Modalverben in der politischen Argumentation: Eine grammatische, semantische, diskursanalytische, konversationsanalytische und kognitionslinguistische Untersuchung des Modalverbgebrauchs in Bundespressekonferenzen 9783111245263, 9783111245164

Using a corpus of federal press conferences held by German governments (1990 to 2018), this volume examines the use of m

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Modalverben in der politischen Argumentation: Eine grammatische, semantische, diskursanalytische, konversationsanalytische und kognitionslinguistische Untersuchung des Modalverbgebrauchs in Bundespressekonferenzen
 9783111245263, 9783111245164

Table of contents :
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung
2 Korpus und Methodik
3 Die Modalverben
4 Statistikauswertung des Gesamtkorpus
5 Modalverben im Schnittfeld von Grammatik und Diskurs: Zur empirischen Analyse des Modalverbgebrauchs in den beiden Bundespressekonferenzen von 1990 mit Helmut Kohl und von 2013 mit Angela Merkel, Sigmar Gabriel und Horst Seehofer
6 Zur empirischen Analyse des Modalverbgebrauchs I: Die Bundespressekonferenz vom 17.7.1990 mit Bundeskanzler Helmut Kohl zu den Verhandlungen über die Wiedervereinigung Deutschlands
7 Zur empirischen Analyse des Modalverbgebrauchs IIa: Die Bundespressekonferenz vom 27.11.2013 anlässlich des Zustandekommens des Koalitionsvertrags zwischen CDU/CSU und SPD
8 Zur empirischen Analyse des Modalverbgebrauchs IIb: Eine konversationsanalytische und konstruktionsgrammatische Untersuchung des Modalverbeinsatzes von Angela Merkel, Sigmar Gabriel und Horst Seehofer in der Diskussion der Bundespressekonferenz am 27.11.2013
9 Eine kognitionslinguistische Untersuchung von Sätzen mit Modalverben mit Methoden nach Talmy
10 Gesamtfazit
11 Literaturverzeichnis
12 Online-Quellen
13 Anhang: Bundespressekonferenzen im Korpus
Stichwortregister

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Annamária Fábián Modalverben in der politischen Argumentation

Linguistik – Impulse & Tendenzen

 Herausgegeben von Susanne Günthner, Wolf-Andreas Liebert und Thorsten Roelcke Mitbegründet von Klaus-Peter Konerding

Band 110

Annamária Fábián

Modalverben in der politischen Argumentation  Eine grammatische, semantische, diskursanalytische, konversationsanalytische und kognitionslinguistische Untersuchung des Modalverbgebrauchs in Bundespressekonferenzen

ISBN 978-3-11-124516-4 e-ISBN (PDF) 978-3-11-124526-3 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-124538-6 ISSN 1612-8702 Library of Congress Control Number: 2023936796 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2023 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Einbandabbildung: Marcus Lindström/istockphoto Satz: bsix information exchange GmbH, Braunschweig Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com

Inhaltsverzeichnis 1

Einleitung  1

2

Korpus und Methodik  11

3 3.1 3.2 3.3 3.4

3.7

Die Modalverben  14 Ein kurzer Forschungsüberblick zur Kategorie der Modalverben  14 Die grammatisch-semantische Klassifikation der Modalverben  17 Die Klassifikation der Modalverbklassen nach ihrem Redehintergrund  23 Modalverben im Diskurs- und Handlungskontext – Ein diskursanalytischer und pragmatischer Ansatz  36 Modalverben in der Interaktion im Konversationsverlauf  42 Modalverben an der Schnittstelle zur Konstruktionsgrammatik und der Konversationsanalyse  46 Die Rolle der Modalverben in der kognitionslinguistischen Forschung  50

4

Statistikauswertung des Gesamtkorpus  55

5

Modalverben im Schnittfeld von Grammatik und Diskurs: Zur empirischen Analyse des Modalverbgebrauchs in den beiden Bundespressekonferenzen von 1990 mit Helmut Kohl und von 2013 mit Angela Merkel, Sigmar Gabriel und Horst Seehofer  77

3.5 3.6

6

Zur empirischen Analyse des Modalverbgebrauchs I: Die Bundespressekonferenz vom 17.7.1990 mit Bundeskanzler Helmut Kohl zu den Verhandlungen über die Wiedervereinigung Deutschlands  79 6.1 Diskursanalytischer Überblick  79 6.2 Empirische Analyse des Modalverbgebrauchs von Helmut Kohl in der Bundespressekonferenz  82 6.2.1 Die Modalverben im Eingangsstatement von Helmut Kohl  88 6.2.1.1 Die handlungsraumbezogenen Modalverben dürfen, können und müssen im Eingangsstatement von Helmut Kohl  88 6.2.1.1.1 Zwischenfazit zum Gebrauch handlungsraumbezogener Modalverben im Eingangsstatement von Helmut Kohl  99 6.2.1.2 Die zielbezogenen Modalverben mögen, sollen und wollen im Eingangsstatement von Helmut Kohl  101

VI  Inhaltsverzeichnis 6.2.1.2.1 Zwischenfazit zum Gebrauch zielbezogener Modalverben in dem Eingangsstatement von Helmut Kohl  108 6.2.2 Der interaktionale Gebrauch von Modalverben in den Redebeiträgen von Helmut Kohl in der Diskussion mit den Journalist/inn/en  110 6.2.2.1 Die handlungsraumbezogenen Modalverben dürfen, können, müssen und die zielbezogenen Modalverben mögen, sollen und wollen in den Redebeiträgen von Helmut Kohl in der Diskussion mit Journalist/inn/en  111 6.2.2.2 Konstruktionsgrammatische Überlegungen zu [ich+Modalverb+sagen]  122 6.2.2.3 Zwischenfazit zum Gebrauch der Modalverben im Redeanteil von Helmut Kohl in der Diskussion mit den Journalist/inn/en  127 6.3 Resümee zum Modalverbgebrauch von Helmut Kohl in der Bundespressekonferenz vom 17.7.1990  128 7

Zur empirischen Analyse des Modalverbgebrauchs IIa: Die Bundespressekonferenz vom 27.11.2013 anlässlich des Zustandekommens des Koalitionsvertrags zwischen CDU/CSU und SPD  133 7.1 Diskursanalytischer Überblick  134 7.2 Empirische Analyse des Modalverbgebrauchs in den Redeanteilen von Sigmar Gabriel, Angela Merkel und Horst Seehofer in der Bundespressekonferenz am 27.11.2013  137 7.2.1 Die statistische und exemplarische Analyse des Modalverbgebrauchs in der Bundespressekonferenz vom 27.11.2013  141 7.2.2 Die Modalverben in den Eingangsstatements von Sigmar Gabriel, Angela Merkel und Horst Seehofer in der Bundespressekonferenz vom 27.11.2013  155 7.2.2.1 Die handlungsraumbezogenen Modalverben dürfen, können und müssen in den Eingangsstatements von Sigmar Gabriel, Angela Merkel und Horst Seehofer  155 7.2.2.1.1 Zwischenfazit zum Gebrauch handlungsraumbezogener Modalverben in den Eingangsstatements von Sigmar Gabriel, Angela Merkel und Horst Seehofer  171 7.2.2.2 Die zielbezogenen Modalverben mögen, sollen und wollen in den Eingangsstatements von Sigmar Gabriel, Angela Merkel und Horst Seehofer  174 7.2.2.2.1 Zwischenfazit zum Gebrauch der zielbezogenen Modalverben in den Eingangsstatements von Sigmar Gabriel, Angela Merkel und Horst Seehofer  186

Inhaltsverzeichnis



VII

7.3

Resümee zum Modalverbgebrauch in den Eingangsstatements von Angela Merkel, Sigmar Gabriel und Horst Seehofer der Bundespressekonferenz vom 27.11.2013  189

8

Zur empirischen Analyse des Modalverbgebrauchs IIb: Eine konversationsanalytische und konstruktionsgrammatische Untersuchung des Modalverbeinsatzes von Angela Merkel, Sigmar Gabriel und Horst Seehofer in der Diskussion der Bundespressekonferenz am 27.11.2013  191 Konversationsanalytisches Forschungsdesign für die Modalverbuntersuchung in den Sequenzteilen der Diskussion in Bundespressekonferenzen  195 Konstruktionsgrammatisches Forschungsdesign für die Modalverbkonstruktionen [ich+MV+sagen] in den Sequenzteilen der Diskussion in Bundespressekonferenzen  205 Untersuchung der Modalverben in Sequenzteilen in der Konversation zwischen Politiker/inne/n und Journalist/inn/en – Empirische Konversationsanalyse der Diskussion in der Bundespressekonferenz 2013  210 Konversationsanalytische Untersuchung der Modalverbkonstruktionen [ich+MV+sagen] in den Sequenzteilen der Diskussion in der Bundespressekonferenz 2013  234 Resümee der konversationsanalytischen und konstruktionsgrammatischen Untersuchung des Modalverbeinsatzes von Angela Merkel, Sigmar Gabriel und Horst Seehofer in der Diskussion der Bundespressekonferenz am 27.11.2013  240

8.1

8.2

8.3

8.3.1

8.4

9 9.1 9.2 9.3 9.3.1 9.3.1.1

Eine kognitionslinguistische Untersuchung von Sätzen mit Modalverben mit Methoden nach Talmy  243 Die Eignung der kognitionslinguistischen Modelle von Talmy für die Modalverbanalyse  243 Die Dimensionen der Kräftedynamik, der Aufmerksamkeitsverschiebung und der semantischen Rollen  245 Kognitionslinguistische Diskussion ausgewählter Sätze mit Modalverben aus den Bundespressekonferenzen zwischen 1990 und 2018  257 Kognitionslinguistische Diskussion von Sätzen mit handlungsraumbezogenen Modalverben  258 Kognitionslinguistische Diskussion eines Belegs mit dem Modalverb dürfen  258

VIII  Inhaltsverzeichnis 9.3.1.2

9.4

Kognitionslinguistische Diskussion eines Belegs mit dem Modalverb dürfen + Negation  260 Kognitionslinguistische Diskussion eines Belegs mit dem Modalverb können  262 Kognitionslinguistische Diskussion eines Belegs mit dem Modalverb können in Kombination mit Negation  265 Kognitionslinguistische Diskussion eines Belegs mit dem Modalverb müssen  267 Kognitionslinguistische Diskussion ausgewählter Sätze mit zielbezogenen Modalverben  269 Kognitionslinguistische Diskussion eines Belegs mit dem Modalverb mögen  269 Kognitionslinguistische Diskussion eines Belegs mit dem Modalverb wollen  271 Kognitionslinguistische Diskussion eines Belegs mit dem Modalverb wollen in Kombination mit Negation  272 Kognitionslinguistische Diskussion eines Belegs mit dem Modalverb sollen  274 Kognitionslinguistische Diskussion eines Belegs mit dem Modalverb sollen mit Negation  275 Fazit  276

10

Gesamtfazit  279

11

Literaturverzeichnis  297

12

Online-Quellen  308

13 13.1

Anhang: Bundespressekonferenzen im Korpus  309 Die Bundespressekonferenz vom 17.7.1990 mit Bundeskanzler Helmut Kohl  309 Die Bundespressekonferenz vom 1.7.1991 mit Helmut Kohl  314 Die Bundespressekonferenz vom 21.3.1996 mit Helmut Kohl  314 Die Bundespressekonferenz vom 11.6.2002 mit Gerhard Schröder und Joschka Fischer  318 Die Bundespressekonferenz vom 18.8.2004 mit Gerhard Schröder und Joschka Fischer  319 Die Bundespressekonferenz vom 4.8.2010 mit Guido Westerwelle  319 Die Bundespressekonferenz vom 27.11.2013 mit Angela Merkel, Sigmar Gabriel und Horst Seehofer  337

9.3.1.3 9.3.1.4 9.3.1.5 9.3.2 9.3.2.1 9.3.2.2 9.3.2.3 9.3.2.4 9.3.2.5

13.2 13.3 13.4 13.5 13.6 13.7

Inhaltsverzeichnis

13.8 13.9

Die Bundespressekonferenz vom 31.8.2015 mit Bundeskanzlerin Angela Merkel  361 Die Bundespressekonferenz vom 20.7.2018 mit Bundeskanzlerin Angela Merkel  387

Stichwortregister  411



IX

1 Einleitung Man kann das mögen oder nicht mögen, aber wenn man einfach gefragt hat, wie sieht es dann aus, dann ist das [Reparatur] entspricht das halt auch im hohen Maße dem Wählervotum und damit müssen wir umgehen.

So lautet ein stark modalverbhaltiger Satz von Angela Merkel aus der Bundespressekonferenz 2013 anlässlich des Zustandekommens der Großen Koalition zwischen CDU/CSU und SPD. Schon dieses erste Zitat macht deutlich, dass Modalverben durch das Aufzeigen von Einstellungen, Handlungspräferenzen und Handlungsdispräferenzen in der politischen Kommunikation einen erheblichen Einfluss auf die Argumentation nehmen. Die Kanzlerin antwortet in diesem Beleg auf die Frage eines Journalisten, ob sie mit dem SPD-Mitgliedervotum über die Zukunft der Großen Koalition einverstanden sei. Mit dem Modalverbgebrauch zeigt Merkel in ihrer Antwort, wie in einer Demokratie politische Realitäten im argumentativen Verfahren mit Hilfe der Modalverbsemantik konsensuell ausgehandelt werden. Eingangs wird mit dem Modalverb können ohne und mit Negation im Zusammenhang mit dem Vollverb mögen ein Dissens darüber ausgedrückt, den Willen der Parteimitglieder in einer Demokratie außer Acht zu lassen. Abschließend wird auf die Handlungsnotwendigkeit für die Berücksichtigung der Wählermeinung auch bei unliebsamen Meinungen mit müssen hingewiesen. Obwohl schon dieses Beispiel beweist, wie wichtig die Rolle der Modalverben für die Argumentation in der Politik ist, werden diese in der Diskursanalyse, der Pragmatik und der Politolinguistik nur selten zum Gegenstand der Forschung. In der grammatischen Forschung finden Modalverbuntersuchungen an politiksprachlichen Korpora genauso selten statt. Die vorliegende Arbeit nimmt dieses Forschungsdesiderat zum Anlass für eine mehrdimensionale holistische Untersuchung der Verwendung der Modalverben im engeren Sinn1 mit Blick auf die Argumentation in deutschen Bundespressekonferenzen zwischen 1990 und 2018. Argumentation und Argumentationsmuster in der politischen Kommunikation sind oft Gegenstand der linguistischen Forschung. Bisher standen hierbei vor allem Bundestagsdebatten aufgrund ihrer Protokollierung primär im Fokus der Untersuchung. Die Bundespressekonferenzen standen bislang im Hintergrund, zumal diese erst seit wenigen Jahren und dies nur teilweise im Wortlaut veröffentlicht wurden. Dabei ist der Einfluss des Formats der Bundespressekonferenzen auf öffentliche Diskurse sehr groß, obwohl deren Inhalte und die Argumentationen in diesen den meisten Bürger/inne/n nicht im Wortlaut bekannt sind. Denn in der Presseberichterstattung werden diese zwar aufgegrif1 In dieser Dissertation werden aus Gründen des Umfangs nur die Modalverben im engeren Sinn behandelt, vgl. hierzu Kapitel 3. https://doi.org/10.1515/9783111245263-001

2 

1 Einleitung

fen, aber meist nur rekontextualisiert vermittelt. Umso wichtiger ist es für die Linguistik, die Argumentationsmuster in Bundespressekonferenzen wissenschaftlich näher in den Blick zu nehmen und im Kontext des Modalverbgebrauchs zu untersuchen. Modalverben vermitteln Einstellungen der Sprachnutzer/innen, die – wie wir es in dieser Arbeit exemplarisch sehen werden – für die Argumentation und Handlungslegitimierung relevant sind. Um eine möglichst vielseitige Analyse des Modalverbgebrauchs im Diskurskontext der Politik am Beispiel von Bundespressekonferenzen sicherzustellen, wird ein innerhalb der Linguistik interdisziplinäres Forschungsdesign bestehend aus klassischer Grammatik sowie Konstruktionsgrammatik, aus Semantik, Diskursanalyse, Pragmatik, Konversationsanalyse und Kognitionslinguistik entwickelt und bei der Untersuchung des Modalverbgebrauchs in einem Korpus von neun Bundespressekonferenzen zur Anwendung gebracht. Das Forschungsdesign dieser Arbeit macht sich also die vielfältigen, bei einer Analyse der Modalverbverwendung gewinnbringend einsetzbaren Untersuchungsmethoden dieser berücksichtigten linguistischen Teildisziplinen zu Nutze: Bei der klassischen Grammatik sind dies z. B. die Satzserialisierung in modalverbhaltigen Sätzen, also die topologische Platzierung der Modalverben im Satz und ihr topologisches und damit auch argumentatives Zusammenspiel mit dem Agens – sofern vorhanden –, mit dem Vollverb und den anderen z. B. durch Vorfeldbesetzung topologisch hervorgehobenen nichtsubjektischen Satzgliedern. Mit Hilfe der Modalverbsemantik erfolgt die Analyse der Modalverbbedeutung in ihrem jeweiligen Handlungs- und Diskurskontext, der vom jeweiligen argumentativen Ziel einer Aussage abhängig ist. Um den Zusammenhang zwischen Grammatik bzw. Semantik und Argumentation bei der exemplarischen Untersuchung von Modalverbbelegen ab Kapitel 6 in dieser Arbeit zu beleuchten, wird eine Ergänzung der grammatischen und semantischen Untersuchungsmethoden um Methoden der Diskursanalyse und der Pragmatik vorgenommen. Zudem werden Modalverbkonstruktionen, die ihre Wirkung oft durch Wiederholung subtil, aber sehr einprägsam entfalten, konstruktionsgrammatisch und konversationsanalytisch im interaktionalen Einsatz für die Aushandlungspraktik um Bedeutung und Konsens in einem ersten Ausblick in Abschnitt 6.2.2.2 am Beispiel der Konstruktion [ich +Modalverb+sagen] sowie in dem eigenständigen Kapitel 8 zur Konversationsanalyse und zur Konstruktionsgrammatik in den Blick genommen. Die semantische Verschiebung von Perspektiven sowie Kausalitäten durch den Modalverbeinsatz bei der Modalisierung von politischen Handlungen, Ereignissen und Vereinbarungen werden abschließend in Kapitel 9 mit Hilfe von kognitionslinguistischen Theorien und Methoden durch kognitionslinguistische Visualisierungen offengelegt. Diese Arbeit setzt sich zum Ziel, die unterschiedlichen Funktionen der Modalverben dürfen, können, müssen und mögen/möchte-, sollen, wollen in positivem wie negiertem Gebrauch zu ermitteln und Modalverbverwendungsmuster im Zusam-

1 Einleitung



3

menhang mit der politischen Argumentation offenzulegen. Deshalb wird in dieser Einleitung kurz das Verhältnis der Modalverbsemantik und der Funktionen der Modalverben zur Argumentation erläutert. Die Grundlage dafür stellt die linguistische Argumentationsdefinition nach Schröter (2021: 5) dar. Argumentation ist nach Schröter (ebd.): – eine „primär sprachliche Praktik als Prozess und Produkt“, – die „auf eine Überwindung oder Verringerung des Zweifels an einem Standpunkt oder der Verschiedenheit von Standpunkten zielt“ und – die „aus mindestens einem argumentativen Schluss besteht, der sich aus einem Set von Prämissen […] und einer Konklusion […] zusammensetzt“. Argumentation ist folglich ein prozessuales und zugleich ergebnisorientiertes Verfahren, das der gegebenenfalls wechselseitigen Formulierung, Präzisierung und Modellierung der eigenen Überzeugung der jeweils Beteiligten dient. Die primäre Funktion der Modalverben liegt gerade darin, die Einstellungen zu politischen Handlungen, Intentionen und Fragen unterschiedlicher Akteur/inn/ en aufzuzeigen, einen Perspektivenwechsel zwischen ihnen zu ermöglichen und damit durch Argumentation Überzeugung und Konsens anzustreben. Für die politische Kommunikation wird in dieser Arbeit davon ausgegangen, dass die Modalverben im prozessualen Argumentationsverfahren bei der Entwicklung und Darlegung von Prämissen und Konklusionen infolge der ihnen inhärenten perspektivierenden Eigenschaft eine unübersehbar große Rolle spielen. Einen Zusammenhang zwischen Argumentation und Modalität konstatiert auch von Wright (1977: 1). Ihm (1977: XII) zufolge ist die „Analyse normativer Aussagen und praktischer Notwendigkeiten unmittelbar erforderlich […], um die Argumentationsstruktur von Handlungsbegründungen freizulegen“. Die notwendigkeitsmodalen Modalverben müssen und sollen eignen sich semantisch dazu, bei Begründungen gerade diese Handlungsnotwendigkeiten im politischen Diskurs argumentativ zu unterstützen. Ähnlich von Wright hebt Bendel Larcher (2015: 84) die Rolle der Modalverben ohne sowie mit Negation für die Orientierung an Normen in gesellschaftlichen Diskursen hervor, die mit den von von Wright festgestellten Notwendigkeiten und Handlungsbegründungen verbunden sind: Mit ihren Äußerungen können Schreibende nicht nur kund tun, wie die Welt ist […], sondern auch, wie sie sein sollte […]. Das tun sie mit normativen Äußerungen, und selbige sind primär das Feld der Modalverben. Mit den Modalverben können, sollen, müssen und dürfen, im Indikativ und Konjunktiv, positiv und verneint, können sämtliche Abstufungen der Dringlichkeit einer Norm vorgenommen werden.

Neben der Orientierung an Normen (sollen) liefern Modalverben in der politischen Kommunikation wertvolle Hinweise auf Möglichkeiten (können), Ziele (wol-

4  1 Einleitung

len, sollen), Präferenzen (mögen/möchte-), Dispräferenzen (nicht mögen/nicht möchte-), Notwendigkeiten (müssen/sollen), Erlaubnisse (dürfen), auf das Fehlen von Möglichkeiten (nicht können), das Entfallen von Notwendigkeiten (nicht müssen) und auf Verbote (nicht dürfen). Nach Glück (2016: 438) ermöglicht die enge syntaktische Verbindung der deontischen Modalverben mit dem Vollverb, dass „Referenten des Subjektausdrucks“ über die Modalverben ihre Einstellungen dazu signalisieren, ob sie das im „Infinitiv Ausgedrückte zu tun“ oder – bei Negation – auch zu lassen gedenken. Modalverben haben durch ihre enge semantische und syntaktische Verbindung mit den anderen Teilen des Verbalkomplexes, aber auch mit den durch sie regierten Satzgliedern im Diskurskontext ein indexikalisches Potenzial. Denn sie ermöglichen eine Positionierung der Sprecher/innen im Diskurs, indem sie auf ein bestimmtes Modalverb zurückgreifen und seine Semantik für ihre Argumentation im Satz und darüber hinaus auf der Ebene der Konversation in Szene setzen. Aus diesem Grund betont Chilton (vgl. 2004: 202) den diskursreferenziellen Charakter grammatikalisierter modaler Ausdrücke. Chilton (ebd.) begründet seine Hypothese damit, dass Sprecher/innen in der politischen Kommunikation signalisieren, ob obligatorische Verpflichtungen unter sozialem Druck geschehen, Faktizität oder Zweifel an einer Äußerung besteht oder die Evidentialität einer Äußerung auf einer zuverlässigen oder unzuverlässigen Quelle basiert. Der diskursreferentielle Charakter von Modalverben resultiert folglich v. a. aus der evaluativen Funktion von Modalverben und ihrer bereits festgestellten syntaktischen Nähe zu den Vollverben. Das semantisch und funktional breite Spektrum der Modalverben wird in der Politik zielgerichtet dazu verwendet, die politische Argumentation zu unterstützen. Diese modale Einpassung einer Proposition in den Diskurs über die Modalverbsemantik erlaubt eine Orientierung an dessen Werten und ermöglicht damit eine für Demokratien notwendige politische Diskussionsbasis. Das Aufzeigen unterschiedlicher Sichtweisen und der mit Kritik und Korrektur verbundene Perspektivenwechsel zwischen den Akteur/inn/en aus der Politik, dem Journalismus und indirekt den Bürger/inne/n sind Zeichen einer Demokratie, die von argumentativem Austausch lebt. Auch Bendel Larcher (2015: 177) beobachtet, dass bei der Artikulierung und Durchsetzung von Geltungsansprüchen eine Vielzahl von Argumenten zum Einsatz kommen. In der diskursanalytischen Forschung gilt nach Bendel Larcher (2015: 181) die Prämisse, dass die Argumentation musterhaft ist und mit Argumentations- und Deutungsmustern „textübergreifende Gemeinsamkeiten auf der inhaltlich-konzeptuellen Ebene erfasst werden können.“ Busse (in Busse & Teubert 2013: 13–30) geht sogar davon aus, dass Argumentationsmuster diskursspezifisch sind und damit essentielle Teile diskursanalytischer Forschung darstellen. Wie Bendel Larcher und Busse & Teubert konstatiert auch Langacker (2008: 457), dass sich der Sprachgebrauch in Diskursen durch Musterhaftigkeit auszeichnet und die Erforschung dieser Muster hilfreich

1 Einleitung



5

ist, die Sprachverwendung in diesen Diskursen zu verstehen. Analog zu diesen Überlegungen beobachtet Brinker (2010: 125), dass „Textsorten konventionell geltende Muster für komplexe sprachliche Handlungen [sind] und […] sich als jeweils typische Verbindungen von kontextuellen (situativen), kommunikativ-funktionalen und strukturellen (grammatischen oder thematischen) Merkmalen beschreiben lassen.“ Ähnlich Brinker stellt auch Filatkina (2018: 3) fest, dass der Sprachgebrauch „durch das Zusammenwirken des Usuellen, des Konventionalisierten, des Musterhaften, eben des Formelhaften und der Variation auf verschiedenen systemlinguistisch verstandenen Ebenen“ funktioniert. An diese diskursanalytischen (Bendel Larcher, Busse & Teubert), pragmatischen (Brinker), kognitionslinguistischen (Langacker) und grammatischen (Filatkina) Überlegungen wird in der vorliegenden Arbeit angeknüpft. Durch den Rückgriff auf die Theorien und Methoden dieser unterschiedlichen Disziplinen der Sprachwissenschaft liegt dieser Arbeit ein methodologischer Pluralismus zugrunde. Dieser methodologische Pluralismus soll die Untersuchung des Gebrauchs der Modalverben im engeren Sinn und der Modalverbkonstruktionen im Argumentationsverlauf der Bundespressekonferenzen auf verschiedenen sprachlichen und funktionalen Ebenen gewährleisten. Es wird davon ausgegangen, dass der Modalverbgebrauch musterhaft und vom jeweiligen Argumentations- und Diskurskontext sowie von den Intentionen in den Äußerungen abhängig ist. Der Modalverbgebrauch wird demnach als Indikator verstanden, der Rückschlüsse auf varietätenspezifische Argumentationsmuster der Politik erlaubt. Die weiteren Analysen in dieser Arbeit, die sich auf die Erfassung von Modalverbgebrauchsmustern im Diskurskontext konzentrieren, folgen der Definition von Sprachgebrauchsmustern nach Bubenhofer (2009: 13). Diese sind nach Bubenhofer (ebd.) Indikatoren für Diskurse. Der Musterbegriff nach Bubenhofer (2009: 23) sieht Musterhaftigkeit – ähnlich Filatkina (2018) – auf allen sprachlichen Ebenen, denn ein sprachliches Muster ist: – „eine Wortform, eine Verbindung von Wortformen oder eine Kombination von Wortformen und nichtsprachlichen Elementen, also ein Zeichenkomplex, – der als Vorlage für die Produktion weiterer Zeichenkomplexe dient, – dabei aber von gleicher Materialität ist, wie die daraus entstehenden Zeichenkomplexe.“ Diesem Musterbegriff von Bubenhofer folgend, der auch bei einer Modalverbanalyse anwendbar ist, wird in dieser Arbeit angenommen, dass Muster als Ergebnis des Einsatzes rekurrenter kommunikativer Praktiken entstehen. Dies schlägt sich auch in der Modalverbverwendung in der politischen Kommunikation auf der formalen, der diskursiven, der konversationellen, der konstruktionellen und der kognitiven Ebene im Interaktions- und Diskurskontext nieder. Daraus folgt die Not-

6  1 Einleitung

wendigkeit der Anwendung unterschiedlicher linguistischer Disziplinen sowie unterschiedlicher Methoden in den einzelnen Kapiteln und Abschnitten. In den einzelnen Kapiteln wird folglich das Verhalten der Modalverben auf der Satzebene (Mikroebene), der Redebeitragsebene und der Interaktionsebene (Mesoebene) sowie der Diskursebene (Makroebene) exemplarisch an einem Korpus aus neun Bundespressekonferenzen aus dem Zeitraum von 1990 bis 2018 auf Musterhaftigkeit hin untersucht. Die einzelnen Kapitel liefern unterschiedliche Beiträge für das Forschungsdesign einer holistischen Modalverbbetrachtung unter Einsatz des methodologischen Pluralismus bei einer Korpusuntersuchung: – Im Kapitel 2 Korpus und Methodik werden das Untersuchungskorpus und die Methoden einleitend und deshalb nur knapp vorgestellt, denn aufgrund des dieser Arbeit zugrunde liegenden integrativen Forschungsdesigns aus Grammatik, Semantik, Diskursanalyse, Pragmatik, Konversationsanalyse und Kognitionslinguistik wird das von Kapitel zu Kapitel entwickelte jeweilige Untersuchungsdesign in den einzelnen Kapiteln erläutert und anschließend angewandt. Der methodologische Pluralismus wird sowohl in den einzelnen Kapiteln als auch über alle Kapitel hinweg praktiziert. – Im Kapitel 3 Die Modalverben wird ein Überblick theoretischer Erkenntnisse über den Stand der Modalverbforschung in den linguistischen Disziplinen dieser Arbeit geboten, die gemeinsam die Grundlage für den methodologischen Pluralismus darstellen. Damit werden die Forschungsresultate aus den unterschiedlichen linguistischen Bereichen miteinander verbunden. Neben diesem Überblick werden die aus Sicht der korpuslinguistischen Modalverbverwendungsanalyse an politiksprachlichem Korpus relevanten Erkenntnisse zu den Modalverben aufgegriffen, weiter vertieft und in einen Zusammenhang mit persuasiver Argumentation gerückt. Dieses Kapitel stellt damit über die Basis des methodologischen Pluralismus hinaus auch das theoretische Grundgerüst dar, das bei den anschließenden empirischen Untersuchungen angewandt wird. – Kapitel 4 Statistikauswertung des Gesamtkorpus bietet eine quantitative Darstellung der handlungsraumbezogenen Modalverben dürfen, können, müssen und der zielbezogenen Modalverben mögen/möchte-, sollen, wollen nach der Modalverbklassifikation von Hoffmann (2016: 314 ff.) im Korpus von neun ausgewählten Bundespressekonferenzen zwischen 1990 und 2018. Die Frequenz dieser Modalverben wird zum einen im Überblick erschlossen, zum anderen nach dem Auftreten der Modalverben in den Eingangsstatements und – getrennt – auch in der Diskussion untersuchter Bundespressekonferenzen. Eine Trennung bei der statistischen Darstellung dient dazu, Modalverbfrequenzen und Modalverbgebrauchsmuster nach dem jeweiligen Modalverbtyp in den beiden unterschiedlichen Teilen einer Bundespressekonferenz kontras-

1 Einleitung







7

tiv zu erfassen. Neben diesen nach Aspekten semantischer Klassifikation erstellter Statistiken werden außerdem die Frequenzen der häufigsten Modalverb-N-Gramme vorgestellt, die Rückschlüsse auf den Modalverbgebrauch z. B. mit Subjektpronomen erlauben. Zum Schluss werden in diesem Kapitel Tendenzen des Modalverbgebrauchs im Gesamtkorpus qualitativ erläutert und quantitativ begründet, jedoch ohne den Anspruch inhaltlicher Vollständigkeit, denn in den weiteren Kapiteln der vorliegenden Arbeit erfolgt eine exemplarische Untersuchung der Modalverbgebrauchsmuster auf den unterschiedlichen sprachlichen Ebenen. Dieses statistisch basierte Kapitel bietet einen Einstieg in die Analyse der Modalverbverwendung in dem Korpus der neun Bundespressekonferenzen. Im Kapitel 5 Modalverben im Schnittfeld von Grammatik und Diskurs werden die Teilkorpora für die exemplarische Modalverbanalyse, die Bundespressekonferenzen von 1990 mit Helmut Kohl und von 2013 mit Angela Merkel, Sigmar Gabriel und Horst Seehofer vorgestellt. Im Kapitel 6 Zur empirischen Analyse des Modalverbgebrauchs I: Die Bundespressekonferenz vom 17.7.1990 mit Bundeskanzler Helmut Kohl zu den Verhandlungen über die Wiedervereinigung Deutschlands werden die Modalverben im Korpus der Bundespressekonferenz 1990 mit Dr. Helmut Kohl kurz vor der Wiedervereinigung Deutschlands auf ihre Redehintergründe – nach Zifonun (in Zifonun et al. 1997: 1880–1920) – hin im Diskurskontext untersucht. Diese Klassifikation bildet die Basis der Modalverbuntersuchungen in den Kapiteln 6 und 7. Das klassifikatorische System nach Zifonun wurde für diese Arbeit ausgewählt, weil dieses semantische, diskursanalytische und pragmatische Aspekte für eine möglichst vielseitige Modalverbverwendungsuntersuchung zusammenführt. Damit korreliert dieses integrative Forschungsdesign mit dem methodologischen Pluralismus dieser Arbeit. Die Modalverbklassifikation nach den Redehintergründen ist mit der Hypothese verbunden, dass eine solche Klassifikation Rückschlüsse auf semantische, diskursive und pragmatische Modalverbgebrauchsmuster im Korpus zulässt und damit Hinweise auf die Argumentation liefert. In diesem Kapitel werden diese semantischen, pragmatischen und diskursiven Überlegungen um grammatische Untersuchungen erweitert. Eine grammatische Modalverbanalyse auf der Mikro-, Meso- und Makroebene soll die Erschließung formaler Muster der Modalverbverwendung im Korpus ermöglichen. Wie bei der Erläuterung der Untersuchungsvorhaben des Kapitels 3 erwähnt, werden auch in diesem Kapitel die Modalverben in dem Eingangsstatement und der Diskussion mit Journalist/inn/en in der Bundespressekonferenz 1990 statistisch und exemplarisch getrennt und deshalb in unterschiedlichen Abschnitten analysiert. Denn die Modalverbverwendung in dem Redebeitrag der Poli-

8  1 Einleitung





tiker/innen unterscheidet sich von dem Modalverbgebrauch in der Diskussion mit den Journalist/inn/en. Die Abweichungen lassen sich auf den interaktionalen Charakter der Diskussion und den häufigen Dissens in journalistischen Fragen zurückführen. Damit Modalverbgebrauchsmuster mit Blick auf die Argumentation auch im interaktionalen Kontext erfasst werden können, erfolgt die interaktionale Analyse der Modalverben und die Analyse der Modalverbkonstruktionen [ich+Modalverb+sagen] im interaktionalen Einsatz in dem Abschnitt 6.2.2 Der interaktionale Gebrauch von Modalverben in den Redebeiträgen von Helmut Kohl in der Diskussion mit den Journalist/inn/en. Bei der Modalverbanalyse in diesem Abschnitt werden neben der konversationsanalytischen und der konstruktionsgrammatischen Untersuchung weiterhin auch die Modalverbredehintergründe nach Zifonun Anwendung finden. Denn mit der Zusammenführung dieser Methoden im Rahmen des methodologischen Pluralismus lassen sich vielschichtige Erkenntnisse über die argumentativ relevante Verwendung von Modalverben im interaktionalen Einsatz gewinnen. Das Kapitel 7 Zur empirischen Analyse des Modalverbgebrauchs IIa: Die Bundespressekonferenz vom 27.11.2013 anlässlich des Zustandekommens des Koalitionsvertrags zwischen CDU/CSU und SPD verfolgt einen dem Kapitel 6 ähnlichen methodologischen Ansatz, der sich die semantische, diskursive und pragmatische Untersuchung der Modalverben mit Blick auf die Redehintergründe nach Zifonun im Zusammenhang mit der Argumentation in den Eingangsstatements von Dr. Angela Merkel (CDU), Sigmar Gabriel (SPD) und Horst Seehofer (CSU) zum Ziel setzt. Wie in Kapitel 6 wird auch in Kapitel 7 diese Analyse um grammatische Untersuchungen erweitert und damit der methodologische Pluralismus weiterhin angewandt. Die wiederholte Verwendung dieses Forschungsdesigns für eine grammatische, diskursive, pragmatische und semantische Modalverbanalyse ist mit dem Ziel verbunden, Modalverbgebrauchsmuster auf diesen Ebenen in den Eingangsstatements der Bundespressekonferenz 2013 mit drei Personen kontrastiv zu dem Eingangsstatement in der Bundespressekonferenz 1990 mit nur einer Person zu erforschen. Diese Analyse orientiert sich an der Fragestellung, ob die Änderung des situativen und interaktionalen Kontexts aufgrund der Mehrpersonenkonstellation sich auch im Modalverbgebrauch niederschlägt. Außerdem liefert diese Analyse Erkenntnisse darüber, ob personenspezifische Unterschiede im Modalverbgebrauch der Teilnehmer/inne/n aus der Politik untereinander in der jeweiligen Bundespressekonferenz bzw. auch im Vergleich zur Bundespressekonferenz 1990 festgestellt werden können. Damit soll die Validität der Erkenntnisse gesichert werden. Im Kapitel 8 Zur empirischen Analyse des Modalverbgebrauchs IIb: Eine konversationsanalytische und konstruktionsgrammatische Untersu-

1 Einleitung 

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chung des Modalverbeinsatzes von Angela Merkel, Sigmar Gabriel und Horst Seehofer in der Diskussion der Bundespressekonferenz am 27.11.2013 wird die Modalverbverwendung in der Diskussion der Bundespressekonferenz 2013 unter Anwendung von Methoden aus der Konversationsanalyse und der Konstruktionsgrammatik untersucht. Damit unterscheidet sich die Struktur der Kapitel 7 und 8, in denen die Modalverben in den Eingangsstatements und der Diskussion in zwei getrennten Kapiteln in den Blick genommen werden, wesentlich vom Kapitel 6 (Bundespressekonferenz 1990). Dieser Unterschied ist damit begründet, dass der Bundespressekonferenz 2013 im Gegensatz zur Bundespressekonferenz 1990 eine Videoaufzeichnung zugrunde liegt. Diese Aufzeichnung erlaubt eine konversationsanalytische Untersuchung der Diskussion der Politiker/innen mit den Journalist/ inn/en in Kapitel 8, die auf Transkriptionen nach den GAT 2-Normen (Selting et al. 2009) beruht. Außerdem besteht auch ein methodologischer Unterschied im Vergleich zu den Kapiteln 6 und 7. Im Unterschied zu diesen beiden Kapiteln wird auf eine weitere Detailanalyse der Modalverbredehintergründe nach Zifonun zugunsten einer Konversationsanalyse verzichtet. Wo es jedoch auch immer möglich und nötig ist, werden die Modalverbredehintergründe an argumentativ sinnvollen Stellen in der konversationsanalytischen Untersuchung weiterhin berücksichtigt, denn es wird gezeigt, dass die Modalverbredehintergründe im argumentativen Verfahren der Konsensaushandlung spezifische Muster aufweisen. Eine solche methodologische Herangehensweise nach dem Prinzip des methodologischen Pluralismus in dem Kapitel und auch kapitelübergreifend verspricht weitere Forschungsresultate zum Modalverbgebrauch im konversationellen Verfahren mit Blick auf die Argumentation, denn gerade bei mehreren politischen Teilnehmer/inne/n in einer von Dispräferenz gekennzeichneten Diskussion mit Journalist/inn/en lohnt es sich, Modalverben bei der prozessualen Konsensaushandlung zu untersuchen. Hierfür wird ein Forschungsdesign aus der Konversationsanalyse in Anlehnung an Birkner (2020) und Fábián (2011) erstellt. Dieses Forschungsdesign wird außerdem um weitere eigene Methoden ergänzt, um Modalverben im konversationssequenziellen Verlauf zu analysieren und den Zusammenhang zu ihrem Auftreten in Handlungssequenzen der Politik zu erörtern. Ähnlich Kapitel 6 werden auch im Kapitel 7 Modalverbkonstruktionen, insbesondere die Modalverbkonstruktionen [ich+MV+sagen], anhand von GAT 2-Transkriptionen in der Konversation erläutert. Im Unterschied zur Untersuchung der Bundespressekonferenz 1990 werden nicht primär die diskursiven und die pragmatischen Funktionen dieser Modalverbkonstruktionen in Anlehnung an Imo (2007) analysiert. Vielmehr wird die Leistung der Modalverbkonstruktionen [ich+MV+sagen] zur Markierung von Dispräferenz, Präferenz und konversa-

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1 Einleitung

tioneller Hilfeleistung nach Auer (2020: 224) in miteinander zusammenhängenden Turns erforscht. Im Kapitel 9 Eine kognitionslinguistische Untersuchung von Sätzen mit Modalverben mit Methoden nach Talmy werden die Modalverben mit ihren musterhaften Redehintergründen einer kognitionslinguistischen Modalverbuntersuchung primär nach Talmy (1976; 1988a oder 1988b; 2000) unterzogen. Die Notwendigkeit einer kognitionslinguistischen Modalverbanalyse rührt aus der Erkenntnis her, dass durch das Aufzeigen von Perspektiven und Einstellungen Modalverben subtil und damit kognitiv umso stärker wirken. In einer Demokratie sind aber gerade diese Perspektiven und Einstellungen für die politische Kommunikation notwendig, um Wählerstimmen zu sichern. Im Fokus dieser kognitionslinguistischen Untersuchung stehen deshalb die semantische Stärke, die kognitive Funktion der Modalverben und ihr Einfluss auf Dynamiken, Ursachen, Perspektiven und Zuständigkeiten in politischen Prozessen, die unter Anwendung der Dimensionen der Kräftedynamik und der Aufmerksamkeitsverschiebung nach Talmy offengelegt werden. Um kognitive Mechanismen der Modalverbverwendung aufzuzeigen und damit auch die Perspektiven der Politiker/innen im Diskurskontext zu verdeutlichen, werden am Beispiel ausgewählter Sätze aus dem Korpus der Bundespressekonferenzen zwischen 1990 und 2018 Modalverben kognitionslinguistisch analysiert und anschließend mit Hilfe von Modellen visualisiert. Dieses Kapitel schärft mit den kognitionslinguistischen Darstellungen das Profil des methodologischen Pluralismus dieser Arbeit.

2 Korpus und Methodik Bei der Zusammenstellung des Untersuchungskorpus wurde versucht, nicht nur neuere, sondern auch ältere Bundespressekonferenzen aus den 90er und 00er Jahren zu berücksichtigen. Der Zugang zu Letzteren wurde durch die Tatsache erschwert, dass der Verein der Bundespressekonferenz keine eigene Protokollierung durchführt. Eine Protokollierung erfolgt nur, wenn die jeweiligen Politiker/innen eigene Protokollant/inn/en mitbringen. Diese Protokolle werden zwar archiviert, jedoch vom Archiv des Bundespresseamtes nach telefonischer Auskunft meist nicht den protokollierten Politikerinnen/Politikern zur Freigabe vorgelegt. Sie dürfen deshalb auch nicht zu Forschungszwecken veröffentlicht werden. Wenn bei einigen wenigen zeithistorisch bedeutsamen Pressekonferenzen eine Freigabe erwirkt wurde und eine Veröffentlichung im Bulletin erfolgte, dann wurde nur das Eingangsstatement publiziert, nicht jedoch die Fragen der Journalist/inn/en. Erst durch Anfragen bei den Altbundeskanzlern Dr. Helmut Kohl (†) und Gerhard Schröder gelang es, Zugang zu ausgewählten Protokollen von Bundespressekonferenzen inklusive der Antworten der beiden Politiker auf die Frage der Journalist/ inn/en zu erhalten. Die Kooperation der beiden Altkanzler sowie von Albrecht Funke und Dr. Meike Kohl-Richter ermöglichte es mir, im Untersuchungskorpus dieser Arbeit eine diachrone Komponente zu berücksichtigen. Dadurch wird vermieden, dass diese Arbeit allein das Zeitalter der Internetpublikation von Bundespressekonferenzen und damit nur die Akteure/Akteurinnen der Regierungen unter Bundeskanzlerin Angela Merkel berücksichtigt. Eine Einengung auf die Zeit nach Beginn der Internetpublikation hätte auch eine zu starke Konzentration der Untersuchung auf die Idiolekte einiger weniger politischer Akteure/Akteurinnen – außer Dr. Angela Merkel tatsächlich rein männlich – sowie auf etwaige kommunikative Gepflogenheiten einer politischen Ära bedeutet. Neun Bundespressekonferenzen wurden aus dem Zeitraum von 1990 bis 2018 ausgewählt, damit eine kontrastive, empirisch qualitativ fundierte, aber auch quantitativ ausgerichtete Modalverbuntersuchung erfolgen kann, die Erkenntnisse über die Argumentation liefern soll. Insgesamt wurden Texte im Umfang von 75.939 Tokens ausgewertet und nach dem Anspruch des methodologischen Pluralismus unter eines integrativen Forschungsdesigns mit Methodeninventar aus der Grammatik, der Semantik, der Diskursanalyse, der Pragmatik, der Konversationsanalyse und der Kognitionslinguistik auf die Modalverbverwendung hin überprüft. Die Politikeräußerungen umfassen in diesem Korpus 61.199 Tokens. In den Pressekonferenzen 1990, 1991 und 1996 war Helmut Kohl (CDU) als Kanzler der schwarz-gelben Koalition der einzige politische Teilnehmer der Pressekonferenz.

https://doi.org/10.1515/9783111245263-002

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2 Korpus und Methodik

In der Bundespressekonferenz 2004 während der zweiten rot-grünen Koalition war Gerhard Schröder (SPD) ebenso der einzige politische Teilnehmer mit Redeanteil. Auf der Konferenz 2002 während der rot-grünen Koalition übernahmen dagegen sowohl Joschka Fischer (Bündnis 90/Die Grünen) als Außenminister und Vizekanzler als auch Gerhard Schröder das Wort. Sie standen den interviewenden Journalist/inn/en anschließend gemeinsam für Fragen zur Verfügung. Mein Ziel war es, von allen Regierungen – so auch aus der Zeit der Großen Koalition aus CDU/CSU und SPD unter der Kanzlerschaft von Angela Merkel – mindestens eine Bundespressekonferenz in meinen Untersuchungen zu berücksichtigen. Aus Gründen politischer Ausgewogenheit und wissenschaftlicher Objektivität habe ich auch Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier (damals SPD1) kontaktiert. Steinmeier hatte im Kabinett Merkel I den Posten als Minister im Auswärtigen Amt inne. Auf meine Anfrage erhielt ich aus seinem Büro die Information, dass aus dem Zeitraum zwischen 2005 und 2009 im Auswärtigen Amt keine Mitschriften von Bundespressekonferenzen vorlägen. Aus der Zeit der schwarz-gelben Koalition von 2009 bis 2013 habe ich Zugang zu einer Bundespressekonferenz aus dem Jahr 2010, auf der Guido Westerwelle (FDP) als Außenminister und Vizekanzler im Kabinett Merkel II ein Statement abgab und anschließend den Journalist/inn/en alleine Rede und Antwort stand. Die Bundespressekonferenzen von Kohl (1990/1991/1996), Schröder (2002 zusammen mit Fischer/2004) und Westerwelle (2010) basieren auf Protokollen nach dem sog. Wortlaut. Diese Protokolle können sich nach den Erfahrungen mit den späteren Bundespressekonferenzen ab 2013, die als Video vorliegen, durchaus vom gesprochenen Wort unterscheiden. Die Protokolle zu den Pressekonferenzen aus der Regierungszeit Merkel seit Ende Oktober 2013 (Kabinett Merkel III und Kabinett Merkel IV) – sofern vorhanden – wurden anhand der veröffentlichten Videos überprüft und erheblich korrigiert. Das Protokoll zur Bundespressekonferenz nach dem Zustandekommen des Koalitionsvertrags 2013 habe ich anhand des von Phoenix veröffentlichten Videos selbst erstellt, da hier Regierungsprotokollant/ inn/en fehlten. Bei dieser Pressekonferenz handelte sich zum damaligen Zeitpunkt nach den Wahlen um ein Treffen von Parteivorsitzenden und nicht von bereits neu gewählten Regierungsmitgliedern. Aufgrund der fehlenden Videos oder Tonbandaufnahmen aus der Zeit vor 2013 ist es bei diesem Korpus folglich wenig aufschlussreich, die neueren Protokolle komplett in GAT 2 (Selting et al. 2009) umzusetzen. Dort, wo es wegen der intonatorischen Wirkung sinnvoll war und die Belege einer interaktionsanalytischen Untersuchung unterzogen wurden, erfolgte ohnehin eine Transkription einzelner 1 Bundespräsident Steinmeier lässt, wie dies in seinem Amt üblich ist, seine Parteimitgliedschaft ruhen.

2 Korpus und Methodik



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Textpassagen nach GAT 2 (vgl. die konversationsanalytische Modalverbuntersuchung in der Diskussion der Pressekonferenz zum Zustandekommen des Koalitionsvertrags 2013 in Kapitel 8). Bei der Erstellung der korpuslinguistischen Statistiken wurde das Programm AntConc verwendet. In den ausgewählten Bundespressekonferenzen habe ich jedoch zur Qualitätskontrolle insbesondere bei der empirischen Analyse des Modalverbgebrauchs auch manuell ausgezählt. Die manuelle Überprüfung der statistischen Ergebnisse ist auch deshalb sinnvoll, weil das für das Englische entwickelte AntConc von der morphologischen Komplexität des Deutschen bisweilen an seine Grenzen geführt wird.

3 Die Modalverben Eine empirische Analyse der Modalverbverwendung in Bundespressekonferenzen mit Blick auf die Argumentation bedarf eines Überblicks über den Stand der Modalverbforschung in den einzelnen für das Untersuchungsziel relevanten linguistischen Teildisziplinen, die zum Forschungsdesign des methodologischen Pluralismus gehören. Im Deutschen können verschiedene Wortarten und in diesen die unterschiedlichsten Lexemklassen und Lexeme Modalität ausdrücken. Diese Vielfalt an modalen Ausdrücken macht eine Vielzahl oft wortartspezifischer theoretischer Untersuchungsansätze notwendig, was dem Ziel der Homogenität in einer einzigen Monografie zuwiderliefe. Aus diesen Gründen möchte ich mich auf die Untersuchung der Modalverben im engeren Sinn und damit der frequentesten Hauptgruppe der Modalverben als Prototyp verbaler lexikalischer Modalität konzentrieren, also auf dürfen, können, mögen (inklusive der Konjunktiv-II-Form möchte-), müssen, sollen und wollen. In diesem Kapitel 3 werden die für eine Modalverbanalyse relevanten Forschungsergebnisse zu den Modalverben im engeren Sinn aus den linguistischen Teildisziplinen der Grammatik, der Semantik, der Diskursanalyse, der Konversationsanalyse und der Kognitionslinguistik dargestellt und in einen Zusammenhang mit der Argumentation in der Politik gebracht. Dieses Kapitel liefert damit die theoretische Grundlage für die weiteren Untersuchungen.

3.1 Ein kurzer Forschungsüberblick zur Kategorie der Modalverben Zur Frage, welche Verben zur Kategorie1 der Modalverben gezählt werden, gibt es verschiedene Ansichten. Weinrich (2003: 290–296) versteht unter Modalverben die Verben brauchen, dürfen, können, mögen, müssen, sollen und wollen. Granzow-Emden (2013: 137) spricht von „eigentlichen“ Modalverben, zu denen er nur die Verben dürfen, können, mögen, müssen, sollen und wollen zählt. Auch Glück (in Metzler Lexikon Sprache 2016: 438) schließt sich einer solchen Einteilung an und spricht wie Granzow-Emden vom „Kernbestand“ der Modalverben. Eisenberg (2013: 84) unterscheidet zwischen den Gruppen a und b der Modalverben. Zu Gruppe a zählt Eisenberg (2013: 84) die Verben dürfen, können, mögen, müssen, sollen und wollen, zu Gruppe b die Verben brauchen, möchten, nicht brauchen, lassen und werden. Da rein klassifikatorische Fragen in der vorliegenden Arbeit keine Rolle spielen, verzichte ich hier auf eine Diskussion der Untergliederung und be1 Eisenberg (2013: 84) betrachtet die Modalverben als eine Kategorie. Dieser Klassifikation schließe ich mich an. https://doi.org/10.1515/9783111245263-003

3.1 Ein kurzer Forschungsüberblick zur Kategorie der Modalverben



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schränke mich auf die in der Forschungsliteratur unumstritten als Kernbereich angesehenen Modalverben, also dürfen, können, mögen (inklusive der KonjunktivII-Form möchte-), müssen, sollen und wollen, die als Modalverben im engeren Sinn bezeichnet werden. Neben den Grammatiken und Einführungen, auf die ich erst in Abschnitt 3.2 genau eingehen werde, haben in jüngerer und jüngster Zeit eine Reihe weiterer wissenschaftlicher Werke den Modalverbgebrauch behandelt. Müller & Reis (2001), Fabricius-Hansen, Leirbukt & Letnes (2002), Leirbukt (2004), Diewald & Smirnova (2010, 2011a, 2011b), Abraham & Leiss (2013) und Baumann (2017) beschäftigen sich mit dem Funktionsbereich der Modalverben im Deutschen, wobei sie diese vor allem synchron diskutieren. Weitere, im Umfang kürzere grammatische Beiträge wurden von Mortelmans (2000), Reis (2001), Abraham (1991, 2001 und 2008) und Harden (1998) verfasst. Daneben wurden auch kontrastive Arbeiten publiziert, die den Modalverbgebrauch in mehreren Sprachen insbesondere unter grammatischem Aspekt miteinander vergleichen, wie beispielsweise die Monografie von Milan (2001) über die Modalverben im Deutschen und im Italienischen. Ein deutsch-französischer kontrastiver Ansatz wurde bereits von Blumenthal (1976) verfolgt. Abraham (2002) führt eine komparative, vor allem syntaktisch angelegte Studie zu Modalverben im Deutschen, Englischen und Niederländischen durch. Weitere kontrastive Beiträge gehen u. a. auf Hamiti (2019) (Deutsch-Albanisch), Horváth (2013a und 2013b) (Deutsch-Ungarisch), Lindemann (2000) (Deutsch-Schwedisch), Mortelmans (2000) (Deutsch-Niederländisch), Banásová (2013) (Deutsch-Slowakisch), Mortelmans & Vanderbiesen (2013) (Deutsch-Englisch), Aelbrecht (2010) (Englisch-Niederländisch-Deutsch), Kątny & Socka (2010) (Deutsch-Polnisch) und Kotin (2014) (Deutschslawische Sprachen) zurück. Diachron befassten sich u. a. Fritz (1997), Fritz & Gloning (1997), Lühr (1997), Demske (2001), Leiss (2002), Nübling (2009), Schönherr (2010), Schmid (2012) und Zeman (2013) mit Modalverben. Aus sowohl synchroner als auch diachroner Perspektive wurden Modalverben auch in Beiträgen u. a. von Diewald (1999, 2004), Lehmann (1995) und Szczepaniak (2011) diskutiert, die sich den Modalverben vor allem im Kontext von Grammatikalisierungsprozessen widmeten. Jüngere Forschungsrichtungen wie die kognitive Linguistik nehmen Modalverben jedoch deutlich seltener in den Blick. Kognitionslinguistische Fragestellungen mit Bezug auf die Modalverbforschung werden in den Beiträgen u. a. von Talmy (1977, 1983, 1988a, 1988b, 2000a, 2000b, 2006)2, Bybee & Fleischmann (1995),

2 In dieser Arbeit werden in dem kognitionslinguistischen Kapitel 9 die aufgelisteten Theorien nach Talmy in den Analysen berücksichtigt.

16  3 Die Modalverben

Chilton (2004 und 2010),3 Croft & Cruse (2004), Verhagen (2005), Croft (2012), Hart (2014) und Kanaplianik (2016) unterschiedlich gewichtet besprochen. Eines der älteren Werke aus dem deutschsprachigen Sprachraum, das kognitionslinguistische Zusammenhänge zwischen Modalverbgebrauch und mentalen Strukturen erforscht, geht auf Radden (1999) zurück. Mortelmans (1999, 2001, 2002, 2007) wendet den kognitionslinguistischen Ansatz in Gestalt der Grounding Theorie nach Langacker auf die deutschen Modalverben im engeren Sinn an. Mortelmans (2007) entwickelt außerdem kognitionslinguistische Theorien weiter und baut damit sehr innovativ Brücken zwischen der Kognitionslinguistik und der Modalitätsforschung. Roche & Suner Munoz (2014) zeigen den Ertrag kognitionslinguistischer Erkenntnisse im Zusammenhang mit der Modalverbforschung für Deutsch als Fremdsprache auf. Noch seltener als in der kognitionslinguistischen Forschung werden Modalverben in konstruktionsgrammatischen Arbeiten besprochen. Imo (2007) behandelt neben anderen lexikogrammatischen und -semantischen Einheiten auch Konstruktionen mit Modalverben. Des Weiteren diskutiert v. a. Deppermann (2014) Konstruktionen mit ich will und ihre Funktion in Interaktionen. An der Schnittstelle zwischen Konstruktionsgrammatik und Konversationsanalyse befasst sich Kaiser (2017) mit der absoluten Verwendung von Modalverben, d. h. ohne vom Modalverb regiertes infinites Vollverb, in einem Korpus aus gesprochensprachlichem Material. Bei dieser Arbeit handelt es sich weder um Konstruktionen nach dem Muster [Pers.Pron.+MVHilfsverb+VollverbInfinitiv] noch um die in Kapiteln 6 und 8 dieser Arbeit zentral behandelten Konstruktionen [ich+MV+sagen]. Am Rand werden außerdem Modalverben in den interaktionallinguistischen Einführungswerken nach Couper-Kuhlen & Selting (2018) und Imo & Lanwer (2019) behandelt. Etwas umfangreicher, dennoch überschaubar ist der Forschungsstand zu Modalverben in der Diskursforschung und in jüngster Zeit auch in der Pragmatik. Pragmatische Beiträge, die der Erforschung der Modalverben gewidmet sind, stammen hauptsächlich aus den 80er- und 90er-Jahren. Eine der ausführlichsten Monografien zu Modalverben in der Diskursforschung stammt von Redder (1984). Weitere pragmatische Beiträge in etwas kürzerem Umfang, die sich primär den Modalverben in sprachlichen Handlungen widmen, wurden u. a. von Ehlich & Rehbein (1975), Vater (1980), Brünner (1981a und b), Wunderlich (1981), Brünner & Redder (1983), Redder (1989), Ramge (1994), Lötscher (1991, an der Schnittstelle zwischen Semantik und Pragmatik), Liedtke (1998 und 2000), Gloning (2001), Hinde3 Chiltons Monografie (2004: 59 f.) wie auch sein Beitrag aus dem Jahr 2010 kommt zwar hauptsächlich aus der Disziplin der linguistischen Diskursanalyse, er widmet sich aber in diesem Buch auch kognitionslinguistischen Überlegungen und thematisiert ebenso Modalverben und ihren Referenzwert in politischen Diskursen.

3.2 Die grammatisch-semantische Klassifikation der Modalverben 

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lang (2001) und Wilmes (2007) veröffentlicht. In jüngster Zeit sind pragmatisch oder diskursanalytisch ausgerichtete Beiträge zur Modalverbverwendung selten. Ganz spezifisch zur Form und Funktion modaler Konstruktionen in der Sprachverwendung der Politik erschienen Studien von Felder (2006), Trost (2012 und 2018) und Fábián (2018a und 2018b). Diese Beiträge führen über die rein pragmatisch ausgerichteten Beiträge der letzten zwei Jahrzehnte vor der Jahrtausendwende hinaus und verbinden bei der empirischen Analyse des Modalverbgebrauchs auch grammatische und pragmatische Ansätze. Dennoch gibt es bislang kaum korpuslinguistische Studien zu Modalverben unter gleichzeitiger Berücksichtigung der Grammatik und der Pragmatik. Wie dieser erste kurze Abriss zeigt, waren und sind die Modalverben Forschungsgegenstand vieler Teildisziplinen der germanistischen Linguistik – von der Sprachgeschichte über die Dependenz- und Valenzgrammatik, die Diskursanalyse, die Pragmatik und die Konversationsanalyse bis hin zur kognitiven Grammatik, Konstruktionsgrammatik und (am häufigsten) grammatischen Semantik. Breiter angelegte korpuslinguistische Studien zu Modalverben im Deutschen sind dagegen bis heute nur in geringer Anzahl vorhanden. Die Erforschung des Einsatzes von Modalverben im politischen Sprachgebrauch auf Grundlage eines größeren Korpus bleibt daher weiterhin ein Forschungsdesiderat. Die vorliegende Monografie knüpft hier an und will den Einsatz von Modalverben an dem ausgewählten Korpus von Bundespressekonferenzen zwischen 1990 und 2018 vorstellen. Diese korpusgestützte, innerhalb der germanistischen Linguistik teilinterdisziplinäre Untersuchung erfordert aber zuerst eine Auseinandersetzung mit den Modalverben im Bereich der grammatischen Semantik, der Diskursanalyse und der Pragmatik, der Konstruktionsgrammatik, der Konversationsanalyse und der Kognitionsgrammatik.

3.2 Die grammatisch-semantische Klassifikation der Modalverben Laut Fabricius-Hansen (in Duden-Grammatik 2016: 570) tätigt man mit Modalverben „keine unmittelbare Aussage über die Wirklichkeit, sondern stellt einen Sachverhalt als notwendig oder möglich hin relativ zu einem bestimmten Redehintergrund“. Sie unterscheidet unter Berücksichtigung der Bedeutung und Verwendung der Modalverben drei Dimensionen. Die erste Dimension beinhaltet FabriciusHansen (in Duden-Grammatik 2016: 571) zufolge die modale Stärke, die „von Notwendigkeit/Zwang (müssen, sollen, wollen) bis Möglichkeit/ Erlaubnis (können, dürfen, mögen)“ reicht. Bei der zweiten Dimension, nämlich dem „relevante[n] Rede-

18  3 Die Modalverben

hintergrund“, unterscheidet Fabricius-Hansen (in Duden-Grammatik 2016: 571) zwischen der Bezeichnung „epistemisch“, also auf das Wissen der Rezipient/inn/en bezogen, und „nicht epistemisch“, „d. h. normen-, willens-, zweck- oder faktenbezogen“. Bei der dritten Dimension, nämlich dem „‚Ursprung‘ der Modalisierung“, die Fabricius-Hansen zufolge (in Duden-Grammatik 2016: 571) die „‚Quelle‘ der Notwendigkeit oder Möglichkeit“ darstellt, wird eine Unterscheidung zwischen „extrasubjektiv“ und „intrasubjektiv“ angeführt: Bei einer extrasubjektiven Modalisierung liege deren „Ursprung“ „außerhalb des Subjektaktanten“, bei einer intrasubjektiven Modalisierung dagegen „im Subjektaktanten“. Glück (in Metzler Lexikon Sprache 2016: 438) bevorzugt eine Einteilung der Funktionen der Modalverben in die „deontische“, die „epistemische“ und die „evidentielle“ Funktion. Die „deontische“ Funktion stellt Glück (2016: 438) zufolge den „Referenten des Subjektausdrucks“ in den Vordergrund, der mit Hilfe von Modalverben signalisiert, ob der „mehr oder weniger strikte Pflicht (müssen, sollen), die Fähigkeit (können), die Lizenz (dürfen), den Wunsch (mögen, wollen) hat, das vom Infinitiv Ausgedrückte zu tun“. Mit der „epistemische[n]“ Funktion legt das Modalverb nach Glück (2016: 438) eine „Vermutung“ nahe, „die der Referent des Subjektausdrucks hegt, oder seine Einschätzung der Wahrscheinlichkeit der Prädikation“. Unter der „evidentiellen“ Funktion ist Glück (2016: 438) zufolge zu verstehen, dass „das M[odalverb] ausdrückt, dass die Prädikation vom Referenten des Subjektsausdrucks geäußert wurde, aber vom Sprecher angezweifelt wird“. Helbig & Buscha (2005: 116 f.) bevorzugen eine Gegenüberstellung der „objektiven (deontischen)“ und der „subjektive[n] (epistemische[n])“ Modalität. Die „objektive (deontische)“ Modalität bedeutet „die Art, wie sich das Verhältnis zwischen dem Subjekt des Satzes und dem im Infinitiv ausgedrückten Geschehen gestaltet“. Demgemäß können nach Helbig & Buscha (2005: 116) Modalverben Wille/Absicht, Verbot, Notwendigkeit/Forderung und Möglichkeit zum Ausdruck bringen. Mit der „subjektiven (epistemischen)“ Modalität wird Helbig & Buscha (2005: 117) zufolge die Art kommuniziert, „in welcher sich der Sprecher zu der mit Subjekt und Infinitiv ausgedrückten Aussage verhält, vor allem wie seine Einschätzung der Realität dieser Aussage ist“. Epistemisch gebrauchte Modalverben sind – so Schmid (vgl. 2012: 329) – höchst effektive Mittel, Einstellungen von Sprecher/inne/n zur reflektierten Proposition zu kommunizieren und in einen linearen Satzverlauf zu integrieren. Anders als Helbig & Buscha (2005) differenziert Diewald (1999: 46) zwischen „deiktischer“ und „nichtdeiktischer“ Gebrauchsweise von Modalverben, während sie die Klassifikation in „deontisch“ und „epistemisch“ ablehnt (1999: 72). Die deiktische Gebrauchsweise drückt nach Diewald (1999: 46) eine sprecherbasierte Faktizitätsbewertung der Proposition aus und weist gemäß dem stark semantisch (hier: im Sinne zunehmender Sprecherorientierung) fundierten Grammatikalisierungsbegriff Diewalds einen höheren Grammatikalisierungsgrad auf als die nichtdeikti-

3.2 Die grammatisch-semantische Klassifikation der Modalverben 

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sche Gebrauchsweise. Die nichtdeiktische Gebrauchsweise repräsentiert Diewald zufolge (1999: 46) „modale Zustände des Satzsubjekts, die mit der Sequenzierung von kommunikativen Mustern zu tun haben“. Die Modalverben im engen Sinn lassen sich bei nichtdeiktischem Gebrauch in Gruppen mit „engem Skopus“ und „weitem Skopus“ unterteilen (Diewald 1999: 86). Der Typ mit dem „engen Skopus“ wird wiederum in die Subtypen „deontisch“, „volitiv“ und „dispositionell“ unterteilt (Diewald 1999: 86). Kritik an bestehenden Klassifikationen wird auch von Horváth (2013b) geübt. Horváth (2013b: 135 f.) bemängelt zum einen die fehlende Trennschärfe zwischen epistemischer und nichtepistemischer Modalität bzw. zwischen deren jeweiligen Subtypen, zum anderen die mangelnde Klärung des Verhältnisses von „Reportativität“ und „Epistemizität“, deren Sinn sie am Beispiel von sollen und wollen darstellt. Weitere klassifikatorische Ansätze stammen u. a. von Kotin (2012: 141–144) und Kątny (2018: 235), die den Modalverben eine enorme typologische Vielfalt attestieren. So zählt Kątny (2018: 235) eine Reihe teilweise von Kotin übernommener, auch die Modalverben umfassender Modalitätsklassen auf wie die „volitive (bouletische, kupitive), dispositionelle, verisimile, nezessive, epistemische (sprecherbezogene) und evidentielle (quellenbezogene), autoevidentielle (subjektbezogene), nichtfaktische, kontrafaktische, konditionale und imperative Modalität“. Diese Arbeit schließt sich der Klassifikation nach Zifonun (in Zifonun et al. 1997: 1882) an, die feststellt, dass für die „Bedeutung der Modalverben […] die Konzepte ‚Redehintergrund‘, ‚modale Relation‘ und ‚Dualität‘“ von Belang sind. Zifonun differenziert die Modalverben nach ihrem Redehintergrund. Sie unterscheidet dabei den „epistemischen, stereotypischen, normativen, teleologischen, volitiven und den circumstantiellen Redehintergrund“ (in Zifonun et al. 1997: 1882 f., auch zum Folgenden). Diese Einteilung basiert auf einer Analyse von Modalverbbedeutungen in Verbindung mit pragmatischen Ansätzen, was auch das Leitmotiv dieser Arbeit ist. Zifonun begründet ihre semantisch-pragmatische Klassifikation damit, dass Redehintergründe Teile des Text- oder Diskurswissens seien und Modalverben eingesetzt würden, um den Redehintergrund eines Diskurses zu verändern. Die möglichen Veränderungen des Redehintergrunds durch Modalverben sind aufgrund der Komplexität der Formate in der politischen Kommunikation oft intransparent. Für ein Verständnis der Modalität und der Inhalte und Positionen der unterschiedlichsten Akteure/Akteurinnen ist die Offenlegung der Redehintergründe nach Zifonun sinnvoll. Ähnlich wie Zifonun hebt auch Hoffmann (2016) die diskursive Verwendung der Modalverben hervor, wobei er darauf hinweist, dass Letztere „eine zentrale Rolle im System deutscher Verben“ einnehmen (Hoffmann 2016: 312). Nach dem Modalverbverständnis von Hoffmann hängt die semantisch-grammatische Analyse mit gesprächs- und interaktionslinguistischen Ansätzen zusammen. Hoffmann

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(2016: 312) erläutert, dass Modalverben zur Handlungsplanung, Handlungskoordination und zur „Modalisierung weitergegebenen Wissens“ verwendet werden. Hoffmann (2016: 318, auch zum Folgenden) ergänzt außerdem, dass Modalverben „für die Organisation von Rederecht und Sprecherwechsel […] in Gesprächen“ relevant sind. Diese Funktion von Modalverben tritt in Diskussionen zwischen Politiker/inne/n und Journalist/inn/en oft in den Vordergrund und wird deshalb in der konversationsanalytischen Forschung zentral behandelt. Weil jedoch das Rederecht in den politischen Interviews mehr oder weniger strikt durch Moderation geregelt wird, ist die Reflexion von Eigen- und Fremdperspektiven im Konversationsverlauf mit Blick auf den Modalverbeinsatz jedoch noch relevanter aus Sicht der Argumentation und der Modalverbforschung. Diese Aspekte bleiben in der Forschungsliteratur bislang weitgehend unberücksichtigt. Aus diesem Grund soll in dieser Arbeit diese Forschungslücke geschlossen werden, indem in den weiteren Kapiteln Modalverben mit Blick auf die Perspektivenreflexion und die persuasive Argumentation exemplarisch besprochen werden. Hierfür wird methodologisch v. a. die Grundklassifikation nach Hoffmann (2016) herangezogen. Hoffmann unterscheidet „zielbezogene“ und „handlungsraumbezogene“ Modalverben (2016: 314 f. bzw. 316–324). Zur ersten Gruppe zählt er die Verben mögen (inklusive der Konjunktiv-II-Form möchten), sollen, werden und wollen, zu der zweiten Gruppe die Verben dürfen, können, müssen und nicht brauchen. Bei Hoffmann (2016: 314– 327) entsprechen Handlungsraumbezug und Zielbezug dem deontischen Gebrauch, während der epistemische Gebrauch als Transfergebrauch klassifiziert wird. Einen weiteren relevanten funktionalen Aspekt der Modalverben beobachtet neben Hoffmann auch Weinrich, denn nach Weinrich (2003: 297) dienen die Modalverben dazu, „die Bedeutungsfeststellung einer Prädikation zu modalisieren, das heißt, in ihrer Geltung zu flexibilisieren“. Damit stellen die Modalverben in einer hochintentionalen Domäne wie der politischen Kommunikation einen aus diskursanalytischer Sicht relevanten Filter für die Wirkung der (nicht modalisierten) Prädikation dar. Laut Weinrich (2003: 297) gilt eine Arbeitsteilung zwischen Modalverben, die häufig in der linken Satzklammer eine Stellung vor dem Vollverb im Satz einnehmen, und Vollverben, die normalerweise in Infinitivform in der rechten Satzklammer am Ende eines Satzes stehen. Während das Modalverb in solchen Fällen festlege, „wie die Geltung der Prädikation zu flexibilisieren ist“, verleihe das Vollverb in Infinitivform als Nachverb der Prädikation den semantischen Inhalt (2003: 297). Die Flexibilisierung der Prädikation durch das Modalverb geht Weinrich (2003: 297) zufolge auf die „physischen, psychischen oder sozialen Bedingungen [zurück], unter denen die betreffende Feststellung der Bedeutung gilt“.

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Diewald (1999: 55) betont aber zu Recht, dass können, mögen und wollen in Kombination mit einem nominalen Objekt4 oder bei Anschluss eines dass-Nebensatzes5 auch als Vollverb auftreten. Laut Diewald (1999: 55) sind „nichtdeiktische“ Modalverben als verbale Satzkerne valenzfähig und können „nominale, pronominale, verbale und z. T. satzförmige Aktanten“ binden. In den von Diewald geschilderten Fällen wird zur kognitiven Verarbeitung dieser Verben das Weltwissen der Adressat/inn/en stark aktiviert, um die Bedeutung der Verben und deren Relation zur Proposition genau zu entschlüsseln. Die grammatische und semantische Beziehung der Modalverben zum Subjekt – wenn vorhanden – sowie zum Vollverb und zur Satzproposition wird in den Kapiteln 6 und 7 zu den Bundespressekonferenzen 1990 und 2013 erläutert. Zur Visualisierung dieser Beziehung wird deshalb unter den jeweiligen Belegen die Satzserialisierung durch den Einsatz der Kombination grammatischer Formeln dargestellt. Nichtdeiktische Modalverben treten immer wieder auch selbst als Verbalergänzung6 auf (Diewald 1999: 55). Die „deiktischen“ Varianten der Modalverben können laut Diewald (1999: 55) dagegen nur als Auxiliarverben auftreten. Durch solche Modalverbgruppen können – wie auch in dieser Arbeit gezeigt wird – laut Granzow-Emden (2013: 136) Verbbedeutungen semantisch unauffällig und wirkungsvoll modifiziert werden. In dieser Arbeit wird folglich davon ausgegangen, dass diese kommunikativ subtile Modifikationsfunktion der Modalverben nicht nur die Vollverbsemantik verändert, sondern auch ganze Argumentationsschemata im Diskurs-, Handlungs- und Interaktionskontext beeinflussen kann. Denn mithilfe der modalisierenden Kraft der Modalverben kann der Grad persuasiver Argumentationen verstärkt oder auch abgeschwächt werden. Diese bedeutungs- und sogar argumentationsmodifizierende Kraft der Modalverben wird in den weiteren Kapiteln dieser Arbeit am Beispiel einzelner Bundespressekonferenzen analysiert. Die modifizierende Kraft eines Modalverbs hängt zum Teil von seinem Verhältnis zum agentivischen Subjekt ab oder davon, ob es im Aktiv oder Vorgangspassiv gebraucht wird. Liegt eine Modalverbverwendung im Aktiv mit Konkreta vor, ist eine Subjektsrestriktion nach Diewald (1999: 60) vorhanden7. Die modifizierende Kraft des Modalverbs ist in solchen Fällen folglich stärker ausgeprägt als bei einem Gebrauch im Aktiv mit einem Scheinsubjekt oder im Vorgangspassiv. Dagegen liegt z. B. beim Gebrauch des Modalverbs in Kombination mit dem Scheinsubjekt es Diewald (1999: 60) zufolge keine agentivische Subjektsrestriktion vor.8 Es

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„Sie kann Englisch.“ (Diewald 1999: 54) „Sie möchte/will, daß ihr pünktlich kommt.“ (Diewald 1999: 54) „Er muss wollen/mögen/müssen/können/dürfen/sollen.“ (Diewald 1999: 55) Robert darf/darf nicht ins Kino gehen. „Es hat regnen müssen.“ (Diewald 1999: 60).

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wird in dieser Monografie an Belegen aufgezeigt, dass neben dem Verhältnis der Modalverben zum Agens die satztopologische Stellung der Modalverben – syntaktisch indiziiert –, aber auch die Modalverbredehintergründe und ihre Überschneidungen – semantisch und pragmatisch bedingt – zu Modifikationen durch Modalverben beitragen. Dadurch, dass Modalverben im Hauptsatz immer die linke Verbalklammer besetzen, haben sie einen weiten grammatischen Skopus über das Mittelfeld und das Vollverb des Hauptsatzes und können diese Bereiche im Sinne der Persuasion modifizieren. Infolge der Verschiebbarkeit der Satzglieder zwischen Vor- und Mittelfeld im Deutschen kann somit auch ein agensfähiges Subjekt im Mittelfeld gleich hinter dem Modalverb in dessen engem Skopus stehen und im Vorfeld das eine Notwendigkeit bedingende oder eine Möglichkeit eröffnende nicht-subjektische Satzglied kognitiv das Subjekt deagentivieren (vgl. zur kognitiven Wirkung der Modalverben in Abschnitt 3.7 sowie die Ausführungen in den Beleganalysen in Kap. 5). Wie Ágel (2017: 323) treffend feststellt und wie auch oben bei der Vorstellung unterschiedlicher klassifikatorischer Systeme der Modalverbsemantik deutlich wurde, lässt sich bei den Modalverben eine „unglaubliche terminologische Vielfalt“ konstatieren. Die unterschiedlichen Typologien bemühen sich dabei um klare, trennscharfe semantische Bedeutungszuordnungen zu den einzelnen Modalverben im engeren Sinn. Sobald Modalverben empirisch untersucht werden, lässt sich bei der Zuordnung eines Modalverbs zu einem bestimmten Redehintergrund häufig Polyfunktionalität beobachten. Eine genaue Untersuchung des Verhaltens der Modalverben auf der Satzebene (Mikroebene), der Redebeitragsebene und der Interaktionsebene Mesoebene sowie der Diskursebene (Makroebene) wird das musterhafte sowie das saliente Auftreten unterschiedlicher Redehintergründe am Korpus der Bundespressekonferenzen zwischen 1990 und 2018 zeigen. Die Modalverbanalyse in den folgenden Kapiteln dient damit dazu, die Adaptierbarkeit der in der Modalverbforschung vertretenen theoretischen Feinklassifikationen unter Anwendung des Korpus der Bundespressekonferenzen zwischen 1990 und 2018 zu überprüfen. In dieser Arbeit wird davon ausgegangen, dass Modalverbklassifikationen nach dem Redehintergrund zwar für typologische Klassifikationen sinnvoll, aber angesichts mangelnder Trennschärfe bei der Analyse von Einzelbelegen im Rahmen einer angewandt- und korpuslinguistischen Untersuchung nur bedingt bzw. unter Anpassung terminologischer Modifikation adaptierbar sind (vgl. die Beleganalyse in den Kapiteln 6 bis 8). Wo es der traditionell grammatischen bzw. grammatisch-semantischen, diskursanalytischen, kognitions- und konversationsanalytischen Interpretation der Modalverbverwendung im Untersuchungskorpus dient, werden die hier jeweils dargestellten Forschungsergebnisse der unterschiedlichen linguistischen Teildiszi-

3.3 Die Klassifikation der Modalverbklassen nach ihrem Redehintergrund



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plinen bzw. Forschungsrichtungen bei der folgenden empirischen Analyse berücksichtigt. In dieser Arbeit werden – u. a. bedingt durch die Vielfalt von Modalverbtypologien und selbstverständlich auch durch den empirischen Fokus der Untersuchung – keine neuen klassifikatorischen Ansätze entwickelt, sondern bestehende Typologien auf ihre empirische Umsetz- und Anpassbarkeit überprüft. So werde ich in den empirischen Kapiteln bei der Klassifikation meiner Belege zwischen zielbezogenen und handlungsraumbezogenen Modalverben gemäß Hoffmann (2016: 314 ff.) unterscheiden und mich auf die in diesem Kapitel ebenfalls vorgestellten klassifikatorischen Ansätze unter Bezug auf den Redehintergrund gemäß Zifonun (in Zifonun et al. 1997: 1882 f.) beziehen. Die empirische Untersuchung der Redehintergründe richtet sich neben der Überprüfung der Anwendbarkeit dieser Modalverbklassifikation darauf, Musterhaftigkeiten im Korpus mit Blick auf den Modalverbgebrauch im Kontext persuasiver Argumentation zu erschließen.

3.3 Die Klassifikation der Modalverbklassen nach ihrem Redehintergrund In den letzten beiden Abschnitten ist darauf hingewiesen worden, dass die einzelnen Modalverben im engeren Sinn nach ihrem Redehintergrund subklassifiziert werden (Zifonun in Zifonun et al. 1997: 1880–1920). In diesem Abschnitt soll die Vielfalt der möglichen Redehintergründe der Modalverben anhand politiksprachlicher Beispiele veranschaulicht werden: Dabei werden auch die Überschneidung mehrerer Redehintergründe bei einem Modalverb sowie die Verwendung ein und desselben Redehintergrunds bei mehreren Modalverben mit Blick auf die persuasive Argumentation beleuchtet. Zifonun betont in Zifonun et al. (1997: 1260), dass Sprecher/innen mit Modalverben „Sachverhaltsentwürfe auf der Folie eines bestimmten Redehintergrunds (epistemischer, normativer, circumstantieller oder anderer Art) als möglich oder notwendig oder skaliert-notwendig“ einordnen können und dass eine Klassifikation nach dem Redehintergrund eine rein semantische Klassifikation darstellt. Wie bereits erläutert, unterscheidet Zifonun (in Zifonun et al. 1997: 1882 f.) demnach den „epistemischen, stereotypischen, normativen, teleologischen, volitiven und den circumstantiellen Redehintergrund“. Außerdem bildet Zifonun (in Zifonun et al. 1997: 1272) die Grundlage für eine weitere Klassifikation und unterscheidet nach der „Verwendungsweise“ eine extra- und eine intrasubjektive Klasse. Unter der extrasubjektiven Klasse wird eine Verwendungsweise verstanden, die jenseits der Entscheidungskompetenz des Subjekts steht und bei der die „innere Welt“ die-

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ser Person dabei nicht abgebildet wird. Bei der intrasubjektiven Klasse steht hingegen die „innere Welt“ des Subjekts bei der Verwendung des jeweiligen Modalverbs im Fokus und das Subjekt verfügt über eine Entscheidungskompetenz, die abhängig von der Semantik des Modalverbs unterschiedlich stark ausfallen kann. Sowohl bei der Bestimmung des Gebrauchs eines Modalverbs nach dem Redehintergrund als auch nach der Verwendungsweise kommt dem sog. „modalen Deutungskontext“ (Zifonun in Zifonun et al. 1997: 1262) eine große Relevanz zu. Der modale Deutungskontext – führt Zifonun (ebd.) weiter aus – „kann die verbnäheren Komplemente umfassen, aber auch alle Komplemente einschließlich des Subjektes, also den ganzen Satz.“ Komplementär zu diesem sinnvollen Hinweis ist hinzuzufügen, dass unter dem Aspekt des modalen Deutungskontexts bei der Einordnung einzelner Modalverben in eine bestimmte Klasse nach dem Redehintergrund oder der Verwendungsweise neben der Ebene des Satzes (Mikroebene) auch die Meso- und die Makroebene berücksichtigt werden müssen, wobei die Mesoebene die Redebeitrags- und die Interaktionsebene beschreibt und die Makroebene die Diskursebene umfasst. Nun werden zuerst die Klassen nach dem jeweiligen Redehintergrund vorgestellt und anschließend an selbst gebildeten Beispielen erklärt. Der epistemische Redehintergrund ist ein rein reflektiver Redehintergrund, der den Wissensstand einer Person zur Diskursproposition aufzeigt, von einer Vermutung ausgehend bis hin zur beinahe sicheren Überzeugung. Der Grad der Sicherheit hängt von der Semantik des jeweiligen epistemisch gebrauchten Modalverbs im engeren Sinn ab. Für die Modalverben im engeren Sinn mit einem epistemischen Redehintergrund lassen sich zwei unterschiedliche semantische Subklassen feststellen. Einerseits kann eine Annahme oder Vermutung eines Sprechers/einer Sprecherin oder Berichters/Berichterin wiedergegeben werden: 1. Präsident Donald Trump muss/soll/kann/dürfte/mag angekündigt haben, dass er gegen illegale Migration zwischen den USA und Mexiko eine Mauer bauen lässt, die aber Mexiko bezahle. oder aber die Ansicht eines Dritten, hier von Präsident Trump zum Ausdruck gebracht werden: 2. Präsident Donald Trump möchte/will verbindlich angekündigt haben, dass er gegen illegale Migration zwischen den USA und Mexiko eine Mauer bauen lässt, die aber Mexiko bezahle. Neben dem epistemischen Redehintergrund stellt der stereotypische Redehintergrund die einzige semantische Subklasse dar, die hauptsächlich den Wissensstand des Subjekts reflektiert. Zifonun liefert jedoch in ihrem Kapitel zu Modalverben (in Zifonun et al. 1997) weder eine Terminologie noch einen Beleg für Modalverben im engeren Sinn nach dem stereotypischen Redehintergrund, dessen kategoriale

3.3 Die Klassifikation der Modalverbklassen nach ihrem Redehintergrund



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Entstehung auf sie zurückgeht. Mangels einer genaueren Erläuterung des stereotypischen Redehintergrunds ist deshalb eine semantische Abgrenzung beider Subklassen recht komplex. Folglich ist der Versuch der Generierung eines Beispiels für den stereotypischen Redehintergrund ebenfalls mit Komplikationen verbunden. Jedoch wird hier ein solcher Versuch unternommen: 3. Politiker/innen weltweit denken, dass die deutsche Bundesregierung durch die Schuldenbremse des Grundgesetzes finanzpolitisch nur Austeritätspolitik vertreten dürfe/müsse/könne/solle/wolle. Für diese Interpretation des stereotypischen Redehintergrunds ist das Wissen über den international verbreiteten Konsens über die deutsche Finanzpolitik und ihre vermeintliche Fixierung auf Sparsamkeit (= Austeritätspolitik) als Heterostereotyp im konsensuellen Einvernehmen ausschlaggebend. Im Unterschied zu dem epistemischen Redehintergrund wird bei einem stereotypischen Gebrauch der Wissensstand nicht in Bezug auf die Satzproposition reflektiert, sondern das Wissen über den Inhalt und den verbreiteten gesellschaftlichen Konsens eines existierenden Stereotyps stehen im Fokus. Da in der politischen Kommunikation der Glaubwürdigkeit und der Faktizität9 und damit der Orientierung an Fakten eine große Relevanz zugesprochen wird, kann jedoch davon ausgegangen werden, dass der epistemische und der stereotypische Redehintergrund in dieser Domäne der öffentlichen Kommunikation nur selten auftreten. Dies bestätigt auch die statistische Gesamtanalyse des Untersuchungskorpus (vgl. Kapitel 4), in dem weniger als 1 % der Modalverbbelege eine rein epistemische oder aber eine absolute Verwendung (Typ: Ich will eine schnelle Lösung) aufwiesen. In ihrer semantischen Genese stehen die anderen deontischen Subklassen der Modalverben im engeren Sinn, also die circumstantiellen, die normativen, die teleologischen und die volitiven Redehintergründe diesen beiden diskutierten Redehintergründen entgegen. Denn diese Subklassen spiegeln nicht primär den Wissensstand über die Satzproposition oder existierende Stereotypie wider, sondern sie nehmen Bezug auf den Handlungsrahmen oder eine zu erreichende Zielsetzung, seien diese nun intra- oder extrasubjektiv. 9 Politiker/innen bemühen sich darum, die von ihnen kommunizierten Informationen als faktisch darzustellen und so nach außen glaubwürdig zu wirken. Dementsprechend erfolgt die Auswahl des lexikogrammatischen Vokabulars. Damit wird hier selbstverständlich nicht behauptet, dass von Politiker/inne/n nur wahrheitsgemäße Informationen kommuniziert werden, denn die stark steigende Anzahl von Studien über „Fake News“ und „Verschwörungstheorien“ insbesondere in Zeiten von Wahlkämpfen und gesellschaftlichen Krisen steht einer solchen Annahme entgegen. Selbst im Fall der Verbreitung von „Fake News“ und „Verschwörungstheorien“ bemühen sich jedenfalls Politiker/innen darum, sprachliche und kommunikative Einheiten einzusetzen, die Faktizität und Glaubwürdigkeit bewirken sollen.

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Durch einen engen Skopus nach dem Aspekt des Redehintergrunds zeichnet sich insbesondere das handlungsraumbezogene Modalverb dürfen aus, denn dieses Modalverb kann – abhängig vom jeweiligen Kontext – nach seinem Redehintergrund außer epistemisch und stereotypisch entweder circumstantiell oder normativ klassifiziert werden. Beispiel für den circumstantiellen Redehintergrund bei dem handlungsraumbezogenen Modalverb dürfen (leichte Überschneidung mit dem Modalverb können beim circumstantiellen Gebrauch) zeigt Beispiel 4: 4. Terrorist/inn/en des Islamischen Staates dürfen/können aufgrund der UNRechtskonvention in einem Bürgerkrieg getötet werden. Der Ursprung der Handlungserlaubnis/Handlungsmöglichkeit ist in der Semantik des unterstrichenen Präpositionaladverbiales verwurzelt und stellt damit die Grundlage für den Handlungsrahmen dar; deshalb liegt hier ein circumstantieller Gebrauch beider Modalverben vor. Beim folgenden Beispiel handelt es sich um einen circumstantiellen Modalverbgebrauch im Fall von nicht dürfen: 5. Aufgrund der schlechten Wetterbedingungen darf das militärische Manöver nicht stattfinden. Bei Beispiel 5 handelt es sich um ein Verbot, das eine Handlungsmöglichkeit explizit ausschließt. Wie in Beispiel 4 wird auch in Beispiel 5 der circumstantielle Redehintergrund des Modalverbs dürfen mit Negation durch die Semantik des unterstrichenen Präpositionaladverbiales ausgelöst. Das nächste Beispiel beinhaltet einen Satz mit dem Modalverb dürfen mit einem normativen Redehintergrund: 6. Die Bundeswehr darf im Ausland nur nach Zustimmung des Bundestags eingesetzt werden. Normativität ist dabei nach Zifonun et al. (1997: 1261) von dem Redehintergrund der Faktizität zu trennen. Das Modalverb dürfen bezieht sich hier folglich nicht auf eine tatsächliche Entsendung deutscher Truppen ins Ausland, sondern grundsätzlich auf jede potenzielle Entsendung auch in der Zukunft, solange die Gesetzesnorm gilt. Eine normative Verwendung von dürfen nicht und sollen nicht veranschaulicht folgender Satz: 7. Auf deutschen Autobahnen soll man nach der deutschen Straßenverkehrsordnung nicht schneller als 130 km/h Richtgeschwindigkeit fahren, auch wenn man es darf, auf österreichischen Autobahnen dagegen darf man nach der österreichischen Straßenverkehrsordnung nicht schneller als 130 km/h fahren.

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Beide Modalverben können negiert wie auch nicht-negiert normativ eingesetzt werden, die jeweilige Einbettungsmöglichkeit in den Satz ist immer von der Ausgestaltung der Norm als Erlaubnis (dürfen), Verbot (nicht dürfen) sowie als Gebot (sollen und nicht sollen) abhängig. Durch einen relativ engen, aber dennoch weiteren Redehintergrund-Skopus als das Modalverb dürfen (Genehmigung, Erlaubnis) zeichnet sich das ebenfalls handlungsraumbezogene Modalverb müssen (Verpflichtung, Zwang) aus. Das Modalverb müssen steht im folgenden Beispiel mit dem circumstantiellen Redehintergrund: 8. Infolge der rapide steigenden Arbeitslosenzahlen müssen die Regierungen der Länder Europas dringend Präventionsmaßnahmen auf den Weg bringen. Das Präpositionaladverbiale liefert im Beispiel 8 die Grundlage für den circumstantiellen Gebrauch des Modalverbs müssen und stellt damit den Handlungsrahmen dar. Beispiel 9 zeigt das Modalverb müssen mit Negation mit dem circumstantiellen Redehintergrund: 9. Die Vereinten Nationen haben keine exekutive Kraft gegenüber ihren Mitgliedsstaaten, deshalb müssen UN-Konventionen in das nationale Rechtssystem der Länder nicht zwangsläufig adaptiert werden. Der unterstrichene Teilsatz 1 des Beispiels 9 beinhaltet die Quelle der allgemeinen – in diesem Fall juristischen – Handlungsfreiheit, die im Teilsatz 2 beschrieben wird. Damit steht Beispiel 9 Beispiel 8 gegenüber; denn im Beispiel 8 wurde mit dem Modalverb müssen ein dringender Handlungszwang geschildert, während Beispiel 9 mit dem Modalverb müssen und der Negation eine Entscheidungsfreiheit darstellt. Der folgende Satz liefert ein Beispiel für das Modalverb müssen mit einem normativen Redehintergrund: 10. Jeder Bürger und jede Bürgerin muss den Artikel 3 des Grundgesetzes beachten.10

10 Artikel 3 des Grundgesetzes im Wortlaut unter https://www.gesetze-im-internet.de/gg/art_3. html: „(1) Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich. (2) Männer und Frauen sind gleichberechtigt. Der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern und wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin. (3) Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden. Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.“

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Die Quelle der Normativität wird im Artikel 3 des Grundgesetzes festgehalten. Die mit diesem Artikel einhergehende Verpflichtung ist folglich universell gültig und sieht keine Ausnahmeregelungen vor. Folgendes Doppelbeispiel 11 zeigt bei dem Modalverb müssen den Unterschied zwischen dem circumstantiellen und dem normativen Redehintergrund deutlich: 11. a) Circumstantiell = faktitiv, d. h. einzelfallgebunden: Um die Wettbewerbsfähigkeit von Unternehmen international zu schützen, müssen die „Ausgleichsmaßnahmen“ der Europäischen Union gegenüber den USA als Reaktion auf die von Donald Trump eingeführten Strafzölle der Welthandelsorganisation WTO gemeldet werden. b) Normativ = grundsätzlich, d. h. nicht einzelfallgebunden: Gegenmaßnahmen gegen Strafzölle müssen der Welthandelsorganisation WTO gemeldet werden. Der Begriff der Normativität bei Zifonun steht neben der Verbalisierung von Notwendigkeitsmodalem auch für allgemeingültige, nicht zeitgebundene und damit nicht faktitive Aussagen oder gar Wünsche und Ratschläge (vgl. Zifonun et al. 1997: 1270). Im Online-Duden11 wird normativ allerdings mit der Phrase „als Richtschnur, Norm dienend; eine Regel, einen Maßstab für etwas darstellend, abgebend“ umschrieben, als Synonyme werden z. B. verpflichtend oder obligatorisch angegeben. Eine negierte Verwendung von müssen in einem Satz wie Beispiel 12 12. Auf deutschen Autobahnen muss man sich nicht an die Richtgeschwindigkeit halten. nur mit dem Terminus normativ zu klassifizieren, könnte deshalb zu Missverständnissen führen. Denn nicht müssen drückt keine Notwendigkeit aus, etwas nicht zu tun, sondern das Fehlen einer Notwendigkeit für eine Handlung und in diesem Beispiel eine grundsätzlich fehlende potentiell bestrafende normgebende Instanz. Für diese Verwendungsweisen einer grundsätzlichen Notwendigkeit oder bei Negation einer grundsätzlich fehlenden Notwendigkeit schlage ich die Subklassifikation des normativen Redehintergrunds als universell vor. In Beispiel 13 liegt beim Gebrauch des Modalverbs müssen ein teleologischer Redehintergrund vor: 13. Die Kanzlerin machte deutlich, dass die Bürger im öffentlichen Raum noch vorsichtiger sein müssen, um die Pandemie dauerhaft einzugrenzen. Für die Einordnung von Beispiel 13 ist der unterstrichene erweiterte Infinitiv ursächlich, der den Handlungsrahmen für den dass-Nebensatz darstellt. Dieser wird 11 https://www.duden.de/rechtschreibung/normativ, letzter Abruf am 1.9.2020.

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durch die Semantik des Modalverbs müssen allgemein verpflichtend gestaltet, um die im erweiterten Infinitiv beschriebene Zielsetzung erfüllen zu können. Beispiel 14 ist das negierte Pendant zu Beispiel 13 beim Modalverb müssen mit teleologischem Gebrauch: 14. Die Ausgangsbeschränkungen sind notwendig, um nicht noch mehr Todesfälle beklagen zu müssen. In diesem Beispiel wird die Zielsetzung ebenfalls in dem unterstrichenen erweiterten Infinitiv festgelegt, der in diesem Fall das Modalverb mit Negation beinhaltet. Die Zielsetzung richtet sich auf die Abwehr bzw. die Vorbeugung des Eintretens potenzieller Gefahren für die Bevölkerung, womit der kombinierte Einsatz des Modalverbs mit Negation begründet werden kann. Die Notwendigkeit der Abwehr geht mit der stark verbindlichen Kraft des Modalverbs müssen einher. Auch wenn hauptsächlich wollen, aber auch möchten die prototypischen Fälle für ein Modalverb mit volitivem Redehintergrund sind, ist bei müssen auch ein extrasubjektiver volitiver Redehintergrund in Überschneidung mit anderen Redehintergründen insbesondere bei Befehlen möglich, so in Beispiel 15: 15. Notärztin zu einem Verkehrsteilnehmer: Sie müssen die Straße für den Rettungswagen freimachen! Aus dem Kontext heraus kann in diesem Beispiel ein circumstantieller Redehintergrund präsupponiert werden, denn der Handlungsrahmen muss für den Beginn einer Rettungsaktion gesichert werden. Die Rettungsärztin jedoch bringt mit dieser unidirektionalen Aufforderung, die mit der verpflichtenden Semantik des Modalverbs müssen einhergeht, ihren Wunsch hinsichtlich der Räumung der Straße zum Ausdruck. Die Herstellung des Bezugs zwischen der inneren Welt der Sprecherin und der Proposition erfolgt ebenfalls durch Präsupposition und lässt auf einen volitiven Redehintergrund schließen. Der volitive Redehintergrund überschneidet sich in diesem Beispiel mit dem circumstantiellen Redehintergrund. Zu diesen Redehintergründen tritt außerdem implizit ein teleologischer Redehintergrund hinzu, denn das Direktivum richtet sich auf die Freiräumung der Straße. Damit wird eine teleologische Deutung zusätzlich zu den beiden anderen Redehintergründen ebenfalls möglich. Das Modalverb können zeichnet sich hinsichtlich seines Skopus nach seinem Redehintergrund durch eine enorme Vielfalt aus. Wie bei den anderen handlungsraumbezogenen Modalverben werden auch bei können die einzelnen Redehintergründe erläutert. Beispiel 16 zeigt das Modalverb können mit einem circumstantiellen Redehintergrund:

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16. Die Straßen sind nicht mehr von den Traktoren protestierender Landwirte/ Landwirtinnen blockiert, PKWs können folglich wieder auf der Bundesstraße fahren. Im Teilsatz 1 werden die Umstände beschrieben, die die Sicherung des Handlungsrahmens für eine aus dem Modalverb können sich ergebende Möglichkeit darstellen. Diese Handlungsmöglichkeit wird im Teilsatz 2 beschrieben. Im Beispiel 17 tritt das Modalverb können in Kombination mit Negation circumstantiell auf: 17. Der Vertrag kann noch nicht unterschrieben werden, denn er bedarf weiterer sprachlicher Ausformulierung. Der circumstantielle Gebrauch des Modalverbs können resultiert aus den Umständen, die im Teilsatz 2 erläutert werden. Können mit Negation drückt hier aus, dass der Rahmen für eine vorgesehene Handlung durch ein Hindernis nicht vorhanden und damit die Durchführung dieser Handlung zum gegebenen Zeitpunkt noch nicht möglich ist. Bei diesem Gebrauch des Modalverbs können mit Negation liegt eine gewisse semantische Überschneidung mit dem Modalverb dürfen mit Negation im Sinne von (noch) nicht erlaubt sein vor. Beispiel 18 und 19 zeigen das Modalverb können und sein negiertes Pendant ebenfalls mit einem circumstantiellen Redehintergrund, jedoch im Unterschied zu den Beispielen 16 und 17 nicht zum Ausdruck einer Möglichkeit bzw. des Erlaubtseins, sondern zur Hervorhebung von Fähigkeiten/Kompetenzen: 18. Angela Merkel benötigt bei inoffiziellen Terminen mit der US-amerikanischen Regierung keine Hilfe von Dolmetscher/inne/n, denn sie kann sehr gut Englisch sprechen. 19. Donald Trump kann hingegen keine Fremdsprachen sprechen, deshalb ist er auf die Hilfe von Dolmetscher/inne/n bei jedem offiziellen Termin angewiesen.12 Insbesondere bei der Klassifikation als circumstantieller Redehintergrund wird in den Beispielen bei Zifonun et al. (1997) auf das Weltwissen zu kontextuellen Umständen rekurriert. Dies hat analog bei dem Beispiel 18 zur Folge, dass das Subjekt über die notwendige Kompetenz verfügt, eine Fremdsprache – in diesem Fall Englisch – sehr gut zu sprechen, allerdings nur unter den Umständen, weil der Hand12 Über die Fremdsprachkompetenzen des ehemaligen US-Präsidenten Donald Trump gibt es keine Gewissheit, doch wird in Presseartikeln davon ausgegangen, dass Trump keine Sprachen außer Englisch sprechen könne: https://www.welt.de/politik/ausland/article162064707/Als-Trudeau-Franzoesisch-spricht-presst-Trump-die-Lippen-zusammen.html sowie https://www.elitedaily.com/p/does-donald-trump-speak-any-other-languages-he-has-1-clear-favorite-18691739.

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lungsrahmen für diese Fähigkeit/Kompetenz in der Vergangenheit gesichert war und diese Person Englisch gelernt hat sowie v. a. durch häufige Aufenthalte in englischsprachigen Ländern ihre Kompetenzen vertiefen konnte. Im Beispiel 19 wird hingegen das Nichtvorhandensein einer Fähigkeit/Kompetenz fokussiert, dessen Ursprung darin liegt, dass der Handlungsrahmen für die Aneignung dieser Fähigkeit/Kompetenz bei dem Subjekt des Beispiels 19 – also Donald Trump – nicht gegeben war, entweder aus freier Entscheidung heraus oder mangels einer Möglichkeit. Wenn man Zifonuns (in Zifonun et al. 1997: 1270) Ausführungen zu normativen Wünschen und Ratschlägen mit notwendigkeitsmodalen Modalverben weiterführt, können normative Redehintergründe auch bei möglichkeitsmodalen Modalverben auftreten, so auch beim Modalverb können in den Beispielen 20 und 21. Bei diesen beiden Beispielen liegt eine universelle und ratschlagende Normativität vor: 20. Jeder kann sich im Leben einfach nur für den einzig passenden Weg entscheiden. 21. Im T-Shirt kann man nicht zum Staatsempfang gehen. In Beispiel 21 ist die Einschränkung partiell. Damit wird die Durchführung einer Handlung nur unter bestimmten „Auflagen“ verhindert oder von der Sprecherin/ dem Sprecher nicht als wünschenswert eingestuft. Eine Möglichkeit ist folglich in diesem Fall gegeben, eine Erlaubnis hingegen nicht. Das Modalverb können kann aber auch mit einem teleologischen Redehintergrund auftreten, so im Beispiel 22: 22. Damit die Anzahl der Corona-Neuerkrankungen wieder abnehmen kann, müssen sich alle an die Ausgangsbeschränkungen halten. In diesem Beispiel wird im Nebensatz das aus Sprechersicht als positiv und erstrebenswert angesehene Ziel, also der Rückgang der Corona-Neuerkrankungen, festgelegt. Der teleologische Redehintergrund von können wird dabei durch den finalen Subjunktor damit gestützt und hat so einen Fokus über den finalen Nebensatz hinaus, so dass müssen im Hauptsatz neben einer normativen auch einen stark teleologischen Redehintergrund realisieren kann. Mit dem teleologischen Redehintergrund des Modalverbs können ist eine Negation ebenfalls möglich: 23. Damit sich die Corona-Infektionen nicht über die Bundesländergrenzen durch Tourist/inn/en verbreiten kann, hat Mecklenburg-Vorpommern seine Grenzen zu den anderen Bundesländern geschlossen.

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In Beispiel 23 richtet sich die Zielsetzung im mit damit eingeleiteten finalen Nebensatz darauf, eine Möglichkeit mit negativen Folgen zu verhindern. Deshalb wird das Modalverb können, dem diese zu verhindernde Möglichkeit inhärent ist, mit Negation eingesetzt. In bestimmten Kontexten ist bei können auch ein volitiver Redehintergrund möglich. Dieser Redehintergrund kommt v. a. bei der Ansprache einer Person durch ein Sprecher-Ich vor, so in Beispiel 24: 24. Sie sind entlassen. Sie können jetzt Ihre Sachen packen und die Firma verlassen. In dem Beispiel 24 wird der Modalverbgebrauch motiviert, um intrasubjektive Wünsche zu reflektieren. Zugleich ist dem Modalverb können neben der Reflexion des eigenen Wunsches des Sprechers/der Sprecherin auch eine direktionale Semantik inhärent, selbstverständlich abhängig von der Intention der sprechenden Person, dem intendierten Nachdruck und dem Diskurs- und Handlungskontext. In diesem Sprechakt des Direktivums wird können im Unterschied zu seiner gewöhnlichen Semantik im Sinne einer Möglichkeit hier zum Ausdruck einer Aufforderung eingesetzt. Diese Deutung legt eine semantische Überschneidung des Modalverbs können mit sollen oder gar müssen nahe. Trotz semantischer Überschneidung zwischen dem Modalverb können im Sinne einer Aufforderung mit den Modalverben sollen und müssen, die hauptsächlich in direktiven Sprechakten geläufig sind, liegt ein signifikanter Unterschied zwischen können und den beiden unidirektionalen Modalverben mit Blick auf die interaktionale Bedeutung dieser Modalverben vor. Denn die Formulierung eines Direktivums mit dem Modalverb können fällt durch die Indirektheit dieses Ausdrucks deutlich höflicher aus als mit den eine starke Direktheit ausdrückenden Modalverben sollen oder müssen. Ein negierter Gebrauch des Modalverbs können ist mit einem volitiven Redehintergrund ebenso möglich: 25. Das können Sie nicht machen! Die Sprecherin/der Sprecher will nicht, dass die Angesprochene/der Angesprochene eine bestimmte Handlung durchführt. Ähnlich Beispiel 24 handelt es sich hier ebenfalls um einen Sprechakt des Direktivums, in dem das Modalverb können nicht im Sinne einer Möglichkeit benutzt wird. Der intrasubjektive Wunsch der sprechenden Person richtet sich auf das Unterlassen bzw. Verbot einer Handlung und keineswegs zur Verbalisierung einer Möglichkeit. Damit zeigt dieses Modalverb mit Negation eine semantische Überschneidung mit dem Modalverb dürfen mit Negation. Die volitive Komponente des Modalverbs können wird in dem Beispiel 26 besonders stark hervorgehoben:

3.3 Die Klassifikation der Modalverbklassen nach ihrem Redehintergrund 

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26. Doch nur könnten mehr Programme zur Bekämpfung der Kinderarmut finanziert werden! Dieses Beispiel zeigt, dass eine konjunktivische Verwendung dieses Modalverbs für den Ausdruck von Wünschen mit starkem Nachdruck besonders geeignet ist. Im Unterschied zu den Beispielen 24 und 25 motiviert der starke innere Wunsch der Sprecherin/des Sprechers die Äußerung, um eine Veränderung in der Welt herbeizuführen. In Beispiel 26 hingegen ist die Stärke der unidirektionalen Semantik nicht in der Ausprägung inhärent wie in den vorangegangenen Beispielen. Die Beispiele 24 und 25 verfügen über einen stark auffordernden Charakter und fungieren als Aufforderung, nicht bloß – wie in Beispiel 26 – als ein Wunsch mit starkem Nachdruck. Die hohe Anzahl von können-Belegen mit den unterschiedlichsten und sich teilweise überschneidenden Redehintergründen und kommunikativen Funktionen unterstützt die Hypothese, dass dieses Modalverb von allen handlungsraumbezogenen Modalverben den weitesten Skopus hinsichtlich der möglichen Redehintergründe aufweist. Wie bereits gezeigt, kann das Modalverb können neben den wissensbezogenen Redehintergründen (epistemisch und stereotypisch) auch mit jedem deontischen Redehintergrund (circumstantiell, normativ, teleologisch und volitiv) nach Zifonun (in Zifonun et al. 1997) auftreten. Nach den Erklärungen und Beispielen zu den handlungsraumbezogenen Modalverben werden in der Folge die zielbezogenen Modalverben mögen/möchten, sollen und wollen mit ihren jeweiligen Redehintergründen an den Beispielen diskutiert. Mögen und möchte- treten in nichtepistemischer, deontischer Bedeutung mit intrasubjektiv-volitivem Redehintergrund auf, wobei die höflichere Konjunktiv-IIForm in der Sprache der Politik dominiert (vgl. zu möchte- als textsortenübergreifende „üblichere Variante“ Zifonun et al. 1997: 1895). Deshalb werden hier auch nur Beispiele mit möchte- angeführt. 27. Russland möchte den Ölpreis wieder steigen sehen. 28. Russland möchte nicht tatenlos zusehen, wie der Ölpreis noch weiter fällt. Wie auch in der literarischen Sprache (vgl. Zifonun et al. 1997: 1895) gibt es im Sprachgebrauch der Politik ebenfalls extrasubjektiv-volitive Verwendungen, so z. B. in Gedenkreden oder Ansprachen: 29. Mögen alle Maßnahmen gegen Corona Erfolg haben. Das Modalverb wollen hat eine noch stärkere volitive Kraft als mögen und möchte- und wirkt im politischen Sprachgebrauch direkter, weniger höflich, aber dafür umso entschlossener und deutlich tatkräftiger. Das Modalverb wollen tritt deshalb

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sehr häufig bei der Vorstellung politischer Pläne im Umfeld von Wahlkämpfen und beim politischen Agenda Setting auf, aber auch bei der Beschreibung der Absichten der politischen Gegner/innen, denn hier wäre mögen/möchte- zu zaghaft: 30. Wir wollen die Steuern senken. 31. Opposition: Die Regierung will der Industrie keine schmerzhaften Einschnitte zum Schutz des Klimas zumuten. Wie das bei den zielbezogenen Modalverben häufig der Fall ist, liegt auch in den Beispielen 30 und 31 eine Überschneidung des volitiven Redehintergrunds mit dem teleologischen Redehintergrund vor. In Beispiel 30 richtet sich die Zielsetzung auf die Proposition der Steuersenkung, in Beispiel 31 beim Einsatz des Modalverbs wollen mit Negation hingegen auf die Vermeidung des Eintretens einer als negativ wahrgenommenen Möglichkeit. Das ebenfalls zielbezogene Modalverb sollen tritt in deontischem Gebrauch mit normativem und telelogischem Redehintergrund auf und impliziert dabei immer einen volitiven Redehintergrund: 32. Italien möchte seine wirtschaftlichen Folgen der Corona-Epidemie mit EuroBonds bekämpfen. Die Nord-Euro-Länder sollen höhere Zinsen zahlen und für italienische Schulden haften, damit Italien eine niedrigere Zinslast hat. Beispiel 32 zeigt wie aus einem intrasubjektiven Redehintergrund (Italien möchte) ein extrasubjektiver Redehintergrund wird (Die Nord-Euro-Länder sollen). Gleichzeitig kann an dem Beispiel zum Modalverb sollen ein normativer und teleologischer Redehintergrund beobachtet werden, denn aus italienischer Sicht wird auf eine moralische Verpflichtung der Nord-Euro-Länder hingewiesen und damit eine Verhaltensweise in der Zukunft nicht nur als klare Zielsetzung, sondern auch als Norm dargestellt. Der circumstantielle Redehintergrund wird durch die Rahmenbedingung der Corona-Krise aktiviert. Eine noch stärkere Ausprägung des normativen Redehintergrunds in Überschneidung mit dem circumstantiellen Redehintergrund kann man im folgenden Beispiel zum Modalverb sollen beobachten: 33. Der Inklusionsbeauftragte betont, dass sich jede Regierung und jedes Unternehmen für Inklusion stärker einsetzen sollen. Der teleologische Redehintergrund rührt daher, dass die Zielsetzung des Satzes im Nebensatz festgelegt wird. Der normative Redehintergrund geht hingegen nicht nur auf den Nebensatz zurück, sondern auch auf die Präsupposition, dass im Artikel 3 des Grundgesetzes Inklusion in allen Bereichen des Lebens umzusetzen ist, so auch in Unternehmen. Der Ursprung des normativen Redehintergrunds liegt folglich in dem einigermaßen akzeptierten gesellschaftlichen Konsens über Inklu-

3.3 Die Klassifikation der Modalverbklassen nach ihrem Redehintergrund 

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sion und der rechtlichen Regelung des Grundgesetzes. Damit fällt also die Normativität in diesem Beispiel stärker aus als in Beispiel 32, in dem zum Zeitpunkt der Äußerung noch kein allgemeiner Konsens über die Proposition vorhanden ist und der Ursprung damit noch nicht als gesichert gilt. Ähnlich Beispiel 32 kann auch hier eine weitere Überschneidung mit einem volitiven Redehintergrund angenommen werden, denn der Inklusionsbeauftragte in der Funktion des Subjekts im Hauptsatz möchte v. a. mit Hilfe des Einsatzes des Modalverbs sollen seinen Wunsch auf die Regierung und Unternehmen als Subjekte im Nebensatz übertragen und eine Folgehandlung auslösen. Für das Modalverb sollen mit Negation lassen sich die Beispiele 34 und 35 anführen, in denen eine Überschneidung mit den Beispielen 32 und 33 vorliegenden Redehintergründe ebenfalls konstatiert werden kann: 34. Menschen mit Behinderung sollen nicht zur Zielscheibe von Diskriminierung werden. 35. Abgeordneten von Volksparteien sollen mit Abgeordneten extremer Parteien nicht zusammenarbeiten. In den Beispielen 34 und 35 richtet sich die Zielsetzung nicht auf die Herbeiführung einer Handlung, sondern in beiden Fällen um Handlungsprävention, mit dem Unterschied, dass im Beispiel 34 die Lesart eines Verbots naheliegt, während Beispiel 35 eher die Funktion einer Empfehlung mit dringendem Nachdruck zugeordnet werden kann. Von der Verwendung der Konjunktiv-II-Form sollte- von sollen kann im politischen Sprachgebrauch ebenfalls ausgegangen werden. Genau wie in anderen Genres steht diese nicht nur für Höflichkeit, Empfehlung oder vorsichtige Verbalisierung einer abgeschwächten Verpflichtung, sondern kann als Einleitung eines konditionalen Nebensatzes auch gänzlich ohne normativen Redehintergrund auftreten: 36. Sollte der Ölpreis noch weiter fallen, droht Russland eine Haushaltskrise. 37. Sollten sich die Verhandlungen weiterhin so positiv entwickeln, kann der Vertrag bald abgeschlossen werden. In den beiden Beispielen wird das Modalverb sollen in konjunktivischer Form zum Ausdruck von Prognosen eingesetzt. Die im Allgemeinen starke zielbezogene Semantik des Modalverbs sollen tritt in diesen Fällen in den Hintergrund, eventuell auftretende Ereignisse unter Hinweis auf bestimmte Umstände dominieren hingegen in beiden Äußerungen. Diese Dominanz der Umstände lässt auf einen circumstantiellen Gebrauch schließen, und zwar in Überschneidung mit einem teleologischen – in Beispiel 36 die Vermeidung ungünstiger Umstände und in Beispiel 37 die Herbeiführung positiver Umstände und Ziele – und einem volitiven

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Redehintergrund. Da es sich allerdings bei beiden Beispielen um eine Prognose handelt, also um die Reflexion des Wissensstandes, kann in diesen Fällen neben diesen anderen Redehintergründen auch ein epistemischer Gebrauch vermutet werden. Diese semantisch-funktionale Überlappung des mehrfachen deontischen Gebrauchs und des epistemischen Gebrauchs bestätigt die Berechtigung der Kritik von Diewald (1999: 72) an der Dichotomie „deontisch“ und „epistemisch“. In diesem Subkapitel wurden der Gebrauch der Modalverben im engeren Sinne und ihre Klassifikation nach den jeweiligen Redehintergründen an politiksprachlichen Beispielen dargestellt. Bei der Klassifikation der Redehintergründe wird der grundsätzliche semantische Unterschied zwischen notwendigkeits-, möglichkeits- und willensmodalen Modalverben in den meisten Klassifikation teilweise nicht berücksichtigt, so auch bei Zifonun et al. (1997). Aufgrund der häufig auftretenden Überschneidung der Redehintergründe – insbesondere im Fall der zielbezogenen Modalverben im engeren Sinn – wird in dieser Arbeit von der Prämisse ausgegangen, dass die Zuordnung eines bestimmten Sprachbelegs zu einem einzigen Redehintergrund nur begrenzt möglich ist, aber dennoch musterhafte Züge des Modalverbgebrauchs und ihrer Redehintergründe in den Bundespressekonferenzen durch eine qualitative Analyse aufgezeigt werden können. In den Kapiteln 4 und 5 strebe ich deshalb bei der Korpusuntersuchung nicht die Quantifizierung einzelner Redehintergründe an, sondern die Erschließung von Mustern, die mit dem Modalverbgebrauch in Bundespressekonferenzen mit einem starken Fokus auf die Argumentation einhergehen. Die statistische Darstellung erfolgt deshalb nach Modalverben und nicht nach dem Redehintergrund. Auch eine statistische Unterscheidung nach rein deontischer und rein epistemischer Verwendung erscheint bei häufig überlappenden Redehintergründen statistisch wenig sinnvoll, zumal im Untersuchungskorpus weit unter 1 % der Belege eine rein epistemische Verwendung aufweist, die sprecherbezogen v. a. bei Gerhard Schröder auftritt. Die Redehintergründe wiederum sind sehr hilfreich für eine exemplarische qualitative Analyse der argumentativen Funktion der Modalverben an der Schnittstelle zwischen der traditionellen grammatischen Semantik und der Diskursanalyse sowie Pragmatik in den beiden Bundespressekonferenzen von 1990 (Helmut Kohl) und 2013 (Angela Merkel, Sigmar Gabriel, Horst Seehofer) in Kapitel 5.

3.4 Modalverben im Diskurs- und Handlungskontext – Ein diskursanalytischer und pragmatischer Ansatz In den Abschnitten 3.1 bis 3.3 wurden die grammatischen und semantischen Fragen diskutiert, die mit den Modalverben im engeren Sinn dürfen, können, müssen,

3.4 Modalverben im Diskurs- und Handlungskontext



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mögen/möchte-, sollen und wollen einhergehen. Komplementär dazu konzentriert sich dieser Abschnitt auf die diskursanalytische und pragmatische Relevanz der Modalverbforschung und folgt damit dem Vorschlag von Croft (1991: 146), bei der Untersuchung grammatischer Einheiten sowohl semantische als auch pragmatische Ansätze analytisch simultan einzusetzen. Form, Funktion und Semantik von Modalverben wurden in den bisherigen Ausführungen erläutert. Der argumentative Wert der Modalverben blieb allerdings bislang im Hintergrund. Dieses Kapitel fokussiert folglich Modalverben als kognitiv wirksame Teile persuasiver Argumentation im Handlungs- und Diskurskontext. Von Wright (1977: 1) erkennt den Zusammenhang zwischen Argumentation und den sogenannten „Modalbegriffen“. Zu diesen gehören neben anderen Klassen auch die Modalverben. Nach von Wright (1977: XII) ist die „Analyse normativer Aussagen und praktischer Notwendigkeiten unmittelbar erforderlich […], um die Argumentationsstruktur von Handlungsbegründungen freizulegen“. Er lehnt sich mit seiner Beobachtung an die Sprechakttheorie an und führt diese weiter. Von Wright (1977: X) verbindet außerdem nicht nur die Modalität mit der Argumentation – für die damalige Zeit ein Novum –, sondern etabliert auch einen eigenen intentionalen Handlungsbegriff: Handeln [heißt] in erster Linie intentional (willentlich, absichtlich) eine Veränderung in der Welt (in der Natur) bewirken oder verhindern.

Diese Handlungsbeschreibung impliziert ein enges Verhältnis der in der Sprechakttheorie zentralen Kategorie „Intention“ zu den Modalverben in deren deontischem Gebrauch. Die Sprechakttheorie stellt nach Cutting (2008: 152) das zentrale Element der Pragmatik dar und basiert nach Ehlich (2005: 269) auf der Feststellung, dass Äußerungen neben ihrer Bedeutung eine spezifische Kraft zukommt, durch die mit ihnen Handlungen vollzogen werden. Diese Handlungen werden durch die Intentionen der Sprecher/innen motiviert und sollen auf der Rezipientenseite die gewünschte Wirkung auslösen. Das Hauptaugenmerk der Sprechakttheorie liegt auf der Illokution (Searle 1979: 149 f.), also der Intention des Sprechers/der Sprecherin. Die Sprechakttheorie segmentiert eine Äußerung in verschiedene Teilakte, die das Verhältnis zwischen sprachlichen Aspekten im engeren Sinn sowie handlungstheoretischen Kategorien beschreibt (Adamzik 2007: 94). Im Fokus der Sprechakttheorie steht der Sprechakt als Entität, der als Basis sprachlicher Kommunikation angesehen wird (Busch & Stenschke 2008: 217) und mehrere simultan vollzogene Teilakte umfasst (Bußmann 2008: 675). Diese Teilakte sind durch eine „Indem-Relation“ miteinander verbunden (Busch & Stenschke 2008: 217).

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Austin unterscheidet hierbei zwischen dem phonetischen, dem phatischen, dem rhetischen, dem illokutiven sowie dem perlokutiven Akt. Der phonetische Akt „besteht einfach im Äußern gewisser Geräusche“ (Austin 1979: 112 f.), der phatische Akt „im Äußern gewisser Vokabeln“ und der rhetische Akt „besteht darin, daß man diese Vokabeln dazu benutzt, über etwas mehr oder weniger genau Festgelegtes zu reden und darüber etwas mehr oder weniger genau Bestimmtes zu sagen“. Den Vollzug einer Handlung bezeichnet Austin (1979: 117) als den Vollzug eines illokutionären Aktes. Der perlokutive Akt (Austin, 1979: 118) beinhaltet die Wirkung, die durch die von Sprecher/inne/n getätigte Handlung bei Rezipient/inn/en ausgelöst wird. Mit einer genauen Unterscheidung der sog. direkten und indirekten Sprechakte setzte sich Searle (1980: 127), der die Sprechakttheorie ergänzte und modifizierte, auseinander. Searle (1980: 83) entwickelte den ersten Klassifikationsversuch von Austin weiter und differenzierte die illokutiven Sprechakte mithilfe von zwölf Dimensionen in fünf Klassen. Von diesen zwölf Dimensionen sind v. a. die drei Dimensionen des illokutionären Zwecks, der Anpassungsrichtung und des psychischen Zustands (Ballmer 1979: 247) ausschlaggebend für die Zuordnung eines illokutiven Sprechaktes zu einer von fünf Klassen der Repräsentative, Direktive, Kommissive, Expressive und Deklarative nach Searle (1980: 100–104). In Kapitel 6 zur Bundespressekonferenz von 1990 mit Helmut Kohl und Kapitel 7 zum Überblick und Eingangsstatement der Bundespressekonferenz von 2013 mit Angela Merkel, Sigmar Gabriel und Horst Seehofer wird auf diese Klassifikation nach Searle, wo es im Rahmen der argumentativen Modalverbuntersuchung sinnvoll ist, zurückgegriffen, um Zusammenhänge zwischen den einzelnen Modalverben und den Sprechaktklassen herzustellen, in denen diese vorkommen. Ein solcher Hinweis wird jedoch nur in den Belegen möglich sein, in denen es sich um direkte Sprechakttypen handelt, was in der politischen Kommunikation nicht regelmäßig der Fall ist. Das Verhältnis der Modalverben und den Sprechakttypen, in denen sie auftreten, zu erforschen ist besonders sinnvoll, wenn man an Liedtke (1998: 221) anknüpft und die Modalverben als illokutionäre Indikatoren betrachtet. Die Einstellung des Sprechers/der Sprecherin beim und zum Vollzug sprachlicher Handlungen nach Koschmieder (1944/1945), Austin (1979) und Searle (1982), die einen Diskurs maßgeblich beeinflussen können, wird häufig mit Hilfe von Modalverben ausgedrückt. Auch zwischen den Intentionen der Sprecher/innen und dem Gebrauch der Modalverben kann eine Korrelation angenommen werden. Wie auch schon aus Diewalds Diskussion der „deiktische[n] Variante der Modalverben“ (1999: 55) hervorgeht, wird in dieser Arbeit angenommen, dass der Modalverbeinsatz in nichtepistemischem Gebrauch als Indikator für Sprecherintentionen fungieren kann. Im „absoluten“ Gebrauch, der nach Kaiser (2017) für gesprochensprachliche Interaktionen besonders charakteristisch ist, ist die Sprecherintention stärker ausgeprägt als in anderen Fällen. Dieser Gebrauch ist jedoch

3.4 Modalverben im Diskurs- und Handlungskontext



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in Bundespressekonferenzen nur selten zu beobachten und wird aus diesem Grund in dieser Arbeit nur am Rand behandelt. Auch Abraham & Leiss (2013: 11) stellen eine direkte Verbindung zwischen Modalverben und der Sprechakttheorie – hier den „Sprechakthaltungen“ – her:13 Den Modalverben und Sprechakthaltungen („propositional attitudes“) ist somit gemeinsam, dass sie die Gewährleistungshierarchie des Satzes sichtbar werden lassen. Damit legen sie fest, inwieweit Satzäußerungen Wissensbehauptungen bzw. schwächeren Faktizitätsabweichungen entsprechen.

Dieser Ansatz geht über die Sprechereinstellung hinaus und verbindet die Sprecherintention mit der Übernahme der Gewährleistungsgarantie. Diese Gewährleistungsgarantie schließt zusätzlich zum deontischen und absoluten Gebrauch auch den epistemischen Gebrauch der Modalverben mit ein. Ähnlich wie später Abraham & Leiss (2013) knüpft Szczepaniak (2011: 165) an die Reflexion von Wissensbeständen und deren sprecherbezogene Gewährleistung an und beschreibt die Leistung der Modalverben wie folgt: Die besondere Leistung der Modalverben liegt darin, dass sie uns, den Sprechern, ermöglichen, unsere Wissensbestände, unser Wertesystem, unseren Willen u. Ä. in die Äußerung einzubeziehen.

Szczepaniaks Beschreibung führt die oben angeführten Gebrauchstypen der Modalverben – epistemisch, deontisch und absolut – zusammen. Die Sprecher/innen reflektieren mittels des Modalverbgebrauchs eigene Intentionen und Normvorstellungen in einem bestimmten kulturellen und soziolinguistischen Deutungsrahmen als Teil eines größeren Argumentations-, Diskurs-, Handlungs- und Interaktionskomplexes. Bei der Reflexion der eigenen Person und der Beschreibung des eigenen Verhältnisses zu Abstrakta und Konkreta in der Welt, also beim Sprechen über die vom Sprecher-Ich wahrgenommene Realität, sind Modalverben sehr bedeutsam. Die sprachliche Abbildung der Realität mit Hilfe von Modalverben erfolgt pragmatisch, aber auch semantisch indiziert und systemgrammatisch restringiert. Dieser pragmatischen Steuerung der Modalverbverwendung tragen Modalverbklassifikation wie die in Abschnitt 3.2 vorgestellte Klassifikation von Zifonun (in Zifonun et al. 1997) Rechnung, die sich gut in ein Analyseraster für eine Modalverbuntersuchung zur Abbildung der Realität des Sprechers/der Sprecherin und seines/ihres Verhältnisses zur Welt im Kontext einfügt.

13 In dieser Theorie wird zwar immer wieder auf Begrifflichkeiten aus gängigen Sprechakttheorien hingewiesen, auf eine direkte Verbindung mit diesen wird jedoch nicht eingegangen.

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3 Die Modalverben

Die Einordnung des Gebrauchs eines Modalverbs je nach Kontext wird auch in Schriften anderer Wissenschaftler/innen betont. So hebt von Polenz (2008: 197) die Relevanz des Kontextes für den Modalverbgebrauch hervor: Wesentlich ungenauer, d. h. vom Kontext abhängig, sind Modalverben als Ausdrücke für Sprecherhandlungen. Modalverben müssen grundsätzlich aus dem Kontext heraus entweder als Ausdruck des Handlungsgehalts oder als Teile des Aussagegehalts interpretiert werden.

Früher schon stellte Diewald (1999: 47) fest, dass die „Spezifizierung der Lesarten […] in Abhängigkeit von kontextuellen Merkmalen und über den kognitiven Mechanismus der konversationellen Implikatur“ erfolgt. Dieser Ansatz verbindet die in der Pragmatik geläufigen Termini der Kontextualität und der konversationellen Implikatur mit kognitiven Mechanismen und somit Aspekte der Pragmatik und der Kognitionslinguistik miteinander. Auch Abraham (2013: 29) führt diese beiden linguistischen Teildisziplinen im Interesse einer möglichst umfassenden Analyse des Modalverbgebrauchs in Anlehnung an Stone (1997) zusammen, indem er im Modalitätsmodul drei modale Szenarien, das „Spechaktszenario (Information über den Sprecher)“, das „Ereignisszenario (die durch den Satz beschriebene Ereignissituation)“ und das „Referenzszenario (das kontextbezogen saliente Szenario)“ annimmt. Dieser differenzierte Ansatz von Abraham ist für eine Arbeit an der Schnittstelle von Grammatik – auch kognitiver Grammatik – und Diskurs vielversprechend. Die Verwendung des Begriffs des Sprechaktszenarios deutet darauf hin, dass Abrahams Ansatz pragmalinguistisch motiviert ist. Den Begriff des Ereignisszenarios sowie die Angabe dazu in Klammern hat Abraham vermutlich der Kognitionslinguistik (u. a. Langacker 1999, 2008) entnommen. Während der Begriff des Referenzszenarios unter dem Aspekt der terminologischen Verwendung an die referenzielle Semantik nach Bühler (1934/1999) erinnert, scheint sich seine Beschreibung in Klammern mit „das kontextbezogen saliente Szenario“ an die Pragmatik und die Diskursanalyse anzulehnen. Bedauerlich bleibt aber, dass Abraham die Szenarien nicht näher erörtert. Eine mit der Trias von Abraham nur zum Teil vergleichbare Dreiteilung hat Chilton entwickelt. Chilton (2004: 56 ff.) geht von einem Zusammenhang zwischen Indexikalität und den drei Dimensionen der Deixis aus, zu denen er die räumliche, die zeitliche und die modale Deixis als Diskursdeiktika zählt. Chilton (2004: 56) beschreibt den referenziell-indexikalischen Wert der Deiktika im Allgemeinen wie folgt: Language-in-use […] consists of utterances generated and interpreted in relation to the situation in which the utterer(s) and interpreter(s) are positioned. The term ‘positioned’ can be understood as a spatial metaphor conceptualising the speaker’s and/or hearer’s relationship

3.4 Modalverben im Diskurs- und Handlungskontext



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to their interlocutor(s), to their physical location, to the point in time of the ongoing utterance, and to where they are in the ongoing discourse. ‘Indexical expressions’ or ‘deictic expressions’ are linguistic resources used to perform deixis – that is, to prompt the interpreter to relate the uttered indexical expression to various situational features.

Über die für die Diskursanalyse und Pragmalinguistik spezifische Betrachtung des Sprechers/der Sprecherin im Kontext hinaus sieht dieser integrative Ansatz auch die Positionierung der Kommunikationsteilnehmer/innen im situativen, kommunikativen und interaktiven Kontext durch die Erschließung von Referenzwerten vor. Über diese Referenzwerte kann man nach Auffassung von Chilton nicht nur in der referenzlinguistischen Forschung als geläufige Forschungsobjekte – Wortarten wie Pronomen, Lokaladverbien usw. – Rückschlüsse ziehen, sondern auch über den Eigen- und Fremdpositionen reflektierenden Modalverbgebrauch. Denn nach Chilton (vgl. 2004: 202) drücken grammatikalisierte modale Ausdrücke aus, ob obligatorische Verpflichtungen unter sozialem Druck geschehen, Faktizität oder Zweifel an einer Äußerung besteht oder die Evidentialität einer Äußerung auf einer zuverlässigen oder unzuverlässigen Quelle basiert. Fokussiert werden bei dieser vielseitigen Betrachtung insbesondere die ein indexikalisches Potenzial beinhaltenden Modalverben, die eine Positionierung des Sprechers/der Sprecherin ermöglichen. Dieser Rückschluss ist mehr als nachvollziehbar, wenn davon ausgegangen wird, dass im politischen Kontext grammatische bzw. grammatikalisierte Lexeme (z. B. die Modalverben) wie auch grammatische Konstruktionen intentional eingesetzt werden. Grammatische bzw. grammatikalisierte Lexeme und Konstruktionen sind, wie auch andere bereits hinreichend erforschte Einheiten der Lexik, Träger einer oder mehrerer eigenständiger semantischer Bedeutungen und Informationen. Mit deren Hilfe wird es Kommunikationsteilnehmer/inne/n möglich, eigene Einstellungen und Wahrnehmungen zu signalisieren. Auch werden grammatische Konstruktionen von Akteur/inn/en in der Öffentlichkeit gezielt ausgewählt, um einen möglichst hohen Grad von Verantwortungsübernahme signalisieren zu können oder auch um Verantwortung von sich zu weisen. Chilton (2004: 202) weist außerdem auf die zweifellos relevante und besonders vielseitige Funktion der Modalverben für den politischen Sprachgebrauch hin: Moreover, we have seen […] that establishing ‘credibility’, claiming ‘rightness’ and ‘legitimising’ truth claims constitute a political strategy that recruits many available linguistic mechanisms.

Selbst unter Berücksichtigung zum Teil divergierender lexikalischer und grammatischer Systeme im Sprachgebrauch innerhalb und außerhalb der Politik liegt also die Annahme nahe, dass Absichten, Einstellungen, Möglichkeiten, Verpflichtungen, Zwang und Wissensbestände von Politiker/inne/n auch in dem musterhaften

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3 Die Modalverben

politischen Sprach- und Grammatikgebrauch ebenso wie in der Umgangssprache nicht nur14, aber auch und vor allem mit Hilfe von Modalverben indiziert werden. Modalverben liegen – wie wir es dem Zitat von Chilton entnehmen können – auch den Konzepten der Glaubwürdigkeit und des Recht- bzw. Unrechthabens zugrunde. Zum indexikalischen Referenzwert grammatischer bzw. grammatikalisierter Lexeme und Konstruktionen – und damit auch der Modalverben – tritt ein framesemantisch indizierter argumentativer Wert hinzu, der im lexikogrammatischen Wissen des menschlichen Gehirns abhängig von der jeweiligen Sprache verankert ist. Demzufolge sind Modalverben fähig, die Intensität einer Argumentationsstrategie zu bekräftigen bzw. den Grad der Persuasion in den Reden zu verstärken.

3.5 Modalverben in der Interaktion im Konversationsverlauf Wie im letzten Abschnitt 3.4 erläutert, sind Modalverben für Handlungen durch Sprache im Kontext besonders signifikant, weil sie die Einstellungen der Interaktionsteilnehmer/innen in einer Konversation aufzeigen. Auch die Konversationsanalyse fokussiert Handlungen in Kontexten, in denen vor allem persönliche Einstellungen reflektiert werden. Birkner (in Birkner et al. 2020: 11) weist auf einen hohen Grad sprachlicher Vagheit hin und konstatiert, dass „konkrete Äußerungen ihre Bedeutung erst durch den Bezug auf den sozialen Kontext“ erhalten. Angesichts der Vagheit im Sprachgebrauch ist es hilfreich, die Verkettung sprachlicher Handlungen im Prozess der Realitätsabbildung und der Konsensaushandlung im Laufe von Interaktionen im konversationellen Verlauf zu betrachten. Der Sprecherwechsel ist ein bevorzugter Moment, an dem Interaktionen nach Birkner (in Birkner et al. 2020: 10) von den „Gemeinschaftsmitgliedern“ aktiv gestaltet werden, um durch die abwechselnde Darstellung ihrer Einstellungen Schritt für Schritt zur Wirklichkeitskonstituierung beizutragen: Soziale Tatsachen sind damit das Resultat von Interaktionsprozessen. Gemeinschaftsmitglieder sind nicht einfach passiv ihren sozialisierten Bedürfnissystemen, internalisierten Normen, gesellschaftlichen Zwängen etc. unterworfen, sondern bringen soziale Wirklichkeit in konkreten Situationen und in der Interaktion mit den anderen Beteiligten als einen sinnhaften Handlungszusammenhang hervor und gestalten ihn aktiv.

14 Alternativen zu den Modalverben bieten für den Ausdruck von Einstellungen und Verpflichtungen u. a. Modalpassivkonstruktionen oder auch zu+Infinitiv+Konstruktionen, die in dieser Monografie nicht berücksichtigt werden können.

3.5 Modalverben in der Interaktion im Konversationsverlauf



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Diese Auffassung humaner Interaktion korreliert mit Auers (in Birkner et al. 2020: 110) Beschreibung von Interaktionen hinsichtlich des Kooperationsprinzips unter den Handlungsteilnehmer/inne/n in der Konversation, rückt aber die Konsensorientierung sowie die nonverbale Kommunikation bei der Konsensaushandlung in den Vordergrund: Sie [Interaktionsteilnehmer/innen] schauen sich an, sie koordinieren ihre Körperhaltungen und Bewegungen, sie nicken oder sie bestätigen durch hm_hms und jas, dass sie ratifizierte Gesprächsteilnehmer sind. In diesem Strom multimodaler Synchronisierung haben allerdings bestimmte Verhaltensweisen einen herausgehobenen Stellenwert. Diese Handlungen können rein sprachlich oder rein körperlich ausgeführt werden, oft auch in einer Mischung von beidem.

Beiden Interaktionsauffassungen ist inhärent, dass die Prozessualität der Wirklichkeitsrealisierung ein zentraler Aspekt von Interaktionen in Konversationen ist, mit der nach Birkner (in Birkner et al. 2020: 10) auch die Informationsserialisierung einhergeht. Demnach sind Konversationen „fortlaufend (ongoing), in der Situation (local), audio-visuell (durch Hören und Sprechen, Wahrnehmen und Agieren), in der Interaktion erzeugt, bestätigt und weiterentwickelt von Mitgliedern von Kommunikationsgemeinschaften“ (ebd.). Unter Informationsserialisierung wird in der Interaktionalen Linguistik die kommunikationsstrategische Operationalisierung und Verkettung der Informationen in den einzelnen Sequenzen verstanden. Diese Operationalisierung muss bei jedem Sprecherwechsel im Konversationsverlauf durch den Adressatenzuschnitt (vgl. Auer in Birkner et al. 2020: 17 f.) von neuem geplant und jeweils an die Reaktion des Gegenübers angepasst werden. Der Adressatenzuschnitt ist jedoch nicht identisch mit der Präferenz- bzw. Dispräferenzmarkierung in Konversationen. In der politischen Kommunikation gibt es nämlich öfter skandalisierte Konflikte, die auf der kommunikativen Ebene intendiert dissensorientiert ausgefochten werden und gegen das Prinzip der kommunikativen Kooperationsbereitschaft verstoßen. Ein Beispiel für solche Regelverstöße ist das oft in der Presse und in den sozialen Medien kritisierte TV-Duell zwischen den US-amerikanischen Präsidentschaftskandidaten Joe Biden und Donald Trump Ende September 2020. Dieses beinhaltet neben dem Verstoß gegen die kommunikative Kooperationsbereitschaft viele Dissensmarker wie langes simultanes Sprechen (vgl. Birkner in Birkner et al. 2000: 296) in längeren Gesprächssequenzen. Laut Birkner (ebd.) ist die Länge eines Redebeitrags nämlich proportional zur Anzahl der Dispräferenzmarker. In dieser Arbeit werden Modalverben als Einstellungsmarker im Konversationsverlauf darauf untersucht, wie sie bei der Konsensaushandlung zur Reflexion von Präferenz und insbesondere Dispräferenz beitragen.

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3 Die Modalverben

Obwohl in der konversationsanalytischen Forschung den Modalverben mittlerweile etwas mehr Aufmerksamkeit zukommt, werden diese in Konversationen vorwiegend als Mittel für das Ergreifen des Rederechts identifiziert – v. a. bei Imo (2007: 118 ff.) und Hoffmann (2016: 318) – und deshalb auch meist nur in diesem Kontext untersucht. Die Betrachtung der Modalverben als Einstellungs- und damit Präferenz- und Dispräferenzmarker in den Redebeiträgen rückt dagegen in den Hintergrund und wird nur in wenigen Beiträgen – z. B. von Deppermann (2014) – fokussiert. Für Interaktionen in der politischen Kommunikation wie in der Diskussion zwischen den Journalist/inn/en und den teilnehmenden Politiker/inne/n ist es jedoch essentiell, die Funktionen der Modalverben in interaktionalem Kontext der Konversation zu berücksichtigen. Das Fundament für die Operationalisierung bildet im Kapitel 8 Birkner (vgl. 2020: 237), die für die Anerkennung der Sequenzialität bzw. „sequentielle Organisation“ von Interaktionen plädiert und jede Sequenz als eine eigenständige Handlungseinheit ansieht. Damit geht die Notwendigkeit einher, die Rolle der Modalverben bei der sequenziellen Darstellung von Perspektiven und Perspektivenwechseln im politischen Korpus zu untersuchen und zu ermitteln, wie diese bei der Konsensaushandlung im politischen Prozess zum Einsatz kommen. Deshalb sollen Modalverben in den einzelnen Äußerungssequenzen beobachtet und diese dann anschließend im Kontext der Redebeiträge und ihrem Zusammenspiel darüber hinaus untersucht werden. Verbale Interaktionen sind durch sogenannte Rederechtübernahmen gekennzeichnet (vgl. den Terminus turn taking seit den Anfängen der konversationsanalytischen Forschung bei Sacks 1972 und 1984 sowie Sacks et al., 1974). Die Übernahmen bestimmen zum einen die Struktur der Interaktion und des Konversationsablaufs formal, zum anderen nehmen sie Einfluss auf die Abfolge unterschiedlicher Argumente durch die Reflexion von Perspektivenwechseln. Die Abfolge in der Argumentation und die argumentative Anpassung oder die Argumentwiderlegung der Konversationspartner/inn/en lassen sich damit analytisch erfassen. Im Kapitel 8 erfolgt diese Operationalisierung im Rahmen der konversationsanalytischen Modalverbuntersuchung mit Blick auf die Einstellungsreflexion und auf die Argumentation in den einzelnen Konversations- und Handlungssequenzen. Folglich kann man von einer segmentierten Argumentation sprechen, die in den Sequenzen der Politiker/innen und darüber hinaus in den Redebeiträgen erfolgt und im Gesamtkontext der jeweiligen politischen Formate – in dieser Arbeit am Beispiel von Bundespressekonferenzen – zu betrachten ist. Dabei kommt den Modalverben bei der Konstituierung der segmentierten Argumentation in den Handlungs- und Konversationssequenzen eine wichtige Funktion zu (vgl. Kapitel 8). Eine allzu starke Konzentration auf den Vorgang des Ergreifens des Rederechts und die Rolle der Modalverben und der Modalverbkonstruktionen in den Interaktionen politischer Formate im Stil der deutschen Kanzlerduelle oder der Bundespressekonferenzen wäre für das Untersu-

3.5 Modalverben in der Interaktion im Konversationsverlauf



45

chungsziel jedoch wenig hilfreich. Die Rederechtvergabe erfolgt in den Bundespressekonferenzen nämlich durch die Moderator/inn/en, so dass sich die Politiker/ innen meistens nicht selbst um das Rederecht bemühen müssen, sofern das Prinzip der Kooperationsbereitschaft von den Teilnehmer/inne/n eingehalten wird und der Konsens über die übliche Form der Pressekonferenz gewahrt bleibt. Durch eine Verschiebung des Untersuchungsfokus weg von den Modalverben und den Modalverbkonstruktionen hin zum Ergreifen des Rederechts während des interaktionalen Argumentationsverlaufs bliebe deren wichtige argumentative Rolle in den Sequenzen, Redebeiträgen und im Gesamtkontext in der konversationsanalytischen Forschung weiterhin unterrepräsentiert. Im Rahmen der Analyse des Zusammenhangs zwischen Modalverbeinsatz und Argumentation in politischen Interaktionen im Konversationsverlauf möchte ich – wie oben angekündigt – an das Konzept der Reflexivität der interaktionallinguistischen Forschung anknüpfen, wie Birkner (in Birkner et al. 2020: 12 f.) es beschreibt: So wird der Vorgang der sinnvermittelten Konstruktion von sozialer Wirklichkeit in der Ethnomethodologie als eine interaktive Leistung begreifbar. Die Konversationsanalyse nutzt Reflexivität als Sinngebungsprozess, da eine Handlung durch den dargestellten Sinn erklärbar und verstehbar gemacht und gleichzeitig durch die Folgehandlung bestätigt wird (Bergmann 1994: 6) bzw. ihrerseits eine Folgehandlung darstellt, die einer vorangegangenen Handlung einen bestimmten Sinn verleiht.

In Anlehnung an Birkners Ausführungen wird in dieser Arbeit postuliert, dass Modalverben als Teile politischer Sinngebungsprozesse mit einem argumentativen Wert im Handlungsfeld der Politik zu betrachten sind. Modalverben treten hier als Teil von Erklärungen in dis/präferierten Redebeiträgen auf und steigern damit den Grad des Konsenses und der Verständlichkeit. Außerdem dienen sie funktional der Fokussierung der Politikerperspektiven in aufeinander folgenden Sequenzen und über diese hinaus abwechselnd im Gesamtkomplex der Redebeiträge. Birkner (in Birkner et al. 2020: 19) fordert dabei, Konversationen vor dem Zusammenhang des Handlungsverlaufs synchron zum Sequenz- und Redebeitragsverlauf zu betrachten. Für eine konversationsanalytische Untersuchung des Modalverbeinsatzes wird die Hypothese aufgestellt, dass Modalverben in politischen Interaktionen insbesondere als Teile von sprachlichen Handlungen – v. a. Begründungen, Bewertungen, Erklärungen – oft im Anschluss an die kritischen Fragen von Journalist/inn/en und politischen Kontrahent/inn/en in Redebeiträgen einer Konversation auftreten, in denen Dispräferenzmarker überwiegen. Sie sind außerdem als musterhafte Elemente kommunikativer Praktiken zu betrachten, die nach Birkner (in Birkner et al. 2020:14) in Anlehnung an Robinson (2016: 11) zu „Normalisierungs“-Effekten im Prozess politischer Interaktion beitragen:

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3 Die Modalverben

Bei der zweiten Gruppe von Verwendungen, die Robinson (2016:11) in der Forschung unterscheidet, geht es um Begründungen (accounts), die der „Normalisierung“ dienen, wenn Diskrepanzen bei der Erwartbarkeit, Typizität, vorausgesetzten moralischen Ansprüchen etc. auftreten oder die Beteiligten fürchten, dass sie auftreten könnten.

Die im vorliegenden Abschnitt dargestellten Modalverbeigenschaften bilden die theoretische Architektur zu Kapitel 8. In diesem werden Modalverben in der Interaktion mit Journalist/inn/en und Politiker/inne/n am Beispiel der Diskussion der Bundespressekonferenz 2013 mit Angela Merkel, Sigmar Gabriel und Horst Seehofer auf ihre Funktion hin in den jeweiligen interaktionalen Handlungen überprüft.

3.6 Modalverben an der Schnittstelle zur Konstruktionsgrammatik und der Konversationsanalyse Für die spätere Untersuchung von Modalverbkonstruktionen in Interaktionen in Bundespressekonferenzen am Beispiel der vollständig archivierten und auch als Video abrufbaren Bundespressekonferenz vom November 2013 mit Angela Merkel, Sigmar Gabriel und Horst Seehofer in Kapitel 8 werden in diesem Abschnitt strukturelle Eigenschaften von Konstruktionen aus der konstruktionsgrammatischen Forschungsliteratur erörtert. Diese werden in Kapitel 8 mit eigenen Modifikationen und Erweiterungen an Modalverbkonstruktionen im Konversationsverlauf angewandt. Hierfür werden in diesem Abschnitt Langacker (1987, 2008), Croft & Cruse (2004), Goldberg (2006), von Polenz (2008) und Ziem & Lasch (2013) für eine konstruktionsgrammatische Definition herangezogen. Sie dienen dazu, die Eigenschaften von Konstruktionen darzulegen und mit ihrer Hilfe eine Definition für Modalverbkonstruktionen zu entwickeln. Diese Definition wird in den Abschnitten 6.2.2.2 Konstruktionsgrammatische Überlegungen zu [ich+Modalverb+sagen] in der Bundespressekonferenz 1990 sowie in den Abschnitten 8.2 Konstruktionsgrammatisches Forschungsdesign für die Modalverbkonstruktionen [ich+MV+sagen] in den Sequenzteilen der Diskussion in Bundespressekonferenzen 2013 und 8.3.1 Konversationsanalytische Untersuchung der Modalverbkonstruktionen [ich+MV+sagen] in den Sequenzteilen der Diskussion in der Bundespressekonferenz 2013 für eine weitere Untersuchung von Modalverbkonstruktionen im konversationellen Einsatz als Grundlage herangezogen. Wie im Abschnitt 3.5 erläutert, basieren zwischenmenschliche Interaktionen und damit auch Konversationen auf Konsensaushandlungen und setzen damit eine hohe argumentative Leistung voraus. Dabei spielen neben den Modalverben auch Modalverbkonstruktionen eine große Rolle. An dieser Stelle lehne ich mich an Ziem & Lasch (2013: 114) an, die Verbkonstruktionen als Argumentstrukturen

3.6 Modalverben an der Schnittstelle zur Konstruktionsgrammatik



47

ansehen. Ich betrachte Modalverbkonstruktionen ebenfalls als Argumentstrukturen, die in der Interaktion unter Politiker/inne/n und Journalist/inn/en in den Konversationen politischer Fernsehdiskussionen – so auch in den Bundespressekonferenzen – für die Konsensaushandlung unter wechselhafter Reflexion von Selbstund Fremdperspektiven argumentativ essentiell sind. Die Begründung dafür, dass Modalverbkonstruktionen als Argumentstrukturen angesehen werden können, liegt an der Orientierung des menschlichen Gehirns an konventionalisierten Form- und Funktions-Paaren und ihrer Bedeutung, die nach Goldberg (vgl. 2006: 227) mit dem Spracherwerb im Laufe der Sozialisierung erworben und den sprachlichen Vorerfahrungen entsprechend bewusst eingesetzt werden. Konstruktionen werden im Gehirn nach dem Abschluss eines umfangreichen Lernprozesses15 über den Sprachstand anhand von Form-Funktions-Paaren routinemäßig identifiziert und in Konversationen unter Reflexion von Sprachkenntnissen verwendet. Ähnlich Goldberg erkennt auch Langacker (2008: 198) eine kognitive Kategorisierung des lexikogrammatischen Wissens als Ergebnis des Spracherwerbsprozesses bei der Kombination und der Serialisierung von Form-Funktions-Paaren. Diese routinisierte Identifikation symbolischer Beziehungen zwischen den Form-FunktionsPaaren läuft deshalb kognitiv subtil ab, denn die Synapsen werden aufgrund des hohen Grads an Vertrautheit mit diesen komponenten- und konstruktionsbezogenen Informationen kaum noch aktiviert. Dies geht auf die von Langacker konstatierte Kategorisierungsleistung des menschlichen Gehirns zurück, die nach Langacker (vgl. 2008: 170) durch Kategorienbildung eine kognitive Orientierung beim Sprachgebrauch und der Sprachverarbeitung ermöglicht. Diese kognitive Orientierung ist folglich so stark routiniert, dass die Kombination von Form-FunktionsPaaren als Konstruktion in einem bestimmten interaktionalen Diskurskontext subtil wirkt, weil – wie Langacker (ebd.) und Croft & Cruses (2004: 54) annehmen –, kommunizierte Erfahrungen mit bereits früher kommunizierten linguistischen Erfahrungen im gleichen situativen Diskurskontext einer Konversation korrelieren. Die Semantik und die Funktion von Konstruktionen tritt in den Hintergrund. Croft & Cruse (2004: 292) setzen bei Konstruktionen eine kognitive Verfestigung (Entranchement) voraus und betonen, dass jedes Mal, wenn ein Wort oder eine Konstruktion gebraucht wird, beim Gebrauch bestimmte Knoten oder sogar ganze Muster von Knoten im Gehirn aktiviert werden, die mit der Zeit zur Entstehung kognitiver Musterbildung führen. Diese Musterbildung wird von Croft & Cruse (ebd.) damit begründet, dass die Frequenz einer Konstruktion zur intensivierten Speicherung als usuelle grammatische Einheit führt. Ziem & Lasch (2013: 194 f.) zufolge bietet

15 Der aktuelle Sprachstand eines Menschen ist immer „work-in-progress“, da der Spracherwerb erst mit dem Ausscheiden aus dem Leben als vollständig abgeschlossen betrachtet werden kann.

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3 Die Modalverben

folglich die Frequenz des Auftretens einer sprachlichen Einheit Auskunft über den Grad kognitiver Verfestigung einer Konstruktion im Sprachwissen, also über die „Etablierung einer sprachlichen Einheit im Konstruktikon“. Je nach ihrer Frequenz erreichen Konstruktionen unterschiedliche Stufen der kognitiv-sprachlichen Verfestigung durch Rekurrenz. Die Häufigkeit eines Tokens in einem Korpus korreliert normalerweise mit dem Grad kognitiver Verfestigung einer Konstruktion. Je häufiger eine Konstruktion verwendet wird, umso effektiver und subtiler wird diese von professionellen Akteuren im öffentlichen Diskurs für persuasive Argumentation eingesetzt. Dem Konventionalisierungsverfahren der kognitiven-sprachlichen Verfestigung werden auch Modalverbkonstruktionen unterzogen. Diesen Ansatz weiterführend wird in diesem Abschnitt angenommen, dass Modalverbkonstruktionen als feste Form-Funktions-Paare infolge eines hohen Konventionalisierungsgrads als Ergebnis eines Lernprozesses in Interaktionen im konversationellen Argumentationskontext mit einem mehr oder weniger festen argumentativen Wert bewusst eingesetzt werden. Modalverbkonstruktionen sind infolge dieser Konventionalisierung und des damit einhergehenden Lernprozesses kognitiv-sprachlich verfestigte sprachliche Strukturen, bei denen der Prozess des „Entrenchements“ bereits abgeschlossen ist. Für diese Arbeit wird es in Abschnitt 6.2.2.2 bei der Konstruktionsanalyse und in Abschnitt 8.3.1 bei der Untersuchung von Konstruktionen in Interaktionen von Interesse sein, wie oft Modalverbkonstruktionen – insbesondere die Modalverbkonstruktion [ich+MV+sagen] – in den Bundespressekonferenzen 1990 mit Helmut Kohl und 2013 mit Angela Merkel, Sigmar Gabriel und Horst Seehofer im interaktionalen Einsatz im Konversationsverlauf auftreten. Modalverbkonstruktionen wie [ich+MV+sagen] werden durch die Ermittlung ihrer Typenfrequenz auf ihre kognitiv-sprachliche Verfestigung überprüft. Neben den Konstruktionen [ich+MV+sagen] werden außerdem mit qualitativen Methoden auch weitere Modalverbkonstruktionen in den empirischen Kapiteln mit Blick auf ihren argumentativen Einsatz in Interaktionen im Konversationsverlauf der Bundespressekonferenzen 1990 und 2013 exemplarisch analysiert. Im folgenden Modell werden Konstruktionen als Niederschlag der Syntax-Semantik-Korrespondenz nach Croft & Cruse (2004: 258) in Anlehnung an Langacker (1987: 258) in ihrem Schaubild „The symbolic structure of a construction“ dargestellt:

3.6 Modalverben an der Schnittstelle zur Konstruktionsgrammatik



49

Diese Darstellung zeigt, dass Konstruktionen usuell ineinander gefügte kognitiv geprägte Form-Funktions-Paare sind, weil ihre einzelnen kompositionellen Komponenten aus einer festen Form mit festen syntaktischen, morphologischen und phonologischen Eigenschaften bestehen, denen eine konventionalisierte Bedeutung zugeordnet werden kann. Die Semantik einzelner kompositioneller Komponenten einer Konstruktion bestimmt dabei die Bedeutung der Konstruktion mit, in der sie stehen. In der konstruktionsgrammatischen Forschung wird allerdings nicht die Semantik einzelner Konstruktionskomponenten zentral behandelt, sondern vielmehr die symbolische Beziehung (vgl. v. a. Langacker 2008: 170), die die semantische und die syntaktische Struktur einer Konstruktion miteinander verbindet. Während Croft & Cruse (2004) die Konstruktionseigenschaften im Allgemeinen beschreiben wollen, legt Langackers (2008: 192) Modell den Schwerpunkt auf den kompositionellen Charakter von Konstruktionen, die aus mehreren Konstruktionskomponenten bestehen, untereinander vernetzt und innerhalb der Konstruktion integriert sind. Infolge dieser Integriertheit bestehen Konstruktionen Langacker (vgl. 2008: 162) zufolge aus elaborierten musterhaften Beziehungen. Diese Musterhaftigkeit entsteht kognitiv im Rahmen eines Schematisierungsprozesses und ist nach Langacker (2008: 168) die Grundlage dafür, dass die symbolischen Beziehungen zwischen den Form-Funktions-Paaren erkannt werden. Wie alle anderen Konstruktionen, werden in dieser Arbeit Modalverbkonstruktionen als musterhafte argumentative Wissensstrukturen angesehen, die auf der Formseite aus spezifischen syntaktischen, morphologischen und phonetischen Eigenschaften und auf der Funktionsseite aus semantischen, pragmatischen und diskursfunktionalen Eigenschaften bestehen und über eine symbolische Beziehung miteinander verbunden sind. Modalverbkonstruktionen nach Fábián (2016) sind außerdem pragmatisch und diskursanalytisch betrachtet „situativ gebrauchte kontextualisierte grammatische Strukturen“, die kognitiv verfestigt sind und in Konversationen unter Aktivie-

50  3 Die Modalverben

rung sprachlichen Wissens über Modalverben, deren Form, Funktion, Bedeutung und Gebrauch zur Steuerung von Interaktionen sowie zur Wahrnehmungsreflexion auf dem Weg zur Konsensaushandlung in Konversationen eingesetzt werden. Sie üben als Einstellungen reflektierende Argumentationsstrukturen in Konversationen einen kognitiv subtilen und einprägsamen Einfluss aus, indem sie widerspiegeln, wie die Proposition nach dem Einsatz der jeweiligen Modalverbkonstruktion evaluiert werden soll. Nach dieser kurzen konstruktionsgrammatischen Darstellung der Formseite von Modalverbkonstruktionen wird bei der exemplarischen qualitativen Modalverbanalyse in Bundespressekonferenzen in den Kapiteln 6 und 8 beantwortet werden, welche semantische und grammatische Rolle die einzelnen Modalverben in den Modalverbkonstruktionen einnehmen, welche pragmatische und diskursive Funktion Modalverbkonstruktionen übernehmen und wie sie zur Konsensaushandlung durch Einstellungsreflexion und damit zur Bedeutungskonstitution in einer Interaktion im konversationellen Verlauf beitragen. Für eine angewandte Analyse im konversationellen Verlauf müssen dabei die Komponenten von Konstruktionen genauer dargestellt werden, um mit ihrer Hilfe die Spezifika von Modalverbkonstruktionen zu ermitteln und anschließend in Anlehnung an von Polenz (2008) eine eigene konstruktionsgrammatische Formel für Modalverbkonstruktionen mit ihren konstruktionsgrammatisch relevanten Komponenten zu entwickeln, was im Abschnitt 8.2 Konstruktionsgrammatisches Forschungsdesign für die Modalverbkonstruktionen [ich+MV+sagen] in den Sequenzteilen der Diskussion in Bundespressekonferenzen 2013 erfolgen wird.

3.7 Die Rolle der Modalverben in der kognitionslinguistischen Forschung Smirnova (2017: 163) zufolge ist die „Modalität […] eine der grundlegendsten konzeptuellen Domänen der menschlichen Kognition und zugleich eine der komplexesten sprachlichen Kategorien.“ Umso überraschender ist es, dass die Anzahl kognitionslinguistischer Studien, die die Modalverben und ihren Wert für die kognitive Semantik fokussieren, trotz jahrzehntelanger Forschung seit der zweiten Hälfte der 1970er Jahre in der Kognitionslinguistik bislang überschaubar ist. So befassten sich bislang in der englischen und germanistischen Linguistik neben Talmy v. a. Sweetser (1990), Langacker (1999, 2008), Croft & Cruse (2004), Mortelmans (1999, 2001, 2002, 2007), Roche & Suner Munoz (2014), Kanaplianik (2016), Baumann (2017) und Kaiser (2017) zwar eher am Rande, aber doch mit der kognitionslinguistischen Erforschung von Modalverben.

3.7 Die Rolle der Modalverben in der kognitionslinguistischen Forschung



51

Zu den zentralen kognitionslinguistischen und häufig rezipierten Theorien16, die sich für eine Untersuchung der Modalverbsemantik und ihre Visualisierung eignen und deshalb auch in den kognitionslinguistischen Teilen meiner Arbeit in Kapitel 9 vorgestellt werden und Anwendung finden, gehören die kognitionslinguistischen Theorien nach Talmy (u. a. 1976, 1977, 1988a, 1988b, 2000a, 2000b), die hier nur kurz in der Fußnote erwähnt und in dem empirischen Kapitel zur kognitionslinguistischen Modalverbuntersuchung besprochen werden. Talmy (1988a: 98) entwickelte ein vierdimensionales Klassifikationsmodell unter dem Namen „imaging systems“: (1) „structural schematization“17, (2) „deployment of perspective“18, (3) „distribution of attention“19 und (4) „force dynamics“20, das nach Talmy (vgl. 1988: 194) helfen soll, durch Sprache Konzepte und Sichtweisen zu strukturieren. Besondere Beachtung findet im kognitionslinguistischen Kapitel 9 dieser Arbeit die kräftedynamische Visualisierung „force-dynamics in language and cognition“ von Talmy (1976, 1988a, 1988b, 2000, 2006) für die Untersuchung des Ursachenzusammenhangs, aber auch für die Visualisierung unter dem Aspekt der Aufmerksamkeitsverschiebung, zwei besonders häufig rezipierte Termini kognitionslinguistischer Forschung, die sich v. a. auch für eine empirische und kognitionslinguistisch fundierte Modalverbanalyse besonders eignen. Die Adaptierbarkeit dieser beiden Dimensionen in der Modalverbforschung rührt v. a. daher, dass bei der Ausarbeitung dieser Theorien Modalverben im Unterschied zu 16 U. a. in Roche & Suner Munoz (2014) und Baumann (2017). 17 Talmy (1988b: 194) beschreibt diese Dimension seines Klassifikationsmodells wie folgt: „This system comprises all the forms of conceptual delineation that can be ascribed to a quantity, or to the pattern in which two or more quantities are interrelated, whether in space or time or some other conceptual dimension. […] A further major component of this imaging system is the spatial or temporal ‚geometric‘ schematization…“ 18 Talmy (1988b: 194) versteht unter dieser Dimension Folgendes: „Given a structurally schematized scene, this system pertains to how one places one’s ‚mental eyes‘ to look out upon that scene, including the location, the distance away, and the movement pattern of this conceptual perspective point.“ 19 Talmy (1988b: 194 f.) definiert die „distribution of attention“ wie folgt: „Given a schematized scene and a vantage from which to regard it, this system pertains to the allocation of attention that one can direct differentially over the aspects of the scene.“ Diese Dimension wird in Talmy (1988b: 195) in „Figure“ and „Ground“ unterteilt. Diese beiden Termini werden im empirischen kognitionslinguistischen Kapitel 9 erklärt und exemplarisch aufgezeigt. 20 Nach Talmy (1988b: 195) lässt sich die Dimension der Kräftedynamik wie folgt bestimmen: „The fourth imaging system […] is ‚force dynamics‘, which, given a structured scene, involves the forces that the elements of the scene exert on each other. Comprehended here at the notions of force exerted by one quantity on another, as well as notions of resistance to such force, the overcoming of such resistance, blockage to the exertion of force, and the removal of such blockage.“ Diese Dimension wird im empirischen kognitionslinguistischen Kapitel 9 erklärt und exemplarisch aufgezeigt.

52  3 Die Modalverben

anderen kognitionslinguistischen Theorien von Anfang an relativ umfassend berücksichtigt wurden. Talmy (1988a: 69) fokussiert in seiner kräftedynamischen Theorie die „Psychodynamik“ und hebt hervor, dass diese Theorie einen semantischen Umgang mit psychologischen Elementen und Interaktionen ermöglicht und nicht bloß auf der physiologischen Ebene tatsächlich wahrnehmbare Kraftübertragung visualisiert. Ein weiterer Vorzug dieser Theorie ist Croft & Cruse (2004: 67) zufolge, dass die Elemente Erlaubnis, Kraft, Zwang und Widerstand eine große Rolle beim Aufbau und bei der Konstruktion semantischer Domänen spielen. Ebendiese Dimensionen sind auch der Semantik der Modalverben im engeren Sinn inhärent.21 Die Eignung dieser kräftedynamischen Dimension und der Dimension der Aufmerksamkeitsverschiebung für meine Arbeit lässt sich außerdem damit begründen, dass sie durch die Visualisierung der semantischen Stärke der Modalverben Dynamiken, Ursachen, Perspektiven und Zuständigkeiten in Prozessen verdeutlichen können. Dieser Aspekt ist gerade in den unterschiedlichen Phasen der Prozesse in der politischen Kommunikation gewinnbringend. Zentral für diese Theorien ist es, dass sich Entitäten – v. a. Agonist/in bzw. Antagonist/in, Ursache bzw. Wirkung und Ereignisse – durch Kraftausübung und Perspektivenübertragung miteinander verbinden. Eine Errungenschaft seiner kognitionslinguistischen Überlegungen ist nach Talmy (1988a: 88) außerdem, dass sie es ihm nicht nur erlauben, in seiner kognitionslinguistischen Forschung kognitionslinguistische und diskursanalytische Studien zusammenzuführen, sondern auch die argumentative Dimension grammatischer Einheiten zu berücksichtigen: FD [Force Dynamics] functions extensively in the domain of discourse, and preeminently so in the process of the argumentation. This is the rhetoric of persuasion and includes efforts to exhort, to convince, and to logically demonstrate. The process involves the deployment of points to argue for and against conflicting positions. In a force-dynamic understanding of ‘argument space’, each such point can in turn oppose or reinforce another point and overcome or be overcome by it; each successive resultant of these encounters can move the current argument state closer to or further from one of the opposing conclusions.

Persuasion ist folglich beim Einsatz der Modalverben ebenso wie in der kräftedynamischen Theorie nach Talmy zentral und geht mit der Semantik von Modalverben einher. Die Verwendung von Modalverben ist insbesondere im politischen Kontext hochintentional, denn schließlich werden Glaubwürdigkeit, Authentizität und Engagement v. a. über den Modalverbgebrauch als Mittel der Argumentation in Szene gesetzt. Außerdem geben Akteure/Akteurinnen über den Grad ihrer In21 Vgl. dazu die Ausführungen zur Semantik der Modalverben im engeren Sinn im Abschnitt 3.2 „Die grammatisch-semantische Klassifikation der Modalverben“, auch zum Folgenden.

3.7 Die Rolle der Modalverben in der kognitionslinguistischen Forschung



53

volviertheit in gesamtgesellschaftlich relevante politische Ereignisse Auskunft. Die zu signalisierende Einstellung und das Wissen der Sprachproduzent/inn/en werden durch den Modalverbeinsatz zum Ausdruck gebracht.22 Der Modalverbgebrauch wird – wie bereits in dem Überblick dieses Kapitels zu Modalverben aus pragmalinguistischer und diskursanalytischer Sicht konstatiert – vom Beginn des sprachlichen Herstellungsprozesses an in einem bestimmten Handlungszusammenhang auf die auszulösende Perlokution abgestimmt und ist auf die Steuerung der Wahrnehmung aus einer bestimmten Perspektive heraus ausgerichtet. Croft & Cruse (2004: 47) betonen, dass die Wahrnehmung von Ereignissen immer eine perspektivische Wahrnehmung ist, bei der Dynamiken und konkrete Abläufe in ihrer Prozessualität aufgezeigt und Entitäten (Agonist/inn/en bzw. Antagonist/inn/en) bei der Planung und/oder Durchführung von Handlungen in ihrem Kräfteverhältnis beschrieben werden. Kognitionsgrammatische Visualisierungen helfen dabei, Dynamiken und Prozesse zwischen den Akteur/inn/en im Diskurskontext darzustellen. Die Semantik und Pragmatik der Modalverben im argumentativen Handlungs- und Diskurskontext verdeutlichen, ob die Agonist/inn/en auf die Antagonist/inn/en bei einer geplanten oder zu planenden Handlung – in aktivischen Sätzen sprachlich vorwiegend im Vollverb oder im Objekt und in vorgangspassivischen Sätzen im Subjekt realisiert – eine Kraft ausüben oder nicht ausüben können (können/nicht können), eine geplante Handlung verhindern (nicht dürfen/ nicht sollen), dafür eine Möglichkeit präsentieren (können/dürfen) oder eine Erlaubnis erteilen (müssen/sollen) oder aber ein Verbot kundgeben (nicht dürfen). Außerdem verdeutlichen Modalverben – vor allem zielbezogene Modalverben im engeren Sinn –, ob eine geplante oder zu planende Handlung von der Perspektive der Agonist/inn/en als erstrebenswert erscheint (möchten/wollen sowie nicht möchten/nicht wollen, aber auch sollen und nicht sollen beim intra-subjektiven Gebrauch) und ob deshalb von ihnen Kräftedynamiken auf eine sprachliche Zielsetzung hin ausgelöst werden sollen. Bei der sprachlichen Umsetzung konzeptueller Inhalte spielen folglich Modalverben eine große Rolle, indem sie durch ihre mehr oder weniger feste Semantik im Kontext entweder overte oder coverte Hinweise auf die eingenommene Perspektive der Akteure/Akteurinnen bieten. Modalverben werden von Sprachproduzent/inn/en in einem gegebenen Diskurskontext strategisch verwendet und aktivieren zugleich unter Rückgriff auf das grammatische Wissen und das Diskurswissen bei den Kommunikationspartner/inne/n kognitive Erkennungs- und Assoziationsprozesse.

22 Die Erläuterung und die Belege für diese Hypothese folgen im kognitionsgrammatischen Kapitel 9.

54  3 Die Modalverben

Trotz ihrer in diesem Abschnitt hervorgehobenen Relevanz für die politische Kommunikation wurden Modalverben – wie bereits erwähnt – bislang nur am Rande kognitionslinguistisch erforscht. In den wenigen kognitionslinguistischen Studien, die Modalverben berücksichtigen, wurden korpuslinguistische Analysemethoden stark vernachlässigt. Das am Ende der Arbeit folgende kognitionslinguistische Kapitel 9 möchte damit eine Forschungslücke schließen, indem der Modalverbgebrauch im Korpus der Bundespressekonferenzen zwischen 1990 und 2018 aus kognitionslinguistischer Perspektive analysiert wird. Der Zusammenhang des Modalverbeinsatzes mit den Dimensionen der Kräftedynamik und der Aufmerksamkeitsverschiebung nach Talmy wird durch die Modellierung ausgewählter Belege visualisiert. In den auf das nächste Kapitel 4 Statistikauswertung des Gesamtkorpus folgenden Kapiteln werden die Modalverben nach ihren Redehintergründen und die Modalverbkonstruktionen im Diskurskontext der Bundespressekonferenzen zwischen 1990 und 2018 in den Eingangsstatements sowie in der Konversation zwischen Journalist/inn/en und Politiker/inn/en mit Blick auf die persuasive Argumentation analysiert und anschließend ausgewählte Belege kognitionslinguistisch untersucht. Diese Untersuchungen mit dem Anspruch des methodologischen Pluralismus, die sich über die einzelnen Kapitel der vorliegenden Arbeit erstrecken, basieren auf der Zusammenführung der Erkenntnisse aus der Grammatik, der Semantik, der Diskursanalyse, der Pragmatik, der Konversationsanalyse, der Konstruktionsgrammatik und der Kognitionslinguistik.

4 Statistikauswertung des Gesamtkorpus In diesem Kapitel werden die Modalverben dürfen, können, müssen sowie mögen/ möchte-, sollen und wollen im Korpus von Bundespressekonferenzen aus dem Zeitraum zwischen 1990 und 2018 statistisch dargestellt. Das Gesamtuntersuchungskorpus zu den Modalverben besteht aus den neun Bundespressekonferenzen (=BPK), von denen die Bundespressekonferenzen 1990 und 2013 in den folgenden Kapiteln exemplarisch auf den Modalverbgebrauch untersucht werden. Die folgende Tabelle führt die untersuchten Bundespressekonferenzen auf, ihre Teilnehmer/innen aus der Politik und die Themenbereiche, die in den jeweiligen Bundespressekonferenzen behandelt wurden: Tab. 1: Nr.

Datum

Teilnehmende/r Politiker/in/nen

Thema

1

1990

Bundeskanzler Helmut Kohl, CDU

Bericht über die Verhandlungsergebnisse mit den Siegermächten des Zweiten Weltkriegs über die deutsche Wiedervereinigung

2

1991

Bundeskanzler Helmut Kohl, CDU

Jugoslawienkrieg

3

1996

Bundeskanzler Helmut Kohl, CDU

Diverses: PKK-Terroranschlag und Soziales (Rente und Arbeitslosigkeit im Ost-West-Vergleich)

4

2002

Bundeskanzler Gerhard Schröder, SPD/ Bundesaußenminister Joseph (Joschka) Fischer, Bündnis 90/ Grüne

Diverses: Balkanpolitik im Zusammenhang mit Interventionen in Kriegsgebieten, Verteidigungspolitik und Energiepolitik mit Blick auf Russland

5

2004

Bundeskanzler Gerhard Schröder, SPD Sozialpolitik: Reformen zur Sozialhilfe („Agenda 2010“)

6

2010

Bundesaußenminister Guido Westerwelle, FDP

7

2013

in ihrer Funktion als Parteivorsitzende: Zustandekommen des KoalitionsverAngela Merkel, CDU trags für die Große Koalition Sigmar Gabriel, SPD zwischen CDU/CSU und SPD Horst Seehofer, CSU

https://doi.org/10.1515/9783111245263-004

Diverses zur Außenpolitik: Kooperation mit Lateinamerika sowie nukleare Abrüstung in der Welt, Zusammenarbeit gegen die Folgen der Wirtschaftskrise in Europa

56  4 Statistikauswertung des Gesamtkorpus

Nr.

Datum

Teilnehmende/r Politiker/in/nen

Thema

8

2015

Bundeskanzlerin Angela Merkel, CDU

Sommerpressekonferenz am 31.08.2015 zur Öffnung der Grenze für Bürgerkriegsflüchtlinge aus Syrien

9

2018

Bundeskanzlerin Angela Merkel, CDU

Diverses: „Gesellschaftliche Versöhnung und Spaltung“ in Deutschland und die EU mit Blick auf den Flüchtlingsdiskurs 2015 sowie rechtsextremistischer Terror (NSU)

Bundespressekonferenzen bestehen jeweils aus einem kurzen Begrüßungswort eines/r die Sitzung leitenden Journalisten/Journalistin, aus dem Eingangsstatement der teilnehmenden Politiker/innen sowie aus einer Diskussion und am Ende einer Verabschiedung durch die Pressekonferenzleitung. In dieser Arbeit werden alle Politikeräußerungen in den Bundespressekonferenzen korpuslinguistisch untersucht, getrennt nach Eingangsstatement und Diskussion. Allein in den beiden Teilkorpora der Bundespressekonferenzen 1991 und 1996 mit Helmut Kohl fehlt die Diskussion mit den Journalist/inn/en, da nur das Eingangsstatement archiviert wurde. Die Eingangsstatements sind mit wenig Ausnahmen bei Gerhard Schröder (SPD) und Sigmar Gabriel (SPD) konzeptionell schriftsprachlich und weisen nur wenige interaktionale Elemente auf. Die Diskussionsrunden sind mit Ausnahme von Zitaten aus politischen Papieren und Gesetzestexten durchgängig konzeptionell gesprochensprachlich und weisen starke interaktionale Charakteristika auf. Alle Modalverben, die in den 9 untersuchten Bundespressekonferenzen von Politiker/inne/n verwendet wurden, werden in diesem Kapitel statistisch ausgewertet. Nicht berücksichtigt sind in den Statistiken die Modalverben, die in den Fragen der Journalist/inn/en auftreten, denn sie eignen sich wegen der Kürze der Beiträge der einzelnen Fragesteller/innen für eine korpuslinguistische repräsentative Modalverbanalyse nicht. Im Fokus dieser Monografie steht der argumentative Gebrauch in den Politikeräußerungen, der natürlich nicht vollständig isoliert von der Modalverbverwendung der Journalist/inn/en betrachtet werden kann. In Teilen dieser Arbeit, in denen Modalverben in Interaktionen analysiert werden, findet aus diesem Grund bei der Analyse auch der Gebrauch des journalistischen Modalverbeinsatzes im interaktionalen Verlauf Berücksichtigung. In den neun Bundespressekonferenzen des Korpus treten in den Politikeräußerungen (=61.199 Tokens) insgesamt 1.158 Modalverbtokens auf. In 1,9 % aller Tokens kommen also Modalverben vor. Diese sind zu über 99 % deontisch, weshalb auf die statistische Ausweisung getrennt nach deontischer und epistemischer Verwendung verzichtet wird. Auch die Redehintergründe werden hier nicht aufgeführt, da sich bei den meisten Modalverben je nach Lesart unterschiedliche Rede-

4 Statistikauswertung des Gesamtkorpus



57

hintergründe überlappen (vgl. hierzu und zum Folgenden die Forschungsdiskussion in den Abschnitten 3.2 und 3.3). Deshalb wird hier auch das Klassifikationsschema von Hoffmann (2016: 314 ff.) dahingehend angepasst, dass alle Modalverbverwendungen nach Handlungs- und Zielbezug subklassifiziert werden können, auch wenn dieser bei einer epistemischen bzw. nach Diewald deiktischen Verwendung abstrakter und stärker grammatikalisiert (vgl. Diewald 1999: 46) ist als bei einer deontischen bzw. im Sinne Diewalds nicht-deiktischen Verwendung. Die 1.158 Modalverbbelege im Korpus lassen sich nach dem Klassifikationsschema von Hoffmann (2016: 314 ff.) in 815 handlungsraumbezogene Modalverben1 (=hrb MV) (dürfen, können, müssen) sowie 343 zielbezogene Modalverben (=zb MV) unterteilen: Tab. 2.: Nr. Teilkorpus insg. dürfen können müssen

Summe mögen/ sollen hrb MV möchte-

wollen

Summe zb MV

1

BPK 1990 Kohl

140

2,9 %

40,7 % 20,7 %

64,3 %

3,6 %

15,0 % 17,1 %

35,7 %

2

BPK 1991 Kohl

9

0,0 %

55,6 % 33,3 %

88,9 %

0,0 %

11,1 % 0,0 %

11,1 %

3

BPK 1996 Kohl

32

9,4 %

25,0 % 34,4 %

68,8 %

0,0 %

6,3 %

25,0 %

31,3 %

4

BPK 2002 Schröder/ Fischer

93

5,4 %

41,9 % 21,5 %

68,8 %

2,2 %

5,4 %

23,7 %

31,2 %

5

BPK 2004 Schröder

129

6,2 %

27,1 % 34,9 %

68,2 %

1,6 %

10,1 % 20,2 %

31,8 %

6

BPK 2010 Westerwelle

147

4,8 %

34,7 % 25,9 %

65,3 %

4,1 %

9,5 %

21,1 %

34,7 %

7

BPK 2013 Merkel / Gabriel / Seehofer

184

7,1 %

29,9 % 23,4 %

60,3 %

3,8 %

8,2 %

27,7 %

39,7 %

8

BPK 2015 Merkel

258

4,7 %

30,2 % 45,7 %

80,6 %

5,0 %

4,7 %

9,7 %

19,4 %

9

BPK 2018 Merkel

166

2,4 %

44,0 % 30,7 %

77,1 %

3,6 %

7,2 %

12,0 %

22,9 %

1 In diesem Kapitel werden zur Untergliederung keine Abschnittsüberschriften eingesetzt, sondern die Untersuchung gliedernde Termini in Fettdruck markiert.

58  4 Statistikauswertung des Gesamtkorpus

Nr. Teilkorpus insg. dürfen können müssen Summe alle Korpora

4,8 %

1158 56

Summe mögen/ sollen hrb MV möchte-

wollen

Summe zb MV

34,6 % 30,9 %

70,4 %

3,5 %

8,2 %

17,9 %

29,6 %

401

815

41

95

207

343

358

Das folgende Diagramm veranschaulicht die Frequenzen der Modalverben im Korpus:

Modalverben im Korpus

dürfen 5%

wollen 18% sollen

können

8%

35%

mögen/möchte3% müssen 31%

dürfen

können

müssen

mögen/möchte-

sollen

wollen

Trotz der inhaltlichen sowie personellen Vielfalt der 9 Teilkorpora dominieren in allen Teilkorpora die handlungsraumbezogenen Modalverben mit mindestens 60 % bis zu fast 90 % der Belege gegenüber den zielbezogenen Modalverben. Bei den handlungsraumbezogenen Modalverben sind dies vor allem die Modalverben können und müssen mit mindestens 25 % und bis zu 55 % der Belege für können bzw. mindestens 20 % bis zu 45 % der Belege für müssen. Dagegen ist das Modalverb dürfen eher ein statistisches Randphänomen, es wird insbesondere in den Diskussionen mit Journalist/inn/en verwendet. Bei den zielbezogenen Modalverben, die in den einzelnen Bundespressekonferenzen meist 20 % bis über 30 % der Belege darstellen, dominiert das volitive Modalverb wollen mit durchschnittlich ca. 18 % aller Belege vor dem Modalverb sollen mit ca. 8 % aller Modalverbbelege im Gesamtkorpus. Das Modalverb mögen tritt fast nur als Konjunktiv-II-Höflichkeitsform möchte- vor allem in usuellen Konstruktionen wie [ich+möchte+sagen] auf. Mögen/möchte- weist mit 3,5 % aller Modalverbbelege die geringste Frequenz

4 Statistikauswertung des Gesamtkorpus



59

auf. Diese geringe Vorkommenshäufigkeit geht damit einher, dass mögen/möchteim Vergleich zu wollen schwächer volitiv ist und sich deshalb nicht so gut zum Ausdruck politischen Engagements im Rahmen der persuasiven Argumentation eignet. Im nächsten Untersuchungsschritt werden statistische Abweichungen zwischen den Eingangsstatements (=ES) der Politiker/innen (17.270 Tokens) und den Politikerantworten (=Antw.) auf Journalistenfragen in Diskussionen (43.939 Tokens) ausgewiesen. Zwischen diesen beiden strukturellen Teilen der Bundespressekonferenzen ergeben sich teilweise signifikante Unterschiede bei der Modalverbverwendung. Diese sind einerseits bedingt durch inhaltliche Unterschiede, aber insbesondere auch dadurch, dass sich die Politikerbeiträge in den Diskussionen durch einen erheblich höheren Grad an Interaktionalität auszeichnen als in den Eingangsstatements. Die Bundespressekonferenzen von Helmut Kohl aus den Jahren 1991 und 1996 sind in der folgenden Tabelle nur mit den statistischen Ergebnissen zu den Eingangsstatements vermerkt, da die Diskussionsrunde – wie bereits erwähnt – nicht archiviert wurde. Die Bundespressekonferenzen mit mehreren beteiligten Politiker/inne/n von 2002 (Schröder / Fischer) und 2013 (Merkel / Gabriel / Seehofer) werden in der folgenden Tabelle nach Redner/inne/n zergliedert aufgeführt: Tab. 3: Nr.

TeilTeil2 korpus

1a

BPK 1990 Kohl

ES

1b

BPK 1990 Kohl

Antw. 104 3,8 %

41,3 % 26,0 % 71,2 %

2a

BPK 1991 Kohl

ES

9 0,0 %

55,6 % 33,3 % 88,9 % 0,0 %

11,1 % 0,0 %

3a

BPK 1996 Kohl

ES

32 9,4 %

25,0 % 34,4 % 68,8 % 0,0 %

6,3 %

insg. dürfen Können müssen Summe mögen/ sollen hrb MV möchte36 0,0 %

38,9 % 5,6 %

2 ES = Eingangsstatement, Antw. = Antworten

44,4 % 5,6 %

2,9 %

wollen

Summe zb MV

25,0 % 25,0 % 55,6 %

11,5 % 14,4 % 28,8 %

11,1 %

25,0 % 31,3 %

60 

4 Statistikauswertung des Gesamtkorpus

Nr.

TeilTeil3 korpus

4

BPK ES 2002 Schröder / Fischer

21 4,8 %

28,6 % 33,3 % 66,7 % 4,8 %

4,8 %

23,8 % 33,3 %

4

BPK Antw. 2002 Schröder / Fischer

72 5,6 %

45,8 % 18,1 % 69,4 % 1,4 %

5,6 %

23,6 % 30,6 %

4Scha

BPK 2002 Schröder

ES

11 0,0 %

27,3 % 18,2 % 45,5 % 0,0 %

9,1 %

45,5 % 54,5 %

4Schb

BPK 2002 Schröder

Antw.

46 4,3 %

47,8 % 19,6 % 71,7 %

8,7 %

17,4 % 28,3 %

4Fa

BPK ES 2002 Fischer

10 10,0 %

30,0 % 50,0 % 90,0 % 10,0 % 0,0 %

0,0 %

4Fb

Antw. BPK 2002 Fischer

26 7,7 %

42,3 % 15,4 % 65,4 % 0,0 %

34,6 % 34,6 %

5a

BPK 2004 Schröder

ES

13 15,4 % 15,4 % 23,1 % 53,8 % 0,0 %

5b

BPK 2004 Schröder

Antw. 116 5,2 %

insg. dürfen Können müssen Summe mögen/ sollen hrb MV möchte-

2,2 %

28,4 % 36,2 % 69,8 % 1,7 %

3 ES = Eingangsstatement, Antw. = Antworten

0,0 %

wollen

Summe zb MV

10,0 %

15,4 % 30,8 % 46,2 %

9,5 %

19,0 % 30,2 %

4 Statistikauswertung des Gesamtkorpus



61

Nr.

TeilTeil4 korpus

6a

BPK ES 2010 Westerwelle

35 2,9 %

40,0 % 17,1 % 60,0 % 2,9 %

5,7 %

6b

BPK Antw. 112 5,4 % 2010 Westerwelle

33,0 % 28,6 % 67,0 % 4,5 %

10,7 % 17,9 % 33,0 %

7a

BPK ES 2013 Merkel / Gabriel/ Seehofer

26,6 % 21,5 % 51,9 % 6,3 %

6,3 %

7b

BPK Antw. 102 10,0 % 34,0 % 26,0 % 70,0 % 2,0 % 2013 Merkel / Gabriel/ Seehofer

10,0 % 18,0 % 30,0 %

7Ma

BPK ES 2013 Merkel

28 0,0 %

3,6 %

3,6 %

35,7 % 42,9 %

7Mb

BPK Antw. 2013 Merkel

59 11,9 % 35,6 % 28,8 % 76,3 % 3,4 %

8,5 %

11,9 % 23,7 %

7Ga

BPK ES 2013 Gabriel

44 4,5 %

18,2 % 27,3 % 50,0 % 2,3 %

6,8 %

40,9 % 50,0 %

7Gb

BPK Antw. 2013 Gabriel

35 2,9 %

28,6 % 22,9 % 54,3 % 0,0 %

14,3 % 31,4 % 45,7 %

insg. dürfen Können müssen Summe mögen/ sollen hrb MV möchte-

82 3,8 %

42,9 % 14,3 % 57,1 %

4 ES = Eingangsstatement, Antw. = Antworten

wollen

Summe zb MV

31,4 % 40,0 %

35,4 % 48,1 %

62 

4 Statistikauswertung des Gesamtkorpus

Nr.

TeilTeil5 korpus

7Sa

BPK ES 2013 Seehofer

7Sb

BPK Antw. 2013 Seehofer

8a

BPK ES 2015 Merkel

8b

insg. dürfen Können müssen Summe mögen/ sollen hrb MV möchte-

wollen

Summe zb MV

10 10,0 % 10,0 % 10,0 % 30,0 % 30,0 % 10,0 % 30,0 % 70,0 %

8 25,0 % 37,5 % 12,5 % 75,0 % 0,0 %

0,0 %

25,0 % 25,0 %

6,5 %

3,2 %

12,9 % 22,6 %

BPK Antw. 196 5,1 % 2015 Merkel

32,7 % 43,9 % 81,6 % 4,6 %

5,1 %

8,7 %

9a

BPK 2018 Merkel

ES

28,6 % 14,3 % 50,0 % 14,3 % 7,1 %

28,6 % 50,0 %

9b

BPK 2018 Merkel

Antw. 152 2,0 %

45,4 % 32,2 % 79,6 % 2,6 %

7,2 %

10,5 % 20,4 %

56

401

95

207

4,8 %

34,6 % 30,9 % 70,4 % 3,5 %

8,2 %

17,9 % 29,6 %

88

25

80

28,9 % 27,3 % 60,5 % 4,9 %

8,2 %

26,3 % 39,5 %

313

70

127

8,2 %

14,9 % 26,1 %

62 3,2 %

14 7,1 %

Summe insg. alle 1158 Korpora

ES

304 13 4,3 %

Antw.

854 43 5,0 %

22,6 % 51,6 % 77,4 %

358

83

275

815

184

631

41

15

26

36,7 % 32,2 % 73,9 % 3,0 %

5 ES = Eingangsstatement, Antw. = Antworten

18,4 %

343

120

223

4 Statistikauswertung des Gesamtkorpus



63

Die Unterschiede in der Verteilung der Modalverben auf die Eingangsstatements und die Antworten auf Fragen macht das folgende Diagramm deutlich sichtbar:

Modalverben in den Eingangsstatements und den Antworten auf Fragen 40,0% 35,0% 30,0% 25,0% 20,0% 15,0% 10,0% 5,0% 0,0% dürfen

können

müssen

Eingangsstatements

mögen/möchte-

sollen

wollen

Antworten auf Fragen

Im Diskussionsteil treten erheblich mehr Modalverben auf als in den meist vorformulierten Eingangsstatements. Dies ist jedoch auf die in den meisten Teilkorpora erheblich höhere Wortanzahl des Diskussionsteils zurückzuführen (vgl. auch die statistischen Ergebnisse pro 1.000 Wörter zum Teilkorpus 7 unten in Kapitel 7). Bei einer getrennten statistischen Betrachtung der Eingangsstatements sowie der Antworten lässt sich in beiden Teilen der Pressekonferenzen weiterhin eine Dominanz der handlungsraumbezogenen gegenüber den zielbezogenen Modalverben feststellen. Allerdings zeigen die Antworten auf Journalistenfragen hier mit ca. 74 % handlungsraumbezogenen Modalverben ein noch eindeutigeres Bild als die Eingangsstatements mit ca. 61 %. Die Zunahme der handlungsraumbezogenen Modalverben in den Diskussionsrunden geht vor allem auf die größere Häufigkeit des Modalverbs können zurück. Die zielbezogenen Modalverben hingegen sind deshalb im Diskussionsteil noch weniger frequent: Das zielbezogene Modalverb wollen verzeichnet einen starken Rückgang von ca. 26 % im Eingangsstatement auf ca. 15 % im Diskussionsteil. Wenn man die Teilkorpora genauer betrachtet, fällt auf, dass es in den Bundespressekonferenzen mit mehreren Politiker/inne/n zu statistischen Verschiebungen der Modalverbverwendung in den einzelnen Redebeiträgen kommt (vgl. die Teilkorpora 4/ 4Sch/ 4F der BPK 2002 mit Schröder und Fischer sowie 7/ 7M/ 7G/ 7S der BPK 2013 mit Merkel, Gabriel und Seehofer). In der statistischen Gesamtschau der Pressekonferenzen mit mehreren Politiker/

64 

4 Statistikauswertung des Gesamtkorpus

inne/n korrelieren diese aber mit dem Gesamtbild des Untersuchungskorpus. Ursache hierfür ist, dass sich eine/r der zuerst sprechenden Politiker/innen für eine stark handlungsraumbezogene (so Merkel im Teilkorpus 7 = BPK 2013 mit Merkel, Gabriel und Seehofer) oder zielbezogene (so Schröder im Teilkorpus 4 = BPK 2002 mit Schröder und Fischer) Modalverbstrategie entscheidet und die anderen beteiligten Politiker/innen diese im Vergleich zu den Usancen der anderen Bundespressekonferenzen einseitige modale persuasive Argumentationsstrategie durch ihre Ergänzungen ausgleichen. Hinsichtlich des Tempus verhalten sich die Modalverben relativ einheitlich: Es liegt eine hohe Tempuskonstanz im Korpus vor: Über 90 % der dürfen-, müssen- und wollen-Belege und über 80 % der können-Belege sind präsentisch. Diese Tempuskonstanz geht mit dem pragmatischen Kontext in Bundespressekonferenzen einher: In ihnen wird über gesamtgesellschaftlich relevante aktuelle politische Ereignisse sowie über Handlungen in der und Pläne für die Gegenwart und nahe Zukunft berichtet. Allein die Modalverben sollen (ca. 58 % Präsentia) und mögen/ möchte- (nur ca. 10 % Präsensbelege) zeigen hier durch hohe Konjunktiv-Präteritum-Anteile (rund 42 % bzw. 90 %) Abweichungen. Wenn man aber bedenkt, dass der Potentialis und der Irrealis sollte- sowie die Höflichkeitsform möchte- im Korpus regelhaft einen Gegenwartsbezug aufweisen, fügen sich auch diese beiden Modalverben gut in das präsentische Gesamtbild ein. Auch beim Genus Verbi zeigt sich bei allen untersuchten Modalverben Einheitlichkeit: Je nach Modalverb sind 86 bis 100 % der Belege aktivisch. Das Passiv tritt nur bei rund 14 % der sollen- und bei 7 bis 9 % der dürfen-, müssen- und können-Belege auf. Bei den volitiven Modalverben mögen/möchte- und wollen gibt es mit Ausnahme eines epistemischen wollen-Belegs aufgrund ihrer agentischen Semantik erwartungsgemäß keine Passivbelege. Denn wollen framt ein Subjekt als handlungsfähig. Die untersuchten Modalverben zeigen im Korpus unterschiedliche Tendenzen bei der Subjektbindung, also ob ein Modalverb ein Subjekt in der 1., 2. oder 3. Person Singular oder Plural regiert. Die 1. Person Singular steht im Korpus für den Sprecher als Subjekt. Mit der 1. Person Plural (oft als Regierungskollektiv), der 3. Person Singular mit Subjekt man oder umgangssprachlich der generisch verwendeten 2. Person Singular du werden die Sprecher nur mehr mitgemeint. Mit der 2. Person Plural sowie der 3. Person Plural Siezform sind nur die Adressat/inn/ en Handelnde. Oder aber die Modalverben regieren Dritte/s in der 3. Person Singular und Plural (ohne man oder Siezen). In der folgenden Tabelle werden die statistischen Auffälligkeiten der Verteilung von Person und Numerus grafisch hervorgehoben: Bei der Sprechermarkierung bzw. Sprecherinklusion werden hohe Frequenzen mit schwacher Schraffierung und Fettdruck markiert. Bei Dritten/m als Subjekt zu Modalverben werden

4 Statistikauswertung des Gesamtkorpus



65

auffällige Häufigkeiten mit einer starken Schraffierung markiert; hierbei wird – im Gegensatz zum Sprecher/zur Sprecherin bzw. der Sprecherinklusion als Subjekt – nicht zwischen Singular und Plural unterschieden, sondern immer die 3. Person (ohne man oder Siezen) zusammengezählt, da keine kommunikativen Unterschiede zwischen einer Singular- oder Pluralverwendung vorliegen: Tab. 4: Modalverb

Teil des Sprecher (inkludiert) nur Adressat/en Korpus 1. Pers. 1. Pers. 3. Pers. 2. Pers. 2. Pers. 3. Pers. Sg. Pl. Sg. man Sg. ugs. Pl. Pl. Siefür man zen

Dritte/s

dürfen

insg.

30,4 %

8,9 % 12,5 %

6

15,4 %

7,7 %

ES

Antw.7 34,9 %

können

müssen

mögen

sollen

3,6 %

30,4 %

8,9 %

3,6 %

53,8 %

7,7 %

7,7 %

2,3 %

4,7 %

23,3 %

9,3 %

2,3 %

insg.

20,4 % 20,4 % 13,7 %

6,0 %

26,4 %

10,7 %

2,2 %

ES

10,2 % 30,7 %

8,0 %

4,5 %

29,5 %

15,9 %

1,1 %

Antw.

23,3 % 17,6 %

15,3 %

6,4 %

25,6 %

9,3 %

2,6 %

0,8 %

2,8 %

27,1 %

10,9 %

0,3 %

25,3 %

13,3 %

1,2 %

1,1 %

3,6 %

27,6 %

10,2 %

12,2 %

4,9 %

4,9 %

15,4 %

7,7 %

7,7 %

51,6 %

13,7 %

72,0 %

24,0 %

5,7 %

44,3 %

10,1 %

3,4 %

5,8 %

6,8 %

3,8 %

8,8 %

7,1 %

5,5 %

insg.

7,0 % 33,5 % 17,6 %

ES

4,8 % 39,8 % 15,7 %

Antw.

7,6 % 31,6 % 18,2 %

insg.

70,7 %

ES

86,7 %

Antw.

61,5 %

insg.

4,9 % 2,4 % 6,7 %

Antw.

6,7 %

7,7 %

5,3 % 18,9 % 6,3 %

ES

wollen

1,8 %

7,7 %

9,3 % 14,0 %

Inf.

3. Pers. 3. Pers. Sg. ohne Pl. ohne man Siezen

4,2 %

4,0 % 7,1 % 25,7 %

7,1 %

insg.

44,9 % 35,7 % 1,4 %

ES

43,8 % 41,3 %

Antw.

45,7 % 32,3 % 0,8 %

0,5 %

2,5 %

6 ES=Eingangsstatement 7 Antw. = Politikerantworten auf Journalistenfragen

0,8 %

5,5 %

1,4 %

2,4 %

66 

4 Statistikauswertung des Gesamtkorpus

Die untersuchten Modalverben zeigen im Korpus eine häufige Verwendung in der 1. und in der 3. Person Singular wie Plural. Die Verwendung in der 2. Person dagegen ist sehr selten, ebenso die Verwendung mit erweitertem Infinitiv. Aufgrund der geringen Beleganzahl der erweiterten Infinitivkonstruktionen wurde hier darauf verzichtet, die Zahlen nach Bezugssubjekt im Trägersatz in die drei Kategorien Sprecher-, Adressaten- und sonstiges Subjekt zu zergliedern. 48 % der Modalverben werden sowohl in den Eingangsstatements als auch in den Antworten auf Fragen in der 1. Person Singular und Plural verwendet. Bei den notwendigkeitsmodalen Modalverben müssen und sollen vermeiden im Korpus alle Politiker/innen, wo es nur möglich ist, insbesondere in den Eingangsstatements, aber auch in der Diskussion eine Verwendung in der 1. Person Singular. Denn diese beiden Modalverben bringen Handlungsunfähigkeit bzw. die Restringierung politischer Handlungsfreiheit durch Dritte oder Sachverhalte zum Ausdruck. So tritt das Modalverb sollen in der 1. Person Singular in den Eingangsstatements überhaupt nicht auf, während es in den Diskussionsrunden in den Antworten auf die Fragen der Journalist/inn/en mit 7,1 % der sollen-Belege immer noch sehr selten ist. Bei müssen zeigt sich ein ähnliches Bild der Vermeidung einer Verwendung mit dem Subjektpronomen ich mit nur 4,8 % der müssen-Belege im Eingangsstatement und mit etwas häufigeren, aber immer noch niedrigfrequenten 7,6 % in der Diskussionsrunde – wie wir dies auch am Beispiel der Bundespressekonferenzen 1990 und 2013 in den Kapitel 6 bis 8 sehen werden. Wenn vom Sprecher-Ich erkannte Notwendigkeiten ausgedrückt werden müssen, weichen Politiker/innen in aktivischen Sätzen bei müssen und sollen auf das Pluralpronomen wir oder das Indefinitpronomen man als Subjekt aus. Sie verpflichten so ein Kollektiv bzw. beschränken dessen Handlungsfreiheit. Durch dieses Kollektiv – oft die eigene Partei oder Regierung, der Staat oder sogar das ganze Volk – wird ihr eigenes Sprecher-Ich kommunikativ verdeckt. Diese sprachliche Praktik zeigt sich allerdings in Verbindung mit dem Pluralsubjektpronomen wir nicht in allen Teilkorpora gleichmäßig frequent und weist so eine hohe Standardabweichung auf. An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass die Kombination von 1. Person Plural mit dem Modalverb müssen im Korpus statistisch überproportional stark in der Bundespressekonferenz am 31.8.2015 zur Öffnung der Grenzen für syrische Bürgerkriegsflüchtlinge („Wir schaffen das!“) von Angela Merkel auftritt. So erscheinen allein 42,4 % bzw. 41,4 % aller [wir+müssen]-Konstruktionen im Gesamtkorpus im Eingangsstatement bzw. in der Diskussionsrunde dieser Bundespressekonferenz. In dieser Konferenz wurde müssen in der 1. Person Plural eingesetzt, um aufgrund der angespannten Lage an den Grenzen Europas und Deutschlands möglichst schnell ein Kollektivgefühl zu etablieren und die Handlungsnotwendigkeit durch die stark verpflichtende Semantik zu verdeutlichen. In den anderen Bun-

4 Statistikauswertung des Gesamtkorpus



67

despressekonferenzen wird die Konstruktion [wir+müssen] seltener verwendet. Damit zeigt die Tabelle 4 mit Blick auf die Agensrestringierung durch diese Konstruktion in den unterschiedlichen Bundespressekonferenzen eine hohe Standardabweichung. Die dort für eine Verwendung von müssen in Kombination mit dem Subjektpronomen wir angeführten 39,8 % im Eingangsstatement sowie 31,6 % in den Antworten auf Fragen sind deshalb nicht repräsentativ für alle anderen Bundespressekonferenzen im Korpus. Im Gegensatz zu dem notwendigkeitsmodalen Verb müssen und dem zielbezogenen Verb sollen tritt das Sprecher-Ich bei den zielbezogenen volitiven Modalverben mögen/möchte- (Eingangsstatement ca. 87 %, Diskussionsrunde ca. 62 % der mögen/möchte-Belege) sowie wollen (Eingangsstatement ca. 44 %, Diskussionsrunde ca. 46 %) und interaktional auch beim handlungsraumbezogenen dürfen (Eingangsstatement ca. 44 %, Diskussionsrunde ca. 46 %) kommunikativ häufig in den Vordergrund. Das häufigste zielbezogene Modalverb im Korpus wollen (rund 18 % aller MV-Belege) dient hierbei in der Konstruktion [ich+will+Vollverb] mit dem Handlungsziel als Objekt oder Objektsatz insbesondere der persuasiven Argumentation der Adressat/inn/en. Dieses zielbezogene Modalverb mit stark volitiver Semantik wird von Politiker/inn/en eingesetzt, um politisches Engagement zu demonstrieren und die Satzproposition – oft als Akkusativobjekt – als erstrebenswert zu framen. Das handlungsraumbezogene und möglichkeitsmodale können, das für die Versprachlichung der Gestaltungsmöglichkeiten der Politiker/innen und ihre Handlungsfreiheit steht, wird ebenso recht häufig mit dem Subjektpronomen ich (Eingangsstatement: ca. 10 %, Diskussionsrunde ca. 23 %) verwendet. Können wird – wie die Analysen in den Kapiteln 6 bis 8 zeigen werden – musterhaft gebraucht, um beim circumstantiellen Gebrauch den Handlungsrahmen für eine politische Zielsetzung als gesichert darzustellen oder bei einer Überschneidung des circumstantiellen Redehintergrundes mit dem teleologischen Redehintergrund die Erreichbarkeit einer aus Sprechersicht relevanten Zielsetzung als möglich zu reflektieren. Salient ist der frequente Gebrauch von sowohl wollen (Eingangsstatement: ca. 41 %, Diskussionsrunde ca. 32 %) als auch können (Eingangsstatement: ca. 31 %, Diskussionsrunde ca. 18 %) mit dem Pluralsubjektpronomen wir. Durch das Einreihen der Politiker/innen in ein Kollektiv setzen die Konstruktionen [wir+können] und [wir+wollen] ihre Möglichkeiten und Wünsche mit denen des Kollektivs gleich und fordern so indirekt dessen Unterstützung ein. Das Kollektiv wird also Teilhaber der Inhalte, die über die Modalverben können und wollen positiv geframet werden. Dieses positive Framing und die Übertragung der positiven Semantik von können und wollen dient der persuasiven Argumentation, um so die eigenen Ziele als unbedingt zu erreichende Ziele eines Kollektivs darzustellen.

68 

4 Statistikauswertung des Gesamtkorpus

Die 2. Person Singular wie Plural werden mit Frequenzen zwischen rund 1 % und 2 % bei den Modalverben dürfen, müssen und wollen nur sehr selten verwendet. Die 2. Person Singular tritt nur bei Sigmar Gabriel in der Konstruktion [du +darfst] auf. Du steht in diesen Belegen umgangssprachlich für man. Gabriel schafft mit dem umgangssprachlichen du kommunikative Nähe, die dazu beitragen soll, einen Dispräferenz signalisierenden Journalisten von der gesellschaftlichen Notwendigkeit einer kritisierten sozialpolitischen Maßnahme zu überzeugen. Die Verwendung der 2. Person Plural wird nur von Angela Merkel zur Simulation von ebenfalls nähesprachlichen persuasiven Gesprächssituationen in der Politik oder zwischen Bürger/innen und der Politik verwendet. Beide Verwendungsweisen sind damit sprecherspezifisch und werden zur Distanzreduzierung argumentativ eingesetzt. Die 3. Person mit Siezfunktion ist dagegen mit 3 % bis 6 % bei allen Modalverben außer mögen/möchte- im Korpus häufiger als die Verwendung der 2. Person Singular und Plural. Sie dient der Anrede in den Antworten auf Journalistenfragen zur direkten wie kollektiven Ansprache der Anwesenden. Bei dürfen und können finden sich vereinzelt auch Belege in den Eingangsstatements. Zur Analyse des Modalverbgebrauchs in der 3. Person wird in der folgenden Tabelle 5 die obige Tabelle 4 vereinfacht und alle Belege ohne Unterscheidung nach Singular und Plural für die 3. Person Singular und Plural (ohne eine Verwendung mit man und ohne Siezfunktion) in der Spalte „Dritte/s“ zusammengefasst: Tab. 5: Modalverb

Teil des Sprecher (inkludiert) nur Adressat/en Korpus 1. Pers. 1. Pers. 3. Pers. 2. Pers. 2. Pers. 3. Pers. Sg. Pl. Sg. man Sg. ugs. Pl. Pl. für man Siezen

Dritte/s Inf.

dürfen

insg.

30,4 %

8,9 %

8

ES

15,4 %

7,7 %

7,7 %

Antw.9

34,9 %

9,3 %

14,0 %

insg.

20,4 %

20,4 %

ES

10,2 %

30,7 %

können

12,5 %

3. Pers. Sg. und Pl. ohne man und ohne Siezen

1,8 %

3,6 %

39,3 % 61,5 %

7,7 %

2,3 %

4,7 %

32,6 %

2,3 %

13,7 %

6,0 %

37,1 %

2,2 %

8,0 %

4,5 %

45,4 %

1,1 %

8 ES=Eingangsstatement 9 Antw. = Politikerantworten auf Journalistenfragen

3,6 %

4 Statistikauswertung des Gesamtkorpus 

Modalverb

müssen

mögen

sollen

Teil des Sprecher (inkludiert) nur Adressat/en Korpus 1. Pers. 1. Pers. 3. Pers. 2. Pers. 2. Pers. 3. Pers. Sg. Pl. Sg. man Sg. ugs. Pl. Pl. für man Siezen

Dritte/s Inf.

Antw.

23,3 %

17,6 %

15,3 %

6,4 %

34,9 %

2,6 %

insg.

7,0 %

33,5 %

17,6 %

0,8 %

2,8 %

38,0 %

0,3 %

ES

4,8 %

38,6 %

1,2 %

1,1 %

3,6 %

39,8 %

15,7 %

Antw.

7,6 %

31,6 %

18,2 %

insg.

70,7 %

4,9 %

2,4 %

ES

86,7 %

Antw.

61,5 %

7,7 %

insg.

5,3 %

18,9 %

Antw.

7,1 %

25,7 %

7,1 %

insg.

44,9 %

35,7 %

1,4 %

ES

43,8 %

41,3 %

2,5 %

Antw.

45,7 %

32,3 %

0,8 %

ES

wollen

3. Pers. Sg. und Pl. ohne man und ohne Siezen

37,8 %

17,1 %

6,7 %

69

4,9 %

6,7 % 23,1 %

6,3 %

4,2 %

4,0 %

7,7 %

65,3 % 96,0 %

5,7 %

54,4 %

0,5 %

3,4 %

12,6 %

0,8 %

5,5 %

1,4 %

12,6 % 12,6 %

2,4 %

In der 3. Person Singular und Plural (ohne man und Siezen) zeigen sich bei den Modalverben dürfen und sollen insbesondere im Eingangsstatement (rund 62 % bzw. 96 % der Belege) sehr hohe Frequenzen. Erklären lässt sich diese hohe Frequenz des eine Erlaubnis durch Dritte darstellenden Modalverbs dürfen in der politischen Kommunikation damit, dass eine Verwendung mit einer Referenz auf Dritte die Handlungsfreiheit der Politiker/innen konterkarieren oder beim Gebrauch im Zusammenhang mit Personen bzw. Konkreta als Indiz auf einen autoritären Führungsstil verstanden werden könnte. Dies würde den Prinzipien der Argumentation in der politischen Kommunikation einer freiheitlichen Demokratie widersprechen. Die hohe Kollokationsfrequenz des Modalverbs sollen mit man kann ebenfalls auf diese letzte Begründung zurückgeführt werden. In den Antworten auf Journalistenfragen ist die 3. Person Singular und Plural mit ca. 33 % (dürfen) und ca. 54 % (sollen) immer noch sehr häufig. In diesen Fällen werden diese beiden Modalverben aus den oben angeführten Gründen v. a. mit Abstrakta ver-

70 

4 Statistikauswertung des Gesamtkorpus

wendet, um Personen bzw. Konkreta als Referenz und damit eine Bestimmung von außen zu vermeiden. Die beiden häufigsten Modalverben im Korpus, können und müssen, werden mit 35 % bis 45 % der Belege in den Eingangsstatements und den Diskussionen frequent mit einem Subjekt in der 3. Person Singular und Plural (ohne man und Siezen) verbunden. Beim semantisch positiv konnotierten können treten neben Abstrakta auch Personen bzw. Konkreta als Referenzen auf, während beim müssen hauptsächlich Personen bzw. Konkreta als Agens vorliegen. Diese Referenzauswahl ist ebenfalls damit motiviert, Personen bzw. Konkreta nicht in die Pflicht zu nehmen und so dem Ruf eines autoritären Führungsstils vorzubeugen. Die Verwendung der Modalverben müssen, sollen und dürfen in der 3. Person führt insbesondere in Verbindung mit Passivkonstruktionen zu einer Reduktion der Agensrestringierung des Sprecher-Ichs im Vergleich zu einer politisch-inhaltlich identischen Aktiv-Konstruktion in der 1. Person Singular oder Plural. Als Nachweis einer Strategie der Vermeidung von zu starker Agensrestringierung der Politiker/innen im Korpus kann auch die im Vergleich zu den anderen Modalverben häufige Verwendung des Indefinitsubjektpronomens man bei müssen (ca. 16–18 %) in den Eingangsstatements und in den Diskussionsrunden sowie bei dürfen (14 %) und können (15 %) in den Diskussionen gelten. Die Konstruktion [man+kann] tritt dabei sehr häufig mit Agensrestriktoren wie Negatoren oder restriktiven Subjunktionen (z. B. sofern) auf, verliert also in diesen Kollokationen seine sonst eine Handlungsfähigkeit ausdrückende Grundsemantik. Seltener als bei den anderen Modalverben werden die volitiven Modalverben mögen/möchte- (17,1 %) und wollen (12,6 %) mit der 3. Person Singular und Plural verbunden. Denn diese werden – wie oben bereits ausgeführt – sehr häufig mit der 1. Person kombiniert. Diese beiden Modalverben dienen der Festlegung einer positiven kollektiven Zielsetzung mit mehr (wollen) oder weniger (möchte-) stark ausgeprägtem volitiven Charakter. Mit dem Einsatz beider Modalverben in der 1. Person Plural wird reflektiert, dass die innere Überzeugung der Sprecher/innen als Mitglieder des regierenden Kollektivs die angekündigte politische Zielsetzung indiziert. Die Kombination dieser beiden positiv geframeten Modalverben mit dem ebenfalls positiv geframeten Personalpronomen wir dient in diesen Fällen der persuasiven Argumentation. Auch in der 3. Person Singular und Plural regieren mögen/möchte- und wollen im Korpus ein handlungsfähiges Subjekt, meist ein handlungsfähiges Kollektiv, wie z. B. eine supranationale Organisation, eine oder mehrere Gebietskörperschaften oder Behörden. In einem letzten Schritt wurde das Korpus hinsichtlich der typischen Kollokationen der Modalverben getrennt nach Eingangsstatement und nach Diskussionsrunde mit Hilfe des korpuslinguistischen Programms Antconc untersucht. Die Modalverb-N-Gramme mit mindestens 5 Belegen pro 10.000 Tokens bestehen in beiden Korpusteilen nur aus binären Wortpaaren (beide Wörter stehen

4 Statistikauswertung des Gesamtkorpus



71

immer direkt hintereinander) mit meist zwei Wortstellungsvarianten (z. B. ich will und will ich): Tab. 6: Frequenz Eingangsstatement (28,2 % der 61.199 Tokens Gesamtkorpus)

Belege pro 10.000 Tokens

N-Gramm

29

17

ich will

26

15

wir wollen

18

10

wir müssen

14

8

ich möchte

11

6

man muss

Frequenz Diskussionsrunde (71,8 % der 61.199 Tokens Gesamtkorpus)

Belege pro 10.000 Tokens

N-Gramm

55

13

ich kann

45

10

ich will

45

10

wir müssen

38

9

man muss

28

6

das kann

26

6

wir können

25

6

man kann

23

5

wir wollen

22

5

ich muss

Tab. 7:

Bei der N-Gramm-Analyse fällt auf, dass die Eingangsstatements durch die meist vorbereiteten Politikertexte und ihren Ankündigungscharakter eine stärkere Konzentration auf wenige, musterhafte Konstruktionen vom Typ [Personalpronomen +Modalverb] aufweisen als die Politikerantworten in den Diskussionsrunden, die eine größere Streuung aufweisen: In den Eingangsstatements schaffen nur 5 NGramme die statistische Hürde von 5 Belegen pro 10.000 Tokens, während dies in der Diskussionsrunde 9-N-Gramme sind. In den Eingangsstatements sind die drei volitiven N-Gramme [ich+will], [wir +wollen] und [ich+möchte] mit 40 Belegen pro 10.000 Tokens überproportional häufig vertreten. Das Sprecher-Ich wird als Teil eines Regierungskollektivs in den Eingangsstatements der Bundespressekonferenzen mit dem Modalverb wollen

72 

4 Statistikauswertung des Gesamtkorpus

meist verwendet, um im Zusammenhang mit einem angekündigten politischen Handlungsziel positive Einstellungen zu reflektieren und damit das Handlungsziel als erstrebenswert zu framen. Die notwendigkeitsmodalen kollektivierenden bzw. das Agens anonymisierenden N-Gramme [wir+müssen] und [man+muss] weisen dagegen nur 16 N-Gramme pro 10.000 Tokens auf. Auf die Verbindung des eigenen Kollektivs oder auch von Personen bzw. Konkreta wird, wo es auch immer möglich ist, argumentativ verzichtet, um keine politische Handlungspflicht zu generieren oder eine Handlungsnotwendigkeit für Dritte zu vermeiden. In den Politikeräußerungen in den Diskussionen der Bundespressekonferenzen zeigt sich bei den häufigsten N-Grammen eine stärkere modale Variation: 31 N-Gramme pro 10.000 Tokens sind möglichkeitsmodal ([ich/man/das+kann], [wir +können]), 24 notwendigkeitsmodal ([ich/man+muss], [wir+müssen]) und 15 sind volitiv bzw. teleologisch ([ich+will], [wir+wollen]). Die 1. Person Singular mit können wird in den Diskussionen zumeist in Konstruktionen v. a. [ich+kann+sagen] bei Prognosen in den Antworten auf Journalistenfragen eingesetzt (vgl. auch die Abschnitte 6.2.2.2 und 8.3.1). Werden Prognosen als Antwort auf Dispräferenz markierende Journalistenfragen ausgeschlossen, wird oft die Konstruktion [ich+kann+nicht+sagen] in den Diskussionen verwendet. Bei der 1. Person Singular mit dem notwendigkeitsmodalen müssen handelt es sich ebenfalls um einen Einsatz einer Dispräferenz markierenden Konstruktion in Antworten auf kontroverse Journalistenfragen wie z. B. [ich+muss+sagen] oder [ich +muss+darauf+hinweisen]. Damit wird Dissens signalisiert und im Anschluss an die Konstruktion die eigene politische Handlung argumentativ begründet und als politisch notwendig dargestellt. Diese Erkenntnisse zeigen nur, dass die notwendigkeitsmodale Semantik dieses Modalverbs bei einer begründenden Handlungslegitimierung auf der argumentativen Ebene auf die Satzproposition, also die politische Zielsetzung, übertragen wird. Wie oben bei der Analyse der Verwendung von Person und Numerus bereits ausgeführt, zeigt auch die N-Gramm-Analyse, dass die die Handlungsfreiheit des Sprecher-Ichs einschränkende Konstruktion [ich+muss] insbesondere in den Eingangsstatements vermieden wird und in den Diskussionsrunden trotz einiger Fundstellen mit nur 5 Belegen pro 10.000 Tokens relativ selten ist. Abschließend wurde noch die Kollokation der Modalverben mit nicht als Verbalkomplexnegator korpuslinguistisch untersucht. Die Tabelle 8 zeigt, wie häufig ein Modalverb mit nicht als Verbalkomplex-Negator verbunden wird:

4 Statistikauswertung des Gesamtkorpus



73

Tab. 8:

Negiert mit nicht als VerbalkomplexNegator

dürfen

können

müssen

mögen/ möchte-

sollen

wollen

13 von 56 = 23,2 %

60 von 401 = 15,0 %

8 von 358 = 02,2 %

8 von 41 = 19,5 %

12 von 95 = 12,6 %

23 von 207 = 11,1 %

Am häufigsten ist das Modalverb dürfen (ca. 23 % aller dürfen-Belege) in der 3. Person Singular und Plural negiert, gefolgt von negierten mögen/möchte- (ca. 20 %) in der 1. Person sowie können (15 %) in der 1. sowie 3. Person Singular und Plural. In absoluten Zahlen ist das im Korpus häufigste Modalverb können mit 60 von insgesamt 124 negierten Modalverbbelegen auch das häufigste aller negierten Modalverben. Können wird wie auch dürfen mit Negation oft in den Diskussionen auf Dispräferenz markierende Journalistenantworten eingesetzt. In diesen Belegen werden politische Entscheidungen als notwendig markiert, damit zukünftigen negativen Eventualitäten vorgebeugt werden kann (vgl. die Analysen der Bundespressekonferenzen 1990 und 2013 in den Kapiteln 6 bis 8). Die negierten könnenund dürfen-Belege zeigen damit meist einen circumstantiellen Redehintergrund auf, der durch einen volitiven Redehintergrund ergänzt wird. Die Überschneidung des circumstantiellen Redehintergrunds mit dem volitiven Redehintergrund reflektiert die Einstellung der Politiker/innen, die angekündigte unerwünschte zukünftige Eventualität unbedingt vermeiden zu wollen. Auch dieser musterhafte Gebrauch der Modalverben dürfen und können mit Negation dient folglich der Argumentation, um das Gegenüber von der Unterlassung der dispräferierten Handlung als Maßnahme zur Krisenvorbeugung argumentativ zu überzeugen. Das nach können im Korpus zweithäufigste Modalverb müssen wird dagegen mit 8 Belegen (= nur 2,2 % aller müssen-Tokens) am seltensten negiert. Eine ähnlich niedrige Negationsfrequenz weist auch die semantisch ähnliche Konstruktion [nicht+brauchen] im Korpus auf, die nur in 5 % der Fälle negiert ist. Die bisherigen Analysen zu müssen zeigten, dass bereits seine positive absolute Notwendigkeitsmodalität in den Sprecher-Ich-Politikeräußerungen – wenn inhaltlich möglich – vermieden wird. Deshalb erscheint es nur folgerichtig, wenn statt einer negierten absoluten Notwendigkeitsrelation eine negierte abgeschwächte Notwendigkeitsrelation mit dem Modalverb sollen (ca. 13 % der sollen-Belege) oder eine semantisch äquivalente modale Formulierung mit einer positiven Möglichkeitsrelation (können oder dürfen) präferiert werden.

74  4 Statistikauswertung des Gesamtkorpus

Nach den statistischen Untersuchungen des Gesamtkorpus lassen sich zusammenfassend folgende Grundregeln zur Verwendung von Modalverben in Bundespressekonferenzen feststellen:10 1. Die geringfügigen statistischen Unterschiede zwischen den untersuchten Bundespressekonferenzen sind vor allem durch die jeweilige Thematik (Bericht über Vergangenes oder Zukünftiges oder beides), die Pragmatik (Information, Aufforderung oder Beschwichtigung der Zielgruppe) und bei Mehr-PersonenPressekonferenzen durch die Sprecherreihenfolge bedingt (vgl. auch die Detailanalysen in den Kapiteln 6 bis 8). Unterschiede im persönlichen Sprachstil der Politiker/innen bzw. ihrer Redenschreiber/innen oder die Entstehungszeit (also Neunziger-, Nuller- oder Zehnerjahre) sind – statistisch gesehen – nicht relevant. 2. In Bundespressekonferenzen mit mehreren Politiker/inne/n zeigt die Modalverbverwendung der Einzelpersonen Abweichungen von den Bundespressekonferenzen mit nur einem/einer Politiker/in. In der Gesamtschau der Mehrpersonenbundespressekonferenzen gleichen sich diese Unterschiede zu den Einpersonenbundespressekonferenzen jedoch wieder aus. 3. Die Modalverben im Korpus werden fast immer deontisch verwendet. Ein epistemischer Gebrauch lässt sich nur selten beobachten. 4. Es herrscht weitgehender Gegenwartsbezug (Präsens Indikativ oder Konjunktiv II mit Gegenwartsbezug). 5. Das Aktiv liegt bei 90 % der Modalverbbelege vor. Das Passiv wird v. a. in Sätzen mit Modalverben mit negativer Semantik eingesetzt, um so Handlungsverpflichtungen zu vermeiden. 6. Im Gesamtkorpus sowie in jeder einzelnen Bundespressekonferenz dominieren die handlungsraumbezogenen Modalverben gegenüber den zielbezogenen im Verhältnis von 70 % zu 30 %. Im Eingangsstatement ist die Dominanz der handlungsraumbezogenen Modalverben mit 60 % zu 40 % geringer. In den Diskussionsteilen ist die Frequenz der handlungsraumbezogenen Modalverben noch höher als in den Eingangsstatements: Ihr durchschnittliches Verhältnis liegt bei 74 % zu 26 %. Diese Dominanz handlungsraumbezogener Modalverben kann nach der umfassenden Beleganalyse in den Kapiteln 6 bis 8 darauf zurückgeführt werden, dass in den Diskussionen handlungsraumbezogene Modalverben oft in den Antworten der Politiker/innen auf Dispräferenz kommunizierende Journalistenfragen als Teile von Erklärungen, Rechtfertigungen, Hervorhebungen usw. eingesetzt werden. In den Eingangsstatements werden im Unterschied zur Diskussion vor allem selbst ausgewählte 10 Die Prozentwerte sind im Folgenden auf volle Prozente gerundet.

4 Statistikauswertung des Gesamtkorpus



75

und damit meist präferierte politische Zielsetzungen angekündigt, bei deren Durchsetzung die an der Bundespressekonferenz teilnehmenden Politiker/innen mitgewirkt haben. Bei der Kommunikation mitinitiierter präferierter politischer Zielsetzungen spielt der volitive Redehintergrund eine große Rolle, die den zielbezogenen Modalverben mögen/möchte- und vor allem wollen inhärent ist. 7. Im Gesamtkorpus ist das möglichkeitsmodale können mit 35 % der Belege etwas häufiger als das notwendigkeitsmodale müssen mit 31 % der Belege. Dies entspricht Weinrichs Annahme (2003: 300), dass nach können das Modalverb müssen das zweithäufigste Modalverb ist. 8. Das zielbezogene volitive Modalverb wollen zeigt von allen Modalverben die größte Abweichung zwischen der Häufigkeit in den Eingangsstatements (ca. 26 %) und den Diskussionsteilen (ca. 15 %) (vgl. hierzu die Ausführungen unter Punkt 6). 9. Die Modalverben sollen (ca. 8 %), dürfen (ca. 5 %) und mögen/möchte- (ca. 4 %) treten erheblich seltener auf als können, müssen und wollen. Müssen wird gegenüber sollen bei der Erläuterung politischer Handlungsnotwendigkeiten aufgrund seiner starken notwendigkeitsmodalen Semantik bevorzugt, um so den Handlungsdrang argumentativ zu steigern, ohne jedoch konkrete Personen in die Pflicht zu nehmen. Auch möchte- unterliegt in seiner Frequenz aufgrund seiner schwach zielorientierten Semantik deutlich dem ebenfalls zielbezogenen wollen, das einen höheren Grad an Engagement impliziert. 10. Wie die statistische Korpusanalyse zeigt, vermeiden Politiker/innen es, ein Sprecher-Ich als Subjekt mit den notwendigkeitsmodalen Modalverben müssen und sollen zu verbinden. Denn eine [ich+muss]- bzw. [ich +soll]-Konstruktion versprachlicht, dass Politiker/innen einem Handlungszwang unterliegen. Als Ausweg verwenden diese die Kombination mit den Subjektpronomen wir und man, die ein Kollektiv oder die unbestimmte Allgemeinheit als Adressierte ansprechen und verpflichten. Wenn möglich, wird jedoch jegliche Verbindung dieser Modalverben mit konkreten Personen unterlassen, so dass sie überwiegend mit Abstrakta verwendet werden. In diesen Fällen wird die notwendigkeitsausdrückende Semantik dieser Modalverben als Begründung für Handlungsnotwendigkeiten und die Definierung notwendiger Handlungsziele inszeniert, ohne jedoch einen Zwang mit einer konkreten Person zu verbinden. 11. In den Eingangsstatements dominieren die volitiv gebrauchten Modalverben unter den häufigsten N-Grammen, während die Diskussionsrunden hier eine gleichmäßigere modale Verteilung aufweisen.

76  4 Statistikauswertung des Gesamtkorpus

12.

Eine Negation mit nicht tritt bei 10 % bis 20 % aller Modalverben auf, nur müssen wird fast nie negiert. Die negierten Modalverb-Belege dienen als Begründungen politischer Handlungen, die negative Eventualitäten vermeiden sollen.

Nach diesem quantitativen Einstieg in die Analyse des Modalverbgebrauchs im Korpus werden in den folgenden Kapiteln die Modalverben in den beiden Teilkorpora der Bundespressekonferenzen 1990 und 2013 nach ihren Redehintergründen im Diskurskontext und nach konstruktionsgrammatischen und konversationellen Gebrauchsmustern untersucht.

5 Modalverben im Schnittfeld von Grammatik und Diskurs: Zur empirischen Analyse des Modalverbgebrauchs in den beiden Bundespressekonferenzen von 1990 mit Helmut Kohl und von 2013 mit Angela Merkel, Sigmar Gabriel und Horst Seehofer Für eine exemplarische Untersuchung der Modalverben im argumentativen Kontext werden in diesem Kapitel die Analyseergebnisse der Bundespressekonferenzen von 1990 und 2013 ausführlich dargestellt. Die erste Bundespressekonferenz, die das Untersuchungsobjekt meiner detaillierten Analyse in Kapitel 6 (Gesamtstatistik, Eingangsstatement und Diskussion) bildet, ist die Bundespressekonferenz von Helmut Kohl (CDU) vom 17.7.1990, also wenige Monate vor der Deutschen Einheit. In diesem Kapitel werden insbesondere die Redehintergründe und die Konstruktionsschemata der Modalverben näher beleuchtet, immer in Hinblick auf die Argumentation. In den darauf folgenden Kapiteln 7 (Gesamtstatistik, Eingangsstatement) und 8 (Diskussion) wird der Einsatz der Modalverben in der Bundespressekonferenz vom 27.11.2013 ausführlich analysiert, die direkt im Anschluss an die Koalitionsverhandlungen zwischen CDU/CSU und der SPD für die Große Koalition von 2013 bis 2018 stattfand. Die Untersuchung der Bundespressekonferenz von 2013 erfolgt deshalb in zwei getrennten Kapiteln jeweils zum Eingangsstatement und den Politikerantworten auf Fragen der Journalist/inn/en in der Diskussion, weil die Bundespressekonferenz 2013 auch als Aufzeichnung mit Bild und Ton erreichbar ist. Dies ermöglicht aufgrund der Transkriptionsmöglichkeit nach den GAT 2-Normen (Selting et al. 2009) eine umfassendere konversationsanalytische Untersuchung der Modalverben und Modalverbkonstruktionen in der Diskussion. Diese andere, die Kapitel 6 und 7 ergänzende methodologische Zielsetzung rechtfertigt die Analyse der Politikeräußerungen in der Diskussion in dem eigenständigen Kapitel 8. Ein Vorteil der Auswahl dieser zwei Bundespressekonferenzen ist, dass der Modalverbgebrauch in einer Bundespressekonferenz mit nur einem teilnehmenden Politiker sowie einer Bundespressekonferenz mit mehreren Teilnehmer/inne/ n – Angela Merkel/CDU, Sigmar Gabriel/SPD und Horst Seehofer/CSU – in jeweils unterschiedlichen konversationellen Rahmenbedingungen untersucht werden kann. Denn insbesondere im Antwortteil der Bundespressekonferenzen mit mehreren Teilnehmer/inne/n zeigt sich, dass die Politiker/innen sich gegenseitig stärker unterbrechen als dies in der Interaktion zwischen Politiker/inne/n und Journahttps://doi.org/10.1515/9783111245263-005

78  5 Modalverben im Schnittfeld von Grammatik und Diskurs

list/inn/en erfolgt (vgl. hierzu Kapitel 8). Die vertiefte Untersuchung des Modalverbeinsatzes auf Grundlage dieser beiden Bundespressekonferenzen bietet außerdem einen Überblick über die Mechanismen, die sich hinter der intendierten Auswahl der Modalverben in politiksprachspezifischem Kontext verbergen. Die Analyse der Modalverben wird wegen der redespezifischen Unterschiede sukzessive und chronologisch in voneinander getrennten Abschnitten durchgeführt. Es wird sich zeigen, dass die Gründe für diese Unterschiede die Spezifika der zu übertragenden Inhalte, die jeweiligen kommunikativen Funktionen, die zusätzlich zur informativen Funktion hinzutreten, und die jeweiligen Handlungsund Diskurskontexte sind. Das Ziel der Kapitel 5 bis 8 ist eine differenzierte empirische Analyse des Modalverbgebrauchs, die dennoch immer die argumentativen und damit die diskursiven und pragmatischen Charakteristika der Modalverbverwendung in der politischen Kommunikation im Auge behalten will. Zu Beginn der korpuslinguistischen Modalverbanalysen in den folgenden Subkapiteln werden die einzelnen Pressekonferenzen diskursanalytisch untersucht. Darauf folgt die empirische Untersuchung des Modalverbgebrauchs in den ausgewählten Bundespressekonferenzen auf Basis der Modalverbtypologie von Zifonun (in Zifonun et al. 1997: 1880–1920) und Hoffmann (2016: 312–329). Durch diesen Untersuchungsaufbau soll sichergestellt werden, dass die kommunikative Wirkung der Modalverben im jeweiligen politischen Diskurs bei ihrer grammatischen und pragmatischen Analyse simultan Berücksichtigung findet. Zu den Untersuchungsmethoden in diesem Kapitel 5 zählen folglich qualitative Forschungsmethoden aus der Grammatik, der Diskursanalyse bzw. der Pragmatik und der Konversationsanalyse und der Konstruktionsgrammatik, die in den einzelnen Abschnitten und auch darüber hinaus mit quantitativen Ansätzen zusammengeführt werden.

6 Zur empirischen Analyse des Modalverbgebrauchs I: Die Bundespressekonferenz vom 17.7.1990 mit Bundeskanzler Helmut Kohl zu den Verhandlungen über die Wiedervereinigung Deutschlands 6.1 Diskursanalytischer Überblick Die erste auf die Modalverbverwendung hin analysierte Pressekonferenz vom 17.7.1990 mit Bundeskanzler Helmut Kohl fand zweieinhalb Monate vor der Wiedervereinigung Deutschlands am 3.10.1990 statt. Sie besteht aus insgesamt 9.325 Tokens inklusive der Fragen der Journalist/inn/en. 8.326 Tokens sind davon Äußerungen von Kohl. In diesem Abschnitt werden die Diskursfaktoren nach den Modellen „structures and processes of politics“ von van Dijk (1997: 16 ff.) untersucht. Da beide Modelle zur inter- und auch multidisziplinären Analyse entwickelt wurden, können an dieser Stelle angesichts des Umfangs nur einzelne ausgewählte Aspekte dieser Modelle berücksichtigt werden. Die folgende tabellarische Darstellung der „structures and processes of politics“ nach Teun van Dijk bietet einen kurzen inhaltlichen Überblick über die Bundespressekonferenz vom 17.7.1990. Auf der linken Seite werden die „Strukturen und Prozesse“ nach van Dijk (1997: 16 ff.) dargestellt, auf der rechten die Ergebnisse der Anwendung dieser Faktoren auf die Bundespressekonferenz vom 17.7.1990: Tab. 9: Teun van Dijk Structures and processes of politics

am Beispiel der Bundespressekonferenz vom 17.7.1990

1. Societal domain or field

Politische Kommunikation

2. Political system

Demokratie

3. Political values

Einheit und Volkssouveränität

4. Political ideology

Freiheit und Demokratie

5. Political actors

Helmut Kohl

6. Political institutions

die Regierung der alten Bundesrepublik Deutschland

7. Political discourse

Wiedervereinigung Deutschlands

https://doi.org/10.1515/9783111245263-006

80 

6 Zur empirischen Analyse des Modalverbgebrauchs I

Teun van Dijk Structures and processes of politics

am Beispiel der Bundespressekonferenz vom 17.7.1990

8. Political process

Vorbereitung und Etablierung der Wiedervereinigung Deutschlands/erste gesamtdeutsche Wahlen

9. Political action

Legitimation der Wiedervereinigung der BRD und der DDR / Legitimierung der Macht

Das Modell von van Dijk berücksichtigt bereits viele Aspekte, die aus Sicht empirischer Arbeiten auf dem Gebiet der Diskursanalyse besonders wichtig sind. Dennoch werden Akteure/Akteurinnen, die keine Teile politischer Organe sind, nicht berücksichtigt. Ein weiterer Akteur der Bundespressekonferenzen ist der Verein der Bundespressekonferenz, eine aus Journalist/inn/en bestehende Organisation, die für die Veranstaltung der Bundespressekonferenz zuständig ist. Die Akteure/ Akteurinnen auf der ersten Realitätsebene sind der Bundeskanzler, die leitenden Mitglieder des Vereins der Bundespressekonferenz und die teilnehmenden Journalist/inn/en. Auf der sekundären Realitätsebene sind auch die Bürger/innen Deutschlands beteiligt. Diese haben die Möglichkeit, sich die Bundespressekonferenz anzusehen und sich so eine eigene Meinung zum Gegenstand des Diskurses, hier zur Wiedervereinigung Deutschlands zu bilden. Bis zur Gründung des öffentlich-rechtlichen Dokumentationssenders Phoenix sowie der privaten Nachrichtensender und der Einstellung der Bundespressekonferenzen auf dem Phoenix-YouTube-Kanal ins Internet wurden diese nur bei wichtigen Anlässen wie der Wiedervereinigung im Fernsehen live übertragen. Bei weniger relevanten Anlässen wurden sie dagegen nur stark zusammengefasst in den Nachrichten wiedergegeben. Deshalb sind bei den Pressekonferenzen aus früheren Zeiten Journalist/inn/ en als Akteure/Akteurinnen noch wichtiger gewesen als heutzutage. Dennoch stand damals – und steht natürlich auch heute noch – nicht ausschließlich die im Sinne Brinkers (2005: 158) informative Funktion des Formats der Bundespressekonferenz im Vordergrund, sondern auch die appellative Funktion (ebd.). Der Bundeskanzler wollte die Wähler/innen nicht nur informieren, sondern zugleich seine politischen Handlungen begründen, also legitimieren und so argumentativ überzeugen. Das Format der Bundespressekonferenz trägt zudem durch die Möglichkeit der Information der Bürger/innen zur Aufrechterhaltung der Demokratie bei, in diesem Fall sogar zur Etablierung der Demokratie in der DDR. Denn die deutsche Wiedervereinigung befand sich noch in der Vorbereitungsphase und damit war sie zum Zeitpunkt der Bundespressekonferenz noch nicht vollzogen. Die Hauptillokution in Helmut Kohls Äußerungen ist folglich die Legitimation der Wiedervereinigung in beiden Teilen Deutschlands. Dies veranschaulichen auch die häufigen Tokens deutsch* (90 Tokens, davon 52 Tokens für das Adjektiv deutsch und 26 Tokens für das Substantiv Deutschland), Einheit (18 Tokens) und wiederver-

6.1 Diskursanalytischer Überblick



81

ein* (als Substantiv und Adjektive, 8 Tokens) sowie die Kollokation deutsche Einheit (7 Belege). Zum Legitimationsanspruch der Wiedervereinigung kommt außerdem auch der Machterhaltungsanspruch von Kanzler Kohl als signifikante Illokution hinzu. Dies schlägt sich auch in Beleg 1 aus der Bundespressekonferenz am 17.7.1990 nieder: 1. „Wie Sie entdeckt haben, habe ich ein anderes, ganz wichtiges Datum hier nicht erwähnt: die Bundestagswahl, die gesamtdeutschen Wahlen im Dezember. Ich gehe davon aus, dass es wohl der erste Dezembersonntag sein wird nach den jetzt in der Diskussion befindlichen Daten. Sie haben sicherlich Verständnis dafür, dass ich zum Schluss zum Ausdruck bringe, dass ich die Absicht habe, diese Wahl zu gewinnen.“ (Z. 193–197) Diese Ankündigung des Wunsches nach Machterhalt wurde zum Schluss der Rede des Kanzlers geäußert und lieferte einen Hinweis auf die ersten Wahlen in dem bis dahin wiedervereinigten Deutschland, die am 2. Dezember 1990 stattfand. Bei den Wahlen trat Helmut Kohl (CDU) gegen Oskar Lafontaine (damals SPD) als Kanzlerkandidat an. Diese Bundespressekonferenz wurde im Fernsehen übertragen. Wie aber die kommunikativen Einflussfaktoren, die mit dem Medium Fernsehen zusammenhängen, die Perzeption beeinflusst haben, kann in Ermangelung des Zugangs zu einer Fernsehaufzeichnung in dieser Arbeit nicht überprüft werden.1 Was die Perlokution auf der zweiten Realitätsebene, also bei den Bürger/inne/ n anbelangt, darf angesichts der Wahlergebnisse vom Dezember 1990 angenommen werden, dass Helmut Kohl die Wähler/innen für die Vereinigung der DDR mit der Bundesrepublik Deutschland mehrheitlich begeistern konnte bzw. seine persuasive Argumentation bei den Wähler/inne/n erfolgreich war und dementsprechend die Illokution des Kanzlers mit der auf der zweiten Realitätsebene eingetretenen Perlokution übereinstimmt. Nach der Erläuterung der für die Analyse relevanten Diskursfaktoren widme ich mich im folgenden Abschnitt der empirischen Analyse des Modalverbgebrauchs am Beispiel der Bundespressekonferenz am 17.7.1990 mit Bundeskanzler Helmut Kohl. 1 Zum einen sei eine archivierte Fernsehaufzeichnung dieser Bundespressekonferenz nach Auskunft der Bundespressekonferenz e. V. leider nicht vorhanden und zum anderen bildet eine solche medien- und kommunikationswissenschaftliche Analyse keinen Gegenstand dieser sprachwissenschaftlich ausgerichteten Arbeit. Dasselbe gilt für die Untersuchung der Perlokution auf der ersten Realitätsebene durch eine umfassende medienwissenschaftliche Wirkungsanalyse dieser Bundespressekonferenz, zumal die ausführliche kommentierende Fernsehberichterstattung nicht archiviert wurde.

82 

6 Zur empirischen Analyse des Modalverbgebrauchs I

6.2 Empirische Analyse des Modalverbgebrauchs von Helmut Kohl in der Bundespressekonferenz Die statistische Erfassung der 140 Modalverben in der Bundespressekonferenz am 17.7.1990 mit Helmut Kohl ergeben folgende drei tabellarische Darstellungen, die sich an die Einteilung der Modalverben nach Hoffmann in handlungsraum- und zielbezogene Modalverben orientiert. Die Tabelle 10 und die Tabelle 11 zeigen die numerischen Verhältnisse, getrennt in handlungsraum- und zielbezogene Modalverben. Die Tabelle 12 präsentiert eine statistische Gesamtschau unter Angabe der Prozentanteile. Tab. 10: Numerische Statistik der handlungsraumbezogenen Modalverben in der Bundespressekonferenz am 17.7.1990 handlungsraum- Person bezogene Modalverben (dürfen, können, müssen)

Präsens Präsens Präteri- Präteri- ZwiinsgeIndikativ Konjunk- tum tum schen- samt tiv I Indikativ Konjunk- summe tiv II

Modalverb dürfen

4

Eingangsstatement

insgesamt

Diskussion

insgesamt

0 4

1. Pers. Sg.

2

2

3. Pers. Sg.

12

1

1. Pers. Pl.

13

1

Modalverb können Eingangsstatement

57 insgesamt

14

1. Pers. Sg.

1

3. Pers. Sg.

3

4

2

3 3

1. Pers. Pl.

5

5

2 Das Modalverb dürfen wird in der Diskussion in der 3. Person Singular mit Vorgangspassiv kombiniert und negiert. 3 In diesem Fall handelt es sich um eine Negation, die sich mit dem Ausschluss einer aus Sicht des Sprechers nicht erwünschten Handlungsalternative erklären lässt. 4 In einem der drei Fälle steht das Modalverb können in der 3. Person Singular in Kombination mit dem Kopulaverb sein; es handelt sich um eine Negation. In einem zweiten Fall wird das Modalverb mit einer Konstruktion im Vorgangspassiv kombiniert.

6.2 Empirische Analyse des Modalverbgebrauchs von Helmut Kohl

handlungsraum- Person bezogene Modalverben (dürfen, können, müssen) 3.Pers. Pl. Diskussion

35

3

insgesamt

43

1. Pers. Sg.

176

3.Pers. Sg.

97

3. Pers. Pl.

68

6

9

1

Siezform Sg.

1

Siezform Pl.

3

Prät.:2 Perf.: 1 1

20 1

2

11

5 29

insgesamt 3.Pers. Sg.

Diskussion

83

Präsens Präsens Präteri- Präteri- ZwiinsgeIndikativ Konjunk- tum tum schen- samt tiv I Indikativ Konjunk- summe tiv II

Modalverb müssen Eingangsstatement



2 210

2

insgesamt

27

1. Pers. Sg.

6

6

3.Pers. Sg.

1511

15

1. Pers. Pl.

6

6

5 In allen drei Fällen wird das Modalverb können in der 3. Person Plural mit einer Konstruktion im Vorgangspassiv kombiniert. 6 In zehn von 17 Fällen handelt es sich um eine Negation. 7 In 6 von 9 Fällen wird das Modalverb können in der 3. Person Singular mit dem Indefinitpronomen man verwendet, in einem weiteren Fall mit niemand. In vier Fällen liegt eine Negation vor, die bis auf eine einzige Ausnahme in den man-Konstruktionen vorkommt und selbstverständlich auch in dem Satz mit niemand. 8 In einem der sechs Fälle handelte es sich um eine Konstruktion im Vorgangspassiv. In einem Fall wurde das Modalverb können in der 3. Person Plural mit dem Kopulaverb sein verwendet. 9 Das Modalverb können wird in der Siezform im Singular verwendet, als Helmut Kohl einen Journalisten direkt ansprach. In diesem Fall handelt es sich um eine Negation des Satzinhaltes, da der Bundeskanzler in dem an den Journalisten adressierten Satz seine abweichende Meinung zum Ausdruck brachte. 10 In dem einen Fall wird im Eingangsstatement das Modalverb müssen in der 3. Person Singular mit einem Zustandspassiv, in dem anderen Fall mit einem Vorgangspassiv kombiniert. 11 In einem der Fälle fungiert das Modalverb müssen in der Diskussion als Vollverb. In drei Fällen wird müssen mit dem Kopulaverb sein kombiniert. In zwei Fällen kann eine Verwendung des Modalverbs in Vorgangspassiv beobachtet werden. In insgesamt fünf Fällen wird müssen in der 3. Person Singular mit dem Indefinitpronomen man verwendet.

84 

6 Zur empirischen Analyse des Modalverbgebrauchs I

Tab. 11: Numerische Statistik der zielbezogenen Modalverben in der Bundespressekonferenz am 17.7.1990 zielbezogene Person Modalverben (mögen, sollen, wollen)

Präsens Präsens Präteri- Präteri- ZwiinsgeIndikativ Konjunk- tum Indi- tum Kon- schen- samt tiv I kativ junktiv II summe

Modalverb mögen Eingangsstatement

Diskussion

5 insgesamt

2

1. Pers. Sg.

1

3. Pers. Sg.

1

insgesamt

3

1. Pers. Sg.

3

Modalverb sollen Eingangsstatement

Diskussion

21 insgesamt

9

3. Pers. Sg.

512

5

3.Pers. Pl.

413

4

1. Pers. Sg.

1

1

3.Pers. Sg.

414

1. Pers. Pl.

3

insgesamt

12

3. Pers. Pl.

1

1

6

1

4

115

1

Modalverb wollen Eingangsstatement

24 insgesamt

9

1. Pers. Sg.

4

4

3. Pers. Sg.

3

3

12 In einem der fünf Fälle wird im Eingangsstatement das Modalverb in der 3. Person Singular im Zustandspassiv verwendet und 2-mal im Vorgangspassiv. Eine Negation kann einmal konstatiert werden. 13 In einem der vier Fälle wird das Modalverb sollen im Eingangsstatement in der 3. Person Plural im Vorgangspassiv verwendet. In einem von vier Fällen liegt eine Negation vor. 14 In einem der vier Fälle liegt eine negierte Verwendung des Modalverbs sollen in Kombination mit dem Kopulaverb sein vor. In einem weiteren Fall wird das Modalverb ebenso mit dem Kopulaverb sein kombiniert. 15 In diesem Fall liegt in der Diskussion eine Negation des Modalverbs sollen in der 3. Person Plural vor.

6.2 Empirische Analyse des Modalverbgebrauchs von Helmut Kohl

zielbezogene Person Modalverben (mögen, sollen, wollen)

85

Präsens Präsens Präteri- Präteri- ZwiinsgeIndikativ Konjunk- tum Indi- tum Kon- schen- samt tiv I kativ junktiv II summe

1. Pers. Pl. Diskussion



216

2

insgesamt

15 17

1. Pers. Sg.

11

3.Pers. Sg.

1

1

1. Pers. Pl.

1

1

Siezform Pl.

1

1

1

12

Tab. 12: Prozentuale Gesamtstatistik zu den Modalverben in der Bundespressekonferenz am 27.11.2013 am 17.7.1990 mit Helmut Kohl: 140 Modalverben

1. Person 2. Person 3. Person Tempus bzw. Siezform

Handlungsraum- dürfen, können, bezogene Modal- müssen verben Modalverb dürfen

Eingangsstatement (26,0 % der Wörter): 0 0,0 % Antworten auf Fragen (74 % der Wörter): 4 100,0 %

Gesamt

90 64,3 % (v. 140) 1. Pers.: Sg.: 2 50,0 % Pl.: 1 25,0 %

2. Pers.: Sg.: 0 0,0 % Pl.: 0 0,0 % Siezen: Sg.: 0 0,0 % Pl.: 0 0,0 %

3.Pers. Sg.: 1 25,0 % Pl.: 0 0,0 %

Präs.Ind.: 4 100,0 %

4 4,4 % (v. 90) 2,9 % (v. 140)

16 In einem der beiden Fälle wird wollen in der Diskussion in der 1. Person Plural als Vollverb verwendet. 17 In einem der Fälle liegt beim Gebrauch des Modalverbs wollen in der Diskussion in der 1. Person Singular eine Negation vor.

86 

6 Zur empirischen Analyse des Modalverbgebrauchs I

140 Modalverben

1. Person 2. Person 3. Person Tempus bzw. Siezform

Gesamt

Modalverb können

Eingangsstatement (26,0 % der Wörter): 14 24,6 % Antworten auf Fragen (74 % der Wörter): 43 75,4 %

1. Pers.: Sg.: 23 40,4 % Pl.: 5 8,8 %

2. Pers.: Sg.: 0 0,0 % Pl.: 0 0,0 % Siezen: Sg.: 1 1,8 % Pl.: 5 8,8 %

3.Pers. Sg.: 14 24,6 % Pl.: 9 15,8 %

Präs.Ind.: 48 84,2 % Konj.I: 1 1,8 % Prät. Ind.: 2 3,5 % Konj. II: 1 1,8 % Perf. Ind.: 1 1,8 %

57 63,3 % (v. 90) 40,7 % (v. 140)

Modalverb müssen

Eingangsstatement (26,0 % der Wörter): 2 6,9 % Antworten auf Fragen (74 % der Wörter): 27 93,1 %

1. Pers.: Sg.: 6 20,7 % Pl.: 6 20,7 %

2. Pers.: Sg.: 0 0,0 % Pl.: 0 0,0 % Siezen: Sg.: 0 0,0 % Pl.: 0 0,0 %

3.Pers. Sg.: 15 51,7 % Pl.: 0 0,0 %

Präs.Ind.: 29 100,0 %

29 32,2 % (v. 90) 20,7 % (v. 140)

Zielbezogene Modalverben

mögen, sollen, wollen

Modalverb mögen

Eingangsstatement (26,0 % der Wörter): 2 40,0 % Antworten auf Fragen (74 % der Wörter): 3 60,0 %

50 35,7 % (v. 140) 1. Pers.: Sg.: 4 80,0 % Pl.: 0 0,0 %

2. Pers.: Sg.: 0 0,0 % Pl.: 0 0,0 % Siezen: Sg.: 0 0,0 % Pl.: 0 0,0 %

3.Pers. Sg.: 1 20,0 % Pl.: 0 0,0 %

Präs.Ind.: 0 0,0 % Prät. Ind.: 0 0,0 % Konj. II: 5 100,0 %

5 10,0 % (v. 50) 3,6 % (v. 140)

6.2 Empirische Analyse des Modalverbgebrauchs von Helmut Kohl

140 Modalverben



1. Person 2. Person 3. Person Tempus bzw. Siezform

Gesamt

Modalverb sollen

Eingangsstatement (26,0 % der Wörter): 9 42,9 % Antworten auf Fragen (74 % der Wörter): 12 57,1 %

1. Pers.: Sg.: 1 4,8 % Pl.: 4 19,0 %

2. Pers.: Sg.: 0 0,0 % Pl.: 0 0,0 % Siezen: Sg.: 0 0,0 % Pl.: 0 0,0 %

3.Pers. Sg.: 11 52,4 % Pl.: 5 23,8 %

Präs.Ind.: 17 81,0 % Konj.I: 1 4,8 % Prät. Ind.: 0 0,0 % Konj. II: 3 14,3 %

21 42,0 % (v. 50) 15,0 % (v. 140)

Modalverb wollen

Eingangsstatement (26,0 % der Wörter): 9 37,5 % Antworten auf Fragen (74 % der Wörter): 15 62,5 %

1. Pers.: Sg.: 16 66,7 % Pl.: 3 12,5 %

2. Pers.: Sg.: 0 0,0 % Pl.: 0 0,0 % Siezen: Sg.: 0 0,0 % Pl.: 1 4,2 %

3.Pers. Sg.: 4 16,7 % Pl.: 0 0,0 %

Präs.Ind.: 23 95,8 % Konj.I: 1 4,2 %

24 48,0 % (v. 50) 17,1 % (v. 140)

87

Die Gesamtstatistik in Tabelle 12 zeigt, dass das handlungsraumbezogene Modalverb können mit 40,7 % aller Modalverbbelege am häufigsten auftritt. Dieses Resultat stimmt mit den Ergebnissen der Gesamtstatistik in Kapitel 4 überein und entspricht den Beobachtungen Weinrichs (2003: 297), dass können das im Deutschen am häufigsten verwendete Modalverb ist. An zweiter Stelle mit deutlichem Abstand zu können steht das ebenso handlungsraumbezogene Modalverb müssen mit 20,7 %, das nach Weinrich (2003: 300) das zweithäufigste Modalverb im Deutschen ist. Darauf folgt mit etwas weniger Abstand zum zweitplatzierten Modalverb das zielbezogene Modalverb wollen mit 17,1 %. Auch hier stimmt die Statistik mit Weinrichs (2003: 303) Annahmen überein, da er wollen als das dritthäufigste Modalverb im Deutschen sieht. Das zielbezogene Modalverb sollen nimmt mit 15,0 % den vierten Platz ein. In 3,6 % der Fälle wurde in der Bundespressekonferenz am 17.7.1990 mit Helmut Kohl das zielbezogene Modalverb mögen/möchte verwendet. Auffällig ist aber, dass das Modalverb dürfen in der gesamten Rede des Kanzlers insgesamt 4-mal, also in 2,9 % der Fälle zum Einsatz kam, dies auch nur in der Diskussion mit den Journalist/inn/en und kein einziges Mal in dem Eingangsstatement von Helmut Kohl. Den Fußnoten zu den dargestellten Statistiken kann man eben-

88 

6 Zur empirischen Analyse des Modalverbgebrauchs I

falls entnehmen, dass eine Negation in Sätzen mit Modalverben im engeren Sinn im Eingangsstatement mit nur 3 Belegen selten vorliegt. In den folgenden Abschnitten wird die in den Tabellen dargestellte statistische Verteilung erörtert: Die handlungsraumbezogenen Modalverben können, dürfen und müssen sowie die zielbezogenen Modalverben mögen, sollen und wollen werden empirisch und exemplarisch analysiert. Dabei wird eine interteildisziplinäre grammatisch-semantische und zum anderen eine diskursgrammatische und syntaktische Analyse unter Berücksichtigung des diskursiven und pragmatischen Entstehungskontextes dieser Bundespressekonferenz durchgeführt.

6.2.1 Die Modalverben im Eingangsstatement von Helmut Kohl 6.2.1.1 Die handlungsraumbezogenen Modalverben dürfen, können und müssen im Eingangsstatement von Helmut Kohl Wie bereits eingangs in diesem Kapitel hervorgehoben, gehören zu den handlungsraumbezogenen Modalverben Hoffmann (2016: 316 ff.) zufolge die Modalverben können und müssen, aber auch dürfen, das in Kohls Eingangsstatement nicht vorkommt. Neben dem Gebrauch des handlungsraumbezogenen Modalverbs dürfen kann auch der Gebrauch handlungsraumbezogener Modalverben in Kombination mit einer Negation nur in Ausnahmefällen konstatiert werden, denn nur einmal tritt ein handlungsraumbezogenes Modalverb in Kohls Eingangsstatement mit Negation auf. Der Gebrauch zielbezogener Modalverben mit Negation bleibt ebenfalls eine Ausnahme. Nur das Modalverb sollen18 kommt 2-mal in dem Eingangsstatement von Helmut Kohl zum Einsatz. Die eine intrasubjektive Verwendung voraussetzenden Modalverben mögen/möchte- und wollen stehen hingegen in dem Eingangsstatement kein einziges Mal mit Negation. Das Modalverb können „markiert“ nach Hoffmann (2016: 316) „den Handlungsraum allgemein“ und wird auch in der unter historischem Aspekt bedeutsamen Bundespressekonferenz vom 17.7.1990 über die geplante Wiedervereinigung Deutschlands von allen Modalverben am häufigsten verwendet. Engel (1988: 465) beschreibt die am meisten verbreitete Bedeutung des Modalverbs können wie folgt: „‚auf Grund objektiver Gegebenheiten die Möglichkeit haben‘/ ‚auf Grund einer Fähigkeit/Bereitschaft imstande sein‘“. Hoffmann (2016: 316) beschreibt die Semantik des Modalverbs können ähnlich:

18 Das Modalverb sollen mit Negation erscheint in dem Eingangsstatement von Helmut Kohl einmal in der 3. Person Singular und einmal in der 3. Person Plural.

6.2 Empirische Analyse des Modalverbgebrauchs von Helmut Kohl 

89

Eine geforderte oder geplante Handlung kann nicht realisiert werden, wenn der Handlungsraum keine Möglichkeit bietet oder die Fähigkeiten fehlen […]. Es bestehen die Spielräume für die fragliche Handlung, seien es situative Voraussetzungen oder mentale […].

Zifonun (in Zifonun et al. 1997: 1888) weist darauf hin, dass können zusammen mit dem Modalverb müssen das Modalverb „mit dem weitesten Verwendungsspielraum“ ist. In dieser Arbeit wird davon ausgegangen, dass die Breite des Verwendungsspielraums insbesondere dieser beiden Modalverben auch mit dem argumentativen Kontext einer Äußerung zusammenhängt, in denen die Modalverben auftreten und dass dieser Verwendungsspielraum durch den hochintentionalen Charakter politischer Reden in ihrer Verwendungsform beeinträchtigt wird. Wie in Abschnitt 3.3 bereits ausgeführt, schlägt Zifonun (in Zifonun et al. 1997: 1910) in einer tabellarischen Darstellung folgende semantische Klassifikationen der einzelnen Verwendungsweisen des Modalverbs können nach dem Redehintergrund vor: epistemisch, extrasubjektiv – mit einer Subklassifikation in circumstantiell, normativ und teleologisch – und intrasubjektiv – mit einer Subklassifikation in circumstantiell. Das Modalverb können verwendet Helmut Kohl in der Bundespressekonferenz am 17.7.1990 57-mal, davon insgesamt 14-mal im Eingangsstatement. In diesem Redeanteil verwendete Helmut Kohl das Modalverb können 10-mal circumstantiell und nur 4-mal teleologisch, also an Handlungszielen orientiert. Unter dem extrasubjektiv-circumstantiellen Redehintergrund versteht Zifonun (in Zifonun et al. 1997: 1883) die Orientierung des Sprechers an „speziellen Umständen und Gegebenheiten […], seien es situative, allgemein sachverhaltsoder gegenstandsbezogene […]“. Der extrasubjektiv-circumstantielle Redehintergrund beim Modalverb können ist hinsichtlich seiner Frequenz in dieser Bundespressekonferenz besonders auffällig. Beleg 2 veranschaulicht den für die Rede des Bundeskanzlers musterhaften extrasubjektiv-circumstantiellen Gebrauch des Modalverbs können: 2. „(S1/1) 19 Wenn wir heute aufgrund der Gipfeltreffen der letzten vier Wochen von einem Durchbruch sprechen können (S1/2) und mehr und mehr die Konturen des künftigen Europas vor uns sehen, (S1/3) wissen wir auch, (S1/4) dass noch ein schwieriger, ein arbeitsreicher Weg vor uns liegt.“ (Z. 67–69) Die Stellung des Modalverbs können im wenn-Nebensatz (S1/1) kann mit folgender Formel beschrieben werden:

19 Die Teilsätze werden mit der Abkürzung (SX/Y) bezeichnet, wobei X für einen Satz in der numerischen Reihenfolge aller Sätze in einem Beleg steht und Y für den Teilsatz in dem jeweiligen Satz.

90 

6 Zur empirischen Analyse des Modalverbgebrauchs I

Subj+SPr1P+ADV+PP+PP+VV+MV (Subjunktor + Subjektpronomen 1. Person Plural + Adverb + zwei Präpositionalphrasen + Vollverb + Modalverb)

Das Modalverb können wird hier im Sinne einer Möglichkeit verwendet und zwar in einem argumentativen Kontext, in dem die Rahmen für die Handlung des Sprechers aus seiner Sicht bereits als gesichert betrachtet werden. Die Präpositionalphrase auf Grund der Gipfeltreffen der letzten vier Wochen im ersten Teil des ersten Nebensatzes (Teilsatz S1) deutet auf einen extrasubjektiv-circumstantiellen Gebrauch des Modalverbs können hin, das nur auf diesen Teilsatz bezogen eine positive Semantik innehat. Infolge einer Inhaltsanalyse des zweiten Nebensatzes dass noch ein schwieriger, ein arbeitsreicher Weg vor uns liegt sowie unter Berücksichtigung des historischen Diskurswissens, das mit dem historischen Ablauf der deutschen Wiedervereinigung und der europäischen Integration in den 80er und 90er Jahren im Zusammenhang steht, wird nämlich in Beleg 2 von Bundeskanzler Kohl das Konzept der europäischen Integration mit dem Konzept der Arbeit verbunden. Nach einem kurzen, inhaltlich eher neutralen Hauptsatz (S3) wird im zweiten Nebensatz auf die zu überwindenden und mit der Vorbereitung verbundenen Barrieren hingewiesen. Damit steht der positiven Semantik von können in Beleg 2 (S1) mit der Phrase ein schwieriger, ein arbeitsreicher Weg im Teilsatz (S4) eine negative Semantik entgegen, die aber keineswegs entmutigend, sondern motivierend wirken soll. Damit aber argumentativ die positive Botschaft des Durchbruchs in den Vordergrund gerückt wird, befindet sich der Teilsatz (S1) mit dem positiv geladenen Modalverb können syntaktisch an erster Stelle im Satzgefüge und drängt das Negative, nämlich die Herausforderung, die bis zum Eintreten der Wiedervereinigung eine Schwierigkeit darstellt, in den Hintergrund, also ans Ende des Satzes. Bei der Ankündigung von positiven Handlungsmöglichkeiten ist, wie dies in Beleg 2 der Fall ist, nicht nur der Einsatz des semantisch äußerst positiv konnotierten Modalverbs können empfehlenswert, sondern auch dessen argumentativ bedingte Platzierung möglichst im ersten Teilsatz. Die Präpositionalphrase auf Grund der Gipfeltreffen der letzten vier Wochen fungiert im ersten Teilsatz aus syntaktischer Sicht als Kausalangabe und ist somit syntaktisch weglassbar, ihr kommt jedoch semantisch-funktional eine umso größere Rolle zu, da sie die Grundlage für die Ankündigung des Bundeskanzlers liefert. In vielen Fällen ist aber eine Einordnung des Modalverbs können nach dem Redehintergrund in der Rede von Kohl nicht eindeutig, und es kommt zu Polysemien hinsichtlich des Redehintergrunds. So kann beispielsweise in Beleg 3 ein Ineinanderfließen des extrasubjektiv- und intrasubjektiv-circumstantiellen Gebrauchs festgestellt werden:

6.2 Empirische Analyse des Modalverbgebrauchs von Helmut Kohl

3.



91

„(S1/1) Dank intensiver und vertrauensvoller Gespräche und Konsultationen auf allen Ebenen, (S1/2) die auch in ihrer Dichte und Häufigkeit beispiellos waren, (S1/1 Fortsetzung) können wir heute von einem Durchbruch auf dem Wege zur Regelung der äußeren Aspekte der deutschen Einheit sprechen (S1/3) und zudem die Konturen einer künftigen europäischen Architektur klar erkennen.“ (Z. 23–27).

Folgende Formel ergibt sich für die Modalverbverwendung im Hauptsatz (Teilsatz S1/1): PP+RS(Einschub)+MV+SPr1S+ADV+PP+VV (Präpositionalphrase + eingeschobener Relativsatz + Modalverb + Subjektpronomen 1.Person Plural + Adverb + Präpositionalphrase + Vollverb)

Trotz eines ähnlichen Wortfelds in Beleg 3 und Beleg 2 gibt es doch funktional-semantisch betrachtet einige Unterschiede. Die syntaktisch im Vorfeld platzierte Präpositionalphrase mit Angabenstatus in Beleg 3 Dank intensiver und vertrauensvoller Gespräche und Konsultationen auf allen Ebenen eröffnet den Satz mit einer positiven Semantik, liefert semantisch-funktional betrachtet die Grundlage für die folgende Ankündigung und begründet gleichzeitig den extrasubjektiv-circumstantiellen Gebrauch des Modalverbs können. Die Präpositionalphrase wird durch den von ihm abhängigen Relativsatz zwar prosodisch vom restlichen Hauptsatz separiert, der funktional-semantische Bezug zwischen dem Modalverb können und dieser die Voraussetzung für das Können ausdrückenden Präpositionalphrase fällt dadurch aber umso stärker auf. Im Unterschied zu dem in Beleg 2 rein extrasubjektiv-circumstantiellen Gebrauch des Modalverbs können tritt in Beleg 3 durch die Verbsemantik des Vollverbs erkennen in der rechten Verbklammer auch noch ein intrasubjektiv-circumstantieller Redehintergrund dieses Modalverbs hinzu. Denn die Semantik des Vollverbs erkennen setzt eine intrasubjektive mentale Fähigkeit des Sprechers sowie der Hörer/innen voraus. Normalerweise modifiziert das Modalverb die Bedeutung des Vollverbs, in diesem Beleg beeinflusst aber die Semantik des Vollverbs auch die Semantik des Modalverbs können und ist für das Ineinanderfließen des extrasubjektiven und des intrasubjektiven Redehintergrunds bei können ursächlich. Das Modalverb können wird – wie auch in Beleg 2 zu können – ebenfalls im Sinne einer Möglichkeit verwendet. Ein ähnliches Ineinanderfließen des extrasubjektiv- und intrasubjektiv-circumstantiellen Gebrauchs von können lässt sich auch am Beispiel des Belegs 4 feststellen: 4. „(S1/1) Bei meinem ersten Besuch im Februar konnte ich berichten, (S1/2) dass wir Deutsche seitens der sowjetischen Führung ‚grünes Licht‘ für unseren

92 

6 Zur empirischen Analyse des Modalverbgebrauchs I

Weg zur Einheit erhalten haben (S1/3) und dass wir auch über ihre Form, Frist und Bedingungen selbst entscheiden können. (S2/1) Heute kann ich die für alle Deutschen gute Nachricht mitbringen, (S2/2) dass nunmehr auch über alle äußeren Aspekte zwischen uns und der Sowjetunion Einigkeit erzielt ist.“ (Z. 85–89) Folgende Formeln ergeben sich für die drei Modalverben in Beleg 4: MV 1 im Hauptsatz des Satzes 1 (Teilsatz S1/1): PP+MVprät+SPr1S+VV (Präpositionalphrase + Modalverb Präteritum + Subjektpronomen 1. Person Singular + Vollverb)

MV 2 im zweiten Nebensatz des Satzes 1 (Teilsatz S1/3): Nek+Subj+SPr1P+ADV+PP+PART+VV+MV (Subjunktor + Subjektpronomen 1. Person Plural + Adverb + Präpositionalphrase + Partikel + Vollverb + Modalverb)

MV 3 im Hauptsatz des Satzes 2 (Teilsatz S2/1): ADV+MV+SPr1S+PP+dOBJ-NP+VV (Adverb + Modalverb + Subjektpronomen 1. Person Singular + Präpositionalphrase + direktes Objekt-NP + Vollverb)

Das Modalverb können in der 1. Person Singular lässt im ersten Satz in präteritaler Form einen extrasubjektiv-circumstantiellen Gebrauch mit einem intrasubjektivcircumstantiellen Gebrauch ineinanderfließen. Die Phrase Ergebnisse der Gespräche mit Präsident Gorbatschow aus dem zweiten Einleitungssatz des Absatzes, in dem Beleg 4 steht, deutet auf einen extrasubjektiv-circumstantiellen Gebrauch des Modalverbs können hin. Helmut Kohl erhielt einerseits durch extrasubjektive Faktoren die Möglichkeit, über die Ergebnisse der mit Gorbatschow geführten Verhandlungen zu berichten; er hatte also im Sinne Engels (1988: 465) „auf Grund objektiver Gegebenheiten die Möglichkeit“ dazu. Zugleich war der Bundeskanzler aber auch „auf Grund einer Fähigkeit/Bereitschaft“ intrasubjektiv „imstande“ (Engel 1988: 465), die kognitive Leistung zu erbringen, die für die Wiedervereinigung nötigen Verhandlungen erfolgreich geführt und anschließend über die Ergebnisse einen inhaltlich passenden Bericht erstellt zu haben. Aus den der Äußerung vorangegangenen Anmerkungen des Kanzlers im Zusammenhang mit dem komplexen Prozess der Verhandlungen, bei denen Helmut Kohl als Hauptakteur seine Kompetenz auf dem Gebiet der Diplomatie unter Beweis stellen musste, sowie aus dem Diskurswissen heraus erklärt sich hier der intrasubjektive Gebrauch des Modal-

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verbs. Dieser deutet gleichzeitig darauf hin, dass die Verhandlungen nicht einfach und deshalb besondere Kompetenzen nötig waren. Dies impliziert folglich einen zusätzlich intrasubjektiv-circumstantiellen Gebrauch des Modalverbs können und zeigt damit eine Überschneidung beider Redehintergründe, also der extra- wie der intrasubjektiv-circumstantiellen Modalverbverwendung von können. Diese Verschmelzung der beiden circumstantiellen Gebrauchsarten von können verbindet in Beleg 4 sprachlich den Bericht über die Ermöglichung der deutschen Einheit einerseits durch äußere Faktoren (hier v. a. das russische Entgegenkommen) (extrasubjektiv) als auch andererseits durch das eigene Verhandlungsgeschick des Kanzlers (intrasubjektiv) und dient damit der Argumentation. Damit ist diese Verschmelzung der beiden Redehintergründe auf einer Bundespressekonferenz, auf der Helmut Kohl neben dem Durchbruch bei den Detailverhandlungen zur deutschen Einheit auch die ersten gesamtdeutschen Wahlen und seine Kandidatur thematisiert, dem beginnenden ersten gesamtdeutschen Bundestagswahlkampf dienlich, da hier sowohl die günstige historische Gelegenheit als auch der eigene Verhandlungserfolg angesprochen werden, ohne Letztgenannten kommunikativ unangenehm zu überhöhen. Grundsätzlich wäre in Teilsatz (S1/1) auch eine Konstruktion ohne das Modalverb können möglich: 4.1’ „(S1/1) Bei meinem ersten Besuch im Februar berichtete ich, (S1/2) dass wir Deutsche seitens der sowjetischen Führung ‚grünes Licht‘ für unseren Weg zur Einheit erhalten haben (S1/3) und dass wir auch über ihre Form, Frist und Bedingungen selbst entscheiden können.“ Der Verwendung des Modalverbs können anstelle einer nichtmodalen Verbkonstruktion ermöglicht jedoch argumentativ eine stärkere Fokussierung der circumstantiellen Möglichkeiten, seien diese nun die historisch außergewöhnlichen extrasubjektiven oder aber die intrasubjektiven in Form der eigenen diplomatischen Kompetenz. Die retrospektive Darstellung der Resultate diplomatischer Verhandlungen schlägt sich bei der Verwendung des Modalverbs können auch im wechselnden Tempus, Präteritum – Präsens – Präsens nieder. Die strukturelle Rekurrenz des Modalverbs können beschreibt eine Kette extrasubjektiv bedingter Möglichkeiten, die mit der Wiedervereinigung in Zusammenhang stehen. Diese Modalverbrekurrenz dient dazu, die Wiedervereinigung zum einen inhaltlich stärker in den Vordergrund zu stellen, zum anderen deren Rahmenbedingungen durch den extrasubjektiv-circumstantiellen Gebrauch des Modalverbs können zu erläutern. Der Sprecher wird aber beim Vollzug seiner Lokution nicht rein von der Intention geleitet, dass die positive Handlungsmöglichkeit der Wiedervereinigung angekündigt wird. Durch den zugleich intrasubjektiv-circumstantiellen Gebrauch des Modal-

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verbs können rücken die persuasiven Fähigkeiten des Sprechers im Umgang mit internationalen Verhandlungspartner/inne/n in den Vordergrund. Aus dem Diskurswissen heraus beziehungsweise unter Berücksichtigung intra- und extratextueller Merkmale kann folglich das strukturell-rekurrente und argumentativ prägnante Ineinanderfließen des extra- und des intrasubjektiv-circumstantiellen Gebrauchs des Modalverbs können erklärt werden. Treibende Kraft dahinter ist die in Wahlkämpfen übliche Selbstprofilierung der Kanzlerkandidat/inn/en. Ebenso frequent und musterhaft wie die bisher erörterten Überschneidungsphänomene der Redehintergründe beim Modalverb können ist die semantische Überschneidung des Modalverbs können mit dem Modalverb dürfen, wenn können rein extrasubjektiv-circumstantiell gebraucht wird. Das Modalverb dürfen hat nach Hoffmann (2016: 316) folgende Semantik: Dürfen bezeichnet den Fall, dass jemand durch die Erlaubnis eines Anderen eine Handlungsmöglichkeit erhält, die er angestrebt hat und die zuvor verschlossen war. 20

Im dritten Teilsatz des ersten Satzes des gerade analysierten Belegs 4 könnte unter Zugrundelegung der semantischen Definition Hoffmanns für das Modalverb dürfen anstelle des Modalverbs können auch das Modalverb dürfen stehen: 4.1 „(S1/1) Bei meinem ersten Besuch im Februar konnte ich berichten, (S1/2) dass wir Deutsche seitens der sowjetischen Führung ‚grünes Licht‘ für unseren Weg zur Einheit erhalten haben (S1/3) und dass wir auch über ihre Form, Frist und Bedingungen selbst entscheiden können/dürfen.“ Im zweiten Teilsatz des ersten Satzes in Beleg 4 schildert Kanzler Kohl mit dem kollektivierenden Personalpronomen wir der 1. Person Plural die Selbstbestimmung der Deutschen über die bündnispolitischen Konditionen der deutschen Einheit. Das das Personalpronomen wir attribuierende Substantiv Deutsche und die Verben entscheiden und können sind semantisch gleichermaßen positiv aufgeladen. Die Phrasen seitens der sowjetischen Führung und grünes Licht implizieren aber eine Erlaubnis durch Dritte als Grund für eine Handlungsmöglichkeit, wie sie Hoffmann (2016: 316) in seiner semantischen Definition des Modalverbs dürfen anführt. Durch die Verwendung des positiven, da hinsichtlich der Handlungshoheit nicht einschränkenden Modalverbs können kann der Redner das Entscheidenkönnen, also die außenpolitische Entscheidungsfreiheit fokussieren und gleichzeitig die Erlaubniswirkung der Phrasen seitens der sowjetischen Führung und grünes

20 Auf die Negation des Modalverbs dürfen wird hier nicht eingegangen, da ihre Frequenz in dem Korpus der Bundespressekonferenzen für eine quantitative und sogar für eine repräsentative qualitative Untersuchung zu gering ist.

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Licht abschwächen. Die eigene politische Handlungsautonomie wird auf diese Weise durch den Verzicht auf die Verwendung von dürfen nicht konterkariert. Im zweiten Satz des Belegs 4 wird das Modalverb können in der 1. Person Singular erneut über die Grenzen eines extra- und intrasubjektiven Gebrauchs hinaus verwendet: 4.2 „(S2/1) Heute kann ich die für alle Deutschen gute Nachricht mitbringen, (S2/2) dass nunmehr auch über alle äußeren Aspekte zwischen uns und der Sowjetunion Einigkeit erzielt ist.“ Im untersuchten Beleg 4 stellt der Hauptsatz des zweiten Satzes Heute kann ich die für alle Deutschen gute Nachricht mitbringen (S2/1) eine Parallel- und Fortsetzungskonstruktion zum ersten Teilsatz des ersten Satzes Bei meinem ersten Besuch im Februar konnte ich berichten dar. Der Zusammenhang zwischen beiden Sätzen wird neben der starken isotopischen Kohärenz auf der Texttiefenstruktur hier auf der Textoberfläche primär durch die Rekurrenz des Modalverbs können und des Personalpronomens ich hergestellt. Gerade Modalverben wirken ebenfalls wie Personalpronomen bei einer Rekurrenz als Synsemantika stilistisch und damit auch pragmatisch nicht so auffällig wie Autosemantika, die Verknüpfung erfolgt deshalb unaufdringlicher. Dieser zweite vorangestellte Teilsatz mit können ermöglicht es dem Redner argumentativ erneut, sich einerseits – durch die Modalisierung kommunikativ dezent – als erfolgreicher Diplomat und Verkünder einer historisch einzigartigen Botschaft darzustellen, er kann sich aber andererseits in dem zweiten Teil des Satzes erneut zurücknehmen. Im ersten Satz erfolgte dies mit dem kollektiven Subjektpronomen wir, hier im zweiten Satz durch das kollektive Objektpronomen (zwischen) uns in Kombination mit dem Zustandspassiv erzielt ist. Das Zustandspassiv ermöglicht es einerseits, die Verhandlungen als abgeschlossen und final auszuweisen, andererseits durch eine Agensvermeidung entweder Deutschland oder die Sowjetunion bei einem aktivischen Funktionsverbgefüge Einigkeit erzielen in die Subjektposition zu schieben. Somit schafft der persönliche Hauptsatz mit kann durch die Modalisierung die Voraussetzung dafür, zuerst den Kanzler als Berichtenden und Handelnden zu markieren, andererseits den folgenden Nebensatz diplomatisch zurückhaltend agenslos zu formulieren. Ein ähnlicher extrasubjektiv-circumstantieller Gebrauch des Modalverbs können im Sinne des extrasubjektiv-circumstantiell verwendeten dürfen lässt sich auch in Beleg 5 feststellen: 5. „(S1/1) Das geeinte Deutschland kann in Ausübung seiner vollen und uneingeschränkten Souveränität frei und selbst entscheiden, (S1/2) ob und welchem Bündnis es angehören will.“ (Z. 108–109)

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Es ergibt sich beim Modalverb können im Hauptsatz (S1/1) folgende Formel: SUBJ-NP+MV+PP+advADJ+Nek+PART+VV+OBJ-Satz (Subjekt-Nominalphrase + Modalverb + Präpositionalphrase + adverbiales Adjektiv + Nektion + Partikel + Vollverb + Objektsatz)

Der Satz im Vorfeld von Beleg 5 Dies alles wird Leitmotiv – und darin bin ich mit Präsident Gorbatschow einig – eines umfassenden Kooperationsvertrags des vereinten Deutschlands mit der Sowjetunion sein, der so bald wie möglich nach der Vereinigung abgeschlossen sein wird. (Z. 92–95)

wie auch Beleg 4 beinhalten explizite Verweise auf eine Erlaubnis durch Dritte, die an Vorbedingungen geknüpft war und die erst eine souveräne Handlung Deutschlands ermöglicht hat. Damit impliziert die Verwendung des Modalverbs können in Beleg 5 auch hier wieder Bedeutungskomponenten des Modalverbs dürfen. Das mit Handlungseinschränkungen verbundene Modalverb dürfen, dessen Verwendung in der auf Persuasion abzielenden politischen Kommunikation gerade wegen des Eingeständnisses der eingeschränkten Handlungsautonomie des Sprechers nicht empfehlenswert ist, wird also wiederholt vermieden. Ein etwaiger Gebrauch des Modalverbs dürfen hätte aufgedeckt, dass Deutschland vom Wohlwollen anderer Verhandlungspartner, insbesondere der Sowjetunion, und damit in seinem historischen Handlungsrahmen stark abhängig ist. Ein semantisch eher positiv konnotiertes, ebenso handlungsraumbezogen verwendetes Modalverb können schwächt den Grad der Abhängigkeit der Wiedervereinigung von den Rahmenbedingungen ab und fokussiert argumentativ die mit der Wiedervereinigung endgültig erlangbare zukünftige Souveränität Deutschlands. Dies wird durch in Ausübung seiner vollen und uneingeschränkten Souveränität frei und selbst entscheiden betont. Ähnlich den letzten Belegen zum circumstantiellen Gebrauch des Modalverbs können im Sinne von dürfen wird das Modalverb können mit Negation verwendet: 6. „(S1) Deutsche Einheit und europäische Einheit sind unauflöslich miteinander verbunden. (S2) Deutsche Politik kann nicht gegen, sondern vernünftigerweise nur mit unseren Partnern und Nachbarn vorstellbar und auch erfolgversprechend sein. (S3) Daher von Anfang an engste Abstimmung im Rahmen der EG und der NATO. “ (Z. 31–34)

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Es ergibt sich beim Modalverb können im Teilsatz (S2) folgende Formel: SUBJ-NP+MV+NEG+PP+advKonj+ADV+ADV+PP+KV (Subjekt-Nominalphrase + Modalverb + Negationswort + Präpositionalphrase + adversativer Konjunktor + Adverb + Adverb + Präpositionalphrase + Adjektiv + Kopulaverb)

Dieser Beleg ist der einzige Beleg im Eingangsstatement der Bundespressekonferenz 1990, in dem das Modalverb können mit Negation zum Ausschluss einer aus Sicht des Sprechers als negativ eingestuften Handlungsalternative, gar als Ausdruck einer präsupponierten Handlungsnotwendigkeit beobachtet werden kann. Hier kann man mehrfache Überschneidungen der Redehintergründe feststellen. Denn dieser Beleg von können mit Negation weist einen circumstantiellen Redehintergrund kombiniert mit einem teleologischen Redehintergrund auf. Die Umstände, die den Modalverbeinsatz aus Sicht des Kanzlers rechtfertigen, bleiben auf der Mikroebene – der Satzebene – unerwähnt, aber unter Rückgriff auf die Ebene der Bundespressekonferenzen vom 17.7.1990 können diese erschlossen werden. Die Quelle der Überschneidung des circumstantiellen Redehintergrunds mit dem teleologischen Redehintergrund liegt in Satz 3 dieses Belegs, denn die Zielsetzung – nämlich die internationale Zusammenarbeit der deutschen Politik – wird präsupponiert. Auf die Überschneidung des intrasubjektiven und des extrasubjektiven Gebrauchs des Modalverbs können mit Negation kann man aus dem Beleg ebenfalls schließen, denn der Beleg deutet darauf hin, dass sich der Kanzler zwar im Verhandlungsprozess um die Wiedervereinigung verpflichtet sieht, in enger Kooperation mit internationalen Partner/inne/n zu verhandeln, aber dieser kooperativen Handlungsnotwendigkeit intrasubjektiv ebenfalls zustimmt. Hier hätte alternativ zum Modalverb können mit Negation das Modalverb dürfen mit Negation ebenfalls eingesetzt werden können. Funktional betrachtet, kann in Bezug auf die gesamte Rede davon ausgegangen werden, dass eine Verwendung des extrasubjektiven handlungsraumbezogenen und stark einschränkenden Modalverbs dürfen den primären Illokutionen des Bundeskanzlers, nämlich der Legitimation der Wiedervereinigung, der Betonung der Souveränität des zukünftigen wiedervereinten Deutschlands sowie dem erfolgreichen Machterhalt bei der nächsten Bundestagswahl entgegengestanden hätte. Denn die Verwendung des Modalverbs dürfen im Eingangsstatement würde vor den ersten Wahlen der wiedervereinigten Bundesrepublik Deutschland eine Einschränkung der souveränen Handlung des Kanzlerkandidaten implizieren. Sowohl die Vermeidung des Modalverbs dürfen als auch die miteinander kombinierte rekurrente Verwendung der beiden semantisch positiv konnotierten handlungsraumbezogenen Modalverben können und wollen aus kommunikationsstrategischer Sicht sinnvoll und stärken die Argumentation des Politikers.

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Das ebenfalls handlungsraumbezogene Modalverb müssen, das im Allgemeinen extrasubjektiv verwendet wird, steht zwar angesichts seiner Vorkommenshäufigkeit in der gesamten Bundespressekonferenz mit 20,7 % der Modalverbbelege an zweiter Stelle, wird aber im Eingangsstatement nur 2-mal und damit proportional gesehen fast 5-mal21 seltener als in Kohls Antworten auf die Fragen der Journalist/inn/en eingesetzt. Müssen tritt im Eingangsstatement auch nur in der 3. Person Singular auf. Dadurch wird – wie im statistischen Kapitel 4 ausgeführt – vermieden, den durch das Modalverb hier ausgedrückten extrasubjektiven Zwang oder die Verpflichtung durch andere direkt mit der 1. Person des Sprechers oder des Regierungskollektivs in Verbindung zu bringen. Aber es ist so auch möglich, intrasubjektiv empfundene Notwendigkeiten auf andere – als extrasubjektive Notwendigkeit – auszudehnen. Ein Beispiel für eine solche Verwendung des Modalverbs müssen stellt hier Beleg 7 dar: 7. „(S1/1) Unsere Politik muss darauf gerichtet sein, (S1/2) dass sich die in der Sowjetunion und in den Ländern Mittel- und Südosteuropas eingeleiteten Reformen in stabilen Bahnen entwickeln (S1/3) und zum Erfolg geführt werden können.“ (Z. 60–62) Folgende Formel ergibt sich für das Modalverb müssen im Hauptsatz: SUBJ-NP+MV+präpADV+VVpart+HV+präpOBJ-Satz (Subjekt-Nominalphrase + Modalverb + Präpositionaladverb + Vollverbpartizip + Hilfsverb + Präpositionalobjektsatz)

Das Modalverb müssen wird in Beleg 7 mit der Bundesregierung oder gar der ganzen politischen Elite des Landes grammatisch nur indirekt durch das Possessivpronomen unsere in der Nominalphrase unsere Politik in Subjektposition verbunden. Das Modalverb tritt auch hier wieder in Kombination mit einer Präpositionalkonstruktion auf, nämlich dem Präpositionaladverb darauf. Die Nominalphrase unsere Politik, die als Agens im Singular steht, wirkt im Zusammenhang mit dem Modalverb müssen indifferent. Denn es bleibt hier unklar, ob äußere circumstantielle Notwendigkeiten die Triebfeder der Äußerung sind oder ob der Kanzler primär eine eigene Meinung vertritt, wenn er die Notwendigkeit der Unterstützung des stabilen Reformwandels in Mittel- und Südosteuropa auf die ganze deutsche Politik ausdehnt. Hier käme dann zum circumstantiellen Redehintergrund ein volitiver hinzu. 21 Das Modalverb müssen tritt im Eingangsstatement bei 0,09 % der Wörter auf, in den Antworten auf die Fragen der Journalist/inn/en in 0,43 % der Fälle. Damit ist müssen um den Faktor 4,73 häufiger in Kohls Antworten als in seinem Eingangsstatement.

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Beleg 7 zeigt außerdem die kombinierte Verwendung des Modalverbs müssen im Hauptsatz mit dem Modalverb können im Nebensatz. Diese Kombination von Modalverben in einem Satzgefüge tritt häufiger auf. Denn „in den unterschiedlichen Phasen eines Planungsprozesses oder einer Problembearbeitung, in denen jeweils aufeinander aufbauende Voraussetzungen zu klären oder Ziele zu spezifizieren sind, sind jeweils unterschiedliche Ausprägungen praktischer Schlüsse mit unterschiedlichen Modalverbkombinationen zu erwarten“, wie Zifonun (in Zifonun et al. 1997: 1912) zum kombinierten Modalverbgebrauch feststellt. Lexikogrammatisch gesehen und damit die Überlegungen Zifonuns weiterführend, dienen die beiden Modalverben in Beleg 7 dazu, die Relevanz der im Nebensatz formulierten Zielsetzung mit Hilfe des in diesem konkreten Beispiel teleologisch verwendeten können, im Hauptsatz durch das Modalverb müssen anzukündigen und so bereits im Voraus argumentativ hervorzuheben. Hier wird zudem die im Hauptsatz durch das Modalverb müssen ausgedrückte zwingende Notwendigkeit, die im politischen Kontext freien Handels oft negativ bewertet wird, im Nebensatz durch Nennung der positiven Zielsetzung einer stabilen Entwicklung in Mittel- und Südosteuropa, aber auch durch den Einsatz des semantisch positiv konnotierten Modalverbs können sprachlich und diplomatisch ausgeglichen. Das semantisch verbindlichste Modalverb müssen wird – wie schon in Fábián (2018b: 88) festgestellt – möglichst vermieden, erst recht in Kombination mit einem Sprechenden- oder Kollektivagens. Dies zeigt sich insbesondere in den Eingangsstatements aller untersuchten Bundespressekonferenzen, in denen müssen mit 0,48 % der Tokens noch seltener auftritt als in den Diskussionsrunden mit 0,63 % der Politikertokens. Denn die durch das Modalverb müssen ausgedrückte Notwendigkeit, die von den Empfänger/inne/n als extrasubjektiver Zwang interpretiert werden könnte, steht im Widerspruch zum Selbstbild eines/einer frei handelnden, da frei gewählten Politikers bzw. Politikerin in einem demokratischen Staat. Wenn aber die Verwendung des Modalverbs müssen semantisch wie in Beleg 7 notwendig ist, wird das Agens in einer sprachlich unkonkreten Form genannt. 6.2.1.1.1 Zwischenfazit zum Gebrauch handlungsraumbezogener Modalverben im Eingangsstatement von Helmut Kohl Nach der empirischen Analyse des Gebrauchs handlungsraumbezogener Modalverben im Eingangsstatement von Helmut Kohl in der Bundespressekonferenz vom 17.7.1990 lassen sich folgende Verwendungstendenzen zusammenfassen: Das Handlungsalternativen einschränkende Modalverb dürfen kommt in dem Eingangsstatement des Kanzlers gar nicht zum Einsatz, stattdessen werden Handlungsmöglichkeiten in der Rede von Helmut Kohl mit Hilfe des Modalverbs können

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aufgezeigt. Diese Beobachtung basiert auf der Analyse der Kollokationen des Modalverbs können: Durch Präpositionalphrasen im Umfeld von können werden häufig Hinweise auf internationale Verhandlungen und Verträge gegeben, die auf die jeweiligen Handlungsrahmen hindeuten. Syntaktisch sind diese Präpositionalphrasen zwar meist Angaben und deshalb weglassbar; semantisch-funktional benennen sie die Grundlage für die häufig im Nebensatz stehenden Ankündigungen und stellen zugleich die Umstände dar, aus denen heraus sich der extrasubjektivcircumstantielle Gebrauch des Modalverbs können ergibt. Dieser circumstantielle Redehintergrund beim Modalverb können ist im Eingangsstatement dieser Bundespressekonferenz musterhaft. Außerdem zeichnet sich das Modalverb können bisweilen durch eine Polysemie hinsichtlich des Redehintergrunds aus. Sie schlägt sich in der Überschneidung des intra- und extrasubjektiv-circumstantiellen Gebrauchs des Modalverbs können nieder und verhindert oft eine trennscharfe Einordnung. Eine solche polyseme Verwendung kann auch als Bestandteil einer Selbstprofilierungsstrategie verstanden werden. Im Zentrum dieser Strategie steht funktional betrachtet eine für den politischen Bereich charakteristische Reflexion und Fokussierung eigener politischen Kompetenzen, die mit der argumentativen Strategie der Hervorhebung einhergeht. In der Sphäre der politischen Kommunikation und insbesondere in Wahlkämpfen kommt der Selbstprofilierung der Kandidat/inn/en, die den Eindruck von in ihren Handlungen nicht eingeschränkten, autonomen Politiker/inne/n wecken wollen, eine besondere Bedeutung zu. Unter anderem diese Tatsache erklärt auch die festgestellte Vermeidung des Modalverbs dürfen in dem Eingangsstatement des Kanzlers. Der Verzicht auf dürfen ist in Bundespressekonferenzen wie auch generell in der politischen Kommunikation argumentativ indiziert. Das ebenso Handlungseinschränkungen signalisierende Modalverb müssen wird zwar häufiger verwendet als das Modalverb dürfen. Funktional betrachtet dient es jedoch zumeist der Schilderung von Voraussetzungen, die als Voraussetzungen eines erfolgreichen Ablaufs der europäischen Integration oder der deutschen Einheit erfüllt werden müssen. Die kommunikative Schärfe der notwendigkeitsmodalen Verbsemantik von müssen wird durch die kombinierte Verwendung des Modalverbs mit Abstrakta, mit dem Indefinitpronomen man oder mit Vorgangspassivkonstruktionen sowie durch die Vermeidung der Kollokation mit Personalpronomen oder konkreten Personen abgeschwächt. Damit kann beim Modalverb müssen in Kombination mit Indefinitpronomen oder aber mit Vorgangspassiv kaum eine Subjektrestriktion konstatiert werden. Denn Politiker/innen müssen schon aus kommunikativen Gründen vermeiden, was Hoffmann (2016: 317) zum Modalverb müssen feststellt:

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Müssen bezeichnet eine Verengung des Handlungsraums auf eine bestimmte Handlung, die erzwungen bzw. von einer anderen Person/Instanz gefordert oder physisch notwendig zu realisieren ist.

Im politischen Kontext der Bundespressekonferenz am 17.7.1990 hätte folglich ein häufiger Gebrauch des Modalverbs müssen im Eingangsstatement von Helmut Kohl das Ziel, die neu gewonnene außenpolitische Autonomie Deutschlands bei politischen Handlungen zu betonen, konterkariert. 6.2.1.2 Die zielbezogenen Modalverben mögen, sollen und wollen im Eingangsstatement von Helmut Kohl Die 50 Belege der zielbezogenen Modalverben mögen, sollen und wollen in der Bundespressekonferenz betragen kaum mehr als die Hälfte der 90 Belege der handlungsraumbezogenen Modalverben, ihr Anteil liegt bei 35,7 % aller 140 Modalverben. Die Frequenz zielbezogener Modalverben in Kombination mit einer Negation hingegen ist sehr gering. Das einzige zielbezogene Modalverb, das in dem Eingangsstatement von Helmut Kohl mit Negation steht, ist das Modalverb sollen mit insgesamt nur 2 Belegen. Mit 48 % aller zielbezogenen Modalverben und immerhin noch 17,1 % aller Modalverben ist wollen das am häufigsten verwendete zielbezogene Modalverb, das im Eingangsstatement von Helmut Kohl 9-mal und in der Diskussion mit den Journalist/inn/en 15-mal auftritt. Für den Gebrauch des Modalverbs wollen durch den Altkanzler ist neben dem volitiven vor allem ein teleologischer Redehintergrund typisch. Wie schon bei den handlungsraumbezogenen Modalverben kommt es auch bei den zielbezogenen Modalverben wieder zu einer Überlappung der Redehintergründe. Dies zeigt v. a. der Beleg 8, wo eine zukünftige geplante Handlung eines Dritten, hier des Präsidenten Gorbatschow, mit dem Modalverb wollen markiert wird: 8. „(S1/1) Präsident Gorbatschow bereitet mit seinen Mitarbeitern ein umfassendes marktwirtschaftliches Reformprogramm vor, (S1/2) das er im September dem Obersten Sowjet vorlegen will (S1/3) und das nach seinem Willen alsbald in Kraft gesetzt wird.“ (Z. 169–171) Für das Modalverb wollen im Relativsatz des Belegs 8 (Teilsatz S1/2) ergibt sich folgende Formel: RPr+SPr3S+PP+indOBJ-NP+VV+MV (Relativpronomen + Subjektpronomen der 3. Person Singular + Präpositionalphrase + indirektes Objekt-NP + Vollverb + Modalverb)

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In Beleg 8 wird in einem kommissiven Sprechakt durch das Modalverb wollen nicht die eigene Sprecherintention Kohls ausgedrückt, sondern die Intention des Staatschefs der ehemaligen Sowjetunion. Der Beleg ist damit gerade im politischen Kontext diskursiv salient. Infolge der informativen Funktion dieser Bundespressekonferenz im Sinne von Brinker (2005: 158) werden komplexe diplomatische Handlungs- und Reformprozesse im zeitlichen Umfeld der Wiedervereinigung Deutschlands beschrieben. An diesen sind außer der deutschen Regierung auch weitere politische Akteure/Akteurinnen beteiligt, über deren Handlungsintention der Kanzler berichtet. Kohl hätte hier alternativ auch das Vollverb beabsichtigen verwenden können. Durch das Modalverb wollen wird die Handlungsintention des Agens Gorbatschow von Kohl durch die funktional-semantische Rekurrenz des Verbs wollen und des Substantivs Wille verstärkt zum Ausdruck gebracht. Der innere Antrieb, also das Wollen eines marktwirtschaftlichen Reformprogramms (vgl. den Hauptsatz des Belegs 8/Teilsatz S1/1) wird durch den als Agens fungierenden politischen Akteur Gorbatschow semantisch fokussiert und dient auch dem Zweck der Persuasion. Textinterne Hinweise sowie das Diskurswissen lassen darauf schlussfolgern, dass Bundeskanzler Kohl angesichts der Verhandlungen mit Gorbatschow über den notwendigen Wissensstand verfügt, eine solche Willensbekundung einem Agens in der 3. Person zuzuweisen. Im ersten Satz des Belegs 9 wird wollen absolut als Vollverb primär intrasubjektiv-volitiv und im zweiten Satz als Hilfsverb primär teleologisch verwendet: 9. „(S1) Wir wollen zukunftsgewandte Verträge, umfassende Zusammenarbeit, Vertrauen und nicht zuletzt die breite Begegnung unserer Völker, insbesondere der jungen Generation. (S2) Wir wollen damit zugleich unseren Beitrag leisten für eine dauerhafte und friedliche Entwicklung in Europa.“ (Z. 89–92) Für wollen als Vollverb im Satz 1 des Belegs 9 als Vollverb ergibt sich folgende Formel: SPr1P+absMV=VV+3 x dOBJ-NP (Subjektpronomen der 1. Person Plural + absolutes Modalverb wollen als Vollverb + dreigliedriges direktes Objekt-NP)

Für wollen im Satz 2 des Belegs 9 als Hilfsverb ergibt sich folgende Formel: SPr1P+MV+präpADV+ADV+dOBJ-NP+VV+PPattr. zur dOBJ-NP (Subjektpronomen der 1. Person Plural + Modalverb + Präpositionaladverb + Adverb + direktes Objekt-NP+ Vollverb + nach hinten verschobene attributive Präpositionalphrase zum direkten Objekt)

6.2 Empirische Analyse des Modalverbgebrauchs von Helmut Kohl



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Das volitiv gebrauchte Verb wollen in Satz 1 ist das einzige Verb aus dem Kreis der Modalverben, das Helmut Kohl in der gesamten Bundespressekonferenz vom 17.7.1990 als Vollverb verwendet. Wegen seines semantisch und damit pragmatisch dem Hilfsverb ähnlichen Charakters wird hier wie auch im Weiteren der Vollverbfall eines Modalverbs zusammen mit den infinitivregierenden Modalverben mitbehandelt. So fasst das große Duden-Wörterbuch (Großer Duden CD 2000) auch das Modalverb und das Vollverb wollen unter einem Lemma zusammen und beschreibt die Primärbedeutung sehr ähnlich, nämlich für das Modalverb mit „die Absicht, den Wunsch, den Willen haben, etw. Bestimmtes zu tun“ (Großer Duden CD 2000, Lemma wollen, 1.a) und für das Vollverb wollen mit „die Absicht, den Wunsch haben, etw. zu tun“ (Großer Duden CD 2000, Lemma wollen, 2.a). Der volitive Charakter der Äußerung wird durch die Vollverbfunktion des Modalverbs in keiner Weise geschmälert, sondern wird so durch das Fehlen eines weiteren Verbs im Infinitiv wie beim Modalverb verstärkt. Die als Objekt fungierende historische Forderung nach zukunftsgewandte[n] Verträgen, umfassende[r] Zusammenarbeit und Vertrauen tritt direkt im Mittelfeld nach wollen auf und ist eine sowohl syntaktisch als auch semantisch notwendige Ergänzung, der durch diese Verwendung des Modalverbs größte Priorität in der Satzsemantik zukommt. Folglich wird durch diese syntaktisch-topologische wie auch semantische Enge des Subjekt-Prädikat-Konstrukts zu den Objekten auch die eigene Einstellung der agierenden Politiker/innen zu dieser Forderung verstärkt herausgestellt. Da sich wollen hier in Vollverbfunktion im ersten Satz in Beleg 9 durch eine eigene performative Kraft auszeichnet und so eine sprachliche Handlung semantisch bestimmt, ist es damit im Sinne Feilkes (1996: 265) pragmatisch markiert und deshalb auch salient. In Satz 2 von Beleg 9 nimmt wollen in einem kommissiven Sprechakt wieder eine Modalverbfunktion ein, die sich unter Berücksichtigung textinterner Merkmale dem teleologischen Redehintergrund zuordnen lässt. Im Fokus der Zielsetzung steht die im Präpositionalattribut nominalisierte dauerhafte und friedliche Entwicklung Europas, zu deren Verstetigung die in Satz 1 genannte Phrase zukunftsgewandte Verträge, umfassende Zusammenarbeit, Vertrauen und nicht zuletzt die breite Begegnung unserer Völker einen Beitrag leisten. Im Satz 2 besitzt zwar das Modalverb im Gegensatz zu wollen im Satz 1 keine eigene performative Kraft, fokussiert jedoch die Zielsetzung, zu der auch die Rekurrenz von wollen in beiden Sätzen an der Verbzweitstelle beiträgt. Das Subjektpronomen wir in der Modalverbkonstruktion wir wollen dient argumentativ dazu, in der gesamtdeutschen Bevölkerung die Kollektivbildung zu stärken und alle Deutschen zur Verwirklichung der Zielsetzung zu motivieren. Nach Hoffmann (2016: 314) wird „das eigene Wollen […] oft ausgedrückt, um es auf jemanden zu übertragen, der beim Erreichen des Ziels helfen [soll]“. Damit wird die Erweiterung des Agens vom Sprecher auf die Deutschen im Diskurskontext funktional begründet. Zugleich indiziert

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die 1. Person Plural des Subjektpronomens wir, das auch Helmut Kohl miteinschließt, einen intrasubjektiv-volitiven Redehintergrund des Modalverbs wollen in Satz 2. Dem intrasubjektiv-volitiven Gebrauch dieses Modalverbs kommt zwar pragmatisch-funktional betrachtet keine so zentrale Rolle zu wie dem teleologischen Gebrauch, dennoch bestehen ausgehend vom Diskurswissen über die Rolle des Kanzlers bei den politischen Verhandlungen keine Zweifel daran, dass der intrasubjektive Wille von Helmut Kohl mit der Zielsetzung des Satzes übereinstimmt. Das zielbezogene Modalverb mögen in der Konjunktiv-II-Form möchte- tritt nur bei 3,6 % aller Modalverben in der gesamten Bundespressekonferenz und bei 5,6 % aller Modalverben im Eingangsstatement auf. Dieser Befund entspricht damit den statistischen Verhältnissen im Gesamtkorpus (vgl. Kapitel 4). Zum Einsatz kommt möchte ausschließlich in der 1. und der 3. Person Singular. Der Gebrauch von möchte in der 1. Person Singular zeigt keine Auffälligkeit, deshalb werden diese Belege hier auch nicht diskutiert. Umso herausstechender ist aber die Verwendung von möchte in der 3. Person Singular. Als einziges Beispiel dafür steht in dem Eingangsstatement Beleg 10: 10. „(S1/1) Ich habe als Auffassung der Bundesregierung erklärt, (S1/2) dass das geeinte Deutschland Mitglied des Atlantischen Bündnisses sein möchte, (S1/3) und ich weiß, (S4) dass dies auch dem Wunsch der DDR entspricht.“ (Z. 111– 113) Es ergibt sich folgende Formel für das Modalverb mögen im Nebensatz (S1/2): Subj+SUBJ-NP+PRÄDNOM+KV+MV (Subjunktor + Subjekt-Nominalphrase + Prädikatsnomen + Kopulaverb + Modalverb)

Das im ersten Nebensatz (Teilsatz S1/2) auftretende und einen Wunsch signalisierende möchte in der 3. Person Singular und das Kopulaverb sein stehen zu dem durch die Nominalphrase das geeinte Deutschland ausgedrückten Agens in einem sowohl semantisch-funktional wie auch syntaktisch-dependentiell sehr engen Verhältnis. Dem in das geeinte Deutschland zum Ausdruck gebrachten Teil-GanzesVerhältnis kommt auch hier eine pragmatisch relevante Funktion zu, denn es dient dem Prozess des „Nation Building“. Zugleich signalisiert es eine homogene Entität, mit der diplomatische Verhandlungen möglich sind. Die rekurrente Verwendung des Subjektpronomens ich in beiden Hauptsätzen an der Erststelle Ich habe als Auffassung der Bundesregierung erklärt (Teilsatz S1/1) und ich weiß (Teilsatz S1/3) lässt schlussfolgern, dass der volitive Gebrauch des Modalverbs an der Verbletztstelle im ersten Nebensatz (Teilsatz S1/2) auch die innere Einstellung des Kanzlers zum Diskursobjekt reflektiert. Die erneut auftretende Erweiterung des ei-

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genen Wunsches auf die gesamte Bundesebene kann zudem aus dem Diskurskontext abgeleitet werden. Das semantisch an sich neutrale Kopulaverb sein entfaltet seine volle Wirkung, indem seine performative Kraft durch die in der Konstruktion [möchte sein] zur Geltung kommende Semantik von mögen in der KonjunktivII-Form möchte- unterstützt wird. Wie in den Belegen zum Modalverb wollen, steht möchte ebenfalls als Teil eines kommissiven Sprechakts. Direkt nach wollen ist sollen das zweithäufigste zielbezogene Modalverb. In der gesamten Bundespressekonferenz vom 17.7.1990 beträgt sein Anteil 42 % der 50 zielbezogenen Modalverben und nur 15 % aller 140 Modalverben. Sollen tritt im Eingangsstatement von Helmut Kohl insgesamt 9-mal (=25 % aller Modalverbbelege im Eingangsstatement) auf, 5-mal davon in der 3. Person Singular und 4-mal in der 3. Person Plural; in 7 von 9 Fällen in einem nicht negierten Satz. In 6 von 7 Fällen dominiert in dem Eingangsstatement des Kanzlers der teleologische Gebrauch von sollen. Darauf weist auch die Kombination des Modalverbs mit stark performativen Handlungsverben wie schaffen und begründen im Sinne von etwas zustande bringen oder beispielsweise präsentieren und eröffnen hin. Bei 4 dieser 6 Belege überschneidet sich der teleologische Gebrauch von sollen mit dem circumstantiellen Gebrauch, so in Beleg 11: 11. „(S1/1) In der DDR ist eine Fülle von Gesetzen in Kraft getreten, (S1/2) die die rechtlichen Voraussetzungen für die Einführung der sozialen Marktwirtschaft schaffen sollen.“ (Z. 75–77) Für die Verwendung des Modalverbs sollen ergibt sich im Nebensatz (S1/2) folgende Formel: RSPr+dOBJ-NP+PPattr+VV+MV (Relativpronomen-Subjekt + direktes Objekt-NP + davon abhängiges Präpositionalattribut + Vollverb + Modalverb)

Der Nebensatz, in dem die Zielsetzung als Präpositionalattribut – [Voraussetzungen] für die Einführung der sozialen Marktwirtschaft – erscheint, deutet auf einen teleologischen Redehintergrund hin. Auch liefert die Semantik des stark performativen Verbs schaffen Indizien für einen teleologischen Gebrauch des Modalverbs im semantisch-futurisch gerichteten Nebensatz. Diesen Redehintergrund belegen außerdem satzexterne Hinweise wie zum Beispiel der Einleitungssatz in Beleg 11 Wir haben alle Chancen, in einer relativ kurzen Zeit unser Ziel zu erreichen. In dem Hauptsatz In der DDR ist eine Fülle von Gesetzen in Kraft getreten (Teilsatz S1/1) werden die Umstände geschildert, die als notwendige Grundsteine für die folgende Zielsetzung gelten und auf deren Existenz die Aussage im Nebensatz (Teilsatz S1/2) basiert. Dies spricht folglich für einen circumstantiellen Gebrauch des sollen-Be-

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legs, zu dem im Nebensatz der teleologische Redehintergrund hinzutritt. Die performative Kraft des Vollverbs schaffen ist sehr ausgeprägt, wird jedoch in der Äußerung durch das Modalverb sollen, dessen Notwendigkeitsmodalität Zifonun (in Zifonun et al. 1997: 1914) „in der Regel als nicht bindend interpretiert“, etwas abgeschwächt. Der bereits zitierte Absatzeinleitungssatz – Wir haben alle Chancen, in einer relativ kurzen Zeit unser Ziel zu erreichen (Z. 82) – sowie das Diskurswissen implizieren, dass der Kanzler im Rahmen nationaler und internationaler Verhandlungen auch von den Entscheidungen anderer Politiker abhängig und für die Einführung der sozialen Marktwirtschaft nicht ausschließlich zuständig ist. Auch ist nicht absolut sicher, ob die erwähnten Gesetzesänderungen für das Ziel ausreichend sind. Deshalb ist für ihn ein höherer Grad an Verbindlichkeit v. a. durch den Einsatz des stark notwendigkeitsmodalen müssen in dieser Äußerung nicht möglich. Der Verzicht darauf ist also argumentativ bedingt. Auch in diesem Beleg wird der Grad der Verbindlichkeit des Modalverbs sollen „von kontextuellen Faktoren bestimmt“ (Zifonun in Zifonun et al. 1997: 1914). Dadurch wird folglich die performative Kraft des Vollverbs schaffen semantisch beeinflusst. Wie oben erwähnt, kann das Modalverb sollen mit Negation in dem Eingangsstatement von Helmut Kohl nur 2-mal beobachtet werden. In den beiden Fällen liegt eine Überlagerung mehrerer Redehintergründe vor. Eine Überlagerung des expliziten teleologischen Redehintergrunds mit dem ebenfalls explizit normativen und dem implizierten circumstantiellen Redehintergrund beim Einsatz des Modalverbs sollen mit Negation kann man am folgenden Beleg feststellen: 12. „(S1) Für den Aufenthalt der westlichen Streitkräfte muss eine Rechtsgrundlage durch Vertrag zwischen der Regierung des vereinten Deutschlands und den drei Mächten geschaffen werden. (S2/1) Wir gehen davon aus, (S2/2) dass selbstverständlich die Zahl und die Ausrüstung dieser Truppen nicht stärker sein soll als heute.“ (Z. 136–139) Für die Verwendung des Modalverbs sollen ergibt sich im Nebensatz (S2/2) folgende Formel: Subj+ADV+SUBJ-NP+NEG+PRÄDNOM+KV+MV+PARTVGL+ADV (Subjunktor + Adverb + zweigliedrige Subjekt-Nominalphrase mit Genitiv-Attribut + Negationswort + Prädikatsnomen + Kopulaverb + Modalverb + Vergleichspartikel + Adverb)

Der teleologische Redehintergrund auf der Mikroebene (Ebene des Satzes) beruht auf einem zwischen den Verhandlungspartner/inne/n festgelegten Konsens, der in (S2/2) als Zielsetzung nominalisiert wurde. In Soll-Belegen ohne Negation wird das Erreichen eines zu erstrebenden Ziels definiert. In diesem Beleg zum Modalverb sollen mit Negation wird hingegen die Einhaltung einer Vereinbarung bzw. die Ver-

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meidung der Entstehung einer aus Sicht der Verhandlungspartner/innen als negativ eingestuften Perspektive fokussiert. Die Herkunft des normativen Redehintergrunds dieses Belegs (S1) beruht auf der grundsätzlichen Notwendigkeit einer vertraglichen Festlegung von diplomatischen Vereinbarungen, auf die sich der Sprecher beruft. Dies beeinflusst sogar im Folgesatz den Gebrauch des Modalverbs sollen mit Negation. Erst auf der Makroebene, also der Ebene des internationalen seit dem Zweiten Weltkrieg anhaltenden und insbesondere gerade im Kontext der Wiedervereinigung neu entfachten internationalen Abrüstungsdiskurses kann der circumstantielle Gebrauch dieses Modalverbs mit Negation implizit eingeordnet werden. In einem der 7 Soll-Belege im Eingangsstatement liegt ein normativer Gebrauch vor. Über die 4 Belege hinaus, in denen im Eingangsstatement der circumstantielle sowie der teleologische Redehintergrund synchron auftreten, lässt sich in einem Fall ein rein teleologischer, in einem anderen ein rein circumstantieller Redehintergrund konstatieren. Die durch sollen zum Ausdruck gebrachte Zielorientierung tritt entweder in passivischen Sätzen auf oder mit wenig Ausnahmen in aktivischen Relativsätzen im Nebensatz mit Verbletztstellung. In den passivischen Sätzen wird das Ziel als Abstraktum – z. B. die Abwicklung des Truppenabzugs aus der DDR (Z. 117) oder das Abschlussdokument „zwei-plus-vier“ (Z. 183–184) – explizit festgelegt. Die Telizitätsforschung nach Krifka (1989: 96) in Anlehnung an Garey (1957) sah als ausschlaggebendes Kriterium für Telizität die Vollverbsemantik. Bei der Untersuchung der circumstantiell-teleologischen Soll-Belege ist jedoch nicht die Semantik des Vollverbs die Basis der Klassifikation von Telizität. Vielmehr orientiert sich mein über die Vollverb- und die Verbsemantik insgesamt hinausgehender Ansatz an Zifonuns (in Zifonun et al. 1997: 1866) Definition der Telizität: Ist ein Ereignis, das Denotat eines sprachlichen Ausdrucks ist, bezüglich seines Abschlusses begrenzt, sprechen wir im Anschluß an Krifka 1989 von Telizität.

Damit erfüllen alle textinternen Ziel- und folglich auch Abgeschlossenheitsindikatoren wie die als Abstrakta angegebene explizit genannte Zielsetzung ergänzt mit konkreten Zeitangaben, bis zu denen die Ziele abgeschlossen sein sollen, aber auch die Semantik des Modalverbs sollen in teleologischer Verwendung das Kriterium der Definition von „Telizität“ nach Zifonun. Zwar baut auch Zifonun an einer anderen Stelle in ihrem Beitrag bei der Anwendung ihrer Definition auf die Verbsemantik auf, jedoch ist ihre Definition von Telizität so universell, dass es mit dieser möglich ist, die untersuchten Soll-Belege mit teleologischem und circumstantiell-teleologischem Redehintergrund im Eingangsstatement auch ohne das Vorhandensein eines im „engen“ Sinne „telischen“ Verbs als telisch zu klassifizieren. Bei der telischen Einordnung dieser Belege sind nicht nur textinterne Hinweise hilf-

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reich, sondern auch Pragmatik und Diskurswissen, denn auch diese können über die Satzgrenze sowie textinterne Merkmale hinaus auf Telizität hindeuten. Die Semantik des Modalverbs sollen trägt in diesen Belegen einerseits die Zielorientierung in sich, andererseits betont sie die Notwendigkeit des Eintritts des Zieles bis zu einem bestimmten Zeitpunkt und motiviert so zum Abschluss der Handlung. Wie auch in den bisherigen Belegen, dient auch dieser Gebrauch der persuasiven Argumentation. 6.2.1.2.1 Zwischenfazit zum Gebrauch zielbezogener Modalverben in dem Eingangsstatement von Helmut Kohl Die zielbezogenen Modalverben sollen und wollen werden im Eingangsstatement im Vergleich zu dem ebenso zielbezogenen Modalverb möchte- deutlich häufiger verwendet. Möchte- kommt ähnlich wie in anderen politischen Reden im Eingangsstatement selten zum Einsatz; denn seine im Vergleich zu wollen zurückhaltende volitive Semantik steht der in der politischen Kommunikation geläufigen Erwartungshaltung an Spitzenpolitiker/innen entgegen, nämlich Führungsstärke zu demonstrieren. Den beiden zielbezogenen Modalverben mögen/möchte- und wollen ist gemeinsam, dass sie in aktivischen und nicht-negierten Verbalphrasen stehen. Beide werden im Eingangsstatement von Helmut Kohl häufig mit Agentia in der 3. Person Singular sowie in der 1. und 3. Person Plural verbunden. Damit kann bei diesen beiden Modalverben im Unterschied zu sollen hinsichtlich des Numerus eine größere Vielfalt konstatiert werden. Die möchte- und wollen-Belege signalisieren die intrasubjektive Einstellung des Sprechers zu konkreten Verhandlungen und Vereinbarungen. Die Erweiterung des Agens v. a. mit Hilfe der 1. Person Plural ist mit der pragmatischen Funktion verbunden, die innere Einstellung des Sprechers an die Mitglieder eines Kollektivs zu transportieren. Die Übertragung eigener Einstellungen auf Mitglieder eines Kollektivs zählt in der politischen Sphäre zu den gängigen kommunikativen Praktiken. Beim Gebrauch beider Modalverben werden die Zielsetzung und die innere Einstellung des Sprechers sowie des Kollektivs fokussiert. Dabei kommt dem Aspekt der Telizität, also der abgeschlossenen Zielgerichtetheit, kaum Bedeutung zu. Obwohl die Zielorientierung nicht nur in den Belegen mit sollen, sondern auch in jenen mit möchte- und wollen zum Ausdruck kommt, werden die Ziele zwar konkret genannt, aber eine Zeitangabe, die die Abgeschlossenheit der Ziele markieren würde, erfolgt selten. Die sollen-Belege weisen im Gegensatz zu den beiden anderen zielbezogenen Modalverben deutlich ausgeprägte Kennzeichen von Telizität auf. Dies liegt an der starken und konkreten Zielorientierung von sollen, das meistens in Kollokation mit einer Angabe der voraussichtlichen Abschlusszeit auftritt.

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Fehlt diese, lässt sich der zeitliche Rahmen und damit der Abschlusszeitpunkt aus dem Diskurswissen schließen. Das Modalverb sollen steht auch in seiner grammatikalischen Verwendung den Modalverben mögen/möchte- und wollen entgegen. Denn das Modalverb sollen steht wiederholt in einem vorgangspassivischen Satz und wird im Eingangsstatement 2-mal auch negiert. In beiden Fällen konnte eine Überlagerung des teleologischen und des circumstantiellen Redehintergrunds konstatiert werden, obwohl in einem dieser beiden Fälle – vgl. Beleg 12 „Wir gehen davon aus, dass selbstverständlich die Zahl und die Ausrüstung dieser Truppen nicht stärker sein soll als heute.“ – zum teleologischen und dem circumstantiellen Redehintergrund auch noch ein normativer Redehintergrund hinzutritt. Die Verbsemantik von sollen ist zwar durch einen weniger stark ausgeprägten direktiven Charakter gekennzeichnet als sein handlungsraumbezogenes Pendant müssen, dennoch ist beiden notwendigkeitsmodalen Modalverben müssen wie sollen gemeinsam, dass sie im Eingangsstatement dieser Bundespressekonferenz entweder mit agenslosen Passiv-Konstruktionen oder mit abstrakten oder aber unpersönlichen Nominalphrasen wie z. B. das geeinte Deutschland kombiniert auftreten. So wird die unbedingte oder bedingte Notwendigkeit sprachlich von konkreten Personen ferngehalten. Eine Subjektrestriktion, d. h. die Einschränkung der Handlungsfreiheit des Subjekts, liegt damit bei den beiden notwendigkeitsmodalen Modalverben in der Bundespressekonferenz nur in Ausnahmefällen vor. Das Modalverb sollen – auch mit Negation – ist hinsichtlich der Zuordnung zu einem bestimmten Redehintergrund von dem diskursiven Rahmen der Äußerungen abhängig, so dass dieses bisweilen gleichzeitig zu mehreren Redehintergründen zugeordnet werden kann. Darüber hinaus können zielbezogene Modalverben mit der 3. Person Singular oder Plural kombiniert werden, um ein Handlungsziel für „fremde Handlungen anzugeben“, wie Zifonun (in Zifonun et al. 1997: 1911) feststellt. So geschieht dies beispielswiese in Beleg 8, wenn dort der Wille von Präsident Gorbatschow zu einer Verabschiedung des marktwirtschaftlichen Reformprogramms für die Sowjetunion konstatiert wird. Die zielbezogenen Modalverben sind in den meisten Fällen ebenso wie die handlungsraumbezogenen Modalverben hinsichtlich der Überschneidung mehrerer Redehintergründe multifunktional und musterhaft. Auf dem Gebiet der Politik dienen insbesondere die zielbezogenen Modalverben dazu, einerseits im Interesse des eigenen politischen Anliegens im Laufe von komplexen Verhandlungsprozessen mit Hilfe der Erzeugung von Druck durch die mediale Öffentlichkeit an andere Politiker/innen normative Ansprüche zu stellen, andererseits als Teil politischer Statusmeldungen Bürger/innen über Einstellungen politischer Verhandlungspartner/innen zu informieren. Dabei werden aber häufig auch die Handlungsrahmen

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und die für die Zielsetzung ursächlichen Umstände konkret benannt und insbesondere bei dem zielbezogenen Modalverb wollen mit einem konkreten Subjekt verbunden. Dies führt zum einen zur Stärkung des circumstantiellen Gebrauchs bei den an sich zielbezogenen und deshalb primär teleologisch und/oder volitiv verwendeten Modalverben und damit auch zum Verwischen der Grenzen zwischen den sogenannten handlungsraum- und zielbezogenen Modalverben. Die Beleganalysen haben in diesem Abschnitt gezeigt, dass Modalverben im Diskurskontext zur persuasiven Argumentation eingesetzt werden. Die operationale Erschließung der Modalverbredehintergründe hilft dabei, den Zusammenhang zwischen Modalverbgebrauch und Argumentation zu erkennen.

6.2.2 Der interaktionale Gebrauch von Modalverben in den Redebeiträgen von Helmut Kohl in der Diskussion mit den Journalist/inn/en In diesem Abschnitt werden die Modalverben im interaktionalen Einsatz in der Konversation mit Journalist/inn/en in der Diskussion der Bundespressekonferenz 1990 in Hinblick auf ihre argumentative Wirkung analysiert. Der Modalverbgebrauch in den Redebeiträgen von Helmut Kohl in der Diskussion mit den Journalist/inn/en zeigt hinsichtlich Semantik und Syntax oft ähnliche Verwendungsweisen wie das Eingangsstatement des Kanzlers. Allerdings ist die Modalverbverwendung in der Diskussion stark interaktional geprägt. So treten die Abweichungen bei der Modalverbverwendung in der Diskussion zum Eingangsstatement insbesondere dann auf, wenn direkt auf Dispräferenz markierende Fragen geantwortet wird oder nach diesen Antworten noch komplementäre Angaben mit dem Ziel der persuasiven Argumentation gemacht werden. Auch werden unterschiedliche Modalverben häufiger innerhalb eines Satzgefüges miteinander kombiniert. Deshalb bietet sich bei der Analyse des Modalverbgebrauchs von Kohl in der Diskussion mit den Journalist/inn/en keine Trennung in jeweils einen Abschnitt für die handlungsraumbezogenen und einen für die zielbezogenen Modalverben an. Da gerade in der Interaktion immer wieder feste Konstruktionen mit Modalverben auftreten, soll nach einer allgemeinen Analyse des Modalverbgebrauchs im folgenden Abschnitt 6.2.2.1 noch eine exemplarische Analyse der häufigen Konstruktion [ich +Modalverb+sagen] im übernächsten Abschnitt 6.2.2.2 folgen. In Anlehnung an Ziem & Lasch (2013: 114) wurden im Abschnitt 3.6 Modalverben an der Schnittstelle zur Konstruktionsgrammatik und der Konversationsanalyse als Argumentstrukturen klassifiziert. Wie in diesem Abschnitt angekündigt, werden in der Diskussion der Bundespressekonferenz 1990 die Konstruktionen [ich+MV+sagen] als Argumentationsstrukturen auf ihre semantische Funktion und ihre pragmatische Verwendung hin im Konversationsverlauf überprüft. Dabei muss berücksichtigt wer-

6.2 Empirische Analyse des Modalverbgebrauchs von Helmut Kohl



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den, dass eine vollständige Rekonstruktion des interaktionalen Einsatzes der Modalverben aufgrund der fehlenden Videoaufzeichnung nur eingeschränkt möglich ist. 6.2.2.1 Die handlungsraumbezogenen Modalverben dürfen, können, müssen und die zielbezogenen Modalverben mögen, sollen und wollen in den Redebeiträgen von Helmut Kohl in der Diskussion mit Journalist/inn/en Den deutlichsten Unterschied beim Modalverbgebrauch zwischen dem Eingangsstatement und der Diskussion kann man beim handlungsraumbezogenen Modalverb dürfen festhalten, da dieses Modalverb im Eingangsstatement kein einziges Mal zum Einsatz kam. Im Unterschied dazu tritt das Modalverb dürfen in dem Redeanteil von Helmut Kohl in der Diskussion zwar auch selten, aber dennoch 4-mal auf. Dürfen wirkt in Anbetracht seiner bereits diskutierten restriktiven Semantik im Sprachgebrauch der Politiker/innen negativ. Wie bereits an anderen Stellen dieses Kapitels festgestellt, versprachlicht das Modalverb dürfen eine von außen auferlegte Erlaubnis oder sogar ein von außen auferlegtes Verbot. In der Diskussion wird es deshalb nur in interaktionalen und folglich in festen oder usualisierten Fügungen oder in indirekter Rede gebraucht, in denen seine negative Bedeutung zumindest hinsichtlich eines etwaigen Skopus auf den Sprecher neutralisiert wird. Außerdem steht dürfen in einem negierten Satz mit stark direktivem Charakter, in dem der Gebrauch dieses Modalverbs aus der Frage-Antwort-Struktur in der Konversation zwischen dem Kanzler und einem Journalisten resultiert wie in Beleg 13: 13. Journalist Hoffmann: „Herr Bundeskanzler! Können Sie noch etwas mehr zur künftigen wirtschaftlichen Zusammenarbeit mit der Sowjetunion sagen? Gibt es da schon konkrete Absprachen? Gibt es irgendwelche finanziellen Verpflichtungen? Gibt es irgendwelche Bürgschaften?“ (Z. 233–236, Zitat aus dem Protokollteil mit Sperrvermerk22) Bundeskanzler Kohl: „[…] (S1/1) Wobei ich doch auch noch mal bei dieser Gelegenheit darauf hinweisen will, (S1/2) dass wir aus gutem Grund nicht vergessen dürfen, (S1/3) dass das, (S1/4) was jetzt in Deutschland möglich ist, (S1/ 3 Fort.) auch möglich wurde, (S1/5) weil es in Polen die Solidarnosc, (S1/6) weil es in der DDR die Freiheitsbewegung und (S1/7) weil es die Entwicklung in Ungarn gab.“ (Z. 271–273, Zitat aus dem Protokollteil mit Sperrvermerk) Es ergibt sich folgende Formel für die Verwendung des Modalverbs dürfen in negierter Form im zweiten Teilsatz (S1/2): 22 Es ist zulässig, kurze Passagen aus Protokoll(teil)en mit Sperrvermerk zu zitieren, ein Abdruck der kompletten Protokoll(teil)e mit Sperrvermerk im Anhang ist jedoch leider nicht erlaubt.

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Subj+SPr1P+PP+NEG+VV+MV (Subjunktor + Subjektpronomen 1. Person Plural + Präpositionalphrase + Negationswort + Vollverb + Modalverb)

In Beleg 13, der als komplementäre Angabe zur Antwort auf die Journalistenfrage fungiert, wird im ersten und zweiten Teilsatz die Intention von Helmut Kohl mit Hilfe der Modalverben wollen in der 1. Person Singular und dürfen der 1. Person Plural jeweils in Kombination mit den Subjektpronomina ich und wir versprachlicht. Der Teilsatz 1 ist durch die [ich-will-(hinweisen)]-Konstruktion in Kombination mit der adversativen Gesprächspartikel doch stark performativ, er knüpft als wobei-Nebensatz an das zuvor Gesagte an und regiert die weiteren Nebensätze. Der wobei-Nebensatz ersetzt zudem den fehlenden Hauptsatz funktional. Im zweiten Teilsatz wechselt der Sprecher von der 1. Person Singular zur 1. Person Plural und drückt durch den Einsatz der Kombination Negation+Vollverb+Modalverb nicht vergessen dürfen, die eine implizite performative Kraft besitzt, den Akt des kollektiven Sich-Erinnerns aus. Die negierte Konstruktion [nicht+vergessen+dürfen] impliziert nämlich die Konstruktion [sich+erinnern+müssen]. Die Konstruktion [nicht vergessen dürfen] kann jedoch die Aufforderung in Form einer indirekt vollzogenen performativen Äußerung subtiler zum Ausdruck bringen als die Konstruktion [sich+erinnern+müssen]. Der Grad des stark präskriptiven Charakters der grammatischen Konstruktion [müssen+Vollverb] wird durch die Konstruktion [dürfen+Negation+Vollverb] abgeschwächt und die negative Semantik des Modalverbs müssen, das einen starken unter extrasubjektiven Umständen entstehenden Zwang darstellt, vermieden. Der Gebrauch der Konstruktion [Negation+dürfen +Vollverb] im Nebensatz der ergänzenden Aussage auf die Journalistenfrage ist folglich argumentativ bedingt und pragmatisch markiert. Denn sie kann syntaktisch und semantisch betrachtet die unter kommunikativen Gesichtspunkten nicht ideale Konstruktion [müssen+Vollverb] ohne Weiteres ersetzen. In den ersten zwei Teilsätzen fungieren die Modalverben wollen und (nicht) dürfen argumentativ als Indikatoren für die intrasubjektive Einstellung des Sprechers und bringen dessen starke Verpflichtung zur Satzproposition zum Ausdruck. Auch hier wird die eigene Person mit einer indirekten Verpflichtung anstatt eines aus müssen ergebenden direkten Zwanges in einem direktiven Sprechakt, in dem das Modalverb dürfen mit Negation auftritt, in Verbindung gebracht. In dem Redeanteil von Helmut Kohl als Teil der Diskussion mit den Journalist/ inn/en wurde das am häufigsten verwendete Modalverb können im Vergleich zu seinem Eingangsstatement deutlich unterschiedlich verwendet. Während im Eingangsstatement das handlungsraumbezogene Modalverb können nur in 3 von 14 Fällen in der 1. Person Singular auftrat, war es in der Diskussion mit 20 zu 43 Fällen deutlich häufiger mit der 1. Person Singular verbunden. Die auffällig hohe Vor-

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kommenshäufigkeit des Modalverbs können in der 1. Person Singular deutet darauf hin, dass die persönliche Einstellung des Kanzlers im Umgang mit Journalist/ inn/en aus argumentativen Gründen in den Vordergrund tritt und er in der Interaktion auch grammatisch markiert dafür eintritt, was er in der Proposition ankündigt. Die Versprachlichung eigener Einstellungen mit Hilfe von können in der 1. Person Singular in Kombination mit einem Vollverb zieht sich durch die gesamte Konversation mit den Journalist/inn/en und trägt durch den wechselseitigen Austausch von Perspektiven zwischen Journalist/inn/en und Politiker zur Konsensaushandlung über die angekündigten politischen Handlungen bei. Der seltenere Einsatz dieser Form im Eingangsstatement lässt sich mit dem objektiv beschreibenden und stark informierenden Charakter der Kanzlerrede erklären, in der im Vergleich zur Diskussion persönliche Einstellungen in den Hintergrund treten. Hinzu kommt außerdem, dass der Kanzler in dem Eingangsstatement politische Entscheidungen und Verhandlungsergebnisse mitteilt. Im Unterschied dazu muss er in den Redebeiträgen in der Diskussion bedingt durch Dissens beinhaltende journalistische Fragen eine größere argumentative Leistung erbringen, um die Journalist/inn/en von seinen politischen Handlungen und Verhandlungsergebnissen zu überzeugen. Neben der hohen Frequenz des Modalverbs können in der 1. Person Singular in der Diskussion ist außerdem auch auffällig, dass in der Diskussion das Modalverb können in der 1. Person Singular in 10 von 20 Fällen in negierten Äußerungen auftritt, während dies im Eingangsstatement nicht der Fall ist. Im folgenden Beleg 14 wird können in der Diskussion als Teil einer argumentativen Antithese einmal mit und einmal ohne Negation eingesetzt: 14. Journalist Moniac: „[…] Sie [i. e. Helmut Kohl] sagen, dass der Abzug der sowjetischen Truppen aus der DDR unterstützt werden soll durch Umschulung von Soldaten. Ist das nur ein Teil Ihrer Zusage gegenüber Gorbatschow? Ich weiß – und Sie wissen es besser als ich –, dass die Sowjets die größten Probleme haben, für ihre Truppen in der Sowjetunion Wohnungen zu bauen. Wäre das auch ein Programm, das die Bundesrepublik unterstützen würde?“ (Z. 584–588, Zitat aus dem Protokollteil mit Sperrvermerk) Bundeskanzler Kohl: „[…] Zum zweiten Teil Ihrer Frage: (S1/1) Ich kann mir vorstellen, (S1/2) dass die Bundesrepublik Deutschland jetzt darüber spricht mit der Sowjetunion (S1/3) und dass auch später dann ein wiedervereintes Deutschland fortsetzt, (S1/4) dass wir in der Sowjetunion beim Wohnungsbau helfen. (S2/1) Ich kann mir nicht vorstellen, (S2/2) dass wir das in dem von Ihnen genannten Sinne spezifisch tun.“ (Z. 597–600, Zitat aus dem Protokollteil mit Sperrvermerk)

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Folgende Formel ergibt sich für den Modalverbgebrauch im ersten und im zweiten Satz: Teilsatz (S1/1): SPr1S+MV+ReflPr+VV (Subjektpronomen 1. Pers. Singular + Modalverb + Reflexivpronomen + Vollverb)

Teilsatz (S2/1): SPr1S+MV+ReflPr+NEG+VV (Subjektpronomen 1. Pers. Singular + Modalverb + Reflexivpronomen + Negationswort + Vollverb)

Gleich zu Beginn des Belegs 14 – zu Ihrer zweiten Frage – wird signalisiert, dass die von der Ankündigung mit einem Doppelpunkt abgetrennte Äußerung als Ergebnis der Interaktion zwischen dem Journalisten und dem Kanzler zustande kommt und folglich eine direkte Antwort auf die eine Handlungsempfehlung beinhaltende Journalistenfrage darstellt. Beiden Hauptsätzen (Teilsätze S1/1 und S2/1) kann man die intrasubjektive Einstellung des Sprechers zu den in den Nebensätzen geäußerten Propositionen entnehmen. Die Verbindung des Modalverbs können in der 1. Person Singular mit dem Vollverb sich vorstellen (S1/1) oder aber dessen Negation (S2/1) – als Teil einer Antithese – dienen im argumentativen Kontext zur Einstellungsreflexion, um Prognosen vorzunehmen. Zugleich wird die Wahrscheinlichkeit des Eintritts dessen, worauf sich die Journalistenfrage richtet, in beiden Hauptsätzen kundgegeben, nämlich in Satz 1 bestätigt und in Satz 2 ausgeschlossen. Argumentativ betrachtet, wurde die Negation im Umfeld des Modalverbs können verwendet, um die in der Journalistenfrage verborgene Proposition zum Teil zu falsifizieren. Beleg 14 zeigt also deutlich, dass in der politischen Kommunikation Handlungsalternativen mit Hilfe einer antithetischen Gegenüberstellung der Konstruktion [ich+kann+Vollverb] in positiver und negierter Form aufgezeigt werden können. Ein solcher interaktional indizierter und pragmatisch markierter Modalverbgebrauch bei der Ankündigung oder dem Ausschluss politischer Handlungsalternativen, häufig im Anschluss an Fragen der Journalist/inn/en, konnte ich wiederholt bei der Analyse auch in anderen Bundespressekonferenzen beobachten. Dieses Phänomen geht nach von Polenz (2008: 218) auf den „KORREKTUR-Charakter (sic!) der Verneinung“ zurück, der „besonders deutlich“ wird, „wo einer verneinten Aussage eine positive adversativ GEGENÜBERGESTELLT (sic!) wird.“ Wie im letzten Beleg, wird auch in Beleg 15 mit Hilfe des Modalverbkonstrukts [können+Negation+Vollverb] eine explizite Antwort an einen Journalisten geliefert:

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15. Journalist (unbekannt): „Herr Bundeskanzler! Ich habe eine politische und eine private Frage. Die politische Frage ist: Was soll der amerikanische Präsident davon halten, dass ihm der deutsche Bundeskanzler in wichtigen Bereichen einen Aspekt der Weltpolitik aus der Hand nimmt?“ (Z. 631–634, Zitat aus dem Protokollteil mit Sperrvermerk) Bundeskanzler Kohl: „[…] (S1) Ich kann diese Meinung nicht akzeptieren. (S2) Ich habe jetzt eine besondere Rolle. (S3/1) Da sind viele Faktoren, (S3/2) da ist auch viel Fortüne. (S4/1) Übrigens, George Bush hat entscheidend dazu beigetragen, (S4/2) dass ich diese Möglichkeit jetzt hatte, (S4/3) diese Rolle zu übernehmen im Augenblick. […] (S5) An meiner pro-amerikanischen Haltung ist ja wirklich nicht zu zweifeln. (S6/1) Das ist das, (S6/2) was ich dazu sagen will23.“ (Z. 637–650, Zitat aus dem Protokollteil mit Sperrvermerk) Folgende Formel ergibt sich für die Modalverben im Satz 1 und Satz 6 des Belegs 15: Teilsatz S1: SPr1S+MV+dOBJ-NP+NEG+VV (Subjektpronomen 1. Pers. Singular + Modalverb + direktes Objekt-NP + Negationswort + Vollverb)

Teilsatz S6/2: RelPrdOBJ+SPr1S +PräpADV+ VV+MV (direktes Objekt als Relativpronomen + Subjektpronomen 1. Pers. Singular + Präpositionaladverb + Vollverb + Modalverb)

Während Helmut Kohl im ersten Satz seine Einstellung zur in der Journalistenfrage zum Ausdruck gebrachten Proposition mit Hilfe des Modalverbs können in der 1. Person Singular+Negation+Vollverb – ich kann nicht akzeptieren – knapp verkündet, liefert er in den Sätzen 3 bis 5 Argumente gegen die Richtigkeit der in der Frage geäußerten Inhalte. Im Anschluss an seine Widerargumentation wird zum Schluss der Gedankengang des Kanzlers im Nebensatz des Satzes 6 mit Hilfe des Modalverbs wollen in der 1. Person Singular abgeschlossen, die Argumentation wird hier von einer faktischen Ebene auf eine interaktionale Ebene [ich+will+sagen] verlagert. Die eigene Einstellung wird so in der Konstruktion [ich+will +sagen] im Nebensatz des letzten, sechsten Satzes erneut offengelegt und semantisch stark verdeutlicht. Die Konstruktionen [ich+kann+nicht+akzeptieren] im ersten und [ich

23 Zur Funktion der festen gesprochensprachlichen Konstruktion [ich+will+sagen] vgl. den nächsten Abschnitt 6.2.2.2.

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+will+sagen] im letzten Satz bilden so einen modalen Rahmen und dienen der persuasiven Argumentation. Das Akkusativobjekt diese Meinung im Satz 1 „Ich kann diese Meinung nicht akzeptieren.“, das das Vollverb akzeptieren obligatorisch ergänzt, stellt eine Referenz auf die eine Dispräferenz beinhaltende Journalistenfrage dar. Der gezielte Modalverbeinsatz und die Negation dienen der Korrektur der Aussage des Journalisten, auch wenn dieser korrigierende Mechanismus hier nicht wie oben in Beleg 14 und bei Polenz (2008: 218) angesprochen mittels einer direkten Gegenüberstellung erfolgt. In vielen ähnlichen Belegen der Diskussion mit Journalist/inne/n, die an dieser Stelle aus Platzgründen nicht weiter diskutiert werden können, wird eine Korrektur der Aussagen der Journalist/inn/en durch den Einsatz von Partikeln in Kollokation mit dem Modalverb können in Konstruktionen wie beispielsweise „Ich kann doch nicht sagen, …“ (Z. 495, Zitat aus dem Protokollteil mit Sperrvermerk) noch deutlicher gestützt. Der interaktionale Charakter solcher Korrekturen rückt folglich in Diskussionen wie auch in den Belegen 14 und 15 deutlich in den Vordergrund.24 Denn sie dienen dazu, weitere journalistische Nachfragen bzw. Infragestellungen abzublocken und die Presse von der Richtigkeit der eigenen politischen Handlungen durch die Reflexion eigener positiver Einstellungen auf die Proposition in der Konversation zu überzeugen. Das handlungsraumbezogene Modalverb müssen zeigt in der Diskussion mit 27 Belegen einen deutlichen Frequenzunterschied im Vergleich zum Eingangsstatement von Helmut Kohl, in dem es nur 2-mal vorkommt. Am häufigsten – in 15 von 27 Fällen – tritt müssen in der 3. Person Singular auf, in mehreren Fällen in deagentivischen Konstruktionen wie zum Beispiel 5-mal mit dem Indefinitpronomen man. Die Vorkommenshäufigkeit dieses Modalverbs in der 1. Person Singular und der 1. Person Plural erweist sich mit jeweils 6-mal als identisch. Der Gebrauch von müssen zeichnet sich in der Diskussion zum Teil durch ähnliche Merkmale aus wie im Eingangsstatement. In der 3. Person Singular ist der Gebrauch des Modalverbs müssen auch in der Diskussion mit derselben pragmatischen Funktion verbunden wie im Eingangsstatement, es dient hier ebenso der zukunftsorientierten Richtungsvorgabe für die deutsche Politik im argumentativen Gesamtzusammenhang der Presskonferenz, wie sich dies auch am Beleg 16 beobachten lässt. 16. Journalist (unbekannt): „Herr Bundeskanzler, wie können Sie verhindern, dass andere nach einem solchen Ereignis, wie Sie es gestern vollzogen haben, Komplexe bekommen, weil es so aussieht, als ob sie im Schlepptau, um nicht 24 Die Untersuchungsresultate erlauben diese interaktionsanalytische Schlussfolgerung in diesem Fall auch dann, wenn eine GAT 2-Analyse (Selting et al. 2009) angesichts fehlender AudioDateien leider auch in diesem Fall nicht möglich ist.

6.2 Empirische Analyse des Modalverbgebrauchs von Helmut Kohl



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zu sagen, an der Leine, der Deutschen wären? Oder hat die Bundesrepublik die besondere Aufgabe bekommen von der Sowjetunion, sie ist vom Hauptfeind zum Hauptfreund der Sowjetunion avanciert? Wie können Sie verhindern, dass es solche Komplexe bei anderen gibt?“ (Z. 602–607, Zitat aus dem Protokollteil mit Sperrvermerk) Bundeskanzler Kohl: „[…] (S1/1) Unser Ziel muss sein, (S1/2) aus der geographischen Mittellage mit offenen Grenzen, nicht natürlichen Grenzen, sozusagen das Durchgangsland für Ideen und Perspektiven zu werden.“ (Z. 623, Zitat aus dem Protokollteil mit Sperrvermerk) Folgende Formel ergibt sich für das Modalverb müssen im Hauptsatz (S1/1): SUBJ-NP+MV+KV+PRÄDNOM-INF-Satz (Subjekt-Nominalphrase + Modalverb + Kopulaverb + Prädikatsnomen-Infinitivsatz)

Die Frage bezieht sich auf die Kooperation Deutschlands mit der Sowjetunion. In seiner Antwort in Beleg 16, in dem das Modalverb müssen in der 3. Person Singular auftritt, beantwortet Helmut Kohl, wie die Zusammenarbeit beider Länder sowie die Politik Deutschlands grundsätzlich ausgerichtet werden soll. In Beleg 16, der zu Beleg 7 im Eingangsstatement Unsere Politik muss darauf gerichtet sein, […] (Z. 60) konstruktiv analog ist, wird erklärt, dass das Land politisch – dies kann an anderen Stellen vorkommenden textinternen Merkmalen der Antwort des Kanzlers entnommen werden – auf Ideen und Perspektiven sowie Offenheit basiere. In beiden Belegen wird das Modalverb mit einem als Nominalphrase auftretenden Subjekt, bestehend aus der 1. Person Singular des Possessivpronomens und einem Substantiv, verbunden. Die Nominalphrase in der Subjektposition Unser Ziel wirkt ähnlich wie in Beleg 7 mit dem Modalverb müssen indifferent. Auch hier kann man aus dem Wortlaut des Belegs nicht schließen, ob äußere circumstantielle Notwendigkeiten die Äußerung begründen oder ob der Sprecher seine eigene Einsicht in die Notwendigkeit einer solchen politischen Ausrichtung ausdehnt, was zugleich einen volitiven Gebrauch belegen würde. Eine Überschneidung beider Redehintergründe ist jedoch angesichts des Diskurswissens wahrscheinlich. Denn Helmut Kohl war derjenige, der als Kanzler die Verhandlungen zur Wiedervereinigung des Landes und zur Etablierung einer neuen Rolle Deutschlands in der Außenpolitik führte. Der zweite Teilsatz in Beleg 16, also der Infinitivsatz aus der geographischen Mittellage mit offenen Grenzen, nicht natürlichen Grenzen, sozusagen das Durchgangsland für Ideen und Perspektiven zu werden, belegt außerdem auch noch einen teleologischen Gebrauch. Ähnlich der anderen müssen-Belege wird die aus dem Hauptsatz resultierende Notwendigkeit im zweiten Teilsatz durch eine erneut auftretende positive Zielsetzung semantisch aufgewertet.

118  6 Zur empirischen Analyse des Modalverbgebrauchs I

Zu der pragmatischen Funktion der Festlegung von Zielen tritt zudem in dem Redeanteil von Helmut Kohl in der Diskussion auch die Bekanntgabe einer der journalistischen Meinung entgegenstehenden Überzeugung wie in Beleg 17: 17. Journalist (unbekannt): „Herr Bundeskanzler! Wie können Sie verhindern, dass andere nach einem solchen Ereignis, wie Sie es gestern vollzogen haben, Komplexe bekommen, weil es so aussieht, als ob sie im Schlepptau, um nicht zu sagen, an der Leine der Deutschen wären? Oder hat die Bundesrepublik die besondere Aufgabe bekommen von der Sowjetunion, sie ist vom Hauptfeind zum Hauptfreund der Sowjetunion avanciert? Wie können Sie verhindern, dass solche Komplexe bei anderen gibt?“ (Z. 605 – 610, Zitat aus dem Protokollteil mit Sperrvermerk) Bundeskanzler Kohl: „[…] (S1) Wir haben nun wirklich alles getan, um auch für andere hilfreich zu sein. (S2/1) Man muss halt ertragen, (S2/2) dass in dieser Übergangszeit manche vielleicht noch nicht glauben, (S2/3) dass die Zukunft begonnen hat.“ (Z. 627–628, Zitat aus dem Protokollteil mit Sperrvermerk) Für den Gebrauch des Modalverbs müssen im Hauptsatz des zweiten Satzes (S2/1) in der Antwort von Helmut Kohl auf die Journalistenfrage ergibt sich folgende Formel: IndefSPr+MV+PART+VV+dOBJ-Satz (indefinites Subjektpronomen + Modalverb + Partikel + Vollverb + direkter Objektsatz)

Beleg 17 bildet einen Teil der Antwort auf die eine Dispräferenz markierende journalistische Frage, die auch die Entstehung von Beleg 16 bewirkte. In der negierten Antwort in den Zeilen 611–61625 wird vom Kanzler verkündet, dass er in einer Demokratie nicht vorhat, die Entstehung einer solchen Meinung zu verhindern. Zwischen den Zeilen 617–63026 begründet Kohl dies anschließend damit, dass Deutschland ein zutiefst europäisches Land sei (Z. 622), das für Ideen und Perspektiven (Z. 624) offen stünde und keine Konkurrenz für andere Interessensparteien darstelle. Diese Argumentation wird anschließend in Beleg 17 und im Vorfeld dazu durch weitere Ergänzungen zur Etablierung des Bildes über Deutschland als Wirt-

25 Angesichts der Sperrfrist dieser Bundespressekonferenz ist es nicht möglich, größere zusammenhängende Textpassagen dieser Diskussion zu zitieren. Deshalb erfolgt an dieser Stelle zwar eine Zeilenangabe, jedoch wird anschließend nur eine wesentlich reduzierte Kurzfassung passender Inhalte wiedergegeben. 26 Auch in diesem Fall ist eine wortwörtliche Wiedergabe der Inhalte der Diskussion aufgrund der Sperrfrist des Formats nicht möglich.

6.2 Empirische Analyse des Modalverbgebrauchs von Helmut Kohl



119

schaftskraft und als politisches Gewicht, das anderen gegenüber als Helfer fungiere, vervollständigt. Durch die Kombination des einen externen Zwang ausdrückenden müssen und des eine emotional negative Verbsemantik beinhaltenden Vollverbs ertragen wird gleichzeitig auch die eindeutig negative innere Einstellung des Sprechers zu der in dem ersten Nebensatz mitgeteilten Proposition, nämlich Zweifel an dem Wandel der politischen und wirtschaftlichen Beziehungen zwischen WestDeutschland und Sowjet-Russland, verdeutlicht. Besonders auffällig ist formal betrachtet der Gebrauch dieses Modalverbs in der 3. Person Singular mit dem Indefinitpronomen man in der Konstruktion [man+Modalverb+Partikel+Vollverb]. Das Indefinitpronomen man ermöglicht durch seine Generalisierungsfunktion, das einen Zwang ausdrückende und damit im politischen Umfeld negative Modalverb müssen ohne eine zu starke modale Fokussierung auf die Sprecher-Origo hin zu verwenden. Mit Hilfe der Gesprächspartikel halt wird die eigene negative Einstellung zu dieser Kritik, die sich bereits auch in dem Einsatz des Modalverbs müssen und des Vollverbs ertragen niederschlug, verstärkt zum Ausdruck gebracht. In dem zweiten Nebensatz dass die Zukunft begonnen hat wird der negativen Semantik des Hauptsatzes und des ersten Nebensatzes eine positive Semantik entgegengestellt. Der in Beleg 17 im Hauptsatz durch das Modalverb müssen ausgedrückte extrasubjektiv bedingte Handlungszwang wird durch den positiven Inhalt des zweiten Nebensatzes zum Schluss semantisch relativiert; der Satz findet trotz der beschriebenen Notwendigkeit des Ertragens einen positiven Abschluss. Das Modalverb sollen fällt angesichts seiner Vorkommenshäufigkeit mit 12 Belegen in der Diskussion mit Journalist/inn/en27 zu 9 im Eingangsstatement ähnlich aus. Sollen kommt im Eingangsstatement in Behauptungen vor, in der Diskussion tritt es aber immer wieder auch in Fragen auf. Ähnlich wie das Modalverb können in negierten Äußerungen kommt auch sollen in der Diskussion die pragmatische Funktion zu, entgegenstehende Meinungen im Anschluss an die Fragen der Journalist/inn/en als Teil von rhetorischen Fragen kundzutun. Für einen solchen Gebrauch steht Beleg 18: 18. Journalist (unbekannt): „Nach Abzug der sowjetischen Truppen sollen keine sowjetischen Truppen in Berlin stehen. Wird das bedeuten, dass künftig dann keine Präsenz der NATO oder der Alliierten dort möglich ist?“ (Z. 707 – 709, Zitat aus dem Protokollteil mit Sperrvermerk) Bundeskanzler Kohl: „[…] (S1/1) Das heißt, (S1/2) in vier Jahren werden wir weitere Truppenreduzierungen in Europa haben. (S2) Das ist doch ganz klar 27 In der Statistik wurden nur die in den Antworten von Helmut Kohl vorkommenden Modalverben berücksichtigt. Die Modalverben in den Journalistenfragen werden zwar bei der Analyse bewertet, sofern diese die Interaktion beeinflussen, aber sie bilden keinen Teil der Statistik.

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6 Zur empirischen Analyse des Modalverbgebrauchs I

erkennbar. (S3) Auf Wien I kommt Wien Ia oder Wien II. (S4) Das wird zu weiteren Reduzierungen führen. (S5/1) Und warum soll denn dann eine Notwendigkeit bestehen, (S5/2) wo wir jetzt schon amerikanische Reduzierungen im Augenblick haben aufgrund der geltenden Wiener Bestimmungen (S5/3) und in Standorten Soldaten abziehen.“ (Z. 723–727, Zitat aus dem Protokollteil mit Sperrvermerk) Hieraus ergibt sich folgende Struktur des interrogativen Satzes 5: Teilsatz (S5/1): Konj+FrW+MV+PART+ADV+SUBJ-NP+VV (Konjunktor + Fragewort + Modalverb + Partikel + Adverb + Subjekt-NP + Vollverb)

In der in Beleg 18 auftretenden rhetorischen warum-Frage des Kanzlers Und warum soll denn dann eine Notwendigkeit bestehen, […]? ist der Einsatz des Modalverbs sollen der Frage des Journalisten Wird das bedeuten, dass künftig dann keine Präsenz der NATO oder der Alliierten dort möglich ist? geschuldet. Die implizit zum Ausdruck gebrachte Proposition in der Journalistenfrage darauf, ob die Möglichkeit besteht, dass in Berlin trotz Wende auf Dauer mit der Anwesenheit von Truppen der Alliierten zu rechnen ist, wird in der Antwort Kohls im Hauptsatz von Satz 5 (= Teilsatz 5/1) indirekt verneint. Denn mit der hier rhetorisch gebrauchten Frage mit sollen wird die normative Notwendigkeit einer solchen Anwesenheit in Frage gestellt. Die Proposition der Äußerung, also die Negation von fremden Truppen in Berlin, wird durch das Kompositum Truppenreduzierung im Nebensatz des ersten Satzes eingeleitet. Im vierten Satz wird anschließend die Proposition durch die Nominalphrase weitere Reduzierungen erneut aufgegriffen und im Nebensatz des fünften Satzes, in dem das Modalverb sollen erscheint, amerikanische Reduzierungen wiederholt. Rein formal betrachtet handelt es sich bei Satz 5 in Beleg 18 um eine Frage, die pragmatisch als diplomatische Negation gedeutet werden muss. Der Hauptsatz Und warum soll denn dann eine Notwendigkeit bestehen, […] könnte alternativ mit dem sehr direkten Hauptsatz Es besteht keine Notwendigkeit dafür, […] paraphrasiert werden. Die zurückhaltende diplomatische Argumentation in Frageform wird hier durch die Gesprächspartikel denn und das Temporaladverb dann wieder leicht aufgehoben, die Frage wirkt dadurch deutlich rhetorisch. Beleg 18, aber auch weitere Passagen in der Diskussion verdeutlichen, dass Fragen, eingeleitet mit dem Fragewort warum wie in [warum+sollen+Vollverb], ohne Negation einem ähnlichen pragmatischen Zweck dienen wie Behauptungen mit [können+Negation+Vollverb] – z. B. Beleg 14 und 15 –, allerdings mit dem Unterschied, dass eine den Journalist/inn/en gegenüberstehende Meinung im ersten

6.2 Empirische Analyse des Modalverbgebrauchs von Helmut Kohl 

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Fall in einer impliziten und im zweiten in einer stark expliziten Form signalisiert wird. Das Modalverb sollen, das die feste Wendung [eine Notwendigkeit bestehen] regiert, wird in Beleg 18 mit circumstantiellem Redehintergrund gebraucht. Für diese Klassifikation sprechen sowohl satzinterne als auch über die Satzgrenze hinausgehende textinterne Bezüge. Denn in den Sätzen 1, 3 und 4 und im Nebensatz des Satzes 5 (= Teilsatz S5/2) werden Argumente genannt, die zwar nicht gegen die Möglichkeit, aber gegen die Notwendigkeit der Stationierung der Truppen der Westalliierten auf Dauer sprechen. Den circumstantiellen Gebrauch des Modalverbs sollen unterstützt auch das Diskurswissen, nämlich dass internationale Verhandlungen mit dem Ziel der Wiedervereinigung der Bundesrepublik Deutschland sowie der nationalstaatlichen Souveränität geführt werden, zu der auch der Abzug fremder Truppen aus der Hauptstadt Berlin gehört. Den Gebrauch des Modalverbs sollen kann man in der Diskussion auch an Stellen beobachten, an denen komplementäre Angaben zur aus den Fragen der Journalist/inn/en resultierenden Proposition vorgenommen werden. Das Modalverb sollen tritt in diesen Fällen in formal negierten Sätzen in der Konjunktiv-IIForm auf wie in Beleg 19: 19. Journalist Weingärtner: „Herr Bundeskanzler, Sie haben von einem umfassenden Kooperationsvertrag gesprochen, der beschlossen werden soll, und von einem Überleitungsvertrag zum Rückzug der Truppen, der auch weitreichende Konsequenzen hat. Können Sie das vielleicht ein bisschen präzisieren, was da herein soll?“ (Z. 295–298, Zitat aus dem Protokollteil mit Sperrvermerk Bundeskanzler Kohl: „[…] (S1) Wir haben im Rahmen des Londoner NATOGipfels über Sicherheitsgarantien von Ländern des Warschauer Pakts zu Ländern der NATO gesprochen. (S2/1) Warum sollten nicht die Deutschen und die Sowjetrussen die ersten sein, (S2/2) die einen solchen Nichtangriffspakt im Rahmen eines Gesamtpaktes miteinander schließen?“ (Z. 371–375, Zitat aus dem Protokollteil mit Sperrvermerk) Für den Modalverbgebrauch des Kanzlers in der Diskussion im zweiten Satz des Belegs 19 ergibt sich folgende Formel im Hauptsatz: Teilsatz (S2/1): FrW+MV+NEG+2xSUBJ-NP+PRÄDNOM+KV (Fragewort + Modalverb + Negationswort + 2 x Subjekt-NP + Prädikatsnomen + Kopulaverb)

In seiner Antwort auf die Frage des Journalisten Weingärtner in Beleg 19 macht Helmut Kohl komplementäre Angaben zum Gegenstand der Journalistenfrage, nämlich dem Kooperationsvertrag und dem Überleitungsvertrag zum Rückzug der Truppen, und verwendet dabei ebenfalls eine [warum+sollen]-Konstruktion, nur

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6 Zur empirischen Analyse des Modalverbgebrauchs I

hier im Konjunktiv II. Kohl nimmt die beiden Verträge in der rhetorischen Frage in Teilsatz (2/1) wieder auf, wenn er in einem rhetorisch negierten Warum-Fragesatz mit sollte von einem Nichtangriffspakt unter Deutschland und Sowjetrussland als ersten Teil von Sicherheitsgarantien von Ländern des Warschauer Pakts zu Ländern der NATO spricht. Deutschland und Sowjetrussland treten hier als Agentien in der 3. Person Plural auf und werden durch die Satzstellung des Negators nicht vor dem Subjekt noch pragmatisch hervorgehoben. Durch die Verbindung des Modalverbs mit dem Kopulaverb rückt die Modalverbbedeutung umso stärker in den Vordergrund. Das Modalverb sollen wird insbesondere in Anbetracht des Diskurswissens, aber auch der textinternen Merkmale im Vorfeld zu Beleg 19 intrasubjektiv gebraucht und als Teil einer negierten rhetorischen Frage verwendet. Tatsächlich steht hier der pragmatische und nicht der semantische Mehrwert der Negation im Vordergrund, um den argumentativen Wert der Äußerung zu steigern und die Einmaligkeit des Sachverhaltes zu betonen. Wie in Beleg 19 wird durch sollen in solchen Fällen weder eine interne noch eine externe Notwendigkeit ausgedrückt, sondern eine vom Sprecher beworbene Handlungsalternative betont. Die grammatische Form des Modalverbs sollen im Konjunktiv II erlaubt zudem eine stark futurische Interpretation des Satzinhaltes. Von dieser futurischen Interpretation kann wiederum auf einen implizit erfolgenden teleologischen Gebrauch geschlussfolgert werden, bei dem die Zielsetzung auf den erfolgreichen Abschluss der Verträge gerichtet ist. Dieser Redehintergrund tritt zum intrasubjektiv-volitiven Hintergrund hinzu. 6.2.2.2 Konstruktionsgrammatische Überlegungen zu [ich+Modalverb+sagen] In der Diskussion mit Journalist/inn/en steht der interaktional motivierte Modalverbgebrauch gerade in Verbindung mit festen Konstruktionen im Vordergrund. In der Diskussion verwendete Helmut Kohl 104 Modalverben. In 18 Fällen treten die handlungsraumbezogenen Modalverben dürfen, können, müssen sowie das zielbezogene Modalverb wollen in der 1. Person Singular in Kollokation mit dem Vollverb sagen auf, also in den Konstruktionen [ich+Modalverb (=MV)+sagen],

häufig erweitert um Gesprächspartikel. Diese Konstruktionen [ich+MV+sagen] werden mit ihren unterschiedlichen Modalverbfüllungen in der folgenden Tabelle dargestellt, in der auch die konkreten Belege und die Vorkommenshäufigkeit der einzelnen Konstruktionen angegeben werden.

6.2 Empirische Analyse des Modalverbgebrauchs von Helmut Kohl



123

Tab. 13: Modalverb in den Konstruktionen [ich + MV + sagen]

Teilsatz

Frequenz

dürfen: [ich darf sagen]

Wenn ich das einmal so persönlich sagen darf (NS), … (Z. 483)28

können: [ich kann sagen]

Ich kann das aber nur sagen, … (HS) (Z. 553)

Handlungsraumbezogene Modalverben:

…, das kann ich vielleicht sagen, … (Z. 694) …, kann ich nur lakonisch sagen: … (Z. 753) …, ich kann jetzt über die Termine nichts sagen. (NS) (Z. 741)

müssen: [ich muss sagen]

Ich muss Ihnen sagen, … (HS) (Z. 205) Ich muss Ihnen sagen: … (HS) (Z. 451) – ich muss das noch einmal sagen – (Parenthese) (Z. 461) Also, jetzt muss ich Ihnen einfach sagen:… (HS) (Z. 731)

1 von 18 K29 = 5,6 % 25 % der 4 dürfen-Belege (4 von 104 = 3,8 %)30 4 von 18 K = 22,2 % 9,3 % der 43 können-Belege (43 von 104 = 41,4 %) 6 von 18K = 33,3 % 22,2 % der 27 müssen-Belege (27 von 104 = 26,0 %)

Ich muss Ihnen zum ersten sagen: … (HS) (Z. 741) … dann muss ich Ihnen wirklich sagen: … (HS) (Z. 753) Zielbezogene Modalverben: möchte-: [ich möchte sagen]

(keine Belege)

0 von 18 (3 von 104 = 2,2 %)

sollen: [ich soll sagen]

(keine Belege)

0 von 18 (12 von 104 = 11,5 %)

28 Alle Zeilenangaben in dieser Tabelle beziehen sich auf den Protokollteil mit Sperrvermerk und sind deshalb im Anhang nicht aufgeführt. 29 K= ich+Modalverb+sagen-Konstruktionen. 30 In Klammern stehen zum Vergleich die Vorkommenshäufigkeiten für das entsprechende Modalverb bei allen Antworten auf die Fragen der Journalist/inn/en.

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6 Zur empirischen Analyse des Modalverbgebrauchs I

Modalverb in den Konstruktionen [ich + MV + sagen]

Teilsatz

wollen: [ich will sagen]

– das will ich Ihnen schon sagen – (Parenthese) (Z. 415) – und das will ich noch einmal bei der Gelegenheit schon sagen – (Parenthese) (Z. 226) Ich will das gerne einmal sagen, … (HS) (Z. 580) Also, zu ersten will ich sagen, …(HS) (Z. 589)

Frequenz

7 von 18 = 38,9 % 46,7 % der 15 wollen-Belege (15 von 104 = 14,4 %)

Ich will das nur sagen, … (HS) (Z. 635) , … was ich dazu sagen will. (NS) (Z. 650) Ich will es sehr zurückhaltend in einem solchen Kreis sagen. (Z. 652)

Die Vorkommenshäufigkeit der Konstruktionen [ich+MV+sagen] ist mit 17,3 % aller Modalverbbelege in dem Redeanteil von Helmut Kohl in der Diskussion statistisch auffällig. Eine semantisch-funktionale Interpretation des Modalverbgebrauchs in dieser Konstruktion ist unter dem Aspekt der Interaktionalität in den Redebeiträgen von Helmut Kohl angesichts der vielfältigen Semantik der Modalverben oft nur einzelfallbezogen möglich, weshalb hier nach den Einzelfallanalysen im vorangegangenen Abschnitt 6.2.2.1 auf eine Detailuntersuchung jedes in der Tabelle angeführten Einzelbelegs verzichtet werden soll. Nur die funktionalen Grundzüge der unterschiedlichen [ich+MV+sagen]-Konstruktionen sollen im Folgenden beschrieben werden. In der Bundespressekonferenz mit Helmut Kohl vermeidet Kohl die Verwendung von dürfen insbesondere im Eingangsstatement, da dieses eine Erlaubnis durch Dritte markiert. Deshalb stellt der eine Beleg von dürfen im Rahmen der Konstruktionen [ich+MV+sagen] bereits 25 % der dürfen-Belege in den Redeanteilen des Kanzlers in der Bundespressekonferenz dar. Mit dürfen in dem Beleg Wenn ich das einmal so persönlich sagen darf (Z. 483, Zitat aus dem Protokollteil mit Sperrvermerk) exkulpiert sich Kohl bei seinen Kommunikationspartner/inne/ n, also den Journalist/inn/en und der Öffentlichkeit, für die unter Umständen von diesen als vermessen empfundene, die im Folgenden geäußerte Hoffnung, dass von seiner „Amtszeit später geschrieben“ werde, dass er „einen Beitrag zur Wiederfindung der Mitte für die Deutschen finden konnte“. In der Interaktion ist folglich das rhetorische Erbeten einer Erlaubnis durch Dritte mittels des Modalverbs dürfen ganz anders als im Eingangsstatement politisch hilfreich. Die Konstruktion [ich kann sagen] tritt in der Diskussion 4-mal auf. Imo (2007: 129) hält diese Konstruktion für zu selten, „als dass sich stabile konstruktionale Merkmale herausbilden können“. Imo (2007: 130) erkennt daher in dieser Kon-

6.2 Empirische Analyse des Modalverbgebrauchs von Helmut Kohl



125

struktion eine „offene“ Konstruktion nach Hopper (2005). Eine offene Konstruktion wird von Imo (2007: 130) in Anlehnung an Hopper als eine sehr kontextabhängige Konstruktion beschrieben, „deren Struktur emergent“ ist. Deshalb lehnt Imo (2007: 129) auch eine genaue Funktionsbeschreibung der Konstruktion [ich kann sagen] ab, da dann „ ‚any quirk‘ (Croft 2002) einer Konstruktion einen eigenen Eintrag nach sich ziehen“ würde und dann „für die Verbindungen von können und sagen zahlreiche eigene Konstruktionen angenommen werden“ könnten. Bei der funktionalen Analyse der Konstruktion [ich+kann+sagen] im Redeanteil von Helmut Kohl in der Diskussion der Bundespressekonferenz vom 17.7.1990 lassen sich funktionale Gemeinsamkeiten der 4 Belege feststellen. Auch bei können wird durch die Konstruktionen [ich+MV+sagen] die Möglichkeit zur interaktiven Fakten- und Einstellungsmitteilung des Kanzlers an die Journalist/inn/en markiert. Die genaue pragmatische Funktion in der konversationellen Interaktion bestimmen in dieser Bundespressekonferenz bei der Konstruktion [ich+kann+sagen] aber primär – syntaktisch gesprochen – Angaben (aber nur, vielleicht, nur lakonisch und jetzt) sowie eine etwaig vorhandene Negation. Dies hat zur Folge, dass die Angaben die konstruktive Grundfunktion von [ich+kann+sagen] interaktional semantisch und damit auch pragmatisch überstrahlen. Mit dem handlungsraumbezogenen Modalverb müssen in den Konstruktionen [ich+muss+ Ø/Ihnen/Adverb+sagen], teilweise mit Inversion, adressiert hier Kohl 6mal die Journalist/inn/en. Die Inversion ist hier wie schon in Imos (2007: 118 f.) Korpus „durch grammatische Begleiterscheinungen ausgelöst“ und hat „keine funktionalen Auswirkungen“. Imo (2007: 120) stellt in seinem Material fest, dass diese Konstruktion „sowohl in äußerungsinitialer als auch -finaler Position“ „eine exkulpierende Funktion (d. h. die Sprecher/innen distanzieren sich durch die Phrase mit sagen müssen von ihrer Äußerung und der Äußerungsverantwortung)“ habe. Im Korpus dieser Bundespressekonferenz erfolgt durch diese meist eine Äußerung ankündigende Konstruktion eine geringere Form der Distanzierung, nämlich die von der Sprecher-Origo als Notwendigkeitsursache für die Äußerung und damit nicht von der ganzen Äußerung wie in Imos äußerungsfinalen Beispielen. Der Kanzler signalisiert durch die Wahl von müssen und die Nichtwahl z. B. von volitivem wollen/möchte-, dass er die durch diese Konstruktionen eingeleiteten oder unterbrochenen Argumentationsstränge aufgrund äußerer Tatsachen als notwendig erachtet. Der Modalverbgebrauch geht hier folglich mit dem circumstantiellen Gebrauch einher. Damit erscheinen die folgenden jeweiligen Argumente eher faktisch. In Imos (2007: 125) oft umgangssprachlichem Korpus dient will bzw. möchte- + sagen dazu, dass aus der „reinen Redeankündigung“ eine „Ankündigung einer Kritik, eines Rates oder eines Vorwurfs“ wird. In der Fragerunde im Rahmen der Bundespressekonferenz mit Bundeskanzler Helmut Kohl dient das volitive und präfe-

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6 Zur empirischen Analyse des Modalverbgebrauchs I

rentielle31 [will+sagen] dagegen primär dazu, dass sich der Redner im Vergleich zu den circumstantiellen [kann+sagen]-Konstruktionen schon durch das Modalverb persönlich hinter seine Argumentation stellt. Dadurch werden die Fragen der Journalist/inn/en zwar teils indirekt argumentativ korrigiert. Es liegt hier aber kein Erkämpfen des Argumentationsrechts vor wie in den von Imo (2007: 124) angeführten Belegen, in denen die Redner/innen im Gegensatz zu den Fragen in der Bundespressekonferenz ja gleichberechtigt sind. In der politischen Kommunikation ist deshalb eine „verschobene“ Semantik32 wie bei Imo eher in schwach moderierten politischen Talkshows als in einer Pressekonferenz oder beim Kanzlerduell mit ihren festen Kommunikationsregeln zu erwarten. Auch lassen sich hier keine Formulierungsschwierigkeiten erkennen, bei denen wollen und möchte- als Zögerungssignale bzw. Disfluenzmarker (vgl. Imo 2007: 127) dienen können. Auffällig im Redeanteil des Kanzlers in der Diskussion ist die hohe Vorkommenshäufigkeit der Konstruktion [ich+will+sagen] unter den [ich+Modalverb+sagen]-Konstruktionen und die Tatsache, dass die in der Umgangssprache geläufige Konstruktion von [ich+möchte+sagen] von Helmut Kohl kein einziges Mal verwendet wurde. Eine Präferenz für die Konstruktion [ich+will+sagen] gegenüber der Konstruktion [ich+möchte+sagen] ist nachvollziehbar, wenn man bedenkt, dass – wie bereits erwähnt – in der politischen Sphäre gegenüber Politiker/inne/n die Erwartungshaltung existiert, Führungsstärke zu demonstrieren. Diese Feststellung gilt umso mehr für die politischen Umbrüche der „Wendezeit“, in der ein politisch starker Kanzler notwendig war, um die Wiedervereinigung möglichst problemlos bei den vier alliierten Siegermächten des Zweiten Weltkriegs durchzusetzen. Die Semantik von möchte, mit dem ein Wunsch ausgedrückt wird, erzielt nicht annähernd denselben Effekt wie das Modalverb wollen. Denn eine Konstruktion mit wollen beschreibt die Zielorientierung des Sprechers stärker als eine mit möchte. In dem Redeanteil des Bundeskanzlers in der Diskussion kommen die handlungsraumbezogenen Modalverben müssen, können, dürfen und das zielbezogene Modalverb wollen über ihre an anderen Stellen dieser Arbeit bereits diskutierten Funktionen hinaus. Sie werden eingesetzt, um insbesondere auf Dispräferenz beinhaltende Journalistenfragen zu reagieren. Nach dem Einsatz dieser eigene Einstellungen reflektierenden Konstruktionen werden die argumentativen Gründe genannt, die die Proposition aus den Journalistenfragen aus Sprechersicht widerlegen. Diese kommunikative Abweichung lässt sich eindeutig auf den interaktionalen Charakter der Diskussion zurückführen, in denen diese Modalverben in 31 Terminus präferentiell nach von Polenz (2008: 220) 32 Imo (2007: 125) klassifiziert Konstruktionen wie [möchte-+sagen] und [wollen+sagen] als „reine Redeankündigung“ „zur Ankündigung einer Kritik, eines Rates oder eines Vorwurfs“ und sieht hier eine verschobene Semantik.

6.2 Empirische Analyse des Modalverbgebrauchs von Helmut Kohl 

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sprachlich-kognitiv verfestigten Konstruktionen auftreten. Dieses Modell macht die Teilnehmer/innen einer Bundespressekonferenz auf der ersten Realitätsebene sichtbar und verdeutlicht, dass sich der Bundeskanzler primär mit den Journalist/ inn/en argumentativ im kommunikativen Verlauf austauschen muss. Der Diskussionsteil einer Bundespressekonferenz wird im Unterschied zum Eingangsstatement erwartungsgemäß interaktiv gestaltet. In einem demokratischen Staatssystem ist es für die Politiker/innen essentiell, in politischen Diskussionen zum Ausdruck zu bringen, dass die Gesprächspartner/innen ernst genommen werden. Genau diesen Zweck können die Modalverbkonstruktionen [ich+MV+sagen] erfüllen. Diese Konstruktionen kamen in der Bundespressekonferenz 1990 aus der pragmatischen Überlegung des Sprechers Helmut Kohl heraus zum Einsatz, um die Bundespressekonferenz als interaktives Format sprachlich zu markieren. Zugleich signalisiert Kohl, dass er die Interaktionspartner/innen insbesondere auf der ersten Realitätsebene auch dann zur Kenntnis nimmt, wenn er die kognitiv-verfestigten Konstruktionen [ich+MV+sagen] oft einleitend zur Widerlegung journalistischer Propositionen verwendete. Diese Konstruktionen bestehen aus der 1. Person Singular von Modalverben im engen Sinn, die semantisch die Sprechereinstellung zur journalistischen Proposition reflektieren, sowie dem Vollverb sagen, das – nach der Sprechakttheorie – die zu vollziehende sprachliche Handlung ankündigt. Die Aufgabenverteilung zwischen dem Modalverb und dem Vollverb sieht also vor, dass das Modalverb die eingenommene Sprecherperspektive aufzeigt, während der Mitteilungscharakter dieser Konstruktion – als repräsentativer Akt nach Searle (1980: 100–104) – sich semantisch aus der performativen Kraft des Vollverbs sagen ergibt. Vor oder nach dem Satzteil, in dem die festen Konstruktionen [ich+MV+sagen] vorkommen, wird eine aus Sicht des Sprechers als relevant angesehene Information erstmals geäußert oder betont wiederholt. Der Bezug auf bisher oder mehrmals Gesagtes oder noch zu Sagendes wird oft durch den Einsatz von Partikeln wie z. B. einmal, schon, wirklich (Adverb) pragmatisch verstärkt. Abhängig vom Einsatz der Partikeln im Umfeld der Modalverbkonstruktionen wird die persönliche Einstellung des Sprechers zur journalistischen Proposition pragmatisch noch stärker verdeutlicht. 6.2.2.3 Zwischenfazit zum Gebrauch der Modalverben im Redeanteil von Helmut Kohl in der Diskussion mit den Journalist/inn/en Die Beleganalysen zu den Modalverben im Redeanteil von Helmut Kohl in der Diskussion mit den Journalist/inn/en haben gezeigt, dass mit Hilfe von Modalverben unterschiedliche kommunikative Funktionen erfüllt werden können: Einerseits werden mit ihnen sich aus den Fragen der Journalist/inn/en ergebende negative

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6 Zur empirischen Analyse des Modalverbgebrauchs I

oder aus Sicht des Sprechers als unwahr erachtete Propositionen falsifiziert. Andererseits leiten sie in den Antworten Kohls oder in den auf diese folgenden Ergänzungen die vom Kanzler bevorzugten Handlungsalternativen ein. In der Konversation zwischen dem Politiker und den Journalist/inn/en haben die Modalverben in den Antworten des Kanzlers demnach „KORREKTUR-Charakter“ (vgl. Polenz 2008: 218). Wie auch die anderen Modalverben unterstützt das handlungsraumbezogene Modalverb müssen in den Antworten des ehemaligen Kanzlers funktional betrachtet die Sprecherargumentation dadurch, dass mit seiner Hilfe kritische Stimmen indirekt zurückgewiesen werden. Mithilfe der Beleganalyse der handlungsraumbezogenen Modalverben dürfen und müssen wurde außerdem gezeigt, dass diese v. a. in der Diskussion häufiger eingesetzt werden als im Eingangsstatement. Dadurch rückt die innere Einstellung der Sprecher/innen in der Interaktion mit den Journalist/inn/en grundsätzlich und im Allgemeinen stärker in den Vordergrund. Auch das im Eingangsstatement häufig gebrauchte handlungsraumbezogene Modalverb können und das proportional häufiger verwendete zielbezogene Modalverb sollen wurden eingesetzt, um Stellung zu Handlungsmöglichkeiten bzw. -notwendigkeiten zu beziehen, die sich entweder direkt oder indirekt als Teile der Ergänzungen in den Antworten aus den Fragen der Journalist/inn/en ergeben. Die Zukunftsorientierung bestimmt den Modalverbgebrauch in der Diskussion ebenso wie im Eingangsstatement – insbesondere in den Belegen mit sollen und müssen mit Abstrakta oder Indefinitpronomen in der Subjektposition –, obwohl in der Diskussion der Aspekt der Telizität mangels präpositionaler Erweiterungen mit Angaben zum voraussichtlichen Zeitpunkt der Abgeschlossenheit nicht oder nur selten erfüllt ist. Auch kamen als Ergebnis der Interaktion mit Journalist/inn/en kognitiv verfestigte Konstruktionen wie z. B. [ich+Modalverb+sagen] mit Modalverben in der 1. Person Singular bei der Versprachlichung persönlicher Einstellungen im Hauptsatz oder im Anschluss an eine ausführliche Argumentation zur Verdeutlichung des Standpunktes zur Proposition im Nebensatz zum Einsatz.

6.3 Resümee zum Modalverbgebrauch von Helmut Kohl in der Bundespressekonferenz vom 17.7.1990 Ein Vergleich der Modalverbverwendung im Eingangsstatement und in der Diskussion mit den Journalist/inn/en hat Folgendes gezeigt: Die Semantik des Modalverbgebrauchs wird im Gegensatz zum Eingangsstatement in den Antworten von Kohl auf die Fragen der Journalist/inn/en nicht primär durch den vom intratextu-

6.3 Resümee zum Modalverbgebrauch von Helmut Kohl 

129

ellen Kontext des Redners beeinflussten Redehintergrund, sondern vor allem durch interaktionale Überlegungen in der Konversation bestimmt. In den Antworten des Kanzlers auf die Fragen kamen die Modalverben dürfen und müssen häufiger vor, jedoch nicht wie von Imo (2007) und Hoffmann (2016) am Beispiel alltagssprachlicher Interaktionen festgestellt, um das Rederecht zu erkämpfen. Vielmehr wird durch diese interaktional verwendeten Modalverben den fragenden Journalist/inn/en signalisiert, dass in der Antwort Kohls explizit auf ihre Fragen eingegangen wird, weitere Ankündigungen folgen und im Fall des Modalverbs müssen in Fragen auftretende Propositionen im Sinne von Polenz semantisch korrigiert werden. Der Modalverbeinsatz kommt in den Antworten bei Standardsatzfolge mit Subjekt in Vorfeldposition in folgender Konstruktion vor: [Subjektpronomen meist der 1. Person Singular oder Plural bzw. Subjekt-Nominalphrase + Modalverb + Rest + Vollverb]. Wenn Modalverben in negierten Sätzen auftreten, ergibt sich in den Antworten folgende Formel: [Subjektpronomen meist der 1. Person Singular oder Plural bzw. Subjekt-Nominalphrase + Modalverb + Negationswort + Rest + Vollverb]. Während im Eingangsstatement der Modalverbgebrauch häufiger im Aktiv und ohne Negation erfolgte, konnte im Redeanteil von Helmut Kohl ein größerer Anteil von Negationen in Verbindung mit Modalverben oder auch eine erhöhte Anzahl mit Vorgangspassiv konstatiert werden. Die hohe Vorkommenshäufigkeit der Negation in Sätzen mit Modalverben ergibt sich häufig aus dem Frage-Antwort-Konzept, um Propositionen in den von Journalist/inn/en vollzogenen Äußerungen zu falsifizieren. Auch der Gebrauch der Modalverben in Vorgangspassivkonstruktionen oder in unpersönlichen Konstruktionen mit dem Indefinitpronomen man hat in den Antworten des Kanzlers einen ähnlichen pragmatischen Entstehungsgrund, nämlich um zu kontroversen Inhalten in den Fragen der Journalist/inn/en auf Abstand zu gehen. Eine tabellarische Auswertung (vgl. Tabelle 13) zeigte zudem, dass dürfen, können, müssen und wollen in den Antworten auf die Fragen der Journalist/inn/en im Unterschied zum Eingangsstatement besonders häufig in der festen interaktionalen Konstruktion [ich+Modalverb+sagen] vorkamen. Die Funktionen dieser Modalverbkonstruktionen fielen vielseitig aus, sie spielten jedoch in Übereinstimmung mit von Polenz insbesondere bei der Korrektur der Proposition journalistischer Beiträge eine große Rolle. Die tabellarischen Darstellungen zur Frequenz handlungsraum- und zielbezogener Modalverben haben außerdem bewiesen, dass sich die Vorkommenshäufigkeiten insbesondere der Modalverben dürfen und müssen im Eingangsstatement und im Redeanteil des Kanzlers in der Diskussion mit Journalist/inn/en deutlich unterscheiden. Hierbei zeigte die Beleganalyse, dass die unterschiedlichen Funktionen des Eingangsstatements und der Redebeiträge des Kanzlers in der Diskussion eine Erklärung für diese statistischen Abweichungen liefern können. Diese

130  6 Zur empirischen Analyse des Modalverbgebrauchs I

Abweichungen beim Modalverbeinsatz gehen auf die Intention des Politikers zurück, dass im Eingangsstatement Einschränkungen der eigenen Handlungsfreiheit oder der Handlungsfreiheit Dritter vermieden werden sollen. In der Diskussion dagegen wird interaktional kommunikative Kooperationsbereitschaft signalisiert. In Fällen von Disput kann auch eine kommunikative Grenzziehung erfolgen. So kamen die beiden semantisch durch die Einschränkung von Handlungsalternativen häufig politisch negativ besetzten Modalverben dürfen und müssen im Eingangsstatement, in dem Inhalte diplomatischer Verhandlungen und internationaler Verträge beschrieben und kollektivfördernde Ziele für die Wiedervereinigung und die darauffolgende Zeit festgelegt wurden, gar nicht bzw. nur 2-mal zum Einsatz. Auch gerieten externe Zwänge und Notwendigkeiten so nicht in ein semantisches Netzwerk mit historisch positiv besetzten Prozessen. Ein negatives Framing konnte durch den gezielten Modalverbeinsatz argumentativ verhindert werden. Nach der Untersuchung der können-Belege ließ sich feststellen, dass insbesondere das handlungsraumbezogene Modalverb können im Hauptsatz bei Verbzweitstellung häufig im Eingangsstatement in folgender Konstruktion vorkommt: [Präpositionalphrase/Adverb + Modalverb + Subjektpronomen der 1. Person Singular oder Plural + Rest + Vollverb]. Aus den syntaktisch meist weglassbaren, aber semantisch und pragmatisch notwendigen Präpositionalphrasen, die vor der linken Satzklammer vor dem Modalverb stehen, kann häufig der circumstantielle Gebrauch dieses Modalverbs erschlossen werden. Die Präpositionalphrasen vermitteln im Vorfeld die Hintergrundinformationen, um die extrasubjektiven Umstände für politische Handlungen im Zusammenhang mit internationalen Verträgen und Besprechungen einleitend zu nennen und den Handlungsrahmen für die anzukündigende politische Handlung darzustellen. Circumstantiell verwendete Modalverben folgen darauf zumeist, um den Handlungsrahmen als gesichert zu markieren. Die Satzserialisierung und der Modalverbeinsatz dienen folglich auch hier argumentativen Zwecken. Ein solcher argumentativ bedingter Einsatz handlungsraumbezogener Modalverben mit dem circumstantiellen Redehintergrund ist in der Bundespressekonferenz 1990, aber auch in anderen Bundespressekonferenzen musterhaft. Als wenig überraschend erweist sich das Untersuchungsergebnis, dass die handlungsraumbezogenen Modalverben mit dem circumstantiellen Redehintergrund oft Überschneidungen mit anderen zum Teil kommunikativ weniger dominanten Redehintergründen aufwiesen. Dies geht mit der Tatsache einher, dass Gründe für die Handlungsmöglichkeiten (können und in einigen wenigen Ausnahmen auch mit dürfen) und die Handlungsnotwendigkeiten (müssen) aufgezeigt wurden. Eine solche Überschneidung konnte mehrfach beim Modalverb können beobachtet werden und zwar in Belegen, in denen zum einen die Voraussetzungen für die Proposition (circumstantieller Redehintergrund) geschildert wurden, zum

6.3 Resümee zum Modalverbgebrauch von Helmut Kohl 

131

anderen eine Fokussierung auf die angekündigte politische Zielsetzung – Proposition – als teleologischer Redehintergrund erfolgte. Beim Modalverb müssen ließ sich hingegen eine Überschneidung des circumstantiellen Redehintergrunds immer wieder mit dem normativen Redehintergrund feststellen. Der circumstantielle Redehintergrund war darauf zurückzuführen, dass Gründe für die Handlungsnotwendigkeiten erläutert wurden. Neben der Erörterung dieser Handlungsnotwendigkeiten wurde durch den teleologischen Redehintergrund die Perspektive des Sprechers zum Ausdruck gebracht, ob die Ursprünge einer Handlung mit einer Norm, einer Konvention oder aber einer ethisch-moralischen Verpflichtung einhergehen. Während die zielbezogenen Modalverben sollen und insbesondere wollen eine hohe statistische Auffälligkeit zeigten, wurde das ebenfalls zielbezogene Modalverb mögen/möchte- aufgrund seiner schwächer ausgeprägten volitiven Semantik nur in wenigen Fällen beobachtet. Denn die häufige Verwendung des Modalverbs mögen/möchte- hätte das Bild eines in der politischen Psychologie notwendigerweise handlungswilligen Politikers konterkariert. Nach dem Redehintergrund wurden die am häufigsten verwendeten zielbezogenen Modalverben sollen und wollen teleologisch eingesetzt, jedoch ebenfalls in Überschneidung mit anderen Redehintergründen. Anhand der Beleganalysen stellte sich heraus, dass das Modalverb sollen neben dem teleologischen Redehintergrund auch durch normative Eigenschaften gekennzeichnet war. Der normative Charakter lässt sich mit der Sprecherperspektive erklären, ob der Sprecher den Ursprung einer Zielsetzung in einer Konvention, Norm etc. sieht. Beim Modalverb wollen tritt zur teleologischen Verwendung zusätzlich noch eine volitive Semantik hinzu, die die mentale Zustimmung des Sprechers zur kommunizierten Zielsetzung indiziert. Im Vergleich zum handlungsraumbezogenen Modalverb können kommen die zielbezogenen Modalverben im Eingangsstatement bei einer Standardsatzstellung, also mit Vorfeldfüllung durch das Subjekt, rekurrent in folgenden Konstruktionen vor: [Subjektpronomen der 1. Person Singular oder Plural bzw. Subjekt-Nominalphrase + Modalverb + Rest + Vollverb]. Während bei den handlungsraumbezogenen Modalverben oft eine Präpositionalphrase den Satz eröffnet, läuft die Informationsserialisierung bei den zielbezogenen Modalverben vorwiegend linear ab, beginnend mit dem Subjekt, und damit kognitiv subtiler. Dies kann darauf zurückgeführt werden, dass bei den zielbezogenen Modalverben nicht die Handlungsmöglichkeiten und -notwendigkeiten im Vordergrund stehen, sondern die angekündigte politische Zielsetzung. Kontinuität zeigte sich in der gesamten Bundespressekonferenz in der Funktion von dürfen, können, müssen, mögen, sollen und wollen als Modalverben. Nur in jeweils einem einzigen Fall konnten müssen und wollen als Vollverb beobachtet

132  6 Zur empirischen Analyse des Modalverbgebrauchs I

werden. Ein weiteres Merkmal der Kontinuität wurde in beiden Teilen der Bundespressekonferenz mit Blick auf das Tempus im Modalverbgebrauch festgestellt, nämlich eine stark ausgeprägte „Tempuskonstanz“ im Sinne von Hausendorf & Kesselheim (2008: 67): Die Sätze, in denen Modalverben auftreten, kamen hinsichtlich ihres temporalen Gebrauchs fast ausschließlich in präsentischer Form vor. Die beinahe kontinuierliche Tempuskonstanz im Präsens beim Modalverbgebrauch lässt sich pragmatisch-funktional zum einen darauf zurückführen, dass die Aktualität der Aussagen zur Wiedervereinigung fokussiert wird. Auf diese Weise konnten unterschiedliche Etappen des Verhandlungserfolgs beschrieben werden. Zum anderen liefert die präsentische Tempuskonstanz einen deiktischen Hinweis auf die innere Einstellung des Sprechers zu den aktuellen politischen Handlungszielen und Handlungserfolgen im situativen Kontext der Bundespressekonferenz. Eine grammatisch-semantische Klassifikation nach dem Forschungsdesign mit den Redehintergründen im Sinne von Zifonun (in Zifonun et al. 1997) erwies sich am Beispiel der Bundespressekonferenz 1990 mit Helmut Kohl als gewinnbringend. Denn diese ermöglichte es, die Mechanismen des Modalverbgebrauchs in der politischen Kommunikation zu erkennen. Als Ergebnis konnte ein in vielerlei Hinsicht musterhafter Modalverbgebrauch festgestellt werden. Infolge häufiger Redehintergrundüberschneidungen war eine Zuordnung zu mehreren Redehintergründen oft nur unter Rückgriff auf den Verwendungskontext des Modalverbs möglich. Das integrative Untersuchungsdesign bestehend aus Methoden der grammatischen Semantik, der Diskursanalyse und der Pragmatik erwies sich folglich als unabdingbar für eine Klassifikation nach den Redehintergründen. Methodologisch hat sich außerdem gezeigt, dass bei der Identifikation von Redehintergründen keine festen linguistischen Verfahren angewandt werden können. Vielmehr müssen Linguist/inn/en – wie in der Einleitung dargelegt – unter gleichzeitiger Berücksichtigung der Mikro-, Meso- und Makroebene die Zuordnung einzelner Modalverben im engeren Sinn zu einem oder mehreren Redehintergründen vornehmen. Daraus ergibt sich allerdings auch, dass Modalverben nach ihren Redehintergründen im Korpus quantitativ nicht messbar sind. Es lassen sich allerdings mit Rückgriff auf qualitative Arbeitsmethoden Tendenzen von Modalverbgebrauchsmustern erkennen. In Hinblick auf die argumentative Kraft der Modalverben konnte durch die Beleganalysen ein deutlicher Zusammenhang zwischen dem Modalverbgebrauch und dem Aufbau der Argumentationsstruktur im situativen Kontext festgestellt werden. Außerdem wurde nachgewiesen, dass Modalverben und die Semantik ihrer Redehintergründe abhängig von konkreten Argumentationskomplexen aus Gründen der Persuasion intendiert in Szene gesetzt wurden.

7 Zur empirischen Analyse des Modalverbgebrauchs IIa: Die Bundespressekonferenz vom 27.11.2013 anlässlich des Zustandekommens des Koalitionsvertrags zwischen CDU/CSU und SPD An der Bundespressekonferenz anlässlich des Zustandekommens des Koalitionsvertrags am 27.11.2013 nahmen im Unterschied zur Ein-Politiker-Bundespressekonferenz 1990 mit Helmut Kohl drei Politiker/innen teil. Damit lassen sich in dieser Bundespressekonferenz vergleichend die Redeanteile von Angela Merkel und der beiden Politiker Sigmar Gabriel und Horst Seehofer an der Gesamtrede statistisch aufschlüsseln. Außerdem können Ähnlichkeiten und Unterschiede des Modalverbgebrauchs nach den Redehintergründen in Hinblick auf die Argumentation auch personenbezogen erfasst werden. Diesem Unterschied zur Bundespressekonferenz von 1990 (Kapitel 6) ist deshalb auch der andere Untersuchungsaufbau in den Kapiteln 7 und 8 zur Bundespressekonferenz von 2013 geschuldet. Denn eine linguistische Analyse der Modalverben und Modalverbkonstruktionen in der Mehr-Politiker-Diskussion mit dem journalistischen Publikum ist interaktional deutlich aussagekräftiger als eine Analyse mit nur einem einzigen Politiker, wie dies in der Bundespressekonferenz 1990 mit Helmut Kohl der Fall war. Außerdem ist die Bundespressekonferenz 2013 auch als Aufzeichnung mit Bild und Ton verfügbar, so dass eine interaktional-linguistische Analyse der Diskussion aufgrund der Transkriptionsmöglichkeit nach den GAT 2-Normen (Selting et al. 2009) in dem eigenständigen Kapitel 8 separat erfolgen wird.1 Aus diesem Grund erfolgt in diesem Kapitel 7 zuerst die diskursanalytische Erläuterung der Bundespressekonferenz 2013. Anschließend werden die Statistiken zum Einsatz handlungsraum- und zielbezogener Modalverben dargestellt. Daraufhin werden die handlungsraum- und zielbezogenen Modalverben – wie bei Kohl – in den Eingangsstatements in zwei getrennten Subkapiteln auf Musterhaftigkeit überprüft. Neben der Musterhaftigkeit rücken auch die Ähnlichkeiten und Unterschiede des Modalverbgebrauchs von Angela Merkel, Sigmar Gabriel und Horst Seehofer in den Fokus. Simultan werden darüber hinaus Kontraste des Modalverbgebrauchs im Vergleich zum Modalverbeinsatz von Helmut Kohl in der Bundespressekonferenz 1990 aufgezeigt.

1 Zum Aufbau der Kapitel 6 bis 8 vgl. die Ausführungen in Kapitel 4. https://doi.org/10.1515/9783111245263-007

134 

7 Zur empirischen Analyse des Modalverbgebrauchs IIa

7.1 Diskursanalytischer Überblick Die Bundespressekonferenz vom 27.11.2013 besteht aus 12.052 Lexemen und davon 9.918 in Politikeräußerungen. Sie fand anlässlich des Zustandekommens des Koalitionsvertrags zwischen CDU/CSU und SPD statt. Sie folgte einer Reihe von Sitzungen im Rahmen der etwa zwei Monate anhaltenden Sondierungsgespräche und Koalitionsverhandlungen. In diesem Abschnitt werden die Diskursfaktoren der Bundespressekonferenz vom 17.7.1990 zur Kontextermittlung mit den „structures and processes of politics“ nach van Dijk (1997: 16 ff.) rekonstruiert. Auf der linken Seite werden wichtige Faktoren aus dem Modell „Strukturen und Prozesse der Politik“ präsentiert, auf der rechten die Ergebnisse der Anwendung dieser Faktoren an die Bundespressekonferenz vom 27.11.2013: Tab. 14: Structures and processes of politics

angewandt an die Bundespressekonferenz vom 27.11.2013

Societal domain or field

Politische Kommunikation

Political system

Demokratie

Political values

Soziale Sicherheit

Political ideology

Christ- und Sozialdemokratie

Political actors

Angela Merkel / Horst Seehofer / Sigmar Gabriel

Political institutions

die deutsche Bundesregierung

Political discourse

Mitgliedervotum der SPD über die Zukunft der Großen Koalition

Political process

Aufbau einer Großen Koalition

Political action

Ankündigung des Zustandekommens des Koalitionsvertrags (Makroebene) / Machterhalt (CDU/ CSU) und Machterwerb (SPD) als Teil eines Wahlkampfs (Mesoebene) / Profilierung eigener Parteien und der teilnehmenden Politikerin und der teilnehmenden Politiker (Mikroebene)

An der Bundespressekonferenz Ende November 2013 nahmen Angela Merkel (CDU), Sigmar Gabriel (SPD) und Horst Seehofer (CSU) als politische Akteurin und politische Akteure (Faktor 5) teil. Die Politikerin und die beiden Politiker sowie Mitarbeiter/innen des Vereins der Bundespressekonferenz und die anwesenden Journalist/inn/en fungierten – in Anlehnung an die Termini von Girnth (2002: 34) – in diesem politischen Format als primäre Akteure/Akteurinnen auf der „ersten

7.1 Diskursanalytischer Überblick 

135

Realitätsebene“. Die „sekundären Adressaten“ auf der „zweiten Realitätsebene“ sind die Mitglieder der jeweiligen Parteien sowie Bürger/innen des Landes. Der politische Prozess (Faktor 8), in dessen Rahmen diese Bundespressekonferenz veranstaltet wird, ist dem Aufbau der Großen Koalition nach den Wahlen im Jahr 2013 geschuldet. Diese Konferenz ist Teil des politischen Diskurses (Faktor 7), geprägt durch das Mitgliedervotum der SPD über die Zukunft der Großen Koalition.2 Die überwiegende Anzahl der Themen, die im Rahmen der Bundespressekonferenz besonders fokussiert wurden wie zum Beispiel die von der CDU/CSU vorangetriebene Mütterrente, die Erhöhung der Rente oder der von der SPD präferierte flächendeckende Mindestlohn, deutet darauf hin, dass die soziale Sicherheit den zentralen politischen Wert der Großen Koalition und auch dieser Konferenz (Faktor 3) bildet. Dies ist eng mit den Zielen und den Grundzügen der Christdemokratie und der Sozialdemokratie verbunden (Faktor 4). Der Faktor politische Handlung (Faktor 9 in der Tabelle) zeichnet sich infolge der Überschneidung unterschiedlichster Intentionen im Format durch eine hohe Komplexität aus. Um die primären politischen Handlungsziele grob zu erfassen,3 habe ich drei Analyseebenen ausgearbeitet. Die auf der Makroebene festgestellte politische Handlung in der Bundespressekonferenz richtet sich auf die Ankündigung des Zustandekommens des Koalitionsvertrags zwischen CDU/CSU und SPD. Auf der Mesoebene kann man gleichzeitig mehrere Handlungen konstatieren: (1) Es handelt sich schließlich bei der CDU/CSU um Machterhalt und (2) bei der SPD um Machterwerb, da diese die Legislaturperiode zuvor in der Opposition verbrachte. Ähnlich der Mesoebene wird auch auf der Mikroebene eine relativ hohe Komplexität beobachtet, denn die teilnehmende Politikerin/die teilnehmenden Po-

2 Der politische Diskurs um die Bundespressekonferenz am 27.11.2013 wurde durch das Mitgliedervotum der SPD überlagert, da es sich um die damals erste Parteimitgliederabstimmung über die Zukunft einer Koalition handelte. Für diese Feststellung spricht unter anderem auch, dass das Mitgliedervotum in der Presse wochenlang als Hauptthema favorisiert wurde. 3 Die Erfassung politischer Handlungsziele nimmt in meiner Arbeit keine zentrale Rolle ein und dient nur zur Darstellung eines Überblicks über das Format, um anschließend in den empirischen Kapiteln den Leser/inne/n das notwendige Hintergrundwissen bereit zu stellen und so das Verständnis zu erleichtern.

136 

7 Zur empirischen Analyse des Modalverbgebrauchs IIa

litiker versuchen die eigene Partei zu profilieren4 und zugleich sich selbst als strategisch geschickte Politiker/in5 zu inszenieren. Die Zukunft der Bildung der Großen Koalition war mit dem Zustandekommen des Koalitionsvertrags und dessen Ankündigung in der Bundespressekonferenz angesichts des ausstehenden Mitgliederreferendums der SPD noch nicht besiegelt. Insbesondere Sigmar Gabriel von der SPD folgte seiner zentralen Intention, die Mitglieder seiner Partei davon zu überzeugen, dass sie für die Große Koalition stimmen.6 Zwar nicht so explizit und nicht in dem Umfang wie Gabriel argumentierten aber auch Merkel und Seehofer7 dafür, dass die Abgeordneten der eigenen Partei für das Zustandekommen der Großen Koalition stimmen. Damit weist das Format der Bundespressekonferenz hier primär nicht nur eine informative Funktion im Sinne von Brinker (2005: 158), sondern auch eine starke Appellfunktion (ebd.) auf. Neben der informativen Funktion beeinflusst auch die appellative Funktion die Auswahl semantischer und grammatikalischer Einheiten, die als Teile kommunikativer Praktiken mit dem Ziel einer persuasiven Argumentation intendiert zum Einsatz kommen. Die Perlokution fiel auf der zweiten Realitätsebene 4 Vgl. zum Beispiel folgende Zitate von Merkel und Gabriel aus der Bundespressekonferenz: „Zentrale Versprechen, das kann ich für die Christlich-Demokratische Union sagen, die wir den Menschen während des Wahlkampfes gemacht haben, haben wir eingehalten, werden wir umsetzen können.“ (Angela Merkel, Z. 15–16) sowie „Denn die SPD ist seit 150 Jahren eine Partei, die sich dem Fortschritt für Menschen verpflichtet fühlt […]“ (Sigmar Gabriel, Z. 307–308). Auch Seehofer bemühte sich um die Profilierung seiner Partei: „Ich bin hochzufrieden mit dem Inhalt des Vertrages. Ich will auch sagen für die CSU, dass alle wesentlichen Wahlaussagen, Wahlversprechen eingehalten worden sind.“ (Horst Seehofer, Z. 317–319) Diesen Zitaten konnte man entnehmen, dass die politische Teilnehmerin/die politischen Teilnehmer als Teil einer komplexen politischen Profilierungsstrategie die eigene Partei als zuverlässig und vertrauenswürdig inszenieren. 5 Für die Selbstinszenierung der Politikerin/der Politiker stehen zwar keine expliziten Belege in den Statements, jedoch gehört diese zur kommunikativen Praktik der Politik. Außerdem ist auf der textinternen Ebene unter anderem auch der Gebrauch des Personalpronomens ich ein Indiz dafür, dass die eigene Person im Zusammenhang zu den Verhandlungsergebnissen häufig erwähnt wird. 6 Die Werbung für die Große Koalition kann v. a. folgender Textpassage aus der Bundespressekonferenz entnommen werden: „Insgesamt darf ich Ihnen sagen, dass gestern alle Mitglieder der Verhandlungskommission der SPD diesen Koalitionsvertrag einstimmig nicht nur gebilligt, sondern für gut und sehr gut empfunden haben. Wir haben heute alle unsere Mitglieder darüber informiert und auch die Mitglieder mit einem Brief aufgefordert, bei dem vor uns stehenden Mitgliedervotum mit Ja zu stimmen. […] Dieser Koalitionsvertrag macht es besser, stärkt Deutschland und Europa und deshalb werden die Mitglieder der SPD mit Sicherheit zustimmen. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!“ (Sigmar Gabriel, Z. 302–313). 7 Hierfür ein ausgewähltes Zitat aus der Bundespressekonferenz nach Horst Seehofer: „Ich werde meiner Partei am Freitagnachmittag, Parteivorstand und den Bundestagsabgeordneten in München den Koalitionsvertrag nochmal erläutern. Wir werden darüber abstimmen und dann ist dieses Kapitel für uns abgeschlossen.“ (Horst Seehofer, Z. 379–381)

7.2 Empirische Analyse des Modalverbgebrauchs in den Redeanteilen von Sigmar



137

entsprechend der primären Intention der Politikerin und der Politiker aus: 75,96 % der SPD-Mitglieder stimmte für die Große Koalition8, ebenso wie der Parteivorstand der CSU und seine Bundestagsabgeordneten am 29.11.2013 und die CDU und der Bundesausschuss der CDU am 9.12.2013.9

7.2 Empirische Analyse des Modalverbgebrauchs in den Redeanteilen von Sigmar Gabriel, Angela Merkel und Horst Seehofer in der Bundespressekonferenz am 27.11.2013 Nach der diskursanalytischen Erläuterung der Bundespressekonferenz 2013 wird in diesem Abschnitt der Modalverbeinsatz von Angela Merkel, Sigmar Gabriel und Horst Seehofer im Verhältnis zueinander statistisch dargestellt. Damit die Vorkommenshäufigkeit der Modalverben in dieser Bundespressekonferenz in Relation zur Länge der Beiträge untersucht werden kann, wird zuerst eine Statistik zu den Redebeiträgen der jeweiligen Politiker und der Politikerin gezeigt: Tab. 15: Gesamttext Redner

Wörter

%

Zeichen

%

Merkel

4.273

43,1 %

24.289

43,9 %

Gabriel

4.641

46,8 %

25.596

46,2 %

Seehofer

1.004

10,1 %

5.470

9,9 %

Summe

9.918

55.355

Eingangsstatements (41,4 % der Lexeme und 42,6 % der Zeichen der BPK 2013) Redner

Wörter

%

Merkel

1.374

33,5 %

7.859

33,4 %

Gabriel

2.244

54,6 %

12.980

55,1 %

489

11,9 %

2.723

11,6 %

Seehofer Summe

4.107

Zeichen

%

23.562

8 Siehe dazu http://www.spiegel.de/politik/deutschland/spd-mitgliederentscheid-sozialdemokraten-stimmen-fuer-grosse-koalition-a-939081.html, Zugriff am 08.02.2014 9 Siehe dazu http://www.bundestagswahl-bw.de/uebersicht_bundestagswahl.html, Zugriff am 08.02.2014.

138 

7 Zur empirischen Analyse des Modalverbgebrauchs IIa

Antwort auf Journalistenfragen (58,6 % der Lexeme und 57,4 % der Zeichen der BPK 2013) Redner

Wörter

%

Zeichen

%

Merkel

2899

49,9 %

16.430

51,7 %

Gabriel

2397

41,2 %

12.616

39,7 %

515

8,9 %

2747

8,6 %

Seehofer Summe

5811

31.793

Die Darstellung nach den Redebeiträgen der Politiker/innen in der Bundespressekonferenz zeigt deutlich, dass Sigmar Gabriels Beiträge mit 46,8 % der Tokens am längsten sind. Sein Eingangsstatement mit 54,6 % beträgt etwa 20 % mehr Tokens als das von Angela Merkel, deren Anteil bei 33,5 % der Wörter aller Eingangsstatements liegt. Den längsten Beitrag auf die Fragen der Journalist/inn/en liefert die ehemalige Kanzlerin mit 49,9 %. Der kürzeste Redeanteil ist mit insgesamt 10,1 % der Gesamttokenanzahl Horst Seehofer zuzuordnen. Aus Sicht der empirischen Modalverbanalyse ist es wichtig darauf hinzuweisen, dass die Eingangsstatements von Angela Merkel und Horst Seehofer deutliche Unterschiede zu dem von Sigmar Gabriel aufzeigen und sich durch konzeptionell schriftliche Merkmale auszeichnen. Wie wir es im Laufe des Kapitels 7 mehrfach beobachten werden, wird dies beim Modalverbeinsatz zu personenbezogenen Besonderheiten und damit zu Abweichungen zwischen den Redner/inne/n führen. In der Videoaufzeichnung der Bundespressekonferenz ist zu erkennen, dass Merkel und Seehofer Thesenblätter vorlagen, auf die sie sich in unterschiedlichem Maß stützten. Die ehemalige Kanzlerin schaute etwa jede zweite Sekunde auf ihr schriftlich ausgearbeitetes Konzept, beim damaligen bayerischen Ministerpräsidenten Seehofer erfolgten die Blicke unregelmäßiger als bei Merkel, trotzdem überwiegen auch in seinem Eingangsstatement die Merkmale konzeptionellschriftlicher Formate. Zwar lag auch Gabriel ein Konzept vor, aber er blickte nur gelegentlich in seine Notizen, während er sein Eingangsstatement abhielt. Im Unterschied zu den beiden anderen Statements weist der Beitrag des damaligen SPDParteivorsitzenden konzeptionell-mündliche Charakteristika auf, die beispielsweise mit dem häufigen Einsatz der gesprochensprachlichen Partikel sozusagen oder der vergleichsweise hohen Anzahl von Versprechern wie Koalitionsfakt und einer anschließenden Reparatur zu Koalitionsvertrag belegt werden kann. Durch die gleichermaßen gesprochensprachliche Konzeption der Äußerungen Gabriels sowohl in seinem Eingangsstatement als auch in der Fragerunde ist bei ihm der Modalverbgebrauch homogener als der von Merkel und Seehofer, die beide einen Wechsel von eher konzeptionell-schriftlichem Sprachgebrauch in den Eingangs-

7.2 Empirische Analyse des Modalverbgebrauchs in den Redeanteilen von Sigmar



139

statements hin zu konzeptionell-mündlichem Sprachgebrauch in der Diskussion vollziehen. In ihren Redeanteilen verwenden Angela Merkel, Sigmar Gabriel und Horst Seehofer insgesamt 184-mal die Modalverben dürfen, können, müssen, mögen/ möchte-, sollen und wollen. In der folgenden Tabelle 16 werden die Modalverben pro 1.000 Wörter (= tokens) im Korpus aufgeschlüsselt, um die relative Häufigkeit der Oberklassen der handlungsraum- und zielbezogenen Modalverben pro Redeanteil auszuweisen: Tab. 16: Modalverben pro 1.000 Tokens

Angela Merkel Eingangsstatement

Tokens

Diskussion

Sigmar Gabriel Eingangsstatement

Diskussion

Horst Seehofer Eingangsstatement

Diskussion

1374

2899

2244

2397

489

515

pro 1.000 T

pro 1.000 T

pro 1.000 T

pro 1.000 T

pro 1.000 T

pro 1.000 T

handlungsraumbezogene MV

11,6

15,5

9,8

7,9

6,1

11,7

dürfen

0,0

2,4

0,9

0,4

2,0

3,9

können

8,7

7,2

3,6

4,2

2,0

5,8

müssen

2,9

5,9

5,3

3,3

2,0

1,9

zielbezogene MV

8,7

4,8

9,8

6,7

14,3

3,9

mögen

0,7

0,7

0,4

0,0

6,1

0,0

sollen

0,7

1,7

1,3

2,1

2,0

0,0

wollen

7,3

2,4

8,0

4,6

6,1

3,9

möglichkeits-modal

8,7

9,7

4,5

4,6

4,1

9,7

willensmodal

8,0

3,1

8,5

4,6

12,3

3,9

notwendigkeitsmodal

3,6

10,0

7,6

5,8

6,1

5,8

Bei Sigmar Gabriel war die Häufigkeit der beiden Modalverboberklassen ähnlich hoch: Er verwendete im Eingangsstatement sowohl 9,8 handlungsraumbezogene wie zielbezogene Modalverben pro 1.000 Tokens und auch in der Diskussionsrun-

140 

7 Zur empirischen Analyse des Modalverbgebrauchs IIa

de liegen beide Oberklassen bei 7,9 bzw. 6,7 Modalverben pro 1.000 Tokens noch nahe beieinander. Bei Merkel und Seehofer hingegen sind die Unterschiede zwischen den beiden Redeteilen groß: Insbesondere in der Diskussion dominieren bei Merkel die handlungsraumbezogenen Modalverben mit 15,5 Modalverben pro 1.000 Tokens im Vergleich zu den zielbezogenen Modalverben mit nur 4,8 Modalverben pro 1.000 Tokens. Etwas schwächer fällt die Dominanz in ihrem Eingangsstatement mit 11,6 zu 8,7 Modalverben pro 1.000 Tokens aus. Die Entscheidung der Sprecherin, handlungsraumbezogene Modalverben zielbezogenen Modalverben gegenüber zu bevorzugen, ist allerdings nicht ungewöhnlich, denn auch in den anderen untersuchten Bundespressekonferenzen wurden handlungsraumbezogene Modalverben deutlich häufiger als zielbezogene gebraucht. Auch bei Seehofer ist das Bild in der Diskussion mit 11,7 zu nur 3,9 Modalverben pro 1.000 Tokens ähnlich eindeutig. Allein im Eingangsstatement Seehofers überwiegen die zielbezogenen Modalverben mit 14,3 Modalverben pro 1.000 Tokens im Gegensatz zu 6,1 handlungsbezogenen Modalverben pro 1.000 Tokens. Diese Auffälligkeit von Seehofers Eingangsstatement ist allerdings darauf zurückzuführen, dass er sich als dritter Redner nach Merkel und Gabriel im handlungsbezogenen Argumentationsbereich v. a. der Vorsitzenden der CSU-Schwesterpartei CDU, Angela Merkel, anschließt und sich mit nur 489 Tokens sehr kurz fasst. In der Diskussion wurden die drei Personen weitestgehend direkt adressiert, so dass hier bei Seehofer wie bei Merkel trotz der weiterhin erheblich geringeren Tokenanzahl die handlungsraumbezogenen Modalverben dominieren. Unterteilt man die Modalverben in drei Subklassen nach Möglichkeitsmodalität (können, dürfen), Notwendigkeitsmodalität (müssen, sollen) sowie nach Willensmodalität (wollen, mögen/möchte-), fällt auf, dass Merkel in ihrem konzeptionell schriftsprachlichen Eingangsstatement auf die Notwendigkeitsmodalität mit nur 3,6 Modalverben pro 1.000 Tokens weitgehend verzichtet und stattdessen auf Gewolltes und Mögliches eingeht. In der Diskussion wiederum bringt sie vor allem Mögliches und Notwendiges zum Ausdruck. Gabriel bringt in seinem konzeptionell gesprochensprachlichen Eingangsstatement dominant Notwendigkeiten und Gewolltes zum Ausdruck. Dies liegt daran, dass der SPD-Vorsitzende diese Bundespressekonferenz als Werbeveranstaltung für eine Zustimmung beim SPD-Mitgliederentscheid über den Koalitionsvertrag angesehen hat. Hierfür stehen als Indizien, dass Gabriel aus SPD-Sicht notwendige und gewollte Pläne und Ziele der Koalition und keineswegs unsichere Vorhaben versprachlichte. Seine Redebeiträge in der Diskussion weisen wiederum eine sehr gleichmäßige Verteilung der Modalitäten auf. Seehofers Eingangsstatement ist häufig willensmodal, seine Antworten in der Diskussion sind dagegen stark möglichkeitsmodal. Allerdings spricht er sehr wenig

7.2 Empirische Analyse des Modalverbgebrauchs in den Redeanteilen von Sigmar



141

(weniger als 25 % der Tokenanzahl von Merkel und Gabriel) und ergänzt oft nur das von Merkel und Gabriel bereits Gesagte.

7.2.1 Die statistische und exemplarische Analyse des Modalverbgebrauchs in der Bundespressekonferenz vom 27.11.2013 In diesem Abschnitt wird der Modalverbgebrauch in der Bundespressekonferenz am 27.11.2013 statistisch und exemplarisch analysiert. Die Tabellen 17 und 18 beinhalten die numerischen Verhältnisse, getrennt in handlungsraum- und zielbezogene Modalverben. Tabelle 19 präsentiert eine statistische Gesamtschau unter Angabe der Prozentanteile. Tab. 17: Handlungsraum- Person bezogene Modalverben (dürfen, können, müssen)

Präsens Präteritum Präteritum Futur I Indikativ Indikativ Konjunktiv II

Zwischen- insgesumme samt

Modalverb dürfen Angela Merkel

13 insgesamt

7

Merkel Eininsgegangsstatement samt

0

Merkel Diskussion

7

Sigmar Gabriel

insgesamt 1. Pers. Sg.

3

3

3. Pers. Pl.

210

2

Siezform Pl.

1

1

Infinitivform11

1

1

insgesamt

3

10 Das Modalverb dürfen wird in einem der beiden Fälle mit Negation verwendet. 11 Das Modalverb dürfen wird in dem gekennzeichneten Fall (entscheiden dürfen müssen) abhängig von müssen verwendet, deshalb steht das Verb in der Infinitivform.

142 

7 Zur empirischen Analyse des Modalverbgebrauchs IIa

Handlungsraum- Person bezogene Modalverben (dürfen, können, müssen)

Präsens Präteritum Präteritum Futur I Indikativ Indikativ Konjunktiv II

Zwischen- insgesumme samt

Gabriel Eininsgegangsstatement samt

Gabriel Diskussion

1. Pers. Sg.

1

1

3. Pers. Sg.

112

1

insgesamt 2. Pers. Sg.13

Horst Seehofer

2

1 1

1

insgesamt

3

Seehofer Eininsgegangsstatement samt

1

3. Pers. Sg.14

1

1

Seehofer Diskus- insgesion samt

2

1. Pers. Sg.

1

1

3. Pers. Sg.15

1

1

Modalverb können

55

Angela Merkel

insgesamt

33

Merkel Eingangsstatement

insgesamt

12

1. Pers. Sg.

1

1

12 Das Modalverb dürfen wird in dem gekennzeichneten Fall in Vorgangspassiv mit Negation verwendet. 13 Du darfst wird hier im Sinne von man darf verwendet. 14 Die 3. Person Singular des Modalverbs dürfen wird zusammen mit dem Indefinitpronomen man verwendet. 15 Die 3. Person Singular des Modalverbs dürfen wird auch im Interview mit man kombiniert. Dabei handelt es sich in diesem Fall um eine Negation.

7.2 Empirische Analyse des Modalverbgebrauchs in den Redeanteilen von Sigmar

Handlungsraum- Person bezogene Modalverben (dürfen, können, müssen)

Präsens Präteritum Präteritum Futur I Indikativ Indikativ Konjunktiv II

3. Pers. Sg.

416

1. Pers. Pl.

4

3.Pers. Pl.

1



143

Zwischen- insgesumme samt

4 1 1

5 2

Merkel Diskussi- insgeon samt

21

1. Pers. Sg.

317

3.Pers. Sg.

518

1. Pers. Pl.

621

6

3. Pers. Pl.

122

1

Siezform Pl.

1

1

119

1

4

220

8

16 Das Modalverb können wird im Eingangsstatement von Angela Merkel in der Bundespressekonferenz am 27.11.2013 insgesamt 4-mal in der 3. Person Singular verwendet, davon 2-mal jedoch mit man und nicht in Kombination mit einem Substantiv. 17 Das Modalverb können wird in den Antworten von Angela Merkel auf die Fragen der Journalist/inn/en in der 1. Person Singular insgesamt 4-mal verwendet – in drei Fällen in Präsens und in einem Fall in Futur I. In einem von den insgesamt vier Fällen handelt es sich um eine Negation. 18 Das Modalverb können wird von Angela Merkel in den Antworten auf die Fragen der Journalist/inn/en in der 3. Person Singular in Präsens insgesamt 5-mal gebraucht. In vier von fünf Fällen tritt das Modalverb können mit dem unbestimmten Pronomen man auf, davon einmal negiert. Einmal wird können im Vorgangspassiv verwendet. 19 Das Modalverb können wird von Angela Merkel in den Antworten auf die Fragen der Journalist/inn/en in der 3. Person Singular im Präteritum mit dem Indefinitpronomen man kombiniert. 20 Das Modalverb können wird in den Antworten auf die Fragen der Journalist/inn/en von Angela Merkel in der 3. Person Singular Konjunktiv II einmal mit dem Scheinsubjekt es verwendet. In dem zweiten Fall handelt es sich um eine Negation. 21 Das Modalverb können tritt in den Antworten von Angela Merkel auf die Fragen der Journalist/inn/en in der 1. Person Plural insgesamt 6-mal auf. Einmal davon handelt es sich um eine Negation. 22 Das Modalverb können wird in den Antworten von Angela Merkel auf die Fragen der Journalist/inn/en einmal in der 3. Person Plural in Präsens verwendet und zwar in einer Konstruktion im Vorgangspassiv.

144 

7 Zur empirischen Analyse des Modalverbgebrauchs IIa

Handlungsraum- Person bezogene Modalverben (dürfen, können, müssen) Infinitiv Sigmar Gabriel

Präsens Präteritum Präteritum Futur I Indikativ Indikativ Konjunktiv II 123

Zwischen- insgesumme samt

1

insgesamt

18

Gabriel Eininsgegangsstatement samt

8

1. Pers. Sg. 3. Pers. Sg.

124

1. Pers. Pl.

2

1

1

225

3 2

3. Pers. Pl.

1

1

Siezform Pl.

1

1

Gabriel Diskussi- insgeon samt

10

1.Pers. Sg.

226

2

3.Pers. Sg.

327

3

1. Pers. Pl.

1

1

3. Pers. Pl.

2

2

23 Das Modalverb können wird in den Antworten von Angela Merkel auf die Fragen der Journalist/inn/en einmal als Infinitiv gebraucht, der vom Modalverb müssen abhängig ist. 24 Das Modalverb können wird in der Bundespressekonferenz am 27.11.2013 im Eingangsstatement von Sigmar Gabriel in Präsens in der 3. Person Singular einmal verwendet. Hierbei handelt es sich um eine Negation. 25 Das Modalverb können tritt in dem Eingangsstatement von Sigmar Gabriel in der Bundespressekonferenz am 27.11.2013 im Konjunktiv II in der 3. Person Singular insgesamt 2-mal auf, einmal davon wird können mit dem Indefinitpronomen man kombiniert. 26 In einem der beiden Fälle handelt es sich um eine Negation. 27 In allen drei Fällen wird das Modalverb können in den Antworten auf die Fragen der Journalist/inn/en in der Bundespressekonferenz am 27.11.2013 von Sigmar Gabriel in Kombination mit man verwendet, einmal davon handelt es sich um eine Negation.

7.2 Empirische Analyse des Modalverbgebrauchs in den Redeanteilen von Sigmar

Handlungsraum- Person bezogene Modalverben (dürfen, können, müssen) Siezform Pl. Horst Seehofer

Präsens Präteritum Präteritum Futur I Indikativ Indikativ Konjunktiv II 2



145

Zwischen- insgesumme samt

2

insgesamt

4

Seehofer Eininsgegangsstatement samt

1

3. Pers. Pl.

128

1

Seehofer Diskus- insgesion samt

3

1. Pers. Sg.

1

3. Pers. Sg.

129

1

2 1

Modalverb müssen Angela Merkel

43 insgesamt

21

Merkel Eininsgegangsstatement samt

4

1. Pers. Pl. Merkel Diskussion

2

2

4

insgesamt

17

3. Pers. Sg.

430

1. Pers. Pl.

5

2

3. Pers. Pl.

3

1

4 1

8 4

28 Das Modalverb können tritt in dem Eingangsstatement von Horst Seehofer in der Bundespressekonferenz am 27.11.2013 insgesamt einmal auf – in Präsens, 3. Person Plural – im Vorgangspassiv auf. 29 Das Modalverb können wird in der Bundespressekonferenz am 27.11.2013 in den Antworten auf die Fragen der Journalist/inn/en im Präsens in der 3. Person Singular einmal verwendet und nämlich nur in Kombination mit man. 30 Das Modalverb müssen kommt in dem Redebeitrag von Merkel in der Diskussion mit Journalist/inn/en einmal von 4 Fällen in der 3. Person Singular mit Vorgangspassiv vor.

146 

7 Zur empirischen Analyse des Modalverbgebrauchs IIa

Handlungsraum- Person bezogene Modalverben (dürfen, können, müssen) Siezform Sg.

Präsens Präteritum Präteritum Futur I Indikativ Indikativ Konjunktiv II 1

Zwischen- insgesumme samt

1

Sigmar Gabriel

20

Gabriel Eininsgegangsstatement samt

12

Gabriel Diskussion

Horst Seehofer

1. Pers. Sg.

2

2

3. Pers. Sg.

831

8

1. Pers. Pl.

1

1

Infinitiv

1

1

insgesamt

8

3. Pers. Sg.

532

5

3. Pers. Pl.

1

1

Siezform Sg.

1

1

Siezform Pl.

1

1

insgesamt

2

Seehofer Eininsgegangsstatement samt

1

3. Pers. Sg.

133

1

31 Das Modalverb müssen tritt in dem Eingangsstatement von Sigmar Gabriel 7-mal von insgesamt 8 Fällen in der 3. Person Singular mit dem Indefinitpronomen man auf. Im achten Fall kommt müssen mit dem Scheinsubjekt es vor. 32 In dem Redebeitrag Sigmar Gabriels in der Diskussion mit Journalist/inn/en steht das Modalverb müssen in der 3. Person Singular 3-mal mit dem Indefinitpronomen man und einmal mit dem Scheinsubjekt es. In zwei von fünf Fällen tritt müssen im Satz mit dem Kopulaverb sein auf. In einem von fünf Fällen liegt eine Negation in dem Teilsatz vor, in dem dieses Modalverb verwendet wird. 33 In dem Eingangsstatement Horst Seehofers kommt das Modalverb müssen in der 3. Person Singular mit dem Indefinitpronomen man vor.

7.2 Empirische Analyse des Modalverbgebrauchs in den Redeanteilen von Sigmar

Handlungsraum- Person bezogene Modalverben (dürfen, können, müssen) Seehofer Diskussion

Präsens Präteritum Präteritum Futur I Indikativ Indikativ Konjunktiv II

147

Zwischen- insgesumme samt

insgesamt 3. Pers. Sg.



1 134

1

Folgende Tabelle 18 beinhaltet die numerische Verteilung zielbezogener Modalverben in der Bundespressekonferenz zum Zustandekommen des Koalitionsvertrags: Tab. 18: Zielbezogene Modalverben mögen, sollen, wollen

Person

Präsens

Präteritum Präteritum Futur I Indikativ Konjunktiv II

Zwischen- insgesumme samt

Modalverb mögen

7

Angela Merkel

insgesamt

3

Merkel Eingangsstatement

insgesamt

1

1. Pers. Sg. Merkel Diskussion

1

1

insgesamt Infinitiv

2 2

2

Sigmar Gabriel

insgesamt

1

Gabriel Eingangsstatement

insgesamt

1

3. Pers. Sg.

135

1

34 In dem Redebeitrag Horst Seehofers in der Diskussion mit Journalist/inn/en tritt das Modalverb müssen in der 3. Person Singular mit dem Indefinitpronomen man auf. 35 Das Modalverb mögen wird in dem Eingangsstatement von Gabriel in der 3. Person Singular mit dem Indefinitpronomen man verwendet.

148 

7 Zur empirischen Analyse des Modalverbgebrauchs IIa

Zielbezogene Modalverben mögen, sollen, wollen

Person

Gabriel Diskussion

insgesamt

0

Horst Seehofer

insgesamt

3

Seehofer Eingangsstatement

insgesamt

3

Präsens

1. Pers. Sg.

Präteritum Präteritum Futur I Indikativ Konjunktiv II

3

Zwischen- insgesumme samt

3

Seehofer Diskus- insgesion samt

0

Modalverb sollen

15

Angela Merkel

insgesamt

6

Merkel Eingangsstatement

insgesamt

1

3. Pers. Sg.36 Merkel Diskussion

1

insgesamt

5

1. Pers. Sg.

137

3. Pers. Sg.

138

1. Pers. Pl. 3. Pers. Pl. Sigmar Gabriel

1

insgesamt

1

1 1

2

1

1 1 8

36 Das Modalverb sollen tritt in der 3. Person Singular mit dem Kopulaverb sein auf. 37 In der Diskussion mit Journalist/inn/en tritt im Redebeitrag von Merkel das Modalverb sollen in der 1. Person Singular in einem negierten Satz auf. 38 In dem Redebeitrag von Angela Merkel tritt sollen in der 3. Person Singular in einem Satz mit Vorgangspassiv auf.

7.2 Empirische Analyse des Modalverbgebrauchs in den Redeanteilen von Sigmar 

Zielbezogene Modalverben mögen, sollen, wollen

Person

Gabriel Eingangsstatement

insgesamt 3. Pers. Sg.

Gabriel Diskussion

Präsens

Präteritum Präteritum Futur I Indikativ Konjunktiv II

149

Zwischen- insgesumme samt

3

3

3

insgesamt

5

1. Pers. Sg.

1

3. Pers. Sg.

340

139

2 3

Horst Seehofer

insgesamt

1

Seehofer Eingangsstatement

insgesamt

1

3. Pers. Sg.

1

1

Seehofer Diskus- insgesion samt

0

Modalverb wollen

51

Angela Merkel

insgesamt

17

Merkel Eingangsstatement

insgesamt

10

1. Pers. Pl.

941

1

10

39 In diesem Fall wird das Modalverb sollen in Konjunktiv II in einem negierten Satz in dem Redebeitrag von Sigmar Gabriel in der Diskussion mit Journalist/inn/en verwendet. 40 In dem Redebeitrag von Gabriel wird das Modalverb sollen in der 3. Person Singular 3-mal verwendet, davon einmal mit dem Indefinitpronomen man und einmal mit dem Scheinsubjekt es. In letztem Fall handelt es sich um einen Modalverbeinsatz in einem negierten Satz. 41 Das zielbezogene Modalverb wollen kommt im Eingangsstatement von Angela Merkel in der Bundespressekonferenz am 27.11.2013 in der 1. Person in einem Fall in einem Satz mit Vorgangspassiv vor. In einem anderen Fall tritt das in einem negierten Satz auf. In 7 von 9 Fällen fungiert dieses Modalverb im Satz als Hilfsverb und 2-mal als Vollverb auf.

150  7 Zur empirischen Analyse des Modalverbgebrauchs IIa

Zielbezogene Modalverben mögen, sollen, wollen

Person

Merkel Diskussion

insgesamt

Präsens

Präteritum Präteritum Futur I Indikativ Konjunktiv II

Zwischen- insgesumme samt

7

1. Pers. Sg.

2

1. Pers. Pl.

342

3

1

1

Infinitiv43

1

3

Sigmar Gabriel

insgesamt

29

Gabriel Eingangsstatement

insgesamt

18

Gabriel Diskussion

1. Pers. Sg.

7

7

1. Pers. Pl.

8

8

3. Pers. Pl.

3

3

insgesamt

11

3. Pers. Sg.

144

1. Pers. Pl.

545

5

2. Pers. Pl.

146

1

Siezform Sg.

347

3

1

2

42 In dem Redebeitrag der Kanzlerin in der Diskussion mit Journalist/inn/en fungiert das Modalverb wollen in einem der drei Fälle als absolutes Modalverb. 43 In dem gekennzeichneten Fall kommt das Modalverb wollen als Teil einer zu+Infinitiv-Konstruktion negiert vor. 44 Gabriel verwendet ich will das Modalverb wollen als Vollverb in der Diskussion. 45 In der Diskussion tritt wollen bei Gabriel in der 1. Person Plural 3-mal mit Negation und einmal mit Vorgangspassiv auf. 46 In der Diskussion kommt wollen in der 2. Person Plural bei Gabriel als Vollverb vor. 47 Einmal verwendet Gabriel wollen in wenn Sie so wollen als Vollverb.

7.2 Empirische Analyse des Modalverbgebrauchs in den Redeanteilen von Sigmar



151

Zielbezogene Modalverben mögen, sollen, wollen

Person

Horst Seehofer

insgesamt

5

Seehofer Eingangsstatement

insgesamt

3

1. Pers. Sg.

Präsens

248

Präteritum Präteritum Futur I Indikativ Konjunktiv II

149

Zwischen- insgesumme samt

3

Seehofer Diskus- insgesion samt

2

1. Pers. Sg. 1. Pers. Pl.

1 150

1 1

48 Bei Horst Seehofer in dem Eingangsstatement in einem der beiden Fälle in negiertem Satz. 49 Seehofer verwendet im Eingangsstatement wollen im Präteritum absolut. 50 In dem Diskussionsbeitrag von Seehofer in der 1. Person Plural in einem Satz mit Negation.

152  7 Zur empirischen Analyse des Modalverbgebrauchs IIa

Im Folgenden wird eine Statistik des Modalverbgebrauchs in der Bundespressekonferenz vom 27.11.2013 präsentiert, in der die prozentuale Verteilung einzelner handlungsraumbezogener und zielbezogener Modalverben angegeben wird: Tab. 19: 184 Modalverben

1. Person

2. Person 3. Person bzw. Siezform

Tempus

Handlungs- dürfen, könraumbezonen, müssen gene Modalverben Modalverb dürfen

Modalverb können

Gesamt 111 60,3 % (v. 184)

Eingangsstatement (41,4 % der Wörter): 3 23,1 % Antworten auf Fragen (58,6 % der Wörter): 10 76,9 %

1. Pers.: Sg.: 5 38,5 % Pl.: 0 0,0 %

Eingangsstatement (41,4 % der Wörter): 21 38,2 % Antworten auf Fragen (58,6 % der Wörter): 34 61,8 %

1. Pers.: Sg.: 10 18,2 % Pl.: 14 25,5 %

2. Pers.: Sg.: 1 7,7 % Pl.: 0 0,0 %

3.Pers. Sg.: 3 23,1 % Pl.: 2 15,4 %

Siezen: Sg.: 0 0,0 % Pl.: 1 7,7 %

Inf.51: 1 7,7 %

2. Pers.: Sg.: 0 0,0 % Pl.: 0 0,0 %

3.Pers. Sg.: 19 34,5 % Pl.: 7 12,7 %

Siezen: Sg.: 0 0,0 % Pl.: 4 7,2 %

Inf.52: 1 1,8 %

Präs.: 13 100,0 %

13 11,7 % (v. 111) 7,1 % (v. 184)

Präs.: 41 74,5 % Prät. Ind.: 3 5,5 % Konj. II: 8 14,5 % Futur I: 3 5,4 %

55 49,5 % (v. 111) 29,9 % (v. 184)

51 Der Infinitiv ist abhängig von einem finiten Verb der 3. Pers. Plural. 52 Der Infinitiv ist abhängig von einem finiten Verb der 3. Pers. Plural.

7.2 Empirische Analyse des Modalverbgebrauchs in den Redeanteilen von Sigmar

184 Modalverben Modalverb müssen

Eingangsstatement (41,4 % der Wörter): 17 39,5 % Antworten auf Fragen (58,6 % der Wörter): 26 60,5 %

153

1. Person

2. Person 3. Person bzw. Siezform

Tempus

Gesamt

1. Pers.: Sg.: 2 4,7 % Pl.: 13 30,2 %

2. Pers.: Sg.: 0 0,0 % Pl.: 0 0,0 %

3.Pers. Sg.: 19 44,2 % Pl.: 5 11,6 %

43 38,7 % (v. 111) 23,4 % (v. 184)

Siezen: Sg.: 2 4,7 % Pl.: 1 2,3 %

Inf.53: 1 2,3 %

Präs.: 37 86,0 % Prät. Ind.: 5 11,6 % Konj. II: 0 0,0 % Futur I: 1 2,3 %

Zielbezogene Modalverben

mögen, sollen, wollen

Modalverb mögen

Eingangsstatement (41,4 % der Wörter): 5 71,4 % Antworten auf Fragen (58,6 % der Wörter): 2 28,6 %

1. Pers.: Sg.: 4 57,1 % Pl.: 0 0,0 %

Eingangsstatement (41,4 % der Wörter): 5 33,3 % Antworten auf Fragen (58,6 % der Wörter): 10 66,7 %

1. Pers.: Sg.: 3 20,0 % Pl.: 1 6,7 %

Modalverb sollen



73 39,7 % (v. 184) 2. Pers.: Sg.: 0 0,0 % Pl.: 0 0,0 %

3.Pers. Sg.: 1 14,3 % Pl.: 0 0,0 %

Siezen: Sg.: 0 0,0 % Pl.: 0 0,0 %

Inf.54: 2 28,6 %

2. Pers.: Sg.: 0 0,0 % Pl.: 0 0,0 %

3.Pers. Sg.: 10 66,7 % Pl.: 1 6,7 %

Siezen: Sg.: 0 0,0 % Pl.: 0 0,0 %

Präs.: 3 42,9 % Prät. Ind.: 0 0,0 % Konj. II: 4 57,1 %

7 9,3 % (v. 73) 3,8 % (v. 184)

Präs.: 11 73,3 % Prät. Ind.: 0 0,0 % Konj. II: 4 26,7 %

15 20,5 % (v. 73) 8,2 % (v. 184)

53 Der Infinitiv ist als erweiterter Infinitiv abhängig von einem Hauptsatz mit finitem Verb in der 3. Person Plural. 54 Hier als Vollverb gebraucht.

154 

7 Zur empirischen Analyse des Modalverbgebrauchs IIa

184 Modalverben Modalverb wollen

Eingangsstatement (41,4 % der Wörter): 31 60,8 % Antworten auf Fragen (58,6 % der Wörter): 20 39,2 %

1. Person

2. Person 3. Person bzw. Siezform

Tempus

Gesamt

1. Pers.: Sg.: 14 27,4 % Pl.: 27 52,9 %

2. Pers.: Sg.: 0 0,0 % Pl.: 1 2,0 %

3.Pers. Sg.: 2 3,9 % Pl.: 3 5,9 %

51 69,9 % (v. 73) 27,7 % (v. 184)

Siezen: Sg.: 3 5,9 % Pl.: 0 0,0 %

Inf.55: 1 2,0 %

Präs.: 46 90,2 % Prät. Ind.: 4 7,8 % Konj. II: 1 2,0 %

In der Bundespressekonferenz vom 27.11.2013 konnten insgesamt 184 Modalverben gefunden werden. Der Anteil handlungsraumbezogener Modalverben im Vergleich zu den zielbezogenen liegt bei 60,3 % zu 39,7 %. Mit 29,9 % aller Modalverben ist erwartungsgemäß können das häufigste Modalverb in der Bundespressekonferenz und tritt besonders häufig in der 1. Person Singular und Plural sowie der 3. Person Singular auf. Dieser Befund stimmt mit den Ergebnissen aus dem statistischen Kapitel 4 und der Annahme von Weinrich (2003: 297) überein, dass das Modalverb können „das häufigste Modalverb der deutschen Sprache“ ist. An der zweiten Stelle steht wollen mit 27,7 % aller Modalverben. Dieses Ergebnis weist eine Abweichung zum Gesamtkorpus auf, in dem das Modalverb müssen an zweiter Stelle auf können folgt und wollen erst an dritter Stelle steht. Dieser Befund unterscheidet sich damit auch von Weinrichs (2003: 303) Annahme, nach der das Modalverb wollen das dritthäufigste Modalverb des Deutschen sei. Im Laufe dieses Abschnitts wird gezeigt, dass diese Abweichung hinsichtlich der Frequenz von wollen darauf zurückzuführen ist, dass in der Bundespressekonferenz 2013 im Unterschied zu vielen anderen Bundespressekonferenzen keine bereits beschlossenen politischen Maßnahmen angekündigt, sondern künftige politische Zielsetzungen erläutert werden. Der häufige Gebrauch des Modalverbs wollen ist in der politischen Kommunikation hinsichtlich des persuasiven Wertes einer Äußerung besonders sinnvoll, wenn für politische Zielsetzungen geworben wird. Denn die positiv framende Verbsemantik von wollen hebt durch eine klare Zielsetzung die Zukunftsorientierung von Parteien oder Politiker/inne/n argumentativ hervor. Auf das Modalverb wollen folgt an dritter Stelle das handlungsraumbezogene müssen mit 23,4 %, das Weinrich (2003: 300) zufolge nach können das zweithäufigste Modalverb im Deutschen sei. Trotz der häufigen Verwendung des Modalverbs 55 Der Infinitiv ist abhängig von einem finiten Verb der 3. Pers. Singular.

7.2 Empirische Analyse des Modalverbgebrauchs in den Redeanteilen von Sigmar



155

müssen wird auch in dieser Bundespressekonferenz dieses einen negativen Handlungszwang ausdrückende Modalverb von konkreten Agent/inn/en, aber insbesondere vom Kollektiv der Deutschen ferngehalten. Hierfür sprechen die statistischen Auswertungen, denn in 44,2 % der Fälle kommt dieses Modalverb in der 3. Person Singular, häufig mit dem Indefinitpronomen man und dem Scheinsubjekt es zum Einsatz. In 11,6 % der Fälle steht müssen in der 3. Person Plural. Mit 8,2 % nimmt das Modalverb sollen den vierten Platz ein. Ähnlich müssen tritt in dieser Bundespressekonferenz auch sollen am häufigsten in der 3. Person Singular auf, insbesondere in Distanz erzeugenden vorgangspassivischen Konstruktionen oder mit dem Modalverb man. 7,1 % aller Modalverben stellt das Modalverb dürfen dar, das in der politischen Kommunikation vor allem in negierten Sätzen oder in Sätzen ohne klare Definierung eines Agens beobachtet werden kann. Diese vergleichsmäßig hohe Vorkommenshäufigkeit des in der politischen Kommunikation meistens gemiedenen Modalverbs dürfen ist auffällig. Die Gründe hierfür werden bei der exemplarischen Beleganalyse im nächsten Abschnitt erläutert. Wie in Kapitel 6 festgestellt, liegt die Vorkommenshäufigkeit des Modalverbs dürfen in der Bundespressekonferenz 1990 mit Helmut Kohl nur bei 2,9 % und im Gesamtkorpus bei nur 4,8 %. An der letzten Stelle steht das Modalverb mögen mit 3,8 % aller Modalverben. Es wird in 57,1 % der Fälle im Konjunktiv II gebraucht. Diese Zahl divergiert nicht wesentlich von dem Einsatz des Modalverbs mögen in den anderen untersuchten Bundespressekonferenzen.

7.2.2 Die Modalverben in den Eingangsstatements von Sigmar Gabriel, Angela Merkel und Horst Seehofer in der Bundespressekonferenz vom 27.11.2013 7.2.2.1 Die handlungsraumbezogenen Modalverben dürfen, können und müssen in den Eingangsstatements von Sigmar Gabriel, Angela Merkel und Horst Seehofer Ähnlich dem Eingangsstatement von Helmut Kohl tritt können auch im Eingangsstatement der zwei Politiker und der Politikerin in der Bundespressekonferenz anlässlich des Zustandekommens des Koalitionsvertrags zwischen CDU/CSU und SPD im Jahr 2013 am häufigsten auf, gefolgt von müssen und an der letzten Stelle von dürfen. Die Verteilung des Modalverbs können auf die Eingangsstatements divergiert von Sprecher/in zu Sprecher/in. Unter den politischen Akteuren/Akteurinnen greift Angela Merkel am häufigsten, also insgesamt 12-mal, in ihrem Eingangsstatement auf das Modalverb können zurück. An zweiter Stelle steht Sigmar Gabriel in seinem Eingangsstatement mit 8 Belegen. Im Unterschied zu Sigmar Gabriel und

156 

7 Zur empirischen Analyse des Modalverbgebrauchs IIa

Angela Merkel fällt die Häufigkeit des Modalverbs können im Eingangsstatement von Horst Seehofer mit nur einem Beleg sehr gering aus. Diese geringe Frequenz dieses Modalverbs von Horst Seehofer ist folglich angesichts der verhältnismäßig hohen Anzahl der können-Belege bei den anderen Sprecher/inne/n sowie auch in der Bundespressekonferenz 1990 mit Helmut Kohl salient. Dies deutet darauf hin, dass die Schilderung von Handlungsmöglichkeiten, die der Semantik dieses Modalverbs inhärent sind, in dem Eingangsstatement von Seehofer nicht im Vordergrund steht. Das möglichkeitsmodale dürfen kommt in den Eingangsstatements der Politiker/innen insgesamt nur 3-mal zum Einsatz, 2-mal bei Sigmar Gabriel und einmal bei Horst Seehofer. Dafür nimmt Angela Merkel ähnlich wie Helmut Kohl vom Gebrauch des Modalverbs dürfen Abstand. Dürfen hat nach Weinrich (2003: 301) die „zwei semantischen Merkmale [Gebot] und [Disposition]“. Aus dieser negativen Modalverbsemantik heraus lässt sich auch erklären, dass die Politiker/innen – wie bereits in der Bundespressekonferenz mit Helmut Kohl im Juli 1990 festgestellt – auf die Verwendung von dürfen im Sinne eines Gebots oder einer Anordnung verzichten. So werden die positiven dürfen-Belege in den musterhaften interaktiven Konstruktionen [ich/man+darf+sagen] verwendet, bei denen die pragmatische Höflichkeitsfunktion die ursprüngliche Modalverbsemantik Gebot und Disposition überlagert, so in „Insgesamt darf ich Ihnen sagen…“ (Sigmar Gabriel, Z. 302) oder in Beleg 1 von Horst Seehofer: 1. „(S1/1)56Ich glaube, (S1/2) man darf sagen, Frau Bundeskanzlerin, (S1/3) dass die CSU daran nicht ganz unbeteiligt war.“ (Horst Seehofer, Z. 338–339) Ansonsten tritt dürfen im Eingangsstatement nur mit Negation auf, primär als Teil eines Einspruchs oder eines Einwands. Der einzige Beleg zu dürfen im Eingangsstatement kommt in dem Eingangsstatement von Sigmar Gabriel mit Negation zum Einsatz und wird als Interaktionsmarker verwendet: 2. „[…] (S1/1) muss man vielleicht sagen, (S1/2) oder auch wenigstens zu erhalten, (S1/3) dass diese große Idee nicht beschädigt werden darf, (S1/4) weil die Zukunft der Menschen auf unserem Kontinent und insbesondere unserer Kinder und Enkel davon abhängen wird, (S1/5) dass die europäische Idee weiter mit Leben erfüllt ist.“ (Sigmar Gabriel, Z. 159–162) Für das Modalverb dürfen im Nebensatz (S1/3) ergibt sich folgende Formel: Subj.+SUBJ-NP+NEG+VVpart+HV+MV+KausNS 56 Die Teilsätze werden mit der Abkürzung (SX/Y) bezeichnet, wobei X für einen Satz in der numerischen Reihenfolge aller Sätze in einem Beleg steht und Y für den Teilsatz in dem jeweiligen Satz.

7.2 Empirische Analyse des Modalverbgebrauchs in den Redeanteilen von Sigmar



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(Subjunktor + Subjekt-Nominalphrase + Negationswort + Vollverbpartizip + Hilfsverb + Modalverb + kausaler Nebensatz) Bei Beleg 2 liegt unter Berücksichtigung des Verhältnisses des Negationsmerkmals und des Modalverbs dürfen ein „Einspruch“ nach Weinrich (2003: 302) vor. Dieser Einspruch dient funktional dazu, die Eintretenswahrscheinlichkeit eines potenziell auftretenden negativen Vorfalls im Voraus auszuschließen und zugleich die Berechtigung der europäische[n] Idee (Z. 160) argumentativ zu stützen. Im dritten Teilsatz liefert das Vorgangspassiv in nicht+beschädigt+werden+darf, das Allgemeingültigkeit ausdrückt, ein Indiz dafür, dass das Modalverb dürfen zufolge nach dem Redehintergrund als normativ57 und aus SPD-Sicht sogar universell58 eingestuft werden kann. Auch das Diskurswissen stützt den normativen Redehintergrund, denn das Parteiprogramm der SPD räumt der Europäischen Union einen hohen Stellenwert ein.59 Ein normativer Gebrauch des Modalverbs dürfen kann offensichtlich auch dann auftreten, wenn das Modalverb dürfen mit einer Negation kombiniert wird. Der vierte Teilsatz „weil die Zukunft der Menschen auf unserem Kontinent und insbesondere unserer Kinder und Enkel davon abhängen wird“ begründet die extrasubjektive Notwendigkeit für die Aufrechterhaltung und Stabilisierung der Europäischen Union. Diese ethisch-moralische Begründung mit dem Verweis auf das Wohlergehen der zukünftigen Generationen fördert die starke Normorientierung der Aussage. Diese wird noch mittels der textinternen Wertung der EU durch das metaphorisch gebrauchte Adjektiv groß in der Nominalphrase große Idee verstärkt. All dies zeigt, dass die extrasubjektive Notwendigkeit der Stabilisierung der Europäischen Union mit der intrasubjektiven Überzeugung des Sprechers einhergeht. Deshalb wird das Modalverb dürfen nach dem Redehintergrund hier zumindest partiell intrasubjektiv und gar volitiv verwendet, auch wenn Zifonun (in Zifonun et al. 1997: 1892, 1910) beim Modalverb dürfen keine intrasubjektive Verwendung vorsieht, sondern lediglich eine extrasubjektive. Eine solche Überschneidung des normativen Redehintergrunds mit dem volitiven Redehintergrund beim Modalverb dürfen kann auch in anderen Formaten der politischen Kommunikation 57 Die Definition des normativen Redehintergrundes nach Zifonun (in Zifonun et al., 1997: 188) lautet wie folgt: „Oder er orientiert sich an sozialen Normen oder Verpflichtungen im Zusammenhang mit dem anstehenden Sachverhaltsentwurf.“ Dieser aufschlussreiche Terminus könnte dadurch ergänzt werden, dass sich die in der Modalverbsemantik miteingeschlossene Notwendigkeit auf dem Aspekt der Allgemeingültigkeit basiert. Die Allgemeingültigkeit beinhaltet im dritten Teilsatz des Belegs 2 das Vorgangspassiv. 58 Zum Terminus normativ-universell, vgl. Abschnitt 3.3. 59 Vgl. S. 103–108 des Parteiprogramms der SPD vor den Bundestagswahlen im Wahljahr 2013 unter https://www.spd.de/fileadmin/Dokumente/Beschluesse/Bundesparteitag/20130415_regierungsprogramm_2013_2017.pdf

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7 Zur empirischen Analyse des Modalverbgebrauchs IIa

rekurrent beobachtet werden. Diese saliente Redehintergrundkombination tritt immer dann auf, wenn dürfen als Teil eines normativ ausgerichteten Appells fungiert, mit dem die jeweiligen Politiker/innen ihre Zuhörer/innen von einem für sie besonders erstrebenswerten Ziel überzeugen wollen. Sie erfolgen also im Rahmen der persuasiven Argumentation. Zu ihrer Analyse ist neben dem Kontextwissen freilich auch das Diskurswissen der damaligen politischen Situation notwendig. Die Analyse des Gebrauchs des Modalverbs dürfen in den Eingangsstatements ermöglicht die Schlussfolgerung, dass die Berichterstattung und der Diskurs im Zusammenhang mit dem Koalitionsvertrag und dessen Bestandteile – wie eingangs angenommen – nicht mit einem Gebot oder einer Anordnung von außen in Verbindung gebracht werden sollen. Die Vermeidung eines Gebots oder einer Anordnung, die mit dem negativ geframten Modalverb dürfen einhergeht, erscheint insbesondere angesichts des Mitgliedervotums der SPD sowie der Abstimmungen der Schwesterparteien CDU und CSU als kommunikationsstrategisch sinnvoll. Den Sprecher/inne/n bleibt lediglich die Verwendung des Modalverbs dürfen entweder in interaktionalen Konstruktionen zur Signalisierung eigener Stellungnahmen zu einem Sachverhalt oder als Bestandteil persuasiver Argumente – in negierten Sätzen.60 Wie bereits erwähnt, kann das Modalverb dürfen nur ein einziges Mal in einem Eingangsstatement nicht als Interaktionsmarker beobachtet werden. Das möglichkeitsmodale können beträgt 49,5 % der handlungsraumbezogenen Modalverben in den Eingangsstatements der Politiker/innen in der Bundespressekonferenz vom 27.11.2013. Das Modalverb können zeichnet sich in seinem Verwendungsspielraum – ähnlich wie in anderen Bundespressekonferenzen – durch eine deutliche Heterogenität aus. Am häufigsten, also 8-mal, steht können in der 3. Person Singular und 7-mal in der 1. Person Plural. In einzelnen Fällen wird dieses Modalverb in den Eingangsstatements in der 1. Person Singular oder in der 3. Person Plural verwendet. Einmal tritt es als Teil einer interaktionalen Äußerung des SPD-Parteichefs in der Siezform auf und adressiert die Journalist/inn/en. Bei der auf der Klassifikation von Zifonun (in Zifonun et al., 1997: 1882 f.) basierenden Einordnung des Modalverbs können nach dem Redehintergrund überwiegen in den Eingangsstatements der teleologische und der circumstantielle Gebrauch von können. Bei 8 können-Belegen in den Eingangsstatements der Politikerin und der Politiker kann der circumstantielle Redehintergrund und bei 7 der teleologische Redehintergrund konstatiert werden. In weiteren Fällen lag eine gleichzeitige Zuordnungsmöglichkeit der Belege zu mehreren Redehintergründen vor. Dieses Ergebnis zeigt eine leichte Abweichung zum Gebrauch des Modalverbs 60 Vgl. die Tabelle 13 im konstruktionsgrammatischen Abschnitt 6.2.2.2 zur Bundespressekonferenz mit Helmut Kohl.

7.2 Empirische Analyse des Modalverbgebrauchs in den Redeanteilen von Sigmar



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können in dem Eingangsstatement von Helmut Kohl in der Bundespressekonferenz 1990. In dieser Bundespressekonferenz trat der circumstantielle Gebrauch des Modalverbs können im Eingangsstatement gegenüber dem teleologischen Gebrauch wesentlich dominanter in den Vordergrund als in der Bundespressekonferenz 2013.61 Dies hängt damit zusammen, dass in der Bundespressekonferenz 1990 politische Verhandlungsergebnisse begründet und anschließend bekannt gegeben werden, während in der Bundespressekonferenz 2013 politische Zielsetzungen verkündet werden. Die für die politische Kommunikation typischen semantischfunktional und diskursbedingten Überschneidungen bei der Zuordnung des Modalverbs können nach dem Redehintergrund werden auch in den einzelnen Eröffnungsstatements der drei Politiker/innen beobachtet. Es ergibt sich die Möglichkeit der Zuordnung von 2 Belegen zum teleologischen und zugleich zum circumstantiellen Gebrauch. In einem Beleg treten zum teleologischen Redehintergrund volitive Komponenten hinzu. In einem weiteren Beleg überschneidet sich der circumstantielle Gebrauch mit dem volitiven. Diese beiden Belege für das Modalverb können sind nach dem Redehintergrund salient, denn eine volitive Subklasse wird für dieses Modalverb in Zifonun et al. (1997: 1910) nicht vorgesehen. In insgesamt zwei Fällen kann keine eindeutige Zuordnung zu einer Klassifikationskategorie erfolgen. Denn bei diesen können-Belegen in den Eingangsstatements gerieten die Eigenschaften dieses Modalverbs als Teil kognitiv verfestigter usueller Konstruktionen zur Sprecherpositionierung in einer Interaktion mit Journalist/inn/en so stark in den Fokus, dass eine Klassifizierung nach dem Redehintergrund in den Hintergrund tritt und der Redehintergrund deshalb von dem usuellen Charakter der Modalverbkonstruktion überschattet wird.62 Bei einem personenbezogenen Vergleich unter Berücksichtigung des Redehintergrunds von können in den Eingangsstatements lässt sich eine Zuordnung dieses Modalverbs zu dem teleologischen Redehintergrund am häufigsten – in 5 von insgesamt 12 teleologischen Belegen – bei Angela Merkel feststellen. Belege, die sich zugleich zu zwei Typen zuordnen lassen, werden bei dieser Aussage nicht inkludiert, denn nur die Belege werden mitberücksichtigt, die nach dem Redehintergrund nur dem teleologischen Typ zugeordnet werden können. Sigmar Gabriel und Horst Seehofer benutzten können jeweils einmal teleologisch. Vor diesem Hintergrund wird darauf hingewiesen, dass können in dem Eingangsstatement von Gabriel insgesamt 8-mal und bei Seehofer nur einmal vorkommt. Bei diesem personenbezogenen Vergleich muss jedoch daran erinnert werden, dass der Redebeitrag von Seehofer, so folglich auch sein Eingangsstatement, deutlich kürzer aus61 Helmut Kohl verwendete das Modalverb können 10-mal circumstantiell und nur 4-mal teleologisch. 62 Diese Belege werden in Kapitel 8 erörtert.

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7 Zur empirischen Analyse des Modalverbgebrauchs IIa

fällt als das von den beiden anderen Politiker/inne/n. Dies ist einer der Gründe, warum die Häufigkeit bei Seehofer gering ist. Beleg 3 steht in den Eingangsstatements der Bundespressekonferenz 2013 stellvertretend für den teleologischen Gebrauch und geht auf Sigmar Gabriel zurück: 3. „(S1/1) Wir wollen das Thema Werkvertragsarbeitnehmerwesen so organisieren, (S1/2) dass das ursprüngliche Ziel natürlich möglich ist. (S2/1) Es gibt ganz viele Betriebe, (S2/2) die das absolut fair machen, (S2/3) im … [Reparatur] wo es überhaupt keine Schwierigkeiten gibt. (S3/1) Aber Sie wissen, (S3/2) dass gerade in den letzten Jahren der Missbrauch zugenommen hat. (S4/1) Wir haben Regelungen aufgeschrieben, (S4/2) wie wir diesen Missbrauch beseitigen können.“ (Sigmar Gabriel/Z. 227- 232) Folgende Formel ergibt sich im Nebensatz des Satzes 4 (Teilsatz S4/2): Subj.+SPr1P+dOBJ-NP+VV+MV

(Subjunktor + Subjektpronomen 1. Person Plural + direktes Objekt + VV + MV) In (S4/2) kann das Modalverb können an der Verbletztstelle in der 1. Person Plural eindeutig dem teleologischen Redehintergrund zugeordnet werden. Die von der Großen Koalition angestrebte und insbesondere von der SPD vorangetriebene Zielsetzung, nämlich eine stärkere staatliche Regulierung der Werkverträge durch Gesetzesregelungen einzuführen und damit die Beseitigung des Missbrauchs auf dem Gebiet der durch Werksverträge geregelten Beschäftigung in Betrieben zu erwirken, wird im Satz 4 des Belegs 3 zum Ausdruck gebracht. Diese Zielsetzung wird jedoch erst overt, nachdem das Niedrigwertwort Missbrauch nach (S3/2) rekurrent in (S4/2) verwendet wird. Bereits durch (S1/2) dass das ursprüngliche Ziel natürlich möglich ist wird außerdem der teleologische Gebrauch des Modalverbs kommunikationsstrategisch eingeleitet, auch wenn die Zielsetzung zusätzlich unter Berücksichtigung des Diskurswissens erst rückwirkend in (S4/2) erschlossen werden kann. Dieser Beleg mit dem teleologischen Redehintergrund des Modalverbs können gleicht den Befunden zum teleologisch gebrauchten können in den anderen untersuchten Bundespressekonferenzen, so auch in der exemplarisch dargelegten Bundespressekonferenz mit Helmut Kohl. Ähnlich den Eingangsstatements in anderen Bundespressekonferenzen zwischen 1990 und 2018 lässt sich auch in dieser Bundespressekonferenz bei der Klassifikation einiger Belege hinsichtlich des Redehintergrunds durchaus eine polyseme Zuordnungsmöglichkeit konstatieren. Die Überschneidung des teleologischen Gebrauchs des Modalverbs können mit dem circumstantiellen Redehintergrund schlägt sich in Beleg 4 nieder, in dem können, ähnlich anderen können-Belegen in

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den Bundespressekonferenzen, im finalen Satz im Nebensatz mit Verbletztstellung auftritt: 4. „(S1/1) Wir werden zusätzlich 3 Milliarden in die Forschung geben und den Aufwachs (sic!) auch gerade bei den außeruniversitären Einrichtungen für die Länder mit übernehmen, (S1/2) damit Länder dann auch andere Aufgaben verbessert erfüllen können.“ (Angela Merkel, Z. 38–40) Für den Gebrauch des Modalverbs können ergibt sich im untergeordneten Nebensatz (S1/2) folgende Formel: Subj.+SUBJ-NP+PART+PART+dOBJ-NP+advADJ+VV+MV

(Subjunktor + Subjekt-Nominalphrase + Partikel + Partikel + Direktes-Objekt-Nominalphrase + adverbiales Adjektiv + Vollverb + Modalverb) Zukunftsbezogene Handlungspläne werden rekurrent als Teile von kommissiven Sprechakten im Nebensatz von Beleg 4 – eingeleitet durch die Subjunktion damit – unter Angabe einer deutlichen Zielsetzung, also die Entlastung der Länder und damit die Optimierung ihrer Arbeit, bekannt gegeben. Dies lässt auf einen teleologischen Gebrauch schließen. Auch die Verbkonstruktion erfüllen können sowie die zielorientierte Semantik des Vollverbs erfüllen und sein syntaktisch obligatorisches Akkusativobjekt andere Aufgaben sprechen für einen teleologischen Redehintergrund. Dieser Redehintergrund schließt, wie auch in der Bundespressekonferenz 1990 mit Helmut Kohl klar erkennbar, Zielsetzungen für Dritte – hier die Länder in dieser Konferenz – mit ein. Die Verwendung in Beleg 4 steht damit in Widerspruch zur Feststellung von Zifonun (in Zifonun et al. 1997: 1892), dass „anders als bei können und müssen“ nur „bei dürfen und sollen in teleologischer Verwendung das Vollverb, auf dem das Modalverb operiert, selbst das Handlungsziel“ nenne. Denn hier benennt das Vollverb erfüllen durchaus das Handlungsziel, obwohl es vom Modalverb können regiert wird. Im Hauptsatz Wir werden zusätzlich 3 Milliarden in die Forschung geben wird zudem der Handlungsrahmen angekündigt, nämlich die Förderung der Forschung, der die Erfüllung des Handlungsziels überhaupt ermöglicht. Dies ist ein Indiz dafür, dass zum teleologischen auch noch der circumstantielle Gebrauch des Modalverbs können hinzutritt. Die durch das Vollverb ausgedrückte Zielsetzung erscheint aus Sicht der Sprecherin als realistisch. Denn die Argumentation der Kanzlerin wird in Beleg 4 mit Hilfe des Modalverbs können im Finalsatz gestützt. Eine positive Einschätzung der Sprecherin über die Durchführbarkeit der zukünftigen Handlung wird durch den Gebrauch des Modalverbs leicht erschließbar. Pragmatisch betrachtet, unterstützt folglich die Kombination des Modalverbs können mit einem Finalsatz die Steigerung der argumentativen Glaubwürdigkeit, die zum Zweck politischer Legitimation dient.

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Dass die Überschneidung des teleologischen Redehintergrunds mit dem circumstantiellen Redehintergrund beim Modalverb können musterhaft und damit nicht nur personenbezogen ist, zeigt neben Beleg 4 von Angela Merkel auch Beleg 5 von Sigmar Gabriel: 5. „(S1) Wir haben insgesamt 6 Milliarden Euro für Bildung mobilisiert. (S2) Die Länder werden damit Kindertagesstätten, Hochschulen, aber auch Ganztagsbetreuung oder Ganztagsschulen machen können.“ (Sigmar Gabriel, Z. 274– 276) Folgende Formel lässt sich für das Modalverb können im Satz 2 des Belegs 5 erstellen: SUBJ-NP+HVFut+präpADV+4xdOBJ-NP+VV+MV

(Subjekt-Nominalphrase + Hilfsverb Futur + Präpositionaladverb + viergliedriges direkte Objekt-NP + VV + MV) Die in Aussicht gestellte Bereitstellung von 6 Milliarden Euro für den Bildungssektor stellt einen kommissiven Sprechakt dar. Dieser dient als notwendige Grundlage für die Erfüllung der Proposition im zweiten Satz. Signifikant ist im Beleg aus pragmatischer Sicht der logisch-kausale Zusammenhang zwischen den beiden Sätzen. Im ersten Satz wird eine Handlung bekannt gegeben, woraufhin im zweiten Satz Argumente für diese Handlung herangezogen werden. Die Schilderung dieser Umstände spricht für einen circumstantiellen Gebrauch des im zweiten Satz auftretenden Modalverbs können. Im futurischen Satz 2 wird außerdem eine Zielsetzung festgelegt, die der Sprecher auf eine dritte Instanz – die Länder – überträgt. Zum circumstantiellen Redehintergrund tritt folglich der teleologischer Redehintergrund des Modalverbs können hinzu. Dies belegen nicht nur die Aufzählung konkreter Ziele, nämlich die Errichtung von Kindertagesstätten, Hochschulen, Ganztagsbetreuung und Ganztagsschulen als Hyponyme zur im ersten Satz bereits aufgetretenen Bildung, sondern auch die Semantik des futurischen Auxiliarverbs werden. Von einem semantisch-funktionalen Blickwinkel aus betrachtet, steht diese Häufung von Hyponymen für eine Zielsetzung, deren Wahrscheinlichkeit mit dem Modalverb können von Sigmar Gabriel als realistisch eingeschätzt wird. Darüber hinaus könnte der zweite Satz von Gabriel Die Länder werden damit Kindertagesstätten, Hochschulen, aber auch Ganztagsbetreuung oder Ganztagsschulen machen können auch in den folgenden Satz in Präsens paraphrasiert werden: 5. „Die Länder sollen damit Kindertagesstätte, Hochschulen, aber auch Ganztagsbetreuung oder Ganztagsschulen machen.“

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Bei einem Vergleich beider Sätze wird deutlich, dass die Äußerung nach der Paraphrase durch den Einsatz des präskriptiven Modalverbs sollen jedoch die dezentrale Handlungsautonomie der Länder in Bildungsangelegenheiten infrage stellen würde. Denn laut Zifonun (in Zifonun et al. 1997: 1914) sind „Soll-Bestimmungen […] charakteristisch für präskriptive Texte wie Gesetze, Verordnungen, Satzungen.“ Folglich ist die Entscheidung für können, das das Handlungsziel als positive Möglichkeit und nicht als Aberkennung von Handlungskompetenzen der Länder im Ressort Bildung durch sollen erscheinen lässt, aus kommunikationsstrategischer Sicht begründet. Dieses argumentationsbedingte Muster hinsichtlich der Präferenz für das Modalverb können gegenüber sollen gleicht ähnlichen Mustern in dieser Bundespressekonferenz oder aber auch in den anderen untersuchten Bundespressekonferenzen zwischen 1990 und 2018. Wie in der Bundespressekonferenz von 1990 ist die Verwendung des Modalverbs können anstelle von dürfen salient. Ebenso auffällig ist die rekurrente Verwendung von können anstelle von sollen in beiden Pressekonferenzen. Das semantisch positive Können wird folglich durchaus rekurrent zur Markierung von Handlungsautonomie verwendet und gegenüber den Modalverben dürfen, müssen und sollen bevorzugt, die entweder semantisch zu präskriptiv sind oder aber den Willen von Dritten miteinschließen und damit die eigene politische Handlungsautonomie infrage stellen können. In Beleg 6 tritt zu dem teleologischen Gebrauch eine volitive Komponente hinzu, die für den Gebrauch des Modalverbs können im Korpus der Bundespressekonferenzen atypisch ist: 6. „(S1/1) Und ich glaube, (S1/2) wir haben gute Chancen, (S1/3) dass wir 2017 sagen können, (S1/4) dass es den Menschen besser geht als heute, (S1/5) und deshalb empfehle ich meiner Partei eine Annahme des Koalitionsvertrags.“ (Angela Merkel, Z. 122–124) Folgende Formel ergibt sich für die Modalverbverwendung im Teilsatz (S1/3): Subj+SPr1P+TempADV+VV+MV

(Subjunktor + Subjektpronomen 1 Person Plural + Temporaladverbiale + Vollverb + Modalverb) Die Optimierung der Lebensumstände der Menschen in der Bundesrepublik Deutschland wird im vierten Teilsatz dass es den Menschen besser geht als heute in Beleg 6 von der Kanzlerin als Handlungsziel der Großen Koalition festgelegt. Dies liefert ein Indiz für einen teleologischen Gebrauch des im dritten Teilsatz auftretenden Modalverbs können und soll zugleich als Argument für die Annahme des Koalitionsvertrags sprechen. Im das Modalverb können beinhaltenden Teilsatz wird auch der Zeitpunkt genannt, an dem die Zielsetzung eintreten soll. Das Mo-

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dalverb und der Hauptsatz und ich glaube signalisieren gemeinsam die persönliche und optimistische Einstellung der Kanzlerin zu dem von ihr zum Ausdruck gebrachten Handlungsziel der Großen Koalition. Der Hauptsatz mit der intrasubjektive Einstellungen kennzeichnenden Konstruktion ich glaube und die Berücksichtigung des Entstehungskontextes des Koalitionsvertrags sprechen durchaus dafür, dass der innere Wunsch der Sprecherin mit der im vierten Teilsatz zum Ausdruck gebrachten Zielsetzung übereinstimmt, auch wenn die Konstruktion ich glaube zugleich auf die kommunikative Vorsicht der Kanzlerin hindeutet. Darauf lässt sich folglich zurückführen, dass zum teleologischen Gebrauch auch eine volitive Komponente hinzutritt. Außerdem könnte in diesem Beleg zugleich zu dem teleologischen und dem volitiven Redehintergrund der circumstantielle Redehintergrund hinzutreten. Der zweite Teilsatz wir haben gute Chancen deutet nämlich auf diesen Gebrauch hin. Die pragmatische Funktion dieses Belegs, nämlich die innerparteiliche Konsensbildung, wird aus dem zweiten Hauptsatz und deshalb empfehle ich meiner Partei eine Annahme des Koalitionsvertrags abgeleitet. Die Entfaltung der kollektivbildenden Funktion wird zudem mittels der 1. Person Plural des Personalpronomens wir in den Nebensätzen gefördert. Diese Bemerkung erscheint angesichts der kollektivfördernden „Kraft“ des Personalpronomens wir in der politischen Sphäre plausibel (vgl. Fábián 2018b und Truan 2019). Die salienten Sätze der politischen Agenda der letzten 10 Jahre Wir schaffen das! (2015) – dazu mehr in Fábián (2018b) – oder Yes, we can!, in denen die Rolle von wir nicht zu unterschätzen ist, dienten der Funktion des „Nation Building“. Diese pragmatische Funktion dieses Personalpronomens kann auch auf die Kommunikation in der Parteilandschaft übertragen werden. Die Kollektivbildung in einer bestimmten Partei ist gerade und insbesondere in Wahlkämpfen oder vor bedeutenden Abstimmungen unerlässlich und betrifft nicht ausschließlich konkrete politische Inhalte, sondern auch die sprachliche Gestaltung der Proposition auf der Ebene der Lexik und der Grammatik in Abhängigkeit von der jeweiligen Zielsetzung. Die Realisierbarkeit der Zielsetzung wird durch die Modalverbsemantik von der Sprecherin als erstrebenswert markiert. Weitere saliente Abweichungen des Gebrauchs des Modalverbs können hinsichtlich des Redehintergrunds konnten in der Bundespressekonferenz 2013 im Gegensatz zur Bundespressekonferenz 1990 mit Helmut Kohl nicht festgestellt werden. Der Gebrauch des Modalverbs können weist jedoch hinsichtlich des Modus in den Eingangsstatements von dem für die Eingangsstatements der Bundespressekonferenzen geläufigen Modalverbgebrauch in 4 Belegen Modifikationen auf. In diesen Belegen wird können im Konjunktiv II – einmal bei Angela Merkel und 3mal bei Sigmar Gabriel – wie auch in Beleg 7 können in Konjunktiv II in einem negierten Nebensatz verwendet:

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7.



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„(S1/1) Die Unionsvorstellungen waren hier im Regierungsprogramm andere, (S1/2) aber ich finde, (S1/3) wir haben einen fairen Kompromiss gefunden, (S1/ 4) und wir haben auch gerade gestern nochmal sehr, sehr wichtige Gespräche gehabt, (S1/5) um die ganze Sache so zu machen, (S1/6a) dass dabei Chancen entstehen (S1/6b) und nicht Risiken auf Arbeitsplatzverlust vielleicht überwiegen könnten.“ (Angela Merkel, Z. 73–77).

Für den Modalverbgebrauch ergibt sich folgende Formel im Teilsatz (S1/6): Subj+PräpADV+SUBJ-NP+VV+Nek+NEG+SUBJ-NP+PPATTR+PART+VV+MVKonj

(Subjunktor + Präpositionaladverb + Subjekt-Nominalphrase + Vollverb + Nektion + Negationswort + Subjekt-Nominalphrase + Präpositionalattribut + Partikel + Vollverb + Modalverb Konjunktiv II) In Beleg 7 werden von der Kanzlerin die Aufnahme des gesetzlichen Mindestlohns in den Koalitionsvertrag sowie die schwierigen Einigungsprozesse hierüber vorgestellt. Das Modalverb können tritt in der 3. Person Plural im negierten Teilsatz (S1/6b) auf, in dem die Einführung des Mindestlohns argumentativ mit der aus Chancen und Risiken bestehenden Antithese verbunden wird. In diesem Teilsatz mit teleologischem Redehintergrund bringt der Konjunktiv II „Nichtfaktizität“ im Sinne von Diewald (2013: 92) zum Ausdruck. Er signalisiert die anschließende Negation deutlich, sodass der Eintritt von Risiken, die sich aus der Einführung des Mindestlohnes ergeben, weiterhin nichtfaktisch bleiben und von Anfang an ausgeschlossen werden sollen. Die Zielsetzung – Entstehung von Chancen und der Ausschluss von Risiken – steht aus pragmatischer Sicht als Erklärung dafür, warum sich die Verhandlungen über den Mindestlohn als kompliziert erwiesen. Sowohl der Einsatz des Konjunktivs II als auch die Negation sind atypisch für die Eingangsstatements der Bundespressekonferenzen, können jedoch gelegentlich in Argumentationen als Rechtfertigung argumentativ indiziert auftreten. Die Modalverbkonstruktion [nicht+dürfen] hätte im negierten Teilsatz (S1/6b) mit minimalen Modifikationen des Satzes ebenfalls eingesetzt werden können. Dass sich in dieser Bundespressekonferenz bei dem Gebrauch des Modalverbs können im Konjunktiv II nicht um ein personenspezifisches Phänomen handelt, wurde bereits erwähnt, denn dieses Modalverb tritt in Konjunktiv II 3-mal auch bei Sigmar Gabriel auf, hier in Beleg 8 im Unterschied zum letzten Beleg jedoch ohne Negation: 8. „(S1/1) Ginge das schief, (S1/2) könnte sich die Energiewende auch schnell nicht nur zu einer Belastung der Bevölkerung entwickeln, sondern auch zu einer dramatischen Beschädigung des Industrie- und Wirtschaftsstandortes Deutschland.“ (Sigmar Gabriel, Z. 182–185)

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Für den Modalverbgebrauch in (S1/2) ergibt sich folgende Formel: MVKonj+ReflPron+SUBJ-NP+PART+advADJ+NEG+PART+PP+VV

(Modalverb Konjunktiv II + Reflexivpronomen + Subjekt-Nominalphrase + Partikel + adverbiales Adjektiv + Negationswort + Partikel + Präpositionalphrase + Vollverb) In Nebensatz S1/2 des Belegs 8 ist das Modalverb in der 3. Person Singular nach dem Redehintergrund circumstantiell. Auf diesen Redehintergrund kann aus dem Präpositionalgefüge zu einer Belastung der Bevölkerung und zu einer dramatischen Beschädigung des Industrie- und Wirtschaftsstandortes Deutschland sowie aus der Semantik der diesem Beleg vorangehenden Inhalte geschlussfolgert werden. Die Verwendung des Konjunktivs II in beiden Teilsätzen verdeutlicht ähnlich Beleg 7, dass die Belastung der Bevölkerung und die Beschädigung der Industrie und der Wirtschaft durch die Energiewende aus Sprechersicht als vermeidbar und deshalb auch als [+nichtfaktisch] (vgl. Diewald 2013: 92) eingestuft werden. Aus pragmatischer Sicht liefert Sigmar Gabriel in Beleg 8 und dem anschließenden Satz (Z. 186–189) eine Erklärung dafür, warum sich die Koalitionsverhandlungen zur Energiewende als kompliziert erwiesen und längere Zeit in Anspruch nahmen. Der Gebrauch des Modalverbs können im Konjunktiv II wird – wie auch in Beleg 7 – funktional betrachtet zur Beschreibung politischer Verhandlungsprozesse zwischen CDU/CSU und SPD über kontroverse Inhalte wie zum Beispiel den Mindestlohn oder die Energiewende zur Stützung der Argumentation eingesetzt. Der Moduswechsel des Modalverbs ist in diesen konjunktivischen Belegen folglich im Kontext der persuasiven Argumentation zu betrachten. Die Frequenz des Modalverbs müssen ist in den Eingangsstatements der Bundespressekonferenz 2013 signifikant höher als im Eingangsstatement der Bundespressekonferenz 1990. In Kohls Eingangsstatement tritt müssen nur in 2 Belegen im Vergleich zum Modalverb können in 14 Belegen auf. Im Eingangsstatement der Bundespressekonferenz von 2013 wird müssen mit 17 Belegen und können mit 21 Belegen fast gleich häufig verwendet. Insgesamt lag in der gesamten Bundespressekonferenz mit Kohl die Frequenz des Modalverbs müssen im Verhältnis zu können bei 1 zu 1,96, in der Bundespressekonferenz von 2013 aber bei 1 zu 1,28. Mit dieser hohen Frequenz erweist sich der Gebrauch des Modalverbs müssen in den Eingangsstatements, aber auch in der gesamten Bundespressekonferenz 2013 als salient. Hinsichtlich des strategischen Einsatzes des Modalverbs müssen in Rechtfertigungen konnten zwischen Sigmar Gabriel und Angela Merkel in den Eingangsstatements kaum Unterschiede beobachtet werden. Diese Beobachtung wird im

7.2 Empirische Analyse des Modalverbgebrauchs in den Redeanteilen von Sigmar



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Folgenden anhand von 2 Belegen verdeutlicht. Angela Merkel nutzte das Modalverb müssen in ihrer Eröffnungsrede insgesamt 4-mal und nur in der 1. Person Plural, davon jeweils 2-mal im Präsens und im Präteritum. In allen 4 Fällen griff die Kanzlerin zu Beginn ihrer Rede auf das Modalverb müssen zurück, um Barrieren zwischen den Parteien bei den Verhandlungen über kontroverse Punkte des Koalitionsvertrags zu schildern und im darauffolgenden Satz schließlich das Ergebnis im Zusammenhang zu diesen Punkten zu präsentieren wie in Beleg 9: 9. „(S1/1) Dass die Frage des einheitlichen, flächendeckenden, gesetzlichen Mindestlohns einer [im Original? sonst sic!] der großen Brocken war, (S1/2) die wir überwinden mussten und (S1/3) die wir gestalten mussten, (S1/4) das war seit langem bekannt. (S2/1) Die Unionsvorstellungen waren hier im Regierungsprogramm andere, (S2/2) aber ich finde, (S2/3) wir haben einen fairen Kompromiss gefunden […].“ (Angela Merkel, Z. 72–75) Für den Modalverbgebrauch ergibt sich jeweils folgende Formel in (S1/2) und (S1/ 3): RPr=dOBJ+SPr1P+VV+MVPrät

(Relativpronomen als direktes Objekt + Subjektpronomen der 1. Person Plural + Vollverb + Modalverb Präteritum) In (S1/2) und (S1/3) von Beleg 9 wird das Modalverb müssen in der 1. Person Plural Präteritum mit den beiden stark performativen Vollverben überwinden und gestalten verwendet. Die Rekurrenz des Modalverbs müssen wird in diesem Beleg als Teil der politischen Selbstprofilierungsstrategie verwendet. Diese Rekurrenz verdeutlicht, dass der gesetzliche Mindestlohn einen strittigen Punkt der Koalitionsverhandlungen bildete, das Ergebnis der Verhandlungen dank intensiver Arbeit der politischen Teilnehmer/innen jedoch bereits feststeht. Dies kann einerseits aus dem Diskurswissen heraus, andererseits auf der Textebene aus den Teilsätzen (S2/2) und (S2/3) aber ich finde, wir haben einen fairen Kompromiss gefunden abgeleitet werden. Der Einsatz von müssen und seine suggestive Rekurrenz in den beiden aufeinander folgenden Teilsätzen hebt die sich extrasubjektiv aus den Wahlprogrammen der CDU/CSU und SPD ergebende Notwendigkeit argumentativ hervor. Das Modalverb müssen in der 1. Person Plural wird in Beleg 9 von Angela Merkel als Mittel der persuasiven Argumentation und als Teil der kommunikativen Strategie der Rechtfertigung verwendet. Auch bei Sigmar Gabriel lässt sich diese Verwendung des Modalverbs müssen in der 1. Person feststellen: 10. (S1/1) Der, der Koalitionsfakt [sic], der Koalitionsvertrag macht klar, (S1/2) wir werden die Ziele beibehalten und, (S1/3) wie man sagen könnte, (S1/4) auf dem

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Zielkorridor bleiben. (S2/1) Aber wir müssen alles dafür tun, (S2/2) dass das in Deutschland sozial und wirtschaftlich verträglich ist. (S3/1) Ginge das schief, (S3/2) könnte sich die Energiewende auch schnell nicht nur zu einer Belastung der Bevölkerung entwickeln, (S3/3) sondern auch zu einer dramatischen Beschädigung des Industrie- und Wirtschaftsstandortes Deutschland. (Sigmar Gabriel, Z. 180–185) Folgende Formel ergibt sich beim Modalverb müssen im Teilsatz (S2/1): Konj+SPr1P+MV+IndefPr=dOBJ+präpADV+VV

(Konjunktion + Subjektpronomen 1. Person Plural + Modalverb + Indefinitpronomen als direktes Objekt + Präpositionaladverb + Vollverb) In (S1/1) des Belegs 10 wird einleitend konkretisiert, dass es sich in dem gesprochensprachlichen Redebeitrag von Sigmar Gabriel um einen Gegenstand des Koalitionsvertrags handelt. Dabei ging es um das Vorantreiben der Energiewende unter Rückgriff auf Maßnahmen, die – aus Sprechersicht in (S2/2) – wirtschaftlich und sozial verträglich seien. Dieser Nebensatz offenbart einen teleologischen Gebrauch des Modalverbs müssen, zu dem durch Rückgriff auf Satz (S3) ein circumstantieller Gebrauch hinzutritt. Denn als Teil eines kommissiven Sprechaktes in (S2/1) Wir werden die Ziele beibehalten wird die Einstellung des an der Vereinbarung des Koalitionsvertrags teilnehmenden Politikers Gabriel kundgegeben, die aber auch von extrasubjektiven Zwängen – ebenfalls in (S3) – gestützt wird. Der notwendigkeitsmodale Zwang des Verbs müssen wird auf die Zielsetzung, also die Einschränkung wirtschaftlicher und sozialer Schäden ausgeweitet, damit der Sprecher so die Grundlage für eine Rechtfertigung argumentativ begründet. Im Vergleich zur Bundespressekonferenz mit Helmut Kohl weist die Überschneidung der Redehintergründe beim Modalverb müssen in der Bundespressekonferenz 2013 folglich keine großen Unterschiede zu den bei müssen beobachtbaren musterhaften Redehintergründen. Denn auch bei Kohl wurde bei müssen hauptsächlich der circumstantielle Redehintergrund mit normativen, teleologischen oder volitiven Komponenten beobachtet. Eine solche Verwendung des Modalverbs müssen in der 1. Person Plural weist hingegen hinsichtlich des Numerus große Unterschiede im Vergleich zu Kohl auf, denn er verwendete müssen hauptsächlich mit Abstrakta und nicht mit Personalpronomen. Dies lässt sich vermutlich darauf zurückführen, dass Kohl seine eigenen Verhandlungsergebnisse im Zusammenhang mit der Wiedervereinigung Deutschlands und den dafür notwendigen internationalen Verhandlungsprozessen sowie Verträgen bekannt gab. Als Kanzler einer CDU/CSUFDP-Regierung konnte er sich mehr der Vermittlung der eigenen politischen Inhalte widmen und musste sich weniger um die Konsensfindung zwischen den Partei-

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en und in der Partei des Koalitionspartners (so im Mitgliederentscheid der SPD) bemühen. Denn in der Großen Koalition wurden Parteien mit stärker widersprüchlichen Interessen verbunden, die vor dem Beginn der Sacharbeit zuerst innerhalb der Koalition mit allen Parteien ausgehandelt werden mussten. In diesem Zusammenhang wurde – wie an den Belegen erläutert – in der Bundespressekonferenz 2013 auch das Modalverb müssen in der 1. Person Plural verwendet. Deutlich häufiger als in der 1. Person Plural wird müssen in dem Eingangsstatement des SPD-Chefs in der 3. Person Singular mit 8 von seinen insgesamt 12 müssen-Belegen eingesetzt. In diesen 8 Belegen tritt das Modalverb müssen ausschließlich in deagentivischen Sätzen auf, und zwar einmal mit dem Scheinsubjekt es und in 7 weiteren Belegen mit dem Indefinitpronomen man wie in Beleg 11: 11. „(S1/1) Da sind Dinge in dem Entgeltgleichheitsgesetz formuliert, (S1/2) die muss man mit Tarifvertragsparteien erfüllen und auch überprüfbar machen, (S1/3) aber im Kern geht es natürlich darum, (S1/4) dass wir in Deutschland auch eine Debatte brauchen über die Wertschätzung von sozialen und von Pflegeberufen.“ (Sigmar Gabriel, Z. 263–266) Für den Modalverbgebrauch ergibt sich in (S1/2) folgende Formel: DPr=dOBJ+MV+SPr3Sind+präpADV +VV+Nek+Part+PRÄDNOM+VV

(Demonstrativpronomen als direktes Objekt + indefinites Subjektpronomen der 3. Person Singular + präpositionales Adverbiale63 + Vollverb + Nektion + Partikel + Prädikatsnomen + Vollverb) Das Substantiv Entgeltgleichheitsgesetz steht in (S1/1) als Hyponym zum im vorangehenden Satz artikulierten Hyperonym, nämlich der gleichen finanziellen Wertschätzung der Arbeit von Frauen und Männern in Deutschland. Die Verwirklichung des Entgeltgleichheitsgesetzes ist die Zielsetzung, deren Realisierung aus Sicht des Sprechers als notwendig erachtet wird. Dieser teleologische Redehintergrund des Modalverbs müssen schlägt sich in (S1/2) „die muss man mit Tarifvertragsparteien erfüllen und auch überprüfbar machen“ nieder. Zu diesem Gebrauch tritt außerdem ein circumstantieller Redehintergrund hinzu, gestützt zum einen durch die Mesoebene – die Redebeitrags- und Interaktionsebene im Eingangsstatement von Sigmar Gabriel in der Bundespressekonferenz 2013 –, zum anderen durch die Makroebene – den Diskurs64. Denn auf dem Gebiet der beruflichen Gleichstellung von Frauen erntet Deutschland von der Europäischen Union seit Jahren Kritik. Dieser Handlungsbedarf begründet folglich den circumstantiellen 63 Komitativangabe 64 Vgl. http://www.zeit.de/karriere/2016-10/entgeltgleichheitsgesetz-grosse-koalition-kompromisskritik, Zugriff am 21.2.2017.

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Redehintergrund. Da das Modalverb müssen nach Zifonun (in Zifonun et al. 1997: 1887) „bezüglich eines hohen Verpflichtungsgrades“ markiert ist, will der Sprecher aufgrund der Komplexität politischer Entscheidungsprozesse, an denen sowohl die CDU/CSU als auch die SPD als Koalitionspartner beteiligt sind, vor dem Beginn eines komplexen politischen Verhandlungsprozesses65 persönlich keine Verpflichtung eingehen. Deshalb wird müssen gerade mit dem die Person des Agens verschleiernden Indefinitpronomen man kombiniert. Damit bleibt diese Äußerung im Vagen. Eine klare Ablehnung der Verantwortungsübernahme wird folglich durch den Gebrauch des Indefinitpronomens deutlich, und somit wird auch der sich aus der Modalverbsemantik heraus ergebende verbindliche Handlungszwang von müssen im gegebenen Kontext entkräftet. Ein solcher Gebrauch des Modalverbs müssen mit dem teleologischen Redehintergrund in Überschneidung mit dem circumstantiellen Redehintergrund und in Kombination mit dem Indefinitpronomen man ist in der Bundespressekonferenz 2013 musterhaft. Hierfür stehen als Evidenz die anderen Belege mit [man+muss+Infinitiv], in denen die modale Stärke auf die Zielsetzung – entweder als Objekt im Satz mit dem Modalverb oder bereits im Satz zuvor wie in Beleg 11 – ausgeweitet wurde. Da dem Schema [man+muss+Infinitiv] in Gabriels Eingangsstatement 7 von 12 müssen-Belege entsprechen, kann von der Musterhaftigkeit dieses Modalverbgebrauchs in der Bundespressekonferenz 2013 ausgegangen werden. In 4 der 7 [man+muss+Infinitiv]-Belege wurde das Indefinitpronomen man mit müssen vom ehemaligen Vizekanzler der Großen Koalition zwischen 2013 und 2017 in der Konstruktion mit dem Verb sagen verwendet. Bei Horst Seehofer tritt müssen in der 3. Person Singular bei einem jedoch kürzeren Eingangsstatement im Unterschied zu Gabriel nur einmal auf. Die Verwendung der Konstruktion [man+muss+sagen] im Eingangsstatement dieser Bundespressekonferenz durch Sigmar Gabriel ist jedoch dem gesprochensprachlichen Charakter seines Statements geschuldet und gleicht dem konstruktionellen Gebrauch bei Helmut Kohl in der Diskussion mit den Journalist/inn/en.66 Auch hier wird folglich die innere Einstellung der Sprecher zum im Nebensatz angekündigten Sachverhalt ausgedrückt.

65 Vgl. https://www.haufe.de/personal/arbeitsrecht/lohngleichheit-kabinett-stimmt-ueber-entgeltgleichheitsgesetz-ab_76_392980.html, Zugriff am 21.2.2017. Auf dieser Seite wurde über die Schwierigkeiten im politischen Verhandlungsprozess auf dem Weg zum Entgelttransparenzgesetz erst gegen Ende der großen Koalition zwischen 2013 und 2017 berichtet. 66 Vgl. dazu die Analyse der Konstruktion [ich+muss+sagen] in Abschnitt 6.2.2.2 bei Helmut Kohl.

7.2 Empirische Analyse des Modalverbgebrauchs in den Redeanteilen von Sigmar



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7.2.2.1.1 Zwischenfazit zum Gebrauch handlungsraumbezogener Modalverben in den Eingangsstatements von Sigmar Gabriel, Angela Merkel und Horst Seehofer Der empirische Exkurs dieses Abschnitts über die handlungsraumbezogenen Modalverben dürfen, können und müssen in den Eingangsstatements der Bundespressekonferenz am 27.11.2013 hat deutlich gezeigt, dass das Modalverb dürfen – ähnlich der Bundespressekonferenz 1990 mit Helmut Kohl und den anderen untersuchten Bundespressekonferenzen – kaum zum Einsatz kommt. Tritt das Modalverb dürfen in den Eingangsstatements doch auf, erfolgt dies hauptsächlich in kognitiv verfestigten und damit usuellen Konstruktionen mit stark interaktionalem Charakter wie [man+darf+sagen], die persönliche Stellungnahmen einleiten. Eine solche stark auf Interaktion ausgerichtete Verwendung wurde bei Sigmar Gabriel mehrfach beobachtet, da sein Eingangsstatement im Unterschied zu den Eingangsstatements von Angela Merkel und Horst Seehofer einen stark gesprochensprachlichen Charakter aufweist. Die relativ hohe Frequenz der Modalverbkonstruktion [man+muss+sagen] und [ich+muss+sagen] sind ein weiteres Indiz für den gesprochensprachlichen Charakter seines Eingangsstatements. Dafür spricht auch die Tatsache, dass die Konstruktionen [ich/man+muss+sagen] im Eingangsstatement nur bei Sigmar Gabriel zu beobachten waren und nicht bei Angela Merkel und Horst Seehofer – sowie auch nicht bei Helmut Kohl in der Bundespressekonferenz 1990. Auf den Gebrauch im Sinne einer Einschränkung, die die Handlungsautonomie der Zuhörer/innen infrage stellen könnte, wurde erwartungsgemäß verzichtet. Lediglich ein einziges Mal wurde das Modalverb dürfen in Beleg 2 – in negierter Form – als Teil eines Verbots zur persuasiven Argumentation von Gabriel benutzt, um die semantische Stärke dieses Modalverbs bei der Durchsetzung eines vom Sprecher als ethisch-moralisch anzustrebenden Ziels, also die Aufrechterhaltung der Europäischen Union zu unterstützen. Die Verwendung des Modalverbs können zeichnet sich in den Eingangsstatements der Bundespressekonferenz im November 2013 – ähnlich der Bundespressekonferenz 1990 mit Helmut Kohl – durch eine besondere Vielfalt der Redehintergründe aus. Der circumstantielle und der teleologische Redehintergrund beim Modalverb können in den Eingangsstatements der Bundespressekonferenz 2013 sind jedoch annähernd gleich verteilt. Dies gilt in auffälliger Weise für das Eingangsstatement von Angela Merkel. Damit kann beim Einsatz des Modalverbs können in den Eingangsstatements der beiden exemplarisch untersuchten Bundespressekonferenzen 1990 und 2013 eine deutliche Divergenz konstatiert werden: In der Bundespressekonferenz mit Helmut Kohl tritt der teleologische, also zielbezogene Redehintergrund zugunsten des circumstantiellen, also des umstandsbezogenen Redehintergrunds in den Hintergrund. Diese Abweichung lässt sich auf die Intention

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der Sprecher/innen und die damit verbundene persuasive Argumentation in der jeweiligen Bundespressekonferenz zurückführen. Denn Kohl schilderte bereits einen Konsens mit den Verhandlungspartner/inne/n und seine Entstehungsumstände im internationalen Verhandlungsprozess um die deutsche Wiedervereinigung. Dies führt zu häufigen circumstantiellen Redehintergründen. In der Bundespressekonferenz vom November 2013 hingegen werden während der Koalitionsverhandlungen getroffene Zielsetzungen bekannt gegeben. Der Weg für das Erreichen dieser Zielsetzungen steht im Unterschied zu den der Bundespressekonferenz 1990 vorangegangenen vertraglichen Einigungen mit internationalen Vertragspartner/ inne/n zum Zeitpunkt der Pressekonferenz noch nicht fest. Dies erklärt den teleologischen Redehintergrund. In beiden exemplarisch analysierten Bundespressekonferenzen lässt sich außerdem in vielen Fällen eine Überschneidung unterschiedlicher Redehintergründe bei den handlungsraumbezogenen Modalverben können, aber auch müssen beobachten. Zum Beispiel treffen häufig der circumstantielle und der teleologische Gebrauch des Modalverbs können zusammen. Eine solche Verwendung ist mit der kommunikativ-pragmatischen Funktion verbunden, zuerst bereits bestehende politische Umstände zu schildern und anschließend auf diese aufbauenden zukünftige politische Handlungsziele festzulegen. Dieser Gebrauch ist folglich argumentativ indiziert. Nach Ausweisung der Satzkonstruktionen unter den einzelnen Belegen zu können kann zusammengefasst werden, dass sich das Modalverb können häufig im Nebensatz in Verbletztstellung befindet, also direkt hinter dem die Zielsetzung beinhaltenden Vollverb. Diese syntaktisch nahe Positionierung verdeutlicht die funktionale Nähe des Modalverbs zum Inhalt des Vollverbs. Dieser häufige topologische Gebrauch des Modalverbs können in Nebensatzendstellung ist dem Eingangsstatement von Angela Merkel in der Bundespressekonferenz 2013 und dem von Helmut Kohl in der Konferenz 1990 gemeinsam. In den Eingangsstatements von Gabriel und Merkel 2013, aber auch bei Kohl 1990, lässt sich als zweites topologisches Muster die Verwendung des Modalverbs können im Hauptsatz mit Skopus auf den Nebensatz feststellen, in dem aus Sicht der Politikerin/des Politikers positiv erscheinende Handlungsmöglichkeiten als erstrebenswert dargestellt werden. Wie eingangs bei der Analyse des Modalverbs können erläutert, verwendet Angela Merkel dieses Modalverb bei einem personenbezogenen Vergleich in der Bundespressekonferenz am häufigsten. Eine im Vergleich zu Merkel und Gabriel 2013 sowie auch zu Kohl 1990 besondere geringe Frequenz hat dieses Modalverb im Eingangsstatement von Horst Seehofer, dessen Beitrag aufgrund seiner Armut an handlungsraumbezogenen Modalverben für eine auf Handlungsziele und -umstände ausgerichtete Bundespressekonferenz atypisch ist.

7.2 Empirische Analyse des Modalverbgebrauchs in den Redeanteilen von Sigmar



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Außerdem tritt neben der hohen Frequenz von können-Belegen in den Eingangsstatements beider Bundespressekonferenzen 1990 und 2013 ein großer Unterschied hinsichtlich der Vorkommenshäufigkeit von müssen im Vergleich zu können hinzu. Auffallend ist, dass das Modalverb müssen proportional in den Eingangsstatements der Bundespressekonferenz 2013 deutlich häufiger mit 2,0 (Seehofer), 2,9 (Merkel) bis 5,3 Belegen (Gabriel) pro 1.000 Tokens auftritt als in der Bundespressekonferenz mit Helmut Kohl mit nur 0,9 Belegen pro 1.000 Tokens. Funktional und kommunikativ betrachtet, zeigt die Verwendung des Modalverbs müssen in den Eingangsstatements dieser Bundespressekonferenz sprecherübergreifende Ähnlichkeiten. Der sich aus der Modalverbsemantik von müssen ergebende extrasubjektive Handlungszwang wird nämlich von dem Kollektiv der Deutschen ferngehalten und kommt häufig in deagentivischen Konstruktionen zum Einsatz. Tritt das Modalverb müssen in der 1. Person Plural auf, werden die Wähler/innen in dieser Pressekonferenz von der kollektivbildenden Semantik des Personalpronomens wir exkludiert. Das Personalpronomen adressiert hier lediglich die politischen Agent/inn/en der Koalitionsverhandlung mit. In diesen Fällen handelt es sich aber keineswegs um in der Zukunft liegende verbindliche Zusagen. Bei der Analyse der Belege 9 und 10 zum Modalverb müssen bei Gabriel und Merkel mit dem Personalpronomen wir konnte zum Beispiel konstatiert werden, dass dieses Modalverb argumentativ als Teil von Schilderungen und zugleich Rechtfertigungen in repräsentativen Sprechakten rekurrent mit dem circumstantiellen oder teleologisch-circumstantiellen Redehintergrund auftritt. Das Ziel dieses Modalverbeinsatzes war es folglich, Verzögerungen in politischen Verhandlungsprozessen im Zusammenhang mit kontroversen Themen des Koalitionsvertrags zu begründen. In anderen Fällen war der Einsatz des Modalverbs müssen mit der 1. Person Plural damit verbunden, Pläne der zukünftigen Regierung ohne persönliche Verantwortungsübernahme unverbindlich anzukündigen. Dennoch wurde die Dringlichkeit des zu erzielenden Anliegens durch die Modalverbsemantik verdeutlicht. Nach dieser modalverbsemantischen Analyse zu müssen konnte aber darauf geschlossen werden, dass eine extrasubjektive Handlungsverpflichtung in allen Belegen zu müssen sowohl in den Eingangsstatements in der Bundespressekonferenz 2013 und auch bereits bei der Bundespressekonferenz 1990 von allen konkreten Interaktant/inn/en des aktuellen politischen Diskurses ferngehalten und nur die semantische Stärke des Modalverbs müssen in Szene gesetzt wurde. Dieser Befund steht allerdings in Widerspruch zur starken Semantik des Modalverbs müssen, das gerade darauf ausgerichtet ist, eine Verpflichtung einzugehen.

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7.2.2.2 Die zielbezogenen Modalverben mögen, sollen und wollen in den Eingangsstatements von Sigmar Gabriel, Angela Merkel und Horst Seehofer Von den 184 Modalverben in der gesamten Bundespressekonferenz im Jahr 2013 waren insgesamt 73 Modalverben zielbezogen. Das häufigste zielbezogene Modalverb ist – wie auch in der Bundespressekonferenz mit Helmut Kohl – wollen mit 31 Belegen. Die ebenfalls zielbezogenen Modalverben mögen und sollen treten in den Eingangsstatements jeweils 5-mal auf. Diese identische Häufigkeit beider zielbezogener Modalverben weist damit im Vergleich zum Eingangsstatement in der Bundespressekonferenz 1990 eine deutliche Abweichung auf, denn Kohl griff auf das Modalverb sollen im Vergleich zu mögen – vorwiegend möchte – deutlich häufiger zurück. Insgesamt wurden mit 41 Belegen etwas mehr als die Hälfte der 73 zielbezogenen Modalverben in den drei Eingangsstatements gegenüber 32 in der Diskussion verwendet. Auch die wenigen Belege für das Modalverb mögen/möchte- waren primär in den Eingangsstatements zu finden. So setzten Sigmar Gabriel und Horst Seehofer dieses Modalverb in ihren Beiträgen ausschließlich in Eingangsstatements ein, aber in der Diskussion kein einziges Mal. Im Unterschied dazu griff Merkel im Eingangsstatement einmal auf das Modalverb mögen zurück und in der Diskussionsrunde 2-mal. In den Eingangsstatements wird möchte- in 4 Belegen in der 1. Person Singular eingesetzt. Die Verwendung erfolgte in usuellen interaktionalen Konstruktionen mit stark performativem Charakter wie [ich+möchte+sagen] oder [ich+möchte+mich+bedanken] verwendet, um positive innere Einstellungen der Sprecher/innen zum bereits beschriebenen oder noch zu beschreibenden Sachverhalt insbesondere den Koalitionspartner/inne/n gegenüber zum Ausdruck zu bringen. Damit fungieren diese Konstruktionen als Höflichkeitsmarker auf der Ebene der primären Akteure/Akteurinnen. Ein solcher interaktionaler Gebrauch von möchte konnte 3-mal im Eingangsstatement von Horst Seehofer und einmal bei Angela Merkel beobachtet werden. Im Unterschied zur Bundespressekonferenz mit Helmut Kohl ist dieser Befund insofern auffällig, dass Kohl in seinem Eingangsstatement möchte in der Konstruktion [ich+möchte+eine Bilanz+ ziehen] ein einziges Mal als formellen Einstieg in eine Propositionsbekanntgabe verwendete. Dieser Unterschied zwischen den Eingangsstatements 2013 und dem Eingangsstatement von 1990 geht mit der höheren Anzahl der Teilnehmer/innen in der Konferenz 2013 einher und damit auch mit dem Charakter von möchte-Konstruktionen als Höflichkeitsmarker (Danksagung). Durch den höflichkeitsmarkierenden Charakter dieser Konstruktionen gerät der Redehintergrund von möchte in usuellen Fügungen in den Hintergrund, denn sie konzentrieren sich rein auf Danksagung oder Mitteilung [ich+möchte+sagen] und nicht auf eine weiterführende politische Zielsetzung (teleologischer Redehintergrund) oder den intra- oder extrasubjektiven Wunsch (volitiver Redehintergrund) in Bezug auf eine politische Proposition.

7.2 Empirische Analyse des Modalverbgebrauchs in den Redeanteilen von Sigmar



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Wie auch bei der Untersuchung handlungsraumbezogener Modalverben, werden für die empirische Analyse zielbezogener Modalverben in den Eingangsstatements der Bundespressekonferenz 2013 vorwiegend Belege herangezogen, die vom Modalverbgebrauch in der Bundespressekonferenz 1990 mit Helmut Kohl Abweichungen unterschiedlichen Ausmaßes veranschaulichen. So wurde in der Bundespressekonferenz 1990 der Einsatz des Modalverbs mögen in epistemischem Gebrauch nicht beobachtet. Die Eingangsstatements in der Bundespressekonferenz 2013 weisen hingegen einen epistemischen Beleg mit mögen in der 3. Person Singular auf, nämlich Beleg 12 von Sigmar Gabriel: 12. „(S1) Ich will hier auch sagen, dass ich [Reparatur] wir auf der sozialdemokratischen Seite wissen, dass dies Verhandlungen waren, die jedenfalls nie den Eindruck erweckt haben, es würde auf unterschiedlichen Niveaus mit oder übereinander geredet. (S2) Das mag man als selbstverständlich erachten. (S3) Frau Merkel hat gesagt, für sie sei das selbstverständlich. (S4) Für uns war das jedenfalls bemerkenswert und auch dafür haben wir uns gestern bedankt.“ (Sigmar Gabriel, Z. 145–150) Für das Modalverb mögen ergibt sich folgende Formel in (S2): DPr=dOBJ+MV+SPr3Sind+ÄQU+PRÄDNOM+VV

(Demonstrativpronomen als direktes Objekt + Modalverb + indefinites Subjektpronomen der 3. Person Singular + Äquation + Prädikatsnomen + Vollverb) Im zweiten Satz von Beleg 12 ist der Gebrauch von mögen an der Verbzweitstelle pragmatisch salient. Denn ein epistemischer Gebrauch von Modalverben kommt in der politischen Kommunikation selten vor, um die eigene politische Glaubwürdigkeit und Kompetenz nicht durch Relativierung der Faktizität, die mit einem epistemischen Modalverbgebrach einhergeht, in Frage zu stellen. Allein in den analysierten Bundespressekonferenzen mit Gerhard Schröder (SPD) gibt es einige wenige Einzelbelege für einen rein epistemischen Modalverbgebrauch. In Beleg 12 von Sigmar Gabriel handelt es sich zwar formal betrachtet um die Einschätzung einer Situation durch den Sprecher, die aber funktional als Höflichkeitsmarker in der Interaktion auf der ersten Realitätsebene mit Angela Merkel und Horst Seehofer fungiert und damit nicht hinsichtlich der Faktizität epistemisch ist. Es erfolgt also kein Infragestellen des eigenen Wissensstands in Bezug auf die Satzproposition, vielmehr wird durch diesen Modalverbgebrauch hervorgehoben, dass Verhandlungen zwischen den drei beteiligten Parteien trotz der deutlichen Diskrepanz hinsichtlich des Wahlergebnisses auf Augenhöhe geführt worden seien. Diese Verwendung des Modalverbs mögen ist folglich den abstimmungsberechtigten SPD-Mitgliedern auf der zweiten Realitätsebene im Diskurskontext gegenüber als

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strategischer Teil persuasiver Argumentation zu verstehen. Die Vermeidung der hinsichtlich der Faktizität epistemischen Verwendung der Modalverben dürfen, können, mögen oder müssen ist insofern nachvollziehbar, als ein auf Vermutungen und Wissensreflexion ausgerichteter Modalverbgebrauch die Faktenorientierung der Bundespressekonferenzen konterkarieren würde. Wie eingangs erwähnt, kommt das Modalverb sollen im Eingangsstatement der Politikerin/der Politiker genauso häufig zum Einsatz wie mögen/möchte-, also insgesamt 5-mal. Die gleiche Gebrauchsfrequenz von mögen/möchte- und sollen ist allerdings nicht nur im Vergleich zum Eingangsstatement der Bundespressekonferenz 1990 atypisch, sondern für alle untersuchten Bundespressekonferenzen sowie auch für andere Formate in der politischen Kommunikation, wie dies bereits eine Analyse der Neujahrsansprache vom Angela Merkel 2015/2016 von Fábián & Enzersberger (2018) zeigte. So ist das Modalverb sollen mit 9 Belegen im Eingangsstatement der Bundespressekonferenz 1990 mit Helmut Kohl erheblich häufiger als mögen/möchte- (2 Belege mit möchte-). Der Befund von 5 sollen-Belegen in den Eingangsstatements steht in der Bundespressekonferenz 2013 den 15 Belegen in der Diskussion mit den Journalist/inn/en gegenüber. Sollen zeichnet sich in seinem Gebrauch in der Bundespressekonferenz 2013 dadurch aus, dass es meist ein Sprecher- oder Hörersubjekt bei sich führt. Es wird in allen 5 Belegen des Eingangsstatements nur in der 3. Person Singular verwendet – jeweils einmal in einem Beleg bei Angela Merkel im Präsens und bei Horst Seehofer im Konjunktiv II (sollte) sowie personenbezogen häufiger mit drei präsentischen Belegen im Eingangsstatement von Sigmar Gabriel. Diese Agensarmut des Modalverbs sollen zeigt, dass auch in der Bundespressekonferenz 2013 darauf geachtet wurde, das einen Druck erzeugende Modalverb sollen genauso wie das ebenso notwendigkeitsmodale müssen von einem konkreten Agens fernzuhalten. Auch deshalb steht sollen in den Eingangsstatements mit Indefinitsubjektpronomen wie vieles (bei Sigmar Gabriel in Beleg 13 unten) oder Abstrakta als Subjekt wie Vollbeschäftigung (bei Angela Merkel in Beleg 14 unten), wie die folgende Beleganalyse zu sollen zeigen wird. Nach dem Redehintergrund lassen sich bei der Verwendung von sollen in den drei Eingangsstatements – insbesondere bei Angela Merkel und Sigmar Gabriel – auffällige Ähnlichkeiten zum Gebrauch von sollen im Eingangsstatement von Helmut Kohl feststellen, obwohl die Redehintergründe von sollen im Vergleich zum Kohl-Statement deutlich weniger vielfältig sind. Zwar wird in den Statements der Bundespressekonferenz 2013 primär der teleologische Redehintergrund und sekundär die Überschneidung des teleologischen Redehintergrunds mit einem circumstantiellen Redehintergrund – wie von Kohl – verwendet, doch spielt in der Konferenz 2013 der normative Redehintergrund bei sollen kaum eine Rolle. Beleg 13 ist durch eine auch in anderen Bundespressekonferenzen – insbesondere in der Bundespressekonferenz mit Helmut Kohl – häufig vorkommende

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Überschneidung des circumstantiellen und des teleologischen Gebrauchs des Modalverbs sollen gekennzeichnet: 13. „(S1/1) Ich will ausdrücklich sagen, (S1/2) der Koalitionsvertrag ist auch einer für die kleinen Leute, (S1/3) vielleicht muss man sagen, (S1/4) auch für die kleinen und fleißigen Leute. (S2/1) Hier wird vieles geregelt, (S2/2) was in Deutschland die wirtschaftliche Entwicklung, aber auch die soziale Entwicklung verbessern soll.“ (Sigmar Gabriel, Z. 198–201) Für das Modalverb sollen ergibt sich im Nebensatz (S2/2) folgende Formel: RSPr+PP+dOBJ-NP+Konj+Part+dOBJ-NP+VV+MV

(Relativsubjektpronomen + Präpositionalphrase + direktes Objekt-NP + Konjunktion + Partikel + direktes Objekt-NP + Vollverb + Modalverb) In (S1/1) und (S1/3) wird die Proposition des Satzes mittels der beiden primär mündlichen Konstruktionen [ich+will+sagen] und [man+muss+sagen] angekündigt und anschließend auch die eigene Einstellung des Sprechers zum Diskursgegenstand kundgegeben. Die beiden Modalverben und ihre gehäufte Kombination wollen und müssen dienen der semantischen Verstärkung der Aussage im darauffolgenden Satz. Der Wechsel von der 1. zur 3. Person in den beiden Konstruktionen im selben Satz ist pragmatisch salient, denn Konstruktionen mit dem Indefinitpronomen man signalisieren im Allgemeinen eine gewisse Distanz der Sprecher/innen zur Proposition, was hier in diesem Beleg aufgrund der Sprecherintention und des Kontexts auszuschließen ist. Als Handlungsziel der Äußerung wird in dem Teilsatz (S2/2) durch die Verbindung des stark performativen Vollverbs und des Modalverbs verbessern soll mit den syntaktisch obligatorischen Akkusativobjekten die wirtschaftliche und die soziale Entwicklung in Deutschland die Verbesserung beider Nominalphrasen in Deutschland festgelegt. Der teleologische Redehintergrund wurde damit eindeutig fundiert. Berücksichtigt man die satzexternen Informationen in Beleg 13, wird deutlich, dass aus Sigmar Gabriels Sicht bei der Erreichung der Ziele der Koalitionsvertrag – wie in S1/2 geschildert – argumentativ behilflich sein soll. Damit wird der Handlungsrahmen für die Zielsetzung gesichert, woraus sich die Überschneidung des teleologischen Redehintergrunds mit dem circumstantiellen Redehintergrund ergibt. Dieses argumentative Muster im Zusammenhang mit diesem Modalverb steht analog zu Beleg 11 von Helmut Kohl, in dem er 1990 vom Zustandekommen neuer Gesetze berichtet, die zur Erreichung seines politischen Ziels, der Einführung der sozialen Marktwirtschaft in Ostdeutschland beitragen sollen. Wie die Satzformeln unter den jeweiligen Belegen von Gabriel und Kohl zeigen, weisen diese sogar hinsichtlich der Stellung des Modalverbs sollen, seiner Kombination

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mit vergleichbaren Satzgliedern in derselben Serialisierungsfolge wie einer direkten Objekt-Nominalphrase und der Serialisierung im Nebensatz ausgeprägte Ähnlichkeiten auf. Damit und mit dem Auftreten ähnlicher Satzformeln bei anderen sollen-Belegen im Korpus der Bundespressekonferenzen zwischen 1990 und 2018 kann davon ausgegangen werden, dass neben den Redehintergründen und ihrer Überschneidungen auch die Satzformeln für die Überschneidung dieser Redehintergründe musterhaft sind und die persuasive Argumentation verstärken. Die argumentative Fundierung und deshalb auch die persuasive Argumentation wird außerdem durch den aneinandergereihten Einsatz der drei Modalverben wollen, müssen und sollen unterstützt und erfüllt damit die pragmatische Funktion der Selbstprofilierung des politischen Akteurs, wie dies auch in der Bundespressekonferenz mit Helmut Kohl im Jahr 1990 der Fall war. Hierfür spricht auch die usuelle Konstruktion [ich+will+sagen], die in Beleg 13 den persönlichen Bezug zum Koalitionsvertrag herstellt, an dessen Zustandekommen Gabriel ebenfalls beteiligt war. Neben einer Überschneidung des teleologischen Redehintergrunds mit dem circumstantiellen Redehintergrund ließen sich regelhaft in den Eingangsstatements der Bundespressekonferenz 2013 auch Belege mit rein teleologischem Redehintergrund beobachten. In diesen rein teleologischen Belegen wurden Zielsetzungen in kommissiven Sprechakten in Überschneidung mit einem direktiven Sprechakt festgelegt. Im Unterschied zu den Belegen, die eine Überschneidung des teleologischen Redehintergrunds mit dem circumstantiellen Redehintergrund aufweisen, werden in den teleologischen Belegen die Zielsetzungen primär fokussiert, ohne dabei den Handlungsrahmen zu schildern. Ein rein teleologischer Redehintergrund des Modalverbs sollen kann in Beleg 14, der das Modalverb sollen in der 3. Person Singular in Kombination mit dem Kopulaverb sein beinhaltet: 14. „(S1/1) Wir wollen jedem jungen Menschen eine Chance geben, (S1/2) und wir sagen: (S1/3) Vollbeschäftigung, (S1/4) das kann ein realistisches Ziel für Deutschland sein (S1/5) und das soll auch eins sein.“ (Angela Merkel, Z. 63–65) Für das Modalverb sollen ergibt sich in (S1/5) folgende Formel: Konj+DSPr+MV+Part+PRÄDNOM+KV

(Konjunktion + Demonstrativsubjektpronomen + Modalverb + Partikel + Prädikatsnomen + Kopulaverb) In Beleg 14 lässt sich der Einsatz von gleichzeitig drei Modalverben – wollen, können und sollen – beobachten, deren auffällige Dichte – wie auch im letzten Beleg – funktional motiviert ist. Diese saliente Dichte von Modalverben dient dazu,

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die innere Einstellung der Sprecherin zum Sachverhalt kundzugeben, ein Ziel festzulegen, zugleich eine Einschätzung über den Wahrscheinlichkeitsgrad seiner Umsetzbarkeit abzugeben und anschließend die Zielsetzung erneut zu bestärken. Die Funktion der Modalverben unterstützt folglich die Propositionsevaluation und bildet eine stabile diskursdeiktische Grundlage, die sich im Modalverbgebrauch niederschlägt. Damit wird hier die Einstellung der Sprecherin zum politischen Sachverhalt und davon abhängig der Aspekt persuasiver Argumentation in den Vordergrund gerückt und nicht das Verhältnis der Handlungsmöglichkeiten zueinander, wie dies Brünner & Redder (1983: 71) annehmen. Das Publikum soll in der komplexen Welt der politischen Kommunikation durch ein komplexes Argumentationsmuster davon überzeugt werden, dass die eigene Handlung oder eine Zielsetzung einen Sinn hat und die Durchsetzung eines politischen Ziels erstrebenswert ist. Diese sinngebende Argumentation wird in jedem Teilsatz Schritt für Schritt durch die bewusste Auswahl unterschiedlicher Modalverben hintereinander strategisch etabliert. Diese Aussage basiert auf der folgenden Beweisführung: Das Modalverb wollen in (S1/1) eröffnet den Beleg mit einer volitiven Komponente, die durch das kollektivfördernde wir nicht nur den Wunsch der Kanzlerin, sondern auch den der Koalitionsparteien miteinschließt. Die im Vorvorfeld syntaktisch und pragmatisch herausgestellte Zielsetzung wird in Teilsatz (S1/4) das kann ein realistisches Ziel für Deutschland sein semantisch konkretisiert und in Teilsatz (S1/5) und das soll auch eines sein pragmatisch verstärkt. Durch die Semantik des Modalverbs können wird außerdem die Einschätzung der Kanzlerin in Bezug auf die Realisierbarkeit der Satzproposition hervorgehoben. Der teleologische Redehintergrund des Modalverbs sollen wird im letzten Teilsatz gleich zweifach markiert, denn das Ziel Vollbeschäftigung tritt in einer syntaktisch salienten Stellung nach dem Doppelpunkt in (S1/3) im Vorvorfeld als Extralokation (vgl. Fábián, 2018a) auf und geht damit über eine syntaktisch und pragmatisch unmarkierte Verwendung deutlich hinaus. Diese Markierung des zu erreichenden Ziels durch die auffällige Extralokation im Vorvorfeld (S1/3) sowie dessen Platzierung nach dem Doppelpunkt zeigt eine enge Verbindung grammatikalischer Elemente im Sinne von Langacker (2008: 217), die mit dem Ziel hoher kognitiver Einprägsamkeit miteinander kombiniert werden. Analysiert man jedoch Beleg 14 nach der Einordnung von Ehrich (2001: 165), der zwischen einem starken und einem schwachen Modalverb sollen unterscheidet, so weist dieser Beleg und damit auch sollen in Kombination mit dem an sich in dem Kontext bedeutungsneutralen Kopulaverb sein jedoch einen schwachen Verbindlichkeitsgrad auf. Hierfür ist der Gebrauch von Pronomina und Abstrakta – auch und insbesondere in Kombination mit den Modalverben – ein Indiz. Daraus lässt sich folgern, dass die Politikerin die notwendigkeitsindizierende Kraft von sollen auf die erstrebenswerte Zielsetzung der Vollbeschäftigung zwecks persuasiver Argumentation zwar ausweitet, zugleich aber

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keine starke Verbindlichkeit eingehen möchte. Zum einen ist sie zum Zeitpunkt der Zielsetzung nicht im Besitz nötiger Fakten, die für ihre Aussage langfristig fundiert genug wären, zum anderen ist sie bei der Verwirklichung dieses Ziels auf weitere politische und wirtschaftliche Akteure/Akteurinnen angewiesen. Auch aus diesem Grund wird – ähnlich den anderen untersuchten Bundespressekonferenzen – in den Eingangsstatements darauf geachtet, das Modalverb sollen so einzusetzen, dass der Anschein einer „Fremdbestimmung“ und damit der Anschein eines autoritären Staatssystems vermieden wird. Im Unterschied zu den meisten sollen-Belegen im Eingangsstatement von Helmut Kohl können in den Belegen 13 und 14 keine Indikatoren beobachtet werden, die den voraussichtlichen Abschluss der Erfüllung definierter Ziele markieren. Somit erfüllen diese Belege das Kriterium der Telizität im Sinne von Zifonun (in Zifonun et al. 1997: 1866) nur schwach.67 Über die semantische Stärke des Modalverbs sollen – aber auch anderer zielbezogenen Modalverben – und der dadurch verbalisierten Intention liefern zum einen grammatikalisch (z. B. Aspekt) oder lexikalisch-semantisch markierte Abgeschlossenheitsindikatoren (z. B. konkrete Zeitangaben), zum anderen die Semantik des mit dem Modalverb verbundenen Vollverbs und dessen performative Kraft Hinweise. Deutlich häufiger als die beiden anderen zielbezogenen Modalverben mögen/ möchte- und sollen kommt in den Eingangsstatements von Sigmar Gabriel, Angela Merkel und Horst Seehofer – wie auch in den anderen Bundespressekonferenzen zwischen 1990 und 2018 – das Modalverb wollen vor. Von den 41 zielbezogenen Modalverben in den Eingangsstatements tritt wollen 31-mal auf und zeichnet sich im Vergleich zu mögen – und sollen durch eine agentivische Diversität aus. Denn das Modalverb wollen wird regelhaft sowohl in der 1. Person (ähnlich möchte-) und in der 3. Person (ähnlich sollen) verwendet. Trotz dieser im Verhältnis zu den beiden anderen Modalverben vorhandenen agentivischen Formenvielfalt des Modalverbs wollen lässt sich hinsichtlich des Gebrauchs von wollen mit 17 von 31 wollen-Belegen eine Tendenz zugunsten der 1. Person Plural feststellen. Bei 11 Belegen handelt es sich um einen Gebrauch in der 1. Person Singular hauptsächlich in usuellen Konstruktionen wie [ich+will+sagen] sowie lediglich in drei Fällen in der 3. Person Plural. Hinsichtlich des agentivischen Skopus von wollen lassen sich die persönlichen Unterschiede in den Eingangsstatements auch quantitativ darstellen: Am häufigsten lässt sich wollen bei Sigmar Gabriel mit 18 Belegen feststellen. Der zweithäufigste wollen-Gebrauch in den Eingangsstatements geht auf Angela Merkel mit 10 Belegen zurück. An der dritten Stelle steht Horst Seehofer mit insgesamt 3 Belegen, wobei daran erinnert werden soll, dass sein Eingangsstatement deutlich kürzer ausfällt als das der anderen. 67 Siehe dazu meine Überlegungen zur Telizität auf S. 107.

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Angela Merkel setzt wollen mit einer einzigen Ausnahme in ihrem Statement von allen 10 Belegen insgesamt 9-mal in der 1. Person Plural ein, 2-mal davon absolut. Mit 8 wollen-Belegen in der 1. Person Plural von den insgesamt 18 wollen-Belegen in seinem Eingangsstatement – einmal absolut – lässt sich hinsichtlich der Frequenz dieses Typs eine Ähnlichkeit von Gabriel zu Merkel beobachten. Die Konstruktion [wir+wollen] mit dem kollektivierenden Personalpronomen wir, das auch den Sprecher/die Sprecherin inkludiert, wird sowohl von Merkel als auch von Gabriel bei der Kommunikation der Zielsetzungen der Großen Koalition eingesetzt. Sie framet wollen positiv und hat damit einen für die Gründung der Koalition notwendigen kollektivbildenden Charakter. Eine solche Verwendung von wollen in der 1. Person Plural ließ sich ebenfalls zur Ankündigung der Zielsetzungen für die Zeit nach der deutschen Einheit propositionsfokussierend in dem Eingangsstatement von Helmut Kohl 1990 bei 2 der 9 wollen-Belegen konstatieren. Eine relativ frequente Agentivierung durch das Sprecher-Ich zeigt die wollenVerwendung bei Horst Seehofer, der wollen in allen drei wollen-Belegen in seinem Eingangsstatement in der 1. Person Singular nutzt, davon einmal absolut. Ähnlich Seehofer greift auch Gabriel auf das Modalverb wollen in der 1. Person Singular rekurrent – 7-mal, davon 5-mal in der usuellen Konstruktion [ich+will+sagen] – zurück. Angela Merkel setzt die 1. Person Singular nur ein einziges Mal ein. Dieser Einsatz resultiert jedoch aus einer Interaktion, die durch eine Unterbrechung durch Seehofer ganz am Ende ihres Statements bedingt ist. Damit ist diese singuläre Verwendung von [ich+will] bei Merkel nicht repräsentativ für diesen Gebrauch in ihrem Eingangsstatement. Der Einsatz von wollen in der 1. Person Singular in den Eingangsstatements ließ sich – wie bei Gabriel und Seehofer – auch in dem Eingangsstatement von Helmut Kohl in der Bundespressekonferenz 1990 4mal beobachten. Diese Verwendung ist für die Eingangsstatements der Bundespressekonferenzen pragmatisch betrachtet musterhaft, denn der Satz mit dem Modalverbeinsatz steht zumeist einleitend zu Beginn eines neuen Statements und trägt außerdem funktional zur Herausstellung eigener Positionen zu der anzukündigenden Proposition bei. Damit erfolgt eine Diskurspositionierung über die Semantik der Konstruktion [ich+will+VV], die Chiltons (2004: 56 ff.) These stützt, der neben der räumlichen und der zeitlichen Deixis auch die modale Deixis als Diskursdeixis annimmt. Der Einsatz von wollen in der 3. Person Plural wurde nur bei Sigmar Gabriel insgesamt 3-mal beobachtet. Merkel und Seehofer sowie auch Helmut Kohl in der Pressekonferenz 1990 haben darauf vollständig verzichtet. Obwohl diese Modalverbbelege von wollen in der 3. Person im Korpus der Bundespressekonferenzen nicht musterhaft sind, weisen diese jedoch hinsichtlich ihres Redehintergrunds musterhafte Züge auf, die sich in der Überschneidung des teleologischen mit einem volitiven Redehintergrund niederschlagen. Diese Schlussfolgerung resultiert aus der Befundanalyse zu [sie+wollen+MV] im Vergleich zu [wir

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+wollen+MV] im Eingangsstatement der Bundespressekonferenz 2013 in Kontrast zu dem wollen-Befund in der 1. Person Plural als Hilfsverb in dem Eingangsstatement der Bundespressekonferenz 1990 und auch anderen Bundespressekonferenzen aus dem Korpus. Hierfür steht die Beweisführung, in der Beleg 15 – wollen in 3. Person Plural bei Gabriel – und Beleg 16 – wollen in 1. Person Plural – hinsichtlich des Redehintergrunds miteinander verglichen werden: 15. „(S1) Heute wie vor 150 Jahren wollen Sozialdemokraten das Leben für Menschen besser machen. (S2) Dieser Koalitionsvertrag macht es besser, stärkt Deutschland und Europa, und deshalb werden die Mitglieder der SPD mit Sicherheit zustimmen.“ (Sigmar Gabriel, Z. 310–313) Für das Modalverb wollen in (S1) ergibt sich folgende Formel: ADV+VglK+PP+MV+SUB-NP+dOBJ-NP+PP+PRÄDNOM+VV

(Adverb + Vergleichskonstruktion + Präpositionalphrase + Modalverb + SubjektNominalphrase + direktes Objekt-Nominalphrase + Präpositionalphrase + Prädikatsnomen + Vollverb) Die Nennung der abstrakten Zielsetzung das Leben für Menschen besser machen liefert ein Indiz für einen teleologischen Redehintergrund und dient als Argumentationsgrundlage auf der zweiten und in der Bundespressekonferenz physisch nicht wahrnehmbaren Realitätsebene für die SPD-Mitglieder, die erst in (S2) genannt werden. Das Kompositum Sozialdemokraten belegt zugleich, dass der ehemalige SPD-Chef für seine Partei stellvertretend spricht und in diesem Beleg die innere Einstellung des Sprechers mit der Zielsetzung korreliert. Dies erklärt die Überschneidung mit dem volitiven Redehintergrund. Wie zu Beginn der Beweisführung hingewiesen, schlägt sich eine solche Überschneidung des teleologischen Redehintergrunds mit dem volitiven Redehintergrund auch in Beleg 16 bei Angela Merkel nieder: 16. „[…] (S1/1) wir sagen, (S1/2) wir wollen den Wohlstand sichern. (S2) Sicherer Wohlstand für die Menschen im Lande. (S3) Das ist das Ziel unserer Arbeit. (S4/1) Das ist für mich von besonderer Wichtigkeit und für die christlich-demokratische Union, (S4/2) dass wir gesagt haben, (S4/3) wir wollen die Steuern nicht erhöhen.“ (Angela Merkel, Z. 28–31) Folgende Formel ergeben sich für die beiden Modalverben in Beleg 16: Modalverb wollen im Teilsatz (S1/2): SPr1P+MV+dObj-NP+VV

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(Subjektpronomen der 1. Person Plural + MV + direktes Objekt-Nominalphrase + Vollverb) Modalverb wollen im Teilsatz (S4/3): SPr1P+MV+dOBJ-NP+NEG+VV

(Subjektpronomen der 1. Person Plural + Modalverb + direktes Objekt-NP + Negationswort + Vollverb) In Beleg 16 wird die Zielsetzung, also die Sicherung des Wohlstands für alle im Nebensatz (S1/2) kommuniziert und aufmerksamkeitswirkend im Voraus in (S1/1) durch wir sagen eingeleitet. In (S3) Das ist das Ziel unserer Arbeit wird die teleologische Komponente von wollen semantisch noch einmal verstärkt. Die Verwendung von wir schließt die Sprecherin mit ein und impliziert zugleich einen volitiven Redehintergrund, der sich auch in (S4/1) „Das ist für mich von besonderer Wichtigkeit und für die christlich-demokratische Union“ niederschlägt. Diese Musterhaftigkeit hinsichtlich des Redehintergrunds stimmt mit dem gleichen Muster bei wollen im Plural auch in dem Eingangsstatement von Helmut Kohl – v. a. auch in dem absoluten wollen-Beleg 9 – überein. Aus funktionaler Sicht wird wollen als einziges der Modalverben dürfen, können, müssen, mögen/möchte-, sollen und wollen in allen Eingangsstatements – wie auch im Eingangsstatement von Kohl – auch absolut gebraucht. Dieser absolute Gebrauch von wollen – Terminus nach Kaiser (2017: 8–81) – liegt in 2 Belegen bei Angela Merkel, in einem Beleg bei Sigmar Gabriel und in einem weiteren bei Horst Seehofer vor. Unabhängig davon, ob wollen absolut oder als Modalverb im Satz auftritt, überwiegt auch in diesen wenigen Belegen die Überschneidung der beiden teleologischen und volitiven Redehintergründe. Der folgende Beleg 17 mit dem absolut gebrauchtem wollen zeichnet sich eindeutig durch einen volitiven Redehintergrund aus, wenn auch metaphorisch: 17. „(S1) Die Mehrstaatlichkeit wird also hingenommen, und ansonsten bleibt das Staatsbürgerschaftsrecht wie es ist. (S2/1) Dies ist ein klares Signal, (S2/2) wir wollen diese jungen Menschen. (S3) Sie sind Teil unserer Gesellschaft, und das haben wir deshalb miteinander vereinbart.“ (Angela Merkel, Z. 112–115) Für wollen als Vollverb ergibt sich folgende Formel in (S2/2): SPr1P+absMV=VV+dObj-NP

(Subjektpronomen der 1. Person Plural + absolutes Modalverb wollen als Vollverb + direktes Objekt-NP) In Beleg 17 im Teilsatz (S2/1) Dies ist ein klares Signal wird auf die Proposition des Nebensatzes, auf den sich der volitive Charakter des Modalverbs wollen be-

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zieht, einleitend hingewiesen. Die enge syntaktische Zusammengehörigkeit der kollektivfördernden 1. Person Plural wir und des absoluten wollen in Vollverbfunktion mit der syntaktisch obligatorischen Ergänzung diese jungen Menschen verstärkt den semantischen Bezug zwischen Subjekt, Prädikat und direktem Objekt. Der sowohl intra- als auch extrasubjektiv-volitive Charakter des Modalverbs wollen und dessen starker Einfluss auf die Proposition werden in dem kommissiven Sprechakt durch das Fehlen eines weiteren Verbs im Infinitiv und damit durch den absoluten Gebrauch in keiner Weise geschmälert, sondern nur noch stärker hervorgehoben.68 Diese Verbindung wird folglich auf der syntaktischen Ebene ebenfalls fokussiert. Beleg 17 von Angela Merkel und Beleg 9 in Helmut Kohls Eingangsstatement stehen damit nicht nur angesichts des Einsatzes von wollen in der 1. Person Plural mit absolutem Gebrauch analog zueinander, sondern auch satztopologisch. Für beide Belege gilt folglich die Serialisierungsformel: SPr1P+absMV=VV+dObj-NP, die sich durch die syntaktische Nähe des Verbs wollen zum direkten Objekt kennzeichnet und damit die Argumentation auch durch die syntaktische Dependenz unterstützt. Während das Objekt hier Menschen darstellt und damit der volitive Redehintergrund im Diskurskontext folglich metaphorisch ist und eine teleologische Zielsetzung semantisch ausgeschlossen wird, stehen in Beleg 9 von Kohl trotz Abstrakta in der Position des Objekts (zukunftsgewandte Verträge, umfassende Zusammenarbeit, Vertrauen und nicht zuletzt die breite Begegnung unserer Völker) Ziele, die zu einer Überschneidung eines teleologischen mit einem volitiven Redehintergrund führen. Beleg 18 von Sigmar Gabriel zeichnet sich im Unterschied zum metaphorisch volitiven Beleg 17 von Merkel durch die Überschneidung des teleologischen mit dem volitiven Redehintergrund aus: 18. „(S1/1) Denn wir wollen die Tarifautonomie, (S1/2) aber wir wissen, (S1/3) dass sie in nicht unerheblichen Teilen vor allem Ostdeutschlands nur auf dem Papier und nicht in der Realität steht.“ (Sigmar Gabriel, Z. 218–220) Für wollen als absolutes Modalverb ergibt sich folgende Formel in (S1/1): Konj+SPr1P+absMV=VV+dObj-NP

(Konjunktion + Subjektpronomen der 1. Person Plural + absolutes Modalverb wollen als Vollverb + direktes Objekt-NP) Das Diskurswissen sowie die Satzsemantik erlauben die Schlussfolgerung, dass zum üblichen volitiven Redehintergrund des wollen-Belegs auch eine teleologische Komponente hinzutritt, indem die Verwirklichung der Tarifautonomie als 68 Siehe die Überlegungen zum Beleg 9 bei Helmut Kohl.

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implizit geäußerte Zielsetzung steht. Folglich wird durch diese syntaktisch-topologische wie semantische Enge des Subjekt-Prädikat-Konstrukts zum direkten Objekt die eigene Einstellung des agierenden Politikers zu dieser Forderung verstärkt herausgestellt. Durch diese positionelle Nähe des direkten Objekts zu wollen und seine syntaktisch-topologische Funktion im Satz wird das Ziel semantisch bekräftigt und die persuasive Argumentation in einem kommissiven Sprechakt – wie in den Belegen 9 bei Kohl und 17 bei Merkel – unterstützt. Die volitive Kraft von wollen tritt durch den absoluten Gebrauch stärker als in der Funktion eines deontischen Modalverbs in den Vordergrund und der kommissive Charakter eines Sprechakts erhält zugleich eine zusätzliche direktive Komponente. Damit ist dieser Beleg im Sinne Feilkes (1996: 265) pragmatisch markiert. In den Eingangsstatements der beiden Bundespressekonferenzen 1990 und 2013 zeigt sich also eine ähnliche musterhafte Ausbildung der Redehintergründe sowie der Satzserialisierung bei wollen sowohl in absolutem Gebrauch als auch als modales Hilfsverb. Hinsichtlich der Negation können jedoch Unterschiede beobachtet werden: Während im Statement von Kohl das Modalverb wollen kein einziges Mal in einem Satz mit Negation steht, tritt wollen in den Statements aller drei Politiker/innen in der Bundespressekonferenz 2013 jeweils einmal negiert auf. Bei Seehofer handelt es sich um einen negierten Beleg in der 1. Person Singular, der sich jedoch im Unterschied zu den anderen Teilen seines Statements durch gesprochensprachliche Merkmale auszeichnet. Bei Gabriel und Merkel dagegen liegt wollen als Modalverb in der 1. Person Plural vor, wofür der Beleg 19 von Angela Merkel repräsentativ steht: 19. „[…] (S1/1) wir sagen, (S1/2) wir wollen den Wohlstand sichern. (S2) Sicherer Wohlstand für die Menschen im Lande. (S3) Das ist das Ziel unserer Arbeit. (S4/1) Das ist für mich von besonderer Wichtigkeit und für die christlich-demokratische Union, (S4/2) dass wir gesagt haben, (S4/3) wir wollen die Steuern nicht erhöhen.“ (Angela Merkel, Z. 28–31) Serialisierungsformel für (S4/3): SPr1P+MV+dOBJ-NP+NEG+VV

(Subjektpronomen 1. Person Plural + Modalverb + direktes Objekt-Nominalphrase + Negationswort + Vollverb) Das negierte Modalverb wollen in Teilsatz (S4/3) hat auch in diesem Beleg durch die Modalität einen diskursdeiktischen Charakter und stellt die ablehnende Haltung der Sprecherin gegenüber einer Steuererhöhung, eines der strittigen Themen der Koalitionsverhandlungen 2013, dar. In Kombination mit der Satzsemantik trägt die Negation hier zum Charakter des Satzes als indirektem kommissivem

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Sprechakt bei. Der Modalverbgebrauch weist trotz der Negation des Vollverbs einen teleologischen Redehintergrund in Überschneidung mit einem volitiven Redehintergrund auf, da die Kanzlerin als Teil des Kollektivs der CDU durch diese Äußerung auch ihre eigene Diskursposition offenlegt. Eine diskursiv ähnliche Verwendung des negierten Modalverbs wollen zeigt der Beleg 20 von Sigmar Gabriel, in dem durch die starke Semantik des Vollverbs hinnehmen ein noch höherer Grad persönlicher Positionierung versprachlicht wird: 20. „(S1/1) Wir wollen nicht hinnehmen, (S1/2) dass wir jedes Jahr von der Europäischen Union mitgeteilt bekommen, (S1/3) dass in Deutschland 23 % geringere Löhne und Gehälter bei Frauen als bei Männern bezahlt werden.“ (Sigmar Gabriel, Z. 260–262) Für das Modalverb wollen ergibt sich folgende Formel in (S1/1): SPr1P+MV+NEG+VV

(Subjektpronomen der 1. Person Plural + Modalverb + Negationswort + Vollverb) Die pragmatische Funktion des Modalverbs in dem negierten Hauptsatz (S1/1) geht mit dem intra- und zugleich extrasubjektiven Wunsch des Sprechers einher, sich im Diskurs um die Gleichberechtigung von Frauen auf dem Arbeitsmarkt zu positionieren. Er spricht so in einem indirekt kommissiven Sprechakt für die Durchsetzung von auf Gleichstellung zielenden Maßnahmen aus, womit der implizit teleologische Redehintergrund von wollen im negierten Satz begründet wird. 7.2.2.2.1 Zwischenfazit zum Gebrauch der zielbezogenen Modalverben in den Eingangsstatements von Sigmar Gabriel, Angela Merkel und Horst Seehofer Während der Untersuchung der zielbezogenen Modalverben in den Eingangsstatements der Bundespressekonferenz 2013 konnte die gleiche Frequenz bei den Modalverben mögen/möchte- und sollen beobachtet werden. Im Eingangsstatement von Helmut Kohl dagegen ist der Einsatz von sollen deutlich häufiger als die Verwendung von mögen/möchte-. Diese pragmatisch auffällige Divergenz wird v. a. auf der Makroebene – Diskurskontext – argumentativ fundiert: Während Kohl bereits konkrete Ergebnisse internationaler Verhandlungen und bereits abgeschlossener Vereinbarungen öfter in Kombination mit festen Daten ankündigt, die nach der Deutschen Einheit in Kraft treten sollen, gaben die politischen Teilnehmer/innen der Bundespressekonferenz 2013 auf der ersten Realitätsebene in ihren Eingangsstatements die Koalitionsziele bekannt. Die genaue Umsetzung dieser Koalitionsziele war allerdings zum Zeitpunkt des Zustandekommens des Koalitionsvertrags noch ungewiss. Diese Schlussfolgerung stimmt mit

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den Analyseergebnissen der das Modalverb sollen beinhaltenden Sätze in beiden Bundespressekonferenzen hinsichtlich ihrer Telizität überein: Der Grad der Telizität war allein schon durch die konkreten Zeitangaben bei Kohl deutlich ausgeprägter als in den Eingangsstatements von Gabriel, Merkel und Seehofer. Während das notwendigkeitsmodale sollen hinsichtlich der Tokenfrequenz dem Modalverb wollen in den drei Statements deutlich – 5-mal sollen und 31-mal wollen – unterliegt und nur in der 3. Person mit Singular gebraucht wird, zeigt wollen hinsichtlich der Subjektrealsierung eine Diversität: Die Beleganalyse lässt die Schlussfolgerung zu, dass wollen in der 1. Person Plural – wie auch bei Kohl in dem Eingangsstatement der Konferenz 1990 – mit seiner positiv geframten Semantik zum kollektivbildenden Charakter eines Statements beiträgt und zur Kommunikation klarer und aus Sicht der Sprecher/innen erstrebenswerter Zielsetzungen eingesetzt wird. Die hohe Vorkommenshäufigkeit des zielbezogenen wollen lässt sich darauf zurückführen, dass die jeweiligen Parteichefs und die Parteichefin bei der Vorstellung der aus Sicht ihrer Partei wichtigen Inhalte zum einen oft ihre eigene Einstellung zum gegebenen Sachverhalt kundgeben und zum anderen für ihre Arbeit Ziele festlegen. Konstruktionen mit [wir+wollen+Akkusativobjekt+VV] oder auch seltener absolut [wir+wollen+Akkusativobjekt] sind dabei Zeichen politischen Engagements mit ebenfalls positivem Framing. Sie ermöglichen einen Transfer der positiven Semantik von wollen auf das Akkusativobjekt sowie bei einem nicht-absoluten Gebrauch auch auf das Vollverb. Ein solcher Einsatz des Modalverbs mit einem volitiven Redehintergrund in Überschneidung mit dem teleologischen Redehintergrund ist für mein Korpus aller untersuchten Bundespressekonferenzen musterhaft. In dieser Bundespressekonferenz lag in den Eingangsstatements eine solche Verwendung bei Gabriel und Merkel rekurrent vor – ähnlich Kohl in dem Eingangsstatement 1990 –, allerdings nicht bei Seehofer. Während wollen in der 1. Person Plural in den Eingangsstatements der Bundespressekonferenz 2013 propositionsfokussierend zum Einsatz kam, wurde es im Unterschied zum Eingangsstatement von Kohl in der 3. Person Singular nicht verwendet. Auf den Transfer intrasubjektiver Wünsche auf Dritte im Kontext politischer Zielsetzungen, wie dies Kohl in 2 Belegen gegenüber „Gorbatschow“ und dem „Westen“ tat, wurde in den Eingangsstatements der Politiker/innen der Großen Koalition verzichtet. Es lässt sich außerdem feststellen, dass das Modalverb wollen sowohl in positiver Form mit seinen vielfachen formalen Variationen als auch in den seltenen negierten Belegen als Teil einer Äußerung mit – wenn auch implizit – kommissivem Charakter fungiert. Wird wollen in einer Äußerung absolut gebraucht, wird der kommissive Aspekt um einen direktiven erweitert. Die Zielorientierung rückt damit deutlich in den Vordergrund und die Äußerung weist zugleich einen höheren Grad diskurspositioneller Nähe des Agens zur Proposition

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auf. Diese syntaktische und semantische Kompaktheit der absoluten Modalverbkonstruktionen unterstützt folglich die Argumentation. Eine diskurspositionelle Distanz hingegen weist in den Eingangsstatements der Einsatz von sollen vorwiegend in Kombination mit Abstrakta auf, in drei Fällen bei Sigmar Gabriel und in jeweils einem Fall auch bei Merkel und Seehofer. Dies korreliert mit dem sollen-Befund bei Helmut Kohl in seinem Eingangsstatement in der Bundespressekonferenz 1990. In diesem kam sollen sowohl in der 3. Person Singular – und im Unterschied zu den Eingangsstatements in der Bundespressekonferenz 2013 – als auch in der 3. Person Plural, aber ebenfalls mit Abstrakta zum Einsatz, vor. Damit kann die Feststellung in Kapitel 6 zu Kohls Bundespressekonferenz auch hier bestätigt werden: Das Autorität framende Modalverb sollen – wie auch sein handlungsraumbezogenes Pendant müssen – wird durch seinen überwiegenden Einsatz mit Abstrakta so verwendet, dass der notwendigkeitsmodale Zwang von einem konkreten menschlichen Agens ferngehalten wird und der modale Zwang sich auf die Zielsetzung – also die Abstrakta – richtet. Dies schließt in diesen Verwendungskonzepten die in vielen anderen Textsorten häufige Restringierung der Handlungsfreiheit eines Agens durch das Modalverb sollen aus. Der Gebrauch von sollen zeichnete sich in den Eingangsstatements nach dem Redehintergrund trotz der geringen Tokenanzahl von 5 aller 41 zielbezogenen Modalverben durch musterhafte Züge aus: Der teleologische Redehintergrund überwog, jedoch ließen sich auch hier – wie im Eingangsstatement von Kohl in der Bundespressekonferenz 1990 – Überschneidungen des teleologischen mit dem circumstantiellen Redehintergrund beobachten. Diese Überschneidungen waren im Vergleich zu den sollen-Belegen in den Eingangsstatements von 2013 und im Eingangsstatement von Kohl besonders musterhaft. Dieser Unterschied geht damit einher, dass Kohl – im Unterschied zu den Teilnehmer/inne/n der Bundespressekonferenz 2013 – bereits festgelegte Ziele manchmal sogar mit konkreten Terminen bekannt gab, deren Ursprung und damit deren Handlungsrahmen für den circumstantiellen Gebrauch in den im Kontext der Deutschen Einheit abgeschlossenen internationalen Verträgen liegt. Nachdem mit Hilfe einer syntaktischen Diagnostik auf der Mikroebene (Satz) in den jeweiligen Belegen der teleologische Redehintergrund festgestellt werden konnte, war für die Identifizierung eines gleichzeitigen circumstantiellen Redehintergrunds oft die komplementäre Untersuchung der Meso- (Redebeitrag und Interaktion) und Makroebene (Diskurs) notwendig.

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7.3 Resümee zum Modalverbgebrauch in den Eingangsstatements von Angela Merkel, Sigmar Gabriel und Horst Seehofer der Bundespressekonferenz vom 27.11.2013 In den Eingangsstatements der Bundespressekonferenz 2013 ließen sich persönliche Abweichungen des Modalverbgebrauchs unter den drei Politiker/inne/n beobachten. Gabriel setzte im Eingangsstatement Modalverben in kognitiv verfestigten Konstruktionen deutlich öfter ein als Angela Merkel oder Horst Seehofer. Wie bereits erwähnt, hängen die personenbezogenen Unterschiede primär damit zusammen, dass der Beitrag von Sigmar Gabriel mehr gesprochensprachliche Merkmale beinhaltet, was die Schlussfolgerung erlaubt, dass sein Eingangsstatement eine ähnlich spontane Redeplanung aufweist wie seine Äußerung in den Diskussionen mit den Journalist/inn/en. Bei Merkel und Seehofer wiesen die Redebeiträge in den Eingangsstatements stark schriftsprachliche Merkmale auf. Die grammatische und semantische Analyse der Modalverbverwendung hinsichtlich der Redehintergründe zeigte deutliche Ähnlichkeiten mit dem Modalverbgebrauch im Eingangsstatement von Helmut Kohl in der Bundespressekonferenz vom 13.07.1990 auf. Wie in der Bundespressekonferenz 1990 ließen sich auch in der Bundespressekonferenz 2013 der circumstantielle Redehintergrund bei den handlungsraumbezogenen Modalverben dürfen, können und müssen am häufigsten feststellen. Im Unterschied zur Bundespressekonferenz 1990 kam es 2013 bei handlungsraumbezogenen Modalverben jedoch häufiger zur Überschneidung des circumstantiellen Redehintergrunds mit dem teleologischen. Insbesondere der Gebrauch des Modalverbs können mit einem circumstantiellen in Überschneidung mit dem teleologischen Redehintergrund war in den Eingangsstatements der Bundespressekonferenz 2013 musterhaft. Einen deutlichen Unterschied wiesen wollen und müssen hinsichtlich ihrer Frequenz in den zum Modalverbgebrauch zu Kohls Eingangsstatement von 1990 aus. So trat wollen in den Eingangsstatements der Bundespressekonferenz 2013 am zweithäufigsten auf, während müssen an der dritten Stelle stand. Im Eingangsstatement von Helmut Kohl war das umgekehrt. Die meisten Unterschiede zwischen den beiden Bundespressekonferenzen in Hinblick auf die Redehintergründe und die Modalverbfrequenz hängen damit zusammen, dass in der Bundespressekonferenz 2013 politische Handlungsziele der Großen Koalition angekündigt und argumentativ begründet wurden, während in der Bundespressekonferenz 1990 konkrete politische Handlungsresultate, Handlungsnotwendigkeiten und Handlungsmöglichkeiten vorwiegend erläutert wurden. Bei der Festlegung politischer Zielsetzungen ist es nachvollziehbar, dass das für die Kommunikation von Handlungsplanungen geeignete positiv geframte Mo-

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dalverb wollen mit teleologischem Redehintergrund oft in Überschneidung mit dem volitiven Redehintergrund zum Einsatz kommt. Zum Zeitpunkt der politischen Planung in der Bundespressekonferenz 2013 steht die Sicherung des Handlungsrahmens noch nicht im Vordergrund. Dieser Zusammenhang erklärt auch, warum wollen im Eingangsstatement 2013 öfter eingesetzt wird als das oft circumstantiell verwendete und für den Ausdruck der Handlungsrahmenüberprüfung semantisch geeignete Modalverb müssen. Dieser analytische Vergleich der zwei Bundespressekonferenzen 1990 und 2013 erlaubt außerdem die Schlussfolgerung, dass Modalverben im argumentativen Kontext abhängig von den Zielsetzungen einer Pressekonferenz in dem jeweiligen Handlungsstadium bewusst ausgewählt werden und die Argumentation zur Überzeugung des Publikums auf der ersten und der zweiten Realitätsebene der Bundespressekonferenzen stützen. Die Überschneidungsfrequenz des circumstantiellen Redehintergrunds mit dem teleologischen Redehintergrund sowohl bei handlungsraum- als auch bei zielbezogenen Modalverben bestätigt außerdem, dass auch die Einteilung der Modalverben in handlungsraumbezogene und zielbezogene Modalverben nach den semantischen Kriterien des Redehintergrunds klassifikatorisch nicht trennscharf ist, denn Modalverben beider Typen können sowohl circumstantielle, also auf die Überprüfung des Handlungsrahmens gerichtete Hinweise als auch teleologische, also zielbezogene Informationen beinhalten. Die Notwendigkeit theoretischer Klassifikationen wird damit keineswegs angezweifelt, nur muss darauf hingewiesen werden, dass der Mehrwert korpuslinguistischer Arbeiten darin liegt, die Anwendbarkeit klassifikatorischer Systeme der theoretischen Linguistik zu überprüfen. Zugleich ist es auch für korpuslinguistische Arbeiten essentiell, bestehende Klassifikationssysteme an Korpora zu untersuchen, damit komplexe Gebrauchsmuster in Korpora aufgezeigt werden können. Wie eingangs angekündigt, wird die Modalverbverwendung in Hinblick auf die Argumentation in der Diskussion der Bundespressekonferenz 2013 im Unterschied zu den Modalverbuntersuchungen in der Bundespressekonferenz 1990 in dem getrennten Kapitel 8 Eine konversationsanalytische und konstruktionsgrammatische Untersuchung des Modalverbeinsatzes von Angela Merkel, Sigmar Gabriel und Horst Seehofer in der Diskussion der Bundespressekonferenz am 27.11.2013 diskutiert. In diesem Kapitel wird der Modalverbeinsatz in der Diskussion mit Journalist/inn/en auf ihren argumentativen Gebrauch hin im konversationellen Verlauf mit einem Forschungsdesign bestehend aus dort entwickelten Methoden für die Konversationsanalyse sowie der Konstruktionsgrammatik analysiert. In dieser Analyse werden jedoch weiterhin auch die Redehintergründe der Modalverben im interaktionalen Einsatz erläutert.

8 Zur empirischen Analyse des Modalverbgebrauchs IIb: Eine konversationsanalytische und konstruktionsgrammatische Untersuchung des Modalverbeinsatzes von Angela Merkel, Sigmar Gabriel und Horst Seehofer in der Diskussion der Bundespressekonferenz am 27.11.2013 In diesem Kapitel wird in Anschluss an das Kapitel 7 der Modalverbeinsatz von dürfen/können/müssen und mögen (möchte-)/sollen/wollen in der Konversation zwischen Politiker/inne/n und Journalist/inn/en in der Diskussion der Bundespressekonferenz 2013 untersucht. Im Unterschied zur Interaktion in der Bundespressekonferenz 1990 mit Helmut Kohl in Abschnitt 6.2, in dem die Modalverben zuerst im Eingangsstatement und anschließend in der mangels einer Videoaufzeichnung nicht transkribierten Diskussion analysiert wurden, werden die Modalverben auf ihre argumentative Rolle hin im konversationellen Verlauf in der Diskussion in diesem getrennten Kapitel überprüft. Wo anhand eines schriftlichen Transkripts interaktionslinguistische Phänomene trotz fehlender Videoaufzeichnung in der Bundespressekonferenz 1990 dennoch nachweisbar waren, wurden Erkenntnisse zum Modalverbeinsatz in der Konversation mit den Journalist/inn/en mit Blick auf die Argumentation in einem eingeschränkten Umfang bereits zusammengefasst. Dabei wurden insbesondere die Modalverbkonstruktionen [ich + Modalverb + sagen] zentral erläutert (vgl. Abschnitt 6.2.2.2). Diese ersten konversationsanalytischen und konstruktionsgrammatischen Erkenntnisse aus Kapitel 6 werden in diesem Kapitel am Korpus der Diskussion in der Bundespressekonferenz 2013 in Bezug auf die Modalverbverwendung im argumentativen Handlungskontext der Konversation weiter ausgeführt. Hierfür werden eigene Transkriptionen gemäß den Transkriptionsstandards GAT 2 (Selting et al.: 2009) erstellt. Damit einhergehend fallen die exemplarische Modalverbanalyse im Eingangsstatement sowie die anschließende konversationsanalytische Modalverbuntersuchung der Diskussion thematisch und methodologisch so unterschiedlich aus, dass eine Einteilung der Untersuchungen der Bundespressekonferenz 2013 schon aufgrund des benötigten Umfangs für die jeweilige thematische Einheit in zwei separate Kapitel unvermeidbar war. Bei den Untersuchungen in den folgenden Abschnitten wird auf eine semantisch orientierte Trennung der Analyse der handlungsraum- und zielbezogenen

https://doi.org/10.1515/9783111245263-008

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8 Zur empirischen Analyse des Modalverbgebrauchs IIb

Modalverben in zwei getrennten Abschnitten jedoch im Unterschied zu den Kapiteln 6 und 7 verzichtet. Denn in diesem Kapitel 8 stehen der aufeinander folgende wechselhafte Einsatz handlungsraumbezogener- und zielbezogener Modalverben und ihre gemeinsame Auswirkung auf die persuasive Argumentation sowie die Verwendung kognitiv verfestigter usueller Konstruktionen mit Modalverben im konversationellen Verlauf im Vordergrund. Eine Trennung nach rein semantischen Parametern wäre hier nur hinderlich und hätte nach den Ausführungen zu den Redehintergründen in den Kapiteln 6 und 7 keinen weiteren Erkenntnisgewinn. In der ersten Hälfte dieses Kapitels werden bis inklusive Abschnitt 8.1 für eine konversationsanalytische Modalverbuntersuchung geeignete Theorien diskutiert, um auf diesen aufbauend ein eigenes Forschungsdesign zu entwickeln. Darauf folgt die Besprechung ausgewählter konstruktionsgrammatischer Theorien in Abschnitt 8.2 als Grundlage für ein zweites Forschungsdesign zur Untersuchung von Modalverbkonstruktionen im konversationellen Einsatz. Die zweite Hälfte dieses Kapitels – Abschnitt 8.3 – besteht aus der Anwendung des konversationsanalytischen Forschungsdesigns für die Modalverbuntersuchung im argumentativen Kontext der jeweiligen Konversation. Auf diese angewandte konversationsanalytische Modalverbuntersuchung folgt Abschnitt 8.3.1 mit der Analyse der Modalverbkonstruktionen [ich+MV+sagen] im interaktionalen Einsatz der Konversation. Für die Untersuchung der Modalverben sowie der Modalverbkonstruktionen mit dem Verb sagen als Argumentationsstrukturen in der Diskussion der Bundespressekonferenz 2013 werden Methoden aus der Konversationsanalyse nach Birkner et al. (2020) eingesetzt und komplementär eigene Methoden ausgearbeitet. Damit knüpfe ich in diesem Kapitel an die Forschungstradition der ethnomethodologischen Konversationsanalyse nach Schegloff (1967, 1968, 1979a, 1979b, 1988, 1990, 1993, 1995, 1996, 1997, 2000, 2007), Sacks (1972, 1984, 1992/1995), Sacks et al. (1974) sowie in der germanistischen Linguistik v. a. an Auer (2005), Deppermann (2008) und Imo & Lanwer (2019) an. Als Grundlage für die Analyse der Modalverben in der Konversation dienen das konversationsanalytische Einführungsbuch nach Birkner et al. (2020), das in seinen Forschungsdiskussionen weit über den Einführungscharakter hinausgeht. Darüber hinaus werden – wie angekündigt – eigene Theorien und Methoden für die Erforschung von Modalverben und Modalverbkonstruktionen in der Konversation entwickelt. Für eine konversationsanalytische Modalverbuntersuchung ist es essentiell, den Redebeitrag der Politiker/innen sowie die diesem vorangegangenen und folgenden Redebeiträge der Journalist/inn/en in der Diskussion der Bundespressekonferenzen als Gespräch anzusehen. Gespräche werden von Auer (in Birkner et al. 2020: 34 f.) wie folgt definiert:

8 Zur empirischen Analyse des Modalverbgebrauchs IIb 

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Unter Gespräch verstehen wir also eine besondere Form der fokussierten Interaktion. (a) Gespräche umfassen relativ wenige Teilnehmer (was Massenkommunikation ausschließt), die potentiell alle aktiv als Sprechende an diesem Ereignis teilnehmen (was zudem Aufführungen ausschließt). Das bedeutet nicht, dass allen Gesprächsbeteiligten dieselbe Rechte zustehen; etwa kann ein Gespräch eine Gesprächsleitung haben, der bestimmte Aufgaben wie die Gesprächseröffnung- und -beendigung zu organisieren zukommen. (b) Gespräche können also durchaus institutionell eingebettet sein. […] Gespräche sind zu einem wesentlichen Teil sprachlich konstituiert und strukturiert, selbst wenn die Gesprächsbeteiligte nebenher oder zwischendurch nicht-sprachliche Handlungen ausführen […] (c) Schließlich sind Gespräche durch ein Maximum an Synchronisierung zwischen den Partnern gekennzeichnet.

Obwohl Auer (in Birkner et al. 2020: 34) Produkte von „Massenkommunikation“ nicht als Gespräch ansieht, trifft doch gerade diese Beschreibung auf die Diskussion der Bundespressekonferenzen zu. In Anlehnung an diese Definition nach Auer (ebd.) wird in dieser Arbeit die Diskussion der Bundespressekonferenz als eine fokussierte Interaktion und darüber hinaus als Gespräch zwischen Politiker/inne/n und Journalist/inn/en unter Moderation der Mitarbeiter/innen der Bundespressekonferenz angesehen. Mit Blick auf die Rederechte ist zwar eine Hierarchie unter den Teilnehmer/inne/n festzustellen, denn die Moderator/inn/en sind für die Verteilung des Rederechts zuständig, aber die Journalist/inn/en bekommen manchmal die Möglichkeit, im Anschluss an die Antwort der Politiker/innen auf ihre ursprüngliche Frage eine Rückfrage zu stellen oder ihre Kolleg/inn/en stellen alternativ als Ersatz für eine unbeantwortete oder aus journalistischer Sicht mangelhaft beantwortete Frage stellvertretend erneut. Eine Rückfrage seitens der Journalist/ inn/en erfolgt allerdings nur bei aus Sicht der Journalist/inn/en kontroversen Antworten oder bei der Missachtung von Journalistenfragen, und noch seltener zur Verständnissicherung in der Konversation. Die Reaktionsmöglichkeiten unter den politischen Teilnehmer/inne/n und den journalistischen Teilnehmer/inne/n sind folglich limitiert, aber dennoch vorhanden. Die Definition eines Gesprächs nach Auer ist auch aus diesem Grund zutreffend für die Beschreibung der Diskussion in den Bundespressekonferenzen und muss für eine konversationsanalytische Untersuchung der Diskussion der Bundespressekonferenz 2013 mit Blick auf die Modalverben nur insofern modifiziert werden, als hier die Diskussion als ein institutioneller Gesprächskomplex aufgefasst wird, an dem die selben Teilnehmer/innen aus der Politik kontinuierlich aktiv teilnehmen und damit den Gesprächskomplex maßgebend mitgestalten. Dabei lehne ich mich argumentativ auf die folgende Beobachtung nach Birkner (in Birkner et al. 2020: 268) an, die bei der Konversationsgestaltung die gemeinsame Rolle der Gesprächsteilnehmer/innen hervorhebt: Das zeigt noch einmal, dass der Status eines ersten Redebeitrags vom nächsten Beitrag mit konstituiert wird und nicht der Sprecher/die Sprecherin allein, sondern die Gesprächsbeteiligten gemeinsam über die Bedeutung einer Äußerung entscheiden.

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8 Zur empirischen Analyse des Modalverbgebrauchs IIb

Aufgrund der interaktionalen Rahmenbedingungen und der damit einhergehenden Moderation wechseln sich also die journalistischen Teilnehmer/innen mit aktiven Redebeiträgen kontinuierlich ab und tragen damit zum Gesprächsaufbau abwechselnd bei, von Sequenz zu Sequenz und von Turn zu Turn, wie dies von Birkner (in Birkner et al. 2020: 237) für Konversationen als konstituierend angesehen wird. In Konversationen kommt nach Birkner (in Birkner et al. 2020: 10) dem „Aufbau von Abschnitten“ zentrale Aufmerksamkeit zu, die „als Handlungseinheit zu sehen sind.“ Durch die simultane Nennung der sequenziellen Organisation und des Begriffs der „Handlungseinheit“ führt Birkner die Pragmatik mit der Konversationsanalyse zusammen. Dabei legt sie – ähnlich Couper-Kuhlen & Selting (2018: 9) – den Fokus auf Handlungen im konversationellen Verlauf, der mit der Sequenzorganisation einhergeht, obwohl die Handlungen über die einzelnen Sequenzen oft hinausgehen. Gerade dieser von Birkner bevorzugte Zusammenhang zwischen Handlung und Konversationsverlauf bildet die Grundlage weiterer konversationsanalytischer Modalverbanalysen in diesem Kapitel. Ähnlich Auer und Birkner weist Langacker (2008: 216) auf den soziokulturellen Charakter von Gesprächen hin, sieht aber diese zusätzlich als kontrollierte und konstituierende neuronale Aktivität mit prozessualen Eigenschaften an: Talking is a complex activity, so ultimately a language must be viewed dynamically, as something people do rather than something they have. The various facets of this activity – motor, perceptual, and mental – are either controlled or constituted by neural processing, so in a broad sense talking is cognitive activity. Moreover, since a language is acquired and used by way of interacting with others in a social and cultural context, the activity is sociocultural in nature.

Ich knüpfe hier an Langackers Beobachtung an: Die Aneignung der Semantik sprachlicher Einheiten erfolgt in Interaktionen als Ergebnis neuronaler Prozesse gebrauchsbasiert. In vielen Fällen werden nach dem Erwerb unter Rückgriff auf bestehende Wissensbestände sprachliche Einheiten in der Interaktion im konversationellen Verlauf intendiert reflexiv, adressatenadäquat und argumentativ relevant eingesetzt. So wird auch bei der Analyse der Diskussion mit Journalist/inn/en davon ausgegangen, dass auch Modalverben als sprachliche Einheiten unter Aktivierung grammatischen und diskurskontextuellen Wissens in der Konversation mit Bedacht ausgewählt und abhängig vom Konversationsverlauf regelmäßig angepasst werden. Damit wird die Auffassung vertreten, dass Modalverben – wie dies auch Imo (2007) annimmt – eine Kontrollfunktion in der Interaktion ausüben. Im Unterschied zu Imo beziehe ich mich hier jedoch nicht primär auf die Kontrolle über das Rederecht, sondern auf die kognitiv gesteuerte Kontrolle über die Proposition im Aushandlungsprozess um einen Konsens. Zu diesem Zweck werden die Modalverben im sequenziellen Verlauf und anschließend über die einzelnen Se-

8.1 Konversationsanalytisches Forschungsdesign für die Modalverbuntersuchung



195

quenzen hinweg in einem Redebeitrag sowie in dem Folgebeitrag nach dem Sprecherwechsel im Verhältnis zueinander untersucht. Dabei wird der Zusammenhang zwischen Modalverbeinsatz, Handlungstypen und kommunikativen Strategien im Konversationsverlauf fokussiert. Gerade mit Blick auf den persuasiven Modalverbeinsatz und den damit einhergehenden kommunikativen Strategien wird in diesem Kapitel die Auffassung vertreten, dass im Aushandlungsprozess der sozialen Wirklichkeit im politischen Diskurskontext Modalverben in der Konversation einen reflexiven Charakter haben und unterschiedliche für die Konsensaushandlung relevante Einstellungen aufzeigen. Diese Prämisse resultiert aus den Ergebnissen der bisherigen Kapitel 5 bis 7, die die perspektivierende Rolle der Modalverben aufgezeigt haben. Gerade im Konversationsverlauf unter Einbeziehen mehrerer Teilnehmer/innen rücken immer neue Perspektiven in den Vordergrund. Meine Hypothese lautet, dass Modalverben aufgrund ihres reflexiven und zugleich progressiven Charakters simultan mit dem Konversationsverlauf diesen Perspektivwechsel aufzeigen. Es wird außerdem davon ausgegangen, dass Modalverben bei der Diskussion in den Bundespressekonferenzen durch ihre Perspektiven hervorhebende Semantik in der politischen Kommunikation besonders effektiv zur Propositionsfokussierung und zur Konsensaushandlung beitragen, wie dies in den Abschnitten 8.3 und 8.3.1 exemplarisch aufgezeigt wird.

8.1 Konversationsanalytisches Forschungsdesign für die Modalverbuntersuchung in den Sequenzteilen der Diskussion in Bundespressekonferenzen Eine konversationsanalytische Modalverbuntersuchung am Beispiel der Diskussion der Bundespressekonferenz 2013 geht mit meiner Prämisse einher, dass Modalverben als Teile politischer Sinngebungsprozesse mit einem argumentativen Wert im Handlungsfeld der Politik betrachtet werden können. Das in diesem Abschnitt auszuarbeitende Forschungsdesign dient dem Ziel, die einzelnen Handlungstypen in der Konversation und die damit einhergehenden kommunikativen Strategien zu untersuchen. Hierfür werden konversationsanalytische Arbeitsmethoden nach Fábián (2011) und Birkner (2020) für die Operationalisierung zusammengefasst und weiterentwickelt, die bei der Modalverbuntersuchung im sequentiellen und im konversationellen Verlauf der Diskussion zwischen Politiker/inne/n und Journalist/inn/en in der Bundespressekonferenz 2013 zum Einsatz kommen. Für die Auswahl und die Entwicklung der Methoden sind folgende wissenschaftliche Fragestellungen der Konversationsanalyse nach Birkner (in Birkner et al. 2020: 19) entscheidend:

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1.

2.

3.

8 Zur empirischen Analyse des Modalverbgebrauchs IIb

„Handlung (action): Wie werden Handlung [sic] vollzogen (action formation), wie werden sie zugeschrieben (action ascription) und, nicht zuletzt, welche Handlungen werden vollzogen?“ „Ordnungsstruktur (order): Wie ist soziales Handeln strukturiert und welche Regularitäten weist es auf? Es gilt, die ‚allgegenwärtige Ordnung‘ und ihre Herstellung zu rekonstruieren.“ „Intersubjektivität (intersubjectivity): Wie wird Sinn bzw. wechselseitiges Verstehen im Miteinander-Sprechen hergestellt?“

Angepasst an die Modalverben in der Konversation sind die Fragen relevant, in welchen Handlungstypen Politiker/innen Modalverben in der Konversation mit Journalist/inn/en am Beispiel der Diskussion der Bundespressekonferenz 2013 einsetzen. Außerdem wird der Frage nachgegangen, welche Funktionen die einzelnen Modalverben in der Konversation erfüllen und wie diese zur Konsensaushandlung im politischen Sinngebungsprozess beitragen. Bei dieser Fragestellung wird insbesondere die Bedeutungsmodifikation der verbalisierten Propositionen durch Perspektivenverschiebung im konversationellen Verlauf berücksichtigt. Auch wird hier angenommen, dass Modalverben durch ihre Rolle bei der Bedeutungsgestaltung zuerst in den Sequenzen eines Redebeitrags und anschließend darüber hinaus wirksam werden. Diese modalverbfokussierte Konversationsanalyse übernimmt dazu die Konversationsstruktur und den Sequenzialitätsbegriff nach Birkner (in Birkner et al. 2020: 237): Diese Eigenschaft von sprachlicher Interaktion, durch vielfältige Bezüge Sinn herzustellen, wird unter den Begriff der Sequenzialität gefasst. Wenn es um die Umsetzung von Sequenzialität geht (die sequenzielle Organisation), d. h. den Aufbau von Abschnitten, die als Handlungseinheit zu sehen sind, wie z. B. Paarsequenzen oder Erzählungen, verwenden wir den Begriff der Sequenzorganisation bzw. Sequenzstruktur.

Deshalb werde ich zur konversationellen Analyse des Modalverbgebrauchs Handlungen einzeln und im Verhältnis zueinander, in Sequenzen, Sequenzpaaren und in den einzelnen Redebeiträgen und über diese hinaus in zwei oder mehr zusammengehörenden Redebeiträgen in der Diskussion der Bundespressekonferenz zwischen Politiker/inne/n und Journalist/inn/en untersuchen. Unter Handlungen in der Konversation versteht Birkner (in Birkner et al. 2020: 238) v. a. „Fragen, Antworten, Einladen, Ablehnen, Necken, Widersprechen, Zustimmen“. Mit diesen Handlungskategorien einhergehend interessiert sich die Konversationsanalyse in Anlehnung an Birkner (ebd.) und damit auch dieses Kapitel dafür, „wie in kohärenten, geordneten, bedeutungsvollen Abfolgen sprachlicher Äußerungen […] soziale Handlungen vollzogen werden.“

8.1 Konversationsanalytisches Forschungsdesign für die Modalverbuntersuchung



197

Um die Modalverben im Kontext dieser „sozialen Handlungen“, die in der Diskussion der Bundespressekonferenzen zustande kommen, zu analysieren, wird eine Tabelle in Anlehnung an die Handlungssequenzen nach Birkner (in Birkner et al. 2020: 257–297) erstellt. Dabei werden die Systematik der Handlungssequenzen von Birkner übernommen, die Funktionsbeschreibung der Handlungssequenzen wird aber trotz einer Orientierung an Birkners Beschreibungen (ebd.) so modifiziert, dass diese in der Praxis der politischen Kommunikation sowie in der journalistischen Berufspraxis – natürlich auch in anderen Bereichen professioneller Kommunikation – für eine Handlungsuntersuchung in Konversationen in angepasster Form eingesetzt werden können: Tab. 20: Handlungssequenzen nach Birkner (ebd.) (1) Informationen erfragen & antworten

1

Funktionen Elizitierungspraktiken zur Propositions- und Intentionsüberprüfung & Praktiken der Propositionsund Intentionsreflexion im Anschluss an eine Frage.

(2) Mitteilen & quittieren bzw. widersprechen

Neutrale Informationsübermittlung, die vom kommunikativen Gegenüber zu Kenntnis genommen oder abgelehnt wird.

(3) Neuigkeit verkünden & bewerten

Die Übermittlung einer oder mehrerer Informationen, die beim Gegenüber eine Bewertung auslöst.

(4a) Bitten, einladen & gewähren/ablehnen2

Äußerung einer (in)direkten Handlungsfolgepräferenz, die das kommunikative Gegenüber durchführen soll. Die Reaktion kann darauf die Gewährung oder die Ablehnung der Handlungspräferenz sein.

1 Weil es sich bei (1) um eine den restlichen Handlungssequenzen übergeordnete Handlungssequenz in der Diskussion handelt, wird diese Kategorie kursiv hervorgehoben. Diese Kategorie wird allerdings auch als Subkategorie im Rahmen der Kategorie Information erfragen auftreten. 2 Die von Birkner angeführten beiden Kategorien der Handlungssequenz „Bitten & gewähren/ ablehnen“ sowie „Anbieten, vorschlagen, einladen & annehmen/ablehnen“ werden in dieser Darstellung aufgrund der semantischen und der funktionalen Ähnlichkeit als eine Kategorie mit zwei Subtypen eingeordnet. Birkner (in Birkner et al. 2020: 273) ordnet ursprünglich eine Einladung der gleichen Kategorie mit einem Angebot und Vorschlag zu, obwohl ihr eine Bitte oder eine Einladung als sprachliche Handlung inhärent ist. Sowohl eine Bitte als auch eine Einladung haben einen stärker ausgeprägten appellativen und insbesondere stärker volitiv markierten Charakter als ein Angebot oder ein Vorschlag. Während eine Bitte oder eine Einladung eine künftige Handlungspräferenz markiert, die die Gesprächspartner/innen durchführen/annehmen sollen, aber auch ablehnen können, handelt es sich bei einem Angebot oder einem Vorschlag um eine Handlungsmöglichkeit, die die Gesprächspartner/innen ebenfalls wahrnehmen oder aber ablehnen

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8 Zur empirischen Analyse des Modalverbgebrauchs IIb

Handlungssequenzen nach Birkner (ebd.)

Funktionen

(4b) Anbieten, vorschlagen & annehmen/ ablehnen

Eine der letzten Kategorie ähnliche weniger explizite Äußerung einer (in)direkten Handlungsfolgemöglichkeit, die das kommunikative Gegenüber annehmen kann, bei der im Unterschied zur Kategorie (4a) die volitive Kraft des Handlungsinitiators/der Handlungsinitiatorin nicht so stark ausfällt. Die Reaktion kann die Annahme oder die Ablehnung der Handlungsmöglichkeit sein.

(5) Sich entschuldigen & annehmen/ablehnen

Den Gesprächspartner/inne/n gegenüber Reue eigeninitiativ zum Ausdruck bringen, die anschließend akzeptiert oder abgelehnt wird.

(6) Vorwurf machen & sich rechtfertigen/ sich entschuldigen3

Den Gesprächspartner/inne/n gegenüber auf Fehler hinweisen, woraufhin diese sich rechtfertigen/ entschuldigen oder beides hintereinander.

(7) Bewerten & (positiv/negativ) gegenbewerten

Reflexion eigener Meinung über eine Proposition, die im konversationellen Verlauf diskutiert wird, die beim kommunikativen Gegenüber eine ähnliche oder abweichende Reaktion über die gleiche Proposition auslösen kann.

(8) Kompliment machen & annehmen/ablehnen

Reflexion der Anerkennung des kommunikativen Gegenübers, die auf Akzeptanz oder aber Widerstand stoßen kann.

Die Kategorien in Fettdruck sind Handlungssequenzen, die in den Diskussionsteilen der untersuchten Bundespressekonferenzen, aber z. B. auch in politischen Interviews konversationell musterhaft sind. Die Kategorie (1) „Information erfragen & antworten“ stellt in den Diskussionsrunden der Bundespressekonferenzen die übergeordnete Grundkategorie dar, denn im konversationellen Verlauf der Diskussion zwischen Journalist/inn/en und Politiker/inne/n folgt zumeist auf eine Frage die Antwort der Politiker/innen. Im Rahmen der Handlungssequenzen „Information erfragen & antworten“ tritt die Subkategorie „Information erfragen“ auch alleine auf, wenn z. B. eine Frage nicht beantwortet wird. Auch die Kategorien (2) bis (8) lassen sich in Bundespressekonferenzen feststellen. Die Politikerhandlungen (2) „Mitteilen“, (3) „Neuigkeit verkünden“, (4a) „Bitten“, (4b) „Anbieten & Vorschlagen“ und (5) „sich entschuldigen“ setzen dabei in den Bundespressekonferenzen eine vorangegangene journalistische Handlung voraus, obwohl Entschuldigungen selten sind. Außerdem beinhalten die Handlungssequenzkategorien nach können. Der Wunsch des Handlungssequenzinitiators/der Handlungssequenzinitiatorin steht in (4a) stärker im Vordergrund als in (4b). 3 Dieser Teil der Handlungssequenz ist eine atypische kommunikative Strategie in der politischen Kommunikation, deshalb wird er nicht fettmarkiert.

8.1 Konversationsanalytisches Forschungsdesign für die Modalverbuntersuchung 

199

Birkner (2) „Mitteilen“ und (3) „Neuigkeit verkünden“ semantische und funktionale Überschneidungen. Zwei weitere Kategorien der Handlungssequenzen – „einen Gefallen tun, ein Geschenk machen etc. & sich bedanken“ nach Birkner (in Birkner et al. 2020: 278) sowie „Sich selbst abwerten und widersprechen/ratifizieren“ (in Birkner et al. 2020: 278, 290) werden in dieser Tabelle nicht aufgelistet, denn beide Handlungssequenzen sind in der politischen Kommunikation und insbesondere in den Bundespressekonferenzen nicht geläufig. Die Handlung der Selbstabwertung würde außerdem die Bemühungen der Politiker/innen um Selbstprofilierung konterkarieren. Die Handlungssequenz (8) „Kompliment machen & annehmen/ablehnen“ tritt zwar in der Interaktion zwischen Journalist/inn/en und Politiker/inne/n selten auf, kann aber unter Politiker/inne/n in der Interaktion insbesondere bei einer Pressekonferenz unter Koalitionspartner/inne/n durchaus vorkommen. Deshalb wurden sie trotz geringer Frequenz in die Tabelle 4 aufgenommen. Zu den in der Tabelle 4 fettmarkierten Handlungssequenzen treten weitere Handlungssequenzklassifikationen hinzu, die in Anlehnung an eine tabellarische Darstellung zur pragmatischen Untersuchung von TV-Duellen nach Fábián (2011: 43 f.)4 erstellt und deutlich erweitert wurden. Diese Kategorien wurden gezielt für die Analyse der Handlungssequenzen in der Diskussion von Bundespressekonferenzen, aber auch für weitere Formate politischer Diskussionen entwickelt. Die folgende Tabelle beinhaltet in der linken Spalte die Handlungssequenzen, die von den sogenannten „kommunikativen Strategien“ nach Fábián (2011: 43 f.) hergeleitet und um eine Folgehandlung durch die Gesprächspartner/innen ergänzt wurden. Wie auch auf der rechten Seite der Tabelle 4 werden die zu der jeweiligen Handlungssequenz zugeordneten Funktionen, ebenfalls in Anlehnung an Fábián (ebd.), aufgeführt. Die folgende Darstellung geht jedoch über die Kategorien nach Fábián (ebd.) deutlich hinaus und beinhaltet neben Modifikationen auch weitere Kategorien der Handlungssequenzen: Tab. 21: Handlungssequenzen

Funktionen

(1) Hervorheben & darauf eingehen/ignorieren

Nennung zentraler Argumente und Fakten, die vom kommunikativen Gegenüber beachtet oder ignoriert werden.

(2) Um eine Erklärung bitten & Erklären/ die Erklärungsanforderung ignorieren

Explikatives Anführen von Entstehungsgründen für Handlungen in Anschluss an eine Erklärungsanforderung

4 Die Seitenangabe erfolgt nach der Paginierung in meiner an der Universität Passau verfassten Masterarbeit mit dem Titel „Diskursanalyse des deutschen TV-Duells 2009 zwischen den Kanzlerkandidaten Steinmeier und Merkel“.

200  8 Zur empirischen Analyse des Modalverbgebrauchs IIb

Handlungssequenzen

Funktionen

(3) Unterstellen & Unterstellung hinnehmen/ zurückweisen5

Einer Person etwas Negatives zusprechen, die die negative Proposition hinnehmen oder zurückweisen kann.

(4) Eingestehen & akzeptieren, ignorieren oder ablehnen

Dem/der Kommunikationspartner/in gegenüber einen Fehler zugeben, der von den Interaktionspartner/inne/n hingenommen, ignoriert oder abgelehnt werden kann.

(5) Nachgeben & Nachgeben akzeptieren/ zurückweisen

Dem Wunsch der Interaktionspartner/innen nachkommen, obwohl das Nachgeben anschließend akzeptiert oder zurückgewiesen werden kann. Fremdinitiiert.

(6) Entgegenkommen & Entgegenkommen akzeptieren/zurückweisen

Dem Wunsch der Interaktionspartner/innen nachkommen als Zeichen kommunikativer Begünstigung in der Konversation. Dem Entgegenkommen muss jedoch nicht notgedrungen ein Wunsch der Interaktionspartner/innen vorangehen, denn dies ist auch eigeninitiativ möglich.

(7) Drängen & Drängen nachgeben/zurückweisen

Kommunikatives Zwingen der Gesprächspartner/ innen, dem die den Zwang ausgesetzte Person nachkommen kann. Sie kann aber den Zwang auch zurückweisen.

(8) Nachhaken & Nachhaken nachgeben/ ignorieren

Auf Informationspräzisierung bzw. -überprüfung gerichtete Nachfrage, der man nachgeben oder die man ignorieren/ablehnen kann.

(9) Um eine Prognose bitten & Prognose machen/ausschließen

Äußerung eines Wunsches um eine Prognose, dem die Gesprächspartner/innen nachgehen oder auch ablehnen können, v. a. durch eine Rechtfertigung

Analog zur Tabelle 4 ist die Grundkategorie für diese Handlungen die Kategorie (1) „Information erfragen & antworten“. Diese Handlungskategorie ist hier nicht mehr getrennt aufgeführt. Genauso wie in Tabelle 4 liegen auch in dieser Darstellung Handlungskategorien vor, die in Bundespressekonferenzen eine vorangegangene journalistische Handlung voraussetzen und damit eine initiierende sprachliche Handlung benötigen, um anschließend die genannten Handlungen bei den Politiker/inne/n auszulösen. Einige Handlungssequenzkategorien können flexibel sowohl von Journalist/inn/en gegenüber den befragten Politiker/inne/n als auch von Politiker/inne/n untereinander in einem Handlungssequenzpaar – Terminus nach Birkner (in Birkner et al. 2020: 243) – eröffnend für ein Sequenzpaar flexibel 5 Vgl. in der Tabelle 4 nach Birkner unter Punkt (6) „Vorwurf machen & sich rechtfertigen/entschuldigen“.

8.1 Konversationsanalytisches Forschungsdesign für die Modalverbuntersuchung 

201

eingesetzt werden, wobei einzelne Handlungssequenzteile auch getrennt voneinander oder in Kombination mit anderen initiierenden Handlungssequenzteilen stehen können. Ausnahmen bilden v. a. die Handlungssequenzen (4) „Eingestehen“, (5) „Nachgeben“, (6) „Entgegenkommen“, die nicht als Eröffnungssequenz in einem Handlungssequenzpaar stehen können und in der Diskussion mit den Journalist/inn/en nur von den Politiker/inne/n vollzogen werden. Von Journalist/inn/en können diese Handlungssequenzen in der Konversation mit den Politiker/inne/n erst genutzt werden, wenn es zu Handlungssequenzpaarerweiterungen kommt, weil eine weitere Interaktion zwischen einer bestimmten Person aus dem journalistischen Bereich und einer Person aus der Politik über die Grundkategorie „Information erfragen & antworten“ hinaus zustande kommt. Die Handlungssequenzkategorien (7) „Drängen“, (8) Nachhaken und (9) „um eine Prognose bitten“ können hingegen eröffnend für ein Handlungssequenzpaar nur von den Journalist/inn/en den Politiker/inne/n gegenüber vollzogen werden. Manche auf Dissens ausgerichtete Handlungskategorien – v. a. (3) Unterstellen oder (7) Drängen – sind prädestiniert dafür, mehrere Handlungssequenzen und damit Paarsequenzerweiterungen zu implizieren, in denen aufgrund des Dissenses unter den Konversationsteilnehmer/inne/n modalverbhaltige Paarsequenzen und Sequenzerweiterungen auftreten. So sind nach Birkner (in Birkner et al. 2020: 296) Paarsequenzerweiterungen insbesondere in auf Dissens gerichteten Konversationen geläufig: Verzögerungen kennzeichnen dispräferierte Handlungen […] Präferierte zweite Handlungen folgen sehr nah auf den Ersten Teil; bei Dispräferenz einer Handlung kommt es hingegen neben zeitlichen Verzögerungen der zweiten Paarsequenzteile (positional practices) (z. B. durch Pausen als erstem Anzeichen für Nicht-Übereinstimmung) zusätzlich häufig zu verschiedenen Vorlaufelementen (na ja, ja aber, na gut etc.), die den dispräferierten Handlungsvollzug hinauszögern. Ferner werden oftmals Erklärungen und Begründungen, Entschuldigungen oder auch Würdigungen (z. B. bei Angeboten, Einladungen, Vorschlägen, Ratschlägen) gegeben. Insgesamt sind dispräferierte Handlungen gegenüber präferierten in der Regel mit einem deutlich höheren interaktionalen Aufwand und verstärkten Formulierungsbemühungen verbunden.

Zwischen den Intentionen der Teilnehmer/innen einer Bundespressekonferenz bestehen auf der ersten Realitätsebene auch in einer Koalition, aber insbesondere unter Journalist/inn/en und Politiker/inne/n regelmäßig Interessenskonflikte. Deshalb wird hier davon ausgegangen, dass im Diskussionsverlauf multiple, zum Teil einander gegenüberstehende Intentionen unter den Interaktionspartner/inne/n oft zum Dissens und damit zu Paarsequenzerweiterungen führen können. Allerdings liegen in den Diskussionen der Bundespressekonferenzen mit mehreren politischen Teilnehmer/inne/n keine klassischen Paarsequenzen im Sinne von Birk-

202  8 Zur empirischen Analyse des Modalverbgebrauchs IIb

ner vor. Eine journalistische Handlungssequenz indiziert hier oft Handlungssequenzen mehrerer Politiker/innen hintereinander. Birkner (in Birkner et al. 2020: 297) weist darauf hin, dass Konsens oder Dissens im „Zweiten Teil“ einer Paarsequenz von der jeweiligen Handlungskategorie abhängt. In einer Bundespressekonferenz mit mehreren Teilnehmer/inne/n aus der Politik kann – wie oben ausgeführt – ein Dritter oder auch ein Vierter Sequenzteil usw. durch eine Handlungssequenz indiziert werden. Birkners Aussage muss damit auch auf diese mitindizierten und mit zeitlicher Verzögerung entstehenden Sequenzteile 3, 4 usw. übertragen werden. In diesem konversationsanalytischen Kapitel ist von Interesse, welche Funktion Modalverben in den auf Präferenz und Dispräferenz basierten Handlungskategorien einnehmen. Um eine handlungssequenzielle Modalverbfunktionsanalyse in der Konversation unter Journalist/inn/en und Politiker/inne/n auf der ersten Realitätsebene in der Bundespressekonferenz durchführen zu können, wird in Tabelle 17 ein Modell für den Aufbau von Konversationen benötigt. Hierfür wird die Konversationsstruktur in Anlehnung an die von Birkner (in Birkner et al. 2020: 243) zusammengefassten, in der Gesprächsforschung üblichen konversationsanalytischen Termini tabellarisch dargestellt, allerdings in Spalte 3 (Funktion) mit eigenen Ergänzungen: Tab. 22: Konversationsstruktur

Beschreibung

Funktion

Paarsequenz: Erster Paarsequenzteil (EPT)/ Zweiter Paarsequenzteil (ZPT)

Voraussetzung: mind. 2 Konversationspartner/ innen „Die Paarsequenz ist die Basiseinheit der interaktiven Konstruktion von Gesprächen.“ Birkner (in Birkner et al. 2020: 243) in Anlehnung an Schegloff (2007: 14) Ein EPT „setzt einen ZPT konditionell relevant“. „Ein EPT impliziert einen ZPT“. „Das Prinzip der unmittelbaren Nachbarschaft wirkt also in zwei Richtungen.“ nach Birkner (in Birkner et al. 2020: 242 f.)

Konversationskonstitution: EPT und ZPT sind die zwei notwendigen Bausteine, um eine BasisPaarsequenz als Minimaleinheit für eine Konversation aufbauen zu können. Ohne die Kombination dieser beiden Konversationselemente ist keine Konversation möglich.

Paarsequenzerweiterungen

Voraussetzung: „minimale Basis-Paarsequenz, die erweitert werden kann“ Birkner (in Birkner et al. 2020: 297) in Anlehnung an Sacks (1992: 685 ff.)

Konversationskomplement: Erweiterung der konversationellen Minimaleinheit, um selten Konsens, aber insbesondere Dissens zu signalisieren

8.1 Konversationsanalytisches Forschungsdesign für die Modalverbuntersuchung 

203

Konversationsstruktur

Beschreibung

Funktion

Vorlauf (VOR)

„Sequenzvorläufe projizieren eine folgende Handlungssequenz, und zwar eine BasisPaarsequenz, der sie vorausgehen.“ Birkner (in Birkner et al. 2020: 313)

Konversationskomplement: „Vorläufe haben wichtige interaktionale Funktionen, die sich je nach Handlung, der sie vorausgehen, unterscheiden: sie erwirken die Suspendierung des Sprecherwechsels, um eine Geschichte zu erzählen, klären, ob eine Neuigkeit tatsächlich neu [ist]“ usw. Birkner (in Birkner et al. 2020: 313)

Vorläufe mit Präliminarien (VmP)

„Vor-Vorlauf“ nach Birkner (in Funktion: identisch mit der FunkBirkner et al. 2020: 311) in Antion regulärer Vorläufe lehnung an Schegloff (2007: 44 ff.): „Sie beginnen ebenfalls mit einer spezifischen Handlungsprojektion. Aber anstatt im darauffolgenden Redebeitrag die im EPT projizierte Handlung auszuführen, werden zunächst Präliminarien vorangestellt, sodass wir es nun mit zwei vorlaufenden Strukturen zu tun haben: dem Vorlauf und den mehr oder weniger ausgedehnten Präliminarien.“

Einschübe(EIN) 6

Erweiterung der Paarsequenz zwischen dem EPT und dem ZPT. „Die konditionelle Relevanz, die innerhalb einer Paarsequenz besteht und die bewirkt, dass ein erster Sequenzteil einen zweiten sequenziell relevant setzt, kann zwar nicht aufgehoben, aber doch zeitweilig aufgeschoben werden.“ Birkner (in Birkner et al. 2020: 314)

Konversationskomplement: „Die typische Leistung von Einschubsequenzen ist es, noch etwas zu klären, bevor die bereits begonnene Handlungssequenz abgeschlossen werden kann.“ Birkner (in Birkner et al. 2020: 317)

6 Konversationelle Einschübe sind nicht mit syntaktischen Einschüben gleichzusetzen. Sie können aber mit diesen zufälligerweise übereinstimmten.

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8 Zur empirischen Analyse des Modalverbgebrauchs IIb

Konversationsstruktur

Beschreibung

Funktion

Nachläufe (NACH)

Erweiterungen nach dem ZPT Der häufigste Typ: Der Sequenzschließende Dritte (SSD).

Konversationskomplement: „SSD zeichnen sich dadurch aus, dass sie keine neue Sequenz eröffnen (z. B. selber kein EPT sind) und sich deutlich auf die vorangegangene Paarsequenz rückbeziehen.“ Birkner (in Birkner et al. 2020: 320)

Basis-Paarsequenz (mit B gekennzeichnet)

„Die Paarsequenzen, auf die sich die Erweiterungen beziehen.“ Birkner (in Birkner et al. 2020: 297)

Konversationskonstitution: als Minimaleinheit die Basis für eine Konversation. Ohne Basis-Paarsequenz ist keine Konversation möglich

Die Inhalte dieser Tabelle werden nun an das Interaktionsformat der Diskussionsrunden der Bundespressekonferenzen angepasst. Die Einordnung der Diskussion als Gespräch und die damit verbundenen Ausführungen nach Auer (in Birkner et al. 2020) und Birkner (in Birkner et al. 2020) ergänzt mit eigenen Anmerkungen verdeutlichen im Laufe dieses Abschnitts, dass die Diskussion in den Bundespressekonferenzen als Konversation gewertet werden kann, aber dass diese Konversation sich infolge von interaktionalen Restriktionen durch spezifische interaktionale Charakteristika auszeichnet. In Bundespressekonferenzen gibt es wie z. B. auch in politischen Talkshows oft kein festes Paarsequenz-Setting, da mehr als zwei indizierte Folgesequenzen möglich sind, die durch einen Ersten Sequenzteil durch Journalist/inn/en ausgelöst werden können. Die Anzahl der Teilnehmer/innen aus der Politik sowie der limitierten Rückfrage- und Evaluationsmöglichkeiten in der Konversation zwischen Journalist/inn/en und Politiker/inne/n führt infolge des im Vergleich zu privaten Konversationen seltenen Sprecherwechsels zu einer strukturellen Komplexität sowohl in den Fragekomplexen als auch anschließend in den jeweiligen Antwortkomplexen der Politiker/innen. Als Folge lässt sich eine Aneinanderreihung konversationsanalytischer Bausteine innerhalb der einzelnen Redebeiträge in der Diskussion der Bundespressekonferenz beobachten, so z. B. beim Vorlauf mit Präliminarien, Vorlauf, Einschub, Nachlauf usw. (vgl. Tabelle 17). Die interaktionale Restriktion hat also zur Folge, dass Sprecher/innen unter Beachtung der Reaktionsmöglichkeiten unterschiedliche Handlungs- und Struktursequenzen in einem Sequenzteil miteinander kombinieren. Dies hat zur Folge, dass die Struktursequenzen, die sich in anderen Gesprächen meist in den aufeinander folgenden Redebeiträgen befinden, in den einzelnen Redebeiträgen der Bundespressekonferenzen erst nach dem Abschluss des eigenen Redebeitrags mit Verzögerung die Folgesequenzen der politischen Gesprächspartner/innen indizieren. Dies trifft ins-

8.2 Konstruktionsgrammatisches Forschungsdesign für die Modalverbkonstruktionen 

205

besondere bei einer höheren politischen Teilnehmerzahl zu. So entsteht in den jeweiligen Beiträgen ein Strukturstau, der sich v. a. darin niederschlägt, dass auf einen Vorlauf mit Präliminarien ein längerer Vorlauf und darauffolgend mehrere Sequenzteile auftreten können, wie es an dem strukturellen Aufbau der Transkripte im Abschnitt 8.3 bei der Operationalisierung zu beobachten ist. Folglich kommen analog zu diesem Strukturstau mehrere Handlungssequenzen in einem Sequenzteil vor, die sich anschließend in der Struktur des darauffolgenden Redebeitrags – also z. B. im Zweiten Sequenzteil (ZST) – niederschlagen. Als Ergebnis kann der indizierte Folgebeitrag nach dem Sprecherwechsel mehrere Handlungskategorien beinhalten und eine komplexe konversationelle Struktur zeigen. Der journalistische Erste Sequenzteil kann auch mehrere Politiker/innen auf der ersten Realitätsebene in der Diskussion zu einem Redebeitrag motivieren. Neben der seltenen Möglichkeit der Journalist/inn/en, der antwortenden Person aus der Politik eine Rückfrage zu stellen, kann das Beantworten der Rückfrage ebenfalls zur Entstehung eines Dritten Sequenzteiles (DST) und entsprechend der Handlungskomplexität in der Fragesequenz auch in dem DST zur Kombination der Handlungskategorien und damit zur Strukturkomplexität führen. Die oben dargestellten Konversationsbausteine nach Birkner (in Birkner et al. 2020: 298 f.) und meine weiteren Ausführungen bilden die Grundlage für die Operationalisierung im empirischen Abschnitt 8.3, bei der die methodologische Segmentierung der Konversation behandelt werden wird. Diese Konversationssegmentierung wird dazu dienen, die nach Birkner und Fábián dargestellten Handlungskategorien hinsichtlich des Modalverbeinsatzes in der Diskussion der Bundespressekonferenz 2013 zu untersuchen und die Modalverben im Konversationsverlauf zu lokalisieren. Bevor diese Untersuchungsmethoden an das Korpus der Diskussion ausgewählter Bundespressekonferenz angewandt werden, werden im folgenden Abschnitt 8.2 konstruktionsgrammatische Theorien für die Analyse der Modalverbkonstruktionen besprochen. Darüber hinaus werden eigene konstruktionsgrammatische Definitionen und Formeln für Modalverbkonstruktionen entwickelt.

8.2 Konstruktionsgrammatisches Forschungsdesign für die Modalverbkonstruktionen [ich+MV+sagen] in den Sequenzteilen der Diskussion in Bundespressekonferenzen In diesem Abschnitt werden analog zum konstruktionsgrammatischen Einleitungsteil aus Abschnitt 3.6 konstruktionsgrammatische Theorien vorgestellt. Unter Rückgriff auf diese Theorien werden die konstruktionsgrammatischen Inhalte aus dem Überblickskapitel weiter ausgearbeitet, um Modalverbkonstruktionen ab-

206 

8 Zur empirischen Analyse des Modalverbgebrauchs IIb

schließend definieren, beschreiben sowie konstruktionsgrammatische Formeln entwickeln zu können. Für diesen Schritt war die Korpusanalyse tokenfrequenter Konstruktionen in der Bundespressekonferenz 1990 mit Helmut Kohl in Abschnitt 6.2.2.2 Konstruktionsgrammatische Überlegungen zu [ich + Modalverb + sagen] konstituierend. Außerdem erlaubt die kontrastive Analyse der Modalverbkonstruktionen [ich + MV + sagen] in zwei Bundespressekonferenzen tatsächlich Rückschlüsse auf pragmatische Muster des Einsatzes dieser Modalverbkonstruktionen in Konversationen der Bundespressekonferenz. Der in diesem Abschnitt 8.2 verwendete Modalverbkonstruktionsbegriff sowie die Charakteristika der Modalverbkonstruktionen werden im Abschnitt 8.3 im Konversationsverlauf eingesetzt. Obwohl die Anzahl der Studien zur konstruktionsgrammatischen Forschung stetig steigt, zeigt ein erster Blick in die Überblickswerke von Fillmore (1988), Croft (2002), Boas (2008), Fillmore & Baker (2009), Langacker (2013), Ziem & Lasch (2013), Gillmann (2016), Perek (2020), aber insbesondere in die Publikationen zur interaktionalen Konstruktionsgrammatik von Auer (2002, 2005, 2006a, 2006b, 2007, 2008), Deppermann (2011a, 2011b, 2012), Günthner (2008), Günthner & Imo (2006), Bücker, Günthner & Imo (2015), Imo & Lanwer (2019), Selting & Couper-Kuhlen (2000, 2018) und Birkner et al. (2020), dass Modalverbkonstruktionen bislang Randphänomene konstruktionsgrammatischer Forschung sind. In einigen Beiträgen zur Konstruktionsgrammatik wurden Modalverbkonstruktionen jedoch berücksichtigt, so bei Imo (2007), Bergs (2008), Boogaart (2009), Stefanowitsch (2009), Bybee (2010), Diewald & Smirnova (2011a, 2011b), Goldberg & van der Auwera (2012), Adger (2013), Cappelle & Depraetere (2013), Deppermann (2014), Boogaart & Fortuin (2016), Cappelle & Depraetere (2016) und Kaiser (2017). Die konstruktionsgrammatische Forschungsliteratur lässt allerdings Modalverbkonstruktionen im Konversationsverlauf bislang weitgehend unberücksichtigt. Dieser Abschnitt setzt sich deshalb zum Ziel, eigene Theorien zu Modalverbkonstruktionen in Konversationen zu entwickeln. Wie schon in Kapitel 3 ausgeführt, bestehen Konstruktionen und ihre Konstruktionskomponenten aus einer festen Form mit festen syntaktischen, morphologischen und phonologischen Eigenschaften, denen eine konventionalisierte Bedeutung zugeordnet werden kann (vgl. Croft & Cruse 2004: 258). Die Konstruktionskomponenten sind nach Wildgen (2008: 138) durch Referenzpunktbeziehungen miteinander verbunden, die „kognitive Orientierungen in einem Feld emergenter Strukturen“ bieten. Langacker (2008: 164) weist darauf hin, dass Kompositionsstrukturen als Entität eine eigene Existenzberechtigung mit eigenen emergenten Eigenschaften haben, die sie nicht von ihren Komponenten und den zwischen ihnen bestehenden Verbindungen geerbt haben. An einer anderen Stelle widerspricht Langacker (2008: 192) seiner eigenen Hypothese und konstatiert, dass Kompositionsstrukturen ihre Profile von Komponentstrukturen erben. Wildgen (2008:

8.2 Konstruktionsgrammatisches Forschungsdesign für die Modalverbkonstruktionen 

207

136) schließt sich dieser zweiten Annahme von Langacker an und geht davon aus, dass Konstruktionen „die imaginalen Konfigurationen der Teile“ erben können. Für meine Untersuchung der Modalverbkonstruktionen im Abschnitt 8.3 schließe ich mich Wildgens Hypothese an und vertrete die Auffassung, dass die Komponenten einer Modalverbkonstruktion die Bedeutung der Konstruktion mitbestimmen und ihre Semantik auf die Gesamtsemantik einer Konstruktion, in der sie stehen, einen erheblichen Einfluss nimmt. Nach meiner Ansicht ist gerade diese Forschungsdifferenz über die Beziehung zwischen Konstruktionen und Konstruktionskomponenten eine der Ursachen, warum die Referenzpunktbeziehungen sowie die Bedeutung der einzelnen Konstruktionskomponenten für die Konstruktion nicht ausreichend in der konstruktionsgrammatischen Forschung berücksichtigt werden. Langackers (2008: 164) Auffassung teile ich insofern, als Konstruktionen nicht auf ihre Komponenten reduziert werden dürfen. Dieser Abschnitt über Modalverbkonstruktionen sowie der folgende analytische Abschnitt 8.3 dienen dazu, das Zusammenspiel von Bedeutung und Funktion der Modalverben in Modalverbkonstruktionen sowie den Gebrauch von Modalverbkonstruktionen für eine zugleich konversations- und konstruktionsgrammatische Untersuchung in den Folgeabschnitten zu beleuchten. Hierfür werden in Anlehnung an den Abschnitt 3.6 Modalverben an der Schnittstelle zur Konstruktionsgrammatik und der Konversationsanalyse die Besonderheiten von Konstruktionen erörtert und bei der Beschreibung von Modalverbkonstruktionen berücksichtigt. Ob die Kombination mehrerer Wörter hintereinander als Konstruktion anerkannt werden kann, hängt in den gebrauchsbasierten konstruktionsgrammatischen Ansätzen mit der Tokenfrequenz zusammen, also der Frequenz des Auftretens dieser miteinander kombinierten Wörter. Nach Ziem & Lasch (2013:195) korreliert die Frequenz des Auftretens einer sprachlichen Einheit „mit dem Grad ihrer (kognitiven) Verfestigung im Sprachwissen.“ Konstruktionen entstehen in Konventionalisierungsprozessen, die nach Ziem & Lasch (2013: 194 f.) mit dem Phänomen der kognitiv-sprachlichen „Verfestigung bzw. Etablierung einer sprachlichen Einheit im Konstruktikon“ (Entrenchement) einhergeht. Croft & Cruse (2004: 272) vertreten die Auffassung, dass eine grammatische Struktur beim ersten Gebrauch eine Erfahrung versprachlicht und dieser Ausdruck bei wiederholtem Gebrauch konventionalisiert wird. Ähnlich Ziem & Lasch nehmen auch Croft & Cruse (2004: 292) an, dass die Verfestigung einer Konstruktion umso stärker ausfällt, je häufiger diese benutzt wird. Denn eine Konstruktion aktiviert im Gehirn bestimmte Knoten oder sogar ganze Muster von Knoten, die zur Entstehung von Musterbildung führen. Diese Musterbildung wird von Croft & Cruse (ebd.) damit begründet, dass die Frequenz einer Konstruktion zur intensivierten Speicherung als usuelle grammatische Einheit führt. Ziem & Lasch (2013: 110) zufolge sind Konstruktionen kognitiv wie auch formal „vielfach miteinander vernetzt“ und sie „bilden ein ent-

208 

8 Zur empirischen Analyse des Modalverbgebrauchs IIb

sprechend strukturiertes Konstruktionsnetzwerk“. Auch Langacker (2008: 166) postuliert die Auffassung, dass Konstruktionskomponenten entlang eines kompositionellen Weges (compositional path) miteinander verbunden sind. Der Rückgriff auf eine Komponente aus diesem Konstruktionsnetzwerk kann kognitiv eine mehr oder weniger starke Assoziation mit dem Konstruktionsnetzwerk auslösen und ein bestimmtes Framing bewirken. Nach Croft & Cruse (2004: 34) können Konstruktionen und Konstruktionsnetzwerke neben der Evozierung von semantischen Frames und Domänen auch Basisräume (base spaces) evozieren, durch deren Verbindung die semantischen und pragmatischen Eigenschaften dieser Konstruktionen aufeinander wechselseitig Einfluss nehmen können. Zur Zusammenführung semantischer und pragmatischer konstruktionsgrammatischer Überlegungen bietet sich die Übernahme der Verbindung von „Inhaltsgrammatik“ und „Satzsemantik“ nach von Polenz (2008: 180) an. Von Polenz (ebd.) richtet hierbei seinen Untersuchungsfokus auf Verben, die er Prädikatsklassen zuordnet. Von Polenz (2008: 159) unterscheidet folgende Prädikationsklassen: (1) Aktionsprädikate: HANDLUNG (2) Prozessprädikate: VORGANG (3) Statusprädikate: ZUSTAND (4) Qualitätsprädikate: EIGENSCHAFT (5) Genusprädikate: GATTUNG Ziem & Lasch (2013: 130) bestätigen die Relevanz dieser Klassifikation, postulieren aber eine mit dem Fortschritt framesemantischer Verbkonstruktionsforschung einhergehende Erweiterung dieser Prädikationsklassen und ihrer Subklassifikation. Deshalb wird hier analog zu der Prädikationsklassifikation nach von Polenz eine weitere Prädikationsklasse für die Modalverbanalyse vorgeschlagen: (6) Perspektivenprädikate: EINSTELLUNG. Der Ausrichtung dieser Arbeit entsprechend, werden in den konstruktionsgrammatischen Analysen nur die Perspektivenprädikate (6) unter den Modalverbkonstruktionen sowie die Aktionsprädikate (1) in den Konstruktionen [ich+MV+sagen] berücksichtigt. Analog zur Klassifikation nach Prädikatsklassen durch von Polenz (2008) und meiner Ergänzung um eine Klasse für Perspektivenprädikate wird eine konstruktionsgrammatische Formel entwickelt, die Konstruktionen bestehend aus einem Perspektivenprädikat sowie einem Aktionsprädikat darstellt:

8.2 Konstruktionsgrammatisches Forschungsdesign für die Modalverbkonstruktionen 

PerspektiveV(AGPP ) + HandlungV Sg1

209

Inf.

Die entwickelte Formel inkludiert auch die Modalverbkonstruktionen mit Aktionsprädikaten. Die „Perspektive“ stellt eine Konstante dar, die durch ein x-beliebiges Modalverb im engeren Sinn in der 1. Person Singular ersetzt werden kann. Das Handlungsverb steht für das Modalverb sagen im Infinitiv. Aus der Modalverbsemantik und der Semantik des Vollverbs sagen zum einen und der synchronen Berücksichtigung der Prädikationsklasse und des Aussagerahmentyps zum anderen kann die Bedeutung der Modalverbkonstruktionen [ich+MV+sagen] – EINSTELLUNGSMITTEILUNG – hergeleitet werden. Wie oben festgehalten, sind die Konstruktionen [ich+MV+sagen] nach der Prädikationsklasse analog zu von Polenz (2008) als Perspektivenprädikate zu klassifizieren. Nach dem Aussagerahmentyp können die untersuchten Konstruktionen als MITTEILUNG eingestuft werden. Diese Einordnung erfolgt entsprechend der Semantik des Vollverbs sagen. Eine Reduktion von Modalverbkonstruktionen auf die Semantik des Vollverbs ist allerdings analytisch nicht zielführend. Denn die Konstruktionssemantik verändert sich durch den modifizierenden Charakter des jeweiligen Modalverbs, so auch bei den Konstruktionen [ich+MV+sagen]. Modalverbkonstruktionen wie [ich+MV+sagen] sind damit auch sogenannte Modifikations-Konstruktionen. ModifikationsKonstruktionen mit Modalverben ist es inhärent, dass die Modalverbbedeutung die Konstruktionsbedeutung nicht bestimmt, sondern nur modifiziert. Den Terminus „Modifikationskonstruktion“ übernehme ich von Ziem & Lasch (2013: 112), die diesen allerdings nicht im Zusammenhang mit Modalverbkonstruktionen und ohne Bedeutungsklärung verwendet haben, weshalb es im Vorfeld der empirischen Analyse in Abschnitt 8.3 in Anlehnung an die eigens entwickelte erste Terminologie aus dem Abschnitt 3.6 einer erinnernden Klärung dieses Begriffs für Modalverbkonstruktionen bedarf. Modalverbkonstruktionen sind konventionalisierte Modifikationskonstruktionen, die zur Reflexion von Eigen- und Fremdperspektiven in einem bestimmten interaktionalen Kontext eingesetzt werden. Wie die Semantik der Modalverben, divergieren auch die Funktionen und Bedeutung der unterschiedlichen Modalverbkonstruktionen stark. Die Bedeutung der Modalverbkonstruktionen als Ganzes kann jedoch von der Semantik des jeweiligen Modalverbs in der Modalverbkonstruktion abweichen. Die Funktionen von Modalverbkonstruktionen zeichnen sich durch einen hohen Grad an Diversität aus und werden an argumentativ relevanten Stellen mit einem argumentativen Wert in der Konversation eingesetzt. Deshalb werden Modalverbkonstruktionen – wie in

210 

8 Zur empirischen Analyse des Modalverbgebrauchs IIb

Abschnitt 3.6 in Anlehnung an Ziem & Lasch (2013: 114) erläutert – im weiteren Verlauf dieses Kapitels als Argumentstrukturen betrachtet. Im folgenden Abschnitt werden Modalverben sowie Modalverbkonstruktionen als Argumentstrukturen in der Konversation der Bundespressekonferenz 2013 konversationsanalytisch untersucht. Anschließend erfolgt unter Berücksichtigung der Modalverbkonstruktionsbeschreibung in einem weiteren Unterabschnitt 8.3.1 die Analyse der Modalverbkonstruktionen [ich+MV+sagen] im konversationellen Verlauf.

8.3 Untersuchung der Modalverben in Sequenzteilen in der Konversation zwischen Politiker/inne/n und Journalist/ inn/en – Empirische Konversationsanalyse der Diskussion in der Bundespressekonferenz 2013 In diesem Abschnitt werden Modalverben in Handlungssequenzen am Beispiel der Diskussion in der Bundespressekonferenz 2013 auf ihre funktionale Rolle hin überprüft. Das in Abschnitt 8.1 für politische Pressekonferenzen entwickelte konversationsanalytische Forschungsdesign wird im Folgenden eingesetzt, um die argumentative Funktion von Modalverben bei der Perspektivendarstellung sowie der Konsensaushandlung im konversationellen Verlauf zu erfassen. An dieser Stelle wird die Hypothese aufgestellt, dass Modalverben bei der Aushandlung von Konsens im Konversationsverlauf eine signifikante Rolle zukommt. Wie in Abschnitt 3.5 Modalverben in der Interaktion im Konversationsverlauf hervorgehoben, gehe ich davon aus, dass der von Birkner (in Birkner et al. 2020: 238) konstatierte reflexive Charakter der Konversationssegmente v. a. durch die Modalverbsemantik beeinflusst wird. Die mehrfache Videosichtung der Diskussion führte mich zur Annahme, dass der abwechslungsreiche Modalverbeinsatz auf die Reflexion der Diskurspositionen zwischen Journalist/inn/en und Politiker/inne/n im konversationellen Verlauf einen erheblichen Einfluss hat. Um die Funktion der Modalverben in der Konversation untersuchen zu können, werden konversationsanalytisch musterhafte Belege aus der Diskussion zwischen Journalist/inn/en und Politiker/ inne/n in der Bundespressekonferenz ausgewählt, in denen eine hohe Modalverbfrequenz vorliegt. Für die Konversationsanalyse mit Blick auf die Modalverben und ihre Funktion erfolgt eine Basistranskription zweier ausgewählter modalverbhaltiger Ausschnitte aus der Diskussion der Bundespressekonferenz 2013 nach dem Transkriptionssystem GAT 2 von Selting et al. (2009). Die Basistranskription zielt nach Selting et al. (2009: 369) darauf ab, die pragmatischen Funktionen von Gesprächssegmenten möglichst genau festzulegen. Das Basistranskript ermöglicht

8.3 Untersuchung der Modalverben in Sequenzteilen in der Konversation 

211

außerdem Selting et al. (ebd.) zufolge die Erfassung prosodischer Informationen, „um Missverständnisse hinsichtlich der semantischen Struktur und pragmatischen Funktion der Segmente im Gesprächskontext auszuschließen.“ Die möglichst präzise Ermittlung der Modalverbsemantik und -funktionen steht im Vordergrund meiner empirischen Analyse. Als erster längerer Ausschnitt aus der Konversation zwischen einem Journalisten, Angela Merkel und Sigmar Gabriel wird ein Abschnitt zum Thema der zukünftigen Finanzplanung der zwischen 2013 und 2017 regierenden Großen Koalition transkribiert und anschließend mit Blick auf den Modalverbeinsatz hin untersucht. Die Modalverben werden im Transkript für eine bessere Sichtbarkeit durch Fettdruck gekennzeichnet. In der ersten Spalte von links wird der Sequenzteil angegeben, in dem der jeweilige Redebeitrag steht. Da sich die transkribierte Konversation durch einen besonders hohen Grad an Komplexität auszeichnet, kommt es durchgängig zu Gesprächserweiterungen durch neue Sequenzen. Deshalb wird im weiteren Analyseverlauf im Unterschied zum Vorschlag von Birkner in Tabelle 17 nicht von Sequenzpaaren gesprochen. Die zweite Spalte beinhaltet die Zeilenangabe. In der dritten Spalte befindet sich der jeweilige Transkriptauszug. In der Spalte 3 werden außerdem die einzelnen Struktursegmente im laufenden Transkript direkt hinter/ unter den einzelnen Zeilen mit Blick auf die Tabelle 17 in der Spalte 1 geführten konversationsanalytischen Termini eingeordnet. Die Spalte 4 zeigt die methodologisch ebenfalls segmentierten Handlungskategorien, die im Transkript auftreten. Dabei müssen die jeweiligen Handlungskategorien mit den Grenzen der Konversationsstruktursegmente nicht identisch sein, sondern können auch kürzer ausfallen bzw. über diese hinaus gehen. Mit Blick auf die Handlungssequenzklassifikation lässt sich feststellen, dass im Unterschied zu den beiden Tabellen mit den Handlungssequenzen nach Birkner (in Birkner et al. 2020) und nach Fábián (2011) in der Konversation zwischen einzelnen Journalist/inn/en und Politiker/inne/n nicht jede erste Handlungssequenz eine dazu gehörende zweite Sequenz haben wird. Außerdem wird es erste journalistische Handlungssequenzen geben, die mehrere ihnen zugewiesene Handlungssequenzen initiieren können. Eine solche Handlungssequenzteilerweiterung kommt zustande, wenn mehrere Politiker/innen auf eine journalistische Frage antworten und sich auf eine sprachliche Handlung in dem Ersten Handlungssequenzteil beziehen. Nun folgt die Tabelle 23 mit dem Transkript 1 und den dazu gehörenden struktur- und handlungssequenziellen Klassifikationen7:

7 Hier sei angemerkt, dass – wie auch bei der Klassifikation der Redehintergründe – auch bei der Zuordnung einer Handlungssequenz zu einem bestimmten Handlungstyp bisweilen mehr als eine

212 

8 Zur empirischen Analyse des Modalverbgebrauchs IIb

Tab. 23: Transkript 1 Struktureller Aufbau EST (FS)

Sprecher/ Sprecherin

Transkript

Handlungssequenz

S1 (J) 00:37:30

ja, ich habe eine frage zum thema SOlide FINanzen. Vorlauf mit Präliminarien (VmP)

Information erfragen8 (Hyperonym) (Fokusaufforderung) Information erfragen (Hyponym)

004 005 006

äh seit heute morgen (.)Vorlauf (VOR) ich sag’s mal so (.) Einschub (EIN)

Hervorheben

007 008

geistert eine ZAHL durch die gegend, VOR

Hervorheben

009 010 011

nämlich dreiundzwanzig milliarden euro, die sie MEHR ausgeben wollen. VOR

Hervorheben

012 013

MICH würde zum EInen interessieren,(.) Erster Sequenzteil 1(EST 1)

Information erfragen (Fokusaufforderung)

014 015

wie kommt diese zahl zustAnde? (EST 1)

Information erfragen (Erklärung anfordern)

016

((…))

Bewerten9

017 018

(-) zum zweiten möchte ich gerne wissen, Erster Sequenzteil 2 (EST 2)

Information erfragen (Fokusaufforderung)

019

wie sich das verträgt? (EST 2)

Bewerten

001 002 003

Interpretationsmöglichkeit vorliegt, denn die Grenzen zwischen den einzelnen Handlungstypen sind oft fließend. 8 Es handelt sich hier um die den anderen Kategorien übergeordnete Grundkategorie, die die Kennzeichnung durch Fettdruck erklärt. In der Tabelle wird die Handlungssequenz „Information erfragen“ noch mehrfach auftreten. In diesen weiteren Fällen geht es um eine gleichnamige Subkategorie. 9 Ausgelassene Sequenzen ohne Modalverben werden nach den Inhalten klassifiziert. Der Handlungstyp wird trotz Auslassung einer Textpassage zur Verständnissicherung in der Tabelle angegeben. Im weiteren Verlauf der Tabelle wird auf diese Anmerkung verzichtet.

8.3 Untersuchung der Modalverben in Sequenzteilen in der Konversation

Struktureller Aufbau

ZST (AS)

Sprecher/ Sprecherin



213

Transkript

Handlungssequenz

020 021

wie sie das finanzieren WOLLen? (EST 2)

Bewerten

022 023 024

wenn sie gleichzeitig ab 2015 ohne neuverschuldung auskommen wollen. (EST 2)

Hervorheben

025

((…))

Information [durch Umformulierung der letzten Frage] erneut erfragen

[hm] JA! ähm (.) dazu müssten (Reparatur) (.) werden sie ja dann in den nächsten tagen AUCH die (VOR)

Antworten I10 (JA: Fokusbestätigung) Erklären

030 031 032 033 034 035

spätestens bei der haushaltsaufstellung zweitausendVIERZEHN (EIN) die aufteilung auf die einzelnen jahresscheiben sehen, (VOR)

Hervorhebung annehmen (Reaktion auf die Hervorhebung des Journalisten)

036 037

es SIND zum TEIL (.) zahlen genannt,(ZST 1)

Erklären

038 039 040 041

zum beispiel bei der überNAHme von kosten FÜR die: eingliederung,(-) (Einschub)

Begründung

042 043 044

also (.) die (Reparatur) das bundesleistungsgesetz, das wir machen wollen,(-)(ZST 1)

Begründung

045 046 047 048 049

die gehen über die legislaturperiode hinaus bis ins jahr zweitausendACHTZEHN oder NEUNZEHN, (NACH)

Hervorhebung annehmen (Reaktion auf die Hervorhebung des Journalisten)

026 027 028 029

S2 (A. M.) 00:38:05

10 Analog zu der ersten Handlungssequenz „Information erfragen“ in dem Redebeitrag des Journalisten handelt es sich auch hier um eine den weiteren Handlungskategorien übergeordnete Handlungskategorie, was die Kennzeichnung durch Fettdruck erklärt.

214 

8 Zur empirischen Analyse des Modalverbgebrauchs IIb

Struktureller Aufbau

Sprecher/ Sprecherin

Transkript

Handlungssequenz

050 051

so dass sie die einfache addition der zahlen,(NACH)

Rechtfertigen (Reaktion auf die Bewertung)

052 053

die sie eben gehört haben, (NACH)

Rechtfertigen

054 055 056 057 058

noch nicht für diese legisla- Rechtfertigen turperiode (Reparatur) (.) das äh unbedingt ergeben MUSS (NACH)

059

((…))

Hervorhebung

060 061 062

seit (Reparatur) ab zweitausendfünfzehn können wir die NULL darstellen Zweiter Sequenzteil 2(ZST 2)

Hervorhebung annehmen (Reaktion auf die Hervorhebung des Journalisten)

063 064 065 066

IMMER BAsierend NATÜRlich auf den heutigen annahmen von wirtschaftswachstum und beschäftigungsentwicklung – Nachlauf (NACH)

Begründen

067

((…))

068 069

falls es neue spielräume geben sollte, (ZST 2)

Ankündigen

070

((…))

Begründen

071 072 073 074 075

DANN werden wir auch gerade im blick auch auf vorhaben der LÄNDER noch einmal das im verhältnis zwei drittel zu ein drittel AUFteilen. (ZST 2)

Ankündigen

076 077

ob es solche spielräume GIBT,

Prognose ausschließen

078

können wir heut nicht SAGEN;

Prognose ausschließen

079 080 081

wenn ich mir die letzte legislaturperiode anschaue und auch die vorletzte (-);

Rechtfertigen

082

DANN kann ich NUR SAGen,

Rechtfertigen (fokussiert)

8.3 Untersuchung der Modalverben in Sequenzteilen in der Konversation

Struktureller Aufbau

DST (AS)

Sprecher/ Sprecherin



215

Transkript

Handlungssequenz

083 084 085

die steuereinnahmen haben sich jeweils anders entwickelt

Rechtfertigen

086 087

als man das an einen bestimmten tag SAgen konnte,

Rechtfertigen

088

((…))

Rechtfertigen11

vielleicht damit sie sozusagen die von IHNEN (.) vermutete differenz (.) an einem beispiel sehen können (VmP)

Erklären (eingangs journalistische Fokusaufforderung bestätigen)

093 094

wir haben im jahr zweitausendELF (.)verabredet (VOR)

Begründen

095

((…)) (DST 1)

Hervorheben

096 097 098 099 100 101

so müssen sie sich auch die entlastung im zusammenhang mit der eingliederungsHILFE und dem bundesbetreuungsGESETZ vorstellen (.)DST 1

Rechtfertigen

102 103 104

ERSTENS, das gesetz muss erst mal DA sein, vorher (Abbruch)DPT 1

Begründen

105 106

wir machen SOGAR vorAB (.) eine ENTlastung der kommunen DST 2

Ankündigen

107 108

(.) ich glaube von einer millIARDE (-) Einschub

Hervorheben

109

((…)) DST 2

Hervorheben

110 111

also ich kann ihnen ja die jahresscheiben nicht SAgen, (NL)

Prognose ausschließen

112

((…))

Hervorheben12

089 090 091 092

S3 (S. G.) 00:39:45 bis 00:41:00

11 Die Auslassung ist die Fortführung der Rechtfertigung beinhaltenden Sequenz ohne Modalverben. 12 Die Auslassung beinhaltet eine hervorhebende Handlungssequenz ohne Modalverben.

216 

8 Zur empirischen Analyse des Modalverbgebrauchs IIb

Die Bundespressekonferenz 2013 dauert insgesamt 1 Stunde und 24 Minuten, wovon die Konversation zwischen Journalist/inn/en und Politiker/inne/n ca. 50 Minuten einnimmt. Der transkribierte Ausschnitt beginnt bei Minute 37 und endet bei Minute 41. Damit wird der Konversationsverlauf von ca. 4 Minuten mit kurzen Auslassungen13 abgebildet, die aus Sicht des Konversationsverlaufs mit Blick auf die Fragestellung des Journalisten und deshalb auch für die Erfassung der Modalverbuntersuchung nicht relevant sind. Bei der Journalistenfrage zum Haushaltsplan der Großen Koalition zwischen 2013 bis 2017 handelt es sich um eine Frage, die in ähnlicher Form bereits von einer Journalistin gestellt wurde und aus Sicht des Fragenden von den Politiker/inne/n beim ersten Mal nicht hinreichend beantwortet wurde.14 Solche kritische Rückfragen beinhalten normalerweise Dispräferenzmerkmale, die sich in einem hohen Komplexitätsgrad der Konversationsstruktur sowie der einzelnen Redebeiträge niederschlagen, wie dies auch der transkribierte Ausschnitt zeigt. Diese Dispräferenzmerkmale können im Transkript 1 der journalistischen Frage durchgängig, aber insbesondere den Zeilen 14–2415 entnommen werden und gehen aus Gründen des Argumentationsaufbaus mit sogenannten Handlungsverkettungen nach Sacks (1992: 685) einher. Wie eingangs in diesem Kapitel angenommen und analog zu den Resultaten der bisherigen Kapitel dienen Modalverben in den Sequenzen dieser Handlungsverkettungen dazu, Eigen- und Fremdperspektiven zu reflektieren. In diesem Zusammenhang liegt der Fokus auf dem Auftreten und der Wechselwirkung der Modalverben in den einzelnen miteinander zusammenhängenden Handlungssequenzteilen in der Journalistenfrage und den Antworten von Angela Merkel und Sigmar Gabriel. Für die handlungs- und konversationssequenzielle Lokalisierung der Modalverben wird zuerst die Handlungsstruktur des journalistischen Redebeitrags beschrieben. Anschließend werden die in den Handlungssequenzen auftretenden Modalverben auf ihre konversationelle Funktion hin untersucht. Der journalistische Beitrag richtet sich auf die Erfragung von Informationen – nach Birkner (in Birkner et al. 2020: 257) „Information erfragen“ –, die bei den referentiell benannten Personen eine Folgehandlung auslösen soll. Damit werden weitere Handlungssequenzen von Politiker/inne/n für die Entstehung und die Fort13 Auslassungen in langen Transkriptionen sind in der Konversationsanalyse geläufig und notwendig, um das untersuchte Phänomen effektiver fokussieren zu können. 14 Hierbei wird noch einmal ausdrücklich auf die Möglichkeit der Journalist/inn/en in der Diskussion hingewiesen, sich an der Konversation entweder durch eigene Rückfragen im Anschluss an ein Politikerstatement oder durch kollegiale stellvertretende Rückfragen aktiv beteiligen zu können, selbst wenn ihnen nicht dieselben Rederechte zustehen wie den Politiker/inne/n. 15 Die Zeilenangaben beziehen sich in diesem Abschnitt nicht auf den Anhang, sondern auf die jeweiligen GAT-Transkript-Tabellen.

8.3 Untersuchung der Modalverben in Sequenzteilen in der Konversation 

217

setzung der Konversation vorausgesetzt. Wie der Tabelle zum Transkript 1 zu entnehmen, fallen die Handlungskategorien in der handlungsinitiierenden journalistischen Frage divers aus. Die Frage beinhaltet in den unterschiedlichen Handlungssequenzen insgesamt 4 zielbezogene Modalverben: Das Modalverb wollen in Kombination mit der Siezform des Personalpronomens in der 3. Person Plural (Z. 10/11, 20/21, 22–24) 3-mal und das Modalverb mögen/möchte- in der 1. Person Singular (Z. 17/18) einmal. Aus der mit den beiden Modalverben verbundenen Personalpronomenverwendung resultiert die referenzielle Markierung der von der Frage betroffenen Interaktionspartner/innen. Das zielbezogene Modalverb wollen mit der 3. Person des Personalpronomens in Siezform tritt in den Handlungssequenzen auf, die zu den Kategorien der Hervorhebung – 2-mal – und der Bewertung – einmal – zugeordnet werden. Die beiden implizit oder explizit Fakten hervorhebenden Handlungssequenzen nämlich dreiundzwanzig milliarden euro, die sie MEHR ausgeben wollen (Z. 9–11) und wenn sie gleichzeitig ab 2015 ohne neuverschuldung auskommen wollen (Z. 22–24) deuten semantisch und intonatorisch – v. a. MEHR – auf die dispräferenzielle Perspektive des Sprechers hin. Der Modalverbgebrauch ist in diesem Fall intonatorisch jedoch nicht salient. Wollen in Kombination mit dem Vollverb ausgeben und auskommen richtet sich auf die Handlungsplanung im Bereich der Haushaltsplanung in der Großen Koalition und steht fremdreflexiv – also das Handlungsziel der Interaktionspartner/innen fokussierend – mit einem teleologischen Gebrauch nach dem Redehintergrund. Im Vergleich zu diesen beiden Belegen zeigt der Gebrauch von wollen in der Handlungssequenz in wie sie das finanzieren WOLLen? (Z. 18/19) eine intonatorische Salienz. Durch die Betonung des Modalverbs wird der bewertende Charakter der jeweiligen Handlungssequenz verstärkt. Das ebenfalls zielbezogene Modalverb mögen/möchte- in der 1. Person Singular in Konjunktiv II (-) zum zweiten möchte ich gerne wissen (Z. 17/18) steht mit dem volitiven Redehintergrund als Teil in einer nach einer kurzen Pause zur vorangegangenen Sequenz zustande gekommenen Handlungssequenz und ist selbstreflexiv, also auf die eigene begonnene sprachliche Handlung gerichtet, die als „Information erfragen“ klassifiziert wird. Diese Handlungssequenz geht zugleich mit der Funktion der „Fokussierungsaufforderung“ einher, die nach Birkner (in Birkner et al. 2020: 298) in der Konversation zur „Aufmerksamkeits(re)fokussierung“ dient. Die Fokussierungsaufforderung, die als Teil der Handlungskategorie der Informationserfragung in dem journalistischen Beitrag mehrfach erscheint, indiziert den späteren Sprecherwechsel, den Angela Merkel mit deutlicher Zeitverzögerung zu Beginn ihres Redebeitrags mit „Ja“ bestätigt. Auf die Fokusbestätigung folgt nach einer kurzen Zögerung eine Folgesequenz mit dem handlungsraumbezogenen und notwendigkeitsmodalen müssen. Auf den Gebrauch dieses Modalverbs in der ersten Handlungssequenz von Angela Merkel wird jedoch infolge einer Selbstreparatur verzichtet: [hm] JA!

218 

8 Zur empirischen Analyse des Modalverbgebrauchs IIb

ähm (.) dazu müssten (Reparatur) (.) werden sie ja dann in den nächsten tagen AUCH die (Z. 26–29) Dieser Verzicht korreliert mit den Forschungsresultaten aus den Kapiteln 6 (Bundespressekonferenz 1990) und 7 (Bundespressekonferenz 2013 Überblick und Eingangsstatement). In diesen Kapiteln wurde nachgewiesen, dass das handlungsraumbezogene Modalverb müssen von konkreten Agentia gerade in den Interaktionen den Interaktionspartner/inne/n gegenüber oft ferngehalten und deshalb mit Abstrakta, man-Konstruktionen oder Vorgangspassiv verwendet werden. Analog zu den Erkenntnissen in den genannten Kapiteln ist außerdem der semantische Gebrauch des Modalverbs wollen in der 1. Person Plural also (.) die (Reparatur) das bundesleistungsgesetz, das wir machen wollen, (-) (Z. 038–040) hinsichtlich des Redehintergrunds ähnlich musterhaft. Denn das Modalverb wollen tritt in dem dazu gehörenden Zweiten Sequenzteil mit einem teleologischen Redehintergrund in Überschneidung mit dem volitiven Gebrauch auf.16 Die Modalverbsemantik ist zukunfts- und zielgerichtet und steht in der als Begründung fungierenden Handlungssequenz von Angela Merkel, um ihre Antwort auf die Journalistenfrage argumentativ zu fundieren. Intonatorisch verhält sich das Modalverb an dieser Stelle unauffällig. Als intonatorisch salient, also stark betont, kann das Modalverb müssen in (.) das äh unbedingt ergeben MUSS (Z. 54–58) eigenstuft werden, das im Nachlauf zu dieser das Modalverb wollen beinhaltenden ersten Hälfte des Zweiten Sequenzteils steht. Die Handlungssequenz einer Rechtfertigung, in der das Modalverb müssen in der 3. Person Singular eingesetzt wird, wird durch die mehrfach hintereinander getätigte Handlungssequenz der Bewertung in der journalistischen Frage indiziert. Trotz des Satzabbruchs nach der Reparatur kann man aus dem Konversationsverlauf rekonstruieren, dass sich die notwendigkeitsmodale Semantik von müssen auf die Haushaltsplanung richtet. Müssen reflektiert in diesem Beleg die Perspektive und zugleich die Intention der Sprecherin, die Grenzen des Budgets einzuhalten. Damit überschneidet sich der circumstantielle Redehintergrund mit dem teleologischen und auch dem normativen Redehintergrund, der aufgrund des Nachdrucks durch „unbedingt“ und der starken Intonation eindeutig identifiziert werden kann. In der Folgesequenz ist das Modalverb können in seit (Reparatur) ab zweitausendfünfzehn können wir die NULL darstellen (Z. 60–62) Teil einer Hervorhebung, die durch eine ebenfalls hervorhebende Handlungssequenz des Journalisten in der Frage nach Neuverschuldung ausgelöst wird. Argumentativ wird

16 Analog zu der Herangehensweise bei der Modalverbklassifikation nach den Redehintergründen wird bei wollen mit der 1. Person Plural ein teleologischer Gebrauch angenommen, da die Kanzlerin Teil des Regierungskollektivs ist, das sich für künftige politische Entscheidungen verantwortlich zeichnet.

8.3 Untersuchung der Modalverben in Sequenzteilen in der Konversation 

219

das teleologisch und zugleich circumstantiell17 verwendete Modalverb von Angela Merkel in der Interaktion eingesetzt, um das Handlungsziel als erreichbare Möglichkeit darzustellen und damit den Vorwurf der Neuverschuldung zu widerlegen. Die Kombination des notwendigkeitsmodalen Müssens und des möglichkeitsmodalen Könnens in zwei aufeinander folgenden Struktursequenzen ist insofern funktional musterhaft, als müssen eingesetzt wird, um ein Handlungsziel zuerst als notwendig festzulegen und zu begründen sowie gleich anschließend seine Realisierbarkeit durch können als möglich einzustufen. Der Modalverbwechsel in den aufeinander folgenden Handlungssequenzen der Sprecherin geht auch in diesem Beleg mit einem Perspektivenwechsel von notwendig zu möglich einher und unterstützt damit die Argumentation. Im Transkript 1 erscheint in falls es neue spielräume geben sollte (Z. 68–69) neben den mehrfach verwendeten können und müssen – müssen wird in beiden Fällen als Folge von Reparatur jedoch revidiert – und dem einmal vorkommenden wollen das ebenfalls zielbezogene Modalverb sollen (sollte) im Konjunktiv II als Nichtfaktizitätsmarker. Wie in den Kapiteln 6 (Bundespressekonferenz 1990) und 7 (Bundespressekonferenz 2013 Überblick und Eingangsstatement) bereits aufgezeigt, tritt auch in diesem Beleg ein zielbezogenes Modalverb im Konjunktiv II auf, um eine potentiell auftretende Möglichkeit als positiven Nebeneffekt einer politischen Handlung in Aussicht zu stellen, ohne jedoch eine sichere Prognose oder ein festes Ziel fokussieren zu müssen. Sollen erscheint in dem Beleg in einer weiteren Fortsetzung des ZST 2 in der Handlungssequenz der Ankündigung ohne direkte Indizierung in der Journalistenfrage. Die das Modalverb beinhaltende Ankündigungssequenz wird nach einer kurzen begründenden Sequenz mit dem Ziel fortgesetzt, eine politische Handlung zu schildern, falls das Nichtfaktische eintreten und ein Restbudget übrigbleiben würde. Das Modalverb können mit und ohne Negation tritt im Transkript 1 im Redebeitrag von Angela Merkel noch 3-mal auf, jeweils im Kontext der Haushaltsplanung in den Folgesequenzen mit dem Modalverb sollen. In allen drei Fällen handelt es sich um ein kombiniertes Vorkommen des Modalverbs können in einer Konstruktion mit sagen. Diese Konstruktionen werden in diesen Belegen eingesetzt, um Prognosen mit Blick auf die Haushaltsplanung auszuschließen und zu der Fragestellung des Journalisten nur so viel sagen zu müssen, wie dies zum gegebenen Zeitpunkt möglich ist. Diese Modalverbkonstruktion und ihre Relevanz in der Interaktion werden allerdings erst in Abschnitt 8.3.1 besprochen. Ähnlich dem Turn von Angela Merkel zeichnet sich auch der Turn von Sigmar Gabriel durch einen hohen Grad an Interaktionalität in der Konversation mit dem 17 Der circumstantielle Gebrauch dieses Modalverbs ergibt sich aus der konversationsstrukturellen Folgesequenz des Nachlaufs.

220  8 Zur empirischen Analyse des Modalverbgebrauchs IIb

Journalisten, aber auch mit Angela Merkel aus. Die erste Handlungssequenz in Gabriels Turn wird durch die Handlungssequenzen der Bewertungen der Haushaltspläne der Koalition und der Hervorhebung, die ebenfalls auf die Haushaltsfinanzierung gerichtet ist, indiziert. Dieser Turn zeigt außerdem auch eine hohe Responsivität auf Merkels Turn, denn er entsteht direkt im Anschluss – 1 Sekunde später – an die letzte Handlungssequenz einer Rechtfertigung von Angela Merkel. Eingangs wird die aus der journalistischen Hervorhebung resultierende Fokusaufforderung angenommen und eine Erklärung begonnen, die die von Merkel erläuterten Argumente für die Finanzierungspläne aufgreift. In den darauffolgenden Handlungssequenzen werden die Haushaltspläne begründet, unter Nennung von Fakten hervorgehoben und zum Schluss unter Rückgriff auf ein ähnliches Vokabular wie bei der Kanzlerin gerechtfertigt. Das Modalverb können tritt in vielleicht damit sie sozusagen die von IHNEN (.) vermutete differenz (.) an einem beispiel sehen können (Z. 89–92) in Gabriels eröffnender und erklärender Handlungssequenz auf, die strukturell im Vorlauf mit Präliminarien zum Dritten Sequenzteil steht und das Modalverb können beinhaltet. Das intonatorisch unauffällige Können im Sinne einer Möglichkeit tritt in diesem Beleg mit dem teleologischen Redehintergrund auf. Die Zielsetzung richtet sich darauf, den Dispräferenz kommunizierenden Journalisten argumentativ von der Richtigkeit der eigenen politischen Handlung zu überzeugen. Wie das sowohl in dem vorangegangenen Beitrag von Angela Merkel sowie in vielen Belegen in den Kapiteln 6 (Bundespressekonferenz 1990) und 7 (Bundespressekonferenz 2013 Überblick und Eingangsstatement) der Fall war, kommt auch in dem Beitrag von Sigmar Gabriel in der Nähe von können auch müssen in so müssen sie sich auch die entlastung im zusammenhang mit der eingliederungsHILFE und dem bundesbetreuungsGESETZ vorstellen (.) (Z. 96–101) vor. Das Modalverb müssen und seine Kombination mit der Siezform fällt im Vergleich zu anderen Belegen mit diesem Modalverb im Korpus der Bundespressekonferenzen zwischen 1990 und 2018 salient aus. Denn in der Handlungssequenz einer Rechtfertigung wird müssen an den Konversationspartner auf der ersten Realitätsebene direkt adressiert. Die übliche Semantik des Modalverbs müssen im Sinne einer Notwendigkeit wird jedoch durch den usuellen Charakter der Konstruktion „jmd. muss sich X vorstellen“ überblendet. Das Modalverb steht in einer Handlungssequenz, die – wie auch in anderen rechtfertigenden Handlungssequenzen von Politiker/inne/n – durch eine bewertende journalistische Handlungssequenz indiziert wird. In der der Rechtfertigung vorangehenden Handlungssequenz wurde der Handlungsrahmen für die politische Handlung hinsichtlich der Haushaltsplanung der großen Koalition festgelegt. Diese Handlungssequenz liefert die argumentative Basis für die Glaubwürdigkeit der Daten. Müssen zeichnet sich in diesem Beleg folglich durch den circumstantiellen Redehintergrund aus, der wie auch in den

8.3 Untersuchung der Modalverben in Sequenzteilen in der Konversation



221

Kapiteln 6 und 7 für müssen musterhaft ist. In der das Modalverb müssen beinhaltenden Folgesequenz einer Begründung für künftige Koalitionshandlungen kommt müssen in ERSTENS, das gesetz muss erst mal DA sein, vorher (Abbruch) (Z. 97– 99) konversationsstrukturell ebenfalls im DST 1 vor, wird jedoch im Unterschied zu den vorangegangenen Handlungssequenzen nicht durch den journalistischen Turn oder den Turn von Angela Merkel indiziert. Vielmehr geht diese Sequenz mit dem argumentativen Verlauf in Gabriels Turn einher. Die Überschneidung des in diesem Beleg auftretenden circumstantiellen Redehintergrunds mit den normativen und teleologischen Redehintergründen trägt im konversationellen Verlauf argumentativ dazu bei, die Notwendigkeit der gerechtfertigten Handlungspläne auf dem Gesetzesweg zu fokussieren, die in den vorangegangenen Handlungssequenzen bereits begründet wurden. Damit wird die Glaubwürdigkeit der Koalition im konversationellen Verlauf argumentativ unterstützt. Diese Sequenz steht außerdem begründend im Verhältnis zum Nachlauf, in dem Gabriel abschließend für diesen thematischen Block der Haushaltsfinanzierung mit der Konstruktion [ich +kann+nicht+sagen] eine Prognose ausschließt, um die im journalistischen Turn gebeten wurde. Abschließend für die konversationsanalytische Untersuchung des Transkripts 1 kann Folgendes festgestellt werden: In den beiden eröffnenden Handlungssequenzen von Angela Merkel und Sigmar Gabriel, die durch die bewertenden und hervorhebenden Handlungssequenzen im Turn des Journalisten ausgelöst wurden, treten zwei handlungsraumbezogene Modalverben auf. Bei Angela Merkel ist dies müssen im Vorlauf, das jedoch später durch Reparatur elidiert wird, und bei Sigmar Gabriel können im Vorlauf mit Präliminarien. Beide Modalverben werden in den beiden erklärenden Handlungssequenzen an den journalistischen Konversationspartner direkt adressiert, um seine Perspektive auf das kontroverse Diskursobjekt betreffend zu verändern und seine Diskursposition aufzugeben. Die Intention der Sprecherin und des Sprechers ist es, die eigene Perspektive zu reflektieren und auf den Konversationspartner zu übertragen. Die handlungsraumbezogenen Modalverben können und müssen tragen damit in den eröffnenden Handlungssequenzen zur Markierung des Beginns der Konsensaushandlung bei. Nach der Annahme der Dispräferenz markierenden journalistischen Erklärungsaufforderung ließen sich Hervorhebungen, die in Korrelation mit der hervorhebenden Handlungssequenz des Journalisten stehen, oder Begründungen und anschließende Rechtfertigungen, die beide in Beziehung mit den Bewertungen beinhaltenden journalistischen Handlungssequenzen stehen, beobachten. Dieser Gesprächsausschnitt ist musterhaft für das konversationelle Argumentieren nach kritischen journalistischen Fragen im Korpus der Bundespressekonferenzen. Er zeigt, dass sich diese Handlungssequenzen im Rahmen des Argumentationsverlaufs in einer Frage-Antwort-Situation bei Dissens in den einzelnen Turns abwechseln. Dies

222  8 Zur empirischen Analyse des Modalverbgebrauchs IIb

stimmt mit der Feststellung von Birkner (in Birkner et al. 2020: 298) in Anlehnung an Schegloff (2007: 44) überein, dass Vorläufe „einen maßgeblichen Einfluss auf den weiteren Handlungsverlauf in der Paarsequenz [nehmen], die sie projizieren.“ Wie eingangs in diesem Kapitel erläutert, blieb die Rolle der Modalverben während des argumentativen Verlaufs in der Konversationsanalyse insbesondere an einem Korpus aus der Politik bislang unerforscht. Umso wichtiger sind die Erkenntnisse der konversationsanalytischen Untersuchung des Transkripts 1. Diese zeigte, dass die handlungsraumbezogenen Modalverben müssen und können, wenn sie nicht als Teile der Konstruktion [PP + MV + VV] auftreten, in Handlungssequenzen der turneröffnenden Erklärungen und der anschließenden Hervorhebung, Begründung und Rechtfertigung vorkommen. Den statistischen Ergebnissen der letzten Kapitel entsprechend, sind auch im Transkript 1 die zielbezogenen Modalverben seltener als die handlungsraumbezogenen. Die zielbezogenen Modalverben sollen und wollen wurden nur in Angela Merkels Turn ausschließlich in Handlungssequenzen beobachtet, die sich auf die Ankündigung politischer Handlungsziele richteten. Analog zur Untersuchung von Transkript 1 wird auch Transkript 2 auf die Lokalisierung von Modalverben und Modalverbtypen in der Konversationsstruktur bzw. in der handlungssequenziellen Struktur hin überprüft. Transkript 2 unterscheidet sich insofern von Transkript 1, als die dargestellte Konversation nicht durch Dissensmarkierung gekennzeichnet, sondern auf die Etablierung von Verständnis im Konversationsverlauf ausgerichtet ist. Der folgende Auszug beinhaltet die Transkription des journalistischen Turns mit einer Frage zur Rente mit 63 Jahren und die dadurch indizierten Turns von – in der Reihenfolge der Konversationsstruktur – Sigmar Gabriel, Horst Seehofer und Angela Merkel. Weil die Antworten von dem die Frage stellenden Journalisten partiell nicht verstanden wurden, kam es in der Konversation nach einem Turn jeweils von Sigmar Gabriel und Horst Seehofer zu einer Unterbrechung durch den Journalisten und einer Nachfrage mit Neuformulierung bzw. Präzisierung seiner Frage. Anschließend wurde die Konversation mit der Beantwortung der zuerst gestellten und der präzisierten Frage wieder aufgenommen. Ähnlich Transkript 1 besteht auch die Konversation zwischen dem Journalisten, Gabriel, Seehofer und Merkel im Transkript aus diversen Handlungssequenzen, die aufeinander abgestimmt sind, um die Argumentation zu stützen und Verständnis im Konversationsverlauf herzustellen:

8.3 Untersuchung der Modalverben in Sequenzteilen in der Konversation 

223

Tab. 24: Transkript 2 Struktureller Aufbau EST (FS)

ZST (AS)

Sprecher/ Sprecherin

Transkript

Handlung

S1 (J1) 01:15:47 EST

eine Frage an Herrn Gabriel: (VmP) Sie haben (.) DIE abschlagsfreie rente mit dreiundsechzig nach fünfundvierzig versicherungsjahren eingeführt.(VOR)

Information erfragen (Hyperonym) (Fokusaufforderung) Hervorheben (Hyponym)

009

((…))

Begründen18

010 011 012

war das ja auch mal das Ziel (.) (Reparatur) die ZIELgröße sein soll? (EST)

Information erfragen (als Hyponym)

013

((…))

Information erfragen (thematisch unabhängige Fragestellung => Auslassung)

((…)) es IST (ZST 1), (.) wenn sie’s GEnau WIssen wollen (EIN), (.) für !LANG!jäh:rig versicherte (.) die wiederHERstellung (.) des alten rentenrechts ohne abZÜGE (ZST 1).

Antworten (Hyperonym) (Fokussierungsaufforderung indirekt bestätigen) Ankündigung (Hyponym)

021 022

das ist DAS, was da stattgefunden hat; (NACH)

Nachdruck

023

((…))

Hervorheben + Begründungen

024 025 026 027 028 029 030

und JETZT reden WIR über menschen, DIE DAS alles NICH haben (ZST 2), (.) aber die ! FÜNF!undVIERZIG (.)!SECHS! undVIERZIG (.)!ACHT!undVIERZIG (.) (EIN)(Abbruch)

Erklären

001 002 003 004 005 006 007 008

014 015 016 017 018 019 020

S2 (S. G.) 01:16:18 ZST

18 Ausgelassene Sequenzen ohne Modalverben werden nach den Inhalten klassifiziert. Der Handlungstyp wird trotz Auslassung einer Textpassage zur Verständnissicherung in der Tabelle angegeben. Im weiteren Verlauf der Tabelle wird auf diese Anmerkung verzichtet.

224 

8 Zur empirischen Analyse des Modalverbgebrauchs IIb

Struktureller Aufbau

Sprecher/ Sprecherin

Transkript

Handlung

031 032 033 034

ich habe gerade EINEN, Erklären der hat !FÜNFZIG! jahre GEARbeitet als (.) !AR!BEITER; (.) (EIN)

035 036

und DEM wollen wir mal sagen; (.)(ZST 2)

Ankündigen

037 038 039 040

„nu: (.) DARFST du: (.) gehen;(.) und wir ZIEHen dir !NIX! von deiner RENte AB.“ ZST 2)

Ankündigen

041 042

DAS halte ICH (.)FÜR ÜBERfäl- Nachdruck lig. (NACH) wobei man hinZUfügen muss, (VOR)

Ergänzen

045 046 047 048 049 050 051 052 053 054

dass das heute SCHON im gesetz steht, (.) dass jemand, der langjährig versichert IST,(DST)(.) auch DANN, (.) wenn wir das siebenundsechzigste lebensjahr einmal haben werden (EIN)(.) in der vollen äh ausbreitung äh (Reparatur) (DST)

Hervorheben

055 056 057 058

kann man ABSCHLAGSfrei dann mit fünfundsechzig, (.) also zwei jahre VORHER gehen. (DST)

Hervorheben

059 060 061 062

das ist das gleiche PRinzip, das wir jetzt äh für den ÜBERgang beschlossen haben. (NACH)

Nachdruck

(je Politiker/in ein Redebeitrag ohne Modalverben ausgelassen)

Auslassung aufgrund von Modalverblosigkeit

043 044

S3(H. S.) 01:17:46 DST

S2/S3/S4

8.3 Untersuchung der Modalverben in Sequenzteilen in der Konversation 

Struktureller Aufbau

225

Sprecher/ Sprecherin

Transkript

Handlung

S1 (J) 01:18:40 VST

[der Anfang der frage unverständlich][…] die frage war EHER (VOR), (.) was es mit den DREIundsechzig oder FÜNFundsechzig jahren auf sich hat? (VST 1)

Information erfragen (Hyperonym): Nachhaken (Refokussierung) (Bezug: EST – VST)

070 071 072 073 074

da GIBT’s ja offenbar ne idee (EIN), (.) von 63 es zu machen (.) dann wieder bei fündundsechzig zu LANDEN.(VST 1)

Hervorheben

075 076 077

das habe ich NICHT GANZ verstanden. (NACH) ((…))

Begründen

Das ist ne TREPPE, (-) DIE (.) etwas ANDERS aussieht(.) als die TREPPE, DIE jetzt BEreits existiert mit blick auf SIEBENundsechzig,(-) sie wird etwas VERZÖgert sein, (-) ABER sie (.) ENTwickelt sich sozusagen natürlich (.) auch ENTlang der erwerbsbiografien.(.) (FST)

Erklären (Propositionsfokussierung durch das annehmen)

DAS ist (NACH), wenn sie SO WOLLEN (EIN), DER kompromiss dabei. (.)(NACH)

Nachdruck

063 064 065 066 067 068 069

078 079 080 081 082 083 084 085 086 087 088 089

S2 (S. G.) 01:18:53 FST 1

090 091 092

((…))

Begründung

094 095 096

S4 (A. M.) 01:19:37 SST 1

=wenn ich [auch, auch MA] (Abbruch durch Unterbrechung)

Keine Angabe möglich infolge der gescheiterten Turnübernahme)

098 099 100

S2 (S. G.) FST 2

[es ist] auch keine PREISwerte angelegenheit.(FST 2)

Bewertung

093

226 

8 Zur empirischen Analyse des Modalverbgebrauchs IIb

Struktureller Aufbau DPT (AS)

Sprecher/ Sprecherin

Transkript

Handlung

S4 (A. M.) 01:19:37 bis 01:20:30 SST 2

= wenn ich auch MAL SAgen darf (VmP), (–) der (Reparatur) die entwicklung der rente von fünfundsechzig früher bis siebenundsechzig entwickelt sich doch SO,(.)(VOR)

Erklärung (Turnübernahme durch die MV-Konstruktion als VmP)

109 110 111 112 113

und etwas ZEITverzögert, also ERST beendet im jahre zweitausendzweiundreiundfreißig (SST 2/1)– […]

Erklärung

114

wachsen jetzt DIE, (SST 2/2)

Erklärung

115 116 117 118 119 120 121 122 123 124

DIE in vierzehn mit dreiundErklärung sechzig jahren in rente gehen dürfen haben; (SST 2/2)

101 102 103 104 105 106 107 108

Dieser konversationsanalytisch komplexe Auszug beinhaltet mehrere sich abwechselnde Redebeiträge von Sigmar Gabriel, Horst Seehofer und Angela Merkel. Die Turns sind infolge von Übernahmeversuchen untereinander in mehreren Abschluss- und Eröffnungssequenzen durch konversationelle Überlappungen gekennzeichnet und deshalb an einigen wenigen Stellen unverständlich. Konversationsstrukturell salient ist im Transkript 2 die Unterbrechung der Konversation zwischen Gabriel, Seehofer und Merkel unter Missachtung der Moderatorenrolle durch eine für die Diskussion der Bundespressekonferenzen seltene journalistische Rückfragemöglichkeit während des Konversationsverlaufs. Die journalistische Frage im Ersten Sequenzteil war das ja auch mal das Ziel (.) (Reparatur) die ZIELgröße sein soll? (Z. 10–12) bezieht sich auf die Rentenpläne der Großen Koalition sowie die damals aktuell angekündigte Rente mit 63 und indiziert weitere Sequenzteile. In diesem Ersten Sequenzteil des Erfragens von Information als handlungssequenzielles Hyperonym werden die Handlungssequenz, die die Daten über das geplante Rentengesetz hervorhebt, anschließend eine die Frage begründende

8.3 Untersuchung der Modalverben in Sequenzteilen in der Konversation



227

Handlungssequenz und turnschließend die Handlungssequenz des Information Erfragens als Hyponym miteinander kombiniert. Das Modalverb sollen in der Frage in Kombination mit dem Kopulaverb ist nach dem Redehintergrund teleologisch in Überschneidung mit dem normativen Redehintergrund. Mit diesem Redehintergrund korreliert dieser Beleg mit den Forschungsresultaten aus den letzten Kapiteln zum Modalverb sollen. Pragmatisch aber fällt dieser Modalverbgebrauch insofern salient aus, als er sich nicht auf die Ankündigung einer zukünftigen Zielsetzung – mit teleologischem Redehintergrund – oder die Notwendigkeit dieser Zielsetzung – mit normativem Redehintergrund – richtet, sondern auf die Überprüfung bereits festgelegter Ziele. In der eröffnenden Handlungssequenz des Zweiten Sequenzteils geht Sigmar Gabriel in es IST(.) wenn sie’s GEnau WIssen wollen (EIN), (.) für !LANG!jäh:rig versicherte (.) die wiederHERstellung (.) des alten rentenrechts ohne abZÜGE. (Z. 14–16) auf die journalistische Frage ein. Wie auch im Transkript 1 wird in der eröffnenden und das Modalverb beinhaltenden Sequenz direkt der Journalist adressiert. Der Einsatz des Modalverbs in der ersten Hälfte des Ersten Sequenzteils (EST 1) ist nicht argumentativ, sondern interaktional motiviert, um in der Handlungssequenz einer Ankündigung die kommunikative Kooperationsbereitschaft zu signalisieren. Der Redehintergrund des Modalverbs wollen rückt in wenn sie’s GEnau WIssen wollen in den Hintergrund. In der zweiten Hälfte des Turns von Sigmar Gabriel wird wollen in DEM wollen wir mal sagen; (.) (Z. 35–36) erneut in einer ein Statement ankündigenden Handlungssequenz in der Konstruktion [wir +wollen+mal+sagen] interaktionslinguistisch verwendet. Der stark volitive Redehintergrund des Modalverbs wollen reflektiert in diesem Beleg die persönliche Perspektive des Politikers als Teil des künftigen Regierungskollektivs auf die Proposition. Funktional betrachtet wird durch die Kombination der 1. Person Plural mit dem Modalverb wollen und der Intensitätspartikel mal die Proposition argumentativ fokussiert. Direkt in der gleichen ankündigenden Handlungssequenz nach einer Pause von ca. 1 Sekunde wird in nu: (.) DARFST du: (.) gehen;(.) (Z. 37– 38) das intonatorisch saliente Modalverb dürfen mit einer möglichkeitsmodalen Semantik – also der Semantik von können – eingesetzt. Die starke Modalverbbetonung stützt – gemeinsam mit der als Nachdruck klassifizierten Folgesequenz – in der nicht direkt durch die Journalistenfrage indizierten Konversationssequenz die Argumentation. Dieser argumentative Gebrauch dient dazu, die Chancen der angekündigten Regelung herauszustellen. Das Modalverb tritt in diesem Beleg in einer fiktiven Konversation mit der Funktion der Redewidergabe auf und ist damit in Bundespressekonferenzen salient, denn direkte Redewidergaben unter Einsatz von Modalverben finden im Korpus sehr selten statt. Der sonst epistemische Modalverbgebrauch bei Zitationen tritt in diesem Beleg aufgrund der Fiktion jedoch in den Hintergrund.

228 

8 Zur empirischen Analyse des Modalverbgebrauchs IIb

Mit ein wenig Abstand ist in der Eröffnungssequenz von Horst Seehofer nach der Turnübernahme das handlungsraumbezogene Modalverb müssen im Vorlauf in der interaktional markierten Konstruktion [man+muss+hinzufügen] zu beobachten. Wie dies bei anderen usuellen Modalverbkonstruktionen der Fall ist, übernimmt auch diese Konstruktion eine propositionseinleitende Funktion. Die notwendigkeitsmodale Semantik des Modalverbs müssen reflektiert die Sprecherperspektive, aus der heraus eine Ergänzung als notwendig markiert wird, auch wenn – wie dies in der politischen Kommunikation oft zu beobachten – anstelle der 1. Person Singular man zum Einsatz kommt. Diese Konstruktion zeichnet sich durch einen Korrektivcharakter aus, der mit der Funktion einhergeht, auf die bestehende Propositionsreflexion im Konversationsverlauf Einfluss zu nehmen. Diese Erkenntnis korreliert mit den ersten konstruktionsgrammatischen Resultaten aus dem Abschnitt 6.2.2.2 am Beispiel der Konstruktionen [ich+MV+sagen]. Der Unterschied zwischen den beiden Konstruktionen mit sagen und hinzufügen liegt darin, dass die Konstruktionen [PP+MV+hinzufügen] aufgrund der Vollverbsemantik sowohl anaphorisch – als Hinweis auf die bereits eingeführte Proposition – als auch kataphorisch – als Hinweis auf die einzuführende Proposition – sind, während die Konstruktionen [ich+MV+sagen] rein kataphorisch ausfallen. Nach einer erklärenden Sequenz mit dieser Modalverbkonstruktion werden von Seehofer mehrere Handlungssequenzen der Hervorhebung eingesetzt, um die Proposition in dem vorangegangenen Turn zu präzisieren und zugleich die Argumentation von Gabriel zu stärken, indem die Notwendigkeit der Rentenpläne mit aus Sicht des Sprechers als relevant eingestuften Fakten stark fundiert wird. In dieser hervorhebenden Handlungssequenz von Horst Seehofer in kann man ABSCHLAGSfrei dann mit fünfundsechzig, (.) also zwei jahre VORHER gehen. (Z. 55– 58) lässt sich eine funktionale Ähnlichkeit des handlungsraumbezogenen Modalverbs von können zum ebenfalls handlungsraumbezogenen Modalverb dürfen in nu: (.) DARFST du: (.) gehen; (Z. 37–38) im Turn von Sigmar Gabriel beobachten. Sowohl können als auch dürfen beziehen sich in beiden Turns auf das gleiche Diskursobjekt, also das im Koalitionsvertrag festgelegte Rentenalter. Aus dieser pragmatisch ähnlichen Verwendung beider Modalverben wird auf einen fließenden Übergang in der Semantik von dürfen zwischen möglichkeits- und erlaubnismodal geschlossen. Dieses Ergebnis korreliert mit dem Befund der Beleganalyse in den Kapiteln 6 und 7. In diesen Belegen wurde zugunsten von können auf dürfen im Sinne einer Erlaubnis verzichtet. Damit wurde die Bedeutung ‚Erlaubnis‘ als ‚Möglichkeit‘ dargestellt. Das Aufeinanderabstimmen der Modalverbsemantik in einer Turn indizierenden Sequenz und dem indizierten Turn unter Konversationspartner/inne/n mit Bezug auf die gleiche Diskursproposition – wie dies an den beiden Belegen von Gabriel und Seehofer aufgezeigt wurde – kann unter den Konversationspartner/inne/n als Konsensmarker aufgefasst werden.

8.3 Untersuchung der Modalverben in Sequenzteilen in der Konversation



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Auf den als Dritten Sequenzteil markierten Turn von Horst Seehofer folgen drei weitere sehr knappe und modalverblose Turns von Sigmar Gabriel, Angela Merkel und dann erneut Horst Seehofer, die jeweils teils Ergänzungen zur bereits dargestellten Proposition beinhalten, teils eine konversationsmoderierende Funktion übernehmen. Diese Turns sind jedoch für die Modalverbanalyse in Konversationen irrelevant und werden deshalb insbesondere mit Blick auf die konversationsstrukturell bedingte hohe Komplexität des Transkripts ausgelassen. Auf diese kurze Auslassung folgt die für die Diskussion von Bundespressekonferenzen atypische Rückfrage des Journalisten die frage war EHER (.) was es mit den DREIundsechzig oder FÜNFundsechzig jahren auf sich hat? (Z. 64–69). Diese refokussiert die in dem konversationseröffnenden Ersten Sequenzteil des Journalisten eingeführte Proposition. Dieser journalistische, auf Verständnis zielende und nicht als Dissens markierende konversationelle Eingriff indiziert den anschließenden Turn von Sigmar Gabriel. Im Anschluss an eine erklärende und ebenfalls modalverblose Handlungssequenz wird wollen in DAS ist (NACH), wenn sie SO WOLLEN (EIN), DER kompromiss dabei. (.) (Z. 90–92) mit absolutem Gebrauch in der direkten Interaktion mit dem Journalisten intonatorisch salient verwendet. Die starke Betonung von wollen unterstützt den Charakter der Handlungssequenz als Nachdruck und damit auch die Argumentation. Wie in einer anderen Sequenz des ehemaligen Vizekanzlers der großen Koalition – in wenn sie’s GEnau WIssen wollen – wird wollen auch in diesem Beleg als Teil einer Konstruktion an den Journalisten adressiert, um die interaktionale Kooperationsbereitschaft zu signalisieren. Das positive Framing, das aus der äußerst positiven volitiven Semantik von wollen entsteht, dient zur Konsensaushandlung mit Blick auf die Proposition in dem konversationssequenziellen Einschub zwischen den beiden zusammengehörenden Teilen des Nachlaufs. Während dieses laufenden Turns von Gabriel kommt es zu einem Turnübernahmeversuch der Kanzlerin. Gabriel und Merkel sprechen teilweise überlappend wenige Sekunden gleichzeitig weiter19, bis Merkel durch den Einsatz der Modalverbkonstruktion [ich+darf+mal+sagen] in wenn ich auch MAL SAgen darf (Z. 101– 102) das Gesprächsrecht erwirbt. Dieser Befund stimmt mit den in den bisherigen Kapiteln bereits aufgegriffenen Erkenntnissen von Hoffmann (2016) sowie von Imo (2007) überein, die die konversationsmoderierende, und noch spezifischer die konversationseingreifende Eigenschaft dieser Modalverbkonstruktion hervorheben. Nach weiteren erklärenden Handlungssequenzen, die keine Modalverben beinhalten und deshalb ausgelassen werden, wird in der letzten erklärenden Handlungssequenz (SST 2/2) im Turn von Angela Merkel das Modalverb dürfen in DIE in vierzehn mit dreiundsechzig jahren in rente gehen dürfen (Z. 115–117) mit dem cir19 Zum Teil unverständlich und deshalb schwer rekonstruierbar.

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8 Zur empirischen Analyse des Modalverbgebrauchs IIb

cumstantiellen Redehintergrund eingesetzt. Vergleicht man diesen Beleg mit den zur gleichen Proposition geäußerten Handlungssequenzen von Sigmar Gabriel20 mit dürfen und von Horst Seehofer21 mit können in zwei aufeinander folgenden Turns, entdeckt man auch in Angela Merkels Beleg (Z. 115–117) den semantisch und argumentativ indizierten Bezug zu diesen beiden anderen Belegen. Dürfen wird in diesem Beleg nicht zu interaktionalen Zwecken verwendet, sondern zur gemeinsamen Etablierung der Argumentation. Das Aufgreifen eines Modalverbs in zwei miteinander zusammenhängenden Turns unterschiedlicher Akteure entsteht im Korpus der Bundespressekonferenzen öfter. Wie dies auch in den erläuterten Turns von Sigmar Gabriel und Angela Merkel zu beobachten war, wird ein und dasselbe Modalverb oder ein anderes semantisch ähnliches Modalverb in Bezug auf das gleiche gemeinsam fokussierte Diskursobjekt als Teil argumentativ-interaktiver Anpassung unter Teilnehmer/inne/n im Laufe des Konversationsverlaufs in der Interaktion eingesetzt. Ein solcher konversationssequentiell rekurrenter Modalverbeinsatz kann als Zeichen kommunikativer Hilfeleistung verstanden werden. Solche Hilfeleistungen, die sich auch in sprachlichen Merkmalen niederschlagen, treten nach Auer (in Birkner et al. 2020: 224) in Gesprächen infolge kommunikativer Kooperationsbereitschaft regelmäßig auf. Die konversationsanalytische Untersuchung des Transkripts 2 hat gezeigt, dass das Modalverb wollen in zwei Fällen in ankündigenden Handlungssequenzen mit sequenzeröffnendem Charakter und in einem Fall in der als Nachdruck zur Betonung einer bereits erläuterten Proposition mit sequenzschließendem Charakter verwendet wurde. In zwei von drei Fällen wurde wollen von Sigmar Gabriel mit der Siezform direkt an den die Frage stellenden Journalisten als Marker der Kooperationsbereitschaft eingesetzt, einmal als Modalverb und einmal mit absolutem Gebrauch. Die zielbezogenen Modalverben sollen und mögen/möchte- sind im Transkript 2 in den Turns von Gabriel, Seehofer und Merkel nicht aufgetreten. Das Modalverb dürfen wurde im Transkript 2 einmal bei Sigmar Gabriel in einer fiktiven Eigenzitation in einer ankündigenden Handlungssequenz verwendet. In einem Turn von Angela Merkel kam dürfen außerdem in der Konstruktion [ich+darf +sagen] zum Ergreifen des Rederechts zu Beginn einer Handlungssequenz zum Einsatz und einmal in dem eben erläuterten Beleg in der Handlungssequenz zur Erklärung mit dem circumstantiellen Redehintergrund im Sinne einer Möglichkeit. Das ebenfalls handlungsraumbezogene Modalverb können wurde im Transkript 2 nur bei Horst Seehofer in der 3. Person Singular mit man in einer Fakten 20 Vgl. den Auszug aus Sigmar Gabriels Äußerung: nu: (.) DARFST du: (.) gehen;(.) und wir ZIEHen dir !NIX! von deiner RENte AB. (Z. 37–40). 21 Vgl. den Auszug aus Horst Seehofers Äußerung: kann man ABSCHLAGSfrei dann mit fünfundsechzig, (.) also zwei jahre VORHER gehen. (Z. 55–58).

8.3 Untersuchung der Modalverben in Sequenzteilen in der Konversation



231

hervorhebenden Handlungssequenz eingesetzt, die auf die Schilderung der Handlungsrahmen ausgerichtet waren und sich damit – wie auch dürfen – durch einen circumstantiellen Redehintergrund auszeichnete. Müssen kam in diesem Transkript als Teil der Konstruktion [man+muss+hinzufügen] ebenfalls nur einmal und ausschließlich bei Horst Seehofer turnergreifend, also zu Beginn eines Turns, vor. Dieser Modalverbgebrauch in der Modalverbkonstruktion markiert hier eine Ergänzungsnotwendigkeit. Ähnlich Transkript 1 blieben die Modalverben auch in diesem Transkript intonatorisch oft unauffällig, nur dürfen und wollen wiesen eine intonatorische Salienz durch besonders starke Betonung in einer ankündigenden Handlungssequenz sowie in einer Handlungssequenz zum Nachdruck auf. Diese saliente Modalverbintonation diente in den beiden Fällen der argumentativ bedingten Fokussierung des Diskursobjektes. Nach dem Redehintergrund weisen die Modalverben in den beiden Transkripten sowie in der Diskussion grundsätzliche Ähnlichkeiten mit den Resultaten aus den Kapiteln 6 und 7 auf. Wie auch in anderen Bundespressekonferenzen, werden die handlungsraumbezogenen Modalverben dürfen, müssen und können primär circumstantiell verwendet. Eine Überschneidung dieses Redehintergrunds mit anderen Redehintergründen kann – analog zum Befund in den Eingangsstatements – ebenfalls häufig festgestellt werden. So kommt gerade müssen mit dem circumstantiellen Redehintergrund in Kombination mit dem normativen Redehintergrund in der Diskussion der Bundespressekonferenz 2013 öfter vor als im Eingangsstatement dieser oder anderer analysierter Bundespressekonferenzen. Ein solcher Gebrauch von müssen erlaubt die Schlussfolgerung, dass der Handlungsrahmen in Turns, die von einer einen Dissens kennzeichnenden journalistischen Handlungssequenz ausgelöst wurden, als gesichert oder zu sichernd markiert wird und zugleich das Diskursobjekt als ethisch-moralisch bzw. gesetzeskonform notwendig erscheint. Im Konversationsverlauf wird müssen in Überschneidung mit dem circumstantiellen und dem normativen Redehintergrund genutzt, damit die kritischen Konversationspartner/innen basierend auf einer ethisch-moralisch fundierten Argumentation von der Notwendigkeit einer vorher dispräferierten politischen Handlung emotional überzeugt werden und anschließend die eigene skeptische Diskursposition aufgeben. Bei der Untersuchung des Modalverbs können lässt sich mit Blick auf den Redehintergrund ebenfalls ein signifikanter Unterschied zwischen Diskussionen und Eingangsstatements beobachten. In der Diskussion wird das möglichkeitsmodale können mit dem circumstantiellen Redehintergrund in Kombination mit dem teleologischen Redehintergrund häufiger eingesetzt als in den Eingangsstatements der Bundespressekonferenzen. Dies erfolgt im argumentativen Kontext einer politischen Zielsetzung, wenn zugleich der Handlungsrahmen für diese als sicher markiert werden soll. Im Unterschied dazu lieferte das circumstantiell gebrauchte

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8 Zur empirischen Analyse des Modalverbgebrauchs IIb

können in den Eingangsstatements oft einen Hinweis auf die Sicherung des Handlungsrahmens, um politische Handlungskomplexe prozessual zu reflektieren. Mit Negation trat das Modalverb können in der Diskussion im Unterschied zu den Eingangsstatements zumeist nicht zur Markierung negativer Ereignisse, deren Eintreten aus der Sprecherperspektive unbedingt verhindert werden soll, sondern als Resultat der Interaktion mit den Journalist/inn/en oft in Dispräferenz markierenden politischen Handlungssequenzen auf. In diesen Fällen reflektiert das Modalverb können mit Negation den Dissens gegenüber der journalistischen Proposition. Das notwendigkeitsmodale sollen kam in der Diskussion mit den Journalist/ inn/en öfter mit dem teleologischen und zugleich normativen Redehintergrund vor als in den Eingangsstatements. Sollen steht in solchen Belegen frequent in Handlungssequenzen, die der Ankündigung oder Hervorhebung dienen. Es verdeutlicht die Relevanz der Proposition durch seine notwendigkeitsmodale, aber im Vergleich zu müssen schwächer verpflichtende Semantik. Wollen verhält sich in der Diskussion nach dem Redehintergrund teleologisch in Überschneidung mit dem volitiven Redehintergrund, wie dies auch in den Eingangsstatements konstatiert werden konnte. In der Diskussion kam diese Kombination der Redehintergründe ebenfalls zur Festlegung politischer Ziele zum Einsatz. Wenn wollen und nicht das notwendigkeitsmodale Sollen zur Zielmarkierung verwendet wird, wird das eigene Engagement oder das Engagement einer Partei/ Koalition durch die Semantik von wollen, die Aktivität indiziert, positiv geframt. Beim wollen-Gebrauch in der Diskussion ergab sich kein signifikanter Unterschied zu den Eingangsstatements mit Blick auf den Redehintergrund. Aus diesen Untersuchungsresultaten lässt sich folgern, dass die Redehintergründe der Modalverben in den Eingangsstatements und in den Diskussionen im Korpus zwischen 1990 und 2018 unterschiedlich eingesetzt werden. Eine korpuslinguistische Modalverbanalyse erlaubt voneinander abweichende Interpretationsmöglichkeiten der Redehintergründe, die ihre Ursache in der Mehrfachadressiertheit und damit in der Mehrfachintentionalität im politischen Handlungskomplex haben. Selbst bei einem konsequenten Einsatz eines Forschungsdesigns kann folglich der Redehintergrund oder mehrere sich überschneidende Redehintergründe eines Modalverbs infolge bisweilen objektiv mangelnder semantischer Trennschärfe nicht immer eindeutig klassifiziert werden. Aus diesem Grund wird auf eine Quantifizierung der Redehintergründe auch in diesem Kapitel verzichtet. Während des Interaktionsverlaufs zwischen Journalist/inn/en und Politiker/ inne/n sind Modalverben in der Diskussion an unterschiedlichen Stellen eines Statements positioniert. Zu Beginn eines Turns nehmen sie eine propositionseinleitende Funktion ein, die die Aufmerksamkeit auf das Diskursobjekt lenkt, aber gleich auch die eigene Diskursposition implizit oder explizit reflektiert. In durch Dispräferenz gekennzeichneten Turns folgt auf dieser modalverbhaltigen Einlei-

8.3 Untersuchung der Modalverben in Sequenzteilen in der Konversation



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tung zumeist eine längere Erklärung ebenfalls mit vielen Modalverben, deren Gebrauch mit dem Modalverbeinsatz aus den Eingangsstatements oft übereinstimmt. Modalverben treten auch in Einschüben im laufenden Turn auf und werden zur Herausstellung der eigenen Diskursposition eingesetzt, um diese argumentativ zu verfestigen. Damit wird v. a. in auf Rechtfertigung abzielenden Handlungssequenzen in Bezug auf die Diskursposition der Konversationspartner/innen Dissens zum Ausdruck gebracht. Wenn die Handlungssequenz, in der das Modalverb als Teil eines Einschubs erscheint, nicht direkt durch eine journalistische Handlungssequenz ausgelöst wurde, werden die Modalverben in der Diskussion analog zum Modalverbeinsatz in Einschüben in den Eingangsstatements argumentativ verwendet. Dieser hauptsächlich auf Persuasion ausgerichtete Modalverbgebrauch dient dazu, durch die Reflexion der eigenen Diskursposition die bereits bekannte Proposition in Handlungssequenzen durch eine positive Bewertung oder Begründung rekurrent als relevant auszuweisen. Modalverben können in der Diskussion oft auch kurz vor dem Turnschluss beobachtet werden. Wie in den Eingangsstatements, werden diese auch in der Diskussion turnschließend dazu verwendet, in einer Handlungssequenz des Nachdrucks die eigene Position in Bezug auf die bereits erläuterte Proposition zu reflektieren und diese Position zu verfestigen. Mit den vorliegenden Erkenntnissen bestätigt sich Birkners Beobachtung (in Birkner et al. 2020: 240), dass die „sequenzielle Position eine Quelle für Hinweise“ ist, „aus denen Verstehen erwächst“. Auf dem kommunikativen Weg zum Verstehen werden in den unterschiedlichen Handlungssequenzen unterschiedliche Modalverben und ihre Kombination konzentriert eingesetzt, um so durch Reflexion eigener oder fremder Diskurspositionen Diskurspropositionen zu evaluieren. Birkner (ebd.) führt außerdem aus, dass Verstehen erst entsteht, wenn bei der Gestaltung eines Redebeitrags unserem Gegenüber genügend Hinweise gegeben werden. Die Untersuchungsergebnisse in diesem Kapitel zeigen, dass Modalverben in der Interaktion zum Verständnis sowie zur Aushandlung von Konsens beitragen und sehr wohl als Indizien von Präferenz bzw. oft in sehr kurzen Turns (z. B. kategorisches Ausschließen) oder aber umfangreichen Turns auch als Dispräferenzindikatoren eingesetzt werden können. Ein großer personenbezogener Unterschied des Modalverbgebrauchs zur Markierung von Dispräferenz ließ sich in den Antworten von Sigmar Gabriel, Horst Seehofer und Angela Merkel insofern beobachten, als bei Gabriel und Seehofer die Modalverben sowohl in sehr kurzen als auch in sehr langen Statements der Dispräferenzkennzeichnung auftraten. Dagegen verwendete Merkel Modalverben vor allem als Teil von Erläuterungen in längeren Beiträgen argumentationsetablierend und setzte diese nur selten zur kategorischen Ablehnung der journalistischen Proposition in kurzen Turns ein.

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8 Zur empirischen Analyse des Modalverbgebrauchs IIb

8.3.1 Konversationsanalytische Untersuchung der Modalverbkonstruktionen [ich+MV+sagen] in den Sequenzteilen der Diskussion in der Bundespressekonferenz 2013 Wie auch in Kapitel 6 (Bundespressekonferenz 1990) werden in diesem Abschnitt die Modalverbkonstruktionen [ich+MV+sagen] auf ihre argumentative Funktion hin in der Konversation zwischen Journalist/inn/en und Politiker/inne/n untersucht und mit den Erkenntnissen aus dem Abschnitt 6.2.2.2 verglichen. Hier erfolgt eine konversationsanalytische Erfassung der Modalverben in der Interaktion zwischen den Teilnehmer/inne/n aus der Politik und dem Journalismus am Beispiel der Modalverbkonstruktionen [ich+MV+sagen] als Präferenz- und Dispräferenzmarker im konversationellen Kontext. Analog zu den Inhalten des Übersichtsabschnitts 3.6 zur Konstruktionsgrammatik sowie zum Abschnitt 8.2 konstruktionsgrammatische Theorien werden diese Konstruktionen als Argumentstrukturen angesehen. Im Zusammenhang mit der Verwendung von Modalverbkonstruktionen und ihrem Charakter als Argumentstrukturen rückt damit – wie auch in diesem Abschnitt– weiterhin die Reflexion von Perspektiven in den Vordergrund und ihr Beitrag für die kollektive Konsensaushandlung in der Konversation. Für die anschließende Diskussion des Gebrauchs der Konstruktionen [ich+MV +sagen] werden die nach GAT 2 transkribierten Belege in der Bundespressekonferenz 2013 mit ihren unterschiedlichen Modalverbfüllungen in der Tabelle 25 aufgeführt: Tab. 25: Modalverb in der Konstruktion [ich + MV + sagen]

Teilsatz

dürfen: [ich darf sagen]

– das darf ich SAgen – (Angela Merkel, Z. 375–376)

Frequenz

Handlungsraumbezogene Modalverben: 3

wir haben – darf ich mal SAgen – bei allen GROßen dingen (Host Seehofer, Z. 624) = wenn ich auch MAL SAgen darf (Angela Merkel, Z. 941)

können: [ich kann sagen]

DANN kann ich NUR SAGen (Angela Merkel, Z. 461) (Reparatur) also (.) ich kann IHNen ja die JAHResscheiben nicht SAgen (Sigmar Gabriel, Z. 472) = alSOO (.) ich könnte jetzt SAgen (Angela Merkel, Z. 747)

3

8.3 Untersuchung der Modalverben in Sequenzteilen in der Konversation

Modalverb in der Konstruktion [ich + MV + sagen]

Teilsatz

wollen: [ich will sagen]

ich will es eigentlich (.) NOCHmal (.) SAgen – (Angela Merkel, Z. 572)



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Frequenz

Zielbezogene Modalverben: 1

Die Modalverbkonstruktionen nach dem Schema [ich+MV+sagen] zeigen in der Diskussion mit Journalist/inn/en in der Bundespressekonferenz 2013 mit nur 7 Belegen eine geringere Frequenz als die 18 Belege in den Redebeiträgen von Helmut Kohl in der Diskussion der Bundespressekonferenz 1990 (vgl. Abschnitt 6.2.2.2). Während in der Diskussion mit Kohl die Konstruktionen mit 4 der 6 in dieser Arbeit untersuchten Modalverben in den Konstruktionen [ich+darf+sagen], [ich +kann+sagen], [ich+muss+sagen] und [ich+will+sagen] zum Einsatz kamen, wurden in dieser Diskussion Modalverbkonstruktionen in der 1. Person Singular nur mit dürfen, können und wollen eingesetzt. Die einzige Person, die in ihren Beiträgen regelmäßig auf diese Modalverbkonstruktionen mit sagen an argumentativ entscheidenden Stellen im Konversationsverlauf zurückgriff, war Angela Merkel mit 5 Belegen. Jeweils ein Beleg geht auf Sigmar Gabriel und auf Horst Seehofer zurück. Die Modalverbkonstruktion [ich+darf+sagen] tritt in der Diskussion der Bundespresskonferenz 2013 mit 3 Belegen auf. In dem Einschub das darf ich SAgen in „und wir haben auch den Wunsch – das darf ich sagen – respektiert“ (Z. 375/376) in einem Turn von Angela Merkel dient die Modalverbkonstruktion der kommunikativen Rückversicherung. Damit wird die von dem Journalisten aufgegriffene Proposition einerseits bestätigt. Andererseits gibt sie Gabriel kommunikative Hilfestellung, der zuvor das kritisierte Mitgliedervotum verteidigte. Auf diese Weise wird dem politischen Gesprächspartner Konsens und dem journalistischen Konversationspartner gegenüber Dissens zum Ausdruck gebracht. Indiziert durch die Journalistenfrage kam die Konstruktion [ich+darf+sagen] bei Seehofer in Kombination mit der intensivierenden Partikel mal in wir haben – darf ich mal SAgen – bei allen GROßen dingen (Z. 624) zum Einsatz, nachdem ein Journalist eine Frage zur PKW-Maut und zur finanziellen Belastung für die Bürger/innen sowie eine skeptische Nachfrage stellte. Die Konstruktion mit dem Modalverb und der Partikel spiegelt die emotionale Einstellung des Politikers zur angekündigten Proposition wider, um den Dispräferenz signalisierenden Journalisten von der PKW-Maut zu überzeugen. Außerdem kam die Konstruktion [ich+darf+sagen] in wenn ich auch MAL SAgen darf (Z. 941) in einem Turn von Angela Merkel zum Ergreifen des Rederechts zu Beginn einer Handlungssequenz zum Einsatz. Dies entspricht den Erkenntnis-

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sen der konversationsanalytischen Forschung nach Imo (2007: 118 ff.), die mit Modalverbkonstruktionen vor allem Konversationsgestaltung und Rederechtserwerb verbindet. Gleichzeitig steht aber diese Konstruktion einleitend für die Erklärungen der journalistischen Proposition, die von Angela Merkel wieder aufgegriffen werden. In diesem Beleg geht es im Unterschied zu den anderen Belegen weniger um Dissens und mehr um die Etablierung von Verständnis durch adressatenzugeschnittene Wissensvermittlung. Ebenfalls mit 3 Belegen ist die Modalverbkonstruktion [ich+kann+sagen] in der Diskussion der Bundespressekonferenz 2013 vertreten. Bei Angela Merkel dient sie mit der eine Einschränkung darstellenden Partikel nur in DANN kann ich NUR SAGen (Z. 461) dazu, kommunikative Kooperationsbereitschaft zu demonstrieren, nachdem sie in derselben Handlungssequenz mit der Konstruktion [wir +können+nicht+sagen] einen Teil der gewünschten Prognose bereits ausgeschlossen hat. Interessant ist bei dem vollständigen Ausschließen einer Prognose vor allem, dass dabei anstelle der 1. Person Singular die 1. Person Plural verwendet wird. Dies geht jedoch mit der argumentativen Strategie einher, die eigene sprachliche Handlung als Teil des Regierungskollektivs zu vollziehen und damit für einen gemeinsamen Konsens für eine Entscheidung zu werben. Das Modalverb können in der 1. Person Singular versprachlicht nach Engel (1988: 465) „die Fähigkeit/die Bereitschaft“ hier der Sprecherin Merkel eine Teilprognose abzugeben. In Kombination mit der Verwendung der Partikel nur wird im Diskurskontext klar, dass der Sprecherin weitere Hintergrundinformationen fehlen, eine vollständige Prognose abzugeben. Sigmar Gabriel greift Merkels partikelhaltige Konstruktion [ich+kann+nur+sagen] auf und verwendet diese ohne Partikel negiert. Der Einsatz der negierten Konstruktion [ich+kann+nicht+sagen] in also (.) ich kann IHNen ja die JAHResscheiben nicht SAgen (Z. 472) dient dazu, eine von einem Journalisten verlangte Prognose auszuschließen. Diese Konstruktion wird außerdem im Anschluss an den Redebeitrag von Angela Merkel platziert, in dem sie als erste antwortgebende Person auf eine Dispräferenz signalisierende journalistische Frage nur eine Teilprognose zu der Haushaltsfinanzierung der großen Koalition abgab. Gabriels negiertes Aufgreifen von Merkels positiver Modalverbkonstruktion ist nicht nur eine Reaktion auf die Journalistenfrage, sondern auch ein Indiz für eine konversationelle Hilfeleistung nach Auer (2020: 224). Durch diese Hilfeleistung wird die Koalitionspartnerin in ihrer Argumentation gestützt, indem auch Gabriel eine Prognose von seiner Seite aus ablehnt, weil auch ihm weitere Informationen dafür fehlen. Diese Konstruktion ist mit zwei pragmatischen Funktionen verbunden: Zum einen wird die eigene Bereitschaft bzw. bei der Negation eben die mangelnde Bereitschaft für eine Prognose als Antwort auf die Prognoseanforderung des Journalisten ausgedrückt. Zum anderen fungiert sie als Einleitung für eine Proposition, die sich auf

8.3 Untersuchung der Modalverben in Sequenzteilen in der Konversation



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die journalistische Proposition zurückbezieht. Hinzu tritt die konversationelle Funktion dieser Konstruktion als Hilfeleistung in der Interaktion gegenüber den Journalist/inn/en, deren Fragen oft Dissens zum Ausdruck bringen. Wie ich es auch im Transkript 1 feststellen konnte, ist dieses rekurrente Vorkommen des Modalverbs können in einer Konstruktion mit sagen als Ergebnis gemeinsamer persuasiver Argumentation auf dem Weg zur Konsensaushandlung mit dem die Frage stellenden Journalisten zu sehen, der die Informationseinschränkung durch den partiellen bis hin zum vollständigen Prognoseausschluss akzeptiert. Im Anschluss an eine ebenfalls kritische Journalistenfrage und die Dispräferenz markierende Antwort darauf von Seehofer im Zusammenhang mit der Zukunft der PKW-Maut setzte Merkel die Konstruktion [ich+könnte+jetzt+sagen] ein, um die gemeinsame Proposition aufzugreifen und ihre Einstellung dazu zu wiederzugeben. Diese Modalverbkonstruktion mit können im Konjunktiv II wurde – wie auch andere Konstruktionen mit können – als konversationelle Hilfeleistung in einem die Proposition des politischen Gesprächspartners bejahenden Turn verwendet. Der Einsatz dieser Konstruktion zur argumentativen Unterstützung wurde auch daran deutlich, dass Merkel dabei länger zu Seehofer hinschaute und lachte. In der Bundespressekonferenz 2013 gibt es nur einen Beleg der Modalverbkonstruktion [ich+ will+sagen]. Angela Merkel verwendet diese in ich will es eigentlich (.) NOCHmal (.) SAgen (Angela Merkel, Z. 572), als sie nach mehreren kurzen Turnwechseln zwischen ihr, Gabriel und Seehofer bei einer ausführlichen Antwort auf eine kritische Journalistenfrage zur Finanzierung der Pläne im Koalitionsvertrag von Gabriel unterbrochen wird. Die Konstruktion [ich+will+sagen] fungiert hier im Sinne von Imo (2007: 125) mit verschobener Semantik als „reine Redeankündigung“, die durch die betonte Partikel NOCHmal auf die Wiederholung von Inhalten einstimmt. Die Konstruktion drückt hier eine Dispräferenz gegenüber den kurzen witzig gemeinten Einlassungen von Gabriel und Seehofer sowie gegenüber der Unterbrechung durch Gabriel aus, da Merkel die kritische Frage des Journalisten mit sachlichen Argumenten entkräften will. Die geringen Frequenzen des Konstruktionsschemas [ich+MV+sagen] in der Bundespressekonferenz 2013 legen nahe, dass dieses Konstruktionsschema im Unterschied zu dessen häufigerem Vorkommen bei Kohl 1990 in der Konversation der Bundespressekonferenz 2013 eine untergeordnete Rolle spielt. Neben der Realisierung [ich+MV+sagen] wurde das Modalverbkonstruktionsschema [Pronomen+MV+sagen] an anderen argumentativ auffälligen Stellen mit man – z. B. Man kann jetzt nicht sagen (Z. 681–682) – und wir – z. B. können wir heut’ nicht sagen (Z. 460) – sowohl mit als auch ohne Negation eingesetzt. Bei negierten Konstruktionen handelt es sich bei man kann bzw. wir können – wie auch in der 1. Person Singular – um das Ausschließen von Prognosen oder um Rechtfer-

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tigungen zurückliegender oder vorwiegend künftiger politischer Entscheidungen, die zuvor angezweifelt wurden. Außerdem lässt sich können in der Konstruktion [man+kann+Partikel+sagen] in einem journalistisch indizierten Turn z. B. in dann kann man sehr wohl sagen, dass man hier etwas für die zukünftige Generationen tut (Z. 784) auch zur positiven Einstellungsreflexion beobachten, in welchem der Vorwurf der Generationenungerechtigkeit widerlegt werden soll. Die Konstruktionssemantik wird durch Partikeln intensiviert und hebt damit die positive Einstellung von Merkel im Zusammenhang mit ihren kritisierten politischen Handlungen hervor. Ähnlich Angela Merkel griffen auch Sigmar Gabriel und Horst Seehofer in der Diskussion regelmäßig auf kognitiv-verfestigte Konstruktionen zurück, die ihre eigenen Perspektiven auf die angekündigten und oftmals von den Journalist/inn/en angezweifelten Propositionen reflektierten. Vielmehr kamen jedoch bei den beiden diese Modalverbkonstruktionen selten mit der 1. Person Singular, aber häufiger mit dem Indefinitpronomen man sowie dem Regierungskollektive darstellenden Personalpronomen wir zum Einsatz. Alternativ wurden insbesondere von Seehofer Modalverbkonstruktionen mit performativen Verben wie darstellen, hinweisen, hinzufügen etc. anstelle von sagen in der 1. Person Singular oder mit dem Indefinitpronomen man verwendet. Gerade an der Konstruktion [man+muss+hinzufügen], die direkt im Anschluss an ein Statement von Sigmar Gabriel im Transkript 2 in „wobei man hinzufügen muss“ steht, wird deutlich, dass Modalverbkonstruktionen funktional nicht primär als Redebeitrags- oder als Propositionsankündigungen fungieren. Vielmehr handelt es sich bei ihnen um evaluative Komplemente. Die Korpusuntersuchung zeigt, dass die Politikerin und die beiden Politiker regelmäßig auf kognitiv-verfestigte Konstruktionen zurückgreifen, die die eigenen Einstellungen reflektierten und in der Konversation als Zeichen von Dissens den Journalist/inn/en gegenüber, aber auch Konsens mit den Koalitionspartner/inne/n ausdrücken. Die Konstruktion [ich+muss+sagen] als Dissensmarker war in dieser Diskussion im Unterschied zu den Redebeiträgen von Helmut Kohl nicht festzustellen. Die Konstruktion [man+muss+sagen] fand hingegen gelegentlich als Einschub – z. B. in muss man auch mal sagen (Z. 711) – Anwendung, um weniger diplomatische Propositionen mit einem Distanzmarker zu kennzeichnen, wobei Hinweise aus dem Diskurskontext bestätigen, dass dabei dennoch eigene Sichtweisen zum Ausdruck gebracht werden. Ähnlich dem Gebrauch von Modalverbkonstruktionen von Helmut Kohl in der Diskussion 1990 stellte sich bei der Untersuchung der Modalverbkonstruktionen in der Diskussion der Bundespressekonferenz 2013 heraus, dass auch Angela Merkel, Sigmar Gabriel und Horst Seehofer die Modalverbkonstruktionen [ich+MV +sagen], [man+MV+sagen] oder [wir+MV+sagen] oft als Dissensmarker im Anschluss an die journalistische Sequenzen mit KORREKTUR-Charakter (vgl. von Po-

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lenz, 2008: 218) einsetzen. Der größte Unterschied hinsichtlich des Gebrauchs der Modalverbkonstruktionen [ich+MV+sagen] in den beiden Bundespressekonferenzen lag darin, dass der Korrektur-Charakter in der Diskussion der Konferenz 2013 noch stärker ausgeprägt war als 1990. Dies ergibt sich daraus, dass die journalistischen Inhalte in 2013 im Vergleich zu 1990 mehr Dispräferenz und teilweise sogar Sticheleien auf der zwischenmenschlichen Ebene enthalten. Folglich ist es nachvollziehbar, dass dann in den durch journalistische Anfragen indizierten Turns mehr Dispräferenzmarker vorhanden sind und Modalverbkonstruktionen in Hinblick auf kommunikativen Widerstand ausgewählt werden. Zugleich ging es bei ihrem Einsatz darum, den Koalitionspartner/inne/n kommunikative Unterstützung gegenüber den Journalist/inn/en anzubieten und ihre Argumentation durch die Reflexion einer ähnlichen Eigenmeinung zu stützen. Dies diente im Konversationsverlauf oft dazu, die Dispräferenz aus der journalistischen Äußerung zu widerlegen und das journalistische Gegenüber von der Richtigkeit kollektiver politischer Handlungen der großen Koalition argumentativ zu verteidigen. Zugleich signalisierte jedoch die Kanzlerin mit diesen Konstruktionen den Journalist/inn/en gegenüber eine kommunikative Kooperationsbereitschaft durch das Aufgreifen journalistischer Inhalte. Gabriel und Seehofer wiesen hingegen nichtpräferierte journalistische Fragen oft kategorisch zurück, was neben dem alternierenden Einsatz anderer Modalverbkonstruktionen ein weiterer Grund für die seltene Verwendung dieser Modalverbkonstruktionen ist. Bei einer kategorischen Ablehnung von Aussagen wird logischerweise auf das wechselseitige Aufzeigen von Perspektiven, die aus dem intentionalen Modalverbgebrauch resultieren und für die Konsensaushandlung in professioneller Kommunikation notwendig sind, verzichtet. Die erläuterten Ergebnisse verifizieren Chiltons (2004: 202) Feststellungen über Modalverben, die er als diskursreferenzielle Deiktika ansieht, denen in der politischen Kommunikation durch die Reflexion von Einstellungen eine große Rolle zukommt. Wie im Überblickskapitel 3 bereits hervorgehoben, kommen nach Chilton (ebd.) Modalverben bei der Legitimierung von Wahrheit, Rechtfertigungen etc. als Teile politischer Strategien zum Einsatz und sind mit mehr oder weniger festen linguistischen Mechanismen verbunden. Die Untersuchungen in den bisherigen Kapiteln bestätigten, dass die Modalverben durch ihren perspektivfokussierenden Einfluss auf die Vollverben die Satzsemantik verändern, indem Handlungen durch die Perspektivenreflexion relativiert werden. Die Analyseergebnisse dieses Abschnittes wiesen darauf hin, dass Modalverben als „modifier“ nach Langacker (2008: 203) auch die Semantik von Modalverbkonstruktionen beeinflussen. Außerdem wurde in diesem Abschnitt nachgewiesen, dass Modalverbkonstruktionen in Bundespressekonferenzen – und auch in anderen politischen Formaten – als kognitiv-sprachlich verfestigte Argumentstrukturen in der Konversation angesehen werden können.

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8 Zur empirischen Analyse des Modalverbgebrauchs IIb

8.4 Resümee der konversationsanalytischen und konstruktionsgrammatischen Untersuchung des Modalverbeinsatzes von Angela Merkel, Sigmar Gabriel und Horst Seehofer in der Diskussion der Bundespressekonferenz am 27.11.2013 Mit der konversationsanalytischen Modalverbuntersuchung der Transkripte 1 und 2 konnte die in diesem Kapitel eingangs aufgestellte Hypothese bewiesen werden, dass ein Zusammenhang zwischen den einzelnen Handlungskategorien und dem Auftreten einzelner Modalverben in diesen Handlungssequenzen besteht. Beide Transkripte lassen darauf schließen, dass zielbezogene Modalverben – insbesondere wollen – in Handlungssequenzen der Ankündigung zu Beginn eines Turns auftreten, um politische Ziele propositionseinleitend festzulegen und die positive volitive und zugleich teleologische Modalverbsemantik von wollen auf das angekündigte politische Diskursobjekt zu übertragen. Dass sollen hingegen in solchen ankündigenden Handlungssequenzen in den ersten konversationsstrukturellen Sequenzen deutlich seltener auftritt, liegt an seiner notwendigkeitsmodalen Semantik, die den Versuch eines positiven Framings konterkariert. Wollen wurde außerdem im Korpus neben dem Transkript 2 auch turnschließend in einer Handlungssequenz zum Nachdruck beobachtet, um bereits argumentativ fundierte Propositionen und damit die Relevanz eines bereits festgelegten Handlungsziels erneut zu fokussieren. Die Korpusuntersuchung hat ergeben, dass das handlungsraumbezogene müssen hauptsächlich in erklärenden, rechtfertigenden, begründenden und ergänzenden Handlungssequenzen – synchron mit den Analyseergebnissen in den bisherigen Kapiteln – musterhaft ausfällt. In diesen Handlungssequenzen wird die Notwendigkeit künftiger politischer Handlungen durch seine notwendigkeitsmodale Semantik argumentativ etabliert. Die ersten drei genannten Handlungssequenzen mit dem Modalverb müssen wurden mit Blick auf die Konversationsstruktur an vielen unterschiedlichen Sequenzstellen beobachtet. Kam dieses Modalverb jedoch in einer turneröffnenden Sequenz zustande, wurde das – wie auch im Transkript 1 sogar 2-mal bei Angela Merkel – in einer direkten Ansprache an die Journalist/inn/en adressiert und infolge einer selbstinitiierten Reparatur mit korrektivem Charakter elizitiert. Die Beleganalyse deckt sich mit dem Erkenntnisgewinn aus den aus den Kapiteln 6 und 7, dass auf den Gebrauch von müssen im Umgang mit den Konversationspartner/inne/n in direkter Adressierung zumeist verzichtet wird, um nicht den Eindruck eines autoritären Führungsstils zu erwecken. In ergänzenden Handlungssequenzen am Anfang eines Turns kam müssen in usuellen Fügungen v. a. in [ich+muss+sagen] oder [man+muss+hinzufügen] zum Einsatz, um durch die Reflexion von Dissens auf die von den Konversationspart-

8.4 Resümee der konversationsanalytischen und konstruktionsgrammatischen 

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ner/inne/n bereits dargestellte Proposition zum Ausdruck zu bringen. Das ebenfalls handlungsraumbezogene Modalverb können ließ sich in den beiden Transkriptionen, aber auch an anderen Stellen in der Diskussion zwischen Journalist/ inn/en und Politiker/inne/n in propositionsrelevante Fakten hervorhebenden Handlungssequenzen lokalisieren. In diesen auf Hervorhebung ausgerichteten Sequenzen trat dieses Modalverb im Korpus entweder zu Beginn eines Turns auf, aber auch im späteren Sequenzverlauf mit dem teleologischem Redehintergrund oder später im Laufe des Konversationsverlaufs noch frequenter mit dem circumstantiellen Redehintergrund. Im ersten Fall wird können mit der Semantik von wollen argumentativ verwendet. Können signalisiert neben der auf ein Handlungsziel ausgerichteten Politikerintention auch die eigene Perspektive, also die Einschätzung des festgelegten Ziels als realistisch. Im zweiten Fall wird können – wie in circumstantiellen Belegen – nach der Schilderung bereits beschlossener Maßnahmen eingesetzt, die für die Vorbereitung eines politischen Handlungsziels notwendig sind. Dieser Gebrauch zielte argumentativ auf die Etablierung von Glaubwürdigkeit ab. Neben den beiden erläuterten musterhaften Verwendungen des Modalverbs können kam außerdem in beiden Transkripten sowie im Korpus der Bundespressekonferenzen auch und insbesondere in den Diskussionen in der Konstruktion [ich+kann+sagen] regelmäßig zum Einsatz. Konversationsanalytisch musterhaft ist der Gebrauch dieser Konstruktion in von Journalistenfragen indizierten Handlungssequenzen der Rechtfertigung oder der Prognosen. In negierten Konstruktionen mit sagen wurde das Modalverb können in rechtfertigenden oder eine Prognose ausschließenden Handlungssequenzen nach der Annahme der Fokusaufforderung beobachtet, die in von journalistischen bewertenden Handlungssequenzen indiziert wurde. Diese negierte usuelle Fügung mit können erlaubt folglich die Schlussfolgerung, diese als Dispräferenzmarker in Bezug auf die journalistische Proposition aufzufassen. Ähnlich den anderen Modalverben verhielt sich auch können intonatorisch unauffällig, denn Modalverben wurden nur mit wenigen Ausnahmen stark betont, um durch die besondere Betonung die eigene Perspektive stark zu fokussieren und damit die Argumentation zu stützen. In den Modalverbkonstruktionen [ich+MV+sagen] blieb die Intonation der Modalverben ebenfalls unauffällig. Erwartungsgemäß wurde zumeist sagen prosodisch hervorgehoben. Der Aufbau der Konversationen in der Diskussion zwischen Journalist/inn/en und Politiker/inne/n bestätigen Birkners (2020: 249) Hypothese, dass bei Nichtübereinstimmung ein großer Formulierungsaufwand betrieben wird, der sich in einer erhöhten Komplexität der Konversation niederschlägt. Meine Analyseergebnisse führen darüber hinaus und belegen, dass Modalverben im Verlauf dieser komplexen Konversationen abwechselnd auftreten und durch die Reflexion insbesondere

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8 Zur empirischen Analyse des Modalverbgebrauchs IIb

eigener – ich, man im Sinne von Eigenreferenz oder noch öfter wir als Teil eines politischen Kollektivs –, aber auch fremder Perspektiven zur Konsensaushandlung beitragen. Wenn ein Turn als Ergebnis einer Interaktion mit den Diskussionspartner/inne/n indiziert wird, kann die Anzahl der in diesem Turn erscheinenden Modalverben einen Hinweis auf die Dispräferenz mit Blick auf das diskutierte Diskursobjekt liefern. Obwohl diese Ergebnisse einen gewissen Zusammenhang zwischen Modalverben und Dispräferenz in Handlungssequenzen nahelegen, ist eine deckungsgleiche Zuordnung der Modalverben oder Modalverbtypen zu konkreten Handlungssequenzen jedoch generell nicht möglich. Genauso wenig können allgemeingültige Aussagen zur konversationsstrukturellen Positionierung der Modalverben mit maximaler Sicherheit vorgenommen werden. Die Quintessenz dieser Analyse ist es, dass Modalverben insbesondere aufgrund ihres stark reflexiven Charakters argumentativ strategisch eingesetzt werden. Mit ihrer Hilfe werden angekündigte Propositionen fokussiert, erklärt und im Notfall kommunikativ gemeinschaftlich verteidigt. Die Unterschiede der Modalverbverwendung in der Diskussion der Bundespressekonferenz 2013 im Vergleich zur Diskussion in der Bundespressekonferenz 1990 über die persönlichen und thematischen Spezifika hinaus liegen daran, dass von den Politiker/inne/n Modalverben als Teile gegenseitiger konversationeller Hilfeleistungen im Gespräch nach Auer (2020: 224) gegenüber den Journalist/inn/en regelmäßig eingesetzt werden.

9 Eine kognitionslinguistische Untersuchung von Sätzen mit Modalverben mit Methoden nach Talmy 9.1 Die Eignung der kognitionslinguistischen Modelle von Talmy für die Modalverbanalyse Im Anschluss an die konversationsanalytischen und konstruktionsgrammatischen Überlegungen zu Modalverben im Diskurs- und Handlungskontext in Kapitel 8 widmet sich dieses Kapitel der Erfassung von Mustern des Modalverbgebrauchs nach Talmy (1988b: 173 f.), der grammatischen Einheiten bei der Strukturierung konzeptueller Organisation eine besondere Bedeutung zuspricht: “Grammatically specified notions can be seen to pattern in categories, and the categories, in turn, in integrated systems […] And within these notional patterns can be seen certain regularities of function and process. These patterns and regularities constitute principal features of conceptual organization in language.”

Talmys Mustertheorie folgend werden einzelne Modalverben nach ihrem Redehintergrund in Subklassen organisiert, die je nach Subklasse musterhaft sind.1 Die kognitive Musterhaftigkeit des Modalverbgebrauchs ist mit dem Redehintergrund und der Lesart der Modalverben verbunden. In diesem Kapitel wird zuerst ein Überblick über die kräftedynamische Theorie nach Talmy gegeben, an eigenen Beispielen erklärt und anschließend auf Belege aus dem Korpus bestehend aus dem Korpus der Bundespressekonferenzen zwischen 1990 bis 2018 angewandt. Diese Belege wurden nach den Aspekten der grammatisch-semantischen Musterhaftigkeit nach dem Redehintergrund sowie der Diskurssalienz ausgewählt. Im Anschluss an diese kognitionslinguistische Analyse mit Hilfe der kräftedynamischen Theorie erfolgt eine Visualisierung ausgewählter Sätze. Das kräftedynamische Modell wird für diese Analyse und die anschließende Darstellung der Modalverben deshalb ausgewählt, da es Dimensionen der Konzeptualisierung auf unterschiedlichen Ebenen integriert. Diese Dimensionen nach Talmy (1988a: 49) sind für eine lexikogrammatische Untersuchung von Modalverben essentiell:

1 Vgl. mit den Klassifikationen nach dem Redehintergrund und den Beleganalysen zum Redehintergrund in den empirischen Kapiteln 6 bis 8 dieser Arbeit. https://doi.org/10.1515/9783111245263-009

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9 Eine kognitionslinguistische Untersuchung von Sätzen mit Modalverben

“Overall, force dynamics thus emerges as a fundamental national system that structures conceptual material pertaining to force interaction in a common way across a linguistic range: the physical, psychological, social, inferential, discourse, and mental-model domains of reference and conception.”

Wie bereits aufgezeigt, sind die Dimensionen der physischen, psychologischen, sozialen, inferenziellen und diskursiven Ebenen auch für die Beschreibung der Modalverbsemantik ausschlaggebend. Denn genau diese Dimensionen der Modalverbsemantik schlagen sich in den klassifikatorischen Systemen nach Zifonun (1997), Diewald2 (1999) und Hoffmann (2013) nieder, die bereits empirisch dargestellt wurden. Als Gedächtnisstütze sei hier an die Unterscheidung nach dem Redehintergrund nach Zifonun (in Zifonun et al. 1997: 1882 f.) erinnert, die eine Klassifikation nach dem „epistemischen, stereotypischen, normativen, teleologischen, volitiven und dem circumstantiellen Redehintergrund“ vornimmt. Hinsichtlich der Lesarten wird zwischen intrasubjektiver und extrasubjektiver Lesart unterschieden. Diese Redehintergründe und die Unterscheidung nach Lesart haben sinngemäß je nach Modalverb und Modalverbgebrauch Überschneidungsbereiche mit den gerade zitierten physischen, psychischen, sozialen, diskursiven und inferenziellen Dimensionen der kräftedynamischen Theorie. In Abschnitt 3.2 Die grammatisch-semantische Klassifikation der Modalverben wurde neben Zifonuns Unterscheidung nach Lesart und Redehintergrund auch auf Hoffmanns Beobachtung (2013: 292 ff.) Bezug genommen, der – wie auch die kräftedynamische Theorie – die diskursive Wirkung von Modalverben betont. Aufbauend auf der Klassifikation der Modalverbsemantik nach Zifonun und Hoffmann wird in diesem Kapitel der Modalverbgebrauch auf seine kräftedynamischen Verhältnisse untersucht. Die „Dimension der Aufmerksamkeitsverschiebung“ (distribution of attention, Talmy 1988b:194 f.) wird neben der kräftedynamischen Dimension als eine der vier Dimensionen des „Imaging Systems“ nach Talmy (1988b:194 f.) ebenfalls als Teil des kognitionslinguistischen Analyserasters eingesetzt. Die Notwendigkeit der Kombination beider Dimensionen liegt darin, dass die Dimension der Aufmerksamkeitsverschiebung einen starken Fokus auf die Perspektiven unterschiedlicher Akteurinnen und Akteure im Handlungs- und Diskurskontext ermöglicht. Sie ist v. a. auch dort von Relevanz, wo eine Kraftausübung zwischen den Entitäten nicht explizit wahrgenommen werden kann. Denn in diesen Fällen können die Perspektiven, Intentionen und mögliche Handlungsereignisse unter Einsatz der Aufmerksamkeitsverschiebung offengelegt werden. Die Integration der Dimension der 2 In Abschnitt 3.2 wurde auch die Modalverbklassifikation nach Diewald vorgestellt. Diewald unterscheidet deiktisch und nichtdeiktisch gebrauchte Modalverben. Die deiktische Gebrauchsweise stellt nach Diewald (1999: 46) eine sprecherbasierte Faktizitätsbewertung der Proposition dar und hat damit Schnittmengen mit der inferenziellen Dimension.

9.2 Die Dimensionen der Kräftedynamik, der Aufmerksamkeitsverschiebung 

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Kräftedynamik und der Aufmerksamkeitsverschiebung in ein Modalverbanalysemodell hat den Vorteil, sowohl die Bewegungen und Bewegungstendenzen zwischen den Kräften als auch die Perspektiven simultan zu beobachten. Mit Hilfe der kräftedynamischen Dimension und der Dimension der Aufmerksamkeitsverschiebung als Framework werde ich deshalb in diesem Kapitel untersuchen und visualisieren, wie Politiker/innen in ihren Statements in den Bundespressekonferenzen über die Modalverben müssen und sollen kraft ihres Amtes Druck ausüben und Dritten sowie der eigenen Partei über das kollektive Personalpronomen wir Verpflichtungen auferlegen. Außerdem kann mit Hilfe einer kognitionslinguistischen Analyse und Visualisierung die Erlaubnis3 – dürfen –, die Politiker/innen erhalten oder kraft ihres Amtes oder eines Vertrags Dritten erteilen, und die Möglichkeit – können – für eine politische Handlung oder die intra- oder extrasubjektive Zielsetzung – sollen, wollen – und die eigene Positionierung im politischen Handlungsund Ereigniskontext aufgezeigt werden. Meine Hypothesen, die in den empirischen Untersuchungen in Abschnitt 9.3 Berücksichtigung finden werden, lauten wie folgt: (1) Kommen bei der Schilderung der Zusammenhänge von Ereignissen Modalverben zum Einsatz, wird die Dynamik durch die semantische Stärke der Modalverben modifiziert. (2) In negierten Sätzen mit Modalverben – Konstruktionen nach dem Muster [Modalverb+Negation+Vollverb] – kann man konsequenterweise eine Abschwächung oder Ausbremsung der Bewegungs- und Handlungsdynamiken im Satz annehmen. (3) Bei dem Versuch, eine Änderung in der Welt herbeizuführen, werden die eingenommenen Perspektiven – ob Konsens oder Dissens – herausgestellt. Bevor ich mit der Überprüfung dieser Hypothesen unter Anwendung der kräftedynamischen Dimension und der Dimension der Aufmerksamkeitsverschiebung beginne, werde ich im nächsten Abschnitt die kräftedynamische Dimension und die Dimension der Aufmerksamkeitsverschiebung nach Talmy (1988a und b) und die semantischen Rollen im Einzelnen vorstellen.

9.2 Die Dimensionen der Kräftedynamik, der Aufmerksamkeitsverschiebung und der semantischen Rollen In seiner kräftedynamischen Theorie betont Talmy (vgl. 1988a: 50), dass das konzeptuelle System für die Interaktion der Kräfte im Verhältnis zu anderen kognitiven Domänen steht und in sprachlichen Strukturen veranlagt ist. 3 Der Begriff „Erlaubnis“, der in lexikogrammatischen Studien zu Modalverben eine große Relevanz zukommt, betrifft folgende semantische Dimensionen: Genehmigung, Zustimmung, aber auch den abstrakten Zustand des Erlaubtseins.

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9 Eine kognitionslinguistische Untersuchung von Sätzen mit Modalverben

Talmy (1988a: 51 f.) erkennt außerdem – wie in diesem Kapitel eingangs auch angenommen – eine semantische Überschneidung der unterschiedlichen Dimensionen der Kräftedynamik (v. a. physisch, psychologisch, sozial-interaktiv) und des Systems der Modalität4: “Next is shown how language extends physical force concepts to the expression of internal psychological interactions. This expansion allows us to bring together in a systematic pattern a number of lexical items that involve such psychodynamics. Language is then shown to further extend FD5 [Force Dynamics] concepts to social interactions, and to organize lexical items with social reference in the same way as the psychological ones. The progression of parameters to that point permits an examination of the modal system in force-dynamic terms.”

Wie diese unterschiedlichen Dimensionen kräftedynamisch zur Geltung kommen, wird overt, wenn die Elemente der kräftedynamischen Theorie dargestellt werden. Die einzelnen Elemente des kräftedynamischen Modells nach Talmy (1988a: 54) werden hier aufgeführt: a) force entities Agonist: ○ Antagonist: b)

intrinsic force tendency toward action: > toward rest: ●

c)

balance of strengths the stronger entity: + the weaker entity: –

d)

resultant of the force interaction6 action: rest:

Das kräftedynamische Modell nach Talmy (1988a: 53) setzt mindestens zwei einander gegenüberstehende Entitäten voraus, also eine Agonistin/einen Agonisten und eine Antagonistin/einen Antagonisten. Wie oben angemerkt, besteht die Möglichkeit einer Kraftübertragung neben Lebewesen auch zwischen Objekten und Ereignissen. Die Agonistin/der Agonist befindet sich nach Talmy (1988a: 53) im Zentrum 4 sinngemäß inklusive Modalverben 5 Die Abkürzung „FD“ steht im Originalzitat nach Talmy. 6 Vgl. die Erläuterung zu b und die Ausführungen Talmys (1988a: 54)

9.2 Die Dimensionen der Kräftedynamik, der Aufmerksamkeitsverschiebung 

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der fokalen Aufmerksamkeit innerhalb eines Satzes und versucht von seiner Position aus Kraft auszuüben. Daraufhin kann eine Tendenz der Kraftausübung in physischem oder metaphorischem Sinn entweder Richtung Handlung (action) oder Ruhe (rest) konstatiert werden. Die Subkategorien der „Krafttendenz“ werden von Talmy (1988: 54) folgenderweise beschrieben: “As language treats the concept, an entity is taken to exert a force by virtue of having an intrinsic tendency toward manifesting it – the force may be constant or temporary […] In an entity’s force tendency, language again marks a two-way distinction: The tendency is either toward motion or toward rest – or, more generally, toward action or toward inaction.”

Bei den handlungsraumbezogenen Modalverben im engeren Sinn (dürfen/können/ müssen bzw. nicht dürfen/nicht können7/nicht müssen) lässt sich infolge der Semantik dieser Modalverben zumeist sinngemäß eine solche Tendenz der Kraftausübung oder aber das Fehlen einer Kraftausübung leicht visualisieren. Bei den zielbezogenen Modalverben im engeren Sinn (mögen [vorwiegend im Konjunktiv II als möchte-]/sollen/wollen bzw. nicht mögen [vorwiegend im Konjunktiv II als möchte- nicht]/nicht sollen/nicht wollen) erfordert die Analyse der Tendenz der Kraftausübung aufgrund ihrer primär intrasubjektiven Semantik8 mehr analytischen Aufwand unter Berücksichtigung des sprachlichen Handlungs-, Kontextund Diskurszusammenhangs, sofern die Tendenz der Kraftausübung den Belegen überhaupt entnommen werden kann. Das Gewicht der Kräfte (balance of strengths) sieht eine Differenzierung zwischen einer stärkeren und einer schwächeren Entität vor. Abhängig vom Erfolg der Kraftausübung zwischen der Stärke/ Schwäche der Entitäten wird nach dem Kriterium resultant of the force interaction festgestellt, ob eine Kraftausübung erfolgreich durchgeführt wird oder aufgrund eines Widerstands keine Folgehandlung entstehen kann.9 Nach dieser Vorstellung der kräftedynamischen Dimension liegt die Erkenntnis nahe, dass im Fokus dieser Dimension die Kraftverhältnisse zwischen den Entitäten sowie den Handlungstendenzen und -ergebnissen stehen. Für eine kognitionslinguistische Analyse eignet 7 Das Modalverb können wird hier im Sinn von „Erlaubnis“, „Genehmigung“, etwa in dem partiellen semantischen Überschneidungsbereich zum ebenfalls handlungsraumbezogenen dürfen gemeint. 8 Mögen (möchte-)/wollen werden primär intrasubjektiv verwendet, aber es gibt einzelne Ausnahmen. Sollen wird sowohl intrasubjektiv als auch extrasubjektiv häufig gebraucht. Vgl. diese Aussagen mit den Beleganalysen zu diesen beiden zielbezogenen Modalverben im Einsatz in den Bundespressekonferenzen 1990 und 2013. 9 Insbesondere Belege mit können, müssen, sollen oder nicht dürfen und nicht können eignen sich aufgrund ihrer Semantik besonders gut für Visualisierungen, die die Tendenz der Kraftausübung und die Erfolgs- bzw. Nichterfolgsprognosen sprachlicher Handlungen mit Modalverben darstellen.

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9 Eine kognitionslinguistische Untersuchung von Sätzen mit Modalverben

sich der Ansatz der kräftedynamischen Theorie nach Talmy (1988: 68) deshalb, da er neben Kräftedynamiken und den mit diesen einhergehenden Handlungsergebnissen den Aspekt der „prevention of a tendency“ (1988: 68) hervorhebt. Dieser Aspekt schließt die Modalverbsemantik mit ein. Als Beispiel für den Eintritt der Tendenzprävention nennt Talmy (1988: 68) v. a. die Sätze „He may not stay.“ und „He must go.“. Den beiden Beispielen ist inhärent, dass der Agonist als Subjekt fungiert und die Antagonistin/der Antagonist verborgen bleibt, sich aber dem Agonisten gegenüber durchsetzt. Eine konkrete Tendenz lässt sich den beiden Sätzen nicht entnehmen, nur der Wunsch um Kraftübertragung, also die fehlende Erlaubnis im ersten Satz und die Aufforderung der Antagonistin/des Antagonisten im zweiten Satz. Talmy (1988a: 77–90) zeigt außerdem an einer Reihe weiterer Belege, wie die Dimension der Kräftedynamik an Sätze mit Modalverben adaptiert werden kann, von denen einige wenige in Auswahl aufgelistet werden: Beispiel 1 „The ball can roll off the table (if it gets jostled).“ Beispiel 2 „Dad says that she may go to the playground (if she wants).“ In beiden Beispielen, die Talmy (1988a: 85) entstammen, kann auf der Satzebene keine Handlungstendenz beobachtet werden. Würde eine kräftedynamische Tendenz entstehen, läge bei Beispiel 1 eine physikalisch indizierte Kräftedynamik vor, die den Ball zum Rollen bringen kann. Beim Modalverb (may/dürfen) im Beispiel 2 würde es sich im Fall einer erfolgreichen Kraftausübung um eine psychologisch indizierte Kräftedynamik handeln. Während in Satz 2 sowohl der Antagonist (Dad) als auch die Agonistin (she) explizit genannt werden, bleibt in Satz 1 die Identität der Antagonistin/des Antagonisten unbekannt. Sätze mit Modalverben zeichnen sich in der politischen Kommunikation im Vergleich zu Beispiel 1 und 2 grundsätzlich durch einen deutlich höheren Grad an Komplexität aus. Dies hat zur Folge, dass sich den Sätzen aus der Politik oft kaum Zuständigkeiten und Kräftedynamiken entnehmen lassen. In diesen Sätzen müssen folglich die Rollen der Entitäten bei der Kraftausübung untersucht werden, denn diese sind für die Identifikation der Zuständigkeiten und Verantwortlichkeiten von Belang. Wie eingangs in diesem Kapitel hervorgehoben, wird deshalb die kräftedynamische Dimension mit der Dimension der Aufmerksamkeitsverschiebung in ein Untersuchungsdesign integriert. Talmy (1988b: 194 f.) skizziert die distribution of attention, also die Aufmerksamkeitsverschiebung, wie folgt: “Given a schematized scene and a vantage from which to regard it, this system pertains to the allocation of attention that one can direct differentially over the aspects of the scene.”

9.2 Die Dimensionen der Kräftedynamik, der Aufmerksamkeitsverschiebung 

249

In der Dimension der Aufmerksamkeitsverschiebung wird der Fokus auf die Entitäten und ihre Bewegung gelegt, die entlang einer Bahn verläuft und für die Herausstellung der Perspektiven von Belang ist. Genau diese Fokussierung auf die Perspektiven ist auch der Modalverbsemantik inhärent. Die beiden Entitäten dieser Theorie bezeichnet Talmy (2000a: 184) als Figure und Ground: “The Figure is a moving or conceptually movable entity whose site, path, or orientation is conceived as a variable the particular value of which is the relevant issue. The Ground is a reference entity, one that has a stationary setting relative to a reference frame, with respect to which the Figure’s site, path, or orientation is characterized.”

Talmy (1988b: 195) definiert die Beziehung zwischen Figure und Ground wie folgt: “In addition, a major category […] comprises the status of ‘Figure’, with its attentional primacy, and to another element the status of ‘Ground’, with its function in the background of attention as a reference object for the localizing of the ‘Figure’.”

Die Unterscheidung zwischen Figure und Ground basiert auf der „Gestaltpsychologie“ und wurde von Talmy (1972, 1983, 2000a und b) in die Kognitionslinguistik eingeführt. Der Kern dieser Theorie wird von Croft & Cruse (2004: 56) wie folgt beschrieben: “All spatial relations in language […] are expressed by specifying the position of one object, the figure, relative to another object, the ground.”

Wildgen (2008: 93) fasst die Essenz der Theorie der Aufmerksamkeitsverschiebung10 nach Talmy (1988b: 194 f.) im Überblick zusammen: Motion situation (SM): figure (F) motion (M) path (P) ground (G) Wildgen (2008: 95) konstatiert, dass „verschiedene Sprachen oder auch Varietäten innerhalb einer Sprache […] unterschiedliche Kombinationen des Basis-Schemas: F + M + P + G [realisieren], dabei werden jeweils zwei der Konstituenten: F + M + P + G eventuell mit einem weiteren Satelliten eines bestimmten Typs zusammengefügt.“ Nach dem Bewegungsmuster des Basis-Schemas sind die beiden Entitäten Figure und Ground miteinander über einen Weg (Path) verbunden. Diesem Weg entlang verschiebt sich perspektivisch die Aufmerksamkeit zwischen den Entitäten. Mit dieser Verschiebung von Figure to Ground, die eine Veränderung bewirkt und

10 Wildgen (2008) liefert einen kurzen Überblick über die Grundlagen prominentester kognitionslinguistischer Theorien aus den angelsächsischen Ländern, bewertet und ergänzt diese mit Beispielen aus dem Deutschen.

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9 Eine kognitionslinguistische Untersuchung von Sätzen mit Modalverben

erst überhaupt zur Entstehung des Grounds führt, tritt die Ursache für ein Ereignis in den Hintergrund und löst ein weiteres Ereignis aus, das im Vordergrund steht. Ein Bewegungsmuster kann natürlich nicht nur zwischen zwei Ereignissen beobachtet werden. Die Entitäten können auch Menschen, andere Lebewesen sowie Abstrakta und Konkreta sein und in der Position der Figure und des Grounds stehen. Fortis (2010: 2) zufolge kann man beim Basis-Schema im Fall des Englischen von einer „localist theory of fundamental predicative structures“ sprechen. Nach Croft & Cruse (2004: 56) ist eine Manipulation der Beziehungen zwischen Figure und Ground jedoch möglich. Dasselbe Objekt kann in einem Ereigniskontext Figure sein und im modifizierten Ereigniskontext dann Ground wie Talmy (2000a: 315) dies an folgenden Beispielsätzen demonstriert: 1. „John (F) is near Harry (G).“ 2. „Harry (G) is near John (F).“ Die Positionsmodifikation zwischen Figure und Ground in unterschiedlichen Sätzen wird von Fortis in Anlehnung an Talmy auch an diesen beiden Beispielsätzen erläutert: 3. „My sister (F) resembles Madonna (G).“ 4. „Madonna (F) resembles my sister (G).“ In (3) nimmt sister die Position der Figure ein, während Madonna in der Position des Grounds steht. In (4) werden Subjekt und Objekt des Satzes (3) satztopologisch modifiziert, deshalb tritt hier Madonna im Unterschied zu (3) als Figure auf und sister als Ground auf. Noch interessanter ist jedoch die Positionsmodifikation im Deutschen zwischen Figure und Ground. Im Vergleich zum Englischen ermöglicht meines Erachtens nämlich die flexible deutsche Satztopologie eine Verschiebung der Entitäten, ohne jedoch – im Unterschied zum Englischen – die Satzsemantik wesentlich beeinflussen zu müssen. Diese Beobachtung führt zur Annahme, dass die Positionsmodifikation im Deutschen nicht zwingend mit einer Veränderung des Bewegungsschemas einhergeht. Hierfür werden folgende Beispiele angeführt: 5. Madonna (F) ähnelt meiner Schwester (G). 6. Meiner Schwester (G) ähnelt Madonna (F). In (5), der direkten deutschen Übersetzung des englischen Beispiels (4), fungiert Madonna – wie im Englischen – als Subjekt und nimmt die Position der Figure ein. Das Dativobjekt meiner Schwester ist in (5) in der Position des Grounds zu beobachten. Auch durch die Positionsmodifikation in (6) tritt meiner Schwester in der Position des Grounds auf und Madonna in der Position der Figure, obwohl die satztopologische Platzierung in Satz (6) geändert wurde. Mit der Veränderung der Satzserialisierung von Subjekt+Prädikat+Dativobjekt in (5) zu Dativobjekt+Prädikat

9.2 Die Dimensionen der Kräftedynamik, der Aufmerksamkeitsverschiebung



251

+Subjekt in (6) ändert sich auch die Richtung der Bewegung zwischen Figure und Ground. Die Dimension der Aufmerksamkeitsverschiebung ist meines Wissens an einem Satz mit Modalverben aus dem Sprachgebrauch der Politik noch nicht dargestellt worden, deshalb wird hier die Verschiebung der Entitäten am folgenden Satz erörtert: (S1/1) Helmut Kohl [F1] sagt nach einer konsensbasierten Besprechung mit Präsident Gorbatschow [G1], (S1/2) dass Gorbatschow [F2] die Wiedervereinigung Deutschlands [G2] vorantreiben will.

Den verbindenden metaphorischen Weg zwischen Helmut Kohl als Figure mit dem Präsident Gorbatschow als Ground stellt die Präpositionalphrase nach einer konsensbasierten Besprechung dar. In Teilsatz S1/1 verschiebt sich entlang dieses Wegs die Aufmerksamkeit von Figure zu Ground. In Teilsatz S1/2 nimmt Gorbatschow die Position der Figure ein und lenkt damit die Aufmerksamkeit zu Beginn des Nebensatzes auf sich. Anschließend verschiebt sich die Aufmerksamkeit von Gorbatschow auf die Wiedervereinigung Deutschlands, die den Ground darstellt. Die Semantik des Modalverbs wollen gibt gleichzeitig Auskunft über die Position der politischen Akteure, Kohl in der Position der Figure 1 in Teilsatz S1/1 und Gorbatschow in der Figure 2 in S1/2. Für eine präzise Positionsermittlung der Akteure ist neben der Modalverbsemantik auch die Aufmerksamkeitsverschiebung von der einen Entität auf die andere wesentlich. Die Ermittlung der Aufmerksamkeitsverschiebung entlang des gemeinsamen Wegs lässt die Folgerung zu, dass der Sprecher Kohl in der Position der Figure 1 in S1/1 seinen intrasubjektiv indizierten Willen auf Gorbatschow als Figure 2 in S1/2 im Nebensatz überträgt, der Figure 1 beim Erreichen des Ziels, also bei der Wiedervereinigung Deutschlands, als Ground 2 in S1/2 unterstützen soll. Nach dieser Vorstellung der Dimensionen der Kräftedynamik und der Aufmerksamkeitsverschiebung nach Talmy werden die beiden Dimensionen miteinander verknüpft. Eingangs in diesem Kapitel habe ich davon gesprochen, dass in der kräftedynamischen Theorie die Entitäten, Agonist/in und Antagonist/in, miteinander verbunden sind und eine Kraftausübung von der einen Entität ausgehend in Richtung der anderen Entität vorgesehen ist. Diese Kraftausübung muss jedoch nicht notgedrungen erfolgreich sein, denn der Antagonist/die Antagonistin kann einen Widerstand leisten. Die Kraftausübung von der Agonistin/dem Agonisten ausgehend in Richtung der Antagonistin/des Antagonisten kann folglich gelingen, wenn die Antagonistin/der Antagonist dieser Kraft sich entweder von Anfang an beugt oder die von der Antagonistin/dem Antagonisten ausgeübte Gegenkraft überwunden wird. Die Kraftausübung kann aber auch misslingen, wenn die Kraftausübung durch die Antagonistin/den Antagonisten stark genug ist, den von der

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9 Eine kognitionslinguistische Untersuchung von Sätzen mit Modalverben

Agonistin/dem Agonisten ausgehenden Widerstand zu überwinden. In diesem Fall entsteht trotz Kraftausübung keine Bewegung. Gerade in solchen Fällen, in denen eine Kraftausübung ausbleibt, ist es hilfreich, die Dimension der Aufmerksamkeitsverschiebung mitzuberücksichtigen. Die Aufmerksamkeit verschiebt sich auch im Fall des Ausbleibens einer Kraftausübung von der einen Entität auf die andere Entität. Um aber Engagement und Involvierung zu ermitteln, lohnt sich – wie an einer früheren Stelle angedeutet – in diesen Fällen die Ermittlung der Perspektiven der politischen Akteure, v. a. über die Untersuchung des Modalverbeinsatzes und der semantischen und syntaktischen Relation des Modalverbs zum Vollverb sowie zum Agens und/oder zum Patiens. Die Kontinuität der Ereignisse kann über die kognitionslinguistische Erfassung der Modalverben im Handlungs- und Diskurskontext über die kräftedynamische Dimension aufgezeigt werden, der Aspekt der Transparenz über die Aufmerksamkeitsverschiebung durch die Offenlegung der Perspektiven. Die Integration dieser beiden Dimension in ein kognitionslinguistisches Forschungsdesign reicht folglich dafür aus, die Prozessualität und die Perspektiven im komplizierten Aushandlungsprozess der Politik zu erfassen, die Zusammenhänge und die Zuständigkeiten können aber erst aufgezeigt werden, wenn auch der Kausalität gebührend Aufmerksamkeit gewidmet wird. Nach der Vorstellung einzelner Elemente der Dimensionen Kräftedynamik und Aufmerksamkeitsverschiebung werden nun an dieser Stelle die einzelnen Klassen der Kausalität besprochen. Talmy (v. a. 1976: 62 und 2000a: 489) konzentriert sich bei der Erforschung des Ursachen- und Wirkungszusammenhangs zwischen Ereignissen auf die kausativen Tiefenstrukturen. Wildgen (2008: 100) weist darauf hin, dass nach dieser Theorie eine Entität in der Subjekt-Position eine Entität in der Objekt-Position beeinflusst. Zwischen den beiden Entitäten besteht entweder explizit oder implizit ein „Ursache-Wirkungszusammenhang“, der mittels des „Tiefenprädikates CAUSE“ ermittelt werden kann. An dieser Stelle werden die einzelnen Subtypen der Kausalität genannt und jeweils ein Beispiel dafür gezeigt. Eine Ausführung der Beispiele in größerem Umfang ist an dieser Stelle nicht möglich. In der Beleganalyse dieses Kapitels werden jedoch anschließend die im Korpus rekurrent auftretenden oder diskurssalienten Subtypen erläutert. Folgende politiksprachliche Beispiele zu den Causation-Subtypen sind selbst gebildet. Sie sind inspiriert durch die Vorgänge bei der gescheiterten Ministerpräsidentenwahl am 17. März 2005 im Landtag von Schleswig-Holstein. In jenem Fall erfolgte allerdings eine Enthaltung und keine ungültige Stimmabgabe. In diesem Beispiel wurde aber eine Variante mit ungültiger Stimme bevorzugt, um zwischen author und agent causation besser unterscheiden zu können. Talmy unterscheidet folgende kausale Wirkungszusammenhänge (vgl. Talmy 1976: 44 f.; 1988a: 67; 2000a: 472 und Wildgen 2008: 101):

9.2 Die Dimensionen der Kräftedynamik, der Aufmerksamkeitsverschiebung

(1) basic causation

Bsp.:

(2) event causation11

Bsp.:

(3) instrument causation

Bsp.:

(4) author causation

Bsp.:

(5) agent causation12

Bsp.:



253

Die Wiederwahl der Ministerpräsidentin musste durch eine ungültige Stimme aus den eigenen Reihen scheitern. Eine ungültige Stimme aus den eigenen Reihen kann zum Scheitern der Wiederwahl der Ministerpräsidentin führen. Durch eine ungültige Stimme aus den eigenen Reihen kann die Wiederwahl der Ministerpräsidentin scheitern. Ein Abgeordneter aus den eigenen Reihen kann durch eine ungültige Stimmabgabe das Scheitern der Wiederwahl der Ministerpräsidentin verursachen. Ein Abgeordneter aus den eigenen Reihen wollte absichtlich das Scheitern der Wiederwahl der Ministerpräsidentin herbeiführen, indem er ungültig stimmte.

Dabei differenziert er fünf Tiefenprädikate der Verursachung (ebd.): a) RESULTed-to happen, b) EVENTed-to happen, c) INSTRUMENTed-to happen, d) AUTHORed-to happen, e) AGENTed-to happen. Diese Kategorien zur Kausalität lassen sich um die semantischen Rollen ergänzen, bei denen die Agentivität bzw. die Non-Agentivität im Vordergrund steht. Ziem & Lasch (2013: 124) stellen richtig fest, dass man sich bei einer Analyse der semantischen Rollen auf diejenigen Schemata und Rollen konzentrieren sollte, die dem Untersuchungsziel dienen. Sie übernehmen von von Polenz (2008: 167–174) einen Teil der semantischen Rollen, der sich in seiner Klassifikation auf die Tiefenkasus von Fillmore (1968a, 1968b) sowie auf Talmy (1976; 1988a oder 1988b; 2000) bezieht. Da in dieser Arbeit – wie eingangs bereits erläutert – die Analyse eines Korpus aus der Politik im Vordergrund steht, ist eine analytische Erfassung der Aktivität und damit des Agentivitätsgrades der Äußerungen der politischen Akteure/Akteu11 Eine weitere Untergliederung dieser Klasse erfolgt nach Talmy (1988a: 67) in „resulting-event causation“ and „causing-event-causation“. 12 Talmy (1988a: 67) unterscheidet in dieser Klasse zwischen „agent causation“ und „selfagency“.

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9 Eine kognitionslinguistische Untersuchung von Sätzen mit Modalverben

rinnen mit Hilfe von sprachlichen Kategorien wie den semantischen Rollen unerlässlich. Die semantischen Rollen geben Aufschluss auf das Engagement von Politiker/inne/n. Deshalb bietet sich hier eine Übernahme der semantischen Rollen nach Fabricius-Hansen (in Duden-Grammatik 2016: 397 f.) an, die diese nach ihrem Aktivitätsgrad in drei Gruppen unterteilt. Dies unterscheidet ihr Schema von dem Schema von von Polenz (2008: 170–173), der keine grundsätzliche Subklassifikation der Rollen nach ihrem Agentivitätsgrad vornimmt, sowie von der Modifikation des Polenz’schen Schemas durch Ziem & Lasch (2013: 125 f.). Bei Ziem & Lasch rückt die Frage der Subklassifikation des Agentivitätsgrades noch weiter in den Hintergrund. Dies schlägt sich bei der Klassifikation nach Ziem & Lasch (2013: 125) in der Zuordnung der Rolle Experiencer sowie der Rolle Benefaktiv (beide Aktivitätsgruppe 2 bei Fabricius-Hansen) als Subklassen des Patiens (bei Fabricius-Hansen Aktivitätsgruppe 2) nieder. Einen hohen Aktivitätsgrad zeigen nach Fabricius-Hansen (in Duden-Grammatik 2016: 398) in Gruppe 1: – die handelnde Person (Agens), – der Auslöser/die Auslöserin eines Vorgangs oder einer Wahrnehmung (Stimulus), – der Grund für einen Zustand sowie – den Träger/die Trägerin einer Eigenschaft. Die Gruppe 2 von Fabricius-Hansen (in Duden-Grammatik 2016: 398) fasst Rollen mit mittlerem Aktivitätsgrad zusammen: – die wahrnehmende oder fühlende Person (Experiencer), – den Nutznießer/die Nutznießerin (Benefizient) oder die „vom Schaden betroffene Person“ (Malefizient), – den Empfänger/die Empfängerin (Rezipient), – den Besitzer/die Besitzerin (Possessor) sowie Analog zu der Terminologie „Benefizient“ wurde ergänzend zur Klassifikation von Fabricius-Hansen (in Duden-Grammatik 2016: 398) zur semantischen Unterscheidung zwischen Nutznießer/in und dem/der Beschädigten die Terminologie „Malefizient“ eingeführt. Die Gruppe 3 besteht nach Fabricius-Hansen (in Duden-Grammatik 2016: 398) aus semantischen Rollen mit nur einem geringen Aktivitätsgrad: – die betroffene Person oder Sache (Patiens), „die keine Kontrolle auf den Vorgang/die Handlung ausübt“ oder – der betroffene Sachverhalt.

9.2 Die Dimensionen der Kräftedynamik, der Aufmerksamkeitsverschiebung



255

Auffällig ist im Untersuchungsmaterial – dies sei vorweg schon festgestellt –, dass sich Politiker/innen bei der Verbalisierung ihrer eigenen Person meist als Agens klassifizieren und das von ihnen regierte Land und die Bürger/innen häufig als Benefizienten bzw. seltener als Patiens und Malefizienten versprachlichen. Infolgedessen kommt die Rolle des Experiencer kaum vor. Bei der Umsetzung dieses aktivitätsgradabgestuften Schemas semantischer Rollen nach Fabricius-Hansen (in Duden-Grammatik 2016: 397 f.) in valenziell gesteuerte Satzbaupläne werden kaum Belege mit Modalverben angeführt. Dies ist symptomatisch für die Darstellung semantischer Rollen in der Forschung. Insbesondere die Untersuchung der Aktivitätsgrad-Gruppen 1 und 3 liefert Indizien dafür, dass die Klassen und Subklassen der semantischen Rollen in der Forschung insbesondere hinsichtlich der (Non-)Agentivität ohne Fokus auf die Modalverben definiert wurden. Dies führt dazu, dass die Anwendung dieser Schemata auf Sätze mit Modalverben häufig an deren Grenzen stößt. Selbst, wenn die Frage nach dem Ursache-Wirkungs-Zusammenhang nicht notgedrungen mit der Semantik der Untersuchung von Modalverben einhergeht und für die Fragestellung dieser Arbeit deshalb nicht primär ist, ist es nicht aufschlussreich für die linguistische Forschung, wenn die Definitionen der semantischen Rollen so eng formuliert sind, dass diese auf Sätze mit Modalverben nur bedingt anwendbar sind. Das Hauptproblem bei der Anwendung semantischer Rollen auf die Modalverben liegt darin, dass gerade die Agentivitätsstruktur durch die Modalverben – ähnlich wie z. B. auch durch die Negation – stark verändert wird. Wird das Agens in den Theorien zu den semantischen Rollen meist als handlungsfähige und handlungswillige Entität beschrieben, so schränken die unterschiedlichen Modalverbklassen die Handlungsfreiheit, Handlungsfähigkeit und Handlungswilligkeit ein, die aber die Definitionsmerkmale des Agens in diesen Theorien sind. Sogar das volitive Modalverb wollen, das auf den ersten Blick sehr gut mit Agentivität einhergehen kann, sagt nur etwas über die Handlungswilligkeit einer Entität aus, nichts jedoch über deren Handlungsfreiheit und -fähigkeit. Diese Aussage wird an folgendem Beispiel demonstriert: Die Tierschutzpartei will die 5-Prozent-Hürde überspringen.

Da die Tierschutzpartei die 5-Prozent-Hürde noch nie geschafft hat, wird es ihr aller Voraussicht nach wieder nicht gelingen, die Hürde zu überspringen, obwohl sie es will.13 Das Modalverb wollen unterstützt trotz der Handlungsunfähigkeit des

13 Der Satz befindet sich aufgrund dieses Vorwissens an der Schnittstelle zwischen einem deontischen und einem epistemischen Gebrauch.

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9 Eine kognitionslinguistische Untersuchung von Sätzen mit Modalverben

Subjekts die Versprachlichung seiner Agentivität, denn es ist im Wahlkampf sehr aktiv. Ebenfalls uneindeutig zeigt sich die Situation bei den möglichkeitsverbalen Modalverben wie können und dürfen. Beide sagen nur viel über die Handlungsfähigkeit aus, während die Handlungsfreiheit und -willigkeit vom Kontext abhängen. So ist aus dem kann-Gebrauch im Beispiel Die Bundesregierung kann sich in der EU mit ihrer Auffassung durchsetzen.

sowohl auf Handlungsfreiheit und -fähigkeit als auch auf Handlungswilligkeit zu schließen. In dem Satz Der Außenminister kann gut Englisch sprechen.

heißt dies nur, dass er fähig ist, Englisch zu sprechen, aber nicht seine grundsätzliche Bereitschaft hierzu. Bei dem dürfen-Beleg Der Kanzler/die Kanzlerin darf verfassungsrechtlich jeden Minister und jede Ministerin jederzeit ohne Zustimmung des Parlaments entlassen und durch eine Person seines/ihres Vertrauens ersetzen.

zeigt sich sofort nur eine theoretische Handlungsfreiheit, -fähigkeit und -willigkeit, denn der Kanzler/die Kanzlerin kann nur Minister/innen der eigenen Partei ohne Gefahr für sich selbst entlassen, nicht jedoch die Minister/innen der Koalitionspartner. Die notwendigkeitsmodalen Verben wie müssen oder sollen z. B. in Der Minister musste wegen der Affäre zurücktreten.

hingegen drücken fehlende Handlungsfreiheit aus, die die Voraussetzung für Handlungsfähigkeit ist. Dies ist ein Kennzeichen der semantischen Rolle des Patiens, v. a. auch in dem Beispiel Die Kultusministerien der Länder mussten wegen des Corona-Virus die Schulen für Wochen schließen.

könnte man hier eine fehlende Handlungsfreiheit annehmen, da man durch die Umstände der politisch Getriebene war. Allerdings liefert der Erlass einer umfassenden Schulschließung ein deutliches Indiz für eine allumfassende Handlungsfähigkeit und sogar einen starken Handlungswillen.

9.3 Kognitionslinguistische Diskussion ausgewählter Sätze mit Modalverben 

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Diese Ausführungen zeigen, dass die semantischen Rollen insbesondere der Gruppe 1 und 3 bei einer Analyse des Modalverbgebrauchs in dem Sprachgebrauch der Politik immer genau beschrieben werden müssen. Durch den Modalverbgebrauch können handelnde Personen und Institutionen je nach Sichtweise sowohl Agens- als auch Patienseigenschaften aufzeigen. Eine unangepasste Übernahme der semantischen Rollen bzw. des Tiefenkasus aus der Vollverbsemantik auf Sätze mit Modalverben und noch stärker auf Sätze mit Modalverben im Sprachgebrauch der Politik, der sich in einer Demokratie immer mit unterschiedlichsten Sichtweisen hinsichtlich der Faktizität konfrontiert sieht, ist damit nicht möglich.

9.3 Kognitionslinguistische Diskussion ausgewählter Sätze mit Modalverben aus den Bundespressekonferenzen zwischen 1990 und 2018 Im Anschluss an die Diskussion der Dimensionen der Kräftedynamik, der Aufmerksamkeitsverschiebung und der semantischen Rollen werden ausgewählte Belege aus dem Korpus von Bundespressekonferenzen zwischen 1990 und 2018 auf diese Dimensionen hin kognitionslinguistisch untersucht. Terminologisch lehne ich mich sinngemäß an die in den beiden ersten Abschnitten dieses Kapitels vorgestellten Dimensionen der Kräftedynamik und der Aufmerksamkeitsverschiebung sowie die Klassen nach dem Prinzip der Kausalität an. Die komplette semantische Reichweite der Modalverben würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen, deshalb können nicht alle theoretisch möglichen Redehintergründe dargestellt werden. Eine Darstellung aller Modalverben im engeren Sinn mit intrasubjektivem und extrasubjektivem Gebrauch ist ebenso wenig möglich. Deshalb werden für jedes Modalverb Belege diskutiert und visualisiert, die im Korpus häufig mit einem bestimmten Redehintergrund auftreten und daher als musterhaft bezeichnet werden können. Um die Semantik jedes der analysierten Modalverben kognitionslinguistisch zu veranschaulichen, werden auch die Modalverben – dürfen und mögen/ möchte- – mit und ohne Negation analysiert, die im Korpus der Bundespressekonferenzen nur selten auftreten. Denn trotz der seltenen Vorkommenshäufigkeit beider Modalverben kann deren Gebrauch dennoch im jeweiligen Diskurskontext abhängig von externen Diskursfaktoren (v. a. mediale Aufmerksamkeit eines Satzes wie z. B. „Wir schaffen das!“) salient sein. Bei der Visualisierung der Dynamiken werden – wie es in der Kognitionslinguistik üblich ist – die wahrnehmbaren Ereignisse in Form von basischen Strukturen, Skalen und Kräftedynamiken abgebildet. In jedem Beleg werden zudem –

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9 Eine kognitionslinguistische Untersuchung von Sätzen mit Modalverben

wenn overt – der Zusammenhang von Ursache und Wirkung sowie die Dynamiken zwischen den Kräften und der Aufmerksamkeitsverschiebung dargestellt. Die Rolle des Modalverbs bei der Positionierung der Sprecher/innen im Verhältnis zur Ursache und Wirkung wird bei der Analyse ebenfalls berücksichtigt.

9.3.1 Kognitionslinguistische Diskussion von Sätzen mit handlungsraumbezogenen Modalverben Wie auch in den anderen empirischen Teilen dieser Arbeit werden in diesem Abschnitt zuerst die Belege mit den handlungsraumbezogenen Modalverben dürfen, können und müssen sowie ihren negierten Formen dargestellt und erst anschließend die zielbezogenen Modalverben mögen/möchte-, sollen und wollen. Vor der Beleguntersuchung und Visualisierung werden hier notwendige Hinweise zur Darstellung der Modelle für das Verständnis gegeben. Für die Darstellung der Figure [F] wird ein Quadrat ausgewählt, für den Ground [G] hingegen ein Kreis. In der Mitte der beiden Formen stehen ein Plus- sowie ein Minus-Zeichen, die die Aktivität bzw. die Passivität der Agonist/inn/en symbolisieren. Der Pfeil stellt den Weg zwischen den beiden Entitäten dar und zeigt die Richtung der Kraftausübung an. Die Teilsätze werden mit der Abkürzung (SX/Y) in den Belegen sowie in den kognitionslinguistischen Modellen bezeichnet, wobei X für einen Satz in der numerischen Reihenfolge aller Sätze in einem Beleg steht und Y für den Teilsatz in dem jeweiligen Satz. 9.3.1.1 Kognitionslinguistische Diskussion eines Belegs mit dem Modalverb dürfen Wie in den Kapiteln 4 bis 8 erläutert, wird das Modalverb dürfen nur selten, und wenn überhaupt, dann hauptsächlich nicht in den Eingangsstatements der Politiker/innen in den jeweiligen Bundespressekonferenzen, sondern in der Diskussion mit den Journalist/inn/en verwendet, in diesen Fällen im Sinne einer Erlaubnis jedoch mit einem implizit oder explizit circumstantiellen Redehintergrund. Aus diesem Grund wird hier der Beleg 1 für das Modalverb dürfen mit einem implizit circumstantiellen Redehintergrund für eine kognitionslinguistische Analyse ausgewählt: 1. (S1/1) Wir [Figure = Agens] müssen wissen, (S1/2) dass gegnerische Kämpfer [Ground = Patiens] in einem nicht internationalen bewaffneten Konflikt [Event] in dem vom humanitären Völkerrecht gesteckten Rahmen [Instrument bzw.

9.3 Kognitionslinguistische Diskussion ausgewählter Sätze mit Modalverben



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abstrakter Place] gezielt bekämpft werden können und auch dürfen [Einstellung zu Ground]. (Gudio Westerwelle, BPK14 2010, Z. 611–613) Kognitionslinguistische Visualisierung des Belegs 1 mit dem Modalverb dürfen:

Den direkten Ereigniskontext für den Beleg 1 stellt die Bundespressekonferenz mit Außenminister Guido Westerwelle während der Regierungskoalition von CDU/CSU und FDP zum Terrorismus in Libyen dar. Vor dieser Äußerung wurde Westerwelle gefragt, ob er die Tötung von Terrorist/inn/en für legal halte. Der indirekte Ereigniskontext ist der „nicht internationale bewaffnete Konflikt“. Aufgrund der Vorgangspassivkonstruktion „gezielt bekämpft werden können und auch dürfen“ rückt die Nominalphrase „gegnerische Kämpfer“ als Ground und zugleich als Patiens bzw. Malefizient15 in den Vordergrund. Beleg 1 beinhaltet zwei handlungsraumbezogene Modalverben, das MV können im Sinne von eine „Möglichkeit haben“ und das MV dürfen im Sinne von einer „Befugnis“. Wie in den Kapiteln 6 bis 8 mehrfach aufgezeigt, tritt eine solche Aneinanderreihung dieser beiden handlungsraumbezogenen Modalverben in Bundespressekonferenzen häufig auf. Diese beiden handlungsraumbezogenen Modalverben in dieser deontischen Lesart ergänzen einander und verstärken die Satzsemantik durch diese Aneinanderreihung. Mit können wird zuerst auf die Möglichkeit einer potentiellen Handlung hingewiesen. Das Modalverb dürfen fokussiert anschließend die Erlaubnis, die für die Handlungsausführung notwendig ist. Der Redehintergrund wurde zum Zeitpunkt des Einsatzes des Modalverbs dürfen bereits überprüft. Einer Kraftübertragung von Figure zu Ground über einen gemeinsamen Weg seitens des Sprechers, der Teil des Grounds ist, steht nichts im Wege. Mit Blick auf die kognitionslinguistische Visualisierung des Satzes ergibt sich jedoch keine Differenz zwischen können und dürfen in diesem Beleg, denn in beiden Fällen wird – durch die Möglichkeit (können) und die Erlaubnis (dürfen) der freie Weg zwischen Figure und Ground eindeutig in den Vordergrund gestellt.

14 BPK=Bundespressekonferenz. 15 Hier wird der Geschädigte als Malefizient – eigene Terminologie – und nicht als Benefaktiv wie etwa bei von Polenz (2008:167 ff.) bezeichnet.

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9 Eine kognitionslinguistische Untersuchung von Sätzen mit Modalverben

Die Ampel symbolisiert den „Freifahrtschein“ sowohl durch dürfen als auch durch können. In S1/1 „Wir müssen wissen“ wird deutlich, dass der Sprecher als Außenminister im Umgang mit gegnerische[n] Kämpfer[n] seine eigene Position darstellt und sich mit der 1.Person Plural wir in das kollektive Agens mit einschließt. Selbst, wenn durch das Vorgangspassiv im Nebensatz die Identität des politischen Kontrahenten verdeckt bleibt, kann man diesen aus dem Hauptsatz durch das Personalpronomen erschließen. Das Personalpronomen wir im Hauptsatz ist also im gesamten Satz die Figure, die im Nebensatz nicht erscheint. Die Agensdemolierung erfolgt eindeutig rein auf der grammatischen Ebene, aber nicht auf der semantischen und der diskursiven, deshalb ist es essentiell, die semantischen Rollen im Handlungs- und Diskurskontext zu betrachten. Die Figure ist über den fiktiven Weg des nicht internationalen bewaffneten Konflikts (verdeckte Ursache und zugleich auch Event) mit dem Ground verbunden, dem aus der Quelldomäne heraus – in dem vom humanitären Völkerrecht gesteckten Rahmen – Schaden hinzugefügt werden kann/darf. An dieser Stelle wird die Beobachtung von Croft & Cruse (2004: 67) in Anlehnung an Talmy (1988a) und Sweetser (1990) herangezogen. Die beiden postulieren, dass Modalverben in engerem Sinn in deontischem Gebrauch wie may – im Deutschen dürfen – das Fehlen eines Widerstands signalisieren. 9.3.1.2 Kognitionslinguistische Diskussion eines Belegs mit dem Modalverb dürfen + Negation In den Fällen, in denen das Modalverb dürfen im Korpus aus Bundespressekonferenzen in Sätzen mit Negation eingesetzt wurde, konnte eine rekurrente Überschneidung des normativen Gebrauchs mit einem teleologischen Gebrauch dieses Modalverbs festgestellt werden. In diesen Fällen wollten die Sprechenden die als negativ angesehene Prognosen bereits im Voraus verhindern. Wurde der Grund für den Wunsch der Prävention genannt, trat ein circumstantieller Redehintergrund zu den beiden anderen Hintergründen hinzu16, wie in Beleg 2:

16 Der normative Hintergrund wird damit begründet, dass der Sprecher Sigmar Gabriel zum Zeitpunkt der Bundespressekonferenz 2013 der designierte Vizekanzler der zwischen 2013 und 2017 amtierenden Großen Koalition und der Vorsitzende einer Partei war, die den Schutz der Europäischen Union als Norm ansieht und die diesbezüglichen zwischenstaatlichen Vereinbarungen der EU als Quelle dieser Norm akzeptiert. Der teleologische Gebrauch geht mit der Satzsemantik einher, die offenlegt, dass der Sprecher den Schutz der Europäischen Union als Ziel definiert. Die Überschneidung beider Redehintergründe mit dem circumstantiellen Redehintergrund geht auf dieses Zitat aus meinem Beleg zurück, das den Umstand für diese Aussage liefert: „… weil die Zukunft der Menschen auf unserem Kontinent und insbesondere unserer Kinder und Enkel davon abhängen wird, dass die europäische Idee weiter mit Leben erfüllt ist“.

9.3 Kognitionslinguistische Diskussion ausgewählter Sätze mit Modalverben 

2.

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(S1) Vor uns liegt ein Europawahlkampf, (S2/1) bei dem alle [Figure = Agens in der Rolle des Agonisten] der europäischen Idee [Benefizient] treu bleiben und sie fortentwickeln und sozusagen stabilisieren und auch wieder neu beleben wollen, (S2/2) überall auch in Deutschland alle Hände voll damit zu tun haben werden, (S3/1) sozusagen antieuropäische Parteien [Ground = Patiens als Antagonist zu S2/1], rechtspopulistische Parteien [G = Patiens als Antagonist zu S2/1 und Figure zu 6], (S4) die gegen Europa mobilisier [Reparatur] …, mobil machen wollen, (S3/2) die sozusagen im Zaum zu halten und unserer Bevölkerung [Benefizient zu S2/1] und nicht nur unserer, dem Rest in Europa [Benefizient zu S2/1] das Vertrauen zurückzugeben, (S5) [sic/Abbruch] muss man vielleicht sagen oder auch wenigstens zu erhalten, (S6) dass diese große Idee [Ground = potentieller Malefizient] nicht beschädigt werden darf, (S7) weil die Zukunft der Menschen auf unserem Kontinent und insbesondere unserer Kinder und Enkel davon abhängen wird, (S8) dass die europäische Idee weiter mit Leben erfüllt ist. (Sigmar Gabriel, BPK 2013, Z. 153–162)

Kognitionslinguistische Visualisierung des Belegs 2 mit dem Modalverb dürfen + Negation:

Die Nominalphrasen antieuropäische Parteien und rechtspopulistische Parteien in S3/1 fungieren als Antagonisten im Verhältnis zu alle in S2/1, die in der Position der Figure identifiziert werden kann. Die beiden Nominalphrasen in der Position des Grounds werden hier mit der Form eines Kreises ausgewiesen. Das zweite Quadrat auf der Abbildung umfasst auch einen Kreis für Ground, denn die beiden Nominalphrasen werden im Verhältnis zur Nominalphrase diese große Idee, die sich auf die Europäische Union bezieht, als potenzielle Malefizienten in S6 aufgrund der in S6 vorhandenen Agensdemolierung zu verdeckten Agonisten. In der Darstellung werden mehrere Dynamiken abgebildet: Zum einen geht von alle (Agonist in S2/1) eine direkte Kraftausübung in Richtung der Nominalphrasen antieuropäische Parteien und rechtspopulistische Parteien (Antagonist in S3/1) aus. Die Antagonisten leisten jedoch aus der Sicht des Sprechers Widerstand, deshalb wird der Pfeil zwischen S2/1 und S3/1 in beide Richtungen gesetzt. Dabei ringen die Agonisten mit den Antagonisten um die Europäische Union (diese große Idee), wobei eine direkte

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9 Eine kognitionslinguistische Untersuchung von Sätzen mit Modalverben

Kraftausübung der antieuropäischen und rechtspopulistischen Parteien in Richtung des Grounds in S6 erfolgt. Zum anderen kann nach einer detaillierten Analyse der semantischen Rollen beobachtet werden, dass von alle[n] (Agonist in S2/1) eine indirekte Kraftausübung in Richtung des Grounds in S6 (diese große Idee) zum Schutz der Europäischen Union erfolgt, weshalb die Linie zwischen S2/1 und S6 durchgestrichen ist. Die Nominalphrase in S6 übernimmt auf der Ebene des ganzen Satzes trotz Vorgangspassivs gleich zwei semantische Rollen – Benefizient im Verhältnis zu S2/1 und Malefizient im Verhältnis zu S3/1. Die Linie zwischen dem Agonisten in S3/1 und S6 (diese große Idee) wird unterbrochen, denn diese markiert den der Semantik des Modalverbs dürfen in Kombination mit Negation entstammenden Widerstand, den der Agonist in S2/1 zugunsten der EU leistet. Dieser Widerstand soll folglich eine Kraftausübung in Richtung dieser großen Idee verhindern. Diese Visualisierung pointiert neben den Dynamiken vor allem die Perspektive des Sprechers, den das Kollektiv des Agonisten in S2/1 (alle) durch die Semantik des Modalverbs dürfen mit Negation mit einschließt – deshalb der Punkt in der Mitte des ersten Quadrats. 9.3.1.3 Kognitionslinguistische Diskussion eines Belegs mit dem Modalverb können Wie in den bisherigen Kapiteln ausführlich geschildert, tritt das Modalverb können musterhaft sowohl mit einem circumstantiellen als auch mit einem teleologischen Redehintergrund17 auf, wobei eine Überschneidung beider Redehintergründe für den Gebrauch dieses Modalverbs – wie am Korpus der Bundespressekonferenzen in den vorangehenden Kapiteln aufgezeigt – ebenfalls musterhaft ist. Aus diesem Grund wird hier der Beleg 3 zu können mit einem primär teleologischen Redehintergrund18 an der Schnittstelle zum implizit circumstantiellen Redehintergrund angeführt: 3. (S1/1) Zentrale Versprechen [Ground 1 im Verhältnis zu S3, S4 und S5 = betroffener Sachverhalt], (S1/2) das kann ich für die christlich-demokratische 17 Die anderen Redehintergründe mit dem Modalverb können sind im Korpus deutlich seltener zu beobachten als der circumstantielle und der teleologische Redehintergrund und sind damit im Unterschied zu diesen beiden anderen Redehintergründen auch nicht musterhaft. 18 Als Ziel wird von der Autorin dieser Rede die Einhaltung der Wahlversprechen genannt, womit der teleologische Gebrauch des Modalverbs können begründet ist. Der indirekt circumstantielle Redehintergrund geht damit einher, dass die Sprecherin als Leiterin der Koalitionsverhandlungen und zugleich als designierte Kanzlerin des Landes zwischen 2013 und 2017 die Gelegenheit hatte, den Handlungsrahmen für diese Aussage zu überprüfen. Dabei gilt natürlich zu bedenken, dass es sich hierbei um die linguistische und keine politikwissenschaftliche Analyse handelt und damit die Beschäftigung mit der Einhaltung und der Nichteinhaltung von Wahlversprechen in der Politik keinen Gegenstand dieser Analyse bildet.

9.3 Kognitionslinguistische Diskussion ausgewählter Sätze mit Modalverben



263

Union sagen, (S1/3) die wir [Figure 1 = Agens] den Menschen [Ground 2 = Benefizient] während des Wahlkampfes [Path] gemacht haben, (S1/4) haben wir [F1] eingehalten [Versprechen erfüllt], (S1/5) werden wir [F1] umsetzen können [Einstellung zur Proposition der Zielsetzung, also zu Ground 1]. (Angela Merkel, BPK 2013, Z. 15–17) Kognitionslinguistische Visualisierung des Belegs 3 mit dem Modalverb können:

Die komplexe Satzsyntax sowie der Tempuswechsel führen zu einer erhöhten Komplexität bei der kognitionslinguistischen Abbildung des Belegs. Um die Abbildung in ihrer Komplexität zu erfassen und zugleich Verständlichkeit zu gewährleisten, wurden zusätzliche Abkürzungen eingeführt, die wie folgt aufgeschlüsselt werden: ZA=Zeitachse, S1/1=Teilsatz 1, S1/4=Teilsatz 4, S1/5=Teilsatz 5, Kreis=Ground (zentrale Versprechen), Quadrat=Figure (wir). Die linke Hälfte der Abbildung stellt die Abgeschlossenheit der Ereignisse durch die Perfektivität dar, die sich aus dem semantischen Verhältnis von S1/1 zu S1/4 ergibt. Die Abgeschlossenheit wird durch die kontinuierliche Liniensetzung signalisiert. Die rechte Hälfte zeigt die Perspektive der Agonistin – die Kanzlerin – auf die Erfüllbarkeit der Zielsetzung, die aber noch in der Zukunft liegt und deshalb mit unterstrichener Liniensetzung markiert wird. Das Modalverb können in S1/5 werden wir umsetzen können stellt mit seiner Möglichkeitssemantik die Perspektive der Kanzlerin in Bezug zur Zielsetzung (Satzproposition) heraus. Aus kräftedynamischer Sicht ist eine Handlungsdynamik der Sprecherin – und somit auch der Regierung – zu erwarten. Der Punkt im Quadrat symbolisiert, dass die Sprecherin Teil der Figure ist und damit die Umsetzung des Ziels nicht nur aus ei-

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9 Eine kognitionslinguistische Untersuchung von Sätzen mit Modalverben

ner Binnenperspektive heraus betrachtet, sondern dafür als Regierungschefin mit zuständig ist. Zusätzlich zur Visualisierung wird der Beleg außerdem nach den Aspekten der Kausalitätstheorie von Talmy erklärt. Bei diesem Beleg handelt es sich um eine Aussage der Bundeskanzlerin nach dem Zustandekommen des Koalitionsvertrags. Es lassen sich drei Ereignisteilkontexte (=EK) feststellen: der Wahlkampf (EK1 in S1/3) in perfektivischer Form aus retrospektiver Sicht, die Koalitionsverhandlungen zwischen CDU/CSU und SPD (EK2 in S1/4) sowie die Regierungsperiode zwischen 2013 und 2017 (EK3 in S5) in Futur I. Das Akkusativobjekt des Satzes S1/1 zentrale Versprechen als betroffener Sachverhalt nimmt die Rolle des Grounds ein und wird nicht nur als Resultat des Wahlkampfs (in S1/3), sondern zugleich auch als Ziel der Regierungskoalition zwischen 2013 und 2017 (in S1/5) neben der kognitionssemantischen Fokussierung auch syntaktisch fokussiert, indem dieses im Vorvorfeld platziert wird. Die typologische Zuordnung des Substantivs Versprechen zur Substantivsubklasse Abstraktum bietet jedoch viel Interpretationsmöglichkeit, denn die Semantik dieses Substantivs ist so vage, dass nicht ersichtlich wird, was genau die zentralen Versprechen sind. Der Ursprung der Zielsetzung (Quelldomäne: Event) findet sich in S1/3 „die wir den Menschen während des Wahlkampfes gemacht haben“. S1/4 „haben wir eingehalten“ deutet darauf hin, dass durch die Aufnahme der Inhalte des Wahlkampfes der CDU/CSU im Jahr 2013 in den Koalitionsvertrag zwischen CDU/CSU und SPD das „Wahlkampfversprechen“ aus Sicht der Sprecherin Angela Merkel als Resultat des Wahlkampfs präsentiert werden kann und die bereits erfolgte Kraftausübung erfolgreich war. Das Personalpronomen wir in S1/4 und S1/5 fungiert als Figure und bringt zum Ausdruck, dass es sich um eine author causation (ich in S1/2) nach Talmy handelt, die sich hier als Agens mit einer agent causation (wir in S1/3-S1/5) überschneidet. Satz S1/5 „werden wir umsetzen können“ demonstriert, dass das Ziel zwar in den Koalitionsvertrag aufgenommen wurde, aber noch per Gesetzgebung umgesetzt werden muss. Das Modalverb können in S1/2 „das kann ich für die christlich-demokratische Union sagen“ in der 1. Person Singular stellt die Position der Kanzlerin im komplexen Ereigniskontext dar, die ihr kraft ihres Amtes verliehen wurde. Die Perspektive der Bundeskanzlerin auf den Ground wird in S1/5 durch den Einsatz des Modalverbs können in der 1. Person Plural verdeutlicht. Der Einsatz des Modalverbs zeigt, dass aus Sicht der Sprecherin der Umsetzung des intendierten Ziels keine Barriere im Weg steht und der Weg der weiteren Kraftausübung zur Erfüllung des Ziels in der Position des Grounds folglich frei ist. Bei diesem komplexen Prozess handelt es sich um eine fiktive Kraftausübung, die den prozessualen Verlauf politischer Wahlkampfversprechen auf dem Weg zur Gesetzgebung beschreibt. Der Darstellung der Perspektive der Akteurin durch den Mo-

9.3 Kognitionslinguistische Diskussion ausgewählter Sätze mit Modalverben



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dalverbeinsatz und die Kombination von Futur I und Perfekt kommt dabei eine zentrale Rolle zu. 9.3.1.4 Kognitionslinguistische Diskussion eines Belegs mit dem Modalverb können in Kombination mit Negation Wie v. a. im statistischen Kapitel 4 dieser Arbeit bereits erläutert, treten Modalverben mit Negation im Korpus selten auf. Das in Bezug auf die Tokenfrequenz im Korpus am häufigsten mit Negation auftretende Modalverb ist das handlungsraumbezogene Modalverb können, zumeist in der Diskussion mit den Journalist/ inn/en als Teil der Konstruktion [ich+kann+nicht+sagen]. Außerdem kommt das Modalverb mit Negation ausschließlich in auf Prävention gerichteten Äußerungen vor, in denen Sprecher/innen als negativ eingestufte Sachverhalte oder Ereignisse verhindern möchten, wie dies im folgenden teleologischen Beleg der Fall ist: 4. (S1) Darüber hinaus haben wir große Aufgaben zu bewältigen gehabt. (S2) Wir haben nicht nur, was die griechische Finanzkrise angeht, eine große Arbeit zu erledigen gehabt, sondern wir haben es auch bewirken müssen, dass der Euro und damit auch Europa insgesamt in schwierigster Zeit stabilisiert wurde. (S3/1) Jetzt sind wir [Figure 1 = Agens] in den Gesprächen darüber, (S3/ 2) welche Konsequenzen [Ground 1 = betroffener Sachverhalt] wir [F 1] daraus ziehen müssen, (S3/3) welche strukturellen Konsequenzen [G 1=Instrument]19 daraus gezogen werden müssen, (S3/4) damit eine solche Krise des Euro [G 2 = betroffener Sachverhalt] – bestmöglich – nicht noch einmal eintreten kann.20 (Gudio Westerwelle, BPK 2010, Z. 132–137) Kognitionslinguistische Visualisierung des Belegs 4 mit dem Modalverb können in Kombination mit Negation:

19 Metaphorisch kann das Substantiv Konsequenzen als Instrument zur Prävention einer weiteren Krise des Euro interpretiert werden. 20 Um die Interpretation dieser kognitionslinguistischen Abbildung zu erleichtern, werden hier auch die dem Satz mit dem Beleg zum Gebrauch des Modalverbs können in Kombination mit Negation ebenfalls zitiert.

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9 Eine kognitionslinguistische Untersuchung von Sätzen mit Modalverben

Das Quadrat symbolisiert das Agens wir als Agonist/inn/en in der Position der Figure und stellt ein politisch handelndes Kollektiv dar. Diesem Kollektiv gehörte Guido Westerwelle als Außenminister zum Zeitpunkt der Äußerung ebenfalls an. Dies begründet folglich den Punkt in der Mitte des Quadrats als Symbol für den Author. Die Überschneidung des Agens mit dem Author würde im Fall einer zu erfolgenden Dynamik auf eine author causation in Überschneidung mit einer agent causation schließen. Der Author und das kollektivierende Agens streben den Äußerungen Westerwelles zufolge eine Dynamik an – deshalb das Plus-Zeichen im Quadrat –, um eine in Anschluss an die Wirtschaftskrise im Jahr 2009 womöglich entstehende weitere Krise des Euros zu verhindern. Das Modalverb können mit Negation stellt dabei die Perspektive des Sprechers auf den Sachverhalt der Eurokrise heraus. Der Agonist ist mit dem zu verhindernden Ereignis – in der Position des Grounds – verbunden. Wobei gerade diese Tatsache eine kognitionslinguistische Visualisierung – damit auch die hier adaptierten Theorien nach Talmy – bei ihrer Anwendung an ihre Grenzen führt21, dass – wie in diesem Beleg die Krise des Euros – in der politischen Kommunikation häufig Abstrakta verwendet werden. Bei diesen handelt es sich nicht um eine lebende Person als Gegenüber zu den Agonist/inn/en und damit trifft der Begriff Antagonist durch die mangelnde Handlungsfähigkeit eines Abstraktums auf sie nicht zu. Von dem Abstraktum Krise des Euros kann folglich auch keine Kraftausübung in Richtung des Kollektivums wir ausgehen. Jedoch können die Konsequenzen eines aus Sprechersicht als negativ anzusehenden und vermeidbaren Ereignisses oder Sachverhalts das Agens umso härter treffen, weshalb die Linie zwischen dem Abstraktum Krise des Euros und dem Agens wir unterbrochen ist. Die Striche auf der Linie von der Position des Grounds Krise des Euros ausgehend in Richtung der Figure signalisieren entsprechend der Semantik des Modalverbs können mit Negation den diesem negativen Ereignis entgegengesetzten Widerstand. Im Interesse der Anwendbarkeit kognitionslinguistischer Theorien an Belege mit Abstrakta lohnt es sich, sich in solchen schwer darstellbaren Fällen vom Paradigmenpaar Agonist vs. Antagonist zu verabschieden und sich stattdessen auf die Verknüpfung der Entitäten in der Position der Figure und des Grounds zu konzentrieren sowie eine für die jeweilige Äußerung notwendige Darstellung im metaphorischen Sinn vorzunehmen, denn

21 Im Zentrum kognitionslinguistischer Theorien und Modellierung stehen syntaktisch einfache Sätze, in denen Agonist/inn/en und Antagonist/inn/en mit klaren semantischen Rollen einander gegenüberstehen. Bislang richten sich folglich keine Studien auf die Anwendung dieser Theorien in syntaktisch hochkomplexen Sätzen v. a. mit Abstrakta, obwohl gerade die Adaptierung ebendieser Theorien an solche Sätze wie in den hier untersuchten Belegen vielversprechend ist. Der Ertrag der kognitionslinguistischen Forschung wäre v. a. die Visualisierung wenig transparenter Zusammenhänge in politischen Diskursen.

9.3 Kognitionslinguistische Diskussion ausgewählter Sätze mit Modalverben 

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schließlich basieren kognitionslinguistische Theorien ausnahmslos auf metaphorischen Abbildungen. 9.3.1.5 Kognitionslinguistische Diskussion eines Belegs mit dem Modalverb müssen Analog zu den Beobachtungen in den vorangehenden Kapiteln über den musterhaften Gebrauch des Modalverbs müssen wird hier ein müssen-Beleg mit einem teleologischen sowie einem circumstantiellen Redehintergrund angeführt: 5. (S1/1) Libyen [Ground 1] haben wir [Figure 1] ja im Grunde doch schon eine große Aufgabe [Event causation] zugewiesen [Quelldomäne], (S1/2) nämlich dass die libysche Küstenwache [F 2/Agent Causation] die Flüchtlinge [G 2], (S1/3) die sie an Land bringt, (S1/4) dann ja auch wieder beherbergen muss [Zwang, der sich aus S1/1 resultiert]. (Angela Merkel, BPK 2018, Z. 594–596) Kognitionslinguistische Visualisierung des Belegs 5 mit dem Modalverb müssen:

Der teleologische Redehintergrund lässt sich mit der Unterbringung der Flüchtlinge als Zielsetzung erklären. Die circumstantielle Komponente geht auf S1/1 „Libyen [Ground] haben wir ja im Grunde doch schon eine große Aufgabe zugewiesen“ als Handlungsrahmen zurück. Beim Beleg 5 liegen mehr miteinander agierende Entitäten als in den bisherigen Belegen vor, deshalb musste bei der Visualisierung zusätzlich zur Kennzeichnung der Agonist/inn/en und Antagonist/inn/en in der Position der Figure und des Grounds neben dem Quadrat und dem Kreis auch noch ein Dreieck eingeführt werden. Die Visualisierungsaufschlüsselung muss hier folglich erklärt werden: Dreieck=Figure 1/Agens in S1/1, Quadrat=Ground in S1/1, aber auch Figure 2/ Agens in S1/2, Kreis=Ground 2 in S2/Patiens, Ereigniskontext 1=BPK 2018, Ereigniskontext 2=Flüchtlingsdiskurs Das Toponym Libyen steht als Entität für den Antagonisten in der Position des Grounds 1 in S1/1. Dem Antagonisten wurde im Rahmen internationaler Vereinbarungen die Aufgabe der Flüchtlingsrettung im Mittelmeer von einem international agierenden Kollektiv – wir als Agonist/inn/en in der Position der Figure 1 –, zu dem auch die Kanzlerin gehört, aufgetragen. In S1/2 fungiert das Agens – die libysche Küstenwache – in der Rolle des Agonisten und in der Position der Figure 2,

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9 Eine kognitionslinguistische Untersuchung von Sätzen mit Modalverben

von dem aus unter Zwang der Figure 1 in S1/1 – wir – Flüchtlinge (Patiens) eine Kraftausübung ausgehen muss. Die Dynamik zwischen Figure und Ground in S1/2 entstammt der Quelldomäne aus S1/1. Der Ursprung der Quelldomäne ist die Nominalphrase eine große Aufgabe. Sie geht auf eine internationale Vereinbarung mit Libyen zur Unterbringung der Flüchtlinge zurück, die aus dem Weltwissen präsupponiert wird. Die aus Sicht von Angela Merkel – in der Darstellung mit einem Punkt im Dreieck als Autorin und Agentin zugleich in S1/1 markiert – vorhandene Notwendigkeit zur Unterbringung der Flüchtlinge wird auf der linken Seite des Modells mit enger Strichelung dargestellt. Die Wurzel dieses Handlungszwangs liegt in der Semantik des „verpflichtenden“ Modalverbs müssen und wird in S1/1 von der Position der Figure ausgehend auf die Position des Grounds ausgeübt. Dieser nimmt in S1/2 wiederum die Position der Figure ein – die libysche Küstenwache – und soll einen dynamischen Prozess in Richtung des Grounds – Flüchtlinge – in Bewegung setzen. Zwischen dem Agens in S1/1 – wir – und dem Patiens in S1/2 – Flüchtlinge – wird eine indirekte Kraftübertragung von der libysche[n] Küstenwache ausgehend in Richtung der Flüchtlinge initiiert. Diese zwischen Agens und Patiens eintretende Kraftübertragung wird mit einer weiten Strichelung markiert und geht mit der Semantik des Modalverbs müssen im Sinne einer Verpflichtung als Folge des Umstands zwischenstaatlicher Verhandlungen einher, die gleichzeitig auch die Perspektive der Sprecherin visualisiert. Ein für eine kognitionslinguistische Visualisierung geeignete Beleg für das Modalverb müssen in Kombination mit Negation lag im ganzen Korpus nicht vor. Die Ursache dieses Befunds liegt neben der bei müssen sehr geringen Negationsfrequenz von ca. 2 % hauptsächlich darin, dass die Aussprache von Möglichkeiten nicht mit dem aufgrund seiner Semantik negativ geframten Modalverb müssen in Kombination mit einer Negation erfolgt.22 Möglichkeiten werden – wie in den vorangehenden Kapiteln kontinuierlich aufgezeigt – mit dem semantisch positiv geframten Pedant von [müssen+nicht] oder [müssen+ nicht+Vollverb], nämlich mit dem Modalverb können verbunden. Bei den wenigen Belegen, die das Modalverb müssen in Kombination mit Negation beinhalten, wurde ein für den politischen Sprachgebrauch nicht unüblich hoher Grad an metaphorischer bzw. personifizierender Sprachverwendung23 benutzt, so dass eine kognitionslinguistische Visualisierung nicht möglich war.

22 Im ganzen Korpus weisen insgesamt nur 8 müssen-Belege eine Kombination mit dem Negator nicht auf. 23 Hier wird zur Nachvollziehbarkeit dieser Feststellung ein Beleg für [nicht+müssen] angeführt, der im Sinne von nicht sollen verwendet wurde: „Das muss uns nicht leiten. Leiten müssen uns unsere Werte. Man muss nur wissen, was man auch anrichtet.“ Dabei handelt es sich um eine Antwort von Angela Merkel auf die Journalistenfrage „Befürchten Sie also eine Ost-West-Spaltung

9.3 Kognitionslinguistische Diskussion ausgewählter Sätze mit Modalverben 

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9.3.2 Kognitionslinguistische Diskussion ausgewählter Sätze mit zielbezogenen Modalverben 9.3.2.1 Kognitionslinguistische Diskussion eines Belegs mit dem Modalverb mögen Wie in den empirischen GroßKapiteln 6 bis 8 zu den Bundespressekonferenzen 1990 und 2013 und im statistischen Kapitel 4 mehrfach konstatiert, ist das zielbezogene Modalverb mögen sowohl im Indikativ als auch im Konjunktiv II (möchte-) aufgrund seines schwachen volitiven Charakters nur in Ausnahmefällen zu beobachten, gelegentlich als feste Form in idiomatischen Konstruktionen wie [ich +möchte+sagen]24 oder wie im folgenden Beleg, in dem das Modalverb mögen im Konjunktiv II in der ersten Person Singular mit dem volitiven und zugleich teleologischen Redehintergrund steht: 6. (S1/1) Und ich hoffe, (S1/2) dass ich das in dem Geist, (S1/3) wie ich es einmal zu Beginn gesagt habe, (S1/4) auch weiter tun kann, (S1/5) nämlich in dem Geist, (S1/6) dass ich [Figure = Agens] Deutschland [Ground = Benefaktiv] auch dienen möchte und eine von vielen bin, (S1/7) die ihre Verantwortung wahrnehmen, (S1/8) aber eben als Bundeskanzlerin versuche, (S1/9) meine Pflicht zu tun.25 (Angela Merkel, BPK 2018, Z. 943–946) Kognitionslinguistische Visualisierung des Belegs 6 mit dem Modalverb mögen (Konjunktiv II):

Der Ereigniskontext ist zum einen die Bundespressekonferenz 2018, zum anderen die Bundestagswahl im Jahr 2018, denn Merkel appelliert hier für eine weitere Le-

[unter den Mitgliedstaaten der Europäischen Union] oder nicht?“ im 2015 hochaktuellen Flüchtlingsdiskurs in der Sommerbundespressekonferenz 2015. 24 Vgl. die Analyse dieser Konstruktion in den Abschnitten 6.2.2.2 und 8.3.1zu Modalverben nach dem Muster [ich+MV+sagen]. 25 Die mögen- bzw. möchte(n)-Belege eignen sich zwar für eine konstruktionsgrammatische und eine interaktionslinguistische Untersuchung, aber nur selten für eine kognitionslinguistische Analyse nach Talmy. Dieser Satz mit dem Modalverb mögen ist also eine Ausnahme für den Gebrauch von mögen im Korpus, insbesondere im Zusammenhang mit der Kausalitätstheorie und der kräftedynamischen Theorie.

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9 Eine kognitionslinguistische Untersuchung von Sätzen mit Modalverben

gislaturperiode mit ihr als Kanzlerin. Angela Merkel als Bundeskanzlerkandidatin steht in S1/6 als Agens und zugleich als Agonistin in der Position der Figure, gekennzeichnet in dem Quadrat. Sie projiziert von dieser Position aus mit dem Modalverb mögen als Konjunktiv II möchte in der 1. Person Singular ihren inneren Wunsch – als volitivem Redehintergrund – und bringt zum Ausdruck, dass sie das Ziel verfolgt, der Bundesrepublik Deutschland (Benefizient) in der Position des Grounds zu dienen, in dem Modell – wie auch in den bisherigen Modellen – mit einem Kreis dargestellt. Ob der Weg für eine Kraftausübung frei ist, ist unklar. Fokussiert wird in diesem Ereigniskontext neben der Figure die Positionierung der Sprecherin, also der intrasubjektive Wunsch der Figure, die eine Veränderung in der Welt herbeiführen möchte, aber sich noch nicht sicher sein kann, ob sie eine Dynamik auslösen können wird. Der Gebrauch des kräftedynamisch und auch – wie bereits erwähnt – semantisch betrachtet schwach ausgeprägten Modalverbs mögen im Konjunktiv II wird hier mit dem Fehlen der Faktizität und der damit einhergehenden Unsicherheit erklärt. Die Kraftausübung ist also noch hypothetisch und wird mit einer unterbrochenen Linie gekennzeichnet, die Intention der Sprecherin wird hingegen über die Aufmerksamkeitsverschiebung zwischen Figure und Ground bzw. die Perspektivierung herausgestellt. Die Quelldomäne ist in diesem Fall unsichtbar. Der Zusammenhang der Ursache und der Wirkung kann ebenfalls vom Kontext erschlossen werden. Nach den Ergebnissen der Großkapitel 6 bis 8 zu den Bundespressekonferenzen 1990 und 2013 sowie des alle Modalverben im Korpus umfassenden statistischen Kapitels 4 ist mein Befund in diesem kognitionslinguistischen Kapitel wohl wenig überraschend, dass nicht viele negierte Belege im Korpus für das Modalverb mögen/möchte- festzustellen waren. Diese Tatsache geht damit einher, dass der Modalverbgebrauch in der politischen Kommunikation vorwiegend die Zielsetzung fokussiert. Die starke Fokussierung trifft nicht nur auf den Einsatz zielbezogener Modalverben zu, sondern auch auf die handlungsraumbezogenen Modalverben. Deshalb konnte in den letzten Kapiteln so häufig eine Überschneidung des circumstantiellen Gebrauchs mit einem teleologischen Gebrauch festgestellt werden. Dieser zielbezogene Einsatz der Modalverben steht folglich der Semantik von möchte nicht entgegen. Die 8 [möchte+nicht]-Belege im Korpus eignen sich jedoch zum einen aufgrund des idiomatischen Charakters, zum anderen aufgrund der schwach ausgeprägten Semantik der Konstruktionen mit dem konjunktivischen Modalverb möchte und dem damit einhergehenden Fehlen der Kräftedynamik nicht für eine kognitionslinguistische Visualisierung.

9.3 Kognitionslinguistische Diskussion ausgewählter Sätze mit Modalverben



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9.3.2.2 Kognitionslinguistische Diskussion eines Belegs mit dem Modalverb wollen Das zielbezogene Modalverb wollen befindet sich im Unterschied zu mögen/möchte hinsichtlich seines Gebrauchs an der Schnittstelle zwischen teleologischem und volitiven Redehintergrund, wie in den früheren Kapiteln dieser Arbeit mehrfach beobachtet werden konnte. Ein solcher Gebrauch schlägt sich im folgenden Beleg 7 nieder: 7. (S1/1) Wir haben verabredet, (S1/2) dass wir [Figure = Agens] die Tarifbindung [Ground = betroffener Sachverhalt] erhöhen wollen durch die Verbesserung der Allgemeinverbindlichkeit von Tarifverträgen [Quelldomäne = Instrument]. (Sigmar Gabriel, BPK 2013, Z. 222–223) Kognitionslinguistische Visualisierung des Belegs 7 mit dem Modalverb wollen:

Auch in diesem Beleg sind mehrere Ereigniskontexte zu beobachten: Der Ereigniskontext 1 ist die Bundespressekonferenz 2013. Hinzu kommt noch ein zweiter Ereigniskontext, der die Verhandlungen zum Zustandekommen der Großen Koalition zwischen 2013 und 2017 beinhaltet. Das Quadrat stellt – wie bisher auch – die Figure dar, der Kreis den Ground, mit Z für Ziel in der Mitte des Kreises. In S1/2 steht das Agens in Form des Personalpronomens wir in der Rolle als Agonisten sowie in der Position der Figure und schließt auch den Author mit ein. Der Author als Teil des Agens will eine Veränderung in der Welt bewirken und eine imaginäre Kraft zur Verwirklichung des Ziels, also zur Erhöhung der Tarifbindung (Ground) als betroffenem Sachverhalt, auslösen. Der Wille des Sprechers stimmt aus Sprechersicht mit dem Willen des kollektiven Agens überein. Im Bereich der Quelldomäne befindet sich das für die Umsetzung des Ziels notwendige Instrument, nämlich die „Allgemeinverbindlichkeit von Tarifverträgen“. Dieses wird im Präpositionalgefüge als Instrument zur Zielsetzung durch die Extralokation (vgl. Fábián 2018a) im Nachfeld, also nach der rechten Satzklammer syntaktisch ebenfalls fokussiert. Ob der Weg für eine imaginäre Kraftausübung zwischen Figure und Ground offen ist, bleibt undeutlich. Die Perspektive des Agens, der auch den Author in diesem Fall umfasst, wird in diesem Beleg herausgestellt, die Dynamik der Kräfte bleibt hingegen verborgen. Das Modalverb wollen intendiert jedoch die Versprachlichung des Versuchs, um die zum Erreichen des Ziels notwendige Dynamik

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9 Eine kognitionslinguistische Untersuchung von Sätzen mit Modalverben

auszulösen. Die Intention des Sprechers, die durch das Modalverb wollen ausgedrückt wird, ist stärker als im möchte-Beleg 6, denn die Semantik des Modalverbs wollen ist allein modalverbsystematisch stärker als die Semantik des Modalverbs mögen im Konjunktiv II. Dieser semantische Unterschied hinsichtlich der Stärke der Volitivität wird im obigen Modell zu Beleg 7 dadurch markiert, dass die Linie zwischen Figure und Ground im Vergleich zu Beleg 6 schwarz und nicht grau gestrichelt ist und so klar verdeutlicht, dass die für die Durchsetzung des Ziels notwendige Intention im Beleg 7 im Vergleich zu Beleg 6 in einem stärkeren Ausmaß vorhanden ist. Dies führt folglich dazu, dass die auf die Kraftausübung gerichtete Bemühung intensiver ausfällt als im Beleg 6 mit dem Modalverb möchte. 9.3.2.3 Kognitionslinguistische Diskussion eines Belegs mit dem Modalverb wollen in Kombination mit Negation Der Gebrauch des Modalverbs wollen in Kombination mit Negation ist für Bundespressekonferenzen statistisch gesehen atypisch. Die Konstruktion [nicht+wollen] tritt bei insgesamt 207 wollen-Belegen nur 23-mal auf. Diese Belege entstammen bis auf einen Beleg der Diskussion mit Journalist/inn/en in Konstruktionen wie „Ich will es nicht kommentieren.“ und sind damit interaktionslinguistisch besonders relevant, dennoch – wie die meisten interaktionslinguistisch relevanten Belege – schlecht geeignet für eine kognitionslinguistische Darstellung. Nur in wenigen Belegen kommt es zum Einsatz von wollen in Sätzen mit Negation – genauso wie auch ohne Negation – als Teil einer Prävention. Weil in der Politik die kommunikative Handlung der Prävention zum politischen Alltag gehört, sind diese wenigen Belege aus pragmatischer und diskursiver Sicht salient. Hier der folgende Beleg 8 mit dem Modalverb wollen mit Negation an der Schnittstelle zwischen einem teleologischen und einem volitiven Redehintergrund: 8. (S1) Sicherer Wohlstand für die Menschen im Lande. (S2) Das ist das Ziel unserer Arbeit. (S3/1) Das ist für mich von besonderer Wichtigkeit und für die christlich-demokratische Union, (S3/2) dass wir gesagt haben, (S3/3) wir [Figure=Agens] wollen die Steuern [Ground = betroffener Sachverhalt] nicht erhöhen. (S4) Keine Steuererhöhung, weil wir glauben, dass das gut ist für den Mittelstand, für die kleinen Unternehmen, für diejenigen, die in unserem Land Arbeitsplätze schaffen und die damit auch Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern Sicherheit geben. (Angela Merkel, BPK 2013, Z. 28–33) Kognitionslinguistische Visualisierung des Belegs 8 mit dem Modalverb wollen in Kombination mit Negation:

9.3 Kognitionslinguistische Diskussion ausgewählter Sätze mit Modalverben 

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Die Aussage der Kanzlerin der Bundesregierung 2013 bis 2017 geschieht im Ereigniskontext der Bundespressekonferenz anlässlich des Zustandekommens der Koalition zwischen CDU/CSU und SPD. Das Personalpronomen wir als Agens symbolisiert die Agonist/inn/en in der Position der Figure mit einem Quadrat, in dessen Mitte ein Punkt als Kennzeichnung für Angela Merkel steht. Denn hier schließt das kollektivierende Personalpronomen wir auch die ehemalige Kanzlerin mit ein. Der Kreis steht – weiterhin – für den Ground in der Mitte mit „– Z“ als Ziel. In dieser Bundespressekonferenz werden die Vereinbarungen der künftigen Koalitionspartner angekündigt. Das Modalverb wollen in Kombination mit Negation und dem Vollverb erhöhen wird folglich als Teil einer Vereinbarungsankündigung eingesetzt. Im Fokus dieses Gebrauchs steht das Ziel – keine Steuererhöhung als betroffener Sachverhalt –, womit der teleologische Redehintergrund begründet werden kann. Die volitive Komponente tritt dadurch hinzu, dass die Kanzlerin und andere Teilnehmer/innen der Koalitionsverhandlungen die Intention – in diesem Fall kann man wohl nicht von einem Wunsch sprechen – zu hegen scheinen, keine Steuererhöhungen anzustreben. Es handelt sich bei dem Beleg um eine Überschneidung zwischen Author- (Angela Merkel) und Agent-Causation (wir). Da auch hier – wie in vielen anderen Fällen in der politischen Kommunikation – ein Abstraktum (Steuererhöhung) verwendet wird, kann man wohl auch hier nicht von dem Paradigmenpaar Agonist vs. Antagonist ausgehen. Weiterhin besteht aber eine Verbindung zwischen Figure (wir) und Ground (Steuererhöhungen). Die kontinuierliche Linie zwischen den beiden Entitäten steht für diese Verbindung. Die vertikale Linie symbolisiert die Semantik des Modalverbs wollen in Kombination mit Negation, denn aufgrund der Intention der Sprecherin im Namen der künftigen Großen Koalition soll keine Kraftausübung und damit auch keine dynamische Bewegung zwischen der Position der Figure in Richtung der Position des Grounds erfolgen. Der Gebrauch dieses Belegs fokussiert folglich keine Bewegungen, umso stärker jedoch die Perspektive der Sprecherin auf den Sachverhalt und die Verschiebung der Aufmerksamkeit zwischen den Entitäten.

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9 Eine kognitionslinguistische Untersuchung von Sätzen mit Modalverben

9.3.2.4 Kognitionslinguistische Diskussion eines Belegs mit dem Modalverb sollen In den vorangehenden Kapiteln wurde nachgewiesen, dass sollen im Korpus der Bundespressekonferenzen – wie auch das handlungsraumbezogene Modalverb müssen – mit dem circumstantiellen oder dem teleologischen Redehintergrund musterhaft gebraucht wird, oft in Überschneidung miteinander wie im folgenden Beleg 9: 9. (S1/1) Deshalb haben wir [Figure 1 = Agens] die dazu gehörige Kommission [Ground 1 = Patiens] eingesetzt wie übrigens eine Vielzahl anderer Kommissionen auch, (S1/2) die [Kommission aus S1/Figure 2 = Agens] bis 2020 ihren Bericht [Ground 2 = Patiens als betroffene Sache] vorlegen soll, (S1/3) wie sich denn das Rentensystem nach 2024 weiter entwickeln wird. (Angela Merkel, BPK 2015, Z. 62–64) Kognitionslinguistische Visualisierung des Belegs 9 mit dem Modalverb sollen:

Der Ereigniskontext 1 ist die Bundespressekonferenz 2015 und der Ereigniskontext 2 ist das Änderungsverfahren des Rentensystems. Das kollektive Agens wir in S1/1, das auch den Author miteinschließt – wie bisher mit einem Punkt in der Mitte des Quadrats –, stellt die Antagonist/inn/en in der Position der Figure dar, die die Kommission (in S1/1 Ground und in S1/2 Figure, deshalb die Überlappung des Quadrats mit einem Kreis) zur Umsetzung eines Ziels bewegen wollen. Dieses Ziel richtet sich auf die Erstellung eines Prognoseberichts über das Rentensystem. Die Intention der Kanzlerin schlägt sich im Gebrauch des Modalverbs sollen nieder, das nicht nur auf ein Ziel ausgerichtet ist, sondern für die Kommission in S1/2 auch einen extrasubjektiven Zwang darstellt. Die semantische Stärke des Modalverbs sollen fällt in diesem Beleg im Vergleich zu mögen – Konjunktiv II – und wollen – in den Belegen 6 und 7 deutlich stärker aus, deshalb wird die Stopp-Strichelung der im Modell 9 sichtbaren Linie gesteigert. Ob der Weg zur Erreichung der Zielsetzung frei ist, ist im Satz unklar. Jedoch wird die Perspektive der Sprecherin als Weisungsbefugte im Zusammenhang mit dem Sachverhalt durch den Einsatz des Modalverbs sollen bekannt. Man kann durch das Weltwissen – Kenntnisse über die Funktion einer Kommission – davon ausgehen, dass einer Kraftausübung in der Zukunft nichts im Wege stehen dürfte. Der Zusammenhang zwischen Ursache

9.3 Kognitionslinguistische Diskussion ausgewählter Sätze mit Modalverben 

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und Wirkung lässt sich durch das Verhältnis des S1/1 zu S1/2 erschließen, denn eine Kommission muss für die Erstellung eines Berichts (S1/2) zuerst überhaupt erst zustande kommen, was das kollektive Agens in S1/2 im Ereigniskontext bereits bewirkt hat. Die Aufmerksamkeitsverschiebung von Figure zu Ground stellt hier die Fortschritte im Kontext des politischen Verfahrens dar und signalisiert, dass eine Kraftausübung künftig erfolgen wird. 9.3.2.5 Kognitionslinguistische Diskussion eines Belegs mit dem Modalverb sollen mit Negation Wie die bisherigen Beleganalysen und die Statistiken zeigen, ist der Gebrauch des Modalverbs sollen in Kombination mit Negation ähnlich den anderen negierten Modalverben ebenfalls recht selten – es gibt nur 12 Belege der Konstruktion [nicht +sollen] im ganzen Korpus. Bei diesem einen Beleg handelt es sich jedoch um einen diskurssalienten teleologischen Beleg im Kontext der Wiedervereinigung Deutschlands, der hier angeführt und anschließend visualisiert wird: 10. (S1) Nach Abzug der sowjetischen Truppen aus dem Gebiet der heutigen DDR und aus Berlin können in diesem Teil Deutschlands auch der NATO angegliederte Truppen stationiert werden, allerdings ohne für Atomwaffen verwendbares Abschussgerät. (S2) Ausländische Truppen und Atomwaffen [Figure = Patiens] sollen nicht dorthin [Ground = Path] verlegt werden. (Helmut Kohl, BPK 1990, Z. 140–143) Kognitionslinguistische Visualisierung des Belegs 10 mit dem Modalverb sollen mit Negation:

Wie in den anderen Modellen, wird die Figure ebenfalls mit einem Quadrat gekennzeichnet. Der Kreis stellt die Figure dar, in der Mitte mit „– Z“ für das zu vermeidende Ziel. Der Beleg geht auf Kanzler Helmut Kohl zurück und fand im Ereigniskontext der Bundespressekonferenz am 17.07.1990 als Teil einer Ankündigung im Zusammenhang mit der Wiedervereinigung Deutschlands statt. Das Modalverb sollen in Kombination mit Negation wird teleologisch gebraucht, obwohl die Zielsetzung sich hier im Unterschied zu sollen ohne Negation auf das Nichteintreten bzw. indirekt gar die Verhinderung eines Sachverhalts richtet. Infolge der Agens-

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demolierung über das Vorgangspassiv in diesem Beleg treten die Agonist/inn/en und Antagonist/inn/en in den Hintergrund. Folglich kann nur die Verbindung zwischen Figure – ausländische Truppen und Atomwaffen als Patiens – und Ground – dorthin stellvertretend für das Verlegunsgziel DDR und Berlin in S1 als Path – festgestellt werden. Dabei wird durch die Semantik des Modalverbs die Perspektive der Gesprächsteilnehmer/innen dieser Verhandlungen – v. a. der ehemalige Präsident Gorbatschow und Helmut Kohl – wiedergegeben. Auch diese Äußerung hat einen präventiven Charakter, da das Eintreten des zu vermeidenden Sachverhalts aus dieser Sicht kollektiv als nicht wünschenswert angesehen wird. Trotz der Verbindung der Figure mit dem Ground wird folglich overt, dass kein Transfer und damit auch keine Dynamik der Kräfte erfolgen soll. Deshalb wird die Barriere auf der Linie zwischen den Substantiven ausländische Truppen und Atomwaffen in der Position der Figure in Richtung der Lokaladverbiale dorthin mit einem Strich gekennzeichnet. Der große Strich in Fettdruck in der Mitte markiert die Barriere zwischen den Entitäten. Diese Barriere fällt in diesem Modell nicht so stark aus wie in den Modellen, die die kognitionslinguistische Semantik der Modalverben dürfen und können mit Negation – können im Sinne von nicht dürfen darstellen.

9.4 Fazit Die kognitionslinguistische Beleganalyse mit der Visualisierung hat gezeigt, dass die Dimensionen der Kräftedynamik, der Aufmerksamkeitsverschiebung und der semantischen Rollen mithilfe der starken semantischen und kognitiv suggestiven Wirkung der Modalverben politische Machtverhältnisse und nationale und internationale politische Handlungen (primär Handlungsmöglichkeiten und Handlungsnotwendigkeiten, aber gelegentlich auch Handlungseinschränkungen und Erlaubnisse) hervorheben. Der Vorhersehbarkeit und der Transparenz von politischen Handlungsprozessen in turbulenten Zeiten, in denen die Politikverdrossenheit insbesondere unter jüngeren Bürger/inne/n zunimmt, kommt eine immer größere Rolle zu. Die kognitionslinguistische Darstellung der Perspektiven ist wie auch eine kräftedynamische Visualisierung im Interesse der politisch interessierten, aber nicht unbedingt über eine tiefgreifende fachliche Expertise verfügenden Öffentlichkeit sinnvoll. Denn diese kann zum Verständnis der kognitiven Verarbeitung politischer Inhalte bei den Wähler/inne/n beitragen und vor allem Verständnis für die unterschiedlichen Perspektiven der unterschiedlichsten Akteure/Akteurinnen in der politischen Parteienlandschaft etablieren. Die große Leistung kognitionslinguistischer Analysen und ihrer Visualisierung liegt also darin, sprachliche Handlungen in Äußerungen von Politiker/inne/n unter besonderer Berücksichtigung der Modalverben mit Blick auf die Kraftausübung zwischen den Entitäten ge-

9.4 Fazit 

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nau darzustellen. Kognitionslinguistische Darstellungen des Modalverbgebrauchs ermöglichen damit die sprachlichen Perspektiven und Erfolgschancen der Handlungen der Politiker/innen zu erfassen. Die handlungsraumbezogenen Modalverben dürfen, können und müssen zeigen in der kognitionslinguistischen Darstellung, dass eine Kraftausübung zwischen Agonist/in und Antagonist/in bzw. Figure und Ground ausgelöst werden kann. Sie geben Auskunft darüber, ob der für eine Kraftausübung notwendige Weg frei ist, um einen Handlungsablauf zu starten. Im Fall einer Negation im Zusammenhang mit handlungsraumbezogenen Modalverben tritt genau das Gegenteil ein: Der negierte Gebrauch der Modalverben dürfen und sollen signalisiert, dass der für die Durchführung der Kraftausübung notwendige Weg zwar nicht blockiert ist, aber aus Sicht der Sprecher/innen eine Kraftausübung nicht erfolgen sollte. Der Einsatz von nicht müssen verdeutlicht hingegen, dass es der Agonistin/ dem Agonisten freisteht, sich zu entscheiden, ob sie/er eine auf eine Handlung ausgerichtete Kraftausübung durchführen wird oder nicht. Der Weg für diese Entscheidung wird sinngemäß nicht blockiert. Diesen Ausführungen folgend schließe ich mich Roche & Suñer Muñoz (2014: 135) an, die betonen, dass „modalitätsspezifische Aspekte der Bedeutung grammatischer Strukturen […] eine zentrale Rolle bei ihrer Verarbeitung [spielen]. […] Daraus ergibt sich also, dass die Darstellung bedeutungstragender Elemente wie Kraft/Dynamik und Energietransfer jeweils für das Verständnis der Modalverben essentiell ist“. Die zielbezogenen Modalverben mögen/möchte-, sollen und wollen fokussieren hingegen das Ziel selbst. Über diese Subklasse der Modalverben wird zwar die Position der Sprecher/innen verdeutlicht, aber es ist noch unsicher, ob der Weg für die Kraftausübung zur Verwirklichung des Ziels frei ist oder ob dieser noch etwas im Weg steht. Wie wir es v. a. im Beleg 10 von Helmut Kohl im Zuge der Ankündigungen der Vereinbarungen mit der Sowjetunion zur Wiedervereinigung zum Modalverb nicht sollen beobachten konnten, kann man trotz eines fehlenden physiologisch wahrnehmbaren Bewegungsablaufs zwischen dem durch das Vorgangspassiv aus dem Kontext zu rekonstruierenden Agens und dem Patiens neben der Schilderung politischer Ereignisse und Handlungen auch den Stand politischer Prozesse kognitionslinguistisch abbilden. Die Darstellung der Modelle zum Gebrauch zielbezogener Modalverben hat außerdem auch verdeutlicht, dass sich die Einstellung der Sprecher/innen – oft Figure oder Teile der Figure – zu einer politischen Zielsetzung – Ground – ebenfalls gut darstellen lässt. Wie wir es bei der Diskussion einzelner Modalverben beobachten konnten, sind die Kausalität und Prozessualität von Ereignissen und damit untrennbar verbunden deren Ursache und Wirkung mit Blick auf die Transparenz in politischen Aushandlungsprozessen ebenfalls relevant für eine kognitionslinguistische Modalverbanalyse. Modalverben und ko-

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gnitionslinguistische Untersuchungen sind folglich sehr eng miteinander verbunden und sinnvoll für die Erforschung der Intentionen in der politischen Kommunikation. Denn wie eingangs in dieser Monografie postuliert, stellen Modalverben folglich die Projektion von intrasubjektiven Intentionen und Wünschen, von extrasubjektiven Zwängen und Notwendigkeiten sowie von Handlungs- und Entscheidungskompetenzen dar, die insbesondere im politischen Handlungskontext zentral sind. Musterhaft für die politische Kommunikation sind komplexe Sätze mit mehreren Modalverben, die die Kausalität zwischen Ursache und Wirkung in den Hintergrund rücken und die Position der Sprecher/innen im Ereigniskontext zum Ground darstellen. Die Komplexität der Syntax, der häufige Einsatz von Abstrakta oder auch ein stark metaphorischer Sprachgebrauch erschweren eine kognitionslinguistische Darstellung erheblich. So stößt die Kognitionslinguistik hinsichtlich einer bildschematischen Visualisierung bei der Darstellung versprachlichter komplexer Zusammenhänge immer wieder an ihre Grenzen. Die Schwächen kognitionslinguistischer Visualisierungen werden insbesondere dann besonders spürbar, wenn diese über Satzgrenzen hinaus versprachlicht sind. Dieser Befund ist insofern erstaunlich, da in den kognitionslinguistischen Theorien gerade die Visualisierung der Kraftausübung und der Aufmerksamkeitsverschiebung zwischen den Entitäten zentrale Anliegen sind und diese über Satzgrenzen hinweg wirken. Wie wir es an den Beleganalysen beobachten konnten, lag der Fokus auf den kognitionslinguistisch relevanten Dimensionen der Offenlegung der Perspektiven, die auch jenseits von Einzelsätzen möglich waren. Diese Schwierigkeiten bei der Visualisierung konnten jedoch unter leichter Abwandlung der Theorien nach Talmy überwunden werden. Insbesondere das integrative Forschungsdesign bestehend aus mehreren kognitionslinguistischen Dimensionen war dabei hilfreich, diese Barriere bei der Darstellung zu überwinden. Die diskutierten Theorien halfen außerdem dabei, die Auswirkungen der Prozessualität, der Kausalität und der Perspektiven auf die Organisation der grammatikalischen Satzstruktur darzustellen.

10 Gesamtfazit In der vorliegenden Arbeit wurde bei den Modalverbanalysen an einem Korpus aus neun Bundespressekonferenzen im Zeitraum von 1990 bis 2018 nachgewiesen, dass Modalverben im Kontext aufgrund ihrer vielseitigen Semantik und den vielfältigen pragmatischen Funktionen Rückschlüsse auf die Argumentation erlauben und textsortenspezifische Informationen über die Argumentationsweisen in Bundespressekonferenzen zulassen. Bevor diese Erkenntnis, die in den einzelnen Kapiteln bereits analytisch und exemplarisch mehrfach belegt wurde, abschließend detailliert resümiert wird, werden die Aspekte für die Korpusauswahl sowie die diskursiven Korpuseigenschaften – Kapitel 1 Korpus und Methodik – zusammengefasst. Die Politikeräußerungen in den neun Bundespressekonferenzen umfassen 61.199 Tokens, in denen der Modalverbgebrauch im Kontext persuasiver Argumentation methodologisch vielseitig analysiert wurde. Die Auswahl der Bundespressekonferenzen ab 1990 bis 2013 erfolgte abhängig von der Verfügbarkeit der jeweiligen Bundespressekonferenz vor der regelmäßigen Protokollierung und Digitalisierung der Bundespressekonferenzen im Jahr 2013, nachdem auf meine Anfrage hin Dr. Helmut Kohl und seine Witwe Mareike Kohl-Richter sowie Gerhard Schröder mir eine ihnen zur Verfügung stehende beschränkte Anzahl von Bundespressekonferenzen aus ihren jeweiligen Regierungszeiten netterweise zur Verfügung stellten. Den ausgewählten Bundespressekonferenzen ist der semantische Aspekt der Kommunikation des Wandels und der Krisenkommunikation inhärent. Die Auswahlgrundlage für eine Berücksichtigung für das Korpus war es, historisch einzigartige Bundespressekonferenzen auf die persuasive Argumentation durch Modalverbeinsatz hin zu untersuchen, in denen Umbrüche verkündet wurden wie v. a. die Ankündigung der Deutschen Einheit (BPK 1990), von Regierungshandlungen zum Jugoslawienkrieg (BPK 1991), die Ankündigung der Prävention gegen PKK-Terroranschläge (BPK 1996) durch Dr. Helmut Kohl (CDU), die Bekanntgabe von Interventionen in Kriegsgebieten und der Verteidigungspolitik der Bundesregierung durch Gerhard Schröder und Joschka Fischer (Bündnis/Die Grüne) (BPK 2002) sowie die Bekanntgabe der Reformen zur Sozialhilfe, also der sogenannten „Agenda 2010“ durch Gerhard Schröder (BPK 2004). Meiner Intention, aus jeder Regierungskoalition zwischen 1990 bis 2018 mindestens eine Bundespressekonferenz analysieren zu können, konnte ich leider nicht nachkommen, da ich trotz Anfrage keine Bundespressekonferenz aus dem Kabinett zwischen 2005 und 2009 erhalten habe. Aus der Zeit der schwarz-gelben Koalition von 2009 bis 2013 konnte ich zu einer Bundespressekonferenz aus dem Jahr 2010 mit Guido Westerwelle (FDP) als Außenminister und Vizekanzler im Kabinett Merkel II Zugang bekom-

https://doi.org/10.1515/9783111245263-010

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men und diese Bundespressekonferenz so in mein Korpus aufnehmen. Zu all diesen Bundespressekonferenzen lagen keine Videoaufzeichnungen vor. Das Protokoll zur Bundespressekonferenz nach dem Zustandekommen des Koalitionsvertrags 2013 habe ich anhand des von Phoenix veröffentlichten Videos selbst erstellen müssen, weil bei dieser Regierungsprotokollant/inn/en fehlten. Der Grund dafür war, dass bei dieser Pressekonferenz nach den Wahlen 2013 um ein Treffen von Parteivorsitzenden (Dr. Angela Merkel/CDU, Sigmar Gabriel/SPD, Horst Seehofer/CSU) und nicht von bereits neu gewählten Regierungsmitgliedern handelte. Die zwei Bundespressekonferenzen aus den Jahren 2015 und 2018 mit Angela Merkel zur Schilderung der humanitären Katastrophe an den Grenzen Europas sowie die daraus ergehende humanitäre Krisenprävention der Regierung (große Koalition bestehend aus der Union und der SPD) lagen bereits protokolliert öffentlich zugänglich und digital vor. Die Protokolle zu den Pressekonferenzen „im Wortlaut“ aus der Regierungszeit Merkel seit Ende Oktober 2013 (Kabinett Merkel III und Kabinett Merkel IV) mussten nach einem Abgleich mit den zu diesen Bundespressekonferenzen veröffentlichten Videos jedoch erheblich korrigiert werden. Dieser erschwerte Zugang zu Korpora vor der Zeit der digitalen Ära in der politischen Kommunikation stellt zeithistorische Arbeiten, so auch diese Monografie, in ihrer Umsetzung vor erhebliche Schwierigkeiten. Vermutlich deshalb haben solche linguistischen Projekte einen Seltenheitscharakter. Eine weitere Schwierigkeit für eine zusätzliche konversationsanalytische Untersuchung ging mit der unpräzisen Protokollierung der Bundespressekonferenzen einher, die zuerst noch mit vorhandenen Videos abgeglichen und erst analysiert werden konnten. Für konversationsanalytische Forschungsprojekte kann folglich die Konsequenz abgeleitet werden, dass eine Transkription der Protokolle komplett in GAT 2 (Selting et al. 2009) nur dann möglich ist, wenn vorher die sog. „Protokolle im Wortlaut“ mit vorhandenen Videoaufzeichnungen abgeglichen und erheblich korrigiert werden. Bei einem Anspruch zeithistorischer Analysen politischer Korpora aus einem Zeitraum von fast 30 Jahren wie dies in meiner Monografie der Fall ist, lässt sich außerdem ableiten, dass man neben der limitierten Korpusauswahl auch hinsichtlich der Tatsache Kompromisse schließen muss, dass lediglich bei einem Teil des Korpus Tonbandaufnahmen oder Videos verfügbar und konversationsanalytische Untersuchungen folglich nur bei einem Teilkorpus möglich sind. Schließlich ist es wichtig, wenigstens bei einem limitierten Korpus solche seltene konversationsanalytische Erhebungen als Forschungsdesideratum vorzunehmen und auf Transkriptionen basierende konversationsanalytische Erkenntnisse zu politischen Korpora gewinnen zu können. Was den zeitlichen Wandel des Modalverbeinsatzes im Zusammenhang der persuasiven Argumentation anbelangt, wurde im Kapitel 3 Statistische Auswertung des Gesamtkorpus dargestellt, dass der Modalverbgebrauch in den einzelnen

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Bundespressekonferenzen kontrastiv zwar leichte Abweichungen zeigt, die sich auch in der Frequenz niederschlagen, aber diese oft spezifisch von den einzelnen Sprechenden und insbesondere von dem temporalen Status der Diskursobjekte im zeithistorisch-politischen Ereigniskontext, in denen die Pressekonferenzen stattfinden, abhängen und nicht primär mit einem pragmatischen Wandel des Modalverbgebrauchs und der persuasiven Argumentation einhergehen. So fiel die Frequenz zielbezogener Modalverben mit telischem Charakter, also einem konkreten Ziel, in Bundespressekonferenzen mit Handlungsankündigungen, Präventionsintentionen und Problemlösungen höher aus als in Bundespressekonferenzen, in denen primär Ergebnisse von Verhandlungen bekannt gegeben wurden. Bei Ergebnisverkündungen, die in vergangenen politischen Verhandlungsprozessen vereinbart wurden, war die Frequenz zielbezogener Modalverben niedriger. Ein statistisch signifikanter Wandel des Modalverbgebrauchs konnte in dem Zeitraum zwischen 1990–2018 nicht beobachtet werden. Nun widme ich mich der abschließenden Begründung des im Fazit eingangs getroffenen Feststellung, dass Modalverben im Kontext aufgrund ihrer vielseitigen Semantik und den vielfältigen pragmatischen Funktionen Rückschlüsse auf die Argumentation erlauben und textsortenspezifische Informationen über die Argumentationsweisen in Bundespressekonferenzen zulassen. Untersuchungsergebnisse, die aus der Korpusanalyse gewonnen wurden, ermöglichen insgesamt ein besseres linguistisches Verständnis der persuasiven Argumentation in der politischen Kommunikation. Zu dieser Erkenntnis führten die linguistischen Untersuchungsresultate auf der Mikro- (Satzebene), Meso- (Redebeitrags- und Interaktionsebene) und Makroebene (Diskursebene), die unter Anwendung des methodologischen Pluralismus in den einzelnen Kapiteln und auch kapitelübergreifend gewonnen wurden. Die Arbeitsgrundlage dieser Monografie bildet die Entwicklung eines methodologisch flexiblen und integrativen Forschungsdesigns, das im Buch eingangs eingeführt wurde. Für diesen Zweck wurden Ergebnisse aus der Modalverbforschung unterschiedlicher linguistischer Disziplinen zusammengeführt – Grammatik, Semantik, Diskursanalyse, Pragmatik, Konversationsanalyse und Kognitionslinguistik. Der Vorteil der Anwendung des methodologischen Pluralismus ist es, einen in der Linguistik bestehend aus dem Inventar aufgezählter linguistischer Bereiche vielseitigen Forschungsmatrix zu entwickeln. Die Integration dieser Methoden in ein Forschungsdesign ermöglichte durch seine theoretische und methodologische Diversität in den einzelnen Kapiteln und auch über diese hinaus einen Blick auf die unterschiedlichen Aspekte der persuasiven Argumentation, die auf den intentionalen Einsatz von Modalverben im interaktionalen Verfahren Einfluss nahm. Ein methodologisch eindimensionales Forschungskonzept hätte in dieser Tiefe die Darstellung des kommunikationsstrategisch indizierten Einsatzes der Modalver-

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ben für die persuasive Argumentation im Handlungs-, Interaktions- und Diskurskontext nicht möglich gemacht. In den nächsten Passagen werden Erkenntnisse der einzelnen Kapitel subsumiert und anschließend die aus diesen gewonnenen kapitelübergreifenden Ergebnisse für den Zusammenhang zwischen dem Modalverbeinsatz und der persuasiven Argumentation geschildert. Wie in 1.Einleitung in Anlehnung an Langacker (2008), Bubenhofer (2009), Brinker (2010), Bendel Larcher (2015) und Filatkina (2018) unter Hinweis auf die Musterhaftigkeit des Sprachgebrauchs angenommen, konnten auf den verschiedenen sprachlichen Untersuchungsebenen im Korpus der Bundespressekonferenzen die unterschiedlichsten Modalverbgebrauchsmuster erfasst werden. Die Musterbildung erstreckt sich über die grammatischen und semantischen Merkmale der Modalverbverwendung; sie umfasst die Modalverbformen, die Kookkurrenzen der Modalverben (z. B. mit Personalpronomen) und die topologische Integration der Modalverben im Satz (vgl. Kapitel 5 bis 7), außerdem die diskursive (alle Kapitel), die pragmatische (alle Kapitel), die konversationelle (Kapitel 8), die konstruktionsgrammatische (Abschnitt 6.2.2.2 sowie Abschnitt 8.3.1) und die kognitive Ebene (Kapitel 9). Nach der Vorstellung des Untersuchungskorpus in Kapitel 2 wurden mit Kapitel 3 Modalverben im engeren Sinn die Grundlagen für die weitere Untersuchung gelegt, indem der Stand der Modalverbforschung dargestellt und deren Forschungsergebnisse diskutiert wurden. In diesem Kapitel wurde auch die bisher eher rudimentäre Beschäftigung der Konversationsanalyse, der Konstruktionsgrammatik und der Kognitionslinguistik mit den Modalverben als Forschungsdesiderat erkannt. Durch eigene Ergänzungen und Erweiterungen wurden die vorhandenen theoretischen Ansätze für die weiteren empirischen Untersuchungen der Modalverben in den Kapiteln 4 bis 9 unter dem Gesichtspunkt der linguistischen Argumentationsanalyse zusammengeführt und so auf die angestrebte angewandte Arