine Gruppe von Menschen beschrieben, ihre Wahrnehmungen und Vermutungen, ihre Empfindungen und ihr Denken. Aber der Bedeutung dieses Textes kann man sich nur indirekt annähern, denn mit den Figuren der Szene sind wir gemeint, die Leser und Betrachter, jedermann. Das Höhlengleichnis will etwas sagen

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über die Erkenntnisbedingungen der wahrnehmenden und denkenden Menschen überhaupt. Die Szene, in Buch 7 von Platons Werk Der Staat in Form eines philosophischen Gespräches mitgeteilt, hat dort eine bestimmte pädagogische Funktion; ein komplizierter rationaler Zusammenhang wird geradezu bildlich dargestellt und dadurch einfach fassbar. Eine etwa folgende Handlung spielt sich unterirdisch ab. Man solle sich eine Gruppe von Sklaven vorstellen, die, lebenslänglich an Hals und Beinen gefesselt, unten in einer Höhle sitzt und auf eine Felswand starrt. Diese erbarmenswerten Menschen können nicht erkennen, wie die Schattenbilder zustande kommen, die hinter ihnen, am Eingang der Höhle, von Passanten mit ihren Körpern, Krügen etc. erzeugt werden, indem die Sonne ihre Schatten ins Innere der Höhle wirft. Dann wird im Gespräch gerätselt, was wohl einer der Gefangenen denken und bei seiner Rückkehr empfinden und erzählen würde, wenn man ihn entfesseln und einmal nach draußen vor die Höhle bringen würde, und wie

man ihn nach seinen Berichten über den wahren Sachverhalt, die Sonne, die Dinge da oben und die Schatten hier unten, auslachen würde und dann jeder Versuch zu verhindern wäre, jemals wieder einen Gefangenen nach oben zu bringen. Das Bild wird ganz konkret ausgebreitet, anschaulich und dramatisch im Ablauf. Genauso klar ist aber, dass Platons Diktion eine Verfremdung, ein Konstrukt ist, dessen Schärfe und Übertreibung eine logische Denkfigur aufzeigen will und verständlich macht. Die Schatten in der Höhle stehen für die sinnliche Wahrnehmungswelt, für erfahrbare Dinge, die Sonne draußen dagegen für die Ideenwelt, das gestalterzeugende Prinzip. An das eine ist man lebenslänglich gebunden, das andere bleibt unerreichbar, wenngleich es die Formen der Erlebniswelt begründet. Das Höhlengleichnis ist nur 4 Abschnitte lang, etwa 110 Zeilen, und wurde ca. 450 v. Chr., am Anfang der europäischen Philosophiegeschichte, geschrieben, aber es sagt auf knappstem Raum mehr

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In Worten mitgeteilt, eine gedachte, aber anschauliche und einprägsame Szene: Bühnendichtung!

über Platons Erkenntnistheorie als alle möglichen logischen Diskurse. Bis heute gibt es die lebhaftesten Anstöße, über das Denken nachzudenken, obgleich es »nur« ein Bildbeispiel ist für das eigentlich Gemeinte. Mit diesem stellvertretenden Moment, dem Hinweischarakter eines Bildes, das auf logische Denkfiguren hindeutet, wurde eine Art des Philosophierens begründet, die als »Modelldenken« bezeichnet werden kann. In der philosophischen Akademie von Athen, besonders in den Vorlesungen des Aristoteles (384–322 v.Chr.) wurde die Eigenart des Menschen im Unterschied zu Tieren besonders in seiner Fähigkeit gesehen, Ähnlichkeiten zu erkennen und zu reproduzieren. Aristoteles, der Schüler Platons, ging davon aus, dass das mimetische Vermögen des Menschen nicht nur die Grundlage aller Künste, sondern auch der Naturwissenschaften, etwa der Physik und ihrer technischen Realisierungen, sei. »Denn der Nachahmungstrieb ist dem Menschen von Kindheit an angeboren, und dadurch unterscheidet er sich von den übrigen lebenden Wesen, dass er am meisten Lust zur Nachahmung hat und dass er seine ersten Fertigkeiten

durch Nachahmung erwirbt, und dann haben alle Menschen Freude an der Kunst der Nachahmung.« (Aristoteles, Poetik I) Und weiter: »Im Allgemeinen führt die Kunst teils das zu Ende, was die Natur hervorzubringen nicht vermögend ist, teils ahmt sie deren Erzeugnisse nach.« (Aristoteles, Physik I) Mimikry, Imitation, Darstellung, Identifikation, Mimesis, alle diese anthropologischen Begriffe umkreisen die Erfahrung, welche die Erkenntnis mit Ähnlichkeit verknüpft. Man findet sie vor allem in Aristoteles’ Poetik, die nicht nur diverse Formen der Dichtkunst, sondern auch Arten der darstellenden Künste differenziert. Sie behielt während des ganzen Mittelalter und bis in die Neuzeit hinein ihre Gültigkeit. Dem unwiderstehlichen Nachahmungstrieb habe der Mensch nicht nur die Entwicklung der Künste zu verdanken, die als grundsätzlich nachahmend beschrieben werden, sondern überhaupt die sinnvolle Einordnung menschlicher Werke in den Kosmos der Natur. Erkenntnis und mimetische Kreativität seien miteinander verknüpft, sowohl im Sinne von Wahrnehmung und Erinnerung als auch

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im Sinne von Projektion und Erfindung. Bei den Methoden der Nachahmung unterscheidet Aristoteles dreierlei Motive, erstens die Darstellung der Dinge, wie sie sind oder waren, zweitens die Darstellung von Schein und drittens die Darstellung von Möglichkeiten. Diese Unterscheidungen von Varianten der Mimesis hat die Kunstgeschichte während des ganzen Mittelalters beflügelt, und sie eröffnete vom Aufbruch der Moderne bis heute eine geradezu explosive Entwicklung von Spielarten des mimetischen Denkens und Poduzierens. Die Begriffe Abbild, Zeichen, Modell und Darstellung sind zu Schlüsselbegriffen der modernen Kunsttheorie geworden. Einen besonderen Schub hat das Modelldenken beim Aufbruch der Moderne durch die Entwicklung der Kybernetik erfahren, als es galt, zeichentheoretische Sprachelemente zu entwickeln. Man begann, die Verständigung über die Dingwelt und objektive Vorgänge von ihren materiellen Orten zu lösen und mit elektronischen Mitteln auszutauschen. Das Zeitalter der digitalen Sprachen ist inzwischen von Simulationstechniken beherrscht, die sich bald dem

Analogen, Bildähnlichen, annähern, bald von ihm entfernen. So ist unser Erlebnisraum zunehmend durchsetzt von Zeichencharakteren, der Wahrnehmungsraum von Abstraktionen, das Sinnliche vom Vorgestellten. Nicht nur die Arbeitsplätze der Wissenschaftler und Künstler haben heute den Charakter von experimentellen Laboren für Simulation; auch die private Umwelt der Bürger und der öffentliche Raum sind Bühnen für simulative Zeichen. Eine der Konsequenzen ist: Ohne ständige Lernvorgänge, Informationen etc. wäre ein Leben auf unserem Planeten kaum noch möglich. Ein noch so gesunder Simplizissimus könnte ohne ihren Gebrauch nicht einen einzigen Tag überleben. Der Pilot, der Techniken der vergleichenden Navigation beherrscht, ist hingegen zum Typus des modernen Menschen geworden. Walter Benjamin (1892–1940) stellt die Aristotelische Mimesis-Theorie in den Mittelpunkt seiner Konzeption der Kulturgeschichte; diese könne als eine »Geschichte des mimetischen Vermögens« der Menschheit verstanden werden. Auch Georg Lukács (1885–1971)

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macht auf die Geschichte der Zivilisation als einer Kette von mimetischen Arbeitsprozessen aufmerksam, die durch die Entwicklung der Sinne herbeigeführt werde. »Ästhetische Mimesis ist für Lukács weltschaffende Mimesis. Produktion von Wirklichkeitsmodellen in der ästhetischen Form je individueller Werkwelten« (Thomas Metscher, Mimesis). Ob der Modell-Charakter eher bildlichanschaulich oder eher abstrakt-schematisch, szenisch komplex oder figurativ gemeint ist – immer sind zwei Wirklichkeiten ausdrücklich miteinander verknüpft und immer ist die Verknüpfung dargestellt durch ein Werk. Die beiden Wirklichkeiten müssen dabei nicht ganz und gar einander ähneln; mimetische Ähnlichkeit ist auch dann gegeben, wenn nur wenige, ausgewählte Eigenschaften einer Struktur bildlich übertragen werden. Das aber gehört definitorisch zum Modell, von welcher Art es auch sei, dass es einer anderen, gemeinten Wirklichkeit mimetisch ähnelt und dass es zu einem Herstellungsvorgang anregt. Es trägt also nicht nur symbolisch Züge der

Schöpfungsvorgänge, die seit Aristoteles Charakteristika menschlichen Geistes sind, sondern es ist konkret auf Machbarkeit hin angelegt. In diesem Vermittlungsvorgang, den ein Modell (jedes Modell!) zu bewältigen hat, zu dessen Durchführung es hergestellt wird, ist auf bedeutende Weise Zwittriges enthalten. Einerseits stellt das Modell ein Lern-Objekt dar, eine Form, die sich auf Bekanntes bezieht, die etwas »Wesentliches« davon festhalten will; das ist sein konservativer Charakter; er bezieht die Vergangenheit ein und betont das historisch Bewährte. Andererseits eröffnet das Modell die Arbeit an der Zukunft, an den Dimensionen offener Möglichkeiten, also eigentlich noch Unbekanntem; das ist sein utopischer Charakter; er ist angesiedelt im Bereich von Wagnis und Unsicherheit. Eine Modell-Theorie muss also notwendig zwittrig sein – wie jede kreative Arbeit.

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Der Monochord des Pythagoras. Sphärenharmonie. 22

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Pythagoras von Samos (570–500 v. Chr.) hat ein Musikinstrument gebaut, das er als eine Art philosophisches Modell seiner Kosmologie benutzte, einer Harmonielehre, die sowohl auf die Astronomie und die Götterwelt als auch auf die Musik anwendbar war, also wissenschaftliche, magische und künstlerische Bedeutung hatte. Das Instrument verfügt über 1 Saite, die über einen Resonanzkasten beliebiger Form und 2 Stege gespannt ist. Wird die Saite in der Nähe des 0-Punktes, also einem der Stege angeschlagen oder gezupft, so gibt sie einen Ton. Wird sie durch einen dritten Steg im Verhältnis ganzer Zahlen geteilt, also verkürzt, z. B. 3 : 4, 2 : 3 oder 1 : 2, so ergeben sich

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prägnante Töne, etwa Quart, Quint oder Oktav, die in harmonischem Verhältnis zueinander stehen. Pythagoras gab diesem einfachen Instrument einen hohen philosophischen Rang, weil es die sinnlich wahrnehmbare Schönheit einerseits und eine rationale Zahlenordnung andererseits in Bezug zueinander zeigt. Die Pythagoräer gingen davon aus, dass die Verquickung von Schönheit und Ordnung das göttliche Moment im Kosmos ausmache und die Sternenwelt genauso bestimme wie die Werke der Menschen, Musik, Architektur etc. Die harmonischen Phänomene, mit Zahlen belegbar, ließen sich im Naturkosmos auffinden und ebenso als Proportionen, die als Arbeitsinstrumente der Künstler zu verstehen sind. Die Idee der Schönheit war in mathematischen Verhältnissen darstellbar; sie wurde »erklärt« durch die harmonische Teilung eines Ganzen; sie verband die Vorstellung vom apollinischen Sein der vorgegebenen Dinge mit Technik und Kunst, also menschlicher Produktion. Das Regelwerk war lehrbar; der Monochord war als

Modell baubar und spielbar. Alle Werke, musikalische, architektonische, Landschaftsgestaltung, Tanz sowie das Design, wie wir sagen würden, die brauchbaren Dinge, sollten harmonische Ähnlichkeit mit diesem Instrument haben. Es war die Grundlage für die Suche nach der kosmischen Ordnung, die man als »Sphärenmusik« verstand, sowie für die Disziplinierung von Technik und Kunst, deren Schönheit im göttlichen Wesen begründet war. So konnte man garantieren, dass in der kreativen menschlichen Arbeit das Reglement der Götter nicht verloren ging. Da die Definition eines »harmonischen Ganzen«, wie der Monochord es zeigte, durch mathematische Proportionen ausgedrückt war, ließ sich das Prinzip ohne Schwierigkeit aus dem Bereich hörbarer Harmonie auf alle Wahrnehmungsbereiche ausweiten. Die Qualitäten der »schönen« oder »guten« Gestalt waren durch Messen nachzuweisen und konnten so bis in die Neuzeit in allen Hochschulen für Musik, bildende Kunst etc. eingefordert werden. Die bedeutendsten Akademien in Rom,

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Zunächst ein Musikinstrument. Aber geeignet, auf einfache Art Harmonie zu demonstrieren.

Florenz, Paris, London, Amsterdam, Moskau, München, Wien etc. vermitteln auch heute im Grundstudium in welcher Form auch immer Proportionslehre. Freilich hat die Entfaltung der Moderne die »Zuverlässigkeit« der pythagoräischeuklidischen Proportionslehre, die noch im humanistischen Zeitalter unerschütterlich war, infrage gestellt. Zählen doch neben zahllosen Symmetriesystemen Chaosphänomene, Fraktale, dissipative Strukturen etc. zu den möglichen Grundstrukturen der Gestaltung – sowohl in den Naturwissenschaften als auch in den Künsten; und die Verankerung im Metaphysischen ist verloren gegangen. Dennoch ist bemerkenswert, wie sich heute, im 21. Jahrhundert, die Methoden der freien Kunst und der rationalen Naturwissenschaft auf bedeutende Weise wieder einander annähern. Schon Alexander v. Humboldt deutete in seinem Hauptwerk Kosmos, 1845-1862, vor dem Beginn des Industriezeitalters, an, dass die Wahrnehmungskultur der Künstler ungeahnte und notwendige Beiträge leisten könnte, was das Verständnis und die Darstellung

wissenschaftlicher Gegenstände betrifft. Und man beobachtet in unserer Zeit, dargestellt etwa bei Robert Fleck, Die Ablösung vom 20. Jahrhundert. Malerei der Gegenwart, 2013, die Einsicht, dass Malerei, Plastik etc. nicht mehr »reine« Künste sind; sie bewegen sich heute vielmehr in einem interdisziplinären Bereich, der rationale Methoden der Wissenschaften wie irrationale Wege der Künste einbezieht.

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Die Zeuxis-Legende. Zum Verwechseln ähnlich. 26

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Mimesis, Ähnlichkeit, galt Plinius d. Ä. (23–79 n. Chr.), dem bedeutendsten Kunsthistoriker der Antike, als der höchste Wert, der dem Werk eines Malers zugesprochen werden konnte. Seine Würdigung des griechischen Malers Apollodores illustrierte er durch eine sehr einprägsame Legende, auf die man sich besonders in der Renaissance wieder besonnen hat und die man mit Begeisterung weiterreichte, sozusagen als akademisches Modell, die Zeuxis-Legende. »Zeuxis malte im Wettstreit mit Parrhasius so naturgetreue Trauben, dass Vögel herbeiflogen, um an ihnen zu picken. Daraufhin stellte Parrhasius seinem Rivalen ein Gemälde vor, auf

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dem ein leinener Vorhang zu sehen war. Als Zeuxis ungeduldig bat, diesen doch endlich beiseite zu schieben, um das sich vermeintlich dahinter befindliche Bild zu betrachten, hatte Parrhasius den Sieg sicher, da er es geschafft hatte, Zeuxis zu täuschen. Der Vorhang war nämlich gemalt.« (Plinius, Naturalis Historiae XXXV, 64) In zwei Wellen der europäischen Kunst-geschichte ist das Gestaltungsprinzip Mimesis herausgehoben und heiß diskutiert worden: in der Renaissance, bei der Einführung der Perspektive, und in der Moderne, besonders bei der Entwicklung der Fotografie. Um 1500 begann man in der Toskana, die vor den Augen ausgebreitete Welt der Dinge szenisch darzustellen, wie man sie sieht, tiefenräumlich, vor den Augen des Betrachters wirkungsvoll angeordnet. Form und Bedeutung der Dinge wurden als Objekte im Erlebnisraum verstanden, geordnet nicht mehr durch metaphysische Werte wie im Mittelalter, sondern durch Wahrnehmungsqualitäten wie Nähe und Ferne, durch die haptischen

Angebote zur körperlichen Berührung und die Gestik des Betrachters selbst. Der Kunstraum sollte dem Wahrnehmungsraum täuschend ähnlich werden. Das Prinzip des Xeuxis wurde mit neuen Mitteln realisiert. So machte Leonardo z. B. die Suggestion der Mimik, die Gestik der Figuren, die Stimmung von Landschaften, gesellschaftliche Szenen, individuelle Figuren, Gesichter etc. zu Hauptmotiven bei Zeichnungen und Bildern, die jeweils dem Erlebnis der Wirklichkeit sehr nahe kamen. Er schickte sogar seine Schüler zum Studium auf die Straße; sie sollten lernen, feinste Nuancen der Alltagswelt zu erfassen und mit Hilfe der neuesten Techniken, Fluchtpunktperspektive, Helldunkelmodellierung, Farbperspektive etc., nachzuahmen. So setzte er mit neuen Mitteln Ideale der antiken Malerei um, im besten Sinne Re-Naissance. Die zweite Welle der Mimesis-Diskussion ist in der Moderne durch die Entwicklung der Fotografie entstanden. Die Fähigkeit dieser Technik zur Darstellung »wahrer« Gegebenheiten führte zunächst zu ihrem medialen Einsatz bei Dokumentationen

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Plauderei über die tiefste Aufgabe der Kunst. Seit 2000 Jahren aktuell.

zu militärischen, wissenschaftlichen und journalistischen Zwecken. Die zuverlässige Wiedergabe von Anordnungen und Vorgängen im Raum stand bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts im Vordergrund des Interesses. Das Foto und der Film bestätigten und ergänzten den verbalen Bericht, das Protokoll. Bilder lieferten den »Wahrheitsbeweis« zur Wiedergabe der Erlebniswirklichkeit, die aus fernen Gegenden näherrückte. Durch die Fotopraktiken des 20. Jahrhunderts, vor allem die Einführung der digitalen Verarbeitung des fotografischen Materials im Computer, setzte ein Umdenken ein, schockartig ausgelöst durch Kriegsreportagen. Es zeigte sich weltweit, dass das Ideal der Simulation durch wirklichkeitsechte Bilder erschüttert war; die Zuverlässigkeit der mimetischen Wiedergabe war durch tausendfache Manipulationen ausgelöscht. Zwar wurden Fotound Filmtechnik in kürzester Zeit zum Volkssport; doch das Zutrauen in »wirklichkeitswahre« Bilder war unwiederbringlich aufgegeben. Die Konsequenzen für die Kulturgeschichte als Mediengeschichte

und die pädagogische Seite der Medienerziehung sind heute noch nicht voll sichtbar. Die Bilderschwemme in Fernsehen, Internet und private Bilderdienste, Handydateien und dergleichen, haben das Interesse der modernen Welt an visueller Dokumentation vertausendfacht. Gleichzeitig tritt aber die Erfahrung der technischen Manipulierbarkeit, der Künstlichkeit von Bildwelten beflügelnd und irritierend ins öffentliche Bewusstsein; Fotos und Filme repräsentieren nicht mehr unbedingt die Erlebniswirklichkeit wie früher; Ort, Zeit und Qualitäten sind der Manipulation von Interessenten verfügbar. Der »Wahrheitsgehalt« der mimetischen Darstellung ist grundsätzlich infrage gestellt. Das Prinzip Mimesis als notwendiger Zugriff auf Harmonie, Weltordnung und Götterwelt, treibende Kraft von der Antike bis zum Humanismus goethescher Prägung, ist endgültig verlassen.

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Das Labor des Alchimisten. Die Welt im Experiment. 30

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Das Bild eines mittelalterlichen Alchimisten wirkt geradezu wie das Modell eines Menschen in seinem Denklabor. Der gelehrte Laborant umgab sich mit Fragen an die objektiven Dinge ringsum und an seine eigene projektive Vorstellungskraft. In Reagenzgläsern und Brennöfen, Wasserbecken, Räucherkammern etc. wurden Materialien in ungewöhnlichen Mischungen erhitzt, gerührt, gewässert etc.; zugleich war die Phantasie des Experimentators auf die Probe gestellt. An den Rändern des bekannten Wissens machte seine Erkenntnis begeisterte Sprünge; zur Wahrnehmung kam die Beschwörung des Kosmos, der kosmischen Kräfte. Der Rationalismus der Naturwissenschaft war dabei noch nicht getrennt von

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magischer Erwartung. Dem neugierigen Blick öffneten sich die Geheimnisse der Elemente in Phiolen, auf Wasserwaagen, an Messlatten etc., also in der äußeren Erscheinung des Hexenmeisters; gleichzeitig weiteten sich die Erfahrungen und Gefühle des Laboranten selbst auf der »Innenseite« seiner experimentellen Arbeit. Zum Repertoire des Labordenkens gehörten damals zweierlei Instrumentarien, erstens die Suche nach den quantitativen Ordnungen in der Wunderwelt ringsum, darstellbar in Zahlen und einfachen Figuren, die in einem magischen Weltzusammenhang verstanden wurden, und zweitens die Darstellung der kosmischen Ordnung durch Simulation, also durch die Darstellung von Ähnlichkeit, die Dokumentation von Bildeigenschaften. Man erinnerte sich an Pythagoras, der ja bei Versuchen am Monochord entdeckt hatte, dass Tonqualitäten im Verhältnis einfacher ganzer Zahlen miteinander korrespondieren, etwa bei der 1/1- oder 1/2-Teilung der Saite seines Instruments. Damit waren Qualitäten und Quantitäten zueinander in Verbin-

dung gebracht, eine Wendung der Philosophie, die die Entwicklung der europäischen Naturwissenschaft erst möglich machte. Seitdem blieb im ganzen Mittelalter bis in die Neuzeit hinein das mathematische Repertoire von Proportionen und euklidischen Gestalten die wichtigste Darstellungsmöglichkeit von »Schönheit«, verstanden als die harmonische Ordnung des Kosmos. Aristoteles (384–322 v. Chr.) hatte unmittelbar darauf die Nachahmung der schönen Naturformen als wichtigste Aufgabe der bildenden Künste postuliert. Die vornehmsten künstlerischen Techniken waren solche, die zur perfekten Simulation geeignet waren. Noch Goethe bekannte sich zu diesem aristotelischen Auftrag, das Abbilden als primäre Bestimmung der Malerei zu verstehen, freilich verbunden mit guter persönlicher »Manier«; erst beides zusammen führe zum künstlerischen »Stil«. Mit dem Beginn der technischen Moderne und der Industriekultur, insbesondere mit der Entwicklung der Physik und der Differenzialrechnung durch Leibnitz und Newton, war eine starke Ausbildung der Zahlentheorien verbunden, die es

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Die Welt als Experiment, als Welt der Möglichkeiten. Mitten drin mit Körper und Geist der Mensch als Laborant.

erlaubten, die Komplexität materieller Formen als Überlagerung mathematischer Strukturen differenziert darzustellen und eben dadurch theoretisch und technisch zu beherrschen. Allerdings: Die magische Bedeutungsdimension der Phänomene, ihre subjektive Bildwirkung im Erlebnisraum, ging dabei weitgehend verloren. Das Arsenal der technischen Geräte und ihrer Software einschließlich der Digitaltechnik steht seit dem Barock nicht nur der Naturwissenschaft zur Verfügung, sondern auch der industriealisierten Technik, wo es zu einer unvorstellbaren Steigerung der Arbeitsergebnisse geführt hat. In der Kunst haben sich dagegen bis heute die Techniken der Simulation – bis auf Schübe der Abstraktion beim Beginn der Moderne – in immer wieder neue Varianten hinein entwickelt. Auch heute noch scheint die Geschichte der bildenden Künste im Wesentlichen eine Geschichte der Simulation zu sein. In dem die Kybernetik Digitalisierung in die Nachrichtentechnik einführte, wurde die naturwissenschaftliche Arbeitswelt weitgehend unanschaulich. Das gilt auch

für den Arbeitsalltag. Den Laboranten der modernen Labors geht der Körperkontakt zu Materialien, Erlebnisraum und Natur allzu schnell verloren. Computerarbeit affiziert nicht ihre Sinne wie die Laborarbeit ihre alchimistischen Vorgänger. Die Leibwelt des Laboranten vor dem Bildschirm hat den Kontakt mit den digitalen Strukturen verloren; er ist der ohnmächtige Pilot in einem Raum, dessen Verwandlung nicht mehr erlebbar, nur noch denkbar ist. Der historische Alchimist ließ sich überraschen durch Gerüche, Farben und Formen sich verwandelnder Substanzen; sein Körper antwortete darauf. Das Labor des Alchimisten funktionierte als Relaisstation zwischen Dingen und Gedanken; sein Leib war das Spielfeld der Kommunikation. Das mittelalterliche Labor und vielleicht in ähnlicher Weise das Künstleratelier unserer Zeit waren bzw. sind mehr als der Computer-Arbeitsplatz Vorbilder für das Studium von Techniken der Simulation, d. h. Methoden zum Verstehen und Darstellen der Welt, die uns körperlich umgibt.

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Leonardo da Vinci. Seine Welt als Experimental-Labor. 34

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Leonardo gibt zu erkennen, dass alle seine Äußerungen, schriftliche, malerische, technische, wissenschaftliche und politische, ausdrücklich zu einer experimentellen Denksituation gehören, die er als sein eigentliches, sein größtes Werk betrachtet, bedeutender als jedes seiner bekannten Werke. Von welcher Art ist dieses Experimentaldenken? Wie hat er es definiert und wie formuliert er seine Aufgaben, Empfehlungen und Bezüge? Leonardos Methode wird für uns deutlich, wenn wir davon ausgehen, dass alle seiner Darstellungen, Bilder und Zeichnungen, Texte und Geräte, ausdrücklich als Versuch gemeint waren. Die Versuchsanordnung trifft dabei möglichst präzise eine bestimmte Wahrnehmung/

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Beobachtung einerseits und eine mögliche Ordnung/Anordnung andererseits. Sie enthält immer eine Frage. Sie ist der Erlebniswelt und der Sinnlichkeit des Beobachters ebenso nah wie der Abstraktion von Zahlen und begrifflichen Schemata. Er ist ein moderner Flaneur und Phänomenologe; durch die Technik seiner Darstellungen aber bezieht er seine Wahrnehmungen auf ideale Schemata; insofern kann er sich nicht von Plato lösen. Aber er tut dies probeweise, d. h., die Zuordnung des Begrifflichen gilt für ihn nur solange, wie sie den nächsten Beobachtungen nicht widerspricht. Hören wir zunächst auf die Sprache seiner Abhandlungen. Er hat ja alles was er machte, Tag und Nacht, ein Leben lang mit Tagebuchtexten begleitet. Die Einleitung ist immer ausdrücklich kommunikativ, er formuliert die Aufgabe, die er sich selbst stellt, manchmal auch den Vorbehalt, er müsse eigentlich diesem Text einen anderen vorausschicken und dergleichen. Er redet einen imaginären Partner oder Schüler an oder formuliert die Rolle, die der gelieferte Traktat in größerem Zusammenhang,

ja meistens unter belehrenden Aspekten, spielen muss. Damit ist eine merkwürdige Distanz des Analytikers zu seinem Gegenstand festgelegt. Die Haltung des Beobachters der Dinge dort draußen, sie ist ausdrücklich auf ein Subjekt bezogen, dessen Haltung Teil der Analyse ist. Leonardos Welt ist philosophie-historisch eine moderne, indem Subjekt und Objekt nicht voneinander getrennt sind und die Umstände, unter denen Erkenntnis gelingt, mitgeteilt werden. Ein paar seiner Redensarten sollen diese Denkweise illustrieren. Anreden an einen imaginären Partner oder Schüler: »Hast du noch nie beobachtet, dass ...?« »Wenn du beweisen willst, dass der Mond ...« »Und wie würdest du mir erklären, warum...« »Und wenn du behaupten wolltest, dass ...« »Wie würdest du schließlich beweisen, warum ...« »Hier versteht man nun auch, dass ...« »Übrigens ...« Oder etwa seine Ratschläge an sich selbst: »Verfasse, bevor du über die fliegenden Lebewesen schreibst, ein Buch über die leblosen Dinge, die ...« »Wenn du als Zeichner Wert legst auf ...«

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Mit phantastischem Übermut betrachtet er alle seine Arbeiten als Experimente. Leonardo als der erste »Moderne«.

»Verfasse zuerst die Abhandlung über die Ursachen ... und dann ...« »Beschreibe ...« Oder die Einschübe, die ihn als das schreibende Subjekt, ins Spiel bringen: »Nun frage ich, wieviel ...« »Es lässt sich klar beweisen, dass ...« »Wir wollen nun ... einordnen ...« »Hier wird klar, dass ...« »Ich frage, wo ...« »Und ich will wissen, wieweit ...« »Das lässt sich beweisen, denn ...« »Wie man feststellen kann, wie ...« »Wir wissen genau, dass ...« Und vieles mehr von dieser Art. Bei jedem Denkschritt ist er gewöhnt, sich den Charakter seines Vorgehens klarzumachen und zusätzlich den didaktischen Hintergrund auszuleuchten. Er prüft, wo für seinen Partner oder Schüler die Schwierigkeit des Verständnisses liegt, so dass er in den Fortschritt der Argumentation einbezogen ist. Alle seine Äußerungen, ja selbst die Hauptwerke, Mona Lisa, Abendmahl, Anghiarischlacht etc., hält er selbst für Bestandteile einer gewaltigen virtuellen »Schule des Wissens« , deren Gegenstand nichts Geringeres ist als das Ganze der wahrnehmbaren und der vorstellbaren Welt einschließlich ihrer Objekt-

und ihrer Subjektstruktur. Leonardo ist der erste große Methodiker unter den Denkern, für die das Erkennen als ein analytischer Vorgang und das Erkennen als schöpferische Produktion nicht voneinander getrennt sind, für die Kunst, Wissenschaft und Alltagsverhalten zusammengehören und die den Naturkosmos in ihr subjektives Weltbild einbeziehen. Er hat mit seinem Vorgehen die Moderne vorbereitet. Insbesondere die ständige Verknüpfung von Begriff und Anschauung ist für ihn selbstverständlich; die phänomenologische Leidenschaft hindert ihn nicht, so vieles wie möglich zu benennen, zu zählen, zu messen und in Hypothesen über systematische Zusammenhänge einzufügen. Sicher halten die Hypothesen, die in seinen anatomischen und technischen Zeichnungen liegen, und seine verbalen Anmerkungen dazu einer genaueren Prüfung unter heutigen Bedingungen häufig nicht stand; vielfach hat er auch wagemutige Thesen (z. B. die über Verbesserungen der Farbenchemie) bereut und bitter bezahlt, wie man nicht erst seit der kürzlichen Restaurierung des Abendmahls in S. Maria delle Grazie

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weiß. Im Zweifelsfall hat er sich dennoch zum Handeln entschieden, zum Gebrauch neuartiger Werkzeuge und Materialien, wenn er dieses Handeln durch eine logische Begründung stützen konnte. Das Erkennen war für ihn auf Probeschritte aufgebaut, auf Modellvorstellungen, die sich jeweils im nächsten Werkschritt bewähren mussten. Bewährten sie sich nicht, so hatten sie ebenfalls ihre Aufgabe erfüllt, sie waren lediglich durch neue, andere Modellschritte zu ersetzen. Nur im Zusammenhang mit Handeln waren für ihn die Struktur des Denkens wie die der Dinge erforschbar. Bei der Wahl seiner Modellkonstrukte sind fruchtbare und hilfreiche von weniger erfolgreichen, ja lähmenden unterscheidbar. So hat zum Beispiel die Konstruktion einer Camera obscura seine Erklärungen zur Funktion des Auges stark befördert, während seine Anhänglichkeit an Aristoteles’ Elementenlehre, die die Antike und das ganze Mittelalter beherrscht hat – die Welt sei aus Erde, Feuer, Wasser und Luft zusammengesetzt, die sich

der Tendenz nach schichtenweise übereinanderlagern –, ihn bei geologischen und auch anatomischen Analysen oft geradezu behinderte. Sogar er, der erste wirkliche Fanatiker einer schrittweisen Naturerkenntnis durch Experimente, blieb hier und da durch die Überredung der großen antiken Texte ein wenig blind. Erst im Alter riskierte er offene Skepsis gegenüber den jahrhunderte lange gepflegten Denkmodellen der aristotelischen Naturphilosophie und gab den eigenen Erfahrungen im Experiment Vorrang. Ein Denkmodell metaphysischer Art, das Leonardo Zeit seines Lebens ebenso stimulierte wie verführte – weil es ebenso viele Wahrheiten wie Irrtümer in sein Werk einbrachte –, war die von Vitruv beeinflusste Vorstellung, der Makrokosmos Erde und der Mikrokosmos menschlicher Körper hätten gegenseitig sich spiegelnde und analoge Strukturen. Diese Vermutung oder Annahme veranlasste Leonardo zu Hunderten von Beobachtungen, Zeichnungen, Experimenten und Beschreibungen,

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von denen viele neuartig und hilfreich, andere poetisch konstruiert, aber falsch, wieder andere verblüffend hilfreich sind, wenn man das Thema durch moderne Augen sieht. Besonders beharrlich beobachtete er etwa die Zirkulation der Flüssigkeiten im Körper, die er aus Experimenten erstaunlich gut kannte, und meinte, sie auf gewisse Kreisläufe von Wasser, Wind und Fels (!) im Erdkörper übertragen zu können. Selbst absurde Ergebnisse und Folgen solcher Analogievorstellungen versuchte er anschaulich darzustellen und dadurch zu »beweisen«. Aber auch am Rande des Absurden war er hundert Jahre vor Newton der erste moderne Experimentator, der die experimentelle Befragung der Natur an die Grenzen des möglicherweise Vorstellbaren heranführte bis zu dem Punkt, an dem die konkrete Erfahrung einer vorangehenden Hypothese widerspricht. An dieser Stelle entsteht auch nach heutigem Verständnis naturwissenschaftliche Erkenntnis. Zugleich zeigte er fächerübergreifend, wie künstlerische und technische Fertigkeiten – etwa die räumliche Perspektive und die

Modellbaukunst – die Entwicklung der Wissenschaften stimulieren können. Es lag ihm fern, allgemeingültige, »ewige« Denkmodelle zu liefern – wie Plato. Seine Modelle hatten vielmehr aus konkreten Arbeitssituationen heraus begrenzten Wert. Sie waren WerkstattModelle und trafen die Welt, die ihm begegnete, durch ihre Bild-Ähnlichkeiten. Der Ähnlichkeitsbezug von Darstellung und Wahrnehmung gilt den Europäern bis heute als feste Basis für das Symboldenken.

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Das Benimmbuch des Erasmus von Rotterdam. 40

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Das Selbstbewusstsein des einzelnen Menschen musste sich seit den Anfängen der Zivilisation mit dem sozialen Bewusstsein arrangieren, das Ich-Denken mit dem Wir-Denken. Zu diesem Training gehörten in Antike und Mittelalter feste Spielregeln und Musterbücher, die den Bereich der Erziehung bestimmten, den man im Französischen courtoisie, im Englischen courtsey, im Italienischen cortezia und in Deutschland z. B. hövescheit, hübescheit oder auch zuht nannte. Die genannten Standards betrafen vor allem die Tischgebräuche, bald aber alle Ebenen des Verhaltens beim Essen und Trinken, beim Sprechen, die Einstellung zu den natürlichen Körperbedürfnissen, den Beziehungen von Mann und Frau

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und vieles mehr. Die »guten« und die »schlechten« Umgangsformen wurden schließlich als Zeichensprache verstanden, durch die sich im Mittelalter höhere und niedere Stände, z. B. Ritter, Bauern und später, in der Renaissance, mehr und mehr nationale Kulturkreise voneinander abhoben.

und die Person Ludwigs XIV. als Vorbild eines zivilisierten Menschen, dessen Idealen ein jeder gut erzogener Europäer nacheifern musste. Das »richtige« Verhalten in Gestik und Sprache spiegelte die Bildung eines Menschen in den Augen der anderen; »richtig« war jeweils die des höheren Standes.

Die gesellschaftlichen Gruppen ahmten einander nach, sowohl in Friedenszeiten, im Alltag, beim Wohnen, bei den Heiratsund Sterberiten, bei den Forderungen des jeweils gehobenen Konsums, bei der Verwandlung des Geschmacks, der Kleidung, der Körpergestik, als auch in Kriegszeiten, bei der Verwendung von Waffen und Gerät. Dabei stand jeweils nicht nur das Reglement des Bedarfs in Frage, mehr noch das Symbolverständnis der Dinge und ihrer Bedeutungen.

Norbert Elias (Über den Prozess der Zivilisation, 1963) hat köstliche Beispiele aus den Musterbüchern für Zucht und Benehmen zusammengetragen, die die frühe Entwicklung unserer humanistischen Tradition aufzeigen, welche in vielen Bezügen in griechischlateinischen Wurzeln gründete, am französischen Hof zur Blüte entwickelt wurde und sich schließlich über alle Völker Europas ausgebreitet hat. Es zeigt sich, dass sich bei den einfachsten Regeln für das körperliche Verhalten in der Gesellschaft Gebot und Verzicht, Empfehlung und Tabu einander die Waage halten. Was ist angemessen, höflich, kultiviert; was ist verboten, grob und unanständig? Mit vielen Schwankungen wurden Formen und Vorgänge »zivilisiert«,

Das Musterbuch des Erasmus von Rotterdam De Civilitate Morum Puerilium von 1530 wurde zu einer berühmten Verhaltensbibel für Knaben. Höhepunkt der Musterbildungen, früher meist in Klöstern und an Herrscherhöfen angesiedelt, wurden schließlich Versailles

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Ewig von Schnupfen geplagt, wird Erasmus zum Erfinder von Musterbüchern moralischer Art. Empfehlungen für gutes Benehmen.

d. h. einer gemeinsamen Norm unterstellt und so aus den üblichen Landessitten abgehoben und einer größeren Gemeinschaft zugeführt. Erasmus forderte bei seiner Aufzählung von Formen der Höflichkeit z. B. allerhand Standards bei Tisch, nicht in die Hände schnäuzen, heitere Miene zeigen, nicht zu viel reden, Gabel und Messer richtig benutzen etc. Darauf gründete schließlich die »Zivilisierung« des ganzen Verhaltens, der Sprache, der angemessenen Gesten und Formen der Begegnung. Die Entwicklung geschah in Europa in mehreren identifizierbaren Etappen, beginnend mit dem Verhaltenscodex am französischen Hof, der sich seinerseits an italienischen Vorbildern orientierte, fortgeführt beim Landadel, beim Bürgertum und schließlich an den Fürstenhöfen und Bildungszentren der Universitäten in ganz Europa. Noch die Einführung der Neuzeit und der frühen Formen von Moderne waren mit ähnlichen Mustervorgängen verknüpft, der Verbreitung von Büchern, Vorträgen und Ausstellungen von Avantgardisten, die den örtlichen

Kulturen in Paris, London, Berlin, Köln etc. gemeinsame Standards vorgaben, die sich allmählich international durchsetzten. Die philosophischen, politischen und künstlerischen Formen, ja auch Kleidung und Gestik der modernen Städter näherten sich in ethnologisch weit entfernten Kulturlandschaften einander an. In Moskau begann man ähnlich zu denken wie in Paris, Berlin, New York. Zivilisation kann so verstanden werden als ein Verhaltensschema der Welt-Kultur.

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Goethes und Wittgensteins Suche nach Mustern für Sprache und Wahrnehmung. 44

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Ludwig Wittgenstein (1889–1951), berühmt wegen seiner unerbittlichen Leidenschaft für philosophische Logik und Sprache, war in seiner Jugend einige Jahre begeisterter Physiker und Techniker – ein merkwürdiger Kontrast der Interessen! Einerseits standen Ideen im Mittelpunkt, andererseits physische Dinge. Der Konflikt, den er ausdrücklich suchte, aber in den verschiedenen Phasen seiner Entwicklung von verschiedenen Seiten her anging, tritt in einer Anekdote deutlich hervor, die Goethes Denken betrifft und die Wittgenstein besonders schätzte. Goethe versuchte bei einem Spaziergang, Schiller sein Verständnis der »Urpflanze«

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zu vermitteln. Er, Goethe, entdecke ständig beim Betrachten von Pflanzen Ähnlichkeiten, ein sich wiederholendes Prinzip, das in der Natur selbst tausendfach zu finden sei, aber sehr wohl Ideenhaftes enthalte. In allen Pflanzen sei zum Beispiel, wie eine Art Muster, die »Urpflanze« mehr oder weniger deutlich erkennbar. Schiller, sein Gesprächspartner, hat dieses Wiedererkennen eines Prinzips nicht als eine Anschauungserfahrung anerkannt; er wollte es lediglich eine Idee nennen, die man denken könne, was Goethe stutzig machte und zu der Bemerkung veranlasste: »Das kann mir sehr lieb sein, dass ich Ideen habe, ohne es zu wissen, und sie sogar mit Augen sehe.« »Urphaenomene«, wie zum Beispiel eine Urpflanze im Goetheschen Sinne, sind Muster oder Modelle von Ideen-Konstrukten, die nicht in Begriffen formuliert, vielmehr in der Anschauung gegeben, also konkret wahrnehmbar sind. Ihre besondere Ordnung liegt im Phaenomenalen; das Regelhafte ist ihm aber nicht vorgegeben, es tritt vielmehr mit dem Erlebnis zutage, das ein Subjekt erfährt.

Die Urpflanze ist ein solches Symbol, eine »seltsam schwebende Konstruktion« zwischen Ding (als physischem Objekt) und Idee (als geistigem Konstrukt). Auf Wittgenstein übte diese Schwebung zwischen Wahrnehmung und Begriff die stärkste Faszination aus. Er pflegte jede Diskussion über Wahrnehmung, Erkenntnis, Erlebnis etc. auf Fragen nach Darstellungsmöglichkeiten zu lenken, die solche Strukturen , zugleich Ding-Charaktere und Ideenpotenziale, wiedergeben können. Er suchte lebenslänglich nach Ausdrücken, Sprachformen im weitesten Sinne, die als Methaphern oder Modelle für Welt verstanden werden können. Besonders linguistische Sprachformen wurden von ihm unter diesem Aspekt durchforstet: Welche ihrer Formulierungen sind am besten geeignet, die Welt als Dingwelt und zugleich ideenhaften Gegenstand abzubilden? Aber nicht nur diese, sondern auch etwa Architekturformen mit ihrer präzise gestalteten Typologie. Er selbst schätzte seinen Entwurf für das Haus seiner Schwester in der Kundmann-Gasse in Wien als eine höhere geistige Leistung ein als seine Schrift Tractatus Logico

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Nicht nur im Sprachlich-Begrifflichen, schon bei der spontanen Wahrnehmung ist das Denken auf der Suche nach Mustern.

Philosophicus, die allgemein als sein philosophisches Hauptwerk gilt. Was bei der Suche Wittgensteins und Goethes an Urformen, Typen, Modellen und Strukturen besonders hervortritt, ist wohl das Interesse an Ähnlichkeiten, die wir bei verwandten Formen der Natur, der Kunst etc. beobachten und deren Wiederholung wir versuchen, uns zu erklären, wenn sie mit analogen Strukturen nebeneinander oder nacheinander erscheinen. Es ist das Problem der Ähnlichkeiten, das ihn, Wittgenstein, veranlasst, Aussagen zu machen über Konstanzmerkmale, d. h. Ideenhaftes in der Wahrnehmung. Für brauchbare Aussagen dieser Art fand er hunderte Varianten: Sprachspiele. Er nannte diese Erläuterungen einer Denkfigur seine Theorie vom logischen Abbild. Wittgensteins Modell-Definition hält neben der Ähnlichkeitsrelation noch einen anderen Umstand fest, der alle Architektur-, Technik- und Wissenschaftsmodelle definitorisch beschreibt. Die Aussage des Modells ist nur eine von vielen möglichen, zum mindesten aber von einigen möglichen.

Die Offenheit für Nebenlinien der Bedeutung stellt eine gewisse Unschärfe der Modellstruktur dar, eine Ausweitung der Vorstellung jenseits der primären logischen Aussage. Auf dieser Unschärfe aber beruht geradezu die Brauchbarkeit dieser Denkwerkzeuge in kreativen Prozessen; sie enthält eine Art Aufforderung, andere Möglichkeiten der Formulierung nicht zu vergessen. Wissenschaftler und Künstler, Architekten und Handwerker schätzen diese mitgemeinten Varianten; ihre Suche nach der gültigen Form braucht also gewisse Schwebeeigenschaften der Modelle. Die analoge Abbildung eines Gemeinten bekommt einen »Unschärfe-Hof«. Goethe betont in Maximen und Reflexionen, 1833, die Notwendigkeit dieser Schwebung, indem er das AnalogDenken auf alles Existierende ausweitet: »Jedes Existierende ist ein Analogon alles Existierenden, daher erscheint uns das Dasein immer zu gleicher Zeit gesondert und verknüpft. Folgt man der Analogie zu sehr, so fällt alles identisch zusammen; meidet man sie, so zerstreut sich alles ins Unendliche.«

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Karl Poppers cooler Traum. Trial and Error. 48

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Als eine konstruktive Suche nach Wahrheit kann man auch Karl Poppers »coolen Traum« lesen. Was ist Wahrheit, und wie ist der Fortschritt der Wahrheitssuche systematisch zu organisieren? Popper (1902–1994) rechnet damit, immer weiter verbesserte Methoden, Hypothesen, Theorien und Vermutungen könnten Wissenschaftler in die Lage versetzen, sich über Jahrhunderte hinweg allmählich der Wahrheit anzunähern, der er allerdings immer noch – wie Xenophanes – einen Schleier von Geheimnis zubilligt ... In seinem Denkgebäude werden drei Arten von Gegenständen unterschieden: Welt 1, das sind die materiellen Dinge, Welt 2, das sind die Erlebnisse, und

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Welt 3, das sind die objektiven Produkte des menschlichen Geistes, die miteinander verbunden sind. Diese drei Welten werden miteinander korrespondierend gedacht, wobei das Erlebnis, Welt 2, die Begegnung und Auseinandersetzung von menschlichen Schöpfungen, Welt 3, und vorgegebenen Dingen, Welt 1, vermittelt. Die Prozedur ihrer Vermittlung ist besonders für Wissenschaftler eine wichtige Aufgabe, da sie selbstverständlich beim Fortschritt der Erkenntnis eine bedeutende Rolle spielt. »Werkzeuge« der Wahrheitssuche sind für Popper die Hypothesen und Theorien, also ideenhafte Schöpfungen in Welt 3, die immer wieder neu entwickelt werden müssen, um Erkenntnisse erstens aufzubauen und zweitens zu korrigieren. Insbesondere Modelle als Geisteskonstrukte sind im Sinne Poppers hilfreiche Instrumente. Sie sind kulturabhängig, datierbar und gezielt hergestellt, um den Vorgang der Erkenntnis in einer bestimmten Phase zu fördern. Ihr Wert liegt ausdrücklich im instrumentellen Gebrauch bei der Suche

nach »Wahrheit«. Wissenschaftler, die diese Instrumente herstellen, sind ebenso kreativ wie Künstler, ihre Produkte sind Artefakte, die möglichst präzise Rollen spielen sollen bei den Fragestellungen ihrer Wissenschaft. Aber auch umgekehrt versucht Popper, Theoreme, Modelle, Zielvorstellungen und dergleichen als Ausgangspunkte und Vehikel für künstlerische Entwürfe darzustellen. In einem Punkt trifft dieses Denkmodell auffallend gut die Erfahrung des Künstlers, dass nämlich alle Zustände seiner Arbeit »Schwebe-Zustände« sind. Alles ist im Verlauf seiner Produktion vorläufig, nichts ist endgültig. Und ein anderes folgt aus der PopperDoktrin, das er selbst ausdrücklich erwähnt. Es betrifft die aus der Kritischen Theorie folgende moralische, vielleicht auch politische Haltung der Intellektuellen besonders in westlichen Kulturkreisen. Wenn jedes Arbeitsergebnis nur vorläufig gilt – bis es überholt und übertroffen wird –, so muss die geistige Welt in ihrer ungeheuren Vielfalt von allen Beteiligten mit gegenseitiger Toleranz behandelt werden. Selbstverständlich irrt ein jeder;

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Das Modelldenken wird zur notwendingen und unausweichlichen Schule. Gültig, bis es durch ein besseres ersetzt wird.

und selbstverständlich muss jeder die vorläufige Position des anderen respektieren, wie er die korrigierbare eigene Position auch respektiert sehen will. Das Trial-and-Error-Verfahren, auf dem Weg zu sich ständig verwandelnder Wahrheit, hat, als soziales Phänomen verstanden, einen pazifistischen Kern. Im Hintergrund steht, entsprechend Kantens kategorischem Imperativ, der Satz: »Was du nicht willst, das man dir tu’, das füg’ auch keinem anderen zu!« Vielleicht ist diese soziale Maxime, die die Erkenntnismethode von Trial and Error einschränkt, der eigentliche Grund für Poppers späten Ruhm in den 1960er Jahren. Ein Modell ist nicht unbedingt ein Werkstück aus Holz, Gips, Ton oder Papier wie ein Architekturmodell, auch nicht ein kostbares ästhetisches Objekt wie ein Modell der Haute Couture. Gedankengebäude können ebenso Modelle sein wie bestimmte Formen menschlicher Gemeinschaft, politische Theorien oder vorbildliche Werke der Kunst. Die Konstrukte der Welt 3, und dazu gehören alle Modelle, von welcher Art sie sind, öffnen bei Popper den Blick auf die

Welt 1, die Wirklichkeit der materiellen Dinge, sowie die Welt 2, unsere Erlebnisse. Sie müssen bei der Wahrheitssuche ständig ergänzt, korrigiert oder gar durch andere ersetzt werden, aber sie sind bei dieser Prozedur notwendig. In der Geschichte der bedeutenden Formulierungen des Modelldenkens gehen den großen Texten, von Platon bis zur modernen Philosophie der symbolischen Formen, sicher die frühen Mythen voran, die magisch-mythischen Bilder und Akte, die schon in den vorrationalen Phasen der Zivilisation Aussagen machen wollten über den Menschen und seine Welt. Sie waren in bedeutende Bilder und Handlungen eingebettet, die als Ausdruck für Vergangenes und Zukünftiges verstanden sein wollten, gleichermaßen als Erklärungen wie als Handlungsanweisungen. Dem Horizont der Mythen ist in unserer Gegenwart die Kunst näher als die Wissenschaft. Deshalb erlauben besonders Blicke in die künstlerische Produktion elementare und unmittelbare Erkenntnisse über das Rollenspiel der Modelle.

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Ernst Bloch. Eine Philosophie der offenen Möglichkeiten. 52

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Die Welt der Modelle ist in der Kulturgeschichte ständig erweitert worden, von Philosophen, Naturwissenschaftlern, Technikern, Architekten etc., im Hinblick auf etwas, das noch nicht ist, das aber im Bereich der Wünsche und der Sehnsucht bereits einen hohen Rang einnimmt. Mit Modellen werden die Baupläne für eine erwünschte Zukunft mitgeteilt, sie enthalten nicht alle ihre Züge; wäre das möglich, so wären sie die Realisierung dieser Zukunft selbst. Sie sind vielmehr auf einige ausgewählte Aspekte beschränkt, auf bestimmte Eigenschaften der zu schaffenden Welt, aber sie liefern mehr als einen träumerischen Wunsch, nämlich eine Arbeitsanweisung.

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Ernst Bloch (1885–1977) ist ein feuriger, leidenschaftlicher Rufer, der sein ganzes Werk den changierenden Varianten dieser Wünsche nach zukünftigen Welten und ihren Bauplänen gewidmet hat. Mit unendlicher Geduld ist er den verschiedensten Versuchen in der historischen Vergangenheit und unserer Gegenwart nachgegangen, noch nicht Existierendes zu benennen, die Produktion des Neuen zu verfolgen und an erprobte Schemata utopischer Modelle zu erinnern, welche in der Literatur, der Geschichte der Wissenschaften, Künste und Religionen, der Philosophie sowie im Alltagsbewusstsein bedeutende Rollen gespielt haben. Hellmut Plessner (1892–1985) hatte schon in seinem anthropologischen System Die Stufen des Organischen und der Mensch, 1928, als die Besonderheit der menschlichen Erkenntnis das Außersichsein, die Exzentrizität wahrzunehmen, wie er das nannte, nämlich die Unmöglichkeit des »unmittelbaren« Lebens und die Notwendigkeit der »indirekten« Darstellung benannt. Der Mensch muss Selbstbewusstsein

entwickeln durch Äußerungen über das unmittelbare Verhältnis seines Selbst zur Welt. Vor allem schieben sich sprachliche Modelle, sagt Plessner, zwischen Mensch und Welt. Auch Ernst Cassirer (1874–1945) hat in seinem Versuch über den Menschen, Einführung in eine Philosophie der Kultur, 1944, einen solchen Denkraum beschrieben, in dem der Mensch vor allem Konstrukteur künstlicher Welten von symbolischem Charakter ist. Seine unmittelbare Erlebniswelt werde ständig überformt von Ideenhaftem; er füge der Sinnenwirklichkeit neue Dimensionen hinzu, vermittelt durch Bewusstseinsprozesse und produziert durch symbolische Formen verschiedener Art, Sprache, Mythos, Religion, Kunst und Wissenschaft. Zurück zu Ernst Bloch. In einem Feuerwerk poetischer Sprache, den Freiraum der Phantasie erweiternd, nie begrifflich verengt, kreist er seine Denk-Erfahrungen ein, ständig auf der Suche nach dem wunderbaren, dem Nicht-Erwarteten, den Ahnungen über den logischen Raum

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Euphorische, dichterische Philosophie! Alles Denken / Wahrnehmen / Handeln als Griff in die Zukunft verstehen!

hinaus. Vieles ist er bei den enthusiastischen Raubzügen seiner PhilosophenNeugier nur in der Lage, anzudeuten, anzureißen. In anderen Erlebnisbereichen gelingt es ihm lediglich, die Ordnung anzudeuten, die einem Entwurf, einer Konzeption, einer Hypothese zugrunde liegt; oft kann er aber auch exakt die Verknüpfungen der Utopie-Fäden aufzeigen, die in historischen Situationen bedeutende Menschen und kulturelle Gruppen zusammengetragen und ausgeführt haben, um aus ihrer Hoffnung das Netz einer sozialen Wirklichkeit zu machen, die nicht nur für sie selbst, sondern auch für andere von Wert ist. Das Wesentliche in Blochs Prinzip Hoffnung, 1959, ist dennoch nicht das Material der historischen Umstände, sondern das Interesse des Philosophen, bei jedem dieser Phänomene herauszufinden, wie sich hier, und zwar anders als an jeder anderen Stelle der Zivilisation, das Neue als etwas Neues zeige, von welcher Art das erfinderische Moment ist, wie es sich zuallererst ankündigt und welche Modelle es durchsetzt, um die Gesellschaft nach seinem Bild zu bewegen.

Mit einem Wort: Wie geschieht die Erzeugung von Zukunft? Können die Prozeduren rational beschrieben werden? Mag sein, dass Blochs Untersuchungsergebnisse manchmal, etwa in der frühen kommunistischen Phase seiner Biographie, geradezu messianisch vorgetragen werden, dass seine Interpretationen im Gedankenkreis von Marx und Lukács oft verengt sind; mag sein, dass seine poetische Sprache, die oft eine enge Nachbarschaft zum Expressionismus der Malerei und der Musik am Anfang des 20. Jahrhunderts aufsucht, nicht immer zum klaren Verständnis beiträgt. Der leidenschaftliche Ausdruck aber bleibt; lange nach Nietzsche wirkt jeder seiner Texte wie der notwendige Versuch, vor die Erkenntnis der Welt die Erzeugung der Welt zu setzen. Er lehrt, nichts ist uns »objektiv« gegeben, alles ist von einem handelnden Ich zu erobern. Mit der Geschichte der Dinge, des Krieges, der Technik, der Architektur, ist die Geschichte des Selbst verknüpft, d. h. die ständige Produktion von »etwas« durch ein Selbst, das sich entwirft.

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Gilles Deleuze. Hermann Schmitz. Das Vorläufige der philosophischen Begriffe. 56

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Mit Gilles Deleuze (1925–1995) verabschiedet sich die europäische Philosophie vom Jahrhunderte lang allmächtigen Erbe des Platonismus. Platon hat die Macht der Ideen als eine unveränderliche Welt gegenüber der schwankenden Erlebnisund Wahrnehmungswelt gelehrt. Er verstand ihre Unveränderlichkeit als das Göttliche, die schwankende Erlebniswelt als das Menschliche. Über Augustinus und Hegel hinaus hat dieser Konservativismus die philosophische Arbeit an Begriffen gelähmt. Begriffe galten nach akademischem Konsens als feste Bestandteile des Wissens, als nicht manipulierbar. 1968 tauchte während der Studentenrevolution in Paris ein junger Philosoph auf und

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formulierte, anders als Plato, Augustinus und Hegel, die Welt der Begriffe müsse fluktuierend verstanden werden, sie müsse in die Veränderungen des Wahrnehmens und Erlebens einbezogen sein. Die begriffliche Fixierung von Erlebnisgegenständen sei nichts als die Konstruktion eines Nexus, eines Denkortes, der Virtualitäten miteinander verbindet und zwar mehrschichtig, von Veränderungen bestimmt, mit Unbestimmtheiten verknüpft. Das Denken müsse sich nicht »monarchisch« an festen Begriffen, an »ewigen« Ideen orientieren, sondern umgekehrt, das Denken müsse »nomadisch« die vielgestaltigen Netzwerke des Lebens nutzen und immer wieder neue Verbindungen zwischen Dingen und Vorgängen herstellen, indem es virtuelle Unbestimmtheiten verknüpft. Veränderungen, Sprünge und Entdeckungen seien nicht nur im Erlebnisraum, in der Wahrnehmung, im Sozialen etc. von Not, sondern auch in der Philosophie. Nach diesem Verständnis existieren ideologische Systeme und feste Begriffe nicht mehr als unüberwindliche Schranken und feste Größen. Man muss sich ihrer an den »Bruchstellen« zwischen

den Gegenständen und Erlebnissen bedienen, solange sie kreative Denkwerkzeuge sind. Von Ferne winken die Ahnen solch poetischer Philosophie, Friedrich Nietzsche und James Joyce. Eine sprudelnde, künstlerische Stimmung kommt damit bei den Machern der modernen Denk-Räume auf. Das Subjekt ist von Wünschen bestimmt, nicht von Mangel, wie etwa noch bei Lacan. Gilles Deleuze stellt spielerisch eine Verbindung der Philosophie zu den bildenden Künsten her, insbesondere zur Filmkunst. Der Philosoph entwickelt sein Werk wie ein Regisseur, der, Raum und Zeit manipulierend, eine vielschichtige Welt aus Dingen und/oder Fiktionen darstellen kann. Er beherrscht Montage-Techniken, die Wahrnehmungsdinge und Denkvorgänge über Ungenauigkeiten hinweg in einem Geflecht zusammenbringen, Löcher, Risse und Falten einbezogen. Angesichts solcher Gegenwartsphilosophie kommen Wissenschaft und Kunst, Vertrautes und Geträumtes, Geschichte und Utopie einander sehr nah. Die anschaulichen Darstellungen der philosophischen Vorgänge solcher Art nennt Deleuze

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Keine Transzendenz. Gegenstand des Philosophierens sind die Nuancen des konkreten Lebens.

wegen ihrer Vielschichtigkeit Rhizome – ein Begriff, den Deleuze wie viele andere in enger Zusammenarbeit mit Félix Guattari entwickelte. Rhizome haben die Gestalt von Netzwerken, die durch Knoten und Verbindungen auf verschiedenen Plateaus charakterisiert sind und sich ständig verändern. Einen ebenso entschiedener Versuch, eine Philosophie ohne Transzendenz zu entwickeln, ist die Neue Phänomenologie von Hermann Schmitz, die ihre Begriffsbildung nah bei der unwillkürlichen Lebenserfahrung vornimmt, um deren Fülle und Farbigkeit möglichst frisch in die philosophische Darstellung zu übertragen. Auch sie liefert kein unbestreitbares, festes System, dafür aber ein Aussage-Modell, das in die feinsten Schichten der Aufmerksamkeit eindringt, subjektive Erlebnisvorgänge wahrnimmt und zur Ergänzung der rationalistischen Fachsprache der Naturwissenschaften auf sogenannte »Brückenqualitäten« und synästhetische Charaktere aufmerksam macht, die subjektive und objektive Fakten der Weltsicht miteinander verbinden.

Hermann Schmitz (geb. 1928) gelingt es, das Vokabular rationalistischer Fachsprachen durch Aussagen zu ergänzen, die den Betrachter im Zusammenhang von Erlebnisraum und Geschichte sehen; sein Ort ist nicht fixiert, seine Betrachtungen sind nicht ein für alle Mal gültig. Das führt zwar nicht zur Erkenntnis eines sicheren Weltbildes und völlig zuverlässiger Prognosen wie etwa die Physik; aber es hilft Wissenschaftlern wie Künstlern, sich der feinsinnigen Differenzierung von Situationen und Atmosphären zu nähern. Die platonische Trennung von Ideen- und Erlebniswelt ist überwunden, ohne ein tranzendentes System zu bemühen, nah am wahrnehmenden Leben.

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Modelle als beispielhafte Dinge. 60

Als Werkzeuge der Produktion.

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Einführung

Eine zweite Gruppe der ausgewählten Modellbeispiele bilden die vorbildlichen, typischen Dinge, materielle Objekte, die für einen Arbeitsvorgang erfunden wurden und in wiederholbaren Situationen eingesetzt und wieder verworfen werden können. Sowohl die Kunst als auch die Wissenschaft arbeiten regelmäßig mit solchen Modellen; sie sind unentbehrliche Werkzeuge in Werkstätten, Labors sowie in den Schulen. Auf ihnen beruht die Möglichkeit der anschaulichen Darstellung von Theoriesituationen, Ideen, Entwicklungszielen und Wegen zur Herstellung idealer Produkte. Modellhafte Dinge als Darstellungen interessanter Artefakte, die zur Vorbereitung einer Produktion entwickelt werden, sind meist in bestimmten Maßstäben verkleinert, werden aber auch unter 1 / 1–Bedingungen hergestellt, tastbar, sichtbar, sinnlich erlebbar, aber dennoch abstrakt. Sie sind Werkzeuge; sie meinen nicht sich selbst wie ein Kunstwerk, sondern eine vorgestellte Wirklichkeit, die in ihren Eigenschaften nur andeutungsweise, auf bestimmte Merkmale beschränkt, in ihnen sichtbar wird.

In ihrer Gestaltung liegt das Material einer Vorschau auf etwas zu Entwickelndes; Modelle kündigen etwas an, ihre Geste ist vorbereitend, tastend, planerisch. Viele Arbeitsmodelle werden in Serien hergestellt, sind Varianten bestimmter Möglichkeiten, zwischen denen die Wahl offen ist. Sie gelten probeweise; der erfinderische Vorgang, in dem sie eine Rolle spielen, ist nicht abgeschlossen. Sie sind nicht endgültig, vielmehr vorläufig; sie sind spielerische Versuche, Kopfgeburten ihrer Erfinder. Die eigentliche, endgültige Realisierung fehlt noch, aber sie zeigen den Weg auf, der zu einer weiteren Entwicklung führt. Diese Aufgabe erfüllen sie besonders gut, wenn sie anschaulich, einfach und verständlich sind und den Weg ins Unbekannte zeigen, innovativ, provokativ. Da alle Kunstwerke und alle wissenschaftlichen Systeme Stadien eines Arbeitsganges sind, der weiter fortgesetzt und abgewandelt werden könnte, haben sie alle grundsätzlich Modell-Charakter. Jede Skulptur, jedes Bauwerk, jedes physikalische Theorem ist der Möglichkeit nach, d. h. unter Werkstattbedingungen

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betrachtet, ein Modell, das überholt, verbessert und abgewandelt werden könnte. Auf jedes dieser Werke treffen Gestaltungsregeln zu, jedes repräsentiert Prinzipien, die einmal gesetzt und von ihren Erfindern und Laboranten für fortschrittlich gehalten wurden, aber sie können durchaus variiert, widerrufen und durch andere ersetzt werden. Der Schöpfungsprozess wurde mit dem Einverständnis seines Schöpfers unterbrochen; aber jeder Komponist, jeder Architekt, jeder Systematiker im Bereich der Wissenschaft und Technik stellt sich die Frage: Ist der jetzige Zeitpunkt der richtige, die Bearbeitung des Themas abzubrechen, den erfinderischen Vorgang zu einem Ende zu bringen? Und jeder dieser Schöpfer weiß, dass seine Entscheidung willkürlich ist; häufig kommt sie nicht aus dem Arbeitsfeld selbst, sondern aus Umständen der Mache, die den Arbeitsvorgang von außen berühren, Geld, sozialer Druck, räumlichen Umständen, Wetter, Zeitverhältnissen, Modefragen etc. Im engeren Sinne sollte aber ein Werk nur dann Modell genannt werden, wenn es ausdrücklich zur Vorbereitung

zukünftiger Stadien hergestellt ist, wenn es also für seinen Schöpfer Werkzeug-Charakter hat. Durch die umfassende Bedeutung der Werbewelt in der modernen Zivilisation hat es sich eingebürgert, bei Autos, Schuhen, Möbeln und sogar bei immateriellen Formen des sozialen Lebens, etwa Familienstrukturen und Staatsformen, von Modellen zu reden, wenn sie typische Beispiele einer Entwicklungskette sind und Tendenzen zur Weiterentwicklung kaum noch spüren lassen. So kann die Einkind-Familie ein gesellschaftliches Modell oder die demokratische Verfassung ein politisches Modell sein. Allerdings tragen im Sinne der Grunddefinition, auch die Phänomene der Werbewelt, der Gesellschaftsformen und der Politik tragen wie die dinglichen Modelle der Technik Züge des Utopischen, also eines angestrebten Ideals. Die Verwendung des Modellbegriffs beim Konsum wird gegenwärtig mehr und mehr in den Wirkungsbereich der Werbung hineingezogen, die mit der Unterscheidung von Moden, Modulen, Models und Modellformen versucht, ein Vokabular

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zur Ordnung im chaotischen Angebot der Waren einzuführen. Eine der Konsequenzen der überschäumenden Fülle der Konsumangebote sind die ständig sich steigernden Tauschangebote auf der Seite der Produzenten. Sobald ein Kunde mit einem Produkt unzufrieden ist, steht ein anderes Modell zur Verfügung. Zur Auswahl wird meist ein umfangreicher Typenkatalog angeboten, aus dem der Käufer wählt. Die Techniken der Modelldarstellung, insbesondere durch Foto und Film, sowie die des Transports der ausgewählten Proben werden deshalb ständig weiterentwickelt und erreichen inzwischen hohe Überredungskraft und nicht selten künstlerischen Rang.

Ganze Berufszweige sind auf die Entwicklung bestimmter Modellserien fixiert, Autos, Kleider, Möbel, Fertighäuser etc. Die Qualifikation der jeweiligen Fachleute in Industrie, Handwerk und Kunst ist durch eben diesen Umstand stark eingeschränkt. Ohne den geschickten Umgang mit Modellen gibt es zwar keine Produkteentwicklung; aber die Entscheidung über Sinn und Unsinn von Vorbildern und Entwicklungszielen wird nicht von innen, d. h. aus den Bedingungen der Produktion, sondern von außen, d. h. von ihren Randbedingungen her, etwa der Nachfrage, den kulturellen Umständen, dem ZeitGeschmack, ästhetischen Ideologien etc., bestimmt.

Unberührt von dieser merkantilen Tendenz weitet sich in der technischen Welt mehr und mehr der Umgang mit Modellen, die als Zeichencharaktere verstanden werden. Damit kann die kulturelle Welt als Möglichkeitsraum besonders gut erfasst werden; und das trifft geradezu auf alle Entwicklungsebenen von Kunst, Wissenschaft und Technik zu.

Zur Charakteristik eines materiellen Arbeitsmodells gehört unter anderem die Variabilität des Materials. Die in Metall vorgesehene Idealform kann in Metall, aber auch z. B. in Holz, Kunststoff oder Gips dargestellt werden. Die Analogie von Original und Modell bezieht sich in diesem Falle nicht auf die Größe, die Oberfläche oder den Werkstoff, sondern nur auf die gestalterischen Merkmale, die Proportionalität der Teile etc.

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Die Beschränkung der Analogie auf ausgewählte, wenige Eigenschaften wird vom Betrachter akzeptiert. Die damit verbundene Vereinfachung erweist sich auch für die Verwendung in Lehrwerkstätten, Labors und Schulen als sinnvoll; sie macht den Vorgang der Entwicklung einprägsam. Ebenso ist der Maßstab ein variables, pragmatisch bestimmtes Merkmal. Der Modell-Charakter geht bei MaßstabVeränderungen nicht verloren, anders als im Bereich der Kunst. Verkleinerungen und Vergrößerungen werden aus der praktischen Rücksicht auf Werkstattvorgänge gewählt. Sie sollen die gemeinten Aspekte deutlich machen, die Arbeit am Entwurf beschleunigen und z. B. die Zusammenarbeit der Mitarbeiter erleichtern. Der primär pädagogische Sinn der Modellproduktion tritt hervor: Ein Werkstück steht beispielhaft für die Herstellung eines Originals. Allerdings erfüllt es diese Aufgabe bereits, wenn es eine einzige Eigenschaft dieses Originals oder auch einzelne wenige seiner Eigenschaften deutlich macht. Modell und Original müssen keineswegs

einander ähnlich sein. Die VorbildTauglichkeit des Modells betrifft, entsprechend einer Vereinbarung seiner Macher, nur ausgewählte Züge des Entwurfs. Allerdings: In der industriellen Produktion, etwa beim Autobau, hat sich ein Modellbegriff eingebürgert, der bei jedem Exemplar eines Typs das komplette Ensemble der Eigenschaften erwartet. Wird diese Erwartung enttäuscht, so führt das beim Handel möglicherweise, wie wir sehen, zu empfindlichen Rechtsansprüchen.

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Der Globus, die Armillarsphäre, Weltmodelle. 66

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Für Sokrates (469–399 v. Chr.) ist, wie Plato uns mitteilt, die Erde das ruhende Zentrum, um das sich innerhalb von 24 Stunden das All bewegt. Bei Kopernikus (1473–1543) ist die Sonne das Zentrum der Welt; die Erde dreht sich bei ihm um die Sonne und um sich selbst; für Tycho Brahe (1546–1601) dagegen sahen die Himmelsbewegungen anders aus: Die Sonne kreist im Jahresverlauf um die Erde mit ihrem Mond. Johannes Kepler (1571–1630) erkannte schließlich und teilte mit , auch wenn er sein Leben damit in Gefahr brachte, dass sich sowohl die Erde als auch die Planeten in elliptischen Bahnen um die Sonne bewegen.Solche Erkenntnisse waren zwar von Beobachtungen abgeleitet; aber die Wirklichkeit, von der die Astronomen

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sprachen, entzog sich der Alltagswahrnehmung, niemand hatte die Erde, die Planeten oder die Sonne je als Kugel gesehen. Sie figurierten nur als leuchtende Punkte am Nachthimmel, als dunkle Schatten auf der Scheibe des Mondes etc.; ihre Stellungen zueinander waren nur nach langen Beobachtungsphasen und deren unendlicher Wiederholung darstellbar. Die Bahnen der Sterne wie die Umrisse der Meere und die Kontinente der Erde konnten nur über lange Zeiten hinweg und durch ständig wiederholte Mühen von Expeditionen und Seefahrern in Karten, also statistisch und zeichnerisch zusammengetragen werden. Erst im Laufe des 17. Jahrhunderts war man weitgehend sicher, von welcher Art das flächige und räumliche Nebeneinander der Sterne und der Erdteile wäre. Ein venezianischer Modellbauer, Vincenzo Coronelli (1650 – 1718), gilt als der bedeutendste Erfinder anschaulicher körperlicher Darstellungen der Erde, kugelförmiger Globen. Er baute für Peter den Großen einen Riesenglobus von 2,85 m Durchmesser, der im Lomonossov-Museum in Petersburg zu sehen ist und für

Ludwig XIV. zwei Riesengloben von 3,85 m Durchmesser, die in einem Pariser Depot stehen, aber bis heute nicht ausgepackt wurden. Ein Globus zeigt annähernd die Wirklichkeit der Erde als Himmelskörper, nicht eine Wirklichkeit, die wir aus der Wahrnehmung kennen, vielmehr eine gedachte. Die Annahme dieser vorgestellten Struktur bewährt sich aber seit 1700 n. Chr. so gut, dass sie als Bild der Erde in allen Kulturkreisen zum Allgemeingut geworden ist. Ein ähnliche Aufgabe wie die Globen als Modelle der Erde haben die sogenannten Armillarsphären als Modelle des Sternenhimmels erfüllt. Sie zeigen die angenommenen Bahnen der Sterne, die räumlich umeinander verlaufen, Erde oder Sonne im Mittelpunkt, je nach Annahme des gedachten Systems. Soweit auch immer die handwerkliche und wissenschaftliche Entwicklung solcher Objekte entwickelt und vervollkommnet wird, sie bleiben Abstrakta, sie stellen Ideen dar, allerdings Ideen, die notwendig sind, um sich das astrale Weltganze vorzustellen. Ihre Produktion

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war von Anfang an von zweierlei Erfolg bestimmt. Erstens: Sie mussten, wie jede Landkarte, behilflich sein, über große Distanzen und über persönliche Erfahrungen hinaus Wege und Ziele zu finden; in dem Sinne waren sie Werkzeuge zur Orientierung bei der Bewegung im Raum. Columbus’ Erfolg und Misserfolg (Indien suchen und Amerika finden) hing völlig von der Leistungsfähigkeit dieser Werkzeuge ab. Und zweitens: Diese staunenswerten Objekte wurden von Anfang an, d. h. seit 1700, als Symbole für das Weltverständnis und den Machtanspruch des Besitzers verstanden. Daher wurden die schönsten und die größten Globen für die Könige von Frankreich und Spanien, für den Zar von Russland und den Kaiserlichen Hof in Wien gemacht. Ein Globus, den man Freunden und Untergebenen zeigen konnte, stellte, ganz ähnlich wie der Reichsapfel in der Hand Karls des Großen, den Anspruch dar, über die ganze Welt zu verfügen. Wenn Globen dann später in großen Klöstern verwahrt und gesammelt wurden, z. B. im Kloster Krems a. d. Donau, so galt der gleiche Anspruch,

auch wenn er auf religiöse Macht übertragen wurde; man fühlte sich zuständig für die ganze Welt. Unbekannte Zonen der Erde wurden von den GlobusHerstellern mit Schiffsgeschwadern, Fabeltieren, Schriften und dergleichen überspielt. Die Erdmodelle hatten also zweierlei Funktion. Sie dienten ihrem Besitzer der räumlichen Orientierung und seinem Interesse an Bewegung in unbekannten Gegenden; und sie stellten die Machtansprüche dar, die mit seiner sozialen Position verbunden waren. Dabei zeigten sie etwas, das man realiter nicht sieht, aber versucht, sich vorzustellen. Alle Modelle transportieren ihre anregende und auslösende Kraft durch Bildwirkungen. Ihre Ähnlichkeit mit dem Gemeinten wird instrumentalisiert, um die Präsenz des Gemeinten im Betrachter heraufzubeschwören. Dazu muss das gestalterische Thema aber durchaus nicht als Ganzes übertragen und wiedererkannt werden; manchmal genügt ein Detail, z. B. ein Rad statt des Wagens, eine Säule statt des Palastes etc.

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Portulane-Karten. Spiegel der Meere und der Länder. 70

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Um 1300 n. Chr. änderte sich in Europa die räumliche Vorstellung von der Welt, gleichzeitig änderten sich die Techniken ihrer Darstellung auf Papier oder Haut, mimetisch oder symbolisch. Die erlebbare, wahrnehmbare Welt, d. h. Gebirge, Meer und Küsten, Städte und Häfen wurden jetzt, anders als im frühen Mittelalter, als ein Theater von körperlichen Gegenständen aufgefasst, die an bestimmten Orten und in bestimmten Abständen den Reisenden begegneten, vor allem den Seefahrern. Bisher kannte man theologische Weltkarten, so etwa die Ebstorfer Weltkarte von 1234, die die damals vorgestellte Welt als Königtum Christi zeigt, d. h. als bewohnte, dreigeteilte Welt mit Europa, Asien und Afrika, die von ihrem dreieinigen

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Schöpfer beschützt und festgehalten wird. Dessen Haupt wurde im Osten dargestellt, seine Füße im Westen, seine Hände im Norden und Süden. Jetzt aber breitete sich mit der Seefahrt in Europa eine eher körperliche Neugier aus. Die empirische Philosophie der Zeit, etwa Roger Bacon (1214–1294), der Doctor mirabilis, machte neuerdings Erkenntnis von Erfahrung abhängig. Die göttliche Weltordnung sei in den Naturphänomenen ringsum ablesbar. Sogar die christliche Kirche stellte mit ihrer Bulle Unam Sanctam 1300 raumgreifende, weltumspannende Ansprüche. Marco Polo kehrte 1298 von seiner Asienreise zurück und schrieb im Gefängnis von Genua seinen Reisebericht Divisament dou Monde. Das Publikum solcher Erlebnisberichte war entzückt. Endlich wurde, legitimiert durch den Druck und die Vervielfältigung, der Mensch als Erfahrungstier gewürdigt. Der sinnliche Eindruck von Reiseerlebnissen wurde nach jahrhundertelanger Enthaltsamkeit zum Anteil der Weltdokumentation.

Um die praktischen Bedürfnisse der Seefahrer, Kaufleute und Abenteurer zu befriedigen, begannen erfinderische Zeichner in der Toscana, mit farbigen Tinten auf Lederhäuten Karten der erfahrbaren Welt herzustellen, die man auf Reisen mitführen konnte, die berühmten und begehrten Portulane-Karten. Sie sind nicht eigentlich Seekarten oder Atlanten, sondern eher grafische Kataloge von Orten und Touren, zeichnerische »Romane« mit vielen Reiseempfehlungen, Ortsangaben und Hinweisen auf frühere Reise-Erfahrungen, Informatorisches, aber auch Zauberhaftes, Gefährliches und bloß Vermutetes. Sie sind ganz und gar praxisbezogen und notwendige Teile der Ausrüstung für das Abenteuer der Ferne; sie wurden zugleich begehrte Fürstengeschenke. Für den Gebrauch an Bord hatte man die Bussole entwickelt, ein Navigationsgerät, das es erlaubte, die Abweichung der Richtung des eigenen Schiffes von der der Magnetnadel zu messen; die Dauer der Fahrten von Ort zu Ort ergab die Beobachtung der Sanduhren. Damit war das Instrumentarium gegeben, Seereisen

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Ein Resümee der Erinnerung von weitgereisten Kapitänen. Und, wenn möglich, eine Navigationshilfe für die Entdecker von morgen.

als Systeme von bedeutenden Punkten festzuhalten und im Voraus zu kalkulieren. Die Arbeit der Kapitäne bestand darin, die Angaben der Karten und eigene Beobachtungen miteinander zu vergleichen. Portulane-Karten waren also Reiseberichte, die durch eigene Erlebnisse ständig ergänzt wurden. Grafisch wurde den Reisewegen, ihren Orten und Nachbarschaften, ein Liniensystem von Kreisen, Quadraten und »Windrosen« unterlegt, deren Lektüre Auskunft über Richtungen und Entfernungen gab. Gebiete, deren Details unbekannt blieben, Terra incognita, pflegte man mit allerlei Fabeln, Namen und Bildern zu illustrieren und in die Leerflächen der Karten einzutragen. Dort findet man Hinweise auf mysteriöse Inseln, Seeungeheuer, hundeköpfige Tiere, Andeutungen der Apokalypse, Cyclopen und Drachen, seltsame Legenden und phantastische Mitteilungen aus der Volkskunst sowie Zeichen, die lediglich Empfindungen ausdrücken, Warnungen und Bedenkliches, etwa den Satz: »Durch die Meerenge von

Gibraltar quillt das Schlechte ins Mittelmeer.« Portulane waren also sehr persönlich eingefärbte Erlebnisberichte, Kataloge von zusammenge tragenen Erfahrungen, Träumen, Wünschen und Befürchtungen. Ihre träumerische Gestaltung zeigt: Die objektive Welt der Dinge wurde noch nicht von den subjektiven Erlebnisumständen abgelöst, wie das beim Beginn der Moderne zur selbstverständlichen Voraussetzung gültiger Erkenntnis wurde.

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Die Notation von Sphärenmusik. 74

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Entdeckerlust und Tatendrang von Königen und Abenteurern war am Ende des theosophisch geprägten Mittelalters gleichermaßen auf Erd- und Himmelslandschaften gerichtet. Beide Sphären wurden durch die Verwandlung der Weltsicht um 1300 n. Chr. körperlich und geistig neu erlebt. Ein Arsenal von Darstellungstechniken wurde dazu erfunden und eingesetzt, Texte, zweidimensionale Karten, Atlanten, Globen und vielerlei Gerät, das Auskunft geben sollte über die Überfülle der neuen Phänomene. Die neue Welt wurde in kürzester Zeit zum Objekt der Sehnsucht und der Habgier. Nicht nur die Erde, auch Himmelslandschaften wurden dargestellt, sofern sie durch die eben erfundenen Teleskope bekannt wurden,

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darüber hinaus allerdings weite Landschaften der phantastischen Einbildung. Armillarsphären, transportable Geräte, sowie Himmelskarten, auf Leder und Papier gemalt, zeigten vor allem die mathematischen Elemente und Figuren, deren Zusammenhang seit der Antike als Spuren der göttlichen Ordnung im Weltall verstanden wurden, vorwiegend Modellobjekte auf der Basis von Kreisen, Ellipsen und Proportionen ganzer Zahlen. Der Kosmos wurde als ein System konzentrischer Kugeln gedacht, auf deren Schalen sich astrale Körper bewegten und dabei »Sphärenmusik« erzeugten, eine Modellvorstellung, die rationale und poetische, wissenschaftliche und künstlerische Methoden spielerisch miteinander vereinigte.

verstanden als das Göttliche in den Dingen, hörbar, Oktave, Quart, Quint, Terz etc. Harmonikale Mathematik wurde als das Instrument aufgefasst, mit dem sich Qualitäten und Quantitäten einander zuordnen ließen. Das sollte nicht nur bei der Erforschung des Sternenhimmels, sondern auch beim Entwurf der Menschenwerke, nach der Schule des Pythagoras besonders in Musik und Architektur, das ganze Mittelalter hindurch oberste Richtschnur bleiben. Hier liegt für das Harmonieverständnis in Europa bis zum Beginn der Moderne der Schlüssel. Hier ist der Mensch mit dem Göttlichen verbunden, der Kosmos der Dinge mit dem Kosmos der Empfindungen, der logisch identifizierbare mit dem irrationalen Anteil der Erkenntnis.

Der Monochord des Pythagoras aus dem 6. Jahrhundert v. Chr. ist wohl das bedeutendste Modell der Sphärenmusik in der frühen griechischen Antike, das die mathematische Struktur der Schönheit darstellte. Die proportionale Teilung einer einzigen Saite im Verhältnis ganzer Zahlen zueinander, 1:1, 3:2, 4:3 etc., machte die Harmonie dieser Welt,

Die Himmelskarte des Andreas Cellarius Harmonia Macrocosmica von 1660 ist ein Prachtexemplar aus dem Instrumentarium der mittelalterlichen Weltentdecker. Sie stellt die Erde im Mittelpunkt der Weltereignisse dar, das Planetensystem in Kreisformen ringsum und nebenher Hinweise auf die Wissenschaftshintergründe der

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Eine poetische Annahme: die Harmonie des Weltalls. Sie ist denkbar; aber ist sie auch darstellbar?

damaligen Moderne. Ein Himmel voller Putti erzählt von der Erlebniswelt der Augen, die Gesehenes wie Erträumtes erfassen kann; zugleich wird an akademische Schemata erinnert, diesmal astronomische Hypothesen von Ptolemäus und Tycho Brahe. Wahrnehmungs- und Vorstellungswelt werden lustvoll nebeneinander präsentiert, das, was die Sinne leisten, neben dem, was der Verstand berechnet, produziert und kombiniert, Formen der Kunst, die Erlebnisse simulieren können, und wissenschaftliche Arbeiten, die Gedachtes in Symbolen und Begriffen darstellen. In das Verständnis von »Spärenmusik« gingen wohl alle diese Wirklichkeiten und Darstellungsmöglichkeiten mit ein. Sphärenmusik wurde nicht wie Kunstmusik zeitlich linear gedacht, sondern zugleich sichtbar, hörbar, erlebbar und Gegenstand des abstrahierenden Denkens. Die Überbetonung der Ideenwelt gegenüber der sinnlichen, die in der klassischen Antike durch Plato eingeführt und im christlichen Abendland von Augustinus zur Grundlage der Welterkenntnis

gemacht wurde, kann bis heute nur mühsam infrage gestellt werden. »Sphärenmusik« als Gegenstand der Erkenntnis ist für das Allgemeinverständnis heute nicht mehr spürbar. Dennoch bestimmt ihre Grundvorstellung immer noch bedeutende Denkfiguren in Philosophie, Wissenschaft und Kunst. So hat z. B. Alexander v. Humboldt sein Naturbild besonders in seinem Hauptwerk Kosmos, 1845–1862, als eine ganzheitliche Komposition beschrieben, in die einerseits die erlebten Fakten eingegangen sind, die Formen und Anordnungen der Dinge ringsum, und andererseits subjektive, geistige und emphatische Haltungen, die sich zu einem Ganzen zusammenschließen – wie bei der Betrachtung von Kunstwerken. Goethes Forschung und Produktion nennt er als ein vornehmes Beispiel für die Erkenntnis des geordneten Weltganzen. Auch in der Moderne gibt es Anklänge an diese antike Denkfigur, z. B. in der Architekturtheorie bei Le Corbusiers Proportionslehre Modulor oder in der Musiktheorie bei Hans Kaysers Lehrbuch der Harmonik.

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Kalenderbauten in Jaipur. Bauwerke als astronomische Instrumente. 78

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1437 wurde in Samarkand das Observatorium des Großfürsten Olug Beg eingeweiht, ein Bauwerk, das einem astronomischen Zweck diente, eine monumentale Doppelmauerscheibe aus Ziegel, Zwischenabstand 2,40 m, an ihrem oberen Rand kreisförmig geschnitten, Radius 40,10 m. Das Ganze sorgfältig mit Marmor abgedeckt und exakt in Nordsüdrichtung aufgerichtet. Man konnte mit diesem Objekt den Sonneneinfallswinkel messen und dessen tägliche Veränderung in eine Skala eintragen, die in das Marmorband eingeritzt war: Ein astronomisches Instrument von der Größe eines Bauwerks, das die wichtigsten Bewegungen der kosmischen Welt in eine körperlich erlebbare Information übertrug.

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Was für eine Erfindung! Diese architek-tonische Großtat, ein Bauwerk zu errichten als Modell für die Korrelation von Raum und Zeit, sie machte auf den Maharadscha Jai Singh II 1728 einen so starken Eindruck, dass er in ähnlicher Form fünfmal Architektur als Sammlung »himmlischer Messinstrumente« entwerfen und bauen ließ, in Delhi, Jaipur, Mathura, Benares und Ujjain, die größte und besterhaltene dieser Anlagen, die jeweils eine Fülle solcher »Kalenderbauten« präsentieren, in Jaipur. Man betritt auch heute noch ein Himmelsinstrument dieser Art wie ein Gebäude. Der Betrachter sieht präzise gemauerte und verputzte Bauteile, Scheiben, Türme und Schalen, durch Treppen ergänzt, um sich herum angeordnet. Man lernt, dass es sich um monumentale Sonnen-uhren handelt, die mit ihren Bühnenaufbauten nicht nur Auskunft geben können über den Einfall des Lichts, Maxima und Minima im Verlauf des Tages und der Jahreszeit, sondern auch eine anschauliche Vorstellung von den bisher nur gedachten

Raum-Zeit-Strukturen der Erde und anderer Himmelkörper. So ähneln z. B. die riesigen Quadranten mit ihren Kreisformen dem Erdäquator, sie sind parallel zu ihm angeordnet. Eine dreieckig aufragende begehbare Meridianwand dient als Gnomon, d. h., sie wirft scharfe Schatten auf die Quadranten und ist auf den Himmelsnordpol eingerichtet. Bauten solcher Art nennt man in Anlehnung an die Meditationsdiagramme der tantrischen Kultur, d. h. der barocken Spätformen des Hinduismus, Buddhismus und Jainismus, Yantras. Sie dienen ähnlich wie die Yoga-Techniken dem Bewusstseinstraining. Energien des Kosmos sollen im Leib des Betrachters spürbar werden. Yantras werden also nicht nur als Messinstrumente, sondern, das ist ebenso wichtig, auch als Meditationsbilder verstanden, vierdimensional; sie führen dem Betrachter den kosmischen Raum und seine zeitliche Veränderung vor Augen. Die Gestalt wird zunächst durch extreme Positionen bestimmt, etwa die Auf- und Untergangsdaten von Sonne, Mond und Sternen, den Zenitdurchgang der Sonne an

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Wissenschaft im Stadtbauformat. Für Fachleute wie für jedermann.

bestimmten Tagen, die Erscheinung des Morgensterns etc. Die Mittelwerte, d. h. tägliche und stündliche Verschiebungen zwischen den Extremen, werden dem Beobachter durch Einmessung von Schattenwurf oder Blickrichtung zu bestimmten Zeiten in kontinuierlichen Skalen auf der Oberseite der Quadranten bekanntgemacht. Das ergibt die Brauchbarkeit der Anlagen für die Zukunft, ihren Kalender-Charakter. Ein Nebeneffekt der Messvorgänge war die Niederschrift von kalendarischen Tabellen und Sternkatalogen durch die angestellten Astronomen. Bedeutender war aber in der historischen Situation ihrer Entstehung die öffentliche Wirkung im Stadtraum. Der Bau von Himmelsmodellen wurde als ein Beweis für die globale Orientierung der jeweiligen Herrscher verstanden, die ihrerseits versuchten, damit ihre soziale Macht zu legitimieren. Menschenwerk musste harmonisch und glückbringend sein und deshalb auf kosmische Ordnung abgestimmt werden. Deshalb hatten die Bauwerke große öffentliche Bedeutung.

Das Observatorium von Jaipur wurde 1734 mit Hilfe arabischer und jesuitischer Gelehrter vollendet. Die philosophische Grundidee, kosmische Ordnung durch Architektur auf der Erde darzustellen, sichtbar zu machen, wurde allerdings schon 2000 Jahre früher in China formuliert und in monumentalen Maßen realisiert. Ganze Stadtgrundrisse einschließlich ihrer Straßenachsen, Mauern, Pagoden und Tore wurden also in der Frühzeit Chinas als Modelle für die Ordnung des Naturkosmos verstanden. Durch architektonische Formen bekamen die Darstellungen der Geomantik eine dritte und vierte Dimension. Die Erde wurde als ein Gestirn verstanden, die Stadt als ein Schriftzeichen, beides eingefügt in eine allumfassende Weltordnung.

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Meru, der indische Weltenberg. 82

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Nach dem Verständnis alter indischer Mythen ist Meru, der Weltenberg, sowohl ein Modell des Kosmos als auch ein Modell des leiblichen Bewusstseins, das man, tausendfach realisiert, in Städten und in der offenen Landschaft findet. Der Betrachter soll in diesem Objekt das Weltganze erkennen, das als ein Berg gestaltet ist. Seine Basis ist quadratisch; sie stellt die Erdscheibe dar, nach alter vedischer Vorstellung eine Insel, die auf dem unendlichen Ozean schwimmt, im »Milchmeer«, von einer Schildkröte getragen. Darauf erhebt sich symmetrisch, um eine vertikale Weltachse angeordnet, ein Hügel, ein Weltenberg, der den Himmel trägt. Der Rumpf mag zylindrisch sein und oben eine Halbkugel tragen oder

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schräg, terrassiert und pyramidenförmig zugespitzt. Immer steht die Achse an einem heiligen Ort, der jeweils als »Nabel der Welt« verstanden wird; sie weist von unten nach oben zum drei-, fünf- oder gar neunstufigen Himmel. Frühe Weltenberg-Bauten finden sich schon in der sumerischen Hochkultur Mesopotamiens (3500–2000 v. Chr.), wurden aber später tausendfach im indischen Kulturraum gebaut. Sie sind Bauwerke ohne Innenraum und dienen nur der Meditation. Der Meru, verstanden als Modell des Welt-Ganzen, meint sowohl Außenwelt, Meer, Erde und Himmel, als auch Innenwelt, d. h. Bewusstseinsaufbau und Erkenntnisstufen. Außen- und Innenwelt werden als Stufenbau verstanden, wobei die Zahl der konkreten, gebauten Stufen, 3, 7 oder 9, symbolisch interpretiert werden kann. Das Bauwerk als Modell der objektiven Welt soll durch seine elementare Geometrie, Punkt, Quadrat und Kreis, die größtmögliche Ruhe signalisieren; sein Standort ist mit einer vertikalen Achse im bewegten Weltmeer festgestellt, er wird zum »Nabel

der Welt«, der die Unendlichkeit des »Ur-Meeres« fixiert. Als Modell der subjektiven Welt kann diese Achse zugleich als Rückgrat gesehen werden; ihr Aufbau zeigt von unten nach oben die Entwicklung der menschlichen Erkenntnis vom Dunkeln zum Hellen, vom Körperlichen zum Himmlischen, von der Enge zur Weite. Sowohl der Anblick eines Meru-Tempels aus der Vogelperspektive als auch sein Grundriss werden in hinduistischen und buddhistischen Klöstern als Madala in Sand auf den Boden gezeichnet. Auf Seide oder Papier übertragen wird es zum transportablen Meditationsbild; so kann man Meru-Darstellungen auf Reisen mitnehmen. Auch die Baupläne der Tempel sind in diesem Sinne Mandalas, also konzentrische Figurationen aus Quadraten und Kreisen, in die Tiere, Menschen und Götter eingefügt sind. Der Weltenberg Meru wird im Mythos inmitten des quirligen »Milchmeeres«, des unendlichen Ozeans gedacht. Um diese Vorstellung von Ruhe in der Unruhe darzustellen, werden

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Das Weltall als Architekturmodell, vorgestellt als ein mythischer Berg.

auch temporäre Tempel auf gigantischen Holzwagen gebaut, die auch heute noch bei südindischen Tempel-Festen realiter bewegt und im Tempelrevier herumgefahren werden. Aber auch die Meru-Tempel in Stein werden andeutungsweise als Wagen dargestellt. Unter ihrer Basis sieht man Schlangen, die sie bedrohen, sowie Elefanten und Schildkröten, die sie durch das Ur-Meer tragen. Der Fahrzeugcharakter dieser Darstellungen führt besonders an Festtagen im Stadtbild die Weltgeschichte vor. Der Weltenberg wandert. Das Schicksal ist für jedermann greifbar. Man berührt die Ewigkeit mit Händen. Archaische, frühe Formen des MeruModells findet man in Mesopotamien. Sie werden als begehbare Tempelberge benutzt, sind ringsum abgestuft und mit Treppen für den Aufstieg aus der Menschenwelt zu den Göttern besetzt. Vermutlich war der Turmbau zu Babel ein solcher Zikkurat. Kaum ein Architektur-Motiv hat so sehr die Phantasie der Maler und Zeichner belebt wie der Turm von Babel. Er zeigt überaus anschaulich den zugleich möglichen und unmöglichen,

hoffnungsvollen und vergeblichen Weg der Menschen zu den Göttern. Seit Jahrtausenden wiederholt, ist diese Anstrengung ein Ur-Motiv der menschlichen Sehnsucht nach Erkenntnis und Glauben, offenbar ein anthropologischer Archetypus.

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Idealstädte. Kreis und Quadrat als mythische Figur. 86

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Sowohl die »Urform« der Erde als auch die »Urform« der Stadt werden in den ältesten europäischen Darstellungen rund vorgestellt: Der Erdkreis und die heilige Stadt Jerusalem sind Kreise, häufig durch Achsenkreuze gegliedert, also mit einer Mitte und einem regelmäßigen Rand. Der Kreis ist für Pythagoras und Plato die vollkommenste aller möglichen Gestalten. Die Schulen der Pathagoräer lehrten schon 550 v. Chr. in Griechenland und Süditalien, das Göttliche erscheine den Menschen in den Formen der elementaren Geometrie, wie die Natur sie offenbare, insbesondere der Sternenhimmel. Man stellte sich vor, die Planeten erzeugten auf Kreisbahnen »Sphärenmusik«, sinnlich nicht erlebbare Töne, die harmonisch miteinander

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in Einklang stehen. Die gestalterische Arbeit der Menschen müsse sich sinnvoll darin einfügen. Diese »platonische« Idee, aus ihren Urformen in Indien, Persien und Ägypten entwickelt (Pythagoras hat nachweislich Reisen nach Babylon und Ägypten gemacht), bestimmte seitdem die europäischen Harmonielehren bis in die Goethezeit und den Akademismus der École des Beaux-Arts. Das Quadrat im chinesischen Kulturkreis wurde seit vorhistorischer Zeit als Abbild der Erde verstanden, der Kreis als Abbild des Himmels. In Europa wurden beide häufig durch ein Achsenkreuz gegliedert, so z. B. die römische Militär-Stadt, die im Mittelmeerraum immer wieder nach diesem Schema gebaut wurde. Bei den Entwurfsstudien der französischen Revolutionsarchitektur, also beim Beginn der Moderne, wurde eine Art »Quadratur des Kreises« versucht, also die Überlagerung der beiden Urformen, so etwa in den Plänen für den Friedhof von Chaux, nicht ausgeführt, und beim Rahmenplan für die Stadt Chaux, um 1785 ausgeführt, beides Utopien, die im Zeitalter der Moderne wohl nicht

fortzuführen waren. Irdisches und Göttliches, Himmel und Erde waren nicht mehr mit Kreis und Quadrat zu symbolisieren. Das Denken mit Zeichen musste seitdem das Fraktale, die Disharmonie und Widersprüche einbeziehen, wie es in der neuesten Zeit etwa Bernhard Tschumi mit seiner Planung für La Villette, Paris, 1982–1998 gelungen ist. Die geometrischen Muster der historischen Idealstädte, Kreuz- und Quadratformen oder Sterne, blieben meist graphisch realisierte Denkmodelle: Sie wurden nur selten, abgesehen von wenigen Ausnahmen, in gebaute Architektur umgesetzt. Sie dienten ihren Protagonisten als Schaumaterial belehrender Lektüren und Vorträge. Sie mussten einprägsam sein und ihre Inhalte einfach artikulieren, meist soziale und/oder religiöse Utopien; sie transportierten ein »messianisches« Moment. Zu den architektonisch realisierten Beispielen für solche Idealmodelle gehören etwa Palma Nova in Oberitalien (16. Jht.), Neuf-Brisach (1699–1703, Entwurf Vauban)

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Stadtbauträume, mitten im Alltag realisiert. Begehbare Vorstellungsbilder.

am oberen Rhein, Karlsruhe (1739) und Jülich (ab 1547). Die Barockfürsten und ihre Festungsbaumeister waren von den dekorativen Grundfiguren Kreis, Quadrat, Achteck, Stern etc. aus militärischen und zugleich gestalterischen Gründen überzeugt: Sie vereinigten in ihren Augen das Praktische mit dem Schönen. Quadratraster wurden mit Vorliebe von Sozialreformern als gestalterische Idealstrukturen gewählt: Ihre überdeutliche euklidische Ordnung stützte wohl ihre utopische Vorstellung, alle Menschen seien gleich. Diese Idee einer sozialistischen Idealstadt trat, global verbreitet, mit der Blüte des ersten industriellen Zeitalters hervor und korrespondierte mit dem gewaltigen Wachstum der neuen Arbeiterklasse, verlor aber bei ihrer Gestaltung im Architekturraum freilich ihre mythische Qualität. Im Gegenteil, die Anwendung von Quadratrastern erinnerte jetzt an die Sprache der Maschinen und Maschinenprodukte. Dennoch haben sich ihr bedeutende Städtebauer der Moderne mit Begeisterung bedient,

nicht zuletzt auch Ludwig Hilberseimer, der 1929–1933 als Stadtbaumeister am Bauhaus lehrte. Selbst die naiven »Idealstädte« aus dem Spielkasten der Kinder beziehen sich, wie Günther Feuerstein aufzeigt, auf verwunderliche, doch bedeutende Weise auf die Grundformen Kreis, Quadrat und Kreuz.

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Das Pantheon in Rom. Ein Weltmodell, magisch-mythisch und machtpolitisch. 90

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Das Pantheon, 118–28 v. Chr. von Kaiser Hadrian in Rom gebaut und allen damals bekannten Göttern gewidmet, ist ein Weltmodell von philosophischem Rang, das in monumentalen Dimensionen Aussagen macht über den menschlichen Verstand und die menschliche Wahrnehmung, wie man sie nie vorher objektivieren konnte. Denn das Gebäude, insbesondere sein Innenraum, ist die ausdrückliche Darstellung einer Idee, die die Rolle des denkenden, wahrnehmenden Menschen im Universum betrifft. Im Schnitt des Bauwerks wird deutlich, dass man sich in seinem Inneren eine Kugel vorstellen kann, die den Raum füllt und in seiner Mitte den Boden berührt;

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sie hat einen Durchmesser von 43,20 m. An dieser Stelle steht der ideale Betrachter. Er selbst ist also hier und nicht etwa im geometrischen Zentrum der Kugel der Mittelpunkt der Welt, die sich rings um ihn ausbreitet. Dieser Sachverhalt wird bei der Betrachtung der Details deutlich. Die »Inhalte« der Architekturformen wechseln, das ist besonders wichtig, mit dem »Äquator« der Kugel ihren Charakter; oberhalb und unterhalb sprechen sie eine verschiedene Sprache. Die obere Hälfte, die Kuppelschale, halbkugelförmig, trägt eine regelmäßige Kassettengliederung, deren Elemente von unten nach oben kleiner werden. Das Besondere ist: Die rahmenartige Vertiefung der Kassetten ist so detailliert, dass sie im Auge des Betrachters, der doch auf dem Boden steht, einen regelmäßigen, euklidischen Tiefenraum erzeugt. Er sieht Parallele, rechte Winkel und gleiche Rahmenbreiten rings um jedes Element, wenngleich diese in den verschiedenen Höhen »objektiv« in verschiedenen Breiten hergestellt sind. Durch dieses Verfahren wurde hier zum ersten Mal in der Architekturgeschichte eine geometrische Struktur rings

um einen menschlichen Betrachter so gestaltet, dass seine Augen zum Mittelpunkt der Welt werden. »Die Welt« ist hier die Erlebniswelt des Menschen. In der unteren Hälfte des Bauwerks, vom »Äquator« der Kugel an abwärts, werden konventionelle Details verwandt, das sind solche, die unabhängig vom Auge des Betrachters als symbolische Formen verstanden werden, im Wesentlichen als Anspielungen auf den griechischen Tempelbau, also Säulen und Pilaster mit Kapitellen, Architraven und Rundbögen. Die untere Hemisphäre dieses merkwürdigen Globus erinnert also mit seiner Bilderwelt an die von Hadrian gepflegten Bildungsgüter, an das gelehrte Wissen; die obere dagegen überzeugt den Betrachter von der Weltordnung durch seine eigene, unmittelbare Wahrnehmung. Das ist neu, das ist revolutionär. Zwei Bilderwelten sind aufeinander gesetzt; sie widersprechen sich und harmonieren zugleich. Der gebildete Mensch der römischen Jahrtausendwende sollte über zweierlei Wissen verfügen: das überkommene, durch die Griechen vermittelte sowie

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Wie Hadrian die Summe seiner Weltkenntnis in Rom vorführt. Erstmals der wahrnehmende Mensch im Mittelpunkt.

das eigene, auf der Wahrnehmung des einzelnen Menschen beruhende. Das ist nach Plato und Aristoteles ein bedeutender Höhepunkt der europäischen Bildungsgeschichte. Hadrian hat also das Pantheon als ein monumentales Lehrstück gebaut, als ein Modell seiner Erkenntnistheorie, mitten in Rom, für jedermann begehbar. Übrigens betritt man dieses frühe »Museum der Anthropologie«, in dem der betrachtende Mensch im Mittelpunkt steht, um ihn herum die Statuen aller bekannten Götter der Welt, durch eine Vorhalle, die eine einzige »Hommage« an die griechischen Lehrer darstellt, das Zitat eines 8-Säulen-Tempels. Niemand kann das neue Menschenbild erreichen, also selbst im Mittelpunkt stehen, ohne durch diese Vorhalle zu gehen. Bis heute. Viele Anreize zur Wahrnehmungslust, zu überraschenden Entdeckungen, enthält sicher auch Hadrians berühmte Sommervilla bei Tivoli. Neckische Wasserspiegel, betörende Grottengeräusche, wandernde Schatten

figurativer Skulpturen, also mancherlei Augen- und Ohrenzauber. Aber die belehrende Komposition des Pantheon blieb unübertroffen. Nicht nur durch das Bekenntnis zum Vorrang des Griechischen in einem architektonischen Modell, das jeder Römer verstehen konnte und musste, sondern durch die Einführung des menschlichen Körpers, insbesondere des Auges, als Mittelpunkt einer medialen Szene.

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Il Redentore, Venedig. Der ideale Anblick. Architektur für Betrachter. 94

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Diese Kirche wird auch heute noch, wie zur Zeit ihrer Entstehung, 1577, als ein besonderes Lehrstück der Baukunst verstanden. Der Architekt, Andrea Palladio, (1508–1580), in Vicenza aufgewachsen, in Rom geschult, war an zwei pädagogischen Aspekten gleichermaßen interessiert. Erstens sollte das Vokabular der griechisch-römischen Tempelarchitektur dem kultivierten Publikum im Panorama der Giudecca von Venedig angeboten werden; an das Vorbild der Antike sollte diese Fassade auch im Alltag erinnern. Zweitens war es die Art der Belehrung, die ihn, den hochgebildeten und weit gereisten Baumeister, reizte. Die Präsentation der monumentalen Formen ging von den neuesten Kenntnissen des

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perspektivischen Raumes aus, also vom Wissen über den Sehvorgang bei einem gebildeten Betrachter und Besucher. Zunächst sein Vorschlag für das Formenangebot: Das Gesicht des Bauwerkes führt wie eine Theaterkulisse mehrere ineinander geschachtelte Tempelfassaden vor, deren Gliederung typische Elemente griechisch-römischer Monumentalarchitektur zeigt, Säulen und Pfeiler, jeweils mit Basis und Kapitell, Tempelarchitrave und Giebelfelder mit erlesenen Proportionen sowie gegliederte Wandscheiben mit Öffnungen und Nischen für plastischen Schmuck, dazu symmetrische Treppen und Balustraden im Mittelfeld. Sie führen ihre ästhetischen Aussagen wie Schautafeln auf, eine Art der Präsentation, die an Romstudien gelehrter Bildungseinrichtungen dieser Zeit erinnert, Zeichnungen und Bücher, wie sie noch Jahrhunderte danach von Reisenden auf ihrer Suche nach römischen Idealen benutzt wurden, von Johann Wolfgang v. Goethe z. B., der Mappen mit Zeichnungen Palladios als Reiseführer für

Italien benutzte. Die Formentypologie war den Reisenden so wie den gebildeten Venezianern geläufig. Wichtiger noch als der architektonische Formenkatalog, der die Antike zitierte, ist aber die Art seiner Darstellung. Die Fassade, eine Art Theaterkulisse, gestalterisch dicht gepackt, kommt uns heute wie eine Vorwegnahme der modernen Collage vor; sie erinnert an ein Kernstück der modernen Malerei, die von Georges Braque (1882–1963) und Pablo Picasso (1881–1973) um 1910 zu hoher Blüte entwickelt wurde. Flache Formen werden so nebeneinander angeordnet, dass das Auge des Betrachters sie hintereinander gestaffelt wahrnimmt. Ein illusionistischer Tiefenraum entwickelt sich durch die Augenbewegungen des Betrachters; der Betrachter wird so zum Mitschöpfer des Raumes, übrigens auch, im Gegensatz zur Guckkastenbühne, im schrägen Blick. Das Gesamtbild erscheint, aus vielen Teilen flächig zusammengesetzt, als »gute Gestalt«; jedes Bildelement reagiert auf jedes Bildelement. Die Manipulation des Sehraumes,

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Modellszene für einen idealen Wahrnehmungsvorgang. Der Mensch in seiner perspektivischen Welt.

die durch diese frühe Kulissenanordnung gelingt, versuchte man, an der Giudecca theaterhaft zu verstärken, indem man einmal jährlich zum Erlöserfest eine Votivprozession durchführte, bei der die Gläubigen über eine temporäre Holzbrücke aus Pontons auf die Fassade zugeführt wurden. Das Erlebnis des Sehraumes stand also hoch im Kurs. Auch bei der Gestaltung des Inneren wurden die beiden Aspekte, Belehrung und Augenraumgenuss, berücksichtigt. Das Langschiff mit seinen fünf Säulenpaaren zeigt im Kirchenschiff das Arsenal der informativen Elemente, Säulen, Architrave etc., die Vokabeln der bewunderten antiken Formenwelt. Aber der Erlebnisraum wird durch einen Kunstgriff zur einer »modernen« Bühne gemacht. Um die Säulen, Architrave und Formenzitate herum, farbig gestaltet, ist eine weiße Hülle gelegt, Tonnengewölbe und Außenwand. So wird das bedeutungsvolle Anschauungsmaterial im Augenvordergrund isoliert, von einem leeren Hintergrund abgehoben. Auch hier findet theaterhafte Belehrung statt, die zur Präsentation ein geradezu modernes

Wissen um Wahrnehmungseffekte nutzt. Palladio bleibt zwar, wie auch in allen Fassaden seiner berühmten Villen, ein gelehriger Schüler und getreuer Lehrer seiner humanistischen Schule; zugleich entwickelt er aber dabei das Instrumentarium einer erkenntnistheoretischen Moderne, das Spiel mit dem Augenraum des Menschen, dem Erlebnisraum des Individuums. Das ist neu, nicht mehr antikisch und nicht mehr mittelalterlich. Er sammelt antike Zitate; aber er kombiniert sie zu neuartigen Collagen; er zerlegt sie in Fragmente und benutzt sie als »Spielmaterial« in einem neuartigen Wahrnehmungsraum. Das Ergebnis, vor allem die Fassade von Il Redentore, erscheint uns dadurch wie ein früher, synthetischer Kubismus.

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Étienne-Louis Boullée. Der Kenotaph für Newton, ein Umkehrmodell. 98

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Für das Projekt Kenotaph für Newton hat Étienne-Louis Boullée (1728–1799), der große Revolutionsarchitekt, zauberhafte Modell-Zeichnungen angefertigt, es sind vielleicht die ausdrucksvollsten Zeichnungen der Architekturgeschichte. Sie werden in der Nationalbibliothek Paris verwahrt. Der Modell-Charakter des gemeinten Bauwerks ist offensichtlich; aber es ist nicht »objektivistisch«, d. h. das gedachte Bauwerk wird nicht als »Ding« vorgestellt mit den objektiv ablesbaren Eigenschaften des Materials, der Konstruktion, der Abmessungen, der technischen Dimensionen, die ein Entwurf normalerweise vermittelt. Vielmehr wird der Eindruck dargestellt, den das ausgeführte

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Bauwerk im Betrachter erzeugen würde, also ein subjektives Erlebnis. Dazu wird ein Vorstellungsraum von gewaltigen Gefühlsdimensionen simuliert. Unter einem dramatischen Wolkenhimmel erscheint der Baukörper hyperplastisch, unter Nacht- oder Tagesbedingungen magisch beleuchtet. Durch winzige Details, Personen am Eingang, Bäume etc. erscheint der Architekturraum derart monumentalisiert, dass man ihn schlagartig für täuschend echt und zugleich für unmöglich hält. Nur ein besessener Regisseur kann solche theaterhafte Wirkungen auf eine Bühne bringen. Boullée will offenbar, dass schon der erste Eindruck ins Herz trifft; in unserem Wahrnehmungsraum zeigt sich Unmögliches. Ob bei Tag oder bei Nacht (er hat beides gezeichnet!), im kosmischen Raum breitet sich Architektur als etwas Ungeheuerliches aus. Wolken, Dunst, Schatten etc. kommen zwar aus dem uns bekannten Augenraum; aber das Pathos der geometrischen Volumen ist so überdimensional und ungewöhnlich, dass es jede Erfahrung übertrifft.

Solche Großartigkeit, solch euphorische Stimmung waren bisher nur Götterbauten vorbehalten, Tempeln, Kirchen, vielleicht Bauwerken für königliche Tote. In Boullées Szenerie herrscht eisiges Schweigen. Weit ab vom Alltag erzeugt sie im Betrachter Erschütterung und Staunen, bei aller Ohnmacht vielleicht ein Gran Stolz: Zu solchen Projekten ist die Menschheit fähig! Das einfallende Licht ist entscheidend; Sonne, Mond und dramatische Wolkenhimmel lassen das Auftreten der Architektur als ein Sternenereignis erscheinen; es kann nur den höchsten Ideen gewidmet sein. Nie ist Symbolik in der Architektur so sinnlich dargestellt worden, Gedachtes so provokativ wahrnehmbar. Mit der Widmung des Gebäudes ist sein Gedankenhintergrund festgelegt. Es handelt sich um eine Hommage an Isaac Newton, dessen Physik in der Zeit der Revolution für die Ultima Ratio der Welterkenntnis gehalten wurde. Um die Natur, den Gegenstand dieser Welterkenntnis, als ein geordnetes Ganzes darzustellen wurde das Bild einer Kugel gewählt, in deren Mittelpunkt

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Ein pathetisches Symbol für den menschlichen Geist und die Ganzheit der technischen Welt. Euphorisch vorgetragen. Aber unbaubar.

die Sonne und der Mensch stehen. Nachts soll ein gewaltiges Lichtaggregat den Hohlraum erhellen, so dass durch Bohrlöcher in seiner Hülle Lichtstrahlen radial nach außen treten und den Umraum, d. h. Paris, illuminieren. Tagsüber wäre der Lichtaustritt umgekehrt; im Inneren würde die Hülle mit ihren Bohrlöchern für ihren Besucher den Sternenhimmel darstellen. So würde der Kenotaph für Newton, den größten der menschlichen Geister seit Aristoteles, ein belehrendes Modell für die Welterkenntnis sein, die Natur und Mensch in den Mittelpunkt stellt. Götterglauben und magisches Mittelalter waren damit überwunden. Boullée hat mit seinen atmosphärisch starken Zeichnungen deutlich gemacht, dass die »Moderne« (im Verständnis der französischen Revolution) nicht auf Technik, auf das Objektiv-Dingliche beschränkt ist, das die Menschheit aufgefordert ist zu beherrschen. Vielmehr ist die Welt auch als Innenwelt, als Vorstellungswelt erkannt. Kein Kosmos der Dinge ohne den Menschen als erkennendes Subjekt! Die Baukunst

ist das willkommene Mittel, dies darzustellen und öffentlich sichtbar zu machen. Die Begegnung mit den gebauten Formen unter den schönsten Bedingungen der Natur, vor allem Licht, Schatten und Atmosphäre, wird zu einem feierlich vorgetragenen Akt der Belehrung, einem Staatsakt. Nicht nur der Wissenschaft und nicht nur einem privilegierten Herrscher soll soll das neue Instrument dienen, sondern jedermann, dem Menschen der Zukunft. Allerdings würde dieses neuartige Museum der Erkenntnisse und Emotionen nicht einzelne, objektiv gegebene Dinge zeigen wie die physikalischen Sammlungen späterer Zeit, sondern den Menschen selbst und die Grenzen seines Wahrnehmungsraumes.

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Souzhou. Philosophische Gärten bei Shanghai. 102

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Souzhou liegt im subtropischen Klima des Yang-Tse-Deltas. Hier, in einer Landschaft, die seit 6000 Jahren zivilisiert wird, hat man in den Dynastien Song, Yuan, Ming und Qing, also schon vor Jahrhunderten für hohe Beamte, reiche und gelehrte Pensionäre Landschaftsgärten besonderer Art konzipiert und gebaut. Jeder davon ist von anderer, eigener Art; es gibt allein 70 in dieser Stadt. Die Namen sind: Garten der Harmonie, Garten der Meereswellen, Garten vom Löwenwald, Garten des Meisters der Netze, Garten des törichten Beamten etc. In diesen Gärten wird »Natur inszeniert«, was man sich unter Natur und ihrer Korrespondenz mit Architektur jeweils vorstellte, was man für möglich und was man für schön

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hielt. Ein kompositorisches Ideal ist bei jedem der Entwürfe deutlich spürbar; die Ergebnisse sind erstaunlich verschieden. Die Gärten wurden offenbar als Lebensmodelle verstanden, als Anleitungen zu einem bestimmten Verständnis bezüglich der Natur und ihrer Korrespondenz zum Menschenwerk, von welcher Art auch immer. Dabei ist die Harmonie objektiv gestalteter Formen, Steine, Gebäude, Teiche etc., ebenso im Spiel wie die Art der Betrachtung, die durch die Architektur nahegelegt wird. Schöne Formen einerseits und bestimmte Erlebnisfolgen andererseits sind philosophische Gegenstände, denn die Lust am Garten, sie dient hier zweifellos der Belehrung. Der typische Entwurfsvorgang ist wie folgt vorstellbar. Der Auftraggeber bzw. sein Architekt und Gartengestalter lässt das Grundstück ringsum einmauern; es ist nur an einer schmalen Stelle von der Straße aus erreichbar. Dann teilt er die Gesamtfläche, z. B. 3 oder 5 ha, in mehrere Teile von willkürlichem Zuschnitt; landschaftliche Zufälle spielen dabei mit, ebenso geomantische

Bestimmungen durch den magischen Kompass des Lo-king. Verschiedene Zonen innerhalb des Gartens werden mit verschiedenen stilistischen Charakteren besetzt, die an wenigen Punkten ineinander übergehen. Mehrere Bauten, vorwiegend in Holz, werden in diese Gartenlandschaft hineingebaut und durch Korridore miteinander verbunden, die vom Gelände deutlich abgehoben und von Mauerwerk begleitet sind, auf der Gegenseite offen und mit massivem Material überdacht. Der Hausherr und seine Familie, Diener und Gäste, benutzen die Anordnung dieser Gebäude, indem sie im System der Korridore unterwegs sind, vom Eingang zum Empfangspavillon, von dort zur Bibliothek, zu Speise- und Schlafräumen, Wirtschaftshäusern, Meditationsterrassen, die besondere Ausblicke genießen etc., also in einem Netz von eingeschossigen Pavillons, über das ganze Grundstück verteilt. Der Bewohner bzw. Besucher ist in einem solchen Garten ständig in Bewegung; er trifft Wegeentscheidungen und lässt sich durch das Architektursystem zu den jeweils bedeutenden Orten führen. Der Garten ist wie eine

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Gärten. Für reiche Renntner angelegt. Zur Unterhaltung, Erinnerung, Belehrung.

kleine Stadt mit voneinander getrennten Natur-Reservaten konzipiert. Von den Korridoren aus kann man sich für Wassergärten oder Trockengärten, bepflanzte und leere Außenräume entscheiden; ihre Details fordern ständig zu Richtungsentscheidungen heraus; sie bieten eine Szene an, sie eröffnen oder sie verwehren den Eintritt, z. B. durch die begleitende Mauer, die einerseits abschirmt, andererseits Fenster von poetischen Zuschnitten und zauberhaften Durchblicken anbietet, häufig beschriftet mit Empfehlungen und Ratschlägen in Gedichtform; man möge die Mandelblüte drüben beachten, den Wasserfall oder den Löwen in Gestalt eines ausgewaschenen Steines. Diese Korridore stellen wohl die philosophische Grundsituation des jeweiligen Entwurfs dar; sie lenken die Schritte, d. h. die Aufmerksamkeit, von Ort zu Ort, von Entscheidung zu Entscheidung. Der Benutzer bzw. Besucher wird von diesem Architekturelement als ein wahrnehmender, denkender, abwägender Gast angesprochen. Varianten von »Naturbildern« werden ihm vorgeführt, zwischen denen er hindurchgeführt wird,

zwischen denen er sich entscheiden und bewegen muss. Daran ist Glück und Unglück geknüpft; Rechts und Links, Enge und Weite, Befreiendes und Beängstigendes sind im Angebot. Der Korridor, sprich das Leben, führt durch die Vorgaben der Natur, die Jahreszeiten, die Wasserwelt und das Menschenwerk, Gärten und Häuser. Jeder Bewohner, jeder Gast ist aufgefordert, seine persönliche Ansicht auszusuchen, seine eigene Wahl zu treffen. Das Augenangebot ist überwältigend; nichts wiederholt sich; Tages- und Jahreszeiten verändern ständig die Szenen. Was bleibt, ist der Natur-Rhythmus, das verlässliche Angebot des Kosmos; was sich dagegen bei jedem Besuch und beim Wechsel von Garten zu Garten ändert, sind die subjektiven Eindrücke, das individuelle Erlebnis.

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Kare Sansui. Japanische Trockengärten. 106

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Schon in vorhistorischen Zeiten des Shintoismus, der Naturreligion im alten Japan, hat man mitten in der organischen, wechselvollen Natur schöne große Steine, Findlinge, aufgerichtet und Bedeutungen mit ihnen verknüpft, mythische Vorstellungen vom Fremden, Erhabenen, Göttlichen. Schon diese einzelnen Objekte waren »Steine des Anstoßes«; sie stammten zwar von Fundstellen der Natur, wirkten in den Gärten, Parks und Höfen aber durch ihr Außerhalb-Sein und Anders-Sein, eigentlich als »Denkmodelle«. Sie wurden nicht nur als schöne Objekte empfunden, sondern stets in meditativer Haltung betrachtet; die staunenden Betrachter sollten Erfahrungen machen mit sich selbst. In jeder Wahrnehmungs-

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situation, beim Anschauen von vorn, von der Seite, von nah und fern, wurde die Frage nach dem Denken gestellt: Was ist Wahr-Nehmen, Erkennen, Erinnern, Ahnen etc.? Wer bin ich? Die älteste Frage der Menschheit. In verschiedenen Entwicklungsphasen der Gartenkultur wurden unter chinesischem Einfluss großartige Beispiele für Gärten mit schönen Steinsetzungen ausgeführt, Trockengärten, Kare-Sansui, die man als erkenntnistheoretische Modelle »lesen« kann. Der Japankenner Günter Nitschke berichtet, es soll 323 davon allein in diesem Lande geben. Einer davon, vielleicht das schönste Beispiel, ist der Steingarten im Tempel zum friedvollen Drachen, Ryoan-ji, der im Nordwesten von Kyoto mit seinen erlesenen Details bis heute erhalten ist. Dieser Hof war konkret der Meditationsgarten des Hauptpriesters Hojo, der Terrasse seines Wohnhauses südlich vorgelagert und auf den übrigen drei Seiten rechteckig von einer Mauer umgeben. Den Blickhintergrund jenseits

der Mauer bildete eine Naturlandschaft mit Bäumen. Die Betrachter-Terrasse steht auf Pfählen und ist gegenüber der ebenen Gartenfläche angehoben. Das Thema der Hofkompositon ist offenbar »das Nichts«; man sieht keine Pflanze und kein Tier, lediglich 15 Steine in freier Anordnung auf einer regelmäßigen, leeren Kiesfläche verteilt. Dem Betrachter auf der Haus-Terrasse ist sitzende Haltung empfohlen. Sitzen bedeutet In-sich-gehen, Meditieren, Innehalten, Langsam-Sein, während Stehen dem Gehen nahe ist, also dem Handeln, Weitermachen, SchnellerWerden. Also wird dem Besucher bis heute nahegelegt, langsamer zu werden, sich zu fragen, von welcher Art die wenigen Objekte sind, die die Szene beleben, und von welcher Art ihre Zwischenräume. Denn die Steinsetzungen im Kies scheinen zu schweben; und sie sagen (fast) nichts über die Jahreszeiten wie die organische Natur; und es gibt keine Hinweise auf den zu benutzenden Raum; der Raum ist vielmehr ein leerer Flächenraum, also abstrakt wie eine Buchseite oder wie ein Blatt Papier, das ein Maler gerade für seine Arbeit

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Zur Meditation von Mönchen ausgebreitet. Gärten als symbolische Bilder.

verwenden will. Man könnte von »Meeresoberfläche« sprechen und »Inseln«, die sich darauf erheben, man sieht »Berge« en miniature, unbewohnt; jedoch sind solche Vorstellungen eher kindliche Analogien, die vielleicht die Betrachtung erleichtern, nicht aber erklären. Denn der Zeichencharakter der Dinge dort, das wird auch dem flüchtigen Betrachter klar, kann ja nur »objektivistisch« die bildhaften Bedeutungen der Figuren meinen, nicht aber, was wichtiger ist, die Haltung des Betrachters selbst, der herausgefordert wird und sofort beginnt, sich auf Ideen einzustellen. Nicht nur die Augen, der ganze Leib des Zuschauers wird hereingezogen in eine Art Überredung zum Verzicht auf die Wahrnehmungsorgane und die Ausweitung der Vorstellung jenseits der Bilder in ein Nichts, das sich mit Erinnerungen und Ahnungen in märchenhaften Dimensionen füllt. Körperlich ist ja keine Veränderung zu spüren, vielmehr Stille, Abwesenheit von Ereignissen, ein Reservat der Dauer. Beginnt das Selbst dann zu sprechen, zu »erklären«, so fällt zunächst die Geometrie auf, die im Augenraum

vorherrscht, strenge Parallelität und Rechtwinkligkeit in Kiessstreifen, Umfassungsmauern und Hausarchitektur. In einem schwebenden Gegensatz dazu nimmt man zugleich innerhalb der Mauerumrahmung die Zufälle erlesener Naturformen wahr, die Steine und ein wenig Moos, sowie außerhalb das Wachsen und Wuchern der Bäume.

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Der gotische Chor. Ein Blick in den Himmel. 110

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Im Mittelalter erlebten die Gläubigen den Chor ihrer Kathedrale und besonders das Dämmerlicht des Innenraumes als ein religiöses, wunderbares Ereignis. Der Blick in eine Fülle farbiger Fenster, im Gegenlicht aufleuchtend, führte aus dem bedrückenden Alltag heraus und eröffnete eine erste Ahnung des Himmels, eine Ankündigung der anderen, versprochenen Welt. Nie gesehene Licht- und Farbenszenen entführten den Blick in biblische Räume, von angebeteten Personen belebt und angefüllt mit Bilderkürzeln für die jenseitige Natur, Sonne und Sterne sowie die heilige Stadt Jerusalem, Säulen, Tempel und Bögen, die Paläste bedeuteten. Tausend Jahre vor dem Fernsehen gaben faszinierede Glasfenster den

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sehnsüchtigen Menschen die Möglichkeit, eine ideale Welt mit eigenen Augen zu schauen. Die Architektur entfaltete mit Farbe und Licht einen heiligen Raum; sie erlaubte aus dem Alltag heraus einen Blick in den Himmel. Die Strahlkraft der farbigen Gläser verbreitete die Atmosphäre nie gesehener Kostbarkeit. Die symbolische Zuordnung der Primärfarben war allgemein bekannt, Gold für Heiligkeit, Blau für die Reinheit der Madonna etc. Die Leiber der Heiligen, immerhin erinnerten sie mit ihren Gesten an die menschliche Würde, an die Körpergesten der Betrachter selbst, ihre suggestiven Blicke, die Öffnung der Hände etc. Die Realität dieser Kunst-Wirklichkeit, bis heute erlebbar z. B. in St. Denis, Paris, Laon, Chartres, Bourges, Reims, Auxerre, Köln etc., sie ist zwischen Alltag und Idealwelt geschoben; sie gibt eine Vorahnung vom gemeinten Jenseits. In diesem Sinne hat sie ModellCharakter. Sie gehört zum Alltag, d. h. zur Architektur, aber sie stellt den Himmel dar, die Ideenwelt als etwas Geistiges, und wie alle Modelle ist sie

verführerisch; sie will zum Besseren, Schöneren verleiten, das Außerordentliche andeuten, Utopisches begreifen. Der Umgang der gotischen Baumeister mit Glas, Farbe und Licht hat bei der Eröffnung der Moderne den Anstoß gegeben, hier eine neue Denklandschaft zu suchen. Stimuliert durch die euphorische Dichtung von Paul Scheerbart, entwickelten Bruno Taut, Hermann Finsterlin und ihr Freundeskreis um 1914, paradoxerweise parallell zur Vorbereitung des I. Weltkrieges, ihren Aufbruch in die »Immaterialität« einer zukünftigen Moderne, zunächst mit Aquarellen und Texten auf Papier, dann aber, im Mai 1914, bei der Werkbund-Ausstellung in Köln, einen realen Architektur-Traum aus Glas und Licht. Bruno Taut baute als 34-Jähriger sein Glashaus, das einige Monate danach wieder abgerissen wurde, aber unvergesslich blieb als eine poetische Denkmöglichkeit für die Architektur von morgen. Wie der gotische Chor im tristen Alltag des Mittelalters einen andersartigen, utopischen Raumes lahnen ließ, so hat die traumhafte Glasarchitektur von 1914 die Aufmerksamkeit

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Für die Augen der Ärmsten. Farbe und Licht: im tristen Diesseits eine erste Ahnung vom Jenseits.

der bedrohten, verängstigten Menschen überrascht. Vielleicht könnte die Lichtund Farbenwelt des Glases ja der Ort für eine zukünftige Heiterkeit sein, Helligkeit statt Düsternis verbreiten, Weite statt Enge, Liebe statt Krieg. Eine Vorahnung dieser »poetischen« Entwicklung gaben allerdings schon die phantastischen Ingenieurbauten in der Frühzeit der Industrialisierung, Fabrikhallen und Bahnhöfe, Markthallen, Galerien und Gewächshäuser aus Stahl und Glas, mehr noch ihre Monumentalisierung durch die Megastrukturen der Weltausstellungen des 19. Jahrhunderts, vor allem der Kristallpalast von Sir Joseph Paxton 1850/51 in London. Die Ideologie im Hintergrund der frühen Glasarchitektur ist freilich nicht mehr ein homogenes Glaubenssystem wie die christliche Kirche im Mittelalter; aber die Darstellung einer allgemeinen Hoffnung auf eine blendende Zukunft ist hier noch körperlich erlebbar. Der Blickraum weitet sich aus; eine Überfülle von Licht fällt in den Innenraum, der ihn von Wetter und Außenalltag unabhängig macht. Es wird möglich

und üblich, neue Arten von Öffentlichkeit im Inneren der Architektur zu entfalten. Unter weitgespannten Glasstrukturen ist gesellschaftliches Leben möglich; die ideale Stadt wird erlebbar als ein begehbarer Innenraum.

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Der Turm von Babel. Das Modell aller Wolkenkratzer. 114

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Babylon war »eine der ältesten, größten und prächtigsten Städte der Alten Welt, ... erstreckte sich auf beiden Seiten des Euphrat in Form einen Vierecks, von dessen Seite jede (nach Herodot) eine Länge von 120 Stadien (22 km) hatte. Das ungeheure Ganze, so wie es König Nebukadnezar (604–561 v. Chr.) wieder aufgebaut hatte ... ward von einer 200 Ellen hohen und 50 Ellen dicken Mauer mit 250 Türmen und 100 ehernen Toren umschlossen ... Nördlich des Königspalastes befand sich der berühmte babylonische Turm ... nach Herodot 192 m hoch und zu den sieben Weltwundern gerechnet. Das höchste je auf Erden ausgeführte Bauwerk.« (Meyers Konservationslexikon, 1885)

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Dieses Wunderwerk wurde vom alten Testament allerdings als ein warnendes Modell utopischen Denkens verurteilt. Das 1. Buch Mose, 11. Kapitel, verspottet den Wagemut der Israeliten: »Wohlan, lasst uns eine Stadt und einen Turm bauen, des Spitze bis an den Himmel reiche, dass wir uns einen Namen machen! denn wir werden sonst zerstreut in alle Länder.« Gott sei darauf herniedergefahren, die Stadt und den Turm zu zerstören, die Sprache der Menschen zu verwirren und sein Volk in alle Länder zu zerstreuen. Die Errichtung des Turms von Babel und seine Zerstörung wurde in der Frühzeit der europäischen Kultur als Großtat und zugleich als Strafe für utopisches Handeln betrachtet. Man kann ihn bis heute als das Modell aller Wolkenkratzer verstehen. Er symbolisiert das Außerordentliche einer Ingenieurleistung, die ein Zeichen von Macht, Potenz, Überlegenheit und Reichtum ist; aber zugleich stellt er das Risiko dieser Haltung dar. Es ist, als wolle der Mensch die Erde verlassen; die utopische Idee vom Fliegen setzt sich durch; die aufragende Figur wird

als Bild für Überschuss verstanden, für übermenschliche Kraft und Leistung und zugleich, seit Sigmund Freud (1856–1939), als eine Erinnerung an den männlichen Phallus. Die Familie des 45. US-amerikanischen Präsidenten Donald J. Trump wohnt in den obersten Geschossen eines solchen Turmes. Der Trump-Tower ist mit allen seinen Details der Inbegriff der TrumpIdeologie, ihr blankes, überdeutliches Modell. Vor allem seine Maßlosigkeit im Dekor, sein überbordender Anspruch als Ich-Darstellung. Es bleibt verwunderlich, dass sein Bewohner, himmelhoch über dem »Big Apple« wohnend, nicht lange Zeit vor seiner Präsidentschaft in seiner Masslosigkeit und Rücksichtslosigkeit erkannt und politisch im Zaum gehalten wurde. Trotz der Bemühung unserer Zivilisation an der weltweiten Ausbreitung kommunikativer Netze, technisch, kulturell und politisch, also primär horizontaler Raumstrukturen, verzichtet die Architektur unserer Zeit nicht auf ständige Wiederholung des Turmmotivs

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Ein Griff nach den Sternen. So ahnungsvoll wie bedrohlich.

als Symbol für Übertreibung und Risiko. Die Wolkenkratzer der Megastädte New York, Singapur, Tokyo, Dubai etc. stellen aberhundert Abwandlungen des Turms von Babel dar. Er ist der architektonische Archetypus und trägt deutlich den moralischen Akzent, den das Alte Testament betont. Er feiert die überschäumende Kraft der Zivilisation, die dabei ist, die Natur zu überwinden; zugleich gibt er die Grenzen des Möglichen zu erkennen und die damit verbundene Ohnmacht. Türme haben immer zur technischen Euphorie geführt. Wer kann noch höher bauen, wer hat das Geld, die Macht, das Know-how? Was kann im Architekturraum schöner sein als das Streben nach Höhe, Überwindung der Schwerkraft? Mit Staunen sehen wir bis heute das Vorspiel unserer Wolkenkratzerstädte in Italien, in den romantischen Silhouetten von Bologna und San Gimignano. Selbst die chinesische Stadtbaukunst, traditionell horizontal orientiert, gibt sich diesem Trend hin. Die Verbotene Stadt in Peking, im Prinzip eingeschossigs, ist mittlerweile von Wolkenkratzern

umstellt. Dabei hat sich längst gezeigt, dass Türme kaum zum Wohnen geeignet sind, sicher nicht zum Wohnen mit Kindern, die den Kontakt zur Erde nicht verlieren dürfen. Sind doch die Fähigkeiten und die meisten Bewegungsaktivitäten unseres Leibes primär horizontal orientiert; sie beziehen den sinnlichen Nahraum mit ein, – der beim Türme-Bauen verloren geht.

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Meine Wohnung als Mandala. 118

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Der Kompass, kreisrund, mit einer Nadel ausgerüstet, die zum magnetischen Nordpol zeigt, ist ein Instrument, das ich dazu benutzen kann, die Lage meiner Terrasse zur Abendsonnenseite zu bestimmen. Es ordnet mein Verhältnis zur Erde. Seine Parameter sind objektiv; sie liegen in der äußeren Natur und sind für alle Menschen verbindlich. Ich benutze aber auch Werkzeuge, die mir helfen, meine Innenwelt auf die Außenwelt abzustimmen; ihre Wirkung ist individuell; sie gelten zunächst nur für mich. Dazu gehört z. B. meine Kleidung oder auch der Brief, den ich schreibe. Sie sind Signale meines Selbst mit einem kommunikativen Auftrag; sie sollen helfen, mein Verhältnis zur Umwelt zu klären; meine Wünsche, Erinnerungen und

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Erwartungen sind im Spiel, mit denen ich mich einmische in nachbarliche und berufliche Szenen. In der europäischen Philosophie werden Außenwelt und Innenwelt seit Jahrhunderten rigoros voneinander getrennt; die Außenwelt, Natur und physikalische Fakten gelten als objektiv gegeben, Innenwelt, Gefühle, Vorstellungen und künstlerische Ideen als subjektiv. Die beiden Welten, auch die relevanten Wissenschaften und Künste, sind zunehmend voneinander getrennt und unterliegen verschiedenartigen Umgangsformen. In Asien, insbesondere in China, ist das anders. Seit Lao-Tse werden Innen und Außen, Glück, Gefühle und Vorstellungen einerseits, Natur und Landschaftsraum andererseits, als ein zusammengehöriger Komplex betrachtet. Alles hängt von allem ab; die gleichen Gesetze gelten für Außen und Innen. So gibt der Kompass des Lo-King, mit dem der Zeitpunkt für eine glückliche Hochzeit ebenso bestimmt wird wie die Lage eines zu bauenden Hauses am Fluss, ebenso Auskunft über das Schicksal der Menschen, Glück und

Unglück wie über geologische Strukturen wie Wind und Sternenwelt. Die östliche Geomantie, die Lehre vom Feng-Shui, wörtlich »Wind und Wasser«, setzt das Verständnis dieser großen Synthese voraus, die dem europäischen Wissenschaftsideal von Analyse und Trennung der Strukturen so sehr entgegengesetzt ist. Zu den Instrumenten der Beherrschung von Außen und Innen als Gesamtkosmos gehören u. a. die Meditationsbilder, die man in taoistischen Klöstern benutzt, um das gewünschte Ganzheitsbewusstsein zu fördern, die Mandalas. Das sind flächige Tafeln oder Tücher, die mit konzentrischen Quadraten und Kreisen sowie einer Fülle von Bildsymbolen bedeckt sind. In unserem westlichen Kulturkreis gibt es selbst-verständlich die gemeinten Phänomene auch, die äußeren Sachlagen und inneren Gefühle. Auch wenn sie im Bereich der wissenschaftlichen Theorien voneinander getrennt sind, im praktischen Leben sind sie miteinander verknüpft, so z. B. beim Wohnen. »Meine Wohnung« kann ich durchaus als ein architektonisches Mandala betrachten. Hier finden wir unser Leben als eine

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Meine persönliche Innenwelt, räumlich ausgebreitet.

drei-dimensionale Darstellung ausgebreitet. Es erscheint de facto als eine Szene von lauter Möglichkeiten, als ein Netz wertvoller Orte, das unserem Körper bestimmte Dienste anbietet, Orte zum Sitzen, Liegen und Verwahren, Tabu-Zonen, empfohlene und verbotene Wege sowie Grenzen der Zumutbarkeit für Begegnung und Alleinsein. Schlafzimmer, offene Dielen und Esstische sind durch Gestalt und Details sorgfältig geprägt; sie enthalten Handlungsangebote, die von den Bedürfnissen unseres Körpers abgeleitet und durch Erinnerungen aufgeladen sind. Kein Besucher muss mit Worten über diese Bedeutungen informiert werden; jeder kennt sich aus, d. h., alle Menschen einer Kulturlandschaft sind offensichtlich vom gleichen Zeichensystem geprägt, allen wurde das Gefühl für die Angemessenheit passender Gesten früh genug einverleibt. So ist die Wohnung ein Instrument unseres Alltagslebens; jeder kann die Empfindungen einschätzen, die seine Bewegungen und Gesten, seine Schritte und Blicke, sein Tempo und die Ziele seiner Aktionen bei einem anderen Menschen hervorrufen, vorausgesetzt,

er ist gut erzogen. Denn in der Tat, ein Gutteil der Gestenfolge beim Besuch einer Wohnung ist seit der frühesten Kindheit gelernt und steht spontan unserem Bewegungsapparat als Orientierungssystem zur Verfügung. Er ist nur zum Teil rational benennbar, in Worte zu fassen; ein weit größerer Teil ist dem Leib seit eh und je bekannt und verfügbar; wir handeln im Rahmen dieses Netzes von vertrauten Orten und Wegen blind und ohne Nachdenken. Dabei sind die Ausdrucksnuancen der gestischen Korrespondenz von Dingwelt und Leib, die unser Verhalten regelt, so eindringlich und wirkungsvoll, dass wir tagelang an den Geheimnissen einer fremden Wohnung schnuppern können, um ihrer Atmosphäre näherzukommen. Die eigene Wohnung dagegen benutzen wir traumhaft blind; doch bemerken wir im Nu hier die kleinste Veränderung. So funktioniert das Instrument Wohnung durchaus wie ein vertrautes räumliches Mandala, das Außen- und Innenwelt miteinander verbindet. Außen und Innen verschmelzen zum Lebensraum.

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Mein Spiegelbild. 122

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Die Eröffnung des Tiefenraums im Spiegel ist eins der zauberhaftesten Ereignisse, die Menschen je entdeckt haben, vor Jahrtausenden wohl schon im stehenden Wasser oder im Auge der Liebsten und später bei der Erfindung des spiegelnden Glases, das sich vertikal einbauen und wie eine künstliche Landschaft betrachten lässt. Die räumliche Weite, die dabei entdeckt wird, ist auch ohne den Reiz der verdoppelten Objekte ein ungeheurer Genuss, sie weitet das Gefühl, betört die Augen, die gewohnt sind, räumliche Tiefen abzuschätzen und fordert zu ungewöhnlichen Körperbewegungen heraus. Man beginnt intuitiv, die Umkehrung von rechts und links, vor und zurück zu kontrollieren und

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auszugleichen, die wie eine Ironie der Wahrnehmung empfunden wird und in ihrer Prägung vom Betrachter selbst beeinflusst werden kann. Das Spiegelbild des eigenen Gesichtes und der eigenen Figur ist darüber hinaus allerdings ein besonderes, ganz und gar unglaubliches Erlebnis. Etwas tritt mir entgegen, das wie mein Körper ist, soweit ich ihn kenne. Aber, kann ich dem zustimmen, dass es mein Ich ist dort drüben? Ja, doch eigentlich nein! Vom Ich rede ich gern bei meinen Empfindungen, beim Spüren des Leibes, beim Körpergefühl – »Das tut mir weh!« »Das habe ich gehört!«, »Das fühlt sich gut an!« –, nicht aber beim Betrachten des Körpers von außen, rechts-linksverkehrt, begleitet von seltsamen, ja fremden Bewegungen. Vor dem Spiegel wird mir mit Verwunderung deutlich, dass es das Fühlen meines Leibes ist, dem ich die ganze Kenntnis der Welt verdanke, nicht aber dieser Körper da mit dieser Haut und dieser Haltung, dieser Größe, Silhouette etc. Die Verwunderung betrifft die NichtÜbereinstimmung, die Nicht-Identität

des erlebten und gefühlten Leibes einerseits und des Körpers von außen gesehen andererseits. Mit einer Art Enttäuschung betrachte ich mich als Ding wie andere Dinge. Mein Körper, den ich im Spiegel sehe, leistet keineswegs die lebendige Welterkenntnis, von der mein Ich doch ausgeht. Alle Dimensionen der Wahrnehmung und der Vorstellung, das Erinnern, Wünschen und Wollen, die Arbeit mit Sinnen und Begriffen, das ganze Leben ist mir zunächst als ein Tun meines Leibes vertraut. Jetzt entdecke ich, dass dieser handelnde Leib, mein eigentliches Ich, von außen nicht zu sehen ist. Was da zu sehen ist, dieses Gesicht mit Falten zwischen den Augen, diese behaarte Haut, dieser Kopf, sie können mein Ich nicht repräsentieren. Wie könnten sie auch? Ist mein Ich doch eher ein handelndes, ordnendes Prinzip, es hat keine Ding-Eigenschaften, obwohl es doch einzigartig ist, ich muss es also auch im Spiegel nicht finden. Dennoch suche ich dort nach seinen Spuren und versuche, mich mit kleinen Bewegungen zu vergewissern; ich lasse den Augen-

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Das Bild meines Ich. Die Möglichkeit und Unmöglichkeit der Ich-Darstellung.

ausdruck sich ändern, wende ein wenig den Kopf, bringe die Hände ins Spiel, probeweise, d. h., ich prüfe, in welcher Weise die Gesten meines Körpers, wie ich sie dort sehe und wie andere sie wahrnehmen, den Empfindungen meines Leibes entsprechen. Dabei nehme ich die ungeheure Kluft wahr zwischen der gefühlten Welt und dem wahrgenommenen Bild. Durch die ästhetische Arbeit am Spiegel, der wie ein Bild an der Wand hängt, hat sich im Verlauf der Kulturgeschichte ein Umstand ergeben, der das Spiegelbild, auch »mein« Spiegelbild, in die Nähe der Malerei versetzt und unser Wohlgefühl eben dadurch in besondere Lust versetzt. Der Spiegel ist nämlich begrenzt, in vielen Fällen gerahmt, vielleicht sogar kostbar gerahmt, wie ein Rubens. Diese Attitüde kommt nicht von ungefähr. Das Spiegelbild, von der Wand abgehoben und veredelt, ist jetzt als Beispiel einer anderen, besseren, höheren Welt verstanden; der Vorgang der Rahmung hat eine Umwandlung von Wirklichkeiten ausgelöst. Das isolierte Bild im Spiegel kommt, mitten im Alltag, in den Geruch

des Erhabenen, es ist vom Jetzt und Hier abgehoben, also der Ewigkeit ein wenig näher. Es präsentiert sich als die Möglichkeit einer schöneren, künstlichen Welt. Und sollte ich selbst einmal der Protagonist einer solchen Utopie sein, so versetzt mich der Spiegelvorgang erst recht in ein Hochgefühl: Mein gerahmtes Ebenbild, es schmeichelt.

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Mein Taschenkalender. 126

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Ein kleines Büchlein kommt zu Hilfe, den Ablauf meines Lebens zu organisieren. Gewiss nur das Schema der Alltage, die Folge der Wochentage, Sonntage, Werktage und Ferientage, also meine Pläne und Verpflichtungen. Von Tag zu Tag verwandelt sich allerdings dieser Projektcharakter in eine Dokumentation. In Stichworten sind die Vorgänge erwähnt, die mit dem Ablauf von Projekten zu Fakten werden, von Möglichkeiten zu Wirklichkeiten. Das Zeitraster des Buches wird mit dem Fortschritt der Tagesereignisse mit Inhalten gefüllt. Mit dem Jetzt einer Handlung kippt Zukunft in Vergangenheit um. Der kleine Taschenkalender gibt im Alltag Auskunft über faktische und mögliche Ereignisse. Er gibt der Erwartung wie der Erinnerung

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einen Rahmen, macht zeitliche Orientierung möglich. Was ist zu tun? Was ist bereits getan? Die Erwartung des Zukünftigen wird Tag für Tag abgegrenzt gegen die Erfahrung der vergangenen Ereignisse, d. h. das geplante gegen das erlebte Leben. Bei der Kalenderorientierung wird die Zeit nicht chronometrisch wahrgenommen, sondern als eine Abfolge von Ereignissen. Allerdings sind diese Ereignisse eingebettet in den vorgegebenen Rhythmus der Natur, die Tag-und-Nacht-Folge und den Wechsel der Jahreszeiten. Außerdem prägen kulturelle Gewohnheiten die kalendarische Gliederung, die der Abfolge einprägsame Akzente verleihen, Bewertungen »zeitlicher Orte«, etwa die Einführung von Sonn- und Feiertagen, Ferienzeiten etc. Sie beruhen auf gesellschaftlichen Vereinbarungen, die den jeweiligen Kulturlandschaften eigentümlich sind und keine globale Gültigkeit haben. Die kosmische Zeitgliederung ist dagegen global gültig, menschenunabhängig. Besonders deshalb ruft sie seit Menschen-

gedenken Ewigkeitsgefühle hervor, die zu den Urthemen der Poesie aller Völker gehören, etwa die Wiederkehr der Sonnenaufgänge, die Bewegungen am Sternenhimmel und die Jahreszeiten der organischen Natur. Dass die subjektiven Erlebnisvorgänge und die objektiven Weltereignisse ungleichmäßig, also keineswegs chronometrisch verlaufen, das finden wir beim Blick in die kalendarische Dokumentation selbstverständlich, ob wir uns über Vergangenes oder über Zukünftiges informieren. Vergangene Ereignisse werden als gestalthaft wahrgenommen, weil Anfang, Ende und Merkmale ihres Verlaufs feststellbar sind. Beim Zukünftigen fehlt diese Sicherheit der zeitlichen Orientierung. Die Erwartung bestimmter Ereignisse kann täuschen, wie wir wissen. Die unsicherste Vorstellung von den Merkmalen der zeitlichen Ordnung aber gibt der »Jetzt-Punkt«, mit dem die vergangene Phase beendet ist und die zukünftige beginnt. Wir können nichts über ihn aussagen, als habe er keinen eigenen Charakter. Er ist nur vorstellbar

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als der Übergang von gestern in morgen, als die zeitliche Schwelle zwischen Vergangenheit und Zukunft. Besonders hier zeigt sich, dass die Zeit kein eigener Gegenstand ist, sondern nur eine Art der Erscheinung von tatsächlichen und virtuellen Erlebnissen. Taschenkalender gehören, ähnlich wie Tagebücher, Erinnerungsfotos, Briefund Mailverkehr zu den kommunikativen Instrumenten, die benutzt werden, um den geheimnisvollen Moment des Jetzt »zwischen den Zeiten« zu fixieren. Sie sind an der ungleichförmigen, persönlichen Erlebniszeit orientiert, – anders als die Taschenuhr/die Armbanduhr, die die chronometrische Zeit wiedergibt, das Schema der gleichförmigen, mechanischen Zeit, die vom persönlichen Erlebnis unabhängig ist, ein Raster aus Stunden, Minuten und Sekunden. Worin liegt die Brauchbarkeit meines persönlichen Taschenkalenders? Er ist das Büchlein, in das ich voraus meine Verpflichtungen notiere und die Ereignisse dann in chronologischer

Reihenfloge festhalten kann, eine Gedächtnisstütze. Er verschafft mir eine Übersicht über Erinnerungen einerseits und Absichten andererseits, geschehene und zu erwartende Ereignisse. Er begleitet meine Lebenszeit und verspricht eine mögliche Ordnung im Nacheinander der Höhepunkte; vor allem, wiel der Ablauf der Zeit, der vergangenen und der zukünftigen, quantifiziert wird. Und mein Auge kann ihn in einer grafischen Darstellung sehen. Das ist einprägsam und erhöht die Sicherheit im sozialen Leben. Was bleibt, ist dieses Büchlein als Spurensammlung meiner Erlebnisse.

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Die Maske. Die Rolle. Das Kostüm. 130

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Die Menschen waren im Verlauf ihrer Kulturgeschichte, soweit unser Wissen zurückreicht, immer an ihrer Selbst-Darstellung interessiert. »Wer bin ich?« war seit den frühesten Zeiten, eine empfindsame, bange Frage. Fast jeder Versuch zur Darstellung des Selbst zeigt aber, dass man nicht den Körper als Objekt festhalten wollte, sondern immer eine idealisierte Vorstellung des Leibes, die über das Individuelle und Zufällige hinausging, ein Idealbild, die Überhöhung des Zufalls durch eine Idee. Selbst hyperrealistische Darstellungen von menschlichen Gesichtern, z. B. kriminaltechnische Reduplikationen, enthalten idealisierende Bild-Momente, durch die sie u. a. historisch eingeordnet werden können, vielleicht sogar Sammlerwert haben.

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Durch die ideellen Momente zeugen Gesichtsmasken und Körperebenbilder häufig von religiösen und politischen Interessen. Die ästhetischen Werte folgen den gesellschaftlichen. In der »realistischen« Wahrnehmung lag immer die Aufforderung zur idealisierenden Vorstellung. Besonders bei Festen und religiösen Ritualen, Ahnen- und Totenkult erreichten die darstellerischen Formen schon in frühesten Zeiten bedeutende Ausprägungen. Auch wenn ihre Schöpfer unbekannt waren; sie wurden nachträglich als Kunstwerke interpretiert. Selbst Totenmasken, die sich durch subtile Gusstechniken, etwa kolorierten Wachs, den Formen der Natur annähern, zeigen genügend Merkmale von Zeitumständen; man kann sie bestimmten Phasen der kulturellen Entwicklung zuordnen. Die Theatermasken, Karnevalsmasken und die Produkte der modernen Visagisten bei Film und Fernsehen sind geprägt durch Hintergrundideen, Werbung und künstlerische Intentionen. Die Maske ist ein Medium des Ausdrucks. Kein kommunikativer Vorgang

ist ohne Ausdruck, mit dem sich ein Adressant an einen Adressaten wendet. Die Gesichtsmasken werden im Alltag wie in der Theaterwelt und beim religiösen Zeremoniell durch Kostüme und durch das gestische Rollenspiel ihrer Träger ergänzt. Nota bene: Der Begriff Person darf in diesem Zusammenhang im Sinne der antiken Gebräuche gelesen werden: per-sonare (lt.) heißt durch eine Maske hindurch tönen. Kopfschmuck und Kostüme bereichern das ausdrucksvolle Bild einer Persönlichkeit, die sich zeigt oder vorgeführt wird, ob das nun individualistisch gemeint ist oder eher typisch im Sinne von Stil, wie etwa der Kranke, der Geizige, der jugendliche Liebhaber oder der Spaßmacher in der italienischen Commedia dell’arte. Ein guter Teil der Schauspielkunst betrifft diese Vorgänge der Maskierung und Demaskierung, die Vorführung der Kostüme, das Aus-der-Rolle-fallen oder In-die-Rollepassen. Alle dabei eingesetzten Dinge und Vorgänge haben Modell-Charakter; sie stehen für das idealisierte Schema einer Persönlichkeit, dem man sich durch Bildwirkungen annähert.

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Hüllen, Verhüllungen, Häute des Selbst. Zum Verbergen wie zum Zeigen geeignet.

Die Herausforderung der personalen Sehnsucht nach idealen Ebenbildern war in allen Phasen der Kulturgeschichte und in allen Kulturlandschaften der Erde unbezwingbar. Sie gilt auch für unsere Zeit, die phantasievoll Medien entwickelt hat, ihr nachzukommen, Foto, Film, Sprache, Mode, künstlerische Stile sowie Schönheitschirurgie, Körperpflege und verschiedenste digitale Techniken. Viele Talkshows laufen im Fernsehen als Unterhaltung mit Rollenspielen ab. Der Moderator eröffnet die Begnung mit seinen Gästen, indem er sie mit seinen Worten vorstellt, meist in der Reihenfolge der Prominenz. Wie ist er diesem Gast früher begegnet? Welche gesellschaftliche Rolle ordnet er ihm zu? Wie hat sich diese Rolle bis heute entwickelt, falls es in den Augen des Protagonisten eine solche Entwicklung gibt? Häufig schließt der Moderator seine persönliche Vermutung an, wie sich die Entwicklung des Gastes vollzogen haben könnte und ob der Gast sich dieser Interpretation anschließen kann. Daraufhin bestätigt oder korrigiert dieser die Vermtungen des Moderators

und versucht eine Selbstinterpretation. Schließlich wir die Erfahrung anderer Gäste in dieses Zweiergespräch einbezogen. Der Moderator lässt seine Talkshow dann mit welchem Redetrick auch immer auf die Präsentation eines anderen Gastes übergehen. Insgesamt bleibt eine solche Sendung als eine Aufschichtung von gesellschaftlichen Rollenbildern in Erinnerung, deren Vorführung als ein Wechselspiel den Zuschauern willkommen ist, zugleich Belehrung und Unterhaltung.

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Puppen. Mumien. Fetische. 134

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Die Sehnsucht des Menschen nach seinem Selbst ist unwiderstehlich. Das Ich soll durch alle Wirrungen hindurch, selbst nach dem Tode, wiedererkennbar sein. Die Ich-Sehnsucht ist eine existentielle Macht, die nicht nur die Form des individuellen, eigenen Körpers meint, sie bezieht vielmehr die Suche nach der Du-Gemeinschaft mit ein. Mumien wurden im alten Ägypten als Garanten des ewigen Lebens verstanden, als Träger einer individuellen seelischen Qualität. Es ging dabei nicht um Darstellung der natürlichen Körpergestalt, einen Zeigevorgang, vielmehr den gewünschten Ewigkeitsstatus des Ka, d. h. einer Seele. Das Finden und Fest-

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halten des Ich wird in jedem Menschenleben schon in den Kuschelpuppen und Schmusepuppen der Kinderzeit deutlich; ihr Dasein wird als ein stellvertretendes Dasein erlebt; es garantiert die Gegenwart eines geliebten Du und antwortet zugleich auf die Sehnsucht nach dem geliebten Ich, weich, mollig und ursympathisch. Puppen sind nicht nur für die Augen da, sondern für den ganzen liebenden und leidenden Leib. De facto sind erstaunlich wenige Merkmale nötig, um eine solche Sehnsucht zu mobilisieren. Das liebende Ich sieht sein Ebenbild schon in einem hölzernen Stock, einer umwickelten Astgabel oder einem Lappen mit eingeschnürtem Kopfende. Die Identifikation geschieht im Akt der Inbesitznahme, dem Gestenrepertoire der Liebe, einer zärtlichen Berührung, den Riten des Beschützens etc. Die Gestalt der Puppe muss dem Kind gar nicht ähnlich sein. Ähnlichkeit, Schönheit und Augenillusionismus kommen erst später ins Spiel, wenn Erwachsene sich einmischen, Zitate einer Wunschwelt von gegenüber und, damit allzu schnell verbunden, der Kauf- und Besitzzwang. Aus der Kinderpuppe wird die Schaufenster-

puppe, das Model, der kollektive Traum, ein halböffentliches Phänomen. Die Überredungskraft der Modewerbung spielt zwar auf das Neue an, und doch bezieht sie sich immer auch auf Frühkindliches, die uralte Sehnsucht nach dem Traum-Ich. In den sogenannten primitiven Kulturen sind es häufig mythisch-magische Puppen, in denen die Vorbilder der Lebenden erscheinen, Ahnen und Geister, Götter und Gnome. Sie repräsentieren die hochgeachteten Phantasiegestalten der Gemeinschaft und stellen Forderungen an die Lebenden, beglückend und erschreckend. Mit der Herstellung und Pflege der Figuren ist der Ablauf ritueller Vorgänge verbunden, die in regelmäßigen Zyklen die gegenseitige Abhängigkeit von Bild und Abbild, Mensch und Puppe, wirkungsvoll demonstrieren. In den Hindu-Kulturen werden z. B. Strohpuppen nach Festen und Prozessionen stellvertretend für Geister und Dämonen verbrannt oder auch in strömendes oder faules Wasser geworfen. Die menschengestaltigen Fetische sind bekleidet und geschmückt und manchmal mit

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Vorbilder, Nachbilder von Ich und Du, stellvertretend.

Zettelbotschaften ausgerüstet, bevor sie nach der Vorstellung der Gläubigen in ihr Jenseits eingehen. Solchen Umgang mit Figurinen, die magische Kraft verbreiten, kennt man seit Jahrhunderten auch in christlichen Kulturlandschaften, z. B. Sizilien, Apulien und Portugal. Die hölzernen Statuen der Heiligen werden dort prächtig ausgestattet und ehrfürchtig umher getragen, ihre Häupter gesalbt und mit Räucherwerk geehrt. Der fromme Zauber betört alle Sinne mit Düften, Beleuchtung, Gesang und dekorativen Zugaben. Solche religiösen Traditionen haben zu vielerlei unterhaltsamen Spielen geführt, etwa Stockpuppenund Marionettentheater, sowie Straßenkarneval, der z. B. in Basel und Venedig alljährlich tausende Menschen dazu bringt, für die Dauer von einigen Stunden in die Rolle magisch-mythischer Puppen zu schlüpfen. Die zauberhafte Puppensammlung im Pariser Musée de l’Homme mit Beispielen aus aller Welt macht deutlich, wie sehr die Artikulation von Freude und Leid, Genuss und Verzweiflung auch

Künstler veranlasst hat, Puppen zu gestalten. Bei der Pariser SurrealistenAusstellung 1938 blieb dem Publikum nicht erspart, bei den Objekten von Raoul Ubac, Marcel Duchamp, Man Ray, Hans Belmer etc., die zartesten Versprechungen von weiblicher Schönheit, verbunden mit Schauder und Entsetzen zu erleben. Aus der Tiefe des Menschlichen trat Dämonisches hervor; Schrecken und Verzauberung waren miteinander vermischt, eine laszive und betörende, zugleich liebliche und irritierende Welt. Der menschliche Körper wurde mit seltsamen Sprachtopoi besetzt, Lust- und Kriegsspielen, Grauen und Schönheit; eingebettet in ihren Charme stellten die Puppen das Unaussprechliche dar.

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Mode, Models und modische Modelle. 138

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Mode, seit dem 17. Jahrhundert im Deutschen ein umgangssprachlicher Begriff, lehnt sich an das französische à la mode an und dieses an das lateinische modus, dessen Bedeutungen auf Art und Weise, Maß und Vorschrift verweisen und sicher dem Stamm mos, moris, Sitte, Moral, benachbart sind. Das Modische im Design und in der Alltagskultur, auch aber in allegorischer Übertragung im Künstlerischen, bei Konsumwaren, auch bei sozialen Gewohnheiten und Formen, meint heutzutage besonders Aktualität und Neu-Wert, die Akzeptanz eines Produktes oder eines Verhaltens in einem bestimmten gesellschaftlichen Rahmen. Mode

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als Kleidermode, als präsentative Kunst, die die idealisierte Umhüllung des menschlichen Körpers betrifft, bringt diesen Vorgang, die angemessene Darstellung einer Person, ebenso lehrreich wie unterhaltsam in den Mittelpunkt des alltäglichen Interesses, nämlich als Selbst-Darstellung des Menschen. Dabei befriedigt die Mode zugleich das menschliche Grundbedürfnis nach Wandel, Veränderung und Entwicklung wie auch antagonistisch das nach Wiedererkennen, nach Konstanz. Was soll ich heute anziehen, damit ich als Teil der Gesellschaft akzeptiert werde? Welche Form wird als modisch, altmodisch oder konventionell empfunden? Wer ist in ihren Bedeutungshorizont eingeweiht; wer kann sie sich leisten? Das ModeBewusstsein bezieht sich immer auf die Entwicklung der kommunikativen Möglichkeiten und Zwänge einer Gesellschaft. So bewegt sich die Mode-Produktion in der Schwebe zwischen Erfindung, Absonderung und Darstellung des Neuen einerseits und Einfügung in einen Common Sense andererseits.

»Modelle« sind im Modebetrieb zunächst Werkstücke, die den Charakter eines Musters haben, ob sie einfach oder tausendfach existieren. Das einmalige, einzigartige Modell steht möglicherweise als Meditationsgegenstand im Atelier eines Modekünstlers, der es täglich in Kleinigkeiten verändert, vielleicht ist es aber schon als Kunstwerk verkauft und spielt im Besitz einer schönen und reichen Frau die Rolle einer Ikone oder einer Aktie. Das vielfach produzierte Modell wird als Exemplar einer bestimmten modischen Serie verstanden, und das bedeutet u. a. Einfügung in eine bestimmte Mentalitätsgruppe von Käufern und Verkäufern. An der Schnittstelle zwischen Erfindung und Vermarktung der einmaligen sowie der vielfach verkauften Modelle steht merkwürdigerweise ein Puppen-Mensch, der in Modeschauen life oder auch über Fotoserien und Videopräsentationen das Produkt einer intimen oder auch einer großen Öffentlichkeit zeigt: das »Model«. Eine Frau /ein Mann, den Kleiderpuppen nicht unähnlich, führt das Werkstück vor. Die szenischen Bedingungen, Raumatmosphäre, Licht und Beschallung,

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Die Sprache der Mode mit dem Körper interpretieren.

Temperatur, ja Duft und Illusionierung des Hintergrundes durch Projektion werden bei einer Modenschau dem Körper-Ereignis hinzugefügt. Die Präsentation kann den Charakter des »gespielten Alltags« haben, sie kann aber auch zur Film- oder Opernszene gesteigert werden. Das Model selbst, der Kunstmensch, ist gleichermaßen ein sich fühlender, ausdrucksvoller Leib sowie ein verkleidetes Gerät, Subjekt und Objekt bei einem Vorgang der öffentlichen Selbstdarstellung, begehrt und bewundert, oft auch schockierend und fremd, so dass das Kleidungsstück, ein Gebrauchsgegenstand, dann kaum noch als ein solcher wahrnehmbar ist. Die vorgeführte Figur bekommt skulpturalen Eigenwert. Manche Auftritte der Models dienen dazu, die Künstlichkeit der Hüllen des Körpers, ihren Charakter als Artefakt zu betonen, der durch mechanische Bewegungen und dergleichen eine eigene szenische Kraft entfalten kann. Die Rolle des Körpers schrumpft dann auf die des Trägers, des Motors, der möglicherweise völlig verfremdet, ja unsichtbar wird. Andere Auftritte sind dagegen Apotheosen des natürlichen

Körpers, dessen Gestalt und Bewegungsrhythmus durch seine Hülle gesteigert und entfaltet werden. Einmal schmeichelt die Mode der Natur und entwickelt das Körperliche als etwas Zauberhaftes, Wunderbares; ein andermal glossiert sie die natürliche Schönheit durch anstößige Abweichungen oder lässt sie wie ein technisches Gerät im Innern einer willkürlich gestalteten Hülle verschwinden. Models müssen bereit sein, sehr verschiedenartige Aussagen dieser gestischen Sprache mit ihrem Leib zu interpretieren, einmal das Zeigen und Überhöhen der Natur, ein andermal die Vorführung einer mehr oder weniger abstrakten Szenerie. Sie müssen in ihrem Arbeitsbereich »universal« nützlich sein, d. h. für Firmenkataloge wie Qiéro!, Otto etc. verschiedene Waren präsentieren können und dabei bloße Trägerfiguren sein; in anderen Zeigesituationen sollen sie vom Phänotyp her einem bestimmten Modellkleid »entsprechen«; in diesem Fall müssen sie einen speziellen Entwurf unterstützen, ja verkörpern können.

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Stars. Wer ist ein Darsteller? 142

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Die ästhetischen und moralischen Verhaltensmuster der Europäer sind keineswegs mehr stabile Wunschbilder, die ein Individuum lebenslänglich begleiten, wie das bis zum Ende der Feudalstaaten noch gewesen sein mag. Sie werden patchworkartig gewählt und mit den Lebensphasen vielfach geändert. Nicht nur Ehen werden für Lebensabschnitte geschlossen; auch die Bindungen an religiöse und politische Institutionen und Verbände werden punktuell eingerichtet und verknüpft. »Freiheit«, in Europa ein Produkt der französischen Revolution, liberté, wird inzwischen auf radikale Weise individuell aufgefasst. Der Staat, die Institutionen und die Ordnung der Gesellschaft sollen dem Einzelnen zwar verfügbar sein; der

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aber behält sich seine Entscheidungen und die Dauer seiner Zusagen vor. Er möchte nicht durchschaubar sein, vor allem nicht im Voraus. Mitgliedschaften in Konfessionen, politischen Parteien, Vereinen und Interessengemeinschaften werden unter den wechselnden Aspekten von Alter, Arbeitsplatz, Wohnort etc. akzeptiert, aufgehoben, bejaht oder verneint. Dieses Patchwork der Ideale und Bindungen ist allerdings der wesentliche Teil des Faszinosums, das die Begegnung der Menschen untereinander bestimmt – neben der spontanen leiblichen Zuwendung. Das Sensorium für die Einmaligkeit jedes Einzelnen ist sensibel ausgeprägt. Das Bild vom Gegenüber, vom DU, bleibt deshalb so häufig fragmentarisch und veränderlich. Stars sind Menschen, die auf der Bühne der herrschenden Zivilisation Ideale repräsentieren, besondere Werte im Bereich des Schönen, Guten und Tüchtigen. Sie stellen diese Idealwelten leibhaftig dar und zeigen in bedeutender Form, welche herausgehobenen Qualitäten ins Patchwork der individuellen

Netzwerke eingehen sollen – meist im Sinne bestimmter Kuratoren, Produzenten und Mächte, die unsichtbar bleiben. Stars repräsentieren Ideale in einem schmalen Interessengebiet, etwa im Sport, bei der Schönheits-konkurrenz oder beim Wettlauf um Reichtum; auf anderen Wert-Ebenen werden sie meistens aber als durchschnittlich, oft sogar als minderwertig empfunden. Eine Schauspielerin ist z. B. schön, aber drogenabhängig, ein Oligarch reich, aber korrupt, ein Sportler fit, aber hässlich etc. Die Medienwelt fördert diese widersprüchlichen Beobachtungen und lebt geradezu von Mitteilungen über die grotesken Unterschiede und Wechsel bei der Akzeptanz der Werte. Gerade durch den Absturz aus den Idealbereichen und die ständige Schwankung der Kombinationen wird das Mitgefühl der Fans geweckt. Der Star, er ist doch einer von uns! Gerade seine Gebrechlichkeit, sein Versagen außerhalb seines idealen Terrains, macht ihn zum Vorbild, freilich auf kurze Zeit. Heidi Klum,

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Menschen, die Ideale repräsentieren. Persönlichkeiten.

Cindy Crawford, Lukas Podolski, Uli Hoeneß, Mutter Teresa, Angela Merkel, die »Mutter der Nation« etc.; ihr Charisma ist in einem engen Wirkungsfeld begründet und wird gesteigert durch allbekannte Schwächen ringsum. Gerade dies macht die Nähe der Starkulte zum bürgerlichen Leben aus, die öffentliche Sympathie. Stars wie Michael Jackson sind bis zu erstaunlichen Graden fähig, mit der Art ihrer Stilisierung, wenn sie einmal Erfolg hat, so scharf und pointiert von ihren natürlichen, das heißt angeborenen Anlagen, abzuweichen, dass sie sich in ständig steigender Kurve andersartig zeigen. Freilich muss der mediale Erfolg dieser Verfremdung positiv folgen. Der/die AuBerordentliche wird medial zum Abgott gesteigert, solange das Idealbild verfeinert erscheint. Lässt er/sie nach, so folgt die Rache der öffentlichen Teilnahmslosigkeit; die Lichtgestalt stürzt ins Nichts, oft genug in Drogenabhängigkeit, Ohnmacht und wirtschaftlichen Ruin. Selten gelingt es einer Starpersönlichkeit, über lange Zeit und wechselnde Entwicklungsphasen

durch weiter zu kultivieren. So ist es zum Beispiel Romy Schneider gelungen (freilich mit Qualen), zwei, dreimal ihren Star-Charakter völlig zu verändern. Aus der süßlichen, kaiserlichen Romy wurde der selbstbewusste CharakterStar und aus diesem die tragische Heldin einer verlorenen Zeit. Sie hat es verstanden, verschiedenartige, bedeutende Star-Konzepte von ihrem persönlichen Leben abzuheben.

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Auch die »natürliche Schönheit« ist ein Konstrukt. 146

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Was wird bei Dingen und Menschen als »natürliche Schönheit« verstanden? Was ist dabei »Natur«? Ist etwas Natürliches technisch herstellbar? Wie wird es hergestellt? Mit welcher Absicht und für wen? Wie wir wissen, konnte man im antiken Griechenland menschliche Körper von betörender Schönheit herstellen. in Marmor. Trotz der erstaunlichen Naturnähe dieser Werke ahnen wir, dass die Menschen in der Antike die Schönheit von Dingen und Menschen anders wahrgenommen haben, dass sie etwas anderes »schön« nannten als wir, die Europäer des 21. Jahrhunderts. Die rings um die Menschenwelt vorgegebene »rohe« Natur, Berge, Wasser,

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Wind, Feuer etc. wurde damals mit ihren unbeherrschten Kräften mit Respekt und Skepsis betrachtet, als die unvorhersehbare Sprache der Götter. Sie erfasste jedermann existentiell, niemand konnte ihr entgehen. Die Stadt als der Bereich der geschützten Kultur, wurde dieser Natur abgerungen und gegen sie verteidigt. »Es ist Zeit, das Obst von den Bäumen zu retten«, sagen im Sommer noch heute die Bauern auf dem Peloponnes. Das erinnert an die alten Griechen, auf deren Phantasie die Außen-Natur mit dem Wetter, den Gestirnen, Feuer und Wasser, als eine magische Gewalt wirkte, ebenso anziehend wie abstoßend, so verlockend wie bedrohlich. Im Innenraum des Hauses und der Stadt versuchte der Mensch, den immer anwesenden Mächten eine kultivierte Gestalt zu geben. Das konnte praktisch oder auch idealisch, symbolisch geschehen. Zur praktischen Kultivierung gehörten die Brunnen und Feuerstellen, die gehüteten Gärten und Felder mit der Nahrung; zur Kultivierung symbolischer Art das Theater, die Musik, der Tanz und die Bildhauerei. Besonders Gesänge, poetische Dialoge und Bildhauerei sind als Anstrengungen

zu verstehen, Naturgewalten mit künstlerischen Instrumentarien zu gestalten und so zu zähmen, zu kultivieren, der Gesellschaft nutzbar zu machen. Die »Roh-Natur« galt zwar als unfassbar und bedrohlich, aber Kunst und Darstellungstechniken, die sie »humanisieren«, wurden mit höchster Bewunderung gepflegt. Technik und künstlerische Darstellung machten das Schreckliche der Natur fassbar. Ihr göttlicher, apollinischer Teil, glaubte man, zeige sich vor allem in harmonischen Anordnungen und Proportionen ihrer Glieder und Gestalten, den menschlichen Körper einbezogen. Für Artefakte forderte man spätestens seit Pythagoras und der Entdeckung der Harmonie-Verhältnisse am Monochord Natur-Ähnlichkeit. Seitdem wird NaturÄhnlichkeit als Schönheit verstanden und Schönheit als Harmonie eines Ganzen und seiner Teile. Aber Natur-Ähnlichkeit war nicht immer bildlich gemeint, waren es doch manchmal, z. B. in der Architektur, ideale Zahlenverhältnisse, etwa 2 : 3, 5 : 8 im Seitenverhältnis bei Rechtecken flächiger Ausdehnung, manchmal auch die Anordnung von Kreisen, Quadraten und anderen idealen Figuren,

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Was der Begriff »Schönheit« meint. Und wie sich diese Meinung ändert.

die die symbolische Entsprechung mit der Natur garantierten. Wir wissen, wie sich im Laufe der Kulturgeschichte Europas dieses Bild der Natur geändert hat, wie der Glaube an ihre magische Gewalt als eine Sprache der Götter verloren ging, wie die technische Herrschaft sich mit ihren materiellen Strukturen durchsetzte. Der Glaube an magische Wirkungen der Naturkräfte ist aber mit der Entwicklung der modernen Technik verblasst; Harmonie wird nicht mehr als Sprache der Götter verstanden. Dennoch liefert die Natur auch heute noch, nicht nur in der Kunst, die stärksten Motive für die Gestaltung harmonischer Formen. Auch in der Kunstkritik und der öffentlichen Bewertung gilt ein Objekt als besonders hoch qualifiziert, wenn man ihm »natürliche Schönheit« zubilligt. Analysiert man aber diese Qualität, die Schönheit eines Gartens, eines Gemäldes oder die schöne Gestalt einer Frau, so erweist sich schnell das Raffinement ihrer technischen Herstellung, denn auch Schönheit mit dem kulturellen Siegel des »Natürlichen«

wird künstlich erzeugt, angedeutet und gesteigert, bis sie einem Ideal entspricht. Denn mit »Natur« ist immer auch eine Idealität gemeint, die im Bannkreis einer Kultur tradiert ist und von ihren Verehrern gepflegt wird – wie in der Antike. Heute wird beim kultivierten Spiel mit der Schönheit auch deren Randzone einbezogen, das Hässliche, Groteske, Fragmentarische, d. h. die Gegenwelt des Schönen, die das gewünschte Gleichmaß der Harmonie zwar ahnen lässt, aber in provozierender Weise verfehlt oder entstellt. Seit der klassischen Moderne um 1900 begleiten Risse und Löcher, Wunden und Fehler die schönen Formen und stellen sie in Frage. Vorläufer dieser Neigung, das »Natürlich-Schöne« zu stören und durch Abweichungen in Zweifel zu ziehen, gab es allerdings in allen romantischen Phasen der Kunstgeschichte; zum seligen Genuss gehörte allzu oft das Grauen, zur Schwärmerei der Schauder. Das zeichnet auch die berühmten Werke der Romantik aus, sowohl in der Poesie als auch in Malerei, Tanz und Architektur.

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Das ewig jugendliche Menschenbild als Werbeversprechen. 150

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Kaum eine Werbung wird öffentlich heißer und unverschämter vorgetragen als das Versprechen ewiger Jugend. Plakate, Inserate, Filmsequenzen bei TV und Videos, mit auf dringlicher Jugendlichkeit donnern sie in das Lebensgefühl aller Zuschauer, der alten, der sehr jungen und der alternden hinein; sie alle könnten und müssten den Schmelz der frühen Jahre, 18 bis 28, entweder genießen und behalten oder wieder erobern; das sei notwendig und möglich, durch welche vertrackte Technik auch immer. Bei der Demonstration der Idealbilder werden die dazu passenden Instandhaltungsmittel sogleich mitgeliefert, Infos über Fitnessgeräte, Gesichtscremes, chirurgische Korrekturmöglichkeiten, Implantate etc.

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sowie der Entwurf einer dazu passenden Trainingslandschaft aus Studios, Urlaubssorten, Magazinen, Ernährungssystemen, Sportarten etc., die zu nichts anderem da sind, als männerspezifisch bzw. frauenspezifisch »schöne« Menschenbilder zu erzeugen, Tendenzen zum Androgynen und zum rasseübergreifenden, weltoffenen Leben inbegriffen. Das Verfahren enthält, wie jeder weiß und verdrängt, einige großartige und einige verteufelte Implikationen. Erstens: Jeder macht die Erfahrung, dass es um das Erscheinungsbild seines Selbst geht, auch wenn der Werbevorgang offenbar dem Idealbild einer manipulierten Gesellschaft entspricht. Dem Vertrautesten auf der Welt, dem eigenen Leib, soll ein Vorbild aufgesetzt werden, das keineswegs aus der eigenen Erfahrung hervorgeht, das vielmehr der Konzeption anderer entspricht. Die schöne Maske ist zweifellos ein kunstvoll hergestelltes Artefakt; sie unterliegt den Herstellungsbedingungen und Traditionen einer spezifischen Gesellschaft.

Zweitens: Inhaltlich kommt das Angebot einem uralten Traum der Menschheit entgegen, nämlich der Sehnsucht, dem Tod zu entgehen, den Lauf des natürlichen Lebens umzukehren. Ewige Jugend heißt Abkehr von der Natur und Hinwendung zur Welt der zauberhaften Erfindungen der Menschheit, den Göttern, der Kunst, der Idee der Ewigkeit, dem Inbegriff unvergänglicher Kultur jenseits von Leben und Sterben. Drittens: Der Ratschlag zur Verschönerung knüpft an das Verhältnis der Mütter zu ihren Töchtern an. Ihr werdet alle Welt verzaubern, wenn ihr euch herausputzt; ihr werdet hinreißend sein und jeden Mann erobern; aber ihr müsst euch dem gültigen Reglement unterwerfen, dem Schönheitsbegriff, der für uns gilt, z. B. groß, schlank, blond, blauäugig sein und lächeln. Damit wird der Januskopf des kapitalistischen Produktionssystems deutlich. Der Körper ist eine Ware, die jedem angeboten wird, der zahlen kann. Der Käufer muss umworben werden (werben steht im Deutschen für Waren-

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Die jugendliche Kraft als eine Ware.

handel wie für Liebeshandel!) durch ein zauberhaftes Versprechen, auch wenn es keinesfalls eingelöst werden kann. Auf die Phasen der Verlockung folgen die des Kaufs und der damit verbundenen Verpflichtung, Geld zu verdienen. Die genießerische Erwartung dauerhafter jugendlicher Kraft und Ausstrahlung enthält offensichtlich einen neuen Natur-Begriff. Er ist nicht nur ästhetisch, sondern auch moralisch und politisch besetzt, aber auf unverschämte Weise positiv. Wer sich ihm unterwirft, hat das Recht, über andere Menschen zu herrschen und anderen voraus zu sein, d. h. zu verdienen und zu genießen. Wer sich ihm nicht unterwirft, wer diese Chance versäumt, wird nicht beachtet sein, d. h. im dunklen Vorraum der Gesellschaft bleiben. Mit Staunen nehmen wir wahr, dass man in fernöstlichen Kulturen (noch) das Alter schätzt, das Menschen, Tieren, Bäumen und Häusern Würde gibt. Wäre es denkbar, in der westlichen Welt den extremen Hang zur Jugendlichkeit durch ein Lebensgefühl zu ersetzen, das die wechselnden Phasen des

Lebens gleichermaßen würdigt? Neue Werbe-strategien könnten sich mit dem sinnvollen Wechsel der Lebensphasen beschäftigen, auch wenn man über deren Sinn jeweils verschiedener Meinung sein kann.

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Pygmalion. Zum Verlieben schön. 154

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Ovid hat ihn drastisch und anschaulich in seinen Metamorphosen beschrieben, den heißen Versuch des Bildhauers Pygmalion, eine Jungfrau aus Elfenbein, die er sich schuf, zu seiner wirklichen Geliebten zu machen. Die Götter, an die er sich wendet, haben schließlich Mitleid, als sie seine Küsse sehen, den Druck seiner Hände auf die Glieder seiner Skulptur, seine Sehnsucht nach ihren Brüsten. Staunend erfährt er, dass seine Kunstfigur ihm antwortet, wie sie errötet und sich hingibt. Der Phantasie der Männer ist es unmöglich, sich dieser Sehnsucht zu entziehen. Der bildnerisch Begabte versucht seit undenklichen Zeiten wie Pygmalion sein Glück. Er erzeugt das erregende

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Weibliche in seinem Werk und verliebt sich zugleich darin. Sowohl die ältesten Puppenfetische, die wir kennen, sagen das aus, 25 000 Jahre alt, z. B. die im Musée des Antiquités Nationales, Saint-Germain-en-Laye, als auch Werke neueren Datums, etwa das Gesamtwerk von Aristide Maillol (1861–1944). Die Produkte der also Verliebten zeigen seit Jahrtausenden zweierlei Merkmale, die wechselnd miteinander auftauchen: die Ähnlichkeit mit dem weiblichen Körper, also der Natur, sowie die Tatsache, dass sie als Artefakte konstruiert, montiert und zusammengesetzt sind. Beide Bezüge, beide Motive treten seit vorhistorischer Zeit deutlich hervor. Mimikry heißt Ähnlichkeit. Das Interesse an der täuschenden Ähnlichkeit eines eigenen Werkes mit der geliebten Frau ist wohl archetypisch; man kann nicht von einer historischen Entwicklung dieses Motivs sprechen. Schon 2 300 Jahre alte Statuetten sind bis in die Körperdetails »wirklichkeits-echt«; Haare und Gesichtszüge, Brüste, Schoß und Glieder sind Mädchenkörpern zauberhaft ähnlich. Und sie sind nicht weit entfernt von den

Babyfrauenfotos unserer Zeit, etwa denen des Morton Bartlett (1909–1992) von 1960. Andererseits haben die artistischen Körpermontagen von Hans Bellmer (1902–1975), 1935, Ähnlichkeit mit archaischen Marmoridolen; sie sind stark abstrahierte Skulpturen, motivisch reduziert auf Brüste und Schoß, durchaus Artefakte. Die Geschichte des Kults der Frauenliebe ist also keineswegs als ein kunstgeschichtlicher Faden zu verstehen, der sich in Richtung auf zunehmende Illusion oder Simulation hin entwickelt. Das Abbilden allein steht nicht im Mittelpunkt des Interesses. Vielmehr reden die Werke seit Jahrtausenden auf zweierlei Weise von dem Zauber, der die existentielle Situation des Mannes gegenüber der Frau spiegelt. So tief wie die Sehnsucht nach Ähnlichkeit, Mimikry, ist das Interesse der Gestalter an Manipulation. Eine Änderung der Kombination der Teile, der Anordnung von Gliedern und Details macht die Ausdrucksqualitäten, Abstoßung und Anziehungskraft, variabel. Aus Göttinnen werden durch einige Handgriffe Hetären, Hexen oder

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Die alte Geschichte: Der Maler verliebt sich in sein Modell.

Maschinen, die machtlos und dem Bildhauer verfügbar sind. Diese von alters her praktizierte Dekonstruktion war immer schon ebenso verführerisch und erwünscht wie die erotische Hingabe, auf die der Illusionismus zielt. Die Bewunderung der Geliebten kippt in Kälte um, wenn der Stift, der Hobel, die Raspel anders arbeitet. Wir sehen, wie sich im Rausch der Produktion eine Hölle auftut. Statt Schönheit spricht Groteskes aus der Kombination, Sadismus triumphiert. Alle Regeln der Harmonie lassen sich ironisch verflüssigen und verzerren; aus süßer Hingabe wird bald zerstörerische Lust. Sogleich beim Aufbruch der klassischen Moderne in Paris um 1910 zeigten sich beide Tendenzen, die romantisch hingebungsvolle Verehrung der Frau etwa bei Pierre-Auguste Renoir (1841–1919) und Amedeo Modigliani (1884–1920) wie die sadistische Dekonstruktion bei Picasso und Bellmer. In beiden Haltungen liegt eine Art Selbstverzauberung des Künstlers durch das Phänomen Frau, einmal realisiert durch die zarten Formen der Mimesis, ein andermal bei der radikalen Demontage des

schönen Körpers als Konstrukt. Die mimetische Kraft des Körpers der Frau wurde schon in den ältesten Skulpturen der Vorzeit dargestellt. Torsi von gewaltigem Ausdruck des Beckens und der Brüste wurden in handlichen Größen (auch wohl zum Herumtragen und Vorführen) aus hartem Gestein hergestellt, häufig ohne Kopf und Füsse. Immer traten also Beobachtung und Ideenhaftes aus diesen Darstellungen hervor. Das gilt bis heute. Die kostbare Wahrnehmung und die zauberhafte Illusionierung sind an der Darstellung beteiligt, mit verschiedenen Gewichten, mit wechselndem Anspruch.

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Der Maler und sein Modell. 158

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Denkt man an dieses berühmte Thema, so sieht man einen Maler bei der Arbeit, im Kittel, vielleicht mit Barett, und vor ihm eine nackte Frau, sich zur Schau stellend, auf Kissen gelagert. Ein typisches Szenario der Kunstgeschichte. Es zeigt in pointierter Weise eine ganze Reihe von KlischeeVorstellungen über Kunst und Öffentlichkeit, über das Verhältnis von Mann und Frau, über die Arbeit des Künstlers, die Darstellung nackter Körper, Moral, Tabuverhalten etc. Verwunderlich, dass trotz der kanonischen Körperverdammung durch die christliche Morallehre des Mittelalters jahrhundertelang einzig der Leib Christi, ein nackter Männerkörper, mit Lust

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dargestellt worden ist. Dieser Exhibitionismus, durch den Glauben auch in Klöstern und Kirchen sanktioniert und besonders in Süditalien zu laszivem Schmelz entwickelt, wurde im bürgerlichen Humanismus – freilich ohne kirchliche Absegnung – auf die Darstellung von Nacktheit überhaupt übertragen. Unter Berufung auf biblische und antike Figuren wandte sich ein besonderes Interesse dem Frauenkörper zu, dem alle möglichen Ideen und Schicksale zugeschrieben wurden, ja er konnte zum Inbegriff der Schönheit überhaupt erhoben werden. Haut und Fleisch, vor den Blicken des Betrachters ausgebreitet, signalisierten jetzt quellendes Leben, Harmonie und Hoffnung, während Jahrhunderte zuvor noch Vergänglichkeit, Tod und Schuldbekenntnisse die meisten Körperbilder geprägt hatten. Die Maler-und-Modell-Bilder, besonders die mit einer nackten Frau, blieben bis heute Zeige-Bilder, die den Körper als Objekt der Neugierde, der Lust und der literarischen Interpretation vorführten. Der Maler in seinem Habit, selbst, wenn

er sich außerhalb der Vorführszene aufhält, ist der denkende, darstellende Autor der Szene, der dem Körper seinen Platz zuweist und seine Rolle erörtert. Die Frau ist eher als betrachtetes und benutztes Ding anwesend, sie steht den Wahrnehmungsvorgängen zur Verfügung, stumm, objektiv und in ihrer Rolle fixiert. Umgekehrt, die Herrscherattitüde des Malers, Bildhauers oder Fotografen ist kühl, beherrscht, machtbewusst und außerhalb des emotionalen Motivs. Fehlt die Darstellung des Malers selbst in seinem Bild, zeigt das Bild also nur ein Porträt, eine Figur und das Ambiente des Modells, selbst dann ist der darstellende Künstler mitgemeint; selbst dann stellen wir ihn uns mit seinem Werk verbunden vor. Das Verhältnis von Maler und Modell verliert nie ganz die suggestive Mitteilungskraft seiner Selbstreflexion. Der Betrachter schlüpft jetzt, ob das Modell ihn anschaut oder nicht, in die Rolle des Künstlers. Die Wirkung ist umso direkter, das Modell nimmt seine isolierte Position dem Betrachter wie dem Künstler gegenüber ein. Picasso, der mit Vorliebe die Figur des Malers oder Zeichners in der Szene

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Das uralte Klischee, das typische Szenario.

positioniert hat, welche allerdings das Modell, also die Frau, beherrscht, erlaubt sich eben dadurch seinen heiteren, ironischen, oft mitleidigen Kommentar, dass er den Künstler neben seinem Modell verschwindend klein und unscheinbar wirken lässt; in dieser Verzerrung hört man geradezu Picassos Augurenlachen. Bei Francis Bacon (1909–1992) sind die Modelle, umgekehrt, durch den Blick des Künstlerbetrachters gefolterte Knechte; das Zurschaustellen lässt sie sich quälerisch krümmen und zergehen. Der Maler und sein Modell, dieses Motiv ist in seiner klassischen Form, d. h. das Modell ist eine Frau, immer »konservativ« gewesen; der Mann benutzt die Frau für seine darstellerische Arbeit. Dies bleibt so, auch wenn Picasso die Machtsituation umkehrt; der Maler ist bei ihm meist der unterlegene, ohnmächtige Partner der Zweierbeziehung. In einer anderen Sinndimension ist der Maler seinem Modell immer voraus; er ist der intellektuelle Dompteur; er sieht sein Modell in zwei Welten gleichzeitig, der realen und der künstlerisch gestalteten; er verwandelt seinen

Status, nimmt sein Objekt aus der einen in die andere Welt hinein. Selbst wenn er sich wie bei Picasso in der einen Position als ohnmächtig erweist, beherrscht er doch auch die andere, indem er ein neues, anderes Wesen produziert. Wir sprechen vom Modell auch dann, wenn der Maler sich nicht selbst mit darstellt. Bei jedem Portrait und jedem Akt meint der Begriff Modell den Menschen, der das Motiv für ein Bild oder eine Skulptur abgibt, ähnlich beim Fotomodell. Die Darstellung bezieht sich auf dieses Motiv, sie zielt darauf ab, sie »zitiert« bestimmte Züge daraus, sie hält einige seiner Charakteristika in einer künstlerischen Technik fest. Das gilt auch dann, wenn das Werk nur an wenige ausgewählte Eigenarten des Vorbildes erinnert; das genügt, um eine gewisse Modellähnlichkeit zu erreichen; Analogie ist auch dann gegeben. Was bleibt, ist das Interesse an Ähnlichkeit durch die Übertragung bestimmter Bildeigenschaften von einer Wirklichkeitsebene in eine andere.

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Dass die Malerei Wirklichkeit imitieren soll... 162

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Die Nachahmung der Wirklichkeit durch Bilder galt in Europa schon immer, d. h. seit Aristoteles als die primäre Aufgabe der Malerei. Aristoteles ging davon aus, die Neigung, die Natur nachzuahmen, sei für den Menschen unwiderstehlich. Die Suche nach Bildern, das Verstehen von Bildern sei ihm nicht nur eine Lust, sondern auch eine Art der Erkenntnis, die es möglich mache, im Sinne der Natur zu leben und ihre Produktion fortzuführen und nachzuahmen. Bei der Beschreibung der imitativen Methoden unterschied er sogleich drei verschiedene. »Da der Dichter ein nachahmender Künstler ist wie der Maler oder der Bildhauer, so muss er von drei möglichen Methoden der Nachahmung, die es gibt, immer notwendig eine

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befolgen. Er kann nämlich entweder seine Gegenstände darstellen, wie sie waren oder sind, oder so, wie sie zu sein scheinen, oder, wie man sagt, dass sie seien oder gewesen seien, oder so, wie sie sein sollen.« (Aristoteles, Poetik) Dem waren seit der Antike nicht nur Dichtung und darstellende Künste verpflichtet, sondern auch die Architektur, die Dichtung durch ihren Stil, die Wortkonstrukte, die Malerei und die Bildhauerei durch mimetische Ähnlichkeit ihrer materialen Elemente, die Architektur durch ihre gestischen Korrespondenzen mit dem Körperlichen des Menschen. Durch die Jahrhunderte der Kulturgeschichte haben sich die Formen der Imitation ständig verändert und damit das Verständnis der Begriffe Wirklichkeit, Nachahmung, Bildhaftigkeit, Zeichencharakter etc. sowie das Verständnis der damit gemeinten Phänomene. Dabei beschränkte sich die Abwandlung der Nachahmungen nicht auf die drei von Aristoteles genannten Varianten. In den Denklandschaften der Künstler sind die MimesisIdeen vielmehr üppig gewuchert.

Die Kunstgeschichte wurde gerade hier zu einem philosophischen Labor. Etwa die Malerei. Schon der historisierende Mythos spricht von den Chancen der Nachahmung wie von einem vertrackten Spiel. Trugen doch die Maler Zeuxis von Heraklea und Parrahsius von Ephesus einen öffentlichen Wettstreit aus, wer von ihnen der bessere Maler ist. Es gewann derjenige, der die Techniken der Täuschung am besten beherrschte. Berühmt wurden die gemalten Tauben, an denen die Vögel picken, die vorgetäuschten Vorhänge etc. Die Eröffnung der Moderne bei der Jahrhundertwende XIX/XX zeigt die gleiche Art der philosophischen Verblüffung. Das wird besonders deutlich beim Wettlauf der Avantgarden, den Augenraum als Szene mimetischer Täuschungen neu zu erfinden. Cézanne verwandte zur Instrumentalisierung malerischer Räume neuartige Täuschungen, abweichend von der Zentralperspektive, die seit der Renaissance die malerische Darstellung von Raum beherrscht hatte. Die Skala der benachbarten Farben sollte das Auge in die räumliche

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Aristoteles' Auftrag an die Malerei.

Tiefe führen. Monet und Signac lösten die Kontinuität der Pigmentflächen auf, tupften einzelne Kleckse, um die Vibration des Lichtes in der Morgensonne über der Seine nachzuahmen, also die flüchtigen Erfahrungen der Augen im Sehraum; Braque und Picasso schoben figurative Muster flach hintereinander, um mit minimalen Mitteln das räumliche Tiefenerlebnis darzustellen. Marinetti und Boccioni brachten lineare Figuren in rhythmischen Wiederholungen in ihre Szenerie, um die Zeitphänomene, die wir aus unseren Alltagserlebnissen kennen, malerisch zu interpretieren. Whistler und Turner haben Pigmentstaub und Spritzverfahren benutzt, um ihre Erfahrungen mit der Atmosphäre von Venedig wiederzugeben. Etc. Oder etwa die Architektur. Seit den frühesten Stadtgründungen, Babylon, Ur etc. sind die Orte-Wege-Netze der Stadtstrukturen die Bühnenbilder des öffentlichen Lebens. Die Straßen- und Wegeführung, die äußeren Begrenzungen und Stadttore sowie die Positionen der Hauptgebäude stellen die Bewegung der Akteure geradezu dar. Bei den römischen

Militärstädten etwa oder im Barock sind die Stadtbilder mit ihren Pätzen, Balkonen und Podesten ausdrücklich Bühnen für die Auftritte von Mächtigen und Untergebenen, differenziert eingerichtet für die Verwendung bei Alltagen und Festtagen. Das gilt auch für die Innenarchitektur und bis heute auch für die eigene Wohnung. Häufig genutzte Gehwege und Tabu-Zonen, Türen, Fenster, Dielen und Schlafnischen bilden das räumliche Layout der Lebensvorgänge. Die Archi-tektur ahmt die gestischen Vorgänge nach, die für unser Leben charakteristisch sind und unser Zuhause darstellen. So erweist sich das aristotelische Nachahmungsprinzip als immer noch wirksam. Es ist brauchbar als roter Faden für die Kunstgeschichte, insbesondere für das Verständnis der Gegenwart, wenn wir die von Aristoteles angedeuteten Varianten der einfachen Bildähnlichkeit betrachten, das »Wahrgenommene«, das «Scheinbare« und das »Mögliche«. Hier, beim Spiel mit Arten der Wirklichkeit, zeigt sich besonders deutlich das Selbstverständnis der Moderne.

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Die Wachsäpfel im Kloster Admont. 166

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Seit der Barockzeit existiert im Kloster Admont, einer berühmten Benediktinerabtei in der Steiermark, ein MUSÄUM mit Naturobjekten und Raritäten, d. h. Dingen zum Staunen. 1809 wurde in das Naturalienkabinett die Wachsobstsammlung des Paters Constantin Keller (1778–1864) eingefügt, eine ebenso bedeutsame wie kuriose Sammlung von Äpfeln, Birnen und vielerlei Früchten, die von ihm im Maßstab 1 : 1 in Wachs nachgebildet wurden und bis heute gut erhalten sind, ein köstliches Vermächtnis, lehrreich und schön. Äpfel, Pflaumen, Trauben und andere Früchte liegen da in frischen Farben, geheimnisvoll glänzend, weich und verführerisch »echt«. Was für ein Gipfel der Darstellungstechnik, ebenso »künstliche«

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Natur wie »natürliche« Kunst! Die hier realisierte Auffassung von Modell weist durch ihre Präzision und Schönheit weit über sich hinaus. Der primäre Zweck der Objekte ist sicher die Dokumentation der Naturformen, die in der nördlichen Steiermark angesiedelt sind, die ewige Wiederkehr der Wachstümer in der Heimat der Patres von Admont. Das ist gelungen durch die akribische Genauigkeit der Beobachtung und die Fähigkeit geschickter Hände, sinnliche Wirkungen durch subtile Materialtechniken festzuhalten. Der Schimmer sanfter Obsthäute, die feinen Körnungen und Glanzstellen, der Zauber quellender, wachsender Naturformen wird mit subtilen Nuancen der Wahrnehmung eingefangen. Nicht nur das objektiv Gegebene, die natürliche Gestalt, wie sie etwa ein Fotoapparat festhalten würde, ein physikalisches Objekt, vielmehr das Erlebnisphänomen, das im Betrachter entsteht, das Beglückende, Zauberhafte der unberührten Natur, die uns als etwas Vollendetes begegnet. Diese Obstdarstellung als Modell zielt auf unsere

persönliche, lebhafte Erinnerung, auf ein historisierendes Interesse an der Gegenwart, an der »Aufbewahrung« des Jetzt. Eine zweite Bedeutungsdimension dieser Arbeiten liegt im pädagogischen, insbesondere im typologischen Interesse des Gestalters. Was kann und was konnte man vor Ort anbauen und ernten? Welche Arten von Marillen, Zwetschgen etc. waren von alters her vorhanden, wurden früher angebaut, standen damals zur Verfügung? Wie waren ihre typischen Merkmale? Diese Art der Fragestellung enthält ebensoviele Zukunftswie Vergangenheitsdimensionen. »Was ist gegeben und was ist zu erwarten?« In der Wahrnehmung tut sich eine Wissenslandschaft auf, die die Entwicklung der Kultur betrifft, dokumentarisch und ortsgebunden. Die dritte, heitere Dimension der Wachsobstsammlung von Admont liegt in ihrem Kunstwerk-Charakter. Ist es nicht ein Genuss, etwas Schönes zu betrachten, das von einem ästhetisch und handwerklich geschulten Menschen

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Nachahmung von Naturalien. Fabelhaft!

hergestellt wurde und für neugierige Betrachter bestimmt ist? Er präsentiert vollendete Dinge, jedes von erlesener Form, gut proportioniert und eingefärbt, auf subtile Weise mit Glanz versehen und in Vitrinen festlich vorgeführt, die Werk-Serie eines Meisters. Handelt es sich um Design, Skulptur oder Kunsthandwerk? Die Begriffe der Kunstgeschichte verschwimmen ob der Bescheidenheit, mit der hier das höchst Komplexe angeboten wird, im Bereich der realistischen Wahrnehmung ein ebenso präzises Beispiel wie sein Gegenstück im Bereich der Abstraktion, etwa das Quadrat von Kasimir Malewitsch. Das eine versucht die größtmögliche Annäherung an die Natur, das andere den größtmöglichen Abstand von ihr. Beide Extreme tauchen im Verlauf der Kulturgeschichte immer wieder auf, Versuche der täuschend ähnlichen Wiedergabe der Natur, etwa die Mumienmalerei im altägyptischen Faiyum und die Figuren der Stars im Kabinett von Madame Tussaud, oder das andere Extrem, die radikale Abwendung von Formen der Natur, etwa die Pyramiden von Gizeh oder Arbeiten der abstrakten

Malerei um 1960. Der Künstlerstreik um Sinn und Unsinn der Imitation von Wirklichkeit hat auch in der Filmgeschichte bedeutende Formen angenommen. Einerseits gibt es das großartige Beispiel der dokumentierenden Reporter, die ohne eigene Gestaltungsabsichten z. B. Kriegsszenen festhalten wollen und dabei ihr eigenes Leben aufs Spiel setzen, um dicht bei der Sache zu sein, das heißt im Krieg. Sie versuchen ernsthaft, den technischen Illusionismus auszuklammern, durch den ja im digitalen Zeitalter jede Fotodarstellung apparativ entstellt werden kann. Andererseits gibt es die großen Filmemacher, die aus Prinzip Kunst-Filme machen, jenseits der Alltagsrealität, eher vor dem Hintergrund der Geschichte der Malerei, z. B. Peter Greenaway.

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Spiele und Spielmodelle für Kinder und Künstler. II / 27

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Zum Spielzeugkasten der Kinder gehören seit Jahrhunderten Häuser, Türme, Brücken, Zäune, Dächer und Treppen, also Elemente der Architektur in Kleinformat, aber auch Innenräume für das ideale Wohnen mit Toilette und Esstisch, Herd und Bett, also den Bausteinen für das Familienleben, das mit solchen Dingen sinnvoll simuliert wird. Die verwendeten Mittel sind unendlich variabel; sie reichen von primitivsten Steinen und Klötzchen bis zum äußersten Raffinement illusionistischer Nachahmung. Die Spielzeug-welt ist in der Zeit vorwärts und rückwärts orientiert; sie präsentiert Erlebtes und Erträumtes, Bekanntes und Utopisches, d. h. ebenso viele Erinnerungen wie Wünsche.

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Der Spieler fragt sich und seine Mitspieler zugleich »Wie bin ich (geworden)?« und »Wie könnte ich (später einmal) sein?« Die benutzten Dinge werden beim Spiel sinnvoll nebeneinander gestellt und in der Vorstellung ihrer Betrachter an Vorgänge geknüpft. Ihre Bedeutung liegt in den möglichen und vorgestellten Handlungen. Die Faszination dieser Formenwelt hat besonders seit den 1960-er-Jahren nicht nur Sozialwissenschaftler und Kinderpädagogen, sondern auch Künstler erfasst. Architekturspielzeug gibt Wissenschaftlern und Künstlern die Möglichkeit, praktischen wie magisch-mythischen Fragen nach der Bedeutung von Raum nachzugehen. Praktisch sind z. B. die Fragen nach den materiellen Umständen von Wahrnehmung und Erfahrung, die organische Struktur der Sinne und Nutzungsvorgänge im Alltag der Menschen. Aber auch magisch-mythisch sind die Bedeutungen der Räume und Dinge, die das Spiel aufdeckt, besonders auch der Bezug zur Geschichte.

Wir sehen, wie Künstler, auch zeitgenössische, dabei sind, mit Spielmodellen Möglichkeiten der Raumwahrnehmung zu erproben und vor dem Hintergrund der Architektur Körpererlebnisse zu inszenieren, Erinnerungen an Räume abzufragen und Wünsche nach neuen Raumerfahrungen zu artikulieren. Einige von ihnen beziehen sich ausdrücklich auf die Baugeschichte, z. B. Mario Bellini, der an Interpretationen des Barock anknüpft, Anne und Patrick Poirier, die an Rom, an antike Ruinen erinnern, oder Lebbeus Woods, der ein zukünftiges, digitales Zeitalter heraufbeschwört. Andere entzünden ihre Phantasie an möglichen Katastrophen, z. B. Jimmie Durham, der versucht, den Alltag in den bürgerlichen Lebensformen zu erschüttern, oder Stephan Mürsch, der an die Trostlosigkeit von Flüchtlingssiedlungen in aller Welt erinnert. Wieder andere begnügen sich mit dem Glamour des Idyllischen, das an der stereotypen Wunschproduktion von Kinderwelt durch Erwachsene festhält.

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DIe Frage nach der Wirklichkeit im Spiel.

Von besonderer Kraft sind die experimentellen Versuche mit Bauteilen im Maßstab 1 : 1, die mit der Verschiebung von Lage und Nachbarschaft eines Bauwerks oder Bauteils beginnen, ihre Betrachter dabei stutzig machen und anstößig wirken bis zur »Enthäutung« der Bauformen oder der Überlagerung der gewohnten Oberflächen mit neuen Texturen. Eine öde Vorstadtgarage, ein Abwasserkanal, aufwendig ins Museum transponiert: Gregor Schneider treibt die Körpererfahrung des Widerlichen mit Lust auf die Spitze. Für Architekten sind Spielmodelle besonders lehrreich, weil sie die Magie des architektonischen Alltags, d. h. »Obertöne« und »Untiefen« der praktischen Funktion gebauter Dinge studierbar machen. Eine Variante experimenteller Architektur wird zum Raumlabor, schwebend zwischen rationaler Kontrolle und spielerischem Test. Es zeigt sich, wie aus träumerischen Zufällen Atmosphäre entsteht, die ja einerseits eine Eigenschaft der objektiven Architektur ist, andererseits aber eine Projektion des Betrachters, zugleich Außen- und Innenwelt.

Der Architekt Werner Runau (1922–2015) verband ein Leben lang seine Bauaufträge mit Spiel-Ideen, die in besonderer Weise Raum als Körperraum erlebbar machen. Eine Reihe davon konnte er 1972 in die »Spielstraße« der Olympiade München integrieren. Der holländische Philosoph Johan Huizinga (1872–1945) hat gar sein Hauptwerk Homo Ludens 1938 der Idee gewidmet, die Kultur der Menschheit habe sich wo und wann auch immer aus Spielsituationen entwickelt. Die kulturellen Leistungen, Werke und Vorgänge in Kunst, Wissenschaft, Sport etc. wären als Kristallisation spielerischer Anfänge zu verstehen.

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Alma, Kokoschkas Puppenfrau. 174

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Im Juli 1918, als Alma Mahler ihn verlassen hatte, gab Oskar Kokoschka (1886–1980) der Puppenmacherin Hermine Moos den Auftrag, ihm sobald wie möglich eine Puppe seiner Geliebten in Originalgröße zu machen und nach Wien zu schicken. In mehreren Briefen hat er Anweisungen gegeben, wie Gestalt und Material dieser Kunstfrau beschaffen sein müssten, »damit ich beim Ansehen und Angreifen das Weib meiner Vorstellung lebendig zu machen glaube«*. Die Konturen sollten Almas Körperbau exakt entsprechen; die Haut müsste sich wie Pfirsich anfühlen. Kokoschka hatte sich in die Idee von Wirklichkeitsersatz hineingesteigert, er nannte das gewünschte StellvertreterObjekt seinen »Puppenfetisch«. Es sollte

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ganz konkreten körperlichen Zauber vollbringen, nämlich ihn als Mann und als Maler erregen; die Puppe würde ihm als Geliebte und als Muse zur Verfügung stehen. Auch in Abwesenheit wollte er von der begehrten Frau stimuliert werden. Verlässt sie ihn, wird ihr Abbild sie vertreten, körperecht, warm, weich und fest. Als das ersehnte Kunst-Stück aber bei ihm eintraf, war der MalerDichter entsetzt. Das »Fetzenbündel« hatte eine flauschige Oberfläche. Das Fühlen der Haut und das Tasten der Formen mag seinem Erlebnis mit der lebendigen Frau ähnlich, aber in seinem penetranten Illusionismus umso schrecklicher gewesen sein. Zunächst versuchte er noch, die Parallelität der Erlebnisse zu steigern, indem er sich die Möglichkeit der Eifersucht anderer Männer einredete, er bestellte für den Körper der Puppe Schuhe, Wäsche und Kleider, damit er ihn fremden Blicken gelegentlich zeigen und zugleich verhüllen könne. In einigen seiner Bilder tauchte die Alma-Puppe als Motiv auf (z. B. in Frau in Blau, 1919, Maler mit Puppe, 1922), zunächst als Faszinosum im Vorder-

grund, später eher als Staffage im Hintergrund. Historische Parallelsituationen mit einer »hohen Frau« (bei Tizian, Rubens, Manet etc.) mögen verlockend in seiner Phantasie eine Rolle gespielt haben, mehr und mehr aber in dem Sinne, dass die jeweils revolutionäre Darstellungstechnik, Komposition, Farbauftrag und Bildsymbolik allemal wichtiger und gültiger war als das persönliche Verhältnis des Malers zu seinem Modell. Das Bildthema setzte sich – auch bei ihm – gegen das Rollenspiel der begehrten Frau durch. Er selbst berichtet in seinen Memoiren (Oskar Kokoschka, Mein Leben, München 1971, S. 192), er habe den »Puppenfetisch« weinübergossen und ohne Kopf irgendwann im Garten liegen lassen. Was das uralte Spiel der Stellvertretungen betrifft, so repräsentiert Kokoschkas Puppe eine Variante des Fetischs, die in der Geschichte des Rollenspiels von Puppen den Moment zeigt, in dem die magische Phase (WirklichkeitStellvertretung) übergeht in die rationalmentale (Produktionswerkzeug). Das zeigt eine der Finde-Situationen

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Kokoschkas Geliebte als Puppenfetisch.

der modernen Kunst: Afrikanische Totems, aber auch Wachsfiguren, Gliederpuppen, Mannequins, Schneiderbüsten, Marionetten und Automaten fingen um 1920 an, der kompositorischen Phantasie der Künstler auf die Sprünge zu helfen, die nun einmal mit der Abwendung von der Erlebniswirklichkeit fertig werden musste. Die Objekte ihrer zukünftigen Produktion sollten doch zugleich wirklich und unwirklich, natürlich und unnatürlich, ähnlich und unähnlich sein. Die Kunstwelt konnte mit der Erlebniswirklichkeit, der Natur, dem menschlichen Körper, kokettieren, aber sie musste zugleich künstlich sein, eine neue, andere Welt darstellen. An dieser Stelle hat Kokoschkas Puppe ihren Dienst getan, sie war irgendwie die Frau, die den Künstler erregte, aber sie war mehr noch ein Werkzeug seiner Kunstproduktion, d. h. etwas völlig anderes als Alma.

zum objektiven Element einer Komposition. Bei der Entwicklung von Bild zu Bild kann man zuschauen, wie der Grad des Metaphorischen, also die Übersetzung, gesteigert wird. Zunächst wird das Abbildhafte gepflegt, die Figur soll die Lebenswirklichkeit abklatschartig zeigen; nur dann, meinte der Betroffene in seiner Sehnsucht, könne sie ihm einen Dienst tun. Dann aber beginnt er, sie in eine andere Wirklichkeit zu verwandeln, sie von seinem Leben abzusetzen, Gedankenkühle herzustellen durch Analogie-inder-Entfernung. Die Sehnsucht, das Leid, wird in einem künstlerischen Akt aufgehoben. Die Ähnlichkeit ist nicht mehr eine sensuelle, sondern eine symbolische; die Affekte sind erträglich geworden durch die Distanz im Bild. Noch immer überträgt der Leib das Erlebnis ins Bildhafte, aber es ist abstrakter und erträglicher – wie die metaphorische Sprache gegenüber der des natürlichen Lebens.

Da hat also eine Modellpuppe die emotionale Balance eines Menschen verschoben; sie ist mehr und mehr aus der Lebenswelt in die Arbeitswelt des Malers eingetreten, zum Motiv geworden,

* Brief von 22.07.1928, dokumentiert in Oskar Kokoschka und Alma Mahler. Die Puppe. Ausstellungskatalog Städel, Frankfurt. a. M. 1992, S. 92.

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Automaten, Roboter, Cyborgs. Maschinen in Menschengestalt. 178

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In der griechischen Mythologie, wie Hesiod sie mitteilt, bekam Hephaistos, der Gott der Schmiede, von Zeus den Auftrag, Pandora, die erste Frau, aus Lehm herzustellen, ein fatales Geschenk an die Menschen, wie sich später herausstellte. Prometheus, der Vor-Denker, hatte seinen Bruder Epimetheus, den Nach-Denker, ausdrücklich davor gewarnt, Geschenke der Götter anzunehmen. Epimetheus aber verfiel so sehr dem Reiz dieses zauberhaften Konstruktes der Götter, dass er Pandora, die Schöne, heiratete. Sie öffnete ihm ihre »Dose« (ihre Vulva?), die viele göttliche Gaben enthielt: Schönheit, musikalisches Talent, Neugier, Übermut und eine bezaubernde Sprache, aber neben den Tugenden auch schreck-liche

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Plagen und Qualen. Bevor noch die Hoffnung der Büchse entweichen konnte, wurde sie (von Epimetheus?) wieder geschlossen. Zeus triumphierte ob der Plagen, die die Menschheit jetzt dulden musste, aus Rache, hatte doch Prometheus aus dem Olymp das Feuer gestohlen. Zur Zeit der französischen Revolution erreichte in Europa das Zutrauen in technische Erfindungen seinen Höhepunkt. Man glaubte an die vollkommene rationale Kontrolle über alle beherrsch-baren Erdendinge und damit die restlose Durchschaubarkeit der Welt. Als Julien Offray de La Mettrie (1709–1751) seine Theorie vom Menschen als Maschine veröffentlichte, 1750, entstanden weltweit Automaten in Menschengestalt, die alle möglichen Verrichtungen ausführen konnten; sie waren täuschend ähnlich wie Menschen gekleidet und mit intelligenten Gesten begabt. Im Vergleich zu Puppen und Marionetten, die seit Jahrhunderten bei privaten und öffentlichen Spielen vorgeführt wurden, konnten die Automaten erstaunlich viel mehr,

nämlich aussehen wie Menschen und handeln wie Menschen, scheinbar ohne Bedienung. So erregte zum Beispiel ein schachspielender Automat in Wien weltweites Aufsehen; sogar Napoleon wünschte, gegen ihn zu spielen. Das Faszinosum lag besonders darin, dass die wissenschaftliche Erwartung den höchsten Stand erreicht hatte; die Welt schien insgesamt verständlich. Andererseits waren aber bei Maschinen, etwa beim Klavierspiel eines Roboters, keine Empfindungen feststellbar. So blieb das Vergnügen ein ironisches, unheimlich und dem Bluff zugeordnet. Die Spannung in der Frage nach Maschine und Menschengestalt hat bis heute keineswegs nachgelassen; sie wird durch die Einführung von Körperprothesen sowie die Minimalisierung und digitale Steuerung von Implantaten noch gesteigert. Einerseits dringen intelligente Maschinen in die Biosphäre des Körpers ein, andererseits bleibt die Frage nach der Rolle des Körpers in der digitalisierten Gerätewelt schmerzlich offen. Die industrielle Produktion von Geräten, Autos etc. ist inzwischen weltweit

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Wenn Maschinen wie Menschenleiber aussehen.

mit Automaten ausgerüstet, die zwar menschliche Handgriffe tun, also die Erweiterung der mechanischen Fähigkeiten des Menschen darstellen, nicht aber menschengestaltig sind. Im Gegenteil, Arbeitsteiligkeit und Tempo der Produktionsphasen weichen beträchtlich von Gestalt und physischen Möglichkeiten des Körpers ab. Gleichzeitig entsteht weltweit eine virtuelle Szene mit computergenerierten Monstern, die durch illusionistische Annäherung an Menschenleiber eine starke filmische Suggestivwirkung auf das Publikum erreichen. Das Schwergewicht der Ebenbildnerei hat sich aus der drei-dimensionalen Mechanik stark in den virtuellen Raum der Bildschirme verlagert. Die industriellen Roboter, die de facto technische Dienste tun und sich in den realen Räumen der industriellen Produktion bewegen, können nicht schritthalten mit ihren Bildschirmverwandten. Dort nämlich, in der Videomärchenwelt, fallen die menschen-gestaltigen Artefakte über den hilflosen Rest der Welt her. Die Natur wird dort längst durch eine Parallelwelt von Cyberwesen überholt.

Gerade bei der Manipulation weiblicher Puppen hat sich seit der Romantik ein Zweifel an der »positiven« Natur des Menschen entwickelt. Mit der entstellten weiblichen Gestalt wurde die Todessymbolik in der Ambivalenz von Natur- und Kunst öffentlich vorgeführt. Die Puppenmädchen der SurrealistenAusstellung 1938 in Paris z. B. wurden als mechanische Spielzeuge mit abgetrennten Gliedern und MaschinenInnereien gezeigt; eine »Tendenzzum-Tode« war unübersehbar. So hat die moderne Kunst neben dem Ewig-Weiblichen der Frauenidole auch das Unheimliche darin dargestellt. Die Cyborgs der digitalen Märchenwelten, die sich selbst erzeugenden Maschinen, erscheinen dagegen merkwürdig androgyn. Jedenfalls beginnt die jahrhundertealte Zuordnung Natur/Frau und Technik /Mann, das Zuüberwindende/das Überwindende, zweifelhaft zu sein.

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Das Atomium in Brüssel. Mikrowelt im städtebaulichen Maßstab. 182

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Das Modell der Mikrostruktur eines Eisenkristalls in 165 milliardenfacher Vergrößerung über den Dächern von Brüssel galt bei der Weltausstellung 1958 als euphorische Glorifizierung friedlicher Atomenergieproduktion, ein Geschenk an die Menschheit. 60 Jahre danach wirkt es im Gestus völlig übertrieben und in seiner positiven Attitude naiv; der Sinn ist durch den Verlauf der Geschichte korrumpiert. Das Modell, als Symbol verstanden, kann den einmal gesetzten moralischen Anspruch, bei der Weltausstellung vorgetragen, nicht mehr erfüllen. Es konnte, im Architekturmaßstab erstarrt, die Verwandlung der Gefühle und Einsichten im politischen Raum nicht mitvollziehen.

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Die beteiligten Ingenieure (Entwurf Ing. André Waterkeyn, Ausführung Ing. André und Jean Polak), haben mit 9 metallischen Kugeln, Durchmesser 18 m, und 23 Verbindungsröhren, Durchmesser 3,30 m, 2.400 to schwer, 102 m hoch, dem staunenden internationalen Publikum eine physikalische Mikrostruktur im Mega-Maßstab vorgeführt. Das Modell soll erinnern und stimulieren, an die Verfügbarkeit der atomaren Welt erinnern und zugleich die öffentliche Meinung zum friedlichen Gebrauch der Atomenergie stimulieren. Woran erinnert aber das monumentale Atommodell? Wie ist seine Vorgeschichte? In Kürze: erste Experimente zur Radioaktivität 1890. Kernspaltung als Energiequelle entdeckt 1938–39. Der Vorgang erzeugt Hitze, Hitze erzeuge Wasserdampf und dieser, auf Turbinen und Generatoren geleitet, elektrischen Strom. Kernbrennstoffe sind Plutonium und Uran, radioaktiv und tödlich strahlend. Lösungen zur Endlagerung der Brennstäbe sind der Menschheit bisher nicht gelungen. Erste Reaktor-

unglücke 1979, die Katastrophen von Tschernobyl 1986 und Fukushima 2011. Wir wissen, dass die atomare Strahlung erst nach einigen Tausend/Hunderttausend Jahren erlischt. Trotzdem wird Kernenergie weltweit propagiert (Stand Juli 2015: 438 Reaktorblöcke mit 39 GW Gesamtleistung in 31 Ländern, weitere 67 im Bau, plus 180 Reaktoren auf Schiffen) und geächtet (Ausstieg Deutschland vorgesehen bis 2022). Die Aussage des Symbolmodells in Brüssel wurde durch die globale Wende der Politik mehrfach infrage gestellt. Das früheste Verständnis war 1958 charakterisiert durch die euphorische Feier friedlicher Nutzung. Treibende Kraft war die Militärtechnik der USA, verbunden mit der weltweiten Werbewirtschaft, die neueste Medien einsetzte, insbesondere Filme und Digitaltechnik, um trotz der existentiellen Bedrohung eine euphorische Stimmung zugunsten der Atomenergieproduktion zu erzeugen. Die stärkste dramaturgische Wirkung bekam der Entwurf der virtuellen Cyberwelt durch große Hollywood-Filme, die als Analogon der amerikanischen

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Glorifizierung oder hybride Übertreibung?

Globalherrschaft eingesetzt wurden. Die Beherrschung der Makrowelt, die Weltraum-Eroberung, und die Beherrschung der Mikrowelt, die Atomkraftnutzung, standen damit in Einklang. Inzwischen erweist sich dieses Vorgehen als hybride Übertreibung. Sowohl die Reaktorkatastrophen als auch die Unmöglichkeit der gefahrlosen End-lagerung der Brennstäbe und immerwährende Atombombengefahr lassen die euphorische Feier der Atomtechnik in höchstem Maß gefährlich, ja absurd erscheinen. Das monumentale Modell in Brüssel konnte den Bedeutungswandel der politischen und der technischen Situation seit den 1950er-Jahren nicht mitvollziehen. Schon zur Entstehungszeit konnte die Vergrößerung der Mikrostruktur in monumentale Dimensionen die existentiellen Probleme der Menschheit nicht abbilden. So blieb das Brüsseler Modell ein überholtes Relikt aus der Geschichte unserer Gegenwart, das eine Stadtlandschaft ebenso belastet wie bereichert. Der Vergleich macht deutlich, dass der Eiffelturm in Paris bei seiner Entstehung,

aber auch heute noch, etwas wie die Eroberung des Weltraumes durch Ingenieurleistungen gestisch darstellen kann. Hier hat sich, im Gegensatz zu Brüssel, der künstlerische Ausdruck eines provokativen Bauwerks dem gewohnten Stadtbild längst eingefügt.

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Die digitalen Wettermodelle. 186

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Wettermodelle sind deshalb so charakteristisch für digitalisierte Darstellungen, weil sowohl Raumals auch Zeitinformationen isoliert, abgebildet und angeboten werden und zwar in jedem beliebigen Abstraktionsgrad, so z. B. die Wetterberichte des Fernsehens. Sie versuchen zunächst, die Jetzt-Situation an den Orten ihrer Zuschauer mit einer geographischen Karte wiederzugeben, also das landschaftliche Nebeneinander in einer aus der Schule bekannten Darstellungsart. Diesem Bild werden nacheinander Symbolnetze mit Zahlen und Graphemen zugefügt, die über Temperaturen, Wind und Wolkenbilder Auskunft geben, bildlich (Satellitenaufnahmen) oder symbolisch (Wolkensymbole) und dies

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statisch oder auch mit Überblendung und in Bewegung. Durch Staffelung der Bildelemente und zusätzliche mündliche Information durch Moderatoren gelingt es, bei den Betrachtern die Vorstellung von einer »Natur-Situation« zu erzeugen, die Ereignisse von gestern, heute und morgen erklärbar macht, eine Art Wahrnehmungsersatz, ergänzt durch begründete Erwartungen. Freilich bleibt die Beschreibung der Natur-Ereignisse beschränkt auf wenige Qualitäten, meist mittlere Temperaturen, Windstärken und -richtungen, Luftdruck, Wolkenbildungen und Sonnenstunden. Zusätzliche Informationen über körperliche Erlebnisqualitäten, Pollenflug etc., versuchen die Moderatoren, mündlich zu ergänzen. Nur der geringste Teil davon ist durch Erlebnisse draußen prüfbar, wobei die unmittelbare Wahrnehmung selbstverständlich immer ein wenig vom Wetterbericht abweicht, der ja statistische Werte aus großen Landschaftsgebieten wiedergibt und nie auf einen einzelnen Ort präzise zutrifft. Mittlere Messwerte sind für ihn dabei von höherem Informationswert als die unmittelbare Körperwirklichkeit.

Der zu erwartende Wetterumschlag ist wichtiger und »wirklicher« als die Tatsache, dass es vielleicht gerade draußen regnet. Das Wandern der Pfeile, die Verschiebung der Isobaren, die Gestalt der Hochs und Tiefs zeigen Großwetterlagen an, die als solche nur in Symboldarstellungen und nie »in natura« erlebbar sind. Solche Informationen geben aber eine Vorstellung von Zusammenhängen, die, obgleich nicht konkret wahrnehmbar, doch das »Eigentliche« der Naturvorgänge zu zeigen vorgeben. Eine der Natur innewohnende Ordnung deutet sich in den mathematischen Simulationen an und wird von einer Art Vertrauen des Betrachters begleitet, der in der Natur einen Haushalt von Strukturen sieht, d. h. harmonische Zusammenhänge. Das erinnert an die Naturbetrachtung der Antike, die ja von innewohnenden Ordnungen ausging, die das weltweite Chaos korrigiert, dem der Mensch grundsätzlich ausgeliefert war. Die Alten führten »Götter« ein, die die Ordnungen der Natur als ihr Werk verantworteten; deren Zugriff konnte man entdecken,

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Atmosphärenmodelle als mathematische Konstrukte.

darstellen und sich sogar wünschen. Auch heute werden die Naturereignisse durch Bekanntmachung der digitalen Darstellungen näher gebracht, freilich ohne metaphysischen Hintergrund. Ihre Interpretationen durch quantifizierende Schemata, algorithmische Figuren, Symbole etc. leisten die gleichen Dienste wie vor 2000 Jahren die Feststellung harmonischer Zahlenproportionen und euklidischer Figuren, die man in den Natur-Dingen, im Sternenhimmel und in der Gestalt des menschlichen Körpers fand. Es ist das gleiche intentionale Schema: Beherrschung der Natur durch Messen und Darstellen. Damals wie heute bleibt bei aller Bemühung, Ordnung festzustellen, das Staunen über die immerwährende Neuigkeit der Ereignisse, die Fähigkeit der Natur zum neuen Anfang. Dieser Typus Modell, das Klimaszenario, weist keinerlei Bildähnlichkeit auf mit der erlebbaren Wirklichkeit; er ist vielmehr semiotisch und abstrakt konzipiert. Dennoch dient es dem Alltagsbedürfnis der Menschen als ein praktisches Werkzeug und ist inzwischen fast unentbehrlich, weil es nicht nur den Ist-Zustand

des Wetters interpretiert, sondern auch die zukünftige Entwicklung. Viele Menschen orientieren sich täglich an ihm, ohne Anstoß zu nehmen an seiner anspruchsvollen mathematischen Struktur, der Komplexität und abstrakten Formulierung. Die Klimamodelle stellten in den Anfängen ihrer Entwicklung vor ca. 4o Jahren Atmosphärenmodelle für einzelne Geolandschaften dar; inzwischen haben sie sich zu globalen Systemen entwickelt, wissenschaftlichen Monstergeweben, die mit Supercomputern Tag für Tag Hypothesen aus verschiedenen Disziplinen verarbeiten, neben Algebra und Geometrie u. a. Chemie, Biologie, Geschichte etc. So entstehen und wachsen Simulationsmodelle, die parallel zur Natur »mathematische Texte« darstellen, die dokumentierend im Sinne der Naturwissenschaft, aber auch kreativ im Sinne der Kunst auf das Alltagsleben einwirken. In Zukunft wird die Frage besonders interessant sein, in welcher Weise eine intelligente Klimasimulation über das Jetzt hinaus in die Empfindung der Betrachter, in ihre Lebensgefühle eingreifen kann.

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Digitale Simulation durch mathematische Zukunftsmaschinen. 190

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Seit 5o Jahren setzen alle Natur- und Ingenieurwissenschaften digitale Rechenmaschinen ein, die man zunächst brauchte, um »Wahrheiten«, objektive Fakten zu dokumentieren, die aber inzwischen mehr und mehr benutzt werden, »Möglichkeiten« zu simulieren. Die Rechner werden als experimentierende Geräte benutzt, die nicht nur die vorhandene Welt numerisch beschreiben, sondern auch mathematische Modelle darstellen, die als Instrumente neuer Erkenntnis akzeptiert werden. Formen und Vorgänge werden simuliert und verfügbar gemacht – mit und ohne originalgetreue Nachbildung der dokumentierten Objekte. »Die Wissenschaft des 20. Jahrhunderts wird vor allem die Wissenschaft der Modelle sein.«

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Was der Elektrotechniker/Akustiker Abraham Moles (1920–1992) schon 1959 prognostisch ankündigte, hat sich inzwischen auf breiter Front etabliert. Die intelligente Struktur digitaler Modelliertechniken entfaltet sich so faszinierend schnell, dass sich nicht nur Ingenieure und Naturwissenschaftler, sondern auch Künstler und entwerfende Architekten ihrer mit Lust bedienen. Durch die Konstruktion mathematischer Maschinen wird man auf abenteuerliche, nie gesehene Raum- und Zeitstrukturen aufmerksam, die sich auch für die Phantasie der Programmierer am Rand der Rationalität bewegen und ihre Wirkung auf ungeahnte Weise ausdehnen. Aus der Kombinatorik der digitalen Muster entsteht ein phantastischer Bedeutungsraum, der über die Fragestellungen seiner Entwicklung hinausgreift. Man sagt, durch die Computerisierung von Wissenschaften und Künsten gehe die schöpferische Kompetenz auf die Geräte über. Die Vorstellung vom kreativen Subjekt, in der Kulturgeschichte nach alten platonischen Mustern gepflegt, sei inzwischen

überholt. Die Möglichkeitsproduktion sei jetzt eine Sache der mathematischen Maschinen. So argumentieren etwa die Kulturphilosophen und Kybernetiker Gotthard Günther und Erich Hörl, die Wissenschaftshistoriker Georg Vracherliotis und Gabriele Gramelsberger. Mit solchen Thesen gerät die Diskussion doch wohl in die Zone bedenklicher Kurzschlüsse. Die praktische Leistungsfähigkeit der zwei-dimensionalen Bildund der drei-dimensionalen Modellsimulation sowie der statistischen Rechnerprogramme ist unbestritten. Die schöpferischen Akte aber sind doch die der Programmierer, also der Menschen am Gerät. Die Faszination im Kreis der Studenten ist vielfach hochgeschraubt, aber die Eingrenzung der kreativen Möglichkeiten ist dringend geboten. Durch die digitale Simulation können zuvor isolierte, rationale Muster ausgeweitet und überlagert werden und dies gelingt bis zu hohen Graden von Komplexität. Die subjektiven Wirkungen sind höchst überraschend. Sie bereichern die Entscheidungsmöglichkeiten der Entwerfer. Mit ihnen entstehen, wie wir sehen, neue Arten der Ästhetik.

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Das Errechnen der Zukunft.

Die Bewertung der Varianten dieser neuartigen Gestaltung kann aber nicht durch Maschinenprogramme geleistet werden, denn sie basiert auf Leibeserfahrungen des Menschen, auf der komplexen Orientierung im Erlebnisraum und wechselnden konkreten Wahrnehmungssituationen. Die Leiborientierung umfasst dabei sowohl Wahrnehmungsals auch Erinnerungsstrukturen und hochindividuelle Erwartungen. Bei der digitalen Arbeit führt das Fehlen der Leibbeziehung einen Architekturentwurf etwa in eine Zone des Überallgültigen. Die spontane Körperbremse fehlt. Nichts sagt in mir »Das passt hier nicht!« Die praktische Erfahrung zeigt: Nur einzelne »Inseln« im Erlebnisraum des Menschen sind durch mathematische Maschinen modellierbar. Dazu gehören z. B. Ökonomie, technische Qualitäten und einige Schönheitskriterien, Proportionalität, Stil etc. Hier allerdings können digitale Simulationen große Dienste leisten. In Zukunft werden wohl beide Arbeitstechniken einander ergänzend gebraucht, die entwerferische Arbeit der Hand und

die planerische Arbeit der Maschinen. Beide Entwicklungsspuren müssen in der zukünftigen Arbeit mit digitalen Mitteln in die Trainingsprogramme miteinbezogen werden: die Kenntnis der digitalen Darstellungsmittel einerseits und die Entfaltung natürlicher Leibfähigkeiten andererseits. Bei konkreten Arbeiten, zum Beispiel im Feld der Simulation, sind beide Sphären im Wechselspiel voneinander abhängig. Die Körperwahrnehmung braucht zur Verkürzung der sinnlichen Vorgänge digitale Prozeduren, und das digitale Material braucht sinnliche Bestätigung, um bedeutend zu sein.

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© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2018 W. Meisenheimer, Modelle als Denkräume, Beispiele und Ebenbilder, https://doi.org/10.1007/978-3-658-20115-9_43

Das Yoni-Lingam. Ein hinduistisches Schöpfungsmodell. 194

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Yoni-Lingam heißt im indischen Kulturkreis die Darstellung der Vulva in der Vereinigung mit dem Phallus, des Weiblichen mit dem Männlichen. Dieses Motiv, meist in dunklem Stein ausgeführt, gibt in der indischen Welt Millionen von Menschen das Gefühl für die ewige Erhaltung des Lebens und für die Entstehung von göttlicher Kraft. Im Bewusstsein der Menschen dieses Kulturkreises kann kein Lebewesen sich ohne diese Kraft entwickeln und existieren, auch die Götter nicht. Unter Pipal- und Banyanbäumen sieht man Yoni-Lingam-Darstellungen auf niedrigen Sockeln; in Shiva-Tempeln werden sie manchmal zu Hunderten auf Steinpodesten aufgebaut, täglich mit Wasser, Milch oder Joghurt überschüttet und

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mit Hibiskusblüten bestreut. Dieses skulpturale Bild stellt für Inder vielleicht die intensivste Sehnsucht der Menschheit dar, die Bitte um Lebensenergie und zugleich die Hoffnung auf ewige Dauer. In der Vorstellung der Hindu ist es seit Jahrtausenden die weibliche Energie, die mit ihrer Dynamik die männliche Potenz belebt und hervortreten lässt. Weibliche Energie heißt Shakti, sie wird häufig durch die nackte Göttin Kali dargestellt, die stehend und feurig den liegenden, leblosen Gott Shiva erregt. Das weibliche Prinzip ist es, das die männliche Gottheit aus ihrer statischen Haltung befreit. Die Erlösungsszene mit Kali und Shiva erinnert an die Apotheose mit GretchenHelena-Maria in Goethes Faust II, allerdings ungleich drastischer dargestellt, nämlich als zugleich geistiger und sexueller Rausch. Zweifellos ist es die sexuelle Vereinigung von Mann und Frau, die das Bildmotiv der steinernen Form bestimmt, aber ebenso unzweifelhaft ist es nicht das Eindringen des Phallus in die Vulva, das immer wieder dargestellt wird, sondern dessen

Hervortreten aus dem weiblichen Schoß, eine Allegorie des Geborenwerdens. Aus dem Dunkel tritt das Ich ans Licht; die Säule im Yoni-Lingam repräsentiert den Menschen, der sich aus dem Dunkel, aus Erde und Wasser erhebt. Sie zeigt in mythischer Sprache die Schöpfung des Selbst als ein Erhabenes, sich aus der Erde Erhebendes. Bei den künstlerischen Gestaltungen der Menschheit hat wohl kein Bild der Schöpfung größere Bedeutung erlangt als dieses, in den Tempeln Indiens tausendfach ritualisiert. In der ästhetischen Symbolik des Shiva-Lingam treten häufig drei Grundformen auf, die stabförmig aufeinander aufbauen: das Quadrat, das Achteck und der Kreis. Die Basis eines dreifachen Pfahls ist ein Kubus mit quadratischem Querschnitt, darauf ist eine achteckige Säule aufgesetzt, darauf eine Rundsäule mit Halbkugel als Abschluss. Dabei repräsentieren Quadrat und Kubus die Erde, Kreis und Halbkugel das Himmelsgewölbe. Großartige künstlerische Formulierungen des Shiva-Lingam findet man zum Beispiel im Museum von Pnom-Penh, Kambodscha; selbst

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Das mächtigste Modell der vitalen Existenz.

die buddhistischen Stupaformen in Nepal und Thailand benutzen das hinduistische Motiv der Stapelung konzentrischer Grundformen, die oben mit einer Halbkugel abschließen. Das Yoni, der weibliche Schoß, wurde offen oder versteckt in allen Kulturlandschaften der Erde als archaisches Motiv für den »Ursprung der Welt« dargestellt. Es gibt keinen Menschen, der unbeeindruckt ist von diesem körperlichen Wissen. Sicher ist seit den tiefenpsychologischen Forschungen von Sigmund Freud auch die psychologische und symbolische Dimension des Motivs sowohl in der Entwicklung des einzelnen Menschen als auch in der Kunstgeschichte ins Bewusstsein gerückt. Sie hat auch die individuelle Kunst in der Moderne, besonders auch die moderne Malerei, tausendfach beeinflusst. Die skulpturale Gestaltung des Motivs im hinduistischen Kulturraum, eher magisch-mythisch als künstlerisch zu verstehen, hat seit Jahrhunderten zum religiösen und philosophischen Selbstverständnis von vielen Millionen Menschen beigetragen – ist für sie doch das Yoni-Lingam seit

vedischer Vorzeit ein archetypisches Bild, das die Selbstproduktion und ewige Wiederkehr der Welt darstellt. Das Yoni- und das Lingam-Motiv treten, wie wir wissen, seit den Anfängen der Kulturgeschichte und vorher bereits, in den dunklen Phasen der nicht beschreibbaren Vorzeit in Erscheinung. Sie prägen global in den künstlerischen Gestaltungen der Völker ahnungsvolle räumliche Formen, naiv oder kunstvoll entwickelt. Selbst in der Welt der Kinderspiele haben sie seit Jahrtausenden Bedeutung: Höhle und Turm.

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© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2018 W. Meisenheimer, Modelle als Denkräume, Beispiele und Ebenbilder, https://doi.org/10.1007/978-3-658-20115-9_44

Die Doppelhelix. Eine magische Gestalt in der Mikround Makrophysik. 198

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Doppelhelices, doppelt gewendelte Spiralen (von gr. hélix, Windung, Spirale), kommen in den Mikro- wie in den Makro-Strukturen der Natur vor. Mikrostrukturen sind z. B. die Doppelspiralen der Chromosomen, die das Erbgut aller Lebewesen bestimmen. Die berühmteste ist die Doppelhelix im DesoxyribonukleinsäureMolekül. Das Rückgrat der DNA-Stränge besteht aus Phosphaten und Zuckern, die »Sprossen«, die die Einzelstränge miteinander verbinden, aus Wasserstoffverbindungen. Das Faszinierende dieser Zellstrukturen , die das natürliche Auge nicht sehen kann, liegt in der geometrisch regelmäßigen Gestalt, die seit ihrer Entdeckung als Schulbeispiel einer bio-chemischen Urform in ihrer zauber-

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haften Regelmäßigkeit immer wieder gezeigt wird. Der Nobelpreis Medizin 1962 ging an ihre Entdecker, die Molekularbiologen James Watson und Francis Crick. Auf ein wunderbares Parallelphänomen wird in der Astronomie aufmerksam gemacht, im Makro-Bereich der Natur, ebenfalls für das Auge unsichtbar. Im Zentrum der Milchstraße hat man eine 80 Lichtjahre lange Plasma-Wolke in Form einer Doppelhelix aus zwei Nebelsträngen nachgewiesen, deren Längsachse auf ein »schwarzes Loch«, 300 Lichtjahre entfernt, ausgerichtet ist (Sagittarius A*), mit dessen extrem starkem Magnetfeld sie interagiert. Das Staunenswerte ist die gestalterische Analogie der Strukturmodelle im Mikround Makro-Bereich der Natur. Trotz der unglaublichen Differenz der räumlichen Dimensionen und der Standorte im Weltall entdeckt unser Auge GestaltÄhnlichkeiten, die mit mathematischen Mitteln vorgeführt und für das menschliche Auge sichtbar gemacht werden können! In beiden Fällen erlaubt die

Modellkonstruktion Aussagen über die Ist-Situationen der Natur sowie mögliche Prognosen zu ihrer Entstehungs- und Entwicklungsgeschichte. Die anschauliche Form der Helix, eine einprägsame Modell-Struktur, wird für den Naturwissenschaftler zur konkreten Eigenschaft einer »Wirklichkeit«, die ganz und gar rational aufgebaut ist, aber in der Sphäre des Modells doch den Anschauungsraum des Menschen berührt, in dem sie erlebt und bewundert werden kann. Nicht nur die Fachsprachen – in diesem Falle der Biochemie und der Astronomie – sondern das Raumbewusstsein, die visuelle Phantasie der Menschen, wird durch Modell-Konstrukte zu Vorstellungen angeregt, die weit über die Aufgaben der Naturwissenschaft hinausgehen. In diesem Staunen wiederum liegen bedeutende, 2500 Jahre alte Topoi der antiken Philosophie. In der Wiederkehr der Ordnung, insbesondere der Wiederkehr mathematischer Elemente, lag für die griechischen Denker und Künstler, wie wir wissen, der Hinweis auf das Göttliche. Die wahrnehmbaren Strukturen des Kosmos deuteten nach ihrem Ver-

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Die unsichtbaren Bilder der Mikro- und Makrowelt.

ständnis auf die Gegenwart der Götter. Zu diesen bedeutungsvollen Ordnungselementen gehörten insbesondere die einfachen ganzen Zahlen und bestimmte Qualitäten ihrer Verhältnisse zueinander, die Proportionen. Zu ihnen gehörten aber auch die geometrischen Grundfiguren, die man in Naturformen, in mineralischen und organischen Gestalten, im Sternenraum und beim menschlichen Körper beobachtete. Besonders Pythagoras und seine Schule haben auf diese Elementarien aufmerksam gemacht. Man verstand sie als Vokabular der Welt-Harmonie. Wer sie bei den vorgegebenen Dingen beobachten oder in seine Werke übertragen konnte, hatte Zugang zum »Schönen«. Auch wenn im Denken der Moderne Götterwelt und platonischer Ideenhintergrund nicht mehr den gleichen Platz einnehmen – unser Gefühl wird durch die neuesten Beobachtungen stark beeindruckt. Die ausgedehnte Welt zeigt im Mikro- wie im Makro-Bereich magische Qualitäten. Nicht nur das begriffliche Denken, auch die Wahrnehmung des Leibes mit seiner Erfahrung und Erwartung von Gestaltqualitäten ist beteiligt. Erkenntnis ist in diesem

Sinne ganzheitlich geprägt, ideenhaft und sinnlich. In unserem Zeitalter der Technik ist die Rolle der Mathematik als Vermittler anschaulicher und unanschaulicher Erlebnisfaktoren besonders bedeutsam. Ist doch begrifflich Gedachtes bei unserer Vorstellung von Makro- und Mikrostrukturen gleichermaßen beteiligt wie die sinnliche Erlebniswelt, die wir uns gleichwohl aus Unsinnlichem aufgebaut vorstellen. Und umgekehrt, bei der Simulation des Unsinnlichen im Labor nutzen wir unsere Augen-, Ohren- und Bewegungserfahrungen, wenn wir mathematischen Modellen »Wirklichkeitscharakter« zuschreiben, z. B. der Doppelhelix, die das Erbgut aller Menschen bestimmt.

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© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2018 W. Meisenheimer, Modelle als Denkräume, Beispiele und Ebenbilder, https://doi.org/10.1007/978-3-658-20115-9_45

Étienne-Jules Marey und Eadweard Muybridge. Bewegungsfotografie. 202

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Bei den Erlebnissen des Leibes erscheinen sowohl die Wahrnehmungsphänomene ringsum als auch die Glieder des eigenen Körpers, die sinnlichen Organe, in ständiger Bewegung. Der Kopf wendet sich, Augen und Hände sind nie starr, unser Standort und unsere Richtung ändern sich von Augenblick zu Augenblick; die erblickten Szenen, die wahrgenommenen Dinge, erscheinen in ständig neuen Bewegungssituationen, nie starr, nie fixiert, – auch wenn wir die Identität der Gegenstandswelt annehmen, uns fest auf sie verlassen. Wir nehmen an, die Dinge sind immer die gleichen, auch wenn wir sie schwanken sehen, zeitweise nicht wahrnehmen etc. Wir sind an das Fragmentarische und Unbeständige der Wahrnehmungswelt gewöhnt.

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In der magisch-mythischen Skulptur, der archaischen Kunst Persiens, Ägyptens und Griechenlands, wurde der menschliche Körper ohne diese Bewegungen des Alltags dargestellt, gewissermaßen außerhalb der Zeit. Wir sehen die erhabenen Götter, Könige und Kuroi im Ewigkeitszustand, zeitlos, ohne Irritation durch Handlungen, Interessen und Wahrnehmungen. Augenblickssituationen waren offensichtlich nicht gemeint. Die archaischen Darstellungen sind reduktionistisch; sie zeigen die Körperformen in einem idealen, göttlichen Raum, der durch Körpererlebnisse, Augenbewegungen und dergleichen, nicht irritiert ist. Mit der Entfaltung der Moderne war ein exakt entgegengesetztes Interesse verbunden. Die Aufmerksamkeit der Künstler und Erfinder wie die der kulturellen Konsumenten wurde auf die ständige Veränderung der WeltPhänomene und des Leibes gelenkt. Man musste sich auf immer neues einstellen. Der moderne Mensch hat eine »Piloten-Existenz«. Besonders der französische Philosoph Paul Virilio macht

auf die Steigerung der Zeit-Faktoren, auf die Veränderung des Seins durch Geschwindigkeit aufmerksam, den »Verlust des Raumes durch die Zeit«. Der Mythos des ruhenden Raumes, der Ewigkeitsideen, ist verloren; es gibt kein Halten mehr. In diesem Zusammenhang ist neben der Erfindung der Kybernetik die Entstehung des Impressionismus zu sehen, insbesondere die Würdigung des Augenblicks, den der Leib als Ausgangsposition der Erkenntnis erlebt. Darin wird der Verzicht auf Metaphysik deutlich, der die Moderne prägt. Die Deutung der Welt muss jetzt vom Leib ausgehen und auf Götter verzichten. Gleichzeitig, vor 1900, konnte man die ersten Blüten von Fotografie und Film bewundern, die diese Entwicklung dar-stellen und das Zeitalter des Fernsehens einleiten. Dazu gehören die experimentellen Fotoserien von Étienne-Jules Marey (1830–1904) und Eadweard Muybridge (1830–1904). Die Körper-Bewegungen von Tieren und Menschen wurden verstanden als Folgen von flächigen Figuren, die sich mit der Zeit gegeneinander verschieben,

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Das Festhalten der Zeit. Die Kunst als Wissenschaft.

also als Schemata in der Tradition der Naturwissenschaft. Die komplexe, bewegte Wirklichkeit wurde auf flächige Darstellungsformen reduziert, die durch Sequenzen einzelner Bilder bestimmt wird. Dadurch entstanden analysierbare und vergleichbare Variationen und benennbare »Themen«, sie erlaubten einen geradezu naturwissenschaftlichen Zugang zur Kunst. Freilich verzichtete man auf alle anderen Bewegungserlebnisse, die mit dem körperlichen Ausdruck zusammenhängen. Kurz danach, 1895, machten die Gebrüder Auguste und Louis Lumière (1862–1954, 1864–1948), Paris, und andere die Entdeckung, bei schneller Projektion der Einzelbilder in Serie könne man die Bewegung der Dinge analog zur Augenwirklichkeit in einem Film darstellen, der ja dem vitalen Bewegungserlebnis viel näherkommt und als Simulation einer Handlung geradezu »explodiert«. Film und Fernsehen sind in unserer Gegenwart zum wichtigsten Medium der Unterhaltungsindustrie geworden, unentbehrlich auch für wissenschaftliche und künstlerische

Arbeiten, die sich an der Raum-ZeitKomplexität der erlebten Wirklichkeit orientieren. Nun sind, wie wir wissen, auch die einfachsten Umwelterlebnisse durch Raum- Zeit-Nuancen komplexester Art bestimmt. Schon das Zittern der Augen und die Kopfbewegung des Betrachters bestimmen den Eindruck einer Alltagsszene mit, erst recht die Fülle der Außenfaktoren, das Wetter, die Lichtund Wasserhaltigkeit der Luft, etc. Dazu kommen die physische Bewegung der Dinge, ihr Gestell-Charakter, und unseren Umgang damit, das Tun. Gemessen an der Fülle von Bewegungsfaktoren war das Fotografeninteresse eines Marey wie eines Luis Buñuel (1900–1983) streng reduktionistisch.

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© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2018 W. Meisenheimer, Modelle als Denkräume, Beispiele und Ebenbilder, https://doi.org/10.1007/978-3-658-20115-9_46

Hollywood. Vom Drehbuch zum Set. II / 36

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Filme sind Träume, sind spielerisch dargestellte Lebensmodelle. Wie aber entstehen sie, diese vielfach verschachtelten Angebote von Traumbildern, diese Filme, aufgenommen in einem Bühnenset, der nach Gipsmodellen, Bauplänen und Detailzeichnungen entwickelt wurde, Modelle nach Modellen nach Modellen, probeweise nacheinander hergestellt, um schließlich eine zauberhafte Raumillusion darzustellen? In der Tat entsteht der fertige Film, die große Illusion, als Ergebnis, als letztes Glied einer Kette von Simulationen verschiedener Charakteristik, zu deren Produktion das Herstellerteam eine Reihe von Fachleuten einsetzen muss, in Hollywood oft hundert Menschen, Drehbuchautoren, Sketch-Artists,

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Concept-Artists, Illustrators, Innenund Außen-Aquisiteure, Film-Architekten, Bauzeichner, Storybord-Zeichner, Location Scouts, Kameraleute und ein Digital Department, in dem die gesamte Arbeit am Set mit Computerbildern vorweggenommen und begleitet wird, also ein Team von Spezialisten für die verschiedenen Arten von Simulation, die die Vorarbeit zur Filmaufnahme gemeinsam liefern. Die komplizierte Aufgabe der Koordination liegt beim Product Designer und seiner Erfahrung. Diese Berufsbezeichnung ist seit 1937 üblich; früher, am Anfang der 1920er-Jahre, sprach man vom Art Director. Der besten Leistung in seinem Fach widmet man in Hollywood jährlich einen Oskar. Die erste Stufe der Ideensuche ist das Drehbuch. Ein Text eröffnet also den Einstieg in die Kunstwelt eines Films, die ja trotz aller imitativen Züge nie die Erlebniswelt des Alltags wieder herstellt, sondern immer eine gedachte, konstruierte, neuartige Vorstellungwelt. Das Drehbuch wird von begabten Zeichnern in eine visuelle Sprache

übersetzt, die den Text interpretiert und dabei eine eigene Stimmung erzeugt, die die mögliche Erlebniswelt eines Betrachters andeuten will. Diese Phase durchläuft mehrere Stadien. Nach Ideenskizzen kommen Entwurfszeichnungen zu imaginierten Räumen, Baupläne, Detailstudien und dreidimensionale Materialmodelle ins Spiel, die den später zu bauenden Set in verschiedenen Maßstäben darstellen. Der fertige Set, die für Schauspieler begehbare Filmszene, eingerichtet für die spezifischen Blickrichtungen der Kamera, kann in einem Studio aus dem Nichts entstehen, d. h. aus Holzgerüsten, Pappkartons, Gipsschalen und gemaltem Dekor, oder in eine vorgegebene Landschaft bzw. Architektur eingebaut werden, bei der kunstvolle Eingriffe vorgenommen werden, die die angestrebte Illusion verstärken, Lichteffekte, bewegliche Objekte, gemalte Hintergründe und computergenerierte Zugaben. Die filmische Inszenierung besteht also aus mehreren heterogenen Phasen, die labormäßig komponiert, d. h. im Sinne des Drehbuchs zusammengestellt werden. Mit dem Film selbst, dem

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Das Filmatelier als Modellbau-Werkstatt.

End-ergebnis der komplizierten Verflechtung verschiedenster Künste und Techniken, entsteht schließlich eine andere, eigene Wirklichkeit, die sich von den Aktionsphasen seiner Herstellung beträchtlich abhebt – wird er doch auf eine Leinwand oder einen Bildschirm projiziert, also eine Fläche, wo er von Betrachtern als Raumillusion wahrgenommen wird. Bei der Filmproduktion geht es also um eine überaus komplizierte Schachtelung von Wirklichkeitssimulationen. Die Welt wird zunächst 1-dimensional, dann mehrfach 2-dimensional und schließlich mehrfach 3-dimensional dargestellt, ständig in der Sprache einer besonderen Darstellungstechnik. Schließlich entsteht das illusionistische Wahrnehmungsbild, das im Körper seiner Betrachter diese zauberhaften Wirkungen auslöst, über die wir staunen. Ken Adam (1921–2016), ein berühmter Filmemacher und Bewunderer von Fritz Lang (1890–1976), Mitarbeit er von Stanley Kubrick (1928–1999), sieht die Komplexität des Films und der Arbeit seines Produkt Designers

an der Schnittstelle verschiedener Künste, Techniken und sozialer Aktivitäten, die alle erfinderisch mit Traumwelt und Wunschwelt zu tun haben: »Film ist die totale Zusammenarbeit, die einzig wirklich kollektive Kunstform« (Berger, 1997, S. 67. Aus: Boris Hars-Tschachotin, Der Bildbau im Film. Edition Imorde, Emsdetten/Berlin, 2014)

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© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2018 W. Meisenheimer, Modelle als Denkräume, Beispiele und Ebenbilder, https://doi.org/10.1007/978-3-658-20115-9_47

Gunther von Hagens. Plastinate. Kunststoff-Mumien. 210

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Der Erfinder einer speziellen Kunststoff-Technik zur Mumifizierung von Leichen, Gunther von Hagens, beschreibt seine Plastinate als organische Präparate, deren Zellgewebe mit Kunststoff, meist Silikon-Kautschuk, getränkt und dann mit Gasen gehärtet wurden, so dass das Gewebewasser, beim menschlichen Körper etwa 70 % seines Volumens, völlig verschwindet, die Wachstumsform aber dabei erhalten bleibt. Was da im chemischen Labor entsteht, ist eine fotorealistisch wirkende Körperhülle, die museumsreif ist und bei ihrem Betrachter durch minimale Abweichungen vom Bild des lebenden Körpers Staunen und Entsetzen hervorruft. Plastinate sind als Lehrmaterialien bei Medizinern und Künstlern sehr

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geeignet; in öffentlichen Ausstellungen erfahren sie aber gleichermaßen Bewunderung wie Ablehnung und Abscheu. Warum wohl? Seit Jahrtausenden wird der Körper eines Toten als ein Objekt betrachtet, das ein Gutteil der Würde des Lebenden noch in sich trägt. Man hat ihn kurze Zeit nach dem Tode mit Respekt betrachtet, bevor er sich durch den natürlichen Zerfall allzu sehr verändert, feierlich in die Erde eingegraben, dem Feuer übergeben oder, in einigen Kulturlandschaften, sogar heiligen Vögeln zum Frass ausgeliefert wird. Wir wissen, dass es den alten Ägyptern gelungen ist, tote Körper von Tieren und Menschen mit technischer Intelligenz noch lange Zeit zu erhalten, inzwischen 3000 bis 4000 Jahre lang. Die Priester, die die Technik der Mumienbalsamierung beherrschten, haben sogleich nach dem Tod die Körperformen in kunstvolle Hüllen eingelegt, Wicklungen und Sarkophage ergänzt, so dass die Hinterbliebenen sie sich idealisiert vorstellen konnten und mussten, zeigten die Hüllen doch nur entfernt Ähnlichkeit mit den lebenden Körpern der Toten,

selbst bei den berühmten ägyptischen Mumienportraits nur im Gesicht. Gerade durch die Verfremdung wurde die Würde des Toten erhalten; die Versuche der »Verewigung« waren immer Vorgänge der Stilisierung und Abstraktion. Bei vielfach umhüllten Mumien nahm die Gestaltanalogie von innen nach außen ab. Die Überwindung des Todes gelang gerade durch Verfremdung der Natur, durch ihre bildliche Verwandlung ins Erhabene. Statt Ähnlichkeit tritt Ideenhaftes hervor. Verewigung ist ein Vorgang der Ideierung, der durch die Akte der künstlerischen Abstraktion fortschreitet. Man kann als die innerste Hülle vielleicht die einbalsamierte Haut des Toten verstehen, als die äußerste vielleicht die Architektur, Grabbau, Tempel oder Kirche; sie trägt möglicherweise immer noch Merkmale der Körpergestalt, Längsachse, Kopf und Fuß, Eingangstor etc., allerdings vom Urbild stark abstrahiert. Wird totes Fleisch für die Augen fotorealistisch aufbereitet, wie das bei dem Plastinationsunternehmen Gunther von Hagens’ geschieht, der seine Objekte

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Das Innere des Körpers präsentieren. Exhibitionistisch.

in Jahrmarktausstellungen zeigt, so verzichtet man auf Distanz, auf die Suche nach dem Erhabenen. Wir helfen uns als Besucher durch kindliche Neugier, durch Staunen, vielleicht auch Entsetzen. Die öffentliche Ausstellung der Plastinate führt zu billigen Schaueffekten, indem sie den Illusionismus zum Äußersten treibt. Wenn von Hagens plastinierte Leichen beim Säbelfechten oder Schachspielen zeigt, Tote, die Gesten lebender Menschen andeuten, so grenzt dieses Schauspiel ans Alberne und Ärgerliche. Allerdings sind solche Anliegen nicht neu – hat man in den Wunderkammern der Barockfürsten doch schon mit Lust Anomalien der Natur vorgeführt, Missgestalten, Doppelköpfe etc., um sich gerade durch die Abweichung vom Idealen an der Ordnung und der Schönheit der Natur zu erfreuen. Solche Schaulust wurde am Beginn der Neuzeit zu einem beliebten Gesellschaftsspiel. Neben der peinlichen Herausforderung hat von Hagens’ Plastinierkunst auch einen positiven Schub in die Mediziner-Ausbildung gebracht. Mit nie gekannter Anschaulichkeit

können dünne Scheiben-Plastinate jetzt präzise über das Innere von toten Körpern Auskunft geben, was für die typologische Diagnose der Fachleute von Wert sein kann. Formen und Farben, Qualitäten und Quantitäten der verschiedenen Gewebe im Körperinneren werden bei diesem Verfahren sichtbar gemacht. Scheiben können wie Buchseiten oder Schubladen aus den Objekten herausgezogen, einzelne Strukturen eingefärbt, herauspräpariert und vor neutralem Hintergrund gezeigt werden. Das fördert die Anschaulichkeit der hochkomplexen Systeme und gibt Einsichten in den Aufbau des Körperganzen. Die dreidimensionale Vorstellung der Organe wird aus Flächen-Elementen aufgebaut, die man nacheinander betrachtet, ähnlich dem Lernvorgang beim »Daumenkino« bei den Anfängen des Films, freilich nicht durch den schnellen Wechsel der Seiten, sondern den langsamen.

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© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2018 W. Meisenheimer, Modelle als Denkräume, Beispiele und Ebenbilder, https://doi.org/10.1007/978-3-658-20115-9_48

Kaufen, kaufen, kaufen! Zivilisation und Konsum. 214

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Das Hochgefühl zivilisierter Menschen scheint seit der zweiten industriellen Revolution mit einer phantastischen Steigerung im Austausch von Gütern und Nachrichten einherzugehen. Die Möglichkeiten der digitalisierten Mitteilung haben atemberaubende Dimensionen angenommen; das Tempo und die Fülle der Inhalte sind inzwischen unfassbar und werden dennoch täglich weiter gesteigert. Ihre Prägung und Beherrschung durch Fachleute, soziale Institutionen und Politik wurde offenbar weltweit aufgegeben; ihr Versagen der Kontrolle ruft inzwischen Katastrophenstimmung hervor. Nachrichtendienste sind Machtinstrumente, aber wer beherrscht wen? Abgründe der Beherrschbarkeit und der Ohnmacht

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tun sich auf; ebenso treten Zauberberge der Selbstdarstellung hervor. Die technische Zivilisation hat sich durch digitale Geräte als ein überbordendes Schauspiel entfaltet, in das Elemente klassischer, humanistischer Kultur marginal und hilflos eingebettet sind. Je intensiver der kommunikative Rausch sich ausbreitet, desto drastischer zeigen sich die provokativen Möglichkeiten der Werbung. Nicht eigentlich Qualitäten werden transportiert, sondern Surrogate. Das sinnliche Repertoire unserer Körperwahrnehmungen wird dabei zusammengedrängt; das Auge dominiert bei weitem; die Mitteilungen über Qualitäten werden durch Quantitäten, meist Informationen über den Geldwert, ersetzt. Zahlen setzen sich durch; Quoten scheinen informativer als sinnliche Erlebnisse. Die Leibwelt verschwindet hinter der symbolischen. Die Physiognomie der Menschen, die uns interessieren, tritt mehr und mehr hinter zählbarer Dateninformation zurück. Längst haben Geräte sie durch typisierende Schemata ersetzt, die im digitalen Zeitalter durch eine beschränke Zahl von bit vermittelt wer-

den können. Deren Wert ist durch Geld aus-drückbar. Wer kauft möglicherweise was? Wer bietet was an? Kommunikation ist bei diesem Austausch auf Konsum beschränkt. Die Welt der wahrgenommenen Dinge schrumpft auf die Wahrnehmung ökonomischer Strukturen. Selbst im Alltagsraum steht der sinnliche Zauber meist symbolisch für Käuflichkeit. Im Städtebau als Wahrnehmungsstrategie wird Werbung unter allen gestalterischen Aspekten hoch angesetzt. Mag auch die touristische Stadtentwicklung hier und da von »Bilbao-Effekten« abhängen, d. h. vom attraktiven Reiz außerordentlicher Architekturformen – Werbung darf sich auch dann nicht zum vorrangigen Bedeutungrepertoire im Architekturraum entwickeln. So wie die Schönheit der Naturdinge weit über irgendeinen Funktionszusammenhang hinausgeht, – in Blüten steckt mehr als ein Reifesignal, in Schmetterlingsflügeln – mehr als die sexuelle Verlockung –, so müssen auch Designprodukte und Bauten mehr aussagen und anderes aussagen als ihre ökonomischen Werte. Sie müssen vielmehr

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Zivilisation als Überschäumen verlockender Bilder.

körperlichen und märchenhaften Zauber vermitteln, durchaus auch Unverständliches haben und poetisch sein. Ihre Faszination hängt von diesem »Mehrwert« ab. Nicht nur bei Reisen, auch im Alltag wollen wir staunen. Die schnelle Mitteilbarkeit der Dinge und Vorgänge zum Zweck ihrer Verwendung spiegelt keinesfalls die Erwartungen unseres »denkenden« Leibes. Das Raffinement digitaler Vermittlung beschreibt trotz seiner Vielschichtigkeit nur einseitige Wege. Ein rationaler Funktionalismus hat in der Nachkriegszeit jahrelang unsere Städte verödet, indem er das Prinzip der maximalen Leistung aus der Allianz von Ingenieurtechnik und ökonomischem Interesse versucht hat, in den Lebensraum und seine Gefühlswelt zu übertragen, – eine fatale Verkürzung der Entwurfsvorgänge. Die Verdichtung der Stadtbilder im Hinblick auf Verkehr, das Ausquetschen der menschlichen Kraft, die zunehmende Lautheit und Schnelligkeit, die technischen und merkantilen Anstrengungen der Zivilisation haben nicht verhindert, dass eine Öde des Gefühls und der Lebenslust sich ausbreitet.

Landaus, landein setzt sich die Wiederholung des Typischen und Notwendigen durch, konsequent, aber langweilig. Die Formen der Dinge wie das Verhalten der Menschen werden zunehmend schlaff und ähnlich. Die Parallelwelt im digitalen Fernsehen zeigt die gleichen Symptome. Die Angebote unterhaltender wie informativer Art beginnen nach kurzer Zeit, sich zu ähneln, da die Programme nach Einschaltquoten gefördert werden. Das ökonomische Prinzip, rationalistisch angewandt, erweist sich im Städtebau wie in der Fernsehlandschaft als Faktor der Verödung. In beiden Lebensräumen fehlt die Entfaltung des Spielprinzips, das Johan Huizinga, der große holländische Kulturphilosoph, in Homo Ludens als Grundlage aller menschlichen Kultur verstanden hat. Müssen doch die rationalen Anstrengungen im Hinblick auf Ordnung in ein Feld offener, zufälliger Formen, in lustvolle Versuche eingebettet sein. In der Mitte des vitalen Lebens, auch des Alltags, wird eben nicht das Kaufen erwartet, so eifrig auch ringsum vorgetragen wird, das sei eine unverzichtbare Lebensform, ja eine Lebenskunst.

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Architekturmodelle. 218

Arbeitsmodelle. Überredungsmodelle. Erinnerungsmodelle.

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Einführung

Architekturmodelle zeigen besonders deutlich die typischen Eigenschaften aller materiellen Modelle: Sie weisen, ausgestattet mit Überredungskraft, zugleich auf Vergangenheit und Zukunft hin, auf die Vergangenheit, indem sie an Bedeutendes erinnern, auf die Zukunft, indem sie auf etwas Mögliches vorausschauen. Welchen Aspekt sie auch durch ihre Eigenart betonen, für Fachleute sind sie Werkzeuge, handlungsbezogen, man will mit ihnen arbeiten. Schon aus der Zeit um 6000 v. Chr. kennen wir gut erhaltene Haus- und Tempelmodelle, besonders aus den Kulturlandschaften Sumer, Ägypten und China, deren Gestaltung auf damals bewährte Nutzungsvorgänge, auch aber auf symbolische Bedeutungen hinweist. Schon diese frühesten Darstellungen von Gebäuden faszinieren durch eine Dichotomie, aus der sie sich nicht lösen können. Das meint, sie wollen in der Vergangenheit Existierendes festhalten und können es nicht, und sie wollen Zukünftiges andeuten- und können es nicht; beides zugleich. Alle Modelle tragen diese Unmöglichkeit als ein

Anliegen vor; sie möchten an etwas erinnern und etwas vorbereiten. Dennoch und gerade deshalb hält man sie für hilfreiche Werkzeuge im Zusammenhang einer Entwicklung, einer Produktion. Für diese Aufgabe, einen geistigen Handlungszusammenhang, sind schon die frühesten Modellbeispiele prototypisch. Für mich persönlich wurde eine Indienreise zum Schlüsselerlebnis für das Verständnis der Architekturmodelle. In Mahabalipuram, 55 km südlich von Chennai (Madras), fand ich eine Modellbau-Werkstatt aus dem Jahr 650 n. Chr. in frischem Zustand: unvergesslich. Der Hafen dort gehörte zur königlichen Residenz des Königs Narasimhavarman I. aus dem Geschlecht der Pallava, deren Architektur aus Holz gefügt war; sie hat die Jahrhunderte nicht überstanden. Aber in unmittelbarer Nachbarschaft königlicher Gebäude steht dicht an der Koromandelkünste eine Serie von Monumenten aus Granit, Skulpturen in der Form von Tempeln, trotz der ozeanischen Winde wunderbar erhalten. Sie stellen zweifellos das »Modell-

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Archiv« eines Architekturwettbewerbs dar, der sich vor 1400 Jahren hier, am Königshof, abgespielt hat. Der König stand wohl vor der Entscheidungssituation: Wie sollten die Tempel der Zukunft aussehen? Welche Bauform sollte für welche Nutzung infrage kommen? Er hat seinen Bauleuten, Priestern und Steinmetzen den Auftrag gegeben, vor der Entscheidung eine Reihe von Tempelmodellen in Granit herzustellen, aus einer Höckerreihe des natürlichen Bodens zu schlagen, 6–12 m hoch, Architekturformen in verkleinertem Maßstab darstellend. Nach präzisen Informationen stellten die Modellbauer eine Serie von alternativen Vorschlägen in Granit her, zur vergleichenden Betrachtung unmittelbar nebeneinanderliegend und sorgfältig detailliert. Die Modelle geben präzise Auskunft über die Außenform einschließlich Dekoration und Markierung einer Sockelplatte; jedoch verzichteten sie auf eine Darstellung von Innenräumen. Man unterschied mehrere Formfamilien, hinduistische, die die Gestalt des Weltenberges Meru in strenger Zentralsymmetrie wiedergeben, buddhistische, die an Höhlenklöster mit

einprägsamen Fassaden erinnern, und solche, die mit ihrer Monumentalisierung an archaischen Wohnhausbau anknüpfen. Einer der Vorschläge wurde ausgewählt, der Dharmaraja-Ratha; man führte nach seinem Muster in unmittelbarer Nähe einen Tempel in Originalgröße aus, den Strand-Tempel von Mahabalipuram, der dann Jahrhunderte lang rituell benutzt wurde. Ich betrachte diesen Vorgang als ein bedeutendes Ereignis der Architekturgeschichte, denn er zeigt, wie Architekturmodelle 650 n. Chr. bereits zum rationalen Vergleich benutzt, also nach unserem Verständnis in einem wissenschaftlich konzipierten Prozess eingesetzt wurden. Die Entscheidung war gewiss religiös und politisch begründet, eingebunden in die Machtposition des königlichen Auftraggebers. Die Präsentation der architektonischen Modelle zeigt bis heute das Rollenspiel der »Möglichkeitsformen«, maßstäblich verkleinert, anschaulich detailliert und zur praktischen Beurteilung aufgereiht, d. h. ein planerisches Verfahren, wie es in Europa erst 900 Jahre später, nämlich in der Renaissance-Zeit an

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fürstlichen und geistlichen Höfen entwickelt wurde. Geradezu modern wirkt der Umgang mit poetischer Vielfalt einerseits und rationaler Vergleichsmethodik andererseits. In der Geschichte des Modellbaus sind drei Typen zu unterscheiden: 1. Modelle zum Zweck der Erinnerung, sie machen auf bewährte Formen und Arbeitsmethoden der Baugeschichte aufmerksam, 2. Arbeitsmodelle, die dem Planungsund Herstellungsvorgang in verschiedenen Phasen dienen, 3. Überredungsmodelle, die von Architekten, Bauherren, Verkäufern und Schulen eingesetzt werden, um das Verständnis, die Bewertung und den Handel mit bebauten Dingen zu beeinflussen. Neben diesem fachlichen Gebrauch von Architekturmodellen gibt es seit der Renaissance auch den künstlerischen, philosophischen und liebhaberischen. Das meint, Gebäudemodelle können auch jenseits der üblichen Gebrauchsformen als Darstellungen philosophischer Gedanken und poetischer Ideen

verstanden und vorgeführt werden. Da kann Architektur brennen und singen, schmilzen und davonfliegen. Künstler der verschiedenen Disziplinen begannen besonders im Zeitalter der Romantik und der frühen Moderne, Architekturformen träumerisch abzubilden, zu verzerren, als »Fahrzeug« ihrer Ideen zu benutzen – jenseits irgendwelcher Bauaufgaben und meist außerhalb der technischen Möglichkeiten. Es entstanden Modelle aus Schaum, Licht, Muscheln, Maschinenteilen und Abfällen sowie dazu passende Zeichnungen, Texte und Filme. Die Poetisierung im Modellbau durch Außenseiter wirkte wiederum zurück auf die Architekten. Schon in bestimmten Phasen der französischen und der russischen Revolutionsarchitektur sowie der jüngst vergangenen Postmoderne entstanden exemplarische »Architekturgedichte«, eifrig unterstützt durch die Architekturpresse und die digitalen Medien, so etwa die Werke von Claude-Nicolas Ledoux in Paris, die der Gebrüder Alexander, Leonid und Victor Wesnin in Moskau oder die des Lebbeus Woods in New York. Sogar in den Ateliers der Maler,

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Komponisten und Dichter entstanden freie Varianten von Architekturmodellen verschiedenster Art. Dadurch wird bis heute das Arsenal der Modellbauer in phantastischer Weise bereichert. Besonders der Computerdarstellung und dem Film gebührt bei der Poetisierung des Modellbaus unserer Zeit hohes Verdienst, weil in die virtuelle Raumdarstellung Zeitstrukturen einbezogen wurden. So greift die Simulation gebauter Räume in die Abläufe der Nutzung, ja in atmosphärische Erlebnisse ein. In architektonischen Modelldarstellungen sind inzwischen nicht nur die schöne Anordnung von Bauteilen nebeneinander, sondern auch der Vorgang des zu erwartenden Gebrauchs sowie die zukünftige Wahrnehmung bei Tag, bei Nacht und die Veränderung während der Jahreszeiten, ja das Entstehen von Gefühlen enthalten. Endlich wird Architektur auch im Modellbau nicht mehr als »objektives«, starres Ensemble von Baukörpern, sondern als Szene definiert, als Bühne für einen Erlebnisprozess. Schon vor Jahrhunderten wurden rituelle Vorgänge bei vielen Religionen

als bühnenräumliche Ereignisse inszeniert. Podeste, Gruben, Hochsitze, Balkone und Emporen wurden opernhaft bespielt. Götter und Geister, Priester und Gläubige wurden in körperlich erlebbare Abläufe einbezogen. Existentielle Situationen wurden wahrscheinlich schon in der vorhistorischen Steinzeit vor gemalten Wänden, auf markierten Böden etc. »gespielt«; in den archaischen Tempeln Maltas ist z. B. heute noch nachvollziehbar, wie Priesterinnen und Eingeweihte stehend und auf Bänken liegend in sorgfältig gestalteten Innenräumen sich in tranceartige Zustände versetzten. Das Erlebnis im Innenraum aus Granitstelen wurde durch Schalleffekte und den Duft von ätherischen Ölen verfeinert. Heute, hundert Jahre nach Gründung des Bauhauses, beginnen wir wieder, neben den klassischen Architekturkriterien (Maßstäblichkeit, Proportionalität, plastische Harmonie) in die Dokumentation gebauter Räume Atmosphäre einzubeziehen, ihre objektiven und ihre subjektiven Anteile.

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Die Urhütte. Ein Bild für den Anfang der Architektur. 224

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Vitruvs Schrift De architectura libri decem ist von seinem Verfasser zwischen 33 und 14 v. Chr. geschrieben worden und dem Kaiser Augustus gewidmet. Er fragt sich in seinem Gedankenspiel (II. Buch, 1. Kapitel), wie Architektur entstanden sei, und beschreibt dazu sehr anschaulich eine Szene, durch welche Umstände die aufrecht gehenden Menschen veranlasst wurden, sich in den Wäldern und Höhlen der Natur nach und nach zivilisiert einzurichten. Mehrere Eroberungen bestimmten dabei – behauptet er – gleichzeitig die Anfänge der Kultivierung. Zentral hierbei: die Entdeckung des Feuers; sie war der Anlass für Verständigung bei der Zusammenkunft mit anderen Menschen, insbesondere für die

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Entwicklung von Sprache. Um die Zusammenkunft an einem geschützten Ort möglich zu machen, begannen sie, die Urformen der Architektur aus dem Laub der Bäume, den Höhlen der Berge und den Nestern der Vögel zu entwickeln, ausdrücklich also durch Nachahmung der Natur. Urhütten seien aus Laubdächern, gabelförmigen Baumstützen und geflochtenen Wänden, die mit Lehm bekleidet wurden, gebaut worden. Diese lebhafte Erzählung hat auf unzählige Architekturlehrer der Antike, des Mittelalters und der Renaissance tiefen Eindruck gemacht. Sie wurde – besonders auch wegen ihrer Verquickung von Naturbetrachtung mit der Erzeugung von Artefakten – noch in den Schriften des großen Baumeisters Leon Battista Alberti (1404–1472) und in den philosophischen Traumdichtungen des Architekten und Bildhauers Filarete (um 1460) wiederbelebt und verbreitet. Die vielfachen nachträglichen Illustrationen – Vitruv selbst hatte seinen träumerischen Bericht nicht illustriert – zeigen immer die Umwandlung von Wald-Szenen in menschliche Siedlungen. Das Urhaus wird dabei meist als Pfostenkonstruktion

mit Blätterdach und geflochtenen Wandfüllungen dargestellt. (Eben in diesem Sinne ist das deutsche Wort Wand von winden abgeleitet.) Primär ist die Erzählung von der Urhütte eine mythische Legende, die szenisch klarmachen will, wie die Entwicklung der Zivilisation der erfinderischen Menschheit begonnen habe. Weder eine bestimmte Kulturlandschaft noch eine konkrete Beobachtung bei alten Bauwerken liegt dieser Interpretation zugrunde. Vielmehr gehört das gedachte Hausmodell der ersten Menschen als ein Konstrukt zu einer der hartnäckigsten Lieblingsideen der kultivierten Europäer: Die Anfänge der geistigen und technischen Entwicklung zeigten die Tendenz zur Weiterbildung der Natur. Deshalb besteht die Urhütte aus Baumstämmen, Ästen und Laub. Gleichzeitig wird aber in den Vitruv-Illustrationen vieler Jahrhunderte meist die Euklidizität der Form betont; die Stämme sind vertikal oder horizontal parallel angeordnet; Quadrat, Dreieck und Kreis kommen als Grundfiguren beim Hüttengrundriss bzw. -schnitt vor; die Bauelemente werden zu Schemata

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Ein Gedankenspiel, wirksam seit 2000 Jahren!

mit den Ordnungszahlen 2, 3 und 4 addiert und multipliziert. Die Idee der Natur, platonisch gedacht und mit Vorurteilen ausgeschmückt, enthält möglichst viel Mathemazität; die Natur wird als ein geordneter, göttlicher Kosmos verstanden. Die Urhütten-Vorstellung dient als Denkmodell einer allmählich sich wandelnden Begriffsbildung zur architektonischen Harmonie. Der pädagogische Eros ist bei der Ausbildung dieses mythischen Modells außerordentlich stark wirksam. Man geht von der Maxime aus: Weil die Natur eine göttliche Ordnung in sich enthält, sind Gebäude – wie alle Menschenwerke – entsprechend zu gestalten. Das Hausmodell enthält genauso viel Anteil philosophischer Erklärung des Weltzusammenhanges wie Anweisung zum Tun. Die Harmonie der Bauwerke soll durch Anspielungen auf die grundsätzlich angenommene Kosmosharmonie garantiert werden. Die Fortführung dieses Gedankens, nämlich die Rückführung der Kunst auf geordnete Natur, handelt dann von der Entwicklung der Holzformen zum Stein, insbesondere der Baumpfosten zu Säulen, wobei neben das Urphänomen

Baum das Urphänomen menschlicher Körper tritt, einprägsam gegliedert in Basis, Schaft und Kopfstück. Und wiederum sind es die Verhältnisse einfacher, ganzer Zahlen, die das Prinzip der Natur einerseits und die Schönheit der Baukunst andererseits beweisen sollen. Der Kopf wird eine Art Modul, der etwa bei Francesco di Giorgio Martini (1439–1501) bald siebenfach, bald neunfach den gewünschten Ausdruck einer menschlichen wie einer architektonischen Figur zeigen will. Das Urhüttenmodell des Vitruv, das die europäische Architekturentwicklung noch das ganze Mittelalter hindurch bis zur Renaissance beeinflusst hat, war von seiner Darstellung her ein eher literarisches. Die Baumeister stiegen lesend in diese Ideenwelt ein und bewunderten möglicherweise die den Text begleitenden Skizzen.

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Rathas. Indische Tempelmodelle. 228

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An der Koromandelküste des Indischen Ozeans finden wir einen der Knotenpunkte der Geschichte des Denkens. Dort hat sich um 650 n. Chr. ein Paradigmenwechsel im Umgang mit Denkformen vollzogen, in Architekturmodellen ausgetragen, aber beim Übergang vom vorwiegend magischmythischen zum vorwiegend rationalen Denken auf andere Felder der Erkenntnis übertragbar. Man findet dort, südlich von Madras, in der Provinz Tamil-Nadu, eine eindrucksvolle Granitlandschaft vor. Obwohl das Land sich ringsum flach ausbreitet, kein Gebirge zeigt sich weit und breit, erheben sich aus dem Boden viele hundert pure Granithügel, von Wind und Meereswellen

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seit Jahrtausenden geformt und geschliffen. Kleine Exemplare dieser merkwürdigen Erhebungen haben gerade die Größe einer Kuh, größere erreichen die Höhe eines Hauses, die größten sind begehbare Hügel mit weich gerundeten Kuppen, Tälern und Schluchten. Dazwischen findet man trockene, immergrüne Tropenwälder und steinige Ebenen mit Dornbuschvegetation, hier und da Mangroven und Palmyrapalmen. Narasimhavarman I. Mamalla, König aus dem Geschlecht der Pallava, hat hier seine Hauptstadt und seinen Hafen angelegt. Von hier aus sind seine Reichtümer und Erfahrungen bis in die Herrschaftsgebiete der Khmer-Könige im heutigen Kambodscha verbreitet worden. Palast und Wohngebäude sind zwar verschwunden; sie waren aus Holz gebaut; aber eine merkwürdige Entscheidung des Königs hat Mahabalipuram über die Zeiten hinweg Bedeutung verliehen. Er hat nämlich den Auftrag gegeben, aus Granithügeln etwas wie eine Versuchsanordnung herauszuschlagen, ein »Architekturlabor«. Es zeigt bis heute Architekturmodelle als Serie von systematisch variierten Formen.

Der historische Versuch, mit Hilfe von Modellen zu Entwurfsentscheidungen zu kommen, betrifft Tempelmodelle. Sie stehen unter offenem Himmel und dem Meerwind ausgesetzt, sind als Gruppe unmittelbar nebeneinander angeordnet, aber stark widersprüchlich in Formensprache und Bedeutungshintergrund. Zweifellos wurden sie konzipiert, um dem König und seinen Priestern eine anschauliche Vorstellung der damals möglichen Entwicklung des Tempelbaus zu geben. Dieser Werkstattversuch, in unmittelbarer Nähe des heute verschwundenen Palastes von Architekten, Bildhauern, Steinmetzen des Hofes ausgeführt, hat dazu beigetragen, eine Entscheidung über die zukünftige Formenwelt der Tempel zu treffen, sowohl in hinduistischer als auch in buddhistischer Tradition. Dazu wurde, abweichend von der traditionellen, magisch-mythischen Gewohnheit, eine geradezu moderne Denkmethode benutzt: die Einrichtung einer anschaulichen, aber rationallogischen Denkwerkstatt. Man wollte dem überlieferten Formenkanon der Väter nicht mehr folgen. Statt dessen setzte man auf das

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Tempelmodelle als Entscheidungshilfe für indische Könige. Konkret: in Granit geschlagen.

diskursive Verfahren der vergleichenden Betrachtung und Bewertung. Es wurde angeordnet, eine Serie vereinfachter und verkleinerter Formen herzustellen, mit gleichen Parametern ausgestattet, Material, Größe, Ausrichtung etc., aber in entscheidenden Merkmalen, Gestalt, Schmuck und Bedeutungshintergrund unterschiedlich. Die Modelltempel waren sehr viel kleiner als die geplanten, zukünftigen Baukörper, die man im Königreich errichten wollte, und wurden nicht ausgehöhlt, blieben also ohne Innenraum. Die Modelle geben bis auf wenige Ausnahmen nur über die Außenseite der gemeinten Architektur Auskunft. Dies leistet die Modellserie unter geradezu modernen Laborbedingungen. Um den exakten Vergleich möglich zu machen, änderte man bei den Varianten nur einzelne Gestalteigenschaften; so konnte man über Wirkung und Bedeutung bei Nahblick und Fernblick etc. diskutieren und über ihre Verwendbarkeit entscheiden, ein Verfahren, das in Europa erst 800 Jahre später, in der Renaissance, benutzt wurde. Man könnte von einem Wettbewerbsverfahren mit Preisgericht

sprechen – beim Übergang von einem magisch-mythischen zu einem rationalistischen Zeitalter. Das Ensemble der skulpturalen Formen tritt dem Betrachter besonders deshalb eindrucksvoll entgegen, weil es SerienCharakter hat. Ähnliche Objekte, zunächst unbekannt und fremd gegenüber der üblichen Dorfarchitektur, sind als Kette nebeneinander aufgereiht. Sie variieren in Größe und Gestalt, aber zweifellose sind sie zum Anschauen und Vergleichen gedacht.

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Mahabalipuram. Ein typologisches Labor in Granit. 234

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Die Typen-Modelle in Mahabalipuram zeigen Varianten zu vier gestalterischen Charakteren. Der erste Typenentwurf, im DraupadiRatha dargestellt, leitet das Tempelmotiv von einer archaischen Wohnhausform ab. Eine eingeschossige, quadratische Holzhütte mit hügelartigem Strohdach ist über eine einfache Tür begehbar und belichtet; rechts und links neben der Eingangstür schmückende Reliefs. Der Boden der Hütte ist um einige Stufen angehoben, darunter eine quadratische Plattform, die das Bauwerk trägt. Das Modell deutet in der Tat eine tragbare Architektur an; unter der Plattform sieht man viele Tragtiere miniaturisiert,

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insbesondere Elephanten, die die ModellSzene wohl auf einem Prozessionsweg um einen heiligen Ort herumziehen sollten, eine Tradition, die man auch im heutigen Indien noch beobachten kann, z. B. beim Tempel von Kanchipuram. Ein heiliges Objekt ist in der Mitte des Innenraums angeordnet. Die Plattform ist bei der Prozession von Priestern besetzt. Der zweite Typenentwurf versucht, eine gestreckte Versammlungshalle mit Tonnendach in monumentale Formen zu übersetzen. Beispiele dafür sind Bhima-Ratha und Ganesha-Ratha. Das hufeisenförmige Tor würde außen zum entscheidenden Motiv. Das Allerheiligste wäre am Kopfende der Halle gegenüber dem Eingang anzuordnen. Die von Tieren getragene Plattform ist bei Zeremonien wiederum der transportable Umgang für die Priester. Ein dritter Typenentwurf, zum Beispiel der Nakula-Shadeva-Ratha, überträgt buddhistische Höhlenarchitektur in eine freistehende Tempelform. Man nähert sich dem U-förmigen Grundriss auf

der offenen, feierlichen Fassadenseite. Der Eingang ist von zwei Säulen flankiert und mit einem monumentalen Lichtfenster in Kudu-Form bekrönt. Das Allerheiligste steht tief im Höhleninneren und repräsentiert wie in den Felsenklöstern den Weltenberg Meru, ein halbkugelförmiger Stupa mit vertikaler Achse. Die räumlichen Grundelemente sind Weg, Schwelle und heiliger Ort. Eine Plattform mit zwei Stufen ist vorgegeben, die Tragbarkeit des Bauwerks wird aber nicht betont. Der vierte Typus ist ein quadratischer Tempelberg. Beispiele sind etwa der Dharmaraja-Ratha und Arjuna-Ratha. In mehreren konzentrischen Stufen ist der Tempel als Turm mit vier gleichen Seiten und betonter Mitte aufgefasst. Die Miniaturen vieler buddhistischer Tempelfassaden werden auf mehreren Ebenen gezeigt. Die Mitte ist als stehende Weltenachse von einer Art Stupa bekrönt; darunter steht im Inneren das Allerheiligste, das die Gläubigen prozessionsweise in drei Gebäudeschalen im Rechtsdrehsinn umwandeln können.

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Früher Entwurf einer Typologie. Das Modell als Typus.

Wie bereits erwähnt, sind diese ModellVarianten sind um 650 n. Chr. entstanden und dienten offenbar als Grundlage für die Konzeption neuer Tempelanlagen im Land der Pallava. Ihre verschiedenen Formen, wie auf einem Regal nebeneinander angeordnet, erlaubten die Diskussion über die Fortsetzung oder auch die Einführung priesterlicher Rituale; die Entscheidung für eine der Varianten würde die Erscheinung der religiösen Formen im Alltag und die Rolle von Bauwerken dabei stark beeinflussen. De facto hat 650 die Variante Dharmaraja den Sieg davon getragen. Dharmaraja, der Widmungheld, ist übrigens einer der Königssöhne im Mahabharata, den heiligen vedischen Schriften. Die Entscheidung für diesen Bautyp wird aus der Tatsache ersichtlich, dass dieser Ratha in vergrößerter Form als Tempel des Shiva hundert Meter neben dem Versuchsfeld in unmittelbarer Nähe des Hafens ausgeführt, durch Skulpturen geschmückt und rituell benutzt wurde. Die Einführung von sorgfältig gearbeiteten Modellvarianten ist architekturtheoretisch von größter Bedeutung; wurde dadurch

doch das »Bauwerk im Kopf« wie nie zuvor kommunizierbar, der Entwurf von »Möglichkeitsarchitektur« in der Gegenwart des Entwerfers. In der Kulturgeschichte der Menschheit zeigt sich hier ein Sprung vom MythischMagischen ins Rationale. Das entwerferische Denken lernt, probeweise einzelne Elemente der Gestaltung zu isolieren und neuen Verwendungen zuzuordnen. Die Produktion von Bedeutung gewinnt durch die Werkstatt-Systematik neue Dimensionen, in Indien fast 1000 Jahre früher als in Europa.

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Tonmodelle. Lebensbilder aus dem alten Ägypten. 238

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Der Totenkult der Ägypter war an bestimmte Techniken, Materialien und Vorgänge gebunden, die eingesetzt wurden, um die rituellen Erwartungen der Staatsreligion zu erfüllen. Um den Toten ein Weiterleben zu ermöglichen, mussten ausgewählte Bildhauer für die Ewigkeitswerkstätten arbeiten. Der Auftrag betraf die Konservierung des früheren Lebensraumes der Toten, sowohl die Darstellung und Erhaltung ihrer Körper, ihrer Silhouetten, Gesichter und Hände als auch die Darstellung und Erhaltung des gebauten Umraumes einschließlich der Werkzeuge, wozu Tische, Stühle, Fahrzeuge und Lebensmittel, ja ganze Räume und Raumausstattungen gehörten, je nach dem sozialen Anspruch der verstorbenen Person.

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Deshalb hat sich in den Gräbern der Pharaonen, aber auch in denen der Priester, Beamten und Reichen eine Fülle von Grabbeigaben gefunden, die wie Spielzeugmodelle anmuten. Viele dieser Objekte, die zur Nutzung im Totenreich dienen sollten, sind für unser Auge Kunstwerke eigener Art, weil sie die im Alltag gegebenen Dinge in überhöhter Form darstellen und den Lebensraum des toten Bewohners idealisiert abbilden. Zur Gestaltung dieser Abbilder des Lebens, die zum Zwecke der Verewigung hergestellt wurden, gehören besonders zwei einprägsame Strukturen. Eine davon betrifft das Raumverständnis der Ägypter. Das Achsenkreuz, gebildet aus den elementaren Himmelsrichtungen Ost, West, Nord, Süd, oben, unten, hat seit den Anfängen der ägyptischen Kultur die Arbeit im gebauten Raum bestimmt. Der Verlauf des Nils, Süd/Nord, und der Lauf der Sonne, Ost/West, werden in allen Architektur-Anordnungen rituell wiederholt. Dadurch wurde das rechtwinklige und genordete Achsenkreuz ein Grundphänomen dieser Raumkultur. Das zweite Charakteristikum betrifft ein besonderes Zeitverständnis.

Im alten Ägypten verschwanden mit jeder Nilflut, also jedes Jahr einmal, die mühsam erarbeiteten Spuren der landwirtschaftlichen Arbeit, jedenfalls die meisten. Der Prozess der Arbeit musste jedes Jahr neu beginnen; das Zeitgefühl war nicht durch Gleichmaß, sondern durch Rhythmus bestimmt, handlungsbezogen und gerichtet. Diese Erfahrungen haben einen Totenkult hervorgebracht, der die gleichmäßig fließende Zeit auslöscht und statt dessen die Kulmination der Zeit in existentiellen Höhepunkten abbildet. An diesem besonderen Raum-Zeit-Denken nimmt die Tempelarchitektur teil, indem sie lange vor Euklid die euklidischen Grundformen monumentalisiert, zugleich der priesterliche Totenkult, indem er dem Naturkosmos Ewigkeitsdarstellungen entgegensetzt. Raum und Zeit werden jenseits des Erlebnisraumes zu Strukturen einer ideenhaften Darstellung. In diesem Zusammenhang sind, so harmlos erzählerisch sie auch aussehen, die »Modelle des Alltags« zu lesen, die besonders seit der 11. Dynastie, d. i. 2000 v. Chr, aber auch früher schon, die Gräber der Toten bereichern, Modelle

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Das Modell als mythisches Objekt. Zum Zwecke der Verewigung.

von Schiffen und Häusern, Werkstätten und Wohnräumen, Empfangsszenen und königlichen Bühnen. Jedes Objekt stellt in Raum und Zeit einen erstarrten Vorgang dar. Der Raum ist klar formuliert, das Werkstück ordentlich gegliedert; seine Silhouette ist von zwei Seiten übersichtlich gestaltet, auch kleine Innenräume sind im Gebäudezusammenhang, ja im Weltzusammenhang nach Norden/Süden/Osten/Westen ausgerichtet und stehen rechtwinklig zueinander. Der dargestellte Vorgang ist der vergänglichen Zeit entrückt und durch solide Techniken, Granit, gebrannten Ton, Malerei, Geometrie und Schrift in einen Dauerzustand überführt, der die Flüchtigkeit des Alltags erstarren lässt und in ein Bild der Ewigkeit verwandelt. Das bildnerische Denken der alten Ägypter hatte alle künstlerischen Techniken besetzt, Malerei, Skulptur, Schreibtechnik, Architektur und Gebrauchskunst. Alles wurde beschrieben, alles wurde bemalt; jede Gelegenheit wurde wahrgenommen, Abwesendes darzustellen, Gewesenes in Beschreibungen aufgehen

zu lassen, Gegenwärtiges mit Zukünftigem zu füllen, die Zeiten vielschichtig und die Räume als Bühnen darzustellen. Die ungeheure Mehrschichtigkeit und Mannigfaltigkeit der Existenz wurde erkannt und ständig variiert durch künstlerische Darstellungen. Mit ihren Produkten wird uns eine erstaunlich moderne Welt vor Augen geführt, deren physische Präsenz durch die Künstler vervielfältigt und gespiegelt, variiert, aufgetrennt und collagiert wird. Sie haben eine Fülle von Methoden entdeckt, mit Wiederholungen Neues, aus Analogien Steigerungen entwickelt und so Bekanntes in Unbekanntes verwandelt. Es ist, als wären die philosophischen Methoden von Gilles Deleuze vorweggenommen, der in unserer Zeit das denkerische Prinzip als ein schöpferisches neu formuliert hat, als gelte es, ständig durch erfinderische Akte der Umwandlung Vergangenheit zu beleben und Zukunft zu produzieren.

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Kuppelmodelle für den Florentiner Dom. 242

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Der Goldschmied Filippo Brunelleschi (1377–1446), via Large, Florenz, behauptete 1413, er könne über dem Tambour des Doms ohne Unterbau, freischwebend, eine Kuppel bauen, eine Planung, wie es sie zuvor nie in der Architekturgeschichte gegeben hatte. Die Gültigkeit seiner Ideen wollte er mit Modellen zunächst in Ziegeln, dann aus Holz gebaut beweisen, und er bekam den Auftrag. Gemeinsam mit Lorenzo Ghiberti (1381–1455) und einem kleinen Kreis von Freunden gewann er 1418 den Wettbewerb für die Kuppel und lieferte 1420 das endgültige Modell dazu. Gefordert waren zunächst Modelle für die Kuppelgerüste und die technischen Vorrichtungen der Baustelle. Das Gemeinschaftsmodell Ghiberti/

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Brunelleschi, ein Holzmodell, gezimmert und bemalt, wurde durch eine Detailzeichnung der Kuppel mit ihren Rippen, Ringen und Bögen i. M. 1 : 1, auf einer weiß gekalkten Sandbank am Ufer des Arno erläutert. Beides hatte primär den Sinn, präzise Maße für die Gewölbeform festzulegen, d. h. den Verlauf der Schubkräfte. Es ist also tragwerkstechnisches, physikalisches Denken, das von einer idealen Form ausgeht. Welches war aber die »ideale Form«? Vorstudien zur Kuppel auf dem Tambour des Doms waren einige Kuppelbauten von geringerem Durchmesser, insbesondere die Kuppel der Pazzi-Kapelle, die einige Jahre früher entstand. Kleine Kuppeln waren praktisch die Versuchsmodelle für größere, leichtere Kuppeln die für schwerere. Beim Vorgang der Übertragung des Problems trat in Florenz eine bemerkenswerte Denksituation ein, die den Entwurf schwierig machte und zugleich avantgardistisch erscheinen lässt. Der Baumeister erkannte nämlich, dass das Gewicht der Großkuppel nur zu halten wäre, wenn die Schale durch ein System von Rippen und Ringen beträcht-

licher Breite bzw. Tiefe gestützt würde. Ein gemauertes System von fischgrätenartigen Konsolen würde das Gewicht der gemauerten Schale auf das System dieser Rippen und Ringe absetzen. Damit wäre aber das Schönheitsideal nach römischer Tradition – glatte Innenansicht, möglichst euklidisch, d. h. halbkugelförmig – verlassen. Aus dieser Schwierigkeit heraus hat Brunelleschi eine großartige Erfindung gemacht, um beide Probleme, die Notwendigkeit einer Rippenkonstruktion für ein Tragwerk dieser Größenordnung und das Schönheitsideal der einfachen visuellen Gestalt, gleichzeitig zu lösen. Er schlug für Florenz eine zweischalige Kuppel vor und demonstrierte am Holzmodell 1420, dass er das Tragwerk, die Rippen-und-Ringe-Struktur, mit schwebenden Gerüsten bauen und dann durch zwei gemauerte Schalen verstecken könnte, eine äußere als Schutzhaut gegen das Wetter und eine innere als Innenraumabschluss mit den gewünschten Qualitäten euklidischer Einfachheit. Im Hohlraum zwischen den beiden Kuppelschalen liegen, bis heute nutzbar, vielerlei Abstellräume,

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Die Werkstattmodelle der DombauHütten. Gut für den Wettbewerb und für die Baustellen.

sie nehmen auch die Stege und Treppen auf, die die Technik und die Touristen um die Kuppel herum und zur Laterne hinaufführen. Nicht ohne Erschütterung hört man z. B. aus der Jetztzeit Berichte, nach denen während der Nazi-Besetzung Italiens eine Gruppe jüdischer Menschen überlebt hat, weil sie sich in den unbekannten Kuppelhohlräumen viele Monate versteckt halten konnte. Und eine weitere Problematik konnte mithilfe des Kuppelmodells im Prinzip vor der Ausführung (1420–1446) gelöst werden: der Materialtransport hinauf in die Kuppel mit Hilfe eines Hebewerkes, das unabhängig voneinander die Arbeit an den acht Segmenten mit ihren Rippen, Ringen und Bögen bedienen konnte. Brunelleschis Modelle waren zwar technische Hilfsmittel, die gedient haben, die genauen Maße sowie die Reihenfolge der Bauvorgänge festzulegen, aber sie waren zugleich Überredungsmodelle, die die Behörde überzeugt haben, wie technische Konzepte mit bestimmten ästhetischen Idealen zu verbinden sind. Übrigens wurde die Modellarbeit vom Auftraggeber, d. h. von den Behörden, korrekt bezahlt.

So hatten die Modelle dieser Art, meist in Holz gebaut, offenbar schon mehr Wert als ein Arbeitsgerät für die Baustelle. Es nutzte dem kollegialen Gespräch der Fachleute, der Maurer, Steinmetzen, Zimmerer, Dachdecker etc.. Es wurde bestellt und bezahlt, um die Meinungsbildung bei Auftraggebern und Finanziers zu stimulieren, und verfehlte auch seine Wirkung bei Wettbewerben nicht. Die Modelle leisteten Überzeugungsarbeit.

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Die Klötzchen-Modelle in den Ateliers der Architekten. 246

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Klötzchen-Modelle, meist einfache Massenmodelle, sind ebenso naive wie intelligente Werkzeuge auf dem Arbeitstisch der Architekten. Sie dienen der praktischen Entwurfsarbeit und existieren manchmal nur für die Dauer eines Einfalles, vielleicht für die Dauer von fünf Minuten oder fünf Tagen, dann haben sie ihre Aufgabe erfüllt. Sie sind meist nicht für die Augen eines fremden Betrachters, sondern für den intimen Gebrauch des Erfinders selbst bestimmt. Nur er kann in ihrer skizzenhaften Eigenart die Bedeutung für seine Arbeit würdigen. Einfach manipulierbares Material gehört seit Jahrhunderten zur Charakterisierung dieser kleinen Arbeitsmodelle, Holz, Ton, Plastilin, Gips etc., ebenso die überaus einfachen Grundformen und der Verzicht

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auf Details, der Aufbau aus elementaren Kuben, Haufen, Stäbchen, Drähten und dergleichen sowie die spontane Machart. Das Klötzchen-Modell trifft mit seiner Fragestellung ins Schwarze und ist doch bald überholt. Es versucht, das Wesentliche einer gestalterischen Idee zu zeigen, jedoch provisorisch und jederzeit widerrufbar. In seiner Handlichkeit und Körperlichkeit bleibt es Bestandteil der Architekturwerkstatt – weit ins Zeitalter der Digitalisierung hinein. Die Dichte seiner Aussage ist überraschend intensiv und erreicht für das Auge des Machers einen hohen fachlichen Charme. Es fällt dem Erfinder allerdings leichter, zu beschreiben, welche Aussagen sein Modell nicht enthält als was es der Möglichkeit nach enthält. Da ein Klötzchen-Modell meist im Maßstab 1 : 1000, 1 : 500 oder 1 : 200 hergestellt wird, gibt es schon deshalb keine Informationen über Innenräume. Es gibt aus dem gleichen Grund auch keine Auskünfte über Einzelheiten, feine Gliederungen, Oberflächen und Texturen. Es sagt nichts über Materialien und Farben; es gibt keine Hinweise auf Nutzungsarten, Konstruktion, Tragwerk

und technische Details wie die Besonderheiten der Auflagerung etc. Das Tragende/das Getragene, das Stützende/das Füllende kommen nicht zum Ausdruck. Wenn das so ist, was bleibt da als Aussage dieses Modelltyps; wozu dient das Klötzchen-Modell? Es artikuliert das architektonische Volumen, dies jedoch entschieden und überdeutlich. Da aber Raumdenken am Anfang jeder Architekturkonzeption steht, spiegelt das Klötzchen-Modell nie die Anfangsphase einer entwerferischen Konzeption, sondern nur die skulpturale Erscheinung einer gedachten Raumfolge. Der Entwerfer gibt seinem Massenmodell – am liebsten eigenhändig – hundert mögliche Fassungen. Welche ist er bereit zu akzeptieren, welche erfüllt seine Idee zum Verhältnis von Innen und Außen? Soll das Äußere das Innere spiegeln und ahnen lassen, oder soll es eine abweichende, andere Aussage machen? Hier wird der Nerv des architektonischen Ausdrucks berührt, die Sprache des Innenraums, die sich in der äußeren Form zeigt oder auch verbirgt.

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Auf dem Tisch des Architekten: anregender Kram, handliches Beiwerk.

Das Zusammenspiel von VolumenEntwicklung und Innenraumfolgen macht die Qualität eines Bauwerks aus. So spielt das Klötzchen-Modell eine Schlüsselrolle beim Entwerfen, wenngleich es diesen Vorgang kaum überlebt. Es wird durch die nächste Fassung verdrängt und schließlich überflüssig. Deshalb werden Klötzchenmodelle kaum verwahrt und gesammelt – im Gegensatz zu Wettbewerbsmodellen, die ja zur Überredung anderer hergestellt werden. Sie sind lediglich Zwischenprodukte der Entwurfsarbeit, die rasch zur Hand sein müssen, oft verändert werden und in besonderem Maße die körperliche Verbindung des Entwerfers mit seinem ungeborenen Werk zum Ausdruck bringen: in archaischem Sinne »Handarbeit«. Häufig erinnern diese kleinen Modelle den Entwerfer an sehr persönliche Erlebnisse, an solche, die mit der RaumCharakteristik des geplanten Werkes zu tun haben, dies aber nur andeutungsweise. Sie sagen einer anderen Person häufig nichts. Dennoch kann ihr Bezug

zur Traum- und Wunschwelt des Entwerfers drastisch und deutlich werden, wenn er beim Fortschritt der Arbeit sein Echo findet. Eine Stimmung in Spanien klingt an, ein Erlebnis in der Wüste Sahara, ein unauslöschlicher Reiseeindruck. So einfach diese harmlosen Tischmodelle sind, sie knüpfen die Arbeitszeit an traumhafte, positive Erlebnisse an. Was sie andeuten, ist eher Innenwelt als Dingwelt. Deshalb liegen nicht selten unscheinbare Wurzeln und Steine, Früchte, Muscheln und Erden dicht neben der Hand des Entwerfers, Mitbringsel, die neben den klassischen Holz- und Tonklötzchen eine unersetzliche Aufgabe wahrnehmen. Sie gehören zum intimsten Repertoire der Bürowerkzeuge.

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© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2018 W. Meisenheimer, Modelle als Denkräume, Beispiele und Ebenbilder, https://doi.org/10.1007/978-3-658-20115-9_55

Überredungsmodelle für Bauherren, Medien und Finanziers. 250

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Kunstlicht, das vielversprechend aus festlichen Innenräumen hervortritt, Oberflächentexturen schöner Dinge, deren Spiegelung in Glas oder Wasser, dazu Figurinen, die Gäste und Passanten darstellen, täuschend echt, alles das trägt zur Atmosphäre der »Überredungsmodelle« bei, die von Architekten für Bauherren, Banken, Medien und spätere Nutzer gebaut werden. Sie wollen für ein Projekt positive Stimmung verbreiten. »So könnte das Bauwerk einmal sein! So sollte es aussehen!« Solche Modelle vermitteln nicht nur informative Inhalte, sondern auch Hoffnungen und Behauptungen, die das Utopische streifen. Es geht fast immer um Geld, Nutzen und Gewinn, auch wenn die Sprache der Überredung

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Tricks der subjektiven Animation benutzt und dabei übertreibt, inbegriffen Lobpreisungen und schöne Vorgefühle auf eine blendende Zukunft. Modellästhetik greift immer in eine ideale Wunschwelt ein. Freundliche Zustimmung wird vorausgesetzt. Nicht die Klärung der technischen oder gestalterischen Struktur ist das Motiv dieses Modelltyps, wie das etwa beim »Klötzchen-Modell« der Architekten gemeint ist, sondern eine Kollektion romantischer Wünsche, die bestimmten Adressaten angeboten wird, meist Finanziers, Medien, späteren Nutzern und Käufern. Beim ästhetischen Angebot rechnet man stets mit Übertreibungen. Die Architektur wird dabei als Wertobjekt verstanden. Seine wahre Bedeutung liegt in der Rentabilität. Ein ökonomischer Wunsch färbt die Gegenwart ein; Vorfreude ist angesagt. Der Aspekt Hoffnung auf Gewinn wird aufgebaut; er soll sich über das Hier und Jetzt der Planung hinaus entwickeln. Auch Zeichnungen können die Rolle von Überredungsmodellen übernehmen.

Berühmte Beispiele in der Geschichte der neuen Architektur waren etwa die Zeichnungen von Étienne-Louis Boullée aus der französischen Revolutionszeit, die die ungeheuren Wirkungen einer möglichen oder auch unmöglichen Architektur auf das Gemüt zeigten, Grabmale, Tempel der Wissenschaft, Bibliotheken etc., atemberaubende Beispiele idealer Räume, die zwar technisch nicht baubar, aber sehr wohl vorstellbar waren. Faszinierende Modellzeichnungen dieser Art wurden auch um 1920 in den USA von Hugh Ferriss (1889–1962) für Großstadt-Investoren und oligarchisches Publikum hergestellt. Sie zeigten Wolkenkratzer für St. Louis, Missouri und New York, die nach Hollywoodart phantastisch ausgeleuchtet in den Himmel stiegen, zugleich realistisch und doch unfassbar, hochbezahlte Märchenträume. Gerade durch die unmittelbar bevorstehende Weltwirtschaftskrise 1929 wirkten diese gigantischen Architekturdarstellungen überredungsstark. Der Architekt Ferriss entwickelte eine illusionistische Technik von höchstem Raffinement nicht für seine eigenen

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Die Entfaltung der Illusion. Andere staunen lassen.

Bauten, man kennt sie nicht, sondern für die anderer; er war der »delineator« für Kollegen. Im modernen Wettbewerbswesen wird durch die rasante Entwicklung von Kunststoffen als Modellbaumaterialien, Computerfräsen als Herstellungsgerät und digital gesteuerte Lichttechniken die Fülle der Inszenierungsmöglichkeiten so stark vorangetrieben, dass die intendierte Wirkung der Modelle durch den überreizten Illusionismus wieder zweifelhaft wird. Sollen »echte Wahrnehmungsbilder« erzeugt werden? Für wessen Sehgewohnheiten, für welche Adressaten? Dient die Illusion möglicher Architektur der Überredung? Wenn ja, in welchem Sinnzusammenhang? Dabei erheben sich grundsätzliche Fragen. Kann man überhaupt Wahrnehmungseindrücke miniaturisieren? Was taugt die ästhetische Simulation ohne Einbettung in Gebrauchssituationen? Etc. Gerade durch die Fülle der technischen Möglichkeiten gerät die Aufgabenstellung des Modellbaus wieder ins Visier der Fachleute. In einem Modell können

und sollen nur bestimmte strukturale Züge einer gemeinten Architekturwirklichkeit abgebildet werden; das setzt die Bereitschaft des Betrachters voraus, eine Auswahl abstrahierter Merkmale zu verstehen und in die eigene Wahrnehmungssituation zu übersetzen. Auch wenn ein Verfahren elitär bleibt – es kann positiv zur Entwicklung eines Entwurfs beitragen, wenn nur das vorgetragene entwerferische Ideal mit realen Leibsituationen der zukünftigen Nutzer verknüpft wird.

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© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2018 W. Meisenheimer, Modelle als Denkräume, Beispiele und Ebenbilder, https://doi.org/10.1007/978-3-658-20115-9_56

Nikolai Alexandrowitsch Ladowski, Moskau. Elementare Modelle für die Gestaltungslehre. 254

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Die Welle des elementaristischen, rationalen Denkens der russischen Künstler hat 10 Jahre nach der Oktoberrevolution, um 1927, die wichtigste Architekturschule des Landes, die WChutein in Moskau erfasst. Der psychologische und didaktische Kern der Architekturfakultät war ihre Grundlagenabteilung, die nacheinander unter den Namen WChutemas, Wasi, Asi, Mai und Aru arbeitete; der zentrale Kopf war N. A. Ladowski (1881–1941), wahrscheinlich der einflussreichste Entwurfslehrer der sowjetischen Revolutionsarchitektur. Einige Kernpunkte seiner rationalistischen Lehrmethode lassen sich anhand alter Fotodokumente und originaler Arbeitsbeispiele aus dem Archiv der Moskauer Hochschule, heute Marchi, rekonstruieren:

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1. Die zentrale Aufgabe der Architektur ist das Operieren mit Raum. Damit ist die euklidizistische Wahrnehmungsstruktur gemeint, die konzeptionell zunächst festgelegt werden soll; dann erst, bei der Fortführung der entwerferischen Arbeit, kommen andere Gestaltungsfragen hinzu. Auch utilitäre Erwägungen sind bei der Grundkonzeption zunächst auszuklammern. 2. Der Ausdruck der Form soll unabhängig von Material und Konstruktion sein. 3. Die Qualität des Raumes soll klar und elementar bleiben. Der Betrachter soll die ablesbaren Elemente nicht weiter zerlegen können; es gibt nichts Überflüssiges. 4. Kein Illusionismus ist zugelassen. Nachahmungen und Assoziationen sind auszuschließen, anders als bei der Arbeit mit Plastik oder Malerei. 5. Aus der Komposition der elementaren Formen soll psychische Bewegung erwachsen, gut lesbar und spannend. Ladowski bezeichnet den modernen Architekten als »Organisator der Wahrnehmung des Raumes und der Raumformen«. Er versteht seine Entwurfsschule

als »psycho-technisches Laboratorium« und meint damit: Die Gefühle der Menschen sollen angesprochen werden; die Wahrnehmung räumlicher Formen soll helfen, die »psychische Energie« im Menschen zu organisieren. Durch diese didaktische Konzeption tritt Ladowski ein in die Reihe der großen Architekturlehrer der Moderne. Er sieht, dass die Ausdrucksqualität objektiver Formen korrespondiert mit den subjektiven Gefühlen der Nutzer und Betrachter, und versucht, diese Korrespondenz typologisch, d. h. holz-schnittartig vereinfacht darzustellen und seinen Schülern durch Modelle zu vermitteln. In seinem Unterricht werden die elementaren Körpergefühle wie das vertikale Stehen auf der Erde, die pathetische Erhebung, die Ausweitung des Körperraums durch Drehen etc. durch die Kombination der euklidischen Grundformen vermittelt, etwa gestaffelte Kuben, steigende Kegel, angeschnittene Kugeln etc. Selbstverständlich tritt der gemeinte Ausdruck bei kleinformatigen Modellen, von Hand in Ton hergestellt, radikaler und klarer hervor als bei einem noch so zuchtvoll ausgeführten Bauwerk in Originalgröße.

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Die Demonstration des Rationalismus im frühen Sowjetstaat.

Dennoch kommen einige ausgeführte Bauten aus diesem Freundeskreis Ladowskis den Idealen sehr nah, etwa die Kommune-Häuser von Konstantin Melnikow (1890–1974). Die Strahlkraft dieser Lehre ist umso erstaunlicher, als sowohl die »Sprache der Technik«, etwa der Charakter von Stahl und Glas, als auch Funktionalität und Geschichtsbezüge als Architekturmotive ausgeklammert wurden. Ladowski legte Wert auf »unsentimentale« Modelle, die nichts nachahmen und nichts darstellen, weder Teile der Natur noch Vorbilder der Architekturgeschichte. Das änderte sich, indem dieses politische Zeitfenster sich schließt, bereits ab 1924; an die Stelle der »Reinheit« revolutionärer Motive traten in den staatlichen Wettbewerben und Aufträgen wieder die Bilder historistischer Reproduktion. Die Idee eines historischen »Stils«, der den zu gestaltenden Architekturraum, also die gebauten Dinge, prägt, schwebte Ladowski wahrscheinlich weniger vor als eine neuartige Anweisung zum Selbstgefühl der Entwerfer. Ihm lag primär

an der Struktur der kreativen Köpfe. Das Wissen um die Ordnungen im Sehraum sollte im Sinne der neuen Zeit ein wissenschaftliches sein, zuverlässig und gemeinsam. Er wollte sich und seine Freunde einordnen in einen möglichst hohen Rationalismus der körperlichen und geistigen Wahrnehmung.

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Wladimir Engrafowitsch Tatlin und Kasimir Severinowitsch Malewitsch. Konstruktivistische und suprematistische Modelle. 258

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Während der Zar das russische Volk 1914 unter konservativen Fahnen in den Weltkrieg hineinzog und unmittelbar darauf, 1917, die sowjetische Revolution begann, entwickelte sich in Moskau eine Vielzahl von avantgardistischen Künstlerbewegungen, die ein neues Zeitalter heraufbeschwören wollten, Konstruktivisten, Suprematisten, Cézanne-Club, Unovis, Karo-Bube, Eselschwanz etc. Man nannte sie alle »futuristisch«. Lenin soll provozierend gefragt haben: »Lassen sich denn keine zuverlässigen Anti-Futuristen finden?« Allen Gruppierungen waren zwei Anliegen gemeinsam, der Kampf gegen den akademischen Illusionismus und die Suche nach neuen Raum-Strukturen. Allerdings reagierten sie sehr verschieden auf die

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Frage nach dem Verhältnis der modernen Kunst zur Gesellschaft, also die sozialpolitische Bedeutung ihrer Arbeiten. Indem sie sich von den frühen Anregungen der Pariser Schule des Westens anfingen zu lösen, dem Kubismus, dem Purismus, dem italienischen Futurismus etc., kamen verschiedene Antworten infrage. Den bedeutendsten Einfluss auf die Debatten der jungen Avantgardisten hatten die Positionen von Llubov Popova, Rodschenko, Ladowski, Punin und Malewitsch; ein Brennpunkt war die Arbeit von Wladimir Engrafowitsch Tatlin (1885–1953), besonders sein Modell für ein Denkmal der III. Internationale, 5 m hoch, aus Holz gebaut, das im Dezember 1920 in Pegtrograd ausgestellt und noch 1927 durch die Straßen von Moskau gefahren und von dem Dichter Majakowskij als eine Ikone besungen wurde. Es zeigt wesentliche neue Elemente aus Malerei, Bildhauerei und Architektur miteinander vereinigt. »Daraus resultieren Modelle, die uns zur Erfindung anregen für unsere Aufgabe, eine neue Welt zu schaffen, und die Produzenten auffordern, Kontrolle über die Formen auszuüben, denen wir in

unserem neuen Alltagsleben begegnen.« (Tatlin, Eschednewny bjulleten sesda, Nr. 13, 1921) Dieses aufregende Kunstwerk war als konkretes Architekturmodell gemeint, vorgesehen für die Ausführung in 400 m Höhe in Stahl. Es enthielt Säle in Form von zylindrischen Trommeln für die Exekutiv-, Legislativ- und Propaganda-Büros der Komintern, die sich in verschiedenen Geschwindigkeiten um ihre Achsen drehen sollten. Das Ganze war eine monumentale Maschine, ein architektonisches Gerät. In der Vorstellung ihres Erfinders schloss es die Lücke zwischen Kunst und Technik, Künstlern und Arbeitern, Wissenschaft und Poesie; es sollte praktisch verwendbar und gleichzeitig das Symbol eines neuen Zeitalters sein, in dem die Idee der gemeinsamen Arbeit triumphiert. Von ähnlicher Bedeutung im sozialpädagogischen Ansatz, aber ganz anders in den künstlerischen Mitteln, waren die Modelle von Kasimir Malewitsch (1878–1935), die er »suprematistisch« nannte. Der Begriff verrät schon die Radikalität gegenüber dem üblichen

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Der Schrei nach einer neuen Welt. Alles soll anders werden.

Illusionismus der akademischen Kunst. Er will auch über den westlichen Kubismus hinaus, dem er erste Anstöße verdankt, und möchte den Ausdruck der »reinen« künstlerischen Elemente aufdecken, der in seiner Vorstellung nur aus der Kombination von Flächen entstehen kann – als Bild, Skulptur, Relief oder Architektur ohne physikalistischen oder sozialpsychologischen Hintergrund. Er wünschte keinen Konstruktivismus und keine Agitationskunst. Den räumlichen Ausdruck, den er aus Flächen entwickelte, nannte er »4. Dimension«: »Du willst die Schönheit der 4. Dimension erkennen, – fang an, den Kubismus zu studieren.« (Malewitsch. Losungen. Unovis, Witebsk 1920) Malewitsch wollte, anders als Tatlin, die Formen seiner Kunst nicht der politischen Entwicklung seines Volkes zur Verfügung stellen, obgleich er nach seiner Verhaftung 1930 provokativ ein »sowjetisches« Bild mit springenden Pferden malte. Vielmehr destilliert er vor seinen faszinierten Schülern immer wieder diktatorisch »reine Formen« in einem kubistischen Raum nach dem »Prinzip der Analogie«; so nannte er

die künstlerische Logik, die auf alle äußeren Referenzen verzichtete, auf Bildähnlichkeit, Stimmungen, Geschichtsbezüge, Politik und Alltagswahrnehmung. Er behandelte seine Formensammlung als eine neuartige »Wissenschaft der Kunst«, ein Arsenal von rigoros vereinfachten Elementen einer künstlerischen Raumstruktur, streng gruppiert um das Schwarze Quadrat auf weißem Grund, eine Art Urform der avantgardistischen Malerei.

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Antoni Gaudí. Architektonische Umkehrfiguren. 262

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An der Decke von Antoni Gaudís (1852–1926) Kelleratelier in der Baustelle seiner zukünftigen Kathedrale Sagrada Familia in Barcelona, in dem er, wie man weiß, arbeitete und schlief, hing ein Schnurgerüst, das an den Punkten der Verknüpfung Sandsäckchen trug, deren Gewichten er immer wieder veränderte und neu beschriftete. Mit den Gewichten verschob sich selbstverständlich die Gestalt der Hängefigur als Ganzes, nicht nur der veränderte Teil. Monatelang hat er an den Kettenlinien seiner Zugkonstruktion gearbeitet, hat sie in immer wieder neuen Konstellationen mit Tüchern verbunden, um räumliche und plastische Wirkungen leichter abschätzen zu können und deren Varianten zu fotografieren. Die auf den Kopf

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gestellten Fotos waren dann die Vorlagen für architektonische Entwürfe, upside down. Zwei einfache und doch frappierende Annahmen haben ihn veranlasst, solche Modelltücher bei der Erfindung seiner Architektur einzusetzen. Die erste Annahme betrifft den Zusammenhang von ästhetischer Gestalt und Schwerkraft, genauer, die Tendenz der Natur, trotz tausendfacher Verwandlung ihrer Gestalten sich bestimmten Grundfiguren anzunähern, die man selbst unter verzerrten räumlichen Bedingungen, nämlich in kleinen Hängemodellen darstellen kann. Die kleinen, harmlosen Versuchsanordnungen mit Netzen und Gewichtsäckchen stehen exakt für die monumentalen Formen der Architektur 1:1, was den Zusammenhang von Gestalt und Gewicht betrifft. Alle anderen Eigenschaften der Analogie oder Nichtanalogie bleiben ausgeklammert. Das ist es, was auf die Leistungsfähigkeit von Modellen überhaupt zutrifft. Die zweite Annahme betraf die Umkehrbarkeit von oben und unten, d. h. von

Zugkraft und Druckkraft bei gleicher räumlicher Gestalt. Das ist besonders überraschend und wagemutig. Gaudí ging davon aus, man könne und müsse bei Oben-unten-Umkehr des Modells die gleiche und gleichermaßen sinnvolle Gestalt des Systems erwarten, insbesondere die gleichen Punktlasten sowie die gleiche Lage und Richtung der Elemente. Dabei ist eine Oben-untenUmkehr beim menschlichen Leib und bei der körperlichen Erfahrung von Dingen unsinnig und ausgeschlossen, die Füße sind nun einmal unten, der Kopf oben, und die Steine fallen seit je von oben nach unten. Er aber baute die Stützenstellungen, Streben, Bögen und Dachschalen der Capella Güell und alle seine Gewölbe nach dem umgedrehten Schema von Hängemodellen. Das Untergeschoss der Kapelle konnte nach diesen Vorgaben praktisch ausgeführt werden; das Obergeschoss ist nur aus den Plänen bekannt. Das faszinierende Moment liegt besonders darin, dass ein genialer Erfinder mit der Annahme eines physikalisch revolutionären Denkmodells Erfolg hat, das den

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Wie die Hängemodelle des Gaudí sich zu poetischen Räumen entfalten.

Gefühlserfahrungen unseres Leibes widerspricht. Modellsituationen müssen also durchaus nicht Abbilder der Erfahrung oder der vorgegebenen Wirklichkeit sein, aber doch prägnant und einfach; d. h., sie müssen in verständlicher Weise eine Idee übertragen. Modelle müssen nicht »die vollständige Wahrheit« enthalten, wie auch ein architektonisches Werk nicht wie »die erlebbare Natur« aussehen muss. Modelle sind vielmehr Erfindungen, die bei einem bestimmten Planungsvorgang bestimmte Rollen spielen. Sie werden als Vorbilder »gelesen«, geben Empfehlungen; sie stellen ein Sprachmuster dar und zwar ausdrücklich eines in der Sprache des Erfinders. Sie werden von ihm hergestellt und empfohlen im Hinblick auf ein zukünftiges Werk; sie enthalten den Schlüssel, den man braucht, um eine wesentliche Eigenart dieses Werkes zu erklären. Erkennt man in Gaudís tatsächlich gebauten Gewölben ein Hängemodell wieder, so versteht man seinen Begriff vom Wachstum einer Pflanze, die ihre Gestalt durch eine spezifische Art von »Explosion« gegen die bloße Schwerkraft findet.

Stützen sehen bei ihm aus wie Bäume, Gewölbe wie Wälder. Es handelt sich um ein in sich stimmiges und logisches Bild, das die Ordnung sich ausbreitenden Wachstums interpretiert. In der Logizität der Hängemodelle liegt die Schlüssigkeit seiner architektonischen Figuren. Deren Regeln hat er handwerklich, ohne Computer, ja ohne Berechnung gefunden.

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Le Corbusiers Modellbegriff. 266

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Le Corbusier (1887–1965) dachte geradezu in Modellen. In seinem Entwerferkopf waren selbst die ausgeführten Bauwerke als Modelle für neue Lebensformen gemeint. Jedes davon sollte nicht nur als Einzelstück brauchbar und sinnvoll sein, sondern über seine individuelle Aussage hinaus bedeutungsvoll für das zukünftige Leben eines modernen Menschen. In diesem Sinne konnte er Autos, z. B. den Citroën 10 HP, Modell Torpedo, als mit dem Parthenon von Athen gleichwertig empfinden; er liebte eben den Modellcharakter dieser Dinge, er legte Wert auf den in ihnen liegenden Hinweis auf die Utopie eines neuen Zeitalters, eines neuen Menschen, durchaus im Sinne von Nietzsches Übermenschen-Konzept. Seinen Begriff

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der Moderne versuchte er vor allem in der Monumentalisierung geometrischer Formen und dramatischer Figuren zu finden, die an modernen Techniken und neuen Materialien orientiert sind. Er berauschte sich an ihnen. Seine Begeisterung betraf nie den einmaligen Zustand eines Werkes, sondern seine Rolle im Entwicklungsprozess der Moderne, dem er eine zielstrebige und unaufhaltsame Entwicklung voraussagte. Er ging jedes Risiko ein im Hinblick auf die Entstehung dieser geistigen Utopie, die durch physikalisch-mathematische Normen abgesichert sei und eine soziale Strahlkraft entwickeln würde, ähnlich wie die Tempel der griechischen Antike. Ein Haus wurde von ihm nie für einen einzelnen Menschen, einen Bauherren entworfen, auch nicht die berühmte Villa Savoye in Poissy 1928–1930. Jedes Werk, auch dieses, war als Modell für die Abläufe des moderne Lebens zu verstehen, der Idee nach tausendfach wiederholbar. Deshalb war die Wahl der Farbe weiß wesentlich. Der Modellcharakter drängt sich geradezu auf, nicht das Besondere

der Oberflächen und Silhouetten, die Materialien, Farben und Details, sondern das Allgemeine, das hinter dem Besonderen Gemeinte. Es ist nicht übertrieben, wenn wir in Le Corbusiers Werk einen platonischen Versuch sehen, unter konkreten Bedingungen, in einer konkreten Landschaft und in einem konkreten historischen Rahmen eine Ideenwelt sichtbar zu machen. Die Arbeiten sollen ein vorläufiger Ausdruck dieser Utopie sein. Er sah keinen anderen Weg zu ihrer Verwirklichung als den über sein Werk. Seine Modelle zeigen die Unerbittlichkeit eines Idealisten. Er wollte die Idealform über alle Teile der Erde verbreiten; ihre Elemente würden überall die gleichen sein, denn das Vokabular war menschheitlich gemeint, antifolkloristisch. Ihre Ästhetik musste sich zwangsweise abheben von irgendwelchen örtlichen oder sozialen Besonderheiten. Ihre Syntax wurde für die Menschheit verbindlich formuliert. Er nahm mit positiven Gefühlen in Kauf, dass alle seine Bauten in ihrer Umgebung fremd wirken – so wie Worte fremd wirken unter Geräuschen ... Le Corbusier hat, solange er weiße

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Einer, der selbst jedes seiner Werke als ein Beispiel verstand.

Bauten bevorzugte, pathetisch und belehrend gewirkt. Die weißen Gebäude waren Vorführbeispiele. Aber auch die späteren Bauten in Béton brut oder die natursteinverkleideten zeigen große Gesten, die nicht nur den Benutzer ansprechen und nicht nur aus der Nähe wirken. Vielmehr ist die Verbreitung ihrer Wirkungen durch Fotografien bewusst in Rechnung gestellt. Die Bildmedien und die Bücher sollten helfen, die Botschaft der Architektur um die Welt herum zu tragen. De facto muss man feststellen, dass erheblich mehr Menschen Le Corbusiers Arbeiten durch Fotos kennengelernt haben als durch das Erlebnis eines Originals. Keine Frage: Vor allem die Köpfe aller Architekturstudenten der Welt sollten affiziert werden; bildeten sie doch die imaginäre Armee der zukünftigen Gestalter. Seit dieser Aktivität Le Corbusiers hat der Einfluss der Bild- und Printmedien die Kommunikation über moderne Architektur gewaltig verändert. Erstens das Raumdenken, den Ort-Bezug. Bildmedien sind zwar kaum in der Lage, das Körpergefühl für einen besonderen

Ort, den Genius Loci, zu vermitteln. Die gebauten Formen werden als Bilder transportiert. Aber die ästhetischen Regeln der Fläche und des visuellen Tiefenraumes verdrängen alle anderen sinnlichen Qualitäten, das Taktile, den Hörraum, den Schweresinn, Olfaktorisches, Bewegung etc. Das Erlebnis von Architektur ist im Zeitalter des Films und der Printmedien sinnlich stark reduziert. Zweitens die veränderte Wahrnehmung der Nachbarschaftlichkeit. Im digitalen Raum sind die Nachrichten, selbstverständlich auch die über Architektur, global überall abrufbar. Die Nachbarschaft der Formen wird seitdem beliebig manipuliert; ihr Standort auf der Erde ist unwesentlich. Dadurch nähert sich das Bauen dem Design an; die Bauten, die man meist nur aus der medialen Reproduktion kennt, werden als Designobjekte verstanden. Sie existieren wie Autos, Flaschen und Koffer im Irgendwo, ohne Verankerung an einem unverwechselbaren Ort.

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Sigfried Giedion. Modelle für die Piloten des Raumschiffs Erde. 270

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Er sprach – allerdings zögernd und unsicher – vom kontrollierten Gleichgewicht zwischen Mechanismus und Organismus, wenn er den idealen modernen Menschen meinte, existierend zwischen organischer Umwelt und künstlicher Umgebung. Indem er die Umwelt des modernen Menschen beschrieb, für ihn war das »der Mensch nach Le Corbusier«, so stellte er sie als gut funktionierenden Mechanismus dar. Die künstlich hergestellte Umwelt erschien in seiner Idealvorstellung erheblich schärfer gezeichnet als im Alltagsbewusstsein seiner Zeitgenossen, im Zürich der 1940er-Jahre, nämlich als »Gerätepark«, zunehmend physikalistisch und mechanistisch. Er sprach, präzise informiert, über die Mechanisierung

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des Bades und die Technisierung des Haushalts, der städtischen Umgebung, der Landwirtschaft, des Handwerks und der industriellen Produktion von Nutzgütern, die nicht weniger wichtig sind als die Produkte der modernen Kunst. Allerdings: Seine Skepsis gegenüber einer rein technoiden Weltanschauung und seine Angst vor ihrem Versagen blieben angesichts des Zerfalls von Organischem und Mechanistischem bestehen; er hoffte auf die Dämmerung neuer Gleichgewicht-Philosophien, die Divisionistisches und Ganzheitliches, Mechanistisches und Organoides miteinander verschmelzen könnten. Seine eigenen Sammlungen und Thesen blieben, mit fanatischem Interesse zusammengestellt, ausgewählt und formuliert, eher der mechanistischen Ideologie treu. Er forschte nach den Werkstatterfahrungen der Erfinder, er legte den Finger auf Details. Sprungfedern, Drehmechanismen, Kurbeln und Gestelle, Schrauben und Zahnräder, Vorrichtungen der intelligenten Verwandlung, die mechanischen Bedingungen von Bewegungen,

wechselnde Einstellungen und Schaltvorgänge forderten sein besonderes Interesse heraus. Die Details der mechanischen Welt waren die Vehikel seiner künstlerischen und philosophischen Leidenschaft; Maschinenkultur erschien ihm als die Prägeform für eine zukünftige Welt. Kein Wunder, dass Richard Buckminster Fuller, der große Poet der Industrie-Architektur, eines seiner Idole wurde. In einer Art moderner Romantik wurde die Architekturgeschichte der Gegenwart von 1950 als eine Geschichte des Fahrens und des Fliegens verstanden. Die Bauformen der Zukunft würden den modernen Menschen wohl von der Erde abheben können, ihre Gestaltung wäre Weltraum-Design, ihr künstlerischer Raum die Raumzeit der Geräte. Dessen Bewohner haben die fixierten Orte der Erde verlassen; ihre Atmosphäre ist das kosmische Unterwegssein. Sie sind die Vorläufer zukünftiger Pilotengenerationen. Ihre primären Werkzeuge werden nicht Arme und Beine sein, sondern Maschinen.

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Das technische Zeitalter setzt sich global durch. Die moderne Welt soll sich zum Gerätepark für Kosmonauten entwickeln.

Der »Moderne«-Begriff bei Giedion (1888–1968) ist nicht landschaftlich geprägt. Er betont nicht die Besonderheiten einer räumlich begrenzten Kultur und die Geschichte historischer Orte. Im Gegenteil, seine Vorstellung von Moderne setzt sich über Erdlandschaften hinweg und zielt auf kosmische, zum mindesten erdumfassende Zusammenhänge. Er ist für die Überwindung landschaftlich begrenzter Kulturen; er setzt auf die globale Entwicklung der Zivilisation, die alle Menschen betrifft. Der Idee nach ist er Weltbürger. Technik ist für ihn das Instrumentarium der universellen Entwicklung der Menschheit, die eines Tages den Globus ringsum erfassen würde. Wie in der französischen Revolution ist das Schicksal der ganzen Menschheit gemeint, international und interkontinental. Allerdings, im Gegensatz zu den Revolutionsarchitekten um 1790, kommt seine Welt ohne Metaphysik aus und ohne Kultur des Gefühls. Die Welt ist für ihn großartig, aber materialistisch. Sein Eindruck von der GegenwartArchitektur, wie sie entfaltet werden sollte, war der einer beraumenden

Industrie-Werkstatt. Der radikale Rationalismus und Ökonomismus, den er pflegte, war allerdings »poetischer« Art. Er verlangte von den Ingenieurarchitekten, die er ansprach, erfinderischen Enthusiasmus. Sein Freund Le Corbusier war für ihn der leuchtende Wendepunkt der Architekturgeschichte. In einer Skizze der Baugeschichte versuchte er, die Entwicklung der Architektur seit ihren Anfängen in Indien/Persien/Alt-Ägypten in drei Perioden zu gliedern, die den gebauten Raum verschiedenartig interpretiert hätten – neuerdings gipfelnd im Werk Le Corbusiers. In einer ersten Phase hätte die Weltarchitektur im Wesentlichen die skulpturale Außengestalt kultiviert. In einer zweiten den gestalteten Innenraum, Rom/Barock. Erst bei Le Corbusier sei die harmonische Verbindung dieser Ideen gelungen. Für die Ingenieurarchitekten seiner Zeit sieht er also eine hohe Gestaltungsaufgabe: Innen und Außen sollen gleichwertig sein. Höhle und Gerät.

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Richard Buckminster Fuller. Die DymaxionWeltkarte. 274

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Die Dymaxion-Karte von Richard Buckminster Fuller (1895–1983), Patent: 1946, ist eine Weltkarte, die auf die Oberfläche eines Isokaeders gedruckt ist. Durch die Aufteilung der Oberfläche des kugelähnlichen Modellkörpers in lauter Dreiecke ist es möglich, die gesamte Oberfläche auf verschiedene Weise auseinanderzufalten, so dass Dreidimensionalität in zwei Dimensionen erscheint, aber durch die Vielzahl der (20) Dreiecke nur geringe Verzerrungen gegenüber dem kugligen Globus entstehen. Sie folgt dem Ideal höchster Präzision technischer Hilfsmittel, die man in den 1950er-Jahren anstrebte. Dymaxion ist ein Kunstwort, zusammengesetzt aus dynamic maximum tension,

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das Fullers Interesse am IngenieurIdeal »maximale Leistung mit minimalen Mitteln« entspricht. Er suchte dieses Ideal in verschiedensten Fächern zu realisierten, z. B. in der Architektur durch den Entwurf Dymaxion-Haus. Es handelt sich um ein Rundhaus aus Aluminium, Durchmesser 15 m, 97 qm Nutzfläche und 2.220 kg Gewicht, das leicht von Ort zu Ort transportierbar war. Es erfüllte seine Forderung nach hoher Produktqualität mit großem Nutzvolumen bei geringer Ausdehnung, geringem Energieverbrauch und geringem Materialaufwand. Die geforderten Qualitäten waren wie bei jedem technischen Gerät quantitativ fassbar und kalkulierbar. Dennoch: Zur Serienfabrikation kam es während seiner langen Entwicklungszeit, 1927 bis 1972, nicht; die Prototypen stehen im Henry Ford Museum von Michigan. Alle Objekte, die Buckminster Fuller im Sinne seiner Dymaxion-Ideologie erfand, die oben beschriebene Weltkarte, ein Globus mit der Bedienungsanleitung für das Raumschiff Erde, das DymaxionHaus, das Dymaxion-Auto und geodäti-

sche Kuppeln, wurden als Modell-Objekte für das Ingenieur-Denken konzipiert, das nach seinem Verständnis die Grundlage der Erkenntsnistheorie im Zeitalter der Industriealisierung darstellt. Die entscheidende Aufgabenstellung liegt dabei jeweils in der Frage nach dem Verhältnis von Leistung oder Nutzung zu Aufwand, Material, Kosten etc. Seine Modellkörper waren immer Testgeräte in diesem Zusammenhang. In der Architektur lenkte er die Aufmerksamkeit entsprechend auf technischökonomische Fragen wie z. B.: Wieviel Volumen kann mit möglichst geringer Außenhaut hergestellt werden? Welche Materialien kommen infrage, um die Transport-Kosten zu minimieren? Oder beim Auto-Bau z. B.: Welche Wendefläche braucht ein PKW minimal? Oder bei Steuerungsmodellen für die WeltenergieWirtschaft: Wie kann man GlühbirnenMatrizen auf den inneren und äußeren Oberflächen eines Forschung-Globus einsetzen, um ständig sich ändernde globale Energieflüsse darzustellen? Und dergleichen.

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Anweisungen zum Ingenieurdenken. Selbst in Grenzbereichen der Erfindung.

Die Bedeutung solcher Modelle ist eingeschränkt auf die vorher festgelegten Fragen. Die Ergebnisse können quantitativ beantwortet werden und tragen deshalb zu Vorauskalkulationen bei. Objektqualitäten anderer Art sind rein zufällig; nicht angesprochene entwerferische Fragen bleiben völlig offen. So z. B. in der Architektur die Fragen nach Wohnlichkeit, Sinn und Unsinn des Transportierens von Baukörpern, ästhetische Qualitäten im Hinblick auf Ort und Nachbarschaft etc. Oder beim Auto-Design die offene Frage nach den Tempo-Eigenschaften bei einem Dreirad-Wagen etc. Buckminster Fullers Arbeiten haben besonders in der Nachkriegszeit der 1950er- und 1960er-Jahre den Fragen der Ingenieurintelligenz in der Architekturtheorie den Vorrang gegeben, den Fragen zum minimalen und maximalen Aufwand, die zu einem bestimmten vorraussehbaren Effekt führen, nicht den »poetischen« – eine Haltung, die nach einem existenzbedrohenden Krieg allzu verständlich war und in verschiedensten Völkern um die Erde

herum als gleichermaßen notwendig erschien. Allerdings gilt für alle EntwerferErfahrung, – auch im technischen Bereich: Zu den Glücksfällen der Erfindung anhand von Versuchsmodellen gehören immer wieder unerwartete »Aha!-Effekte«, die sich bei der Arbeit einstellen. Der Modellbau selbst bringt durch seine Umstände, Werkstattverhältnisse, Lichtstimmung, Jahreszeit, Disposition des Experimentators etc. sehr häufig Erfahrungen hervor, die zwar nicht zum Bereich des rationalen Experiments gehören, aber doch Neuigkeiten zum Vorschein bringen, die in zukünftige Entwicklungen eingehen.

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Bernard Tschumi. La Villette, Paris, eine philosophische Collage. 278

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Die Planung und Ausführung des Parc La Villette in Paris ist eine bedeutende Episode der Philosophiegeschichte der Gegenwart. 1983 wurden beim Wettbewerb um die Gestaltung des Geländes der ehemaligen Fleischhallen von Paris die hinreißenden Zeichnungen von Bernhard Tschumi bekannt, ausgezeichnet unter 470 Arbeiten aus 70 Ländern. Sie zeigten eine Technik der Überlagerung von graphischen Kürzeln, die sofort als Modell für die komplexe Darstellung widersprüchlicher Strukturen verstanden wurden. Er nannte sie »Superimposition«. Vorangegangen war in Tschumis Werk ein Versuch zum Romanwerk Finnigans Wake, in dem James Joyce (1882–1941) Elemente aus 65 Sprachen, also Formfetzen und

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Bedeutungselemente aus vielerlei kulturellen und mythischen Schichten und ihre geheimnisvollen Querverbindungen im Kopf eines Lesers zusammengetragen hatte. Tschumi übertrug solche literarischen Erfahrungen in die fragmentarische Sprache einer postmodernen Architektur. Der Phantasie des Betrachters sollte es überlassen bleiben, Sinnverknüpfungen herzustellen zwischen allerlei Formen und Strukturen, etwa Linien- und Punktrastern, Texten und Naturzitaten, sich überlappenden Schichten von Zeichen. La Villette sollte verstanden werden als eine »Sinnverknüpfungsmaschine«, die Fremdes und Widersprüchliches spielerisch, d. h. durch Mittun der Besucher, in der Lage ist zu verbinden. Dieses Städtebaubeispiel wurde international sofort als eine »philosophische Bühne« erkannt. Tschumis Freundeskreis, insbesondere die Philosophen Jacques Derrida und Michel Foucault, stellten begeistert Verknüpfungen her, die den Entwicklungen in Literatur, Malerei und Skulptur sowie den ethnologischen Untersuchungen des Strukturalisten Claude Lévi-Strauss etwa zu den

Lebensformen der Bororo-Indianer nahe waren: La Villette galt fortan als Modell einer postmodernen Denklandschaft, die kein harmonisches Gesamtkunstwerk anstrebte, sondern die Aufforderung zu Widerspruch und Konflikt. Tschumis Planung und ihre Ausführung enthielt das Ferment einer postmodernen Diskussionskultur, ausgehend von einer Strukturen-Collage aus widersprüchlichen Schemata und hinführend zu einer neuartigen »Spielwiese von Ideen«. Es bleibt, die positiven, stimulierenden Effekte dieses schönen Experimentes abzugrenzen von seinen Schwächen. Zweifellos hat der Parc de la Villette als ein »philosophisches Monument« im öffentlichen Raum bleibenden Wert. Er liegt im 19. Bezirk von Paris ebenso eingebettet wie fremd und wird für immer eine der wichtigsten Denkfiguren des 20. Jahrhunderts der internationalen Touristik vorführen, die Idee der Strukturen-Collage, dies im wohltuenden Gegensatz zu den eklektizistischen Stadtbauexperimenten der gleichen Zeit, etwa dem Apartment-Komplex von

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Ein Park in Paris als »philosophische Bühne«.

Ricardo Bofill in Marne-la-Vallée. Die Übertragung der »offenen Wahrnehmung«, d. h. das Einbeziehen von Widerspruch, Fragment und Andeutung aus der Malerei und aus der Literatur in den Städtebau ist gelungen. Die geschichteten ästhetischen Elemente, Netze aus Gehlinien, Merkpunkten, Farben und Formen, mischen einander auf, steigern sich reizvoll in ihrem Gegensatz. Die verschiedenen Zeichencharaktere, Kreise, Quadratraster, freie Liniensysteme und Einzelformen, übereinandergeschichtet, stellen sich dem Betrachter zur Wahl. Freilich, der theoretische, der kritische Einstieg des Betrachters in eine solche Stadterlebnislandschaft kann nur gelingen, wenn die mediale Interpretation Schritt hält, wenn Zeitungen darüber schreiben, wenn Info-Tafeln Auskunft geben über Bestand und Vergangenheit, wenn das öffentliche Gespräch die Stadtteilproblematik in einen größeren Zusammenhang bringt etc. Solcher Städtebau braucht vielerlei Hilfestellungen. Vor allem von Seiten der Publizistik.

Der Genius Loci wirkt auf den nicht eingeweihten Besucher seltsam körperfern; er ist bewusst abgehoben vom bürgerlichen Alltag, denkt man allein an die Tatsache, dass man aus normaler Augenhöhe, 1,60 m, wohl kaum die symbolischen Figuren erkennen kann, von denen das architektonische Konzept ausgeht. So bleibt La Villette, der philosophische Park in Paris, eine Baustelle postmoderner Ideen, auf Distanz zum bürgerlichen Leben, aber bedeutend für das Verständnis der Eingeweihten im Feld der semiotischen Theorien.

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Walter Pichler. Die Zeichenwelt der magischen Bilder. 282

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Als sich die jungen Radikalen des Wiener Aktionismus 1960–1970 von der Malerei abwandten, um die körpernahen Räume der Performances weiterzuentwickeln, die die die frühen Schüler von John Cage, etwa Allan Kaprow, um 1958 herum praktizierten, sie nannten ihre Aktionen Happenings und Environments, gab es in Wien zwei voneinander recht verschiedene Arten von Avantgarden. Eine Gruppe der neuen »Darsteller«, Günter Brus, Otto Mühl, Hermann Nitsch und Rudolf Schwarzenegger, setzte auf öffentliche Skandale, schockierende Körpererlebnisse und Schauder des beteiligten Publikums, auf die Konfrontation von neuer Kunst und bürgerlicher Erwartung. Nacktheit, Perversion, Urin, Blut und Scheiße

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gerieten in den Brennpunkt ihrer Szene; Höhepunkt war die Uni-Ferkelei am 7. Juni 1968, deren grausame Vorführung des Widerlichen, Abstoßenden und Unerlaubten mit starker Beteiligung der Zuschauer in Erinnerung blieb. Peter Weibel erfand dafür den Ausdruck Wiener Aktionismus. Die visionären Motive wurden hinter den Kulissen des bürgerlichen Lebens gesehen, in seinen existentiellen Höhepunkten wie Zeugung, Geburt und Tod. Man hoffte, uralte Mythen seien greifbar, wenn man sie in exemplarischen Erlebnisbeispielen provokativ darstelle. Freilich entstand aus dem Exzess dieser öffentlichen Ereignisse keine religiöse oder philosophische Kartharsis, wie erwünscht, vielmehr ein Entsetzen und die Erinnerung der Beteiligten, von den Medien eifrig begleitet, an nie gesehene Schaubilder am Rande des gesellschaftlich Erlaubten. Immerhin: Eine Kunstform war gefunden, die die Gegenüberstellung von Kunst und Zuschauern aufheben konnte; ein jeder war provoziert und in die heilige Ferkelei einbezogen. Zu gleicher Zeit entwickelte ein anderer Wiener Freundeskreis ein anderes Konzept

der Abwendung und Neuorientierung, namentlich Walter Pichler, Rainer Abraham und Hans Hollein. Günther Feuerstein unterstützte mit seiner kleinen Zeitschrift Transparent deren Modellversuche. Mit besonderer Intensität, aber quasi im Verborgenen entwickelten sich die Arbeiten von Walter Pichler, die in kontinuierlicher Steigerung bis zu seinem Tod 2012 alle in einem alten Bauernhof im Südburgenland entstanden. Bauwerke, Skulpturen und Zeichnungen, in einem Werkprozess dicht benachbart, interpretieren sich gegenseitig, zugleich rätselhaft, vieldeutig und ausdrucksvoll, an den Wurzeln des europäischen Denkens, aber im Gehabe ganz anders als das der Wiener Aktionistenfreunde, streng abgeschirmt von der Kunstöffentlichkeit und keineswegs provokativ. Im Mittelpunkt dieser künstlerischen Philosophie steht das Zeichen. Durch die künstlerische Arbeit werden für Pichler Dinge zu Zeichen. Die Verwandlungen eines Materials, immer in der Natur oder in der Alltagszivilisation vorgegeben, bringen neue, rätselhafte Ideen in das sinnlich Gegebene. Deshalb das leiden-

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In der Alltagswelt unserer Zeit der Aufbau eines mythischen Ortes.

schaftliche Interesse des Plastikers an handwerklichen Vorgängen, die Lehm, Holz, Blei, Zinn und Zink verarbeiten, bis aus Ästen, Bäumen, Karrenrädern und Bauernhäusern heilige Gefäße, Altäre und Tempel geworden sind. Lebenslänglich hielt er an den gleichen Fragen fest, an der Verwandlung der Dinge, der Bäume, Geräte und Bauwerke, in bedeutende Zeichen. Bei der künstlerischen Arbeit beginnen sie, Auskunft zu geben über philosophische und religiöse Mythen. Die Geräte und Fragmente der Natur, die den Anstoß gegeben haben zu den monatelangen Befragungen durch die Hände des Künstlers, verwandeln sich über ihren ästhetischen oder praktischen Gebrauch hinaus ins Poetische, Rätselhafte und Ahnungsvolle. Worte können nicht benennen, welche Auskünfte die neuen Objekte geben, von welcher Art ihr Zeichencharakter ist, auch wenn sie den Zusammenhang mit Pichlers Leben nicht verlassen, die dörflichen Orte ihrer Ent-stehung, auch wenn ihre Verwandlung weiter fortschreiten könnte. Jedes der Objekte ist ein Ideenmodell »auf dem Wege«.

Typisch für Pichlers Arbeitsgänge ist die Entwicklung des Torso aus einem Baum, aus dem abgespreizten Ast eines Baumes, den er 1981 am Ufer des Teiches in seinem Grundstück findet. Mit Ästen, Lehm und Stroh formt er den groben Kern der späteren Skulptur, mit Blei, Zinn und Kupfer bedeckt er die bei monatelanger Arbeit immer edlere Oberfläche, bis ein menschlicher Torso entsteht, Rumpf und Kopf einer mythischen Gestalt, den frühen griechischen Göttern nah. Nicht genug: Für den Torso baut er einen heiligen Ort, indem er Sockel, Rückwand und Dach, Stille und Licht aus einer Steigerung der Elemente seines burgenländischen Hofes entwickelt. Sie werden zu schweigsamen Heiligtümern, für die Öffentlichkeit verborgen, bedient von den Händen des Künstlers. Jedes der Objekte und ihr nachbarliches Ensemble steht für eine Welt, die sein könnte, einen ahnungsvollen, unbekannten Raum. Auch über seinen Tod hinaus ist Pichlers Werk eine geistige Innenwelt geblieben, nicht politisch verfügbar, vor den Medien geschützt, nicht provokativ wirksam, aber utopisch bedeutend im Sinne von aufschlussreich.

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O. M. Ungers. Morphologische Variationen. 286

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Oswald Mathias Ungers (1926–2007) Werk will nicht so sehr erlebt, als vielmehr verstanden werden. Vorstellungen, Ideen und Theorien sind ihm wohl wichtiger als der gespürte Raum. Es kommt ihm nicht so sehr auf Schauen, Fühlen und Berühren an, vielmehr auf das Verständnis geistiger Ordnungen, insbesondere das Prinzip der Verteilung von Elementen. Sein ÄsthetikBegriff geht nicht auf Sinnlichkeit zurück, sondern auf das rationale, akademische und historische Verstehen von gebauten Formen, seien sie gezeichnet oder realisiert. Bei dieser Haltung ist es durchaus konsequent, alle Arbeiten von OMU als »Modelle« zu verstehen, Zeichnungen,

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Bücher, dreidimensionale Architekturmodelle so wie auch die ausgeführten Bauten. Jede Arbeit meint ein Prinzip, eine Grundidee. Jede Darstellung erweist sich als Position in einem morphologischen Formenlexikon. Sie bezieht ihre Kraft und ihre Berechtigung aus ihrem Verhältnis zu anderen möglichen Positionen innerhalb der betreffenden Klasse von Möglichkeiten. Die Skala der morphologischen Variablen ist es, vor deren Hintergrund ein Entwurf seinen Sinn zeigt. Das Allgemeinere, Prinzipielle ist bei Ungers ständig mitgemeint, auch wenn er bei seinen Wort-Interpretation immer wieder den Genius Loci heraufbeschwört, das Besondere, Unverwechselbare eines Ortes, in das sich das neue Gebilde einfügen müsse. Es geschieht aber oft bei seinen Projekten, dass dieses Neue selbst den Ort charakterisiert – und nichts anderes. »Unter einem Modell wird gemeinhin eine Person verstanden, die als Prototyp eine ideale Form verkörpert. Allgemeiner gesehen ist ein Modell eine Struktur, ein Muster, nach dem etwas geformt

wird. Es zeigt die Art, wie etwas zusammengesetzt ist. Ein Modell zu machen, bedeutet, Zusammenhänge in einer gegebenen Kombination und in festgelegten Dispositionen zu erkennen.« (O. M. Ungers, Morphologie. City Metaphors) In dieser instrumentellen Aufgabenstellung sieht Ungers allerdings mehr als eine Arbeitsbedingung für Künstler und Wissenschaftler zur ordentlichen Erzeugung ihrer Produkte. Vielmehr ist die Arbeit an Modellen für Ungers der Inbegriff kultureller Arbeit. Nur so, nämlich durch Variation kombinatorischer Möglichkeiten, lasse sich ein Werk im historischen Zusammenhang festlegen. Die geschichtliche Position müsse »verstanden« werden, um in der Gegenwart Sinn zu erzeugen; und diese kompositorische Arbeit sei rational erfassbar. Ungers ist deshalb der geborene Lehrer. Doch aus dem gleichen Grund fehlt seinen Bauten der »sinnliche Überschuss«; sie taugen in ihrem typologischen Zusammenhang als Modelle, aber entschieden weniger als Erlebnisgegenstände im Raum des Leibes.

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Das Analog-Denken im Mittelpunkt eines pädagogischen Systems.

Als Lehrer lenkt Ungers die Aufmerksamkeit auf die Analogie als Erkenntnisprinzip. »Im Laufe des 20. Jahrhunderts wurde es erkennbar, dass die Analogien in weitestem Sinne eine viel größere Rolle spielten in der Architektur als die einfache Erfüllung funktioneller Bedürfnisse oder die Lösung rein technischer Probleme« (O. M. Ungers, Morphologie. City Metaphors). Er erwähnt dabei nicht, dass beim Erzeugen von architektonischem Ausdruck neben analogen Bildern, funktionellem Nutzen und technischen Lösungen noch eine ganze Welt von Erlebnisfaktoren eine Rolle spielt. Er hat nun einmal auf die Macht der Vergleichungen, der »Allegorien«, »Analogien« etc. gesetzt, die er vor allem im Modell-Charakter gebauter Dinge aufzuspüren und zu aktivieren versucht. Dass ein Ding auf anderes hinweist, dass die alltägliche Umwelt wie auch Kunstwelten und Wissenschaftswelten vor allem Systeme von Zeichen sind, das, meint er, legitimiere seine Beharrlichkeit im Modelldenken. Einige Jahre wurde Ungers’ Ermahnung zum Reduktionismus, zur Besinnung

auf typologisch »zuverlässige« Formen als lästig und hinderlich empfunden, korrumpiert sie doch die Entfaltung der freien Phantasie. Inzwischen allerdings zeigt sich ein anderes Bild. In den Megastädten der Erde, besonders denen im asiatischen Raum, wird dem delorativen Formenspiel Tür und Tor geöffnet. Das nie Gehabte wird erlaubt. Die Werbung der Mächtigen im Konsum und in der touristischen Industrie, bedient sich ungeniert aller möglichen Einfälle, wenn sie sich nur kräftig abheben von Nachbarschaft und Vergangenheit. Keinerlei Anlehnung der Formensprache ist nötig, der Sprachcharakter der Baukunst wird zugunsten einzelner Kraftausdrücke aufgelöst. Das Gegenteil von Ungers’ pädagogischem Konzept setzt sich durch. So scheint eine »Abkühlung« der gegenwärtigen Formeneuphorie durch typologische Zucht (wieder) nötig.

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Peter Eisenman. Das House X–Projekt als Dekomposition. 290

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Peter Eisenmans Konzeption von House X (1978) geht davon aus, nicht nur ein Gebäude, sondern schon die entwerferische Arbeit an einem Gebäude sei eine Wirklichkeit ersten Ranges. Nicht erst der in Materialien auf einem Bauplatz ausgeführte Bau sei Realität, Zeichnung wie Modell dagegen Proto-Realität, Vor-Wirklichkeit, deren Gültigkeit sehr wohl auch außerhalb des körperlich erlebbaren Architekturraumes akzeptiert werden muss. Er breitet mit einer Fülle von Zeichnungen und Modellen eine geistige Landschaft aus, deren Facetten zwar etwas Durchgehendes, Gemeinsames haben, die aber wesentlich einen Prozess der Abwandlung zeigen, der die Annahme des Betrachters voraussetzt, alle Varianten müssten sich

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auf ein »Thema« beziehen, etwa ein »House X«. Dabei bilden die vier Bestandteile dieser Planungswirklichkeit – Zeichnungen, Modelle, Fotos und Text – einen Denkzusammenhang, den Eisenman als architektonische Realität betrachtet, auch wenn das gemeinte Gebäude realiter nie gebaut wurde und vielleicht – in seinem Sinne – nie gebaut zu werden braucht. Von welcher Art ist nun diese ArchitekturRealität, die ganz und gar eine Darstellungs-Realität ist? Die Zeichnungen, Tuschzeichnungen auf Papier, mit hoher Präzision , Einfachheit und Klarheit vorgetragen, sind von zweierlei Art. Es gibt Aufrisse, Schnitte und Grundrisse orthogonal, d. h. ohne perspektivische Effekte, und es gibt perspektivische Darstellungen, meist aus 45°–Blickwinkeln, ohne Fluchtpunkte, sogenannte Isometrien in der Art von »Militärperspektiven«. Dabei wurden auf 45° verkippte Grundrisse die Höhen aufgetragen. Neben den Zeichnungen stehen Modelle aus Glas und Pappe in mehreren Weiß- und Grautönen. Auch hier gibt es zwei Arten, solche

mit Orthogonal-Struktur, d. h. Systeme von rechten Winkeln, senkrecht zu einer Grundplatte, und solche mit Schrägstruktur, schiefwinklig gegen die Grundplatte gekippt. Beim Vergleich von Zeichnungen und Modellen ergeben sich überraschende Erlebnisse. Insgesamt handelt es sich um eine offene, d. h. nicht abgeschlossene, beliebig zu erweiternde Reihe von Gedanken-Konstruktionen, die offenbar dem Vergnügen des Verfassers und der Betrachter dient und keinen anderen Zweck verfolgt, als den einer intelligenten Ideen-Variation, eine abgehobene, intellektuelle Lust von beachtlicher Strenge und Gesetzmäßigkeit. Kein bewohnbares Haus wird damit gebaut; an kein Haus wird damit erinnert. Vielmehr ist die Variation selbst ein Gedankenspiel, mit Zeichnungen, Modellen, Fotos und begleitenden Texten vorgetragen; dies ist die Realität, um die es geht. Das Berückende an ihr: Sie verfährt – im Gegensatz zu Aldo Rossis’ und O. M. Ungers’ Ansatz – ahistorisch.

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Projektserien. Modellvariation als Entwurfsthema.

In der Zeit ausgefallener Geschichtsträumereien, einer romantischen Phase der Postmoderne, besteht Eisenman auf der Anerkennung von TheorieWirklichkeit diesseits geschichtlicher Bezüge. Für ihn ist genau dies, die Ideenwelt neben der Geschichte, außerhalb der geschichtlichen Zeit, eine echte Alternative zur Entfaltung der historischen Postmoderne. Nicht das historische Verstehen soll bei ihm den Erlebnisreichtum steigern, sondern die Vielfalt der Wahrnehmung und Ideenverknüpfung. Bei seinen letzten ausgeführten Beispielen ist es ihm gelungen, über das visuell Schockierende hinaus durch Gleichgewichtsempfindungen, taktile Überraschungen, Enge-Weite-Sensationen etc. zu neuen Dimensionen von architektonischem Ausdruck zu führen. Diese Welt ist eine esoterische. Eine zauberhafte, anspruchsvolle Innenwelt. Sie öffnet sich den Dichtern ähnlicher Innenwelten, aber niemandem sonst. Sie ist lehrreich und beglückend. Sie pflegt die eigene Konsequenz.

Sie beruhigt das konservatorische Gewissen, das die einmal eroberte Methode pflegt. Sie sorgt für Inzucht. Aber sie ist wohl kaum hilfreich bei der Lösung eines einzigen sozialen, kommunikativen Problems. Die Architektursprache ist hier nicht ein Vehikel des guten Wohnens, der angemessenen Arbeit, der Erholung etc., sondern ein Beispiel für Variation und Erhaltung einer formalen Prägung von schönem Raum, ein Glasperlenspiel. Der Schönheitsbegriff wird hier als eine kostbare Variante von Punkt-, Linien- und Flächenbezügen formuliert. Er bewegt sich in einem begrifflichen Gedankenraum, von Leib und Leben der Gesellschaft völlig gelöst. Zweifellos ist auch dies planerische Arbeit. Aber sie versucht, mit einem Minimum von Körper- und Weltkontakten auszukommen. Sie ist für die therapeutischen Aufgaben der Architektur ungeeignet.

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Daniel Libeskind. Intelligente Bruchstücke. 294

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Die Architekturformen bei Daniel Libeskind fordern Gefühle heraus; sie beschwören Schicksal und Betroffenheit. Die Risse und Sprünge in seinen Objekten sind weniger geometrische Spiele als Wunden, Verletzungen der Empathie. Sie sind in der Lage, mit ihren Überraschungen Unsicherheit auszubreiten, schließlich sogar vom Widerlichen und Tödlichen zu reden. Sie sind bedeutende Allegorien, die von pathetischen Linienzügen ausgehen, nah an den Gesten der Schrift. So gelingt es ihm, die Sprache der Architektur von der Bindung an bestimmte Orte abzuheben, so sehr er auch in seinen Texten diese Bindungen wie auch die an Boden, Erde und Materialien betont. Die Schriftzüge bleiben übrig als architektonische Bilder für das Denken

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in linearen Folgen und damit auch ihr Bezug zur Zeit. Man wandert in Libeskinds Bauten an den Zeilen einer Mitteilung entlang, an rätselhaften Zeichen einer Entwicklung, die nicht anhält. So bleibt das Erlebnis unruhig und beunruhigend, skeptisch gegenüber »ewigen Formen« und »Ergebnissen« der Geschichte. Es ist vielmehr das Gleitende, Entgleitende der Gegenwart wie der Vergangenheit, das zum Gegenstand des Fühlens wird; übrig bleibt kein »Resultat«. Was nun den ModellCharakter solcher Architektur angeht, ob nun im Stadium des Papier-Modells oder im Stadium der Erstarrung in Beton, so liegt auf der Hand, dass seine Formen wie Fahrpläne, Stadtpläne oder Verlaufsdiagramme sind, Anweisungen zur Orientierung innerhalb von Systemen zeitlicher Entwicklung. Orte, Wege, Straßennetze, Grenzen und Grenzüberschreitungen, alles Wichtige ist dabei linear und betrifft einen möglichen Verlauf; und dieser Verlauf hat Handlungscharakter. Es geschieht etwas von Bedeutung, etwas wie Schicksal, ob es nun den Aggregatzustand des Gewesenen, des Gegenwärtigen oder

des Zukünftigen beschreibt. Wie in einer gesprochenen oder geschriebenen Sprache wird ein »Inhalt« angekündigt. Das unterscheidet diese Architektur von geometrisierendem Spiel, auch vom Spiel mit den »Linien der Schönheit«, welche die École des Beaux Arts und auch Le Corbusier mit ihren idealen Entwurfsfiguren meinten. Wie überhaupt Schönheit nicht Libeskinds Sache ist, weil seine Sprache sich nicht auf Common Sense berufen kann. Eher ist sie an den Brüchen und Blitzen orientiert, die die Gesichter in Picassos Portraits seit 1910 zerstören oder die Verzerrungen der menschlichen Figur bei Francis Bacon seit 1964. In einem Punkt aber ähnelt die ästhetische Haltung Daniel Libeskinds derjenigen von Peter Eisenman, lässt sie der gleichen Periode architekturtheoretischer Anstrengung angehören; sie beziehen sich beide nicht auf die Bilder der historischen Architekturformen und wenden sich gleichermaßen von der historisierenden, zitierenden Postmoderne, die ihrer Arbeit zeitlich parallel läuft, ab.

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Das Bruchstück, die Risse und Sprünge. Verletzungen werden zu Gegenständen der Komposition.

Durch die Annäherung der Architektur an Schrift wird bei Liebeskind ein assoziatives Verständnis vom Gebauten als Medienereignis erreicht. Da leuchtet der architektonische Ausdruck als ein politischer ein, räumliche Formen scheinen Situationen des Lebens zu beschreiben, werden als Kommentare zu Schicksalen gelesen, die vor allem politische sind. Das Steigen und das Fallen, die schwindelnden Höhen und die Abgründe, Engführungen und bedrohliche Sackgassen ohne Ausweg, – das Spüren des Leibes versteht solche Signale. Von besonderer Aussagekraft ist in Libeskinds Formenwelt das Phänomen der Schräge. Wege werden in ein Gefälle hineingeführt, durch Steigungen abgefangen oder in Höhen hinaufgetrieben, Wände neigen sich zueinander und erzeugen auch ohne taktile Berührung beim Betrachter Verlegenheit. Sein Körper versteht beim Rundgang die ältesten räumlichen Signale der Baukunst: zunehmende Enge und sich ausbreitende Weite, d. h. das Instrumentarium zur Erzeugung von Angst und Freiheit.

Die hier praktizierte Architektur, z. B. das jüdische Museum Berlin, arbeitet kaum mit Hinweisen auf die Typologie historischer Bauformen, auf die bekannten Bildwirkungen der Architekturgeschichte. Umso mehr rechnet sie mit dem »Verstehen« des Leibes, mit der »Erinnerung« der Sinne an archaische Gesten beim Fallen und Steigen, Stehen und Liegen, d. h. an das Arsenal der Körperhaltungen, das im Verhaltensraum benutzt wird, um zu überleben.

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Lebbeus Woods. Centricity, Architekturvisionen im Weltraum. 298

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Die zeichnerischen Arbeiten des New Yorker Architekten Lebbeus Woods (1940–2012) wirken wie Theaterszenen eines experimentellen Regisseurs, Skizzen aus einem Science-Fiction-Labor, verrückte Andeutungen, vielleicht auch Sehnsuchtbilder aus einem Raum der Trauer. Centricity z. B., ein Zyklus von 34 Zeichnungen, auf einem kleinen Zeichentisch in New York entstanden, gibt schwärmerisch die Idee einer Unmöglichkeitssituation. Der Betrachter stellt sich vor, ein »Archäologe der Zukunft« betrete im Kosmos das Gräberfeld einer versunkenen HightechZivilisation und finde die aufgetürmten Reste von Raumschiff-Panzern, Gitter-, Röhren- und Tragwerkkonstruktionen, deren Schrott aus unbekannten

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galaktischen Kämpfen stammen muss. Allerdings finden sich keine Bewohner, keine Benutzer mehr; die Szene ist ein Weltraum-Friedhof. Woods geht mit Akribie an seine Dokumentation; er benutzt feinste Schraffuren und erzeugt atmosphärische Effekte mit Graphitpuder sowie Maßzahlen und schriftlichen Eintragungen; die Zeichnungen scheinen Arbeitstage einer Expedition festzuhalten. Wissenschaftliche Neugier begleitet die künstlerische Arbeit des Zeichners, der an seinem Arbeitsplatz sitzend betont, die heutigen Kenntnisse, enthielten die Wurzeln einer universalen Wissenschaft, die selbstverständlich eine technisch-pragmatische ist. De facto ist ihm aber unter der Hand keine wissenschaftliche Theorie, vielmehr ein graphisches Werk entstanden, das von hundert Anklängen an die romantischen Phantasten der Kunstgeschichte lebt, besonders solche der Renaissance, Giulio Camillo, Giovanni Battista Piranesi, nicht zuletzt Leonardo da Vinci. Wenn das Ergebnis auch wie das

Tagebuch einer Todesszene aussieht, wie das verlassene Gerümpel eines zusammengebrochenen Zeitalters, wie ein Schlachtfeld, so haftet seinen Darstellungen doch etwas von »Entwurf« und von »Entwerfen« an, d. h. die Züge von Projekt-Denken. Wir verstehen zwar diese Welt nicht; aber ihre Merkmale von Ordnung und Rationalität sind unübersehbar. Der Beobachter spürt darin gemeinte Regeln der Anordnung und Gestaltung; in den Details ist vielerlei mathematische Struktur angedeutet. Euklidizität und dynamische Geometrie stehen für die Schönheit räumlicher Tiefe, das Vokabular eines unsichtbaren Übermenschen. Das irgendwie gemeinte und geahnte goldene Zeitalter ist im dargestellten Chaos nicht (mehr) greifbar; aber es ist zweifellos ein Ort poetischer Ahnungen. In ihm liegt für Woods die Hoffnung auf zukünftige Entwicklungen, die an die Reiseerfahrungen großer Wissenschaftler der Geschichte erinnern, z. B. an die des Alexander von Humboldt, der aufbrach, den unbekannten Amazonas kennenzulernen. Auf gefährlichen

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Hightech im Weltraum. Ein schwärmerischer Griff in die Zukunft.

Expeditionen wurden Kontinente als Denklandschaften in Erfahrung gebracht; die Funde enthielten die Fragen der neuen Zeit, schon vergessene oder noch zu entdeckende Dingzusammenhänge. Allerdings enthält Lebbeus Woods’ »Zukunftsarchäologie« auch die Spuren des Entsetzlichen und tödlicher Zerstörungskräfte, die das Mitgefühl und die Neugier des Betrachters an einen Nullpunkt der Sympathie bringen. Im Kaleidoskop der schönen Funde tut sich Schreckliches auf. Das Leben ist hier unmöglich geworden, die Entdeckerfreude hat in eine Eiszeit geführt. Während sich bei Humboldt durch das Studium der Mitbringsel ein neues Zeitalter öffnete, während seine Entdeckungen neue Weltzusammenhänge andeuteten, faustisch hoffnungsvoll, verglüht in Lebbeus Woods’ Welttheater die Endphase einer Zivilisation. In den Zwischenräumen der kämpferischen Geräte finden wir Rauch und Leere, unerträgliche Hitze und unerträgliche Kälte, die Reste einer technischen Apokalypse. Die Haltung des dokumentierenden Illustrators selbst, bei Humboldt ganzheitsbesessen,

poetisch, bei Woods ist sie hoffnungslos reduziert auf die Akkuratesse und die Neugier eines Buchhalters. Woods’ Visionen haben das Zeug zu Filmen. Seine Weltraum-Szenarien lassen kriegerische Ereignisse ahnen, die Kontinente bewegen und in die Sphäre benachbarter Sterne eintauchen. Ein geradezu unerträgliches und zugleich pathetisches Gefühl der Leere und Verlorenheit breitet sich aus. Jeden Moment können Ereignisse ausgelöst werden, die das Leben auf anderen Sternen möglich und auf Erden unmöglich machen. Welche Lebenwesen können diese Welt noch bevölkern? Wer ist der Mensch?

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James Turrell. Wahrnehmungsgeräte. 302

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James Turell, Künstler, Naturwissenschaftler und Wahrnehmungspsychologe, 1943 in Los Angeles geboren, fragte ein Leben lang nach den Bedingungen der sinnlichen Wahrnehmung, insbesondere: Von welcher Art ist der Sehraum? Er liebt technische Apparate zur Erforschung der Raumgrenzen; auch Architektur- und Naturräume versteht er als solche. Ganze Landschaften, insbesondere vulkanische Kraterlandschaften, hat er als »Geräte« zur Erforschung der Raumwahrnehmung benutzt. Erste Versuche waren durchaus technoider Art und benutzten kleine Raumzellen, in die der Proband eintreten konnte wie in Telefonkabinen. Dort gab es Knöpfe

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zur Regulierung der Lichtstärke und Lichtfarbe, denen sein Kopf im Mittelpunkt einer Kugel von 1 m Durchmesser ausgesetzt wurde. Wenn der Lichtraum gedimmt und allmählich dunkel wurde, von Weiß und Orange nach Rot und Violett wechselte, reagierten nicht nur die Augen, sondern erschreckend heftig auch die Haut und der Magen. Das Experiment war jedem Besucher unvergesslich, war er doch selbst Akteur bei diesem Aha-Erlebnis. Es war ihm deutlich geworden, wie sehr der ganze Leib, der eigene Leib, bei einer sinnlichen Veränderung von Lust und Schmerz übergeht, wie alle Sinne miteinander verknüpft sind und ebenso Glücksgefühle wie Angst und Not sich einstellen, wenn die sinnliche Wahrnehmung kippt. Diese überraschende Erfahrung wurde in weitere Dimensionen übertragen, wenn die Besucher seiner Ausstellungen in Architekturräume geführt wurden, die etwa ringsum durch eine intensive Farbe bestimmt waren, etwa Blau, wenn die Wahrnehmung von Raumecken und -kanten aber durch geschickte Details unsichtbar blieben, wenn die Decke

in die Wand, die Wand in den Boden überging ohne geometrische Linien und sichtbare Winkel. Die Farbe beherrschte dann derart das Leibgefühl, dass dem Körper die Standsicherheit verloren ging, die Beine schwankten und der Gleichgewichtssinn versagte. Da wurde die Sicherheit des Leibes in seiner Erlebniswelt infrage gestellt. Seine geordnete »architekturale« Struktur mit oben und unten, rechts und links, über die wir im Alltag selbstverständlich verfügen, ging verloren; der Leib fühlte sich entsetzlich in der Schwebe. Wenn es im Sehraum keine Kanten und Winkel mehr gibt, gibt es keine »Dinge« mehr gegenüber, das Dort- und Hier-Gefühl verlässt uns, das Bewegen und Handeln der Glieder wird unsicher und ohnmächtig. In einer Weiterführung solcher Irritationen versucht der Wahrnehmungstheoretiker Turrell, Landschaftserlebnisse so zu manipulieren, dass die Körpergefühle zwischen Sicherheit und Ohnmacht schwanken. Ab 1974 begann er, die Vulkanlandschaft um den Roden Crater in Arizona so zu formen und durch

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Körpertheorie und Landschaftstheorie werden miteinander verquickt. Wie funktioniert Wahrnehmung? Was ist Natur?

Architekturelemente zu ergänzen, dass unter dem gewölbten Himmel eine Art »Himmelslabor« zur Verstärkung der Raumgefühle entstand. Über Hohlwege und Tunnel wird eine Annäherung des Besuchers an Punkte begleitet, die die Ausdehnung und die Geschlossenheit des natürlichen Himmelsgewölbes in möglichst reiner Form zeigen, d. h. ohne Ablenkung durch Nachbarschaft, Vordergrunddinge etc. Der Sehraum wird zur Schale für die astronomischen Hauptereignisse, die aufgehende Sonne, das Einfallen der Nacht, die Erscheinung des Mondes etc. Naturlandschaft wird zu einer Kunstlandschaft, einer monumentalen Bühne für die Vorgänge der ewigen Wiederkehr. Die Landschaftsarchitektur wird zu einem Wahrnehmungsgerät für kosmische Strukturen. In dem Turrell uns als Betrachter in Erdschluchten hinein und auf Bergränder hinaufführt, indem er unseren Blicken den Horizont entzieht, unseren Augen Sonne, Schatten und Sternbilder anbietet, führt er die Arbeit der griechischen Lehrer vor Homer fort. Er lässt uns staunen vor den Formen

der kosmischen Natur, freilich ohne die Frage ihrer Erzeugnung, ohne Metaphysik, ohne Götter. Das Staunen selbst wird aber kunstvoll und pathetisch inszeniert, wenn sein Landschaftslabor wie ein Tempel erscheint. Der Körper des Besuchers wird dabei als Pendant der Dinge herausgefordert und getestet. Die bühnenartige Anordnung der belichteten und schattigen Flächen, die Tiefenwirkung der Wegelinien, die Steigerung der Höhepunkte und Abgründe, alle diese Raumstrukturen werden als magische Qualitäten erlebt. Sie sind Szenen eines Augentheaters. Der eigene Leib wird als Zentrum der erlebten Welt erkannt. Die Sinne mit ihren Erinnerungen und Erwartungen, angereichert mit dem Wissen einer jahrtausendealten Wahrnehmungskultur, sind Weltraum-Instrumente.

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Aldo Rossi. Ein Welttheater für Venedig. 306

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Homer berichtet 500 v. Chr. von der List des Odysseus, der seinen verzweifelten Landsleuten vor den Mauern von Troja empfiehlt, ein hohles hölzernes Pferd auf Rädern zu benutzen, in welchem ein paar bewaffnete Krieger Platz haben. Die belagerten Trojaner würden wohl so viel Neugier und Freude an diesem Modell empfinden, dass sie es in ihre Stadt ziehen. Die Krieger würden nachts ihr Versteck verlassen und die Tore öffnen – zum Verderben der Stadt und ihres Königs Menelaos. So geschah es in der mythischen Sage. Der italienische Architekt Aldo Rossi (1931–1997) hat den Besuchern der Biennale Venedig 1979 ein schwimmendes »Welttheater« in die städtische Szene

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hineingebaut, das seine architekturtheoretische Hauptidee anschaulich zeigte: den Umgang mit typologischen Modellen. Diese Idee sollte mit einem Beispiel aus dem Theaterbau öffentlich und weithin sichtbar vorgeführt werden. Sie hat in der Tat 10–20 Jahre lang in den Architektur-Medien eine große Rolle gespielt. Aldo Rossi hat gegenüber den 100.000 Architekturstudenten, die die Biennale besucht haben, eine List angewandt, der des Odysseus vergleichbar. Er hat das Teatro del mondo wie ein hölzernes Pferd in die Diskussion der Biennale hineingeschoben, damit sein typologischer Ansatz in der akademischen Architektur-Theorie endlich von der Weltöffentlichkeit gewürdigt werde. Rossis »Welttheater« für Venedig war ein großes, begehbares Holzmodell, das auf ein Ponton montiert und vor die Kirche Santa Maria della Salute gezogen wurde, so dass es für die Dauer der Biennale an der prominentesten Stelle der Stadt zu sehen war. Es hatte den rüden Charme eines Werkstatt-Modells, eine einfache Bretterkonstruktion, innen und außen bis auf die blauen

Gesimsandeutungen nicht einmal farbig lackiert. Die Form war immerhin 25 m hoch; darauf erhob sich ein Turm als Oktogon, bekrönt mit einem achtseitigen spitzen Helm, der 6 m hoch aufragte, oben mit einer kleinen Weltkugel und einer roten Fahne geschmückt. Im Innern konnten einige hundert Besucher auf zwei Emporen Platz nehmen oder auf drei Balkonen stehen. Immerhin erlebte man die Andeutung eines Theaters. Eines Theaters? Vielleicht eher die einer Palastkirche. Modelle haben die Aufgabe, Ideen anzudeuten. Es ist das im Provisorium Gemeinte, das die Gemüter erregen soll. Und in der Tat, die Erregung ist Rossi für die Dauer des Festivals gelungen. Mit einfachen Mitteln und robuster Sinnlichkeit konnte er seine Gedankenkonstruktion demonstrieren. Seine Theorieposition war etwa folgende: In allen bedeutenden Architekturformen liegen Erinnerungen an historische, bewährte Vorbilder. Architekturgeschichte ist in diesem Sinne nichts anderes als ein Geflecht von Formenketten, die geprägt sind von typologischen, d. h. als Vorbild

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Die historische Qualität der typologischen Formen. Die typologische Qualität der historischen Formen.

spürbaren Grundformen. Genau diese Prägung, ein Erinnerungsbestand, macht die »architektonische Bedeutung« aus, mehr als die funktionale Verwendung oder die Wirkung eines Bauwerks auf Benutzer und Betrachter. Es ist die Form, im Wesentlichen die Außenform, eine Silhouette, die diese Bedeutung weithin sichtbar signalisiert. Ihre Aussage ist unabhängig von Material, Verwendung, Körpererlebnis, Konstruktion etc. Es ist im Wesentlichen eine visuelle Übertragung, welche die Architekturform leistet und durch die sie Geschichte erzeugt. Wiederholungen des Typus werden Jahrhunderte lang aufeinander kopiert und aufeinander bezogen. Die Überredungskraft dieser Gedankengänge war bei der Biennale beachtlich. Typologie hieß das Zauberwort. Fußend in der italienischen Geistestradition sollte dieser Begriff helfen, wieder eine kontrollierte Sprache zu finden für die (verlorenen) Bedeutungsphänomene im architektonischen Raum. Endlich, nach Überwindung der pragmatischen Funktionalismus-Theorien, sollte sich ein Vokabular für Sinn- und Bedeutungsdimensionen durchsetzen, dass es

erlaubt, bewährte Formen der Geschichte in die Gegenwart einzubeziehen. Gewiss, die Attitüde des Lehrers, bei Eisenman ähnlich wie bei Ungers und Rossi, erzeugt schnell, von Schülern nachgeahmt, Erstarrung und tote Gesten. Aus dem Betrachtungsabstand von wenigen Jahren ist festzuhalten: Keiner hat das Zauberwort gefunden, das die Qualität unserer Städte positiv verändert hätte. Die wenigen realisierten Beispiele haben eher die Ohnmacht der akademischen Entwurfslehren demonstriert. Sie selbst, die Entwerfer, haben an die Möglichkeit objektiver Diagnosen und die Wirksamkeit ihrer Therapien geglaubt. Aber sie haben es wohl kaum erreicht, zu zeigen, wie das sinnvoll Gedachte konkret erlebbar werden kann. Außerhalb des kollegialen Kreises der Gestalter ist ihre Theorie nicht wahrnehmbar.

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Hannsjörg Voth. Orion, ein Kosmosbild in der Sahara. 310

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»Kalenderbauten« nennt man die monumentalen Plastiken (oder sollen wir sie Bauwerke nennen?), die indische Fürsten für ihre Astronomen haben errichten lassen, um mit ihrer Hilfe zuverlässig den Sternenhimmel zu vermessen, die bedeutendsten, bis heute erhaltenen, in Jaipur. Es handelt sich um gemauerte und verputzte Schalen und Treppen, Platten, Scheiben, Türme und Kugelkalotten, die einmal Messungen und Peilungen, Raum- und Zeitbestimmungen im astronomischen Kosmos dienten, Demonstrationen der Macht wie der Intelligenz dieser Herrscher. Hannsjörg Voth, der Münchener Bildhauer, ist ähnlichen Gedanken nachgegangen, als er 1998–2003 in der marokkanischen

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Sahara sein Orion-Projekt aus Lehmziegeln schuf. Allerdings gibt er seinem Himmelsbauwerk einen anderen, persönlichen, einen künstlerischen Sinn. Bei der Fahrt durch die Mahra-Ebene Marokkos, Sandschotter, straßenlos, beschwerlich und mühsam, tritt dem Besucher eine Anordnung von Lehmtürmen, rotbraun, in der Farbe der Wüste, entgegen, konisch und verschieden hoch. Die strengen Formen suggerieren eine Festung oder eine Stadt, die da am Horizont auftaucht. Ihre Form wirkt drohend und pathetisch, denn sie hat keine Details; nichts verrät ihren Sinn oder ihre Bewohner, nichts erinnert an die zivilisierte Welt. Und dennoch ist ihre Silhouette geistvoll, von atemberaubender logischer Klarheit. Die Erfahrung eines Mannes, eines Einzelgängers aus München, der jahrelang ein konkretes Bauwerk auf 450 qm Wüstenfläche, Türme bis 16,50 m hoch, hat bauen lassen, um andere Einzelgänger, Freunde der modernen Kunst, wo auch immer auf dieser Erde, von der messianischen Kraft seiner Idee zu überzeugen, einer Idee,

die vor dem Hintergrund von antiker wie moderner land-art, den pharaonischen Pyramiden wie den Spirals von Richard Long ausgedacht, in der Wüste von Marokko realisiert und freilich während der Arbeit und danach durch international gehandelte Zeichnungen und Bücher bekanntgemacht wurde. Übrigens: Die zauberhaften Schwarzweißfotos, die die Neugier der Liebhaber geweckt haben, stammen allesamt von der begnadeten Fotografin Ingrid Amslinger, seiner Frau. Die Grundidee der Objektstruktur ist, das Sternbild Orion auf die Erde zu holen, seit der frühen Antike bekannt und mythisiert als die Figur des himmlischen Jägers, am Firmament festgenagelt mit Kopf, Schultern, Gürtel und Füßen sowie einem gespannten Bogen. Berühmte Großsterne fixieren die Gestalt, Beteigeuze, Bellatrix, Rigel etc.; andere, schwächere, füllen sie aus. Das bildhauerische Projekt lässt den himmlischen Jäger horizontal auf der wüsten Erde liegen. An den Positionen der großen Sterne wachsen hohe Lehmtürme aus dem Boden, an den

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Konkret, in der Sahara, die Wahrnehmung bereichern durch ein Sternbild! Im Kopf entsteht der Überblick.

Positionen der kleinen niedrige Türme; ihre gedachte Verbindung, der Rahmen, wird durch eine übermannshohe Mauer, eine Art Stadtmauer, gebildet.

aus den Stern Procyon, um 21.21 Uhr dann vom Turm Rigel aus den Stern Lep-Bet-9 im Sternbild Hase gegenüber erscheinen lassen.

Alle Bauelemente sind aus einem Material geschaffen und handwerklich gestaltet, dem goldbraunen Material der Wüste. Entsprechend der ortsüblichen, berberischen Mauertechnik erkennt man die Spuren der Kastenschalung, in die die feuchte Lehmmasse eingefüllt wurde, bevor sie durch die Sonnenhitze in kürzester Zeit trocknete, eine uralte Mauertechnik; man kennt sie durch den Bau der Sahara-Wohnburgen, der berühmten Kasbahs von Quarzazate.

Selbstverständlich hat niemand eine solche Prozedur mitgemacht; aber das muss wohl auch unter Freunden nicht sein; kommt es doch auf die Ahnung, die Eröffnung des Möglichen im Vorstellungsraum an, nicht auf »objektive« Eigenschaften der Realität. Insgesamt ist es ja auch niemandem möglich, aus eigener Augenhöhe im Wüstenbauwerk das Sternbild Orion wiederzuerkennen; ein Blick von oben ist ja nicht gegeben. Dennoch: Wer die am Boden ausgebreitete architektonische Figur besucht, hat längst die notwendige Vorinformation im Kopf, schöne Zeichnungen und ihre Erklärung. So beherrscht das Vorwissen problemlos die Wahrnehmung.

Voth hat versucht, den Besuch der wenigen Enthusiasten vor Ort zu bereichern, indem er »Observierungszeiten« mitgeteilt hat, zu denen Himmelsfreunde von eingebauten Sitzpätzen im oberen Teil der Türme aus »pharaonisch« in den Himmel schauen können, prominente Sterne exakt gegenüber. Von Turm zu Turm ließen sich »AstronomenRundgänge« absolvieren, die etwa am 17. Januar um 21 Uhr vom Turm Saip

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Raimund Abraham. Bühnen der Sehnsucht, moderne Romantik. 314

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Alle Arbeiten des Wiener Architekten Raimund Abraham (1933–2010) wirken wie Bühnenentwürfe. Nicht nur die dreidimensionalen Holzmodelle, auch die Zeichnungen, insbesondere seine großen GraphitZeichnungen, aber auch die ausgeführten Bauten in Berlin, Wien oder New York sind als Modelle lesbar. Sie sind jeweils wie Lehrstücke in einen Gedankenraum hineingesetzt, ob auf Papiergrund gezeichnet oder aus Beton gegossen. Sie dienen, noch bevor sie einen anderen Zweck erfüllen, einer geistigen, philosophischen Aufgabe, einer sehr persönlichen Idee bezüglich der Konzeption von Raum und Zeit. Zeit ist für Abraham weder ein gleichmäßiger Fluss im Nacheinander noch

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eine Kette von Ereignissen. Sein Denken ist vielmehr dem antiken Begriff der äonischen Zeit nah. Er versucht, architektonischen Raum als eine dynamische Struktur darzustellen, als eine mythische Darstellung, die bedeutende existentielle Zustände festhält. Die Zeit »gerinnt« auf dem Höhepunkt einer Anspannung des Schicksals. Materialgefühl und starke Licht-Schatten-Erlebnisse sind an seiner Wahrnehmungschoreographie beteiligt, Bedrückendes und Bedrohliches. Die Architekturräume werden vorwiegend als dramatische Szenen aufgefasst, die auf ihren Ereignishöhepunkten von menschlichem Schicksal reden. Die Raummodelle zeigen ein Atemanhalten im Fluss der Zeit. Die Architektur-Darstellung zeigt Vorausgehendes und Zukünftiges. Es ist, als wenn in der Atmosphäre des Raumes ein bedeutendes Geschehen auftaucht, nicht reale Handlung, vielmehr die Ahnung von Schicksal. Die Räume teilen ihre Aura mit. In den Zeichnungen sind keine Benutzer oder Bewohner abgebildet; keine Aktualiät wird angekündigt, wohl aber die Erwartung von möglichen Ereignissen.

Der Architekturraum hat den Charakter einer Bühne, auf der welche Weltereignisse auch immer zuhause sind. Es gibt keine erzählerischen Details, keine Möbel und keine technischen Effekte. Es bleibt bei Andeutungen, beim stillen, meditativen Pathos der Ideen. Vielleicht ist die Dichte dieser Stimmungen ja nur durch Modelle übertragbar. Versucht man, das Gemeinte in reale Gebäude zu übersetzen, das Papierereignis in ein Betonereignis zu übertragen, so zerreißt der Schleier allzu schnell. Abrahams ausgeführte Bauten, etwa das Stadthaus in der Friedrichstraße, Berlin, oder die Wohnarchitektur in Wien, übertragen bei weitem nicht die Atmosphäre seiner Zeichnungen, von denen jede als Phantasielandschaft wirkt, voller Andeutungen und Möglichkeiten. Zeichnungen und Modelle treffen den poetischen Kern seiner Architekturideen mehr als die ausgeführten Bauten; sie enthalten die Ahnung und den Duft der mitgemeinten Zeit. Sobald jemand sich konkret darin bewegt, wohnt, arbeitet etc., indem das Bild der Idee

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Das Äonische darstellen! Den bedeutenden Augenblick.

praktisch benutzt wird, geht ihm das Eigentliche verloren. Sein Ewigkeitsgehalt, das Märchenhafte ist im Architekturalltag nicht mehr glaubhaft. Statt der mythisch verstandenen Vorstellungszeit entsteht konventionelles Nacheinander, Nutzungsgewusel, Leerlauf. So drängt sich die Beobachtung auf, dass bei Abraham Zeichnungen und Modelle die primäre Wirklichkeit seines Werkes sind, näher am Kern der Idee als die technisch ausgeführten Bauwerke. Indem sie längst die Phantasie der jungen Architekten weit über den Wiener Freundeskreis hinaus besetzt haben, sind sie Teile der Architekturgeschichte. Das verdanken sie vor allem dem Umstand, dass sie nicht zuletzt durch Buchpublikationen Beispiele geworden sind für Träume, für Möglichkeitsräume im Architekturerlebnis. Gefühl, Wunsch und Utopie sind eben auch Dimensionen der ErlebnisGegenwart, nicht nur die materielle Realisierung von gebautem Raum. Nicht nur die Träumer unter uns möchten in jedem Augenblick, an jedem Ort Andeutungen der Zukunft entdecken, nicht nur symbolisch, sondern sinnlich.

Abraham zeigt, dass Architekturerlebnis ein leibliches ist und dass Leibraum unter der Oberfläche der rationalen Strukturen Tiefen des Gefühls anbietet, Vergangenes wie Geträumtes, Undurchschaubares und Wünsche, eine moderne Romantik, eingebettet in das Schlachtfeld des Maschinenzeitalters.

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Anne und Patrick Poirier. Städte der Erinnerung. 318

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Ostia Antica, ein Tonmodell 12 x 56 m, 1971–72 entstanden, Domus Aurea, ein Modell aus Holz und Kohle 10 x 5 m, und Mnemosyne, ein Holzmodell 7 x 5,5 m – diese großen Bodenreliefs, sind mit ihren Architekturfragmenten, Mauern, Säulen, Toren, Türmen und Treppen archäologischen Objekten nachempfunden. Sie stellen historische Städte dar, sind aber sehr wohl Kunstwerke, frei erfunden und willkürlich komponiert. Mit den winzigen Zitaten monumentaler Formen üben sie starke Wirkung auf ihre Betrachter aus, denen aus dem Dunkel der Geschichte akribisch zusammengetragene Details entgegentreten, eine fragmentarische Modelllandschaft mit Ausschnitten ahnungsvoller Zusammenhänge. Die Erinnerung knüpft

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an historisches Schulwissen an; gleichwohl bleibt die sachliche Information in einem mythischen Nebel. Worauf zielt diese Produktion der Vergangenheit, die mit künstlerischen Mitteln arbeitet und spielerisch wissenschaftliche Informationen zitiert? An wen wendet sie sich, mit welcher Forderung? In der europäischen Denktradition ist das Interesse an der Geschichte zeitlich rückwärts gewandt, das an der Zukunft dagegen zeitlich vorwärts, ins Unbekannte gerichtet. In den Kunstwerken der Poiriers finden wir eine seltsame Verquickung von rückwärts und vorwärts, Retention und Protention in der Redeweise von Henri Bergson (1859–1941), Erinnerung und Utopie. Der Betrachter stößt auf eine unerwartete Konzeption von Zeit. Geschichte als eine Kette von Vorher- und NachherEreignissen wird im Bild der Modelle aufgehoben, Erinnertes, Mögliches, Gemeintes und Gedachtes sind miteinander verwoben; die antiken Formen erhalten zugleich eine Art von Erwartung, Andeutungen einer möglichen Zukunft. Die »Fakten« der Vergangenheit tragen

Züge utopischer Konstruktionen. Das Interesse an Zeitstrukturen folgt vielleicht dem Bild von Kreisbewegungen; nicht dem einer geraden Linie. In den angebotenen Szenen sind zugleich Qualitäten von früher und später enthalten, Details aus dem Schulwissen über römische Stadtarchitektur, aber auch Projektandeutungen zu einer neuen, ahnungsvollen Monumentalität. Die offene Struktur der architektonischen Motive erlaubt zudem die individuelle Interpretation dieser Werke als posthistorische, katastrophal zu empfindende Reviere. Die Wirkung der Poirier-Modelle ist trotz vieler Ähnlichkeiten ganz anders intendiert als etwa die der Antikenzitate von Peter Joseph Lenné (1789–1866) und Karl Friederich Schinkel (1781–1841), denen wir in den Gärten von Potsdam begegnen. War den großen Romantikern mit ihren Ruinen, Fragmenten und Architekturdetails die Anspielung auf Rom als Traum- und Sehnsucht-Landschaft willkommen, so lassen die Poiriers die Betrachter ins Leere fallen. Eher Schrecken als Hoffnung breitet sich aus;

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Selbsterfundene Archäologie.

das Weltschicksal scheint verloren. Wenn es eine Zukunft gibt, dann eine katastrophische. Vielleicht ist in den ehrwürdigen Kunst-Ruinen eine Ahnung verborgen, die auf zukünftige Denkmöglichkeiten zielt. Immerhin ist eine der Erinnerungsstädte Mnemosyne geweiht, der Titanin, Tochter von Himmel und Erde, Uranos und Gea, die dem Göttervater Zeus neun Musen gebar. Schinkels Zitate waren aber Bildungsgüter, deren Zauber in die idealische Welt einer romantischen Moderne passten. Sie brachten Johann Joachim Winckelmanns (1717–1768) GriechenlandSehnsucht in die Gegenwart, dienten als Ferment der bestmöglichen Gestaltung in Landschaftskunst und Architektur sowie auf der Bühne und in literarischen Werken. Der öffentliche Raum sollte mit Idealgestalten getränkt werden; man scheute sich nicht, selbst den Alltagseinrichtungen im Stadtraum antikische Anmutung zu geben, damit die Gefühle von jedermann an der schönen Antike sich orientiere. So bekamen selbst gusseiserne Pissoirs römische Säulchen. Der Antikenkult der Poiriers bleibt dagegen elitär;

er bewegt sich im ehrfürchtigen Dunkel des Museums; er wendet sich an die gebildeten Träumer und unter diesen an die wohl-wollenden, die bereit sind, selbst in den verkohlten Schichten einer Grabung verborgene Poesie zu entdecken. Besonders deshalb bleiben die schwarzen Szenen der Poiriers faszinierend, weil sie sich ganz und gar vom Glanz und Glamour der Konsumwelt abwenden. Die Innenstädte, insbesondere die der Metropolen, werden hell und heller; die sich anbiedernden Oberflächen glitzern, leuchten und flimmern, um partout Aufmerksamkeit zu erzwingen. Die Grotten der Poiriers aber versinken im Schatten.

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Constantin Brâncusi. ˛ Atelierfotos als Stadtbilder. 322

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Der Bildhauer Constantin Brâncuői (1876–1957), dessen Atelier neben dem Centre Pompidou in Paris rekonstruiert wurde, hat 1926 New York besucht und begeistert ausgerufen: »Das ist ja mein Atelier! Nichts ist fixiert, nichts starr. Alle diese Blöcke, alle diese Formen und Gestalten, die man versetzen und jonglieren kann in einem Experiment, das sich weitet und verändert.« (F. T. Bach, Brâncuőis Fotografie in: Besichtigung der Moderne, 1987) Die Sehnsucht des Gestalters ist bis heute nachvollziehbar, hat sich die Collage der gigantischen gebauten Solitäre doch inzwischen um den Erdball herum fortgesetzt und ausgeweitet. Was veranlasste einen der strengsten aller Bildhauer, seinem Staunen einen

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so hoffnungsvollen, anregenden Unterton zu geben? Welches Experiment hat er sich für eine positive Entwicklung der Architektur gewünscht? Die drei Forderungen von Constantin Brâncuųi In einem jahrzehntelangen AtelierExperiment hat Brâncuői mit seinen Bildhauerobjekten in Stein, Bronze und Holz drei auf Architektur übertragbare Erfahrungen gemacht. Seine erste Erfahrung war: Jede Form sollte reduziert sein auf ihren einfachen geometrischen Kern; nur dann kann sie eine elementare Aussage machen – jenseits von bloßem Dekor, Zufall und individuellen Gefühlen. Der sicherste Weg zu dieser skulpturalen Grundqualität schien ihm die Verwendung der euklidischen Elemente, dies aber nicht schematisch. Nicht die begriffliche, »tote« Form der Kugel, des Zylinders etc. war gemeint, vielmehr die vorsichtige Annäherung, die seine Bildhauerhand gefunden hatte und die Erinnerungen an Naturformen zuließ, an Kopf, Rumpf, Vögel, pflanzliche Stiele etc. Was er bei der Arbeit aufzudecken versuchte,

war etwas wie das Euklidische im Organischen, d. h. die ewige Ordnung mit ihren unendlichen Nuancen. Die Sehnsucht nach den Grundformen veranlasste ihn ein Leben lang zur Wiederholung der gleichen Motive, Abweichungen variierend. Die zweite Erfahrung: Einfache euklidische Formen, nebeneinander aufgestellt und zu Türmen aufeinander gestapelt, können Zwischenräume artikulieren, die eine eigene Schönheit entwickeln. Im gestalteten Nebeneinander zeigte sich, dass die körperlichen Massen in den Raum ausstrahlen, dass Zwischenräume eigene Qualitäten haben und dass der Körper des Betrachters in diese räumliche Spannung einbezogen ist. Schon feine Verschiebungen haben beim Erlebnisverlauf starken Einfluss auf diese Qualitäten. Brâncuői wurde nicht satt, diese Qualitäten und Veränderungen fotografisch zu dokumentieren. Es entstanden umfangreiche Fotoserien in schwarz-weiß. Bei der Arbeit des Arrangierens und Fotografierens wurde ihm klar: Die Qualitäten der einzelnen

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Ein Bildhauerwerk als Vorbild für Architektur verstehen.

Figuren und ihrer Zwischenräume, konkret voneinander abhängig, waren durch feine Korrekturen zu verbessern. Die dritte Erfahrung gründete in der Beobachtung des Sonnenlichtes beim Wechsel der Tages- und Jahreszeiten. Morgens werden die Volumina vom Betrachter anders erlebt als mittags etc. Die Bedingungen der Natur als zeitlicher Kosmos haben Einfluss auf die Erscheinung der Körper. Diese drei Bildhauer-Erfahrungen haben Brâncuőis Werk geprägt. Er hat sie artikulieren können durch seine Arbeit als Fotograf; die Ergebnisse zeigen seine Lehrmeinung über Skulptur und Architektur gleichermaßen. Eine Aufgabe für experimentelle Architekturlabors Wir können Brâncuőis Erfahrung mit Fotografie als eine Art von Modelldenken betrachten. »... Formen und Gestalten, die man versetzen und jonglieren kann in einem Experiment, das sich weitet...«* Die gebauten Solitäre in der Architektur

von Shanghai, Peking, Tokyo, Dubai etc. sind heute nur selten im Hinblick auf ihre Nachbarschaft gestaltet; ihre Nebeneinanderordnung ist meistens unter zufälligen Besitz-Aspekten entstanden; ihr »Collage-Charakter« folgt dem Diktat der ökonomischen Werbung; unter ästhetischen Aspekten ist sie meist dumm und naiv. Brâncuőis Anregung zielt darauf, die gestalterische Ausprägung der Solitäre und ihren Zusammenhang, d. h. die Artikulation der Zwischenräume, experimentell zu erforschen. Unter kapitalistischen Bedingungen der Entstehung sind »Labor-Versuche« dieser Art allerdings unmöglich; Einsichten in ästhetische Aspekte wären zwar erreichbar, nicht aber praktische Konsequenzen, d. h. eine nachdrückliche Änderung einer privaten Planung im Hinblick auf das öffentliche Interesse. Es gibt keinen Gestaltungsbeirat mit Genehmigungsbefugnis. Selten gibt es Gegenbeispiele, so z. B. in der chinesischen Megastadt Xian, 8 Millionen Einwohner, deren Bauverwaltung über die verschiedenartige Charakteristik ihrer Stadtteile wacht. Sie plant seit Jahren

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auf der Basis von Studien ihrer eigenen Akademie, Großmodellen etc. nicht nur Verkehr und Stadtgliederung nach funktionalen Kriterien, sondern auch die ästhetische Gestaltung von Großformen und deren räumliche Zusammenhänge. Diese Studien werden staatlich gefördert und legitimiert; ihre Ergebnisse sind die Grundlage für die Genehmigung einzelner Projekte. So wird es möglich, die Stadtsilhouette zu formen, die Köpfe der Hochhäuser aufeinander abzustimmen etc., Einfluss zu nehmen auf Höhen, Abstände und Zwischenräume. Häufig versucht man allerdings im asiatischen Raum, den gestalterischen Reichtum bei der Stadtentwicklung durch die Präsentation einzelner Bauten zu steigern, die auf Entwürfen aus eingeladenen westlichen Büros beruhen. Sie sind fast nie in ihre Nachbarschaften sinnvoll eingefügt; vielmehr gesteht man ihnen meist aus falsch verstandenem Respekt Sonderstellungen zu und kokettiert mit ihrem Ausnahme-Charakter. Das mag für öffentliche Bauten hier und da verständlich sein, entspricht aber durchaus nicht der im konfuzianischen

Kulturbereich üblichen Bescheidenheit des Einzelnen im Zusammenhang seiner Gemeinschaft. In umgekehrter Richtung belehrend wäre die Einführung experimentell arbeitender Architekturlabors mit staatlicher Unterstützung in den Megastädten der westlichen Welt. Solche Einrichtungen, möglicherweise an Hochschulen angeschlossen, wären im Sinne Brâncuőis »Architektur-Werkstätten«. Sie würden ästhetische Aspekte gebauter Nachbarschaften erforschen; ihre Arbeit sollte eine Vorbedingung für die Genehmigung einzelner Projekte sein. Lernen von Brâncuųi Eine Theorie der Baukunst, die von Brâncuőis Methode ausgeht, würde einen neuen Schönheitsbegriff benutzen. Im Mittelpunkt der entwerferischen Idealisierung stände nicht mehr ein fertiges Werk, ein noch so gut gestaltetes Bauwerk oder eine Gruppe davon mit Abständen für die Körperbewegungen der Nutzer im öffentlichen Raum. Vielmehr wäre die Stadt ein komponiertes Gewebe aus Blickschneisen, Aktionsräumen und Bewegungslinien, das durch die Zusam-

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menstellung der Baukörper geprägt wird und dabei eine Fülle von vorgeprägten Varianten zulässt. Sowohl die Formen als die Vorgänge müssen gestaltet sein. Die Formen der Gebäude und die Erlebnisvorgänge (Verweilen, Blicken, Gehen, Fahren) sind gestisch aufeinander bezogen. Die figurative Spannung der gebauten Dinge und die Bewegungsfolgen der Nutzer reagieren aufeinander. Die gebauten Zwischenräume sind die Bühnen, die auf ihre »Tänzer« reagieren. Sie prägen ihre Körperbewegungen, sie gehören zum Rahmen ihrer Aufmerksamkeit, zum Raum ihrer Leiber. Ähnliche Forderungen waren gemeint, als man in der Barockzeit den Nolli-Plan, ausgehend von Giovanni Battista Nollis (1692–1756) La Pianta Grande di Roma von 1748, zur Notation für die städtischen Räume vorschlug: einerseits um die plastische Qualität der Baukörper im Zusammenhang zu steigern, andererseits um die Innenräume der Stadt (Strassen, Plätze, Innenhöfe etc.) als zusammenhängendes System zu verbessern. Camillo Sitte (1843–1903) liebte diese Interpretation, die er für Wien vorschlug.

Man könnte die Methode des Brâncuői, verstanden als ein solches Wahrnehmungs- und Aktionsmodell, durchaus als Fortführung der Nolli-Plangeschichte verstehen. Leider droht der überbordende Individualismus der demokratischen und kapitalistischen Staatsformen jede noble Geste der Nachbarschaftlichkeit zu korrumpieren. Die freiheitlichen Gesellschaftsformen der Gegenwart sind dafür (noch) nicht reif.

* Constantin Brâncuői. In: The Dial (New York), LXXXII (1927), S. 129. Dt. in: Bach, Constantin Brâncuői.

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Hans Dieter Schaal. Literarische und graphische Architekturmodelle. 328

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Sollten diese fast journalistischen Arbeiten »Modelle« darstellen, sind da nicht allzu viele Bezüge miteinander vermischt, Literatur, Architektur und Zeichnung? In der Tat: Es handelt sich um Zeichnungen, schwarz auf weiß, Tusche auf Papier, von denen es im Werk dieses Architekten, Bühnenbildners und Zeichners wohl mehrere tausend gibt, die sich allesamt auf Architektur beziehen; es sind kleinmaßstäbliche Skizzen zu räumlichen Anordnungen, manche davon durchaus baubar. Ihr Reiz liegt aber gerade in ihrem fragmentarischen Charakter und der Überlagerung der Disziplinen. Ihre Titel heißen z. B Negativhaus, Ruinenhaus, Heckenburg, Felshäuser, Liegende Hausfassaden, Strohhäuser, Glasburg, Traumhaus etc..

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Sie deuten mit witziger Attitude jeweils eine Frage an, eine Erinnerung, oft auch ein Problem oder eine Unmöglichkeitssituation. Die Zeichnungen zeigen Hausformen mit seltsamen Aussparungen, mit der Silhouette von Ruinen, eine aus Hecken gewachsene Burg etc.. Die Formen erfüllen meist die Erwartung, die der literarische Titel benennt, auf skurrile Weise; sie überraschen den Betrachter, den Leser und bringen ihn zum Schmunzeln. Das hat zweierlei Gründe, die einander widersprechen. Erstens verzichtet Hans Dieter Schaal, ihr Erfinder, nie auf einen wissenschaftlichen Hintergrund, d. h. er nimmt sein Motiv aus der Welt rationaler Begriffe. Haus, Burg, Bogen, Platz etc. sind fachlich korrekt zitiert, die jeweilige Variation bezieht sich auf den begrifflichen Typus, sie scheint aus einem Katalog entnommen. Zweitens präsentiert er aber einen poetischen Einfall, der ungewöhnlich, ja unbekannt und phantastisch ist. Man hat eine solche Variante nie gesehen, obgleich sie durchaus zu der angesprochenen Formenfamilie gehört. Der Künstler

nimmt sich nie gekannte Freiheiten, indem er neue, unbekannte Vorstellungen heraushebt. Darin liegt der überraschende Coup; der wissenschaftlich korrekte Begriff wird durch eine poetische, unerwartete Vorstellung neu gefüllt. Das Kokettieren des Poeten mit wissenschaftlicher Systematik einerseits, das des Systematikers mit poetischer Phantastik andererseits macht die Schnittstelle zweier Möglichkeiten von Präsentation zu einer Ideenbühne von hohem Reiz. Selbstverständlich sind Darstellungstechniken dabei erwünscht, die Widersprüche aufzeigen können, begrifflicher Text und atmosphärischer Strich, an der Schiene und mit der Hand Gezeichnetes, Erinnerung an Banales und zugleich Beschwörung von Monumentalität. Indem der Zeichner seinen Einfall in Serien variiert, geschieht es häufig, dass die semantische Dimension in der Abwandlung des Motivs spielerisch aufgehoben und verzerrt wird. Historische Attitüden kippen in modernistische, philosophische in banale um; an die Stelle erhabener Formen tritt bei der gleichen geometrischen Form plötzlich

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Das ironische Spiel mit gezeichneter Architektur.

das Bild von Schweizer Käse. So entsteht durch phantasievolle Variation aus belehrender Haltung Humoriges, aus wissenschaftlichem Ernst kindliche Freude, aus kindlicher Freude Makabres. So heißt es z. B. in einer Variationenkette: »Bettenträume, Traumbetten, Alptraumbetten? ..., Langsam versinken die Betten in der Erde ..., sie werden zu ewigen Betten, zu Gräbern ...« Vor dem Hintergrund der Darstellungsakrobatik bei den Architekturthemen, die jedermann täglich in Printmedien, Film und Internet findet, zeigt sich in Schaals Werk, wie sehr die reale Architektur im Alltag von virtueller infiziert wird. Kuriose Bilder, historische Anspielungen und Zitate, ironische Verzerrungen und vielerlei poetische Assoziationen werden in die Szenerie der Großstädte einbezogen, meist im Sinne einer Werbung und mit ökonomischem Kalkül. Wie bei Schaal werden die ästhetischen Schemata der klassischen Moderne, wo sie auch immer noch spürbar werden, von Träumen umspielt und von ökonomischen Idealen verbogen. Wie erholsam, wie schön – und wie

selten: In Schaals Welt kommt Lachen vor, aber nicht naiv, nicht eigentlich komisch. Eher wie ein Kopfschütteln, zur Erholung geeignet. Aus dem Bücherturm eines feinsinnigen Beobachters winkt das Kauzige.

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Modelle für Netzwerke und Membranen. 332

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Die Natur als Modell für Menschengemachtes, das ist ein uraltes, antikes Arbeitsmotiv, in Europa vielleicht das bedeutendste für die Entwicklung von Technik und Kunst. Die Sprache der Götter wurde in der Natur aufgesucht; was könnte näherliegen, als Göttliches als »Ideenmaterial« für kreative Arbeit zu benutzen, Nachahmung auf höchster Ebene! Vor allem waren die erkennbaren Ordnungsschemata gemeint, die mathematischen Gerüste, die schöne Geometrie, die bedeutenden Zahlen. Diese Überzeugung von der Harmonie des Naturkosmos blieb das ganze Mittelalter hindurch und bis in die Neuzeit erhalten. Ihr ganzheitlicher Zusammenhang ist selbst bei der Erfindung der neuen Zahlensysteme durch Leibnitz

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und Newton immer noch mitgemeint, wenn auch ihr unmittelbares Erlebnis in der Wahrnehmungswelt allmählich verloren ging. Die digitalen mathematischen Maschinen der modernen Klimatologie z. B. arbeiten ganz unanschaulich. Umso bedeutender fallen, 2500 Jahre nach Pythagoras und 500 Jahre nach Leonardo a Vinci, die Versuche einfallsreicher Tragwerkingenieure auf, bestimmte Naturformen als Arbeits-modelle zu interpretieren, z. B. die Netze der Opuntienspinne Cytrophora, deren Struktur um 1980 vom Stuttgarter Atelier Frei Otto »gelesen«, verstanden und z. B. beim Auftrag Voliere Tierpark Hellabrunn, München, angewendet wurde. Ihre Grundfläche ist, der Umgebung entsprechend, völlig frei geformt; ein offenes Netz aus Edelstahl wurde an 10 Masten beweglich aufgehängt, dem Netz der Spinne analog. Die Ergebnisse der natürlichen Evolution wurden von erfinderischen Technikern in die monumentalen Dimensionen des Industriezeitalters übersetzt, vor allem die Anpassung der Gesamtform mit ihrer extremen Dehnfähigkeit.

Seit 1962 wurden im Institut für Leichte Flächentragwerke Gitterschalen und Netze der Natur nachempfunden und nachgebaut, zuerst als Labormodelle mit Fäden, Drähten, Stäbchen, offen und fest eingedeckt oder durchsichtig, durchscheinend umhüllt. Einige davon wurden später in den Architekturmaßstab 1 : 1 übersetzt. Der größte realisierte Bau war die Multihalle Mannheim, 1975, eine Holzgitterschale mit durchlaufenden Stäben und textiler Eindeckung, 80 m Spannweite und Maschenweite 50/50 cm. Beim Beginn der klassischen Moderne war besonders Gottfried Sempers (1803–1879) Theorie über die 4 Elemente der Baukunst und das Prinzip der Bekleidung der Anstoß, sich textile Gewebe und Mattengeflechte als archaische Bauwerkhüllen vorzustellen; Kleidung und Mode wurden als Urformen der Baugeschichte verstanden. Natürliche Häute und Gewebe, Vliese und Filze waren die Füllungen in der Struktur ihrer Ummantelung. Dazu gehörten auch die Wände als Gitter und vielerlei Zelte als Bedachung. Die Ingenieure der

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Die Natur nachempfinden. Seit der Antike.

1960er- und 1970er-Jahre, Konrad Wachsmann, Richard Buckminster Fuller, Max Mengeringhausen und Frei Otto die berühmtesten, versuchten mit Erfolg, »Minimalflächen« im Sinne der Natur im Labor zu simulieren; das sind die Flächen mit optimaler Übereinstimmung von Form, Kraft und Masse. Mit Seifenblasenmodellen konnte man exakt, mit Textilmodellen annähernd architektonische Idealformen entwickeln, die den abertausend Naturformen durch Analogie entsprachen. So wurde ein unendliches Feld von Gestaltungsmöglichkeiten eröffnet, das bei aller Offenheit für den Zufall doch Sinn und mathematische Ordnung zeigt – wie es den Vermutungen der griechischen Antike entspricht. Die schönen Arbeitsergebnisse, auch die der nachfolgenden Ingenieurgeneration, Torroja, Calatrava etc., zeigen ebensoviel sinnlichen Reichtum, ebenso reiche Wahrnehmungsvielfalt wie geistvolle Ordnung, Nähe zur Mathematik. Die Resonanz dieser leichten Architekturformen bei Nutzern und Genießern beruht sicher zunächst auf dem positiven

Körpergefühl, das leichte Häute und durchsichtige Netze auslösen. Sie heben sich ab von der Härte des Betons, von der allzuschweren Last der gebauten Dunkelwelt. Sind doch die Räume der Zivilisation, nicht nur der Straßenraum und der unter ihm versteckte Tiefbau, stimmungs- und herzbelastend. Netze und Häute dagegen erinnern an den eigenen Körper; sie laden zur Heiterkeit ein, zum Fliegen.

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Thomas Schütte und die »Düsseldorfer Denkmodelle« 336

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Beunruhigt durch Gefühle der Bedrohung im Alltag, Luftverschmutzung, Wassernot, Lärm, Atomgefahr etc., begannen einige empfindliche Schüler des Meisters Gerhard Richter, Kunstakademie Düsseldorf, Häusermodelle auszustellen, die ihre Betrachter durch ihre karge Gestik nachdenklich machen sollten. Vielleicht könnte die Kunst ja doch Einfluss haben auf soziale Qualitäten, wenn es um die Minima der Existenz geht. »Wie viel braucht der Mensch? Was kann Architektur noch leisten, wenn es um Schutz und Rückzug geht, die einfachsten Bedingungen des Überlebens?« So z. B. Thomas Schütte und Ludger Gerdes (1954–2008),

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die wechselnd mit Holz und Blech, Klebe-, Nagel- und Schweißverbindungen arbeiteten und Stutzen, Rohre und Fertigdetails technischer Klimakanäle benutzten, Details, deren Sprache an die Arbeit der Installateure angelehnt war. Aus dem Protest entstand so ein Vokabular von Zitaten, das an handwerkliche Arbeiten für den Alltag erinnerte, zugleich aber an die Ohnmacht der Technik angesichts der Weltgefahren Lärm, Schutzlosigkeit etc. Wenn schon die Rettung der Zivilisation durch reale Architektur sich in den Augen der Künstler als unmöglich erwies, sollten wenigstens Erinnerungsmodelle den Alltag repräsentieren, in dem das heile Wohnen aufgegeben wird und die Ohnmacht des Alltags zutage tritt, erst recht der mühsame Versuch, elementare Qualitäten der Baukunst in die Gegenwart zu retten. Schütte zeigte Serien von »Denkmodellen«, die auf sinnvolle Funktionalität anspielten, Details der Lufttechnik z. B., die allerdings das Erdklima nicht mehr retten können. Gerdes versuchte,

an archaische Formen der Baukunst zu erinnern, die sogar in Silhouetten noch abrufbar sind, aber vom Alltag abgeschottet bleiben. Das aktuelle Leben der Stadt ist nicht mehr korrigierbar durch fundamentale Ästhetik; sie ist in der Geschichte erstarrt. Das Unternehmen »Denkmodelle«, seit 2003 öfters ausgestellt und dokumentiert, ist etwas wie ein einsamer Aufschrei geblieben, der die GegenwartArchitektur hilflos kommentiert, aber keinerlei Einfluss auf ihre Macher und Auftraggeber gewonnen hat und zudem selbst in den esoterischen Formen der Museumskultur verschwindet. Auch schreckliche Erkenntnisse der Menschheit, die die Irrwege des Lebens bis auf die Knochen bloßlegen, sind immer, in schönen Formen dargestellt, wirkungslos geblieben, im Mittelalter wie heute. Die Signale der Not, die aus dem Raum der Kunst den Alltag erreichen, sie werden seit eh und je neutralisiert durch ästhetische Qualitäten. Das gestalterische Potenzial wirkt kontraproduktiv; der Aufschrei wird ja

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Die bürgerliche Normalität verlassen. Die einzige Chance.

erträglich durch seine schöne Gestalt. Die Suche nach schöner Gestaltung, die aus Architekturmodellen entwickelt werden kann, insbesondere auch die Bereicherung der Augenwahrnehmung durch ungewöhnliche Tiefenerlebnisse, ausdrucksvolle Maßstabsverzerrungen, Kulissen- und Materialwirkungen und dergleichen hat bisher fast alle Versuche von Künstlern bestimmt, die den Architekturraum befragen. Die Aufmerksamkeit der Architekten wird meist durch bittere Kritik in Möglichkeitsräume gelenkt, die das Zeug haben, einmal den Alltag zu bereichern. Kann Architektur zum Bespiel den gefährdeten Körperraum retten, den Nahraum des Leibes? Die elementaren historischen Formen, können sie nicht doch in die Gegenwartsarchitektur eingebettet werden? Und: Moderne Technik mit ihren Materialien und Details – sie könnte und sollte die Szenen einer sinnvollen Erinnerungsarchitektur bereichern. Aus dem Fundus der Architekturmodelle lassen die Künstler Denksituationen

aufsteigen, deren Herkunft aus dem Spiel ungeniert Gefühle und Träume einbezieht, längst Vergessenes und Tabus. Gerade der Abstand von den »normalen« Bauaufgaben öffnet die Räume der Angst und der Lust, die Weite der Phantasie.

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Die Metropolen der Erde. Museen unserer Zivilisation. 340

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Tokyo ist von 1994 bis 2015 von 26,5 auf 28,7 Millionen Einwohner gewachsen, Bombay von 14,5 auf 27,4, Lagos von 9,7 auf 24,4, Shanghai von 14,7 auf 23,4 Millionen. Zwar beobachten wir in Amerika wie in Europa eine deutliche Re-Zentralisierung der Siedlungs- und Industriegebiete, d. h. eine Tendenz zum Wohnen und Arbeiten in Randstädten, sogenannten »grünnahen Wohnumfeldern«; gleichzeitig aber zeigt sich, dass die gesamte Weltwirtschaft auf einige wenige Hyperzentren konzentriert ist, New York, London und Tokyo, daneben vielleicht Paris, Frankfurt a. M., Berlin, Zürich, Amsterdam, Sidney, Hong Kong, Mexiko City und São Paolo. Diese Mega-Cities sind die Zentren von Kapital und ökonomischer Kontrolle, die

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seit eh und je einhergeht mit kultureller Blüte. Schon in der Frühzeit der Menschheitsgeschichte, etwa in Xian, China, um 3.500 v. Chr. und in Babylon, Persien, um 2.500 v. Chr., kristallisierten sich die zivilisatorischen Fortschritte der Städte. Sie zogen die Menschen magisch an und boten der idealen Gesellschaft einen Rahmen. Bei der Darstellung der neuen Lebensformen wurden die Normen der Wahrnehmung, des Verhaltens, erfinderischer Kreativität etc. vorgeführt. Deshalb ist die Geschichte der Stadtentwicklung weitgehend identisch mit der Geschichte der Zivilisation.

das heimatliche Revier hinaus als Ideal wirkte. Das Leben in der Stadt bekam Modell-Charakter, geschaffen zur Nachahmung; d. h., die Stadt wurde zur Bühne der Kulturlandschaft ringsum, zur Probebühne, zum Testgelände. Neben dem Bekannten stand Unbekanntes; das Utopische gehörte zum Stadtbild. Das galt damals wie heute; man denke an den Turm zu Babel und an den Eiffelturm in Paris. »Neue« Aussagen lagen dabei immer im Widerspruch zur Tradition; aber sie berührten und berühren mit ihrer Aufforderung oft die utopischen Wünsche einer erweiterten Gesellschaft, ja der ganzen Menschheit.

Schon bei den frühesten Beispielen der Entfaltung großer Städte zeigt sich, dass utopische Züge deutlich werden; sie zielten auf neuartige Rituale und Denkmuster, die auf die Gemeinschaft Einfluss haben sollten, weit über die landesüblichen Lebensformen hinaus. Die gewohnten Muster und Rhythmen der überkommenen Kulturlandschaft ringsum, Sprache, Umgangsformen, Kleider, Werkzeuge und Bauformen, wurden veredelt und verwandelt, auf ein neues Niveau gehoben, das über

In diesem Sinn können auch die Museen ähnlich wie die exotischen Angebote von zoologischen und botanischen Gärten einer Stadt als pädagogische Einrichtungen verstanden werden, die den Lernhorizont der Bewohner anheben und mit den Interessen der Menschheit vertraut machen. Die Metropolen selbst, verstanden als Museen der Zivilisation, zeigten allerdings auch immer die soziale Spannung, aus der die Demonstration des Fortschritts, das Vergnügen und die Belehrung, her-

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Gruppen von Ordnung einerseits, Formensalat andererseits. Städte als Museen.

vorgingen. So ist das bürgerliche Paris, auf dichtem Raum und angesichts der Spuren der französischen Revolution, der Untergrund, aus dem sich der Eiffelturm wie eine globale Geste erhebt, ein sichtbarer Triumph der Technik. Über französisches, ja europäisches Denken hinaus wird ein Menschheitstraum sichtbar, ja körperlich erlebbar. Bis heute zeigt sich bei jedem Besuch, dass die technische Industrie das Zeug hat, der Menschheit einen Höhenrausch zu vermitteln, der das Gemüt schweben und fliegen lässt. Eine neue Welt hat in einem Merkzeichen der Großstadt ihr Bild gefunden. Inzwischen wandert das ästhetische Vokabular der architektonischen Moderne um die Erde. Das Formenarsenal der frühen Lehrer, Le Corbusier, Walter Gropius etc., wird in allen Erdteilen benutzt; es »gehört« der ganzen Menschheit. Es durchsetzt in allen Megastädten der Erde die Szenen der jeweiligen Landeskultur, repräsentiert die »Moderne« und behält weitgehend den Charakter einer kulturübergreifenden Formensprache. Die größten Bedenken kommen dem Reisenden, wenn er – besonders in den

asiatischen Metropolen – die willkürlichen, spielerischen Entgleisungen der Entwerfer wahrnimmt, die weder das Reglement der jeweiligen Landeskultur, ihren »Genius Loci«, kennen noch die Disziplin der frühen, klassischen Moderne, die lediglich ihrer individuellen Willkür folgen und lediglich auf die Einflüsterung ihrer Auftraggeber achten. Das erweist sich in den meisten Fällen als unwürdig. Der sich international ausbreitende »Formensalat« verwüstet sowohl die traditionelle Atmosphäre als auch die Noblesse der internationalen Moderne. Beides aber muss in Spannung zueinander gepflegt werden, das traditionelle Bauen mit seiner Verankerung in den örtlichen Materialien und Handwerkstechniken, Formtypen und Details einerseits und die Ausbreitung der Moderne mit dem klassischen Vokabular ihrer internationalen Sprache andererseits. Beide Haltungen, ausdrucksvoll vorgetragen, können sich gegenseitig steigern. Aber der individuelle Wildwuchs architektonischer Formen verwässert die Chancen der positiven Spannung, die die Architektur der Gegenwart charakterisieren könnte.

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Die Welt geht uns verloren. Modelle aber vermehren sich inflationär. 344

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Die Welt als Erlebniswelt – gehört sie nicht ganz und gar unseren Leibern!? Wir sehen, hören, tasten und riechen, wir nehmen die Szenen um uns und in uns mit unseren Sinnen wahr; alles ist einmaliges Ereignis, alles ist Gegenwart. Und doch liegt in aller Gegenwart auch das andere, nicht Gegenwärtige. Es ist, als beziehe jede Gegenwart sich auch auf Mitgemeintes; in jedem Erlebnis von jetzt und hier liegt, wie Plato das nennt, Ideenhaftes, das ihm zugrunde liegt. Auch das Einmalige sehen wir nicht zum ersten Mal, auch im plötzlichen Ereignis klingt etwas an, das wir kennen, in jedem Windstoß ereignet sich eine Wiederholung. Wir können nicht anders, als vermuten, dass das was jetzt geschieht, mit früheren und mit möglichen späteren Vorgängen und mit Wissensstrukturen zu tun hat, dass es einen zeitlichen Weltzusammenhang gibt. Wegen dieser Verweisungen haben die meisten Dinge und Vorgänge für uns »Modellcharakter«. Wir können sogar die Geschichte der Kultur als eine nie endende Kette von aufeinander folgenden »Modell-Situationen« verstehen. Wer hat damit begonnen, in sinnlichen

Materialien eine Ordnung zu sehen? Wann wurde eine Komposition zum ersten Mal als bedeutend empfunden? Wo wurden welche Wiederholungen gepflegt? In diesem Sinne ist die Geschichte der Zivilisation, auch die Geschichte der Kunst, eine Geschichte der Modelle, man könnte sagen, der weitergereichten Empfehlungen. Modelle, Holzmodelle im Design, aber auch Wissenschaftsmodelle, textilische wie verbale, politische, technische und handwerkliche Modelle sind Werkzeuge zur sinnvollen Vervielfältigung, Vorlagen für produktive Arbeit, also Muster. Wissenschaftler sind geübt, ihre Gegenstände aus der individuellen Erlebniswelt abzuziehen und ihrer besseren Manipulierbarkeit wegen als Zeichensysteme zu betrachten. Erst wenn ein Katalog von Zeichenelementen und systematischen Verbindungen zur Verfügung steht, ist eine Wissenschaftssprache brauchbar, erst dann kann sie zur Befragung der Phänomene dienen. Modelle sind also Werkzeuge zur Verständigung. Sie helfen, zukünftige Situationen zu ordnen, ob wir nun an wissenschaftliche

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oder technische Labors, Architektur, Design, Handwerk oder Mode denken. In der Industrie hat der Umgang mit Modellen gewaltige Dimensionen angenommen, sowohl in der Produktion als auch bei der Werbung. Unvorstellbare Geldsummen werden – z. B. in der Auto- und der Pharma-Industrie – in die Entwicklung neuer Produkte investiert. Auf dem Weg zum Produkt werden viele Arten von Modellen, anschauliche und unanschauliche, Bilder, räumliche Figuren, mathematische Schemata, Knotennetze oder handliche Probestücke, in verschiedenen Maßstäben erfunden und eingesetzt. Hochqualifizierte Spezialisten arbeiten in den Vorstufen der Produktion; sie alle sind »Modellbauer«. Mehr und mehr werden Material-Modelle ersetzt durch Computersimulationen; aber trotzdem werden handgemachte, körperlich erlebbare Modelle in Zukunft auch in allen technischen Spezialgebieten erforderlich sein, denn die Komplexität in der Wahrnehmungsfähigkeit des Leibes, die »Intelligenz des Leibes«, ist durch Geräte unerreichbar.

Im weiten Sinne arbeiten Millionen Facharbeiter, Ingenieure, Logistiker und Umwelttheoretiker an Modellen von vielerlei Art. Sie bewegen sich auf einer Denkebene mit Künstlern, sind in ihren Fächern hochqualifizierte Pädagogen und Erkenntnistheoretiker und werden hochbezahlt, denn sie sind unentbehrlich. Durch den ökonomischen Kreislauf der Produkte, die probeweise entworfen, hergestellt, verkauft, verteilt und verbraucht werden, ist die technische Produktion ins Gigantische angeschwollen. Sie befriedigt nicht nur die Nachfrage nach jeweils neuen Serien und Einzelstücken; sie überschüttet die Werkstätten zugleich mit einer Überfülle von Vorschlägen nicht gewählter, aber möglicher Entwicklungen. Der Luxus unendlicher Waren- und Wahlangebote kommt gerade durch Stau und Ansammlung von überflüssigen Modellvarianten zum Ausdruck. Dieser Kreislauf färbt wiederum auf Kunstproduktion und Wissenschaftsbetrieb ab. Kunstwerke sollen einzigartig und wiedererkennbar sein; zugleich gibt es bei Unis mehr und mehr den Trend zur Ideenbörse für serielle Anwendung. Beide Ent-

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wicklungen könnten sich als verhängnisvoll erweisen, will doch Kunst an den Rändern der funktionalistischen Umwelt nach dem Neuen und Ungeahnten tasten; soll doch Wissenschaft nach Erkenntnis fragen, ob ihre Ergebnisse auf käufliche und serielle Produkte anwendbar ist oder nicht. Die Lebensentscheidung der meisten Künstler wirkt vor diesem Hintergrund zwiespältig, ja zerrissen. Einerseits wollen sie nicht auf ihre subjektive Selbstbehauptung verzichten; manchmal stilisieren sie ihr Selbstverständnis mit Arroganz in Konflikte hinein, ja bis zur Erstarrung in Denkmal-Habitus; andererseits sehen sie sich häufig gezwungen, in Anlehnung an die merkantile Welt ihr ästhetisches Angebot als ein wiedererkennbares Sortiment lebenslänglich beizubehalten. Modelldenken kann auch für Künstler nützlich sein, neue Wege der Kommunikation öffnen und andere Arten der Begegnung ermöglichen. Im Zeitalter der Hyperproduktion von Warenwelt, Wissenschaft und Kunst tritt für alle Beteiligten eine ähnliche Arbeitssituation ein; sie zwingt

zur forcierten Herstellung immer neuer Modelle, während gleichzeitig die Qualität der sinnlich erlebten Wirklichkeit mehr und mehr zurücktritt. Es ist, als ginge die Welt als Erlebnisraum verloren, die Welt der Modelle aber weitet sich aus ins Inflationäre.

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Über Modelle. Zum Schluss eine Vermutung. 348

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Modelle, welcher Art auch immer, verfügen über einen besonderen Zauber, der in die Zukunft verweist. Das macht ihre eigentliche Bedeutung aus gegenüber einfachen Objekten der Wahrnehmung, physikalischen Vorgängen etc. Sie sind Konstrukte mit einem utopischen Kern; sie helfen besonders unserem Erfindergeist weiter, indem sie über die Gegenwart hinausdrängen. Sie sind für unsere kreative Phantasie reizvoll. Sie haben das Zeug von Kunstwerken und führen ihren Betrachter, sollen wir ihn Nutzer nennen?, in eine Ideenlandschaft hinein, ein Versprechen, freilich ohne Garantie auf Erfüllung. Der Umgang mit ihnen ist ahnungsvoll, aber unsicher und abenteuerlich. Modelle als Wunschbilder zu benutzen, ist wie auf Reisen gehen, auf Bildungsreisen, Eroberungsreisen. Später wird man ein anderer sein. Insofern ist das Modelle-Benutzen ein Abenteuer im Hinblick auf unser Selbst, das auf der Suche nach seiner Eigen-Art ist. Fast nie wird die Erwartung erfüllt; das Ergebnis ist bei jedem Versuch überraschend.

Zur Zeit der Entfaltung der Moderne, bei Descartes, Leibnitz und Newton, waren Erfindung und Entdeckung meist mit Ingenieurdenken verbunden, nicht nur in den Naturwissenschaften und bei der Philosophie, auch in den Künsten, auch bei den Projekten der Architekturtheorie. Man legte Wert darauf, dass die erfinderischen Phasen der Arbeit möglichst stark von Rationalität durchsetzt waren. Frühe Avantgarde-Künstler des 20. Jahrhunderts, z. B. unter den Malern die Pointillisten Alfred Sisley und Paul Signac, haben versucht, den Meister Paul Cézanne bei ihren Besuchen in Aix-en-Provence nicht nur von ihrem persönlichen Werk, sondern von einem System der Malerei zu überzeugen. Im Bauhaus gab der Meister Hannes Meyer in der Architekturklasse die Parole aus, der Entwurf müsse im Grundriss »errechnet« werden, und empfahl einen dazu passenden Katalog von Elementen und Planungsregeln, verbunden mit der Aussage, ideale Architektur könne nur durch deren Kombinatorik verwirklicht werden. Bei der Arbeit waren Gefühle obsolet, nicht nur die Stimmungen der Entwerfer, sondern auch die Stimmungen

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der Nutzer. Gewiss: Gleichzeitig wurden auch ganz andere erkenntnistheoretische Ansätze vorgetragen, poetische, romantische, auch im Bauhaus. Selbst Walter Gropius wandte sich mit Grausen von Meyers Radikalität ab. Aber technoide, rationalistische Methoden setzten sich nach den Weltkriegen nicht nur in Design und Architektur durch; sie waren auf verhängnisvolle Weise mit Machtinteressen politischer und ökonomischer Art verbunden. Die Gestaltung von Lebensformen und Leibkultur geriet bei den Entwerfern wie bei den Bewohnern in ein ohnmächtiges Abseits. Inzwischen haben Computer das Arsenal der übrigen Entwurfswerkzeuge fast verdrängt. Auf den Arbeitstischen der Architekten und Designer liegen kaum noch Holzklötzchen und Tonklumpen, zerknittertes Papier und Herbstblätter, Muscheln und Zettel mit handschriftlichen Bemerkungen. Die Rationalität und Ökonomie, die der Bildschirm suggeriert, ist kein Spielfeld für die tastenden Finger; und der Sehraum wird selbst in seinen phantasievollsten Ausprägungen zweidimensional reglementiert.

Höchste Zeit, dass die heilsame, vielfältige Welt der sinnlichen, handlichen, körperlich spürbaren Modelle wiederentdeckt wird, die doch, anthropologisch gesprochen, höchste Fähigkeiten und Möglichkeiten des Menschen aufruft und verfügbar macht, nämlich den Sinn für die poetische Vielfalt der Welt einerseits und die Möglichkeit, praktisch damit umzugehen, andererseits. Leonardo da Vinci schreibt, ebenso wissend wie geheimnisvoll: »Der Mensch und die Welt sind sich sehr ähnlich.« Der vorliegende Spaziergang durch die Welt der Modelle legt eine Vermutung nahe. Beim Auftakt der Moderne beherrschten primär die Modelle mit Ding-Charakter die Aufmerksamkeit, vorbildliche Objekte, die geeignet waren, die Arbeit an einer zukünftigen Wirklichkeit zu erleichtern. Nach meiner Erfahrung treten in neuester Zeit mehr und mehr Gefühlslagen, d. h. atmosphärische Strukturen der Vorstellung hinzu, die, subjektiv sehr differenziert, zum Motor für Traumwelt-Produktion werden. Sie scheinen besonders geeignet zu sein, komplexe Strukturen mit

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unklaren Momenten aufzufinden und darzustellen. Sind doch gerade die Halbwahrheiten, die Risse und Sprünge an den Rändern der Rationalität, bedeutende Gegenstände für künstlerische und wissenschaftliche Arbeit. Die Parallelität zur Entwicklung der politischen Welt ins »Postfaktische«, überraschend spürbar im Zeitalter Trump, ist sie rein zufällig? Der Umgang mit Modellen in Wissenschaft, Kunst und Alltag bezieht bei ihren Erfindern die Sinnlichkeit des Leibes ein. Im digitalen Zeitalter ist gerade die sinnliche Fülle der Erlebniswelt mit ihren Erinnerungs- und Körperbezügen das stärkste Faszinosum, dem sich ein Entwerfer hingeben kann, ebenso betörend wie notwendig. Die Entwicklung von vielschichtigen, sinnlich erlebbaren Arbeitsmodellen öffnet diesen Reichtum der kreativen Phantasie. Offenheit und Neugier sind es ja, was uns von den Tieren unterscheidet, die ja auch bei ihren höchst entwickelten Arten nicht aus ihren vitalen Notwendigkeiten ausbrechen können. Wir Menschen sehnen uns nach dem Neuen. Nicht nur das Lebensnotwendige

steht zur Verfügung, sondern zusätzlich der gewaltige Raum möglicher Konstrukte. Schiller hat ihn Freiheit genannt.

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S. 306/307 Aus: Wikimedia Commons. S. 310/311 H. Voth, Stadt des Orion. Aus: Stadt des Orion. Verl. für moderne Kunst. Nürnberg 2005. Fotos: Ingrid Amslinger. S. 314/315 Aus: Wikimedia Commons. S. 318/319 Anne et Patrick Poirier, Jupiter et les géants. Paysage fouroyé, 1982-83. Aus: Anne und Patrick Poirier, Kat. Electa, Milano, 1994. S. 322/323 Atelieransicht. Foto Brâncuői (um 1927). Aus: F.T. Bach, Brâncuőis Atelier. Drei Mahnungen an die Herren Architekten. DAIDALOS 26, 1987. S. 328/329 Architekturmöglichkeiten projiiziert auf das symbolische »einfache Haus«, archetypisch, verträumt, utopisch. Aus: H. D. Schaal, Architektonische Situationen. Verl. Ernst u. Sohn, 1986. S. 332/333 Voliere, Tierpark Hellebrunn, München 1998. Jörg Griebel, Atelier Frei Otto, Büro Happold. Die Netze der Opuntien-Spinnen der Gattung Cytrophora. Aus: DAIDALOS 29. S. 336/337 Thomas Schütte, The One Man House II, 2003. Modell 1:10. Aus: Was Modelle können. Snoeck. Kat. Museum für Gegenwartskunst. Siegen, 2003. S. 340/341 Aus: Wikimedia Commons.

Uli Meisenheimer Grafik Design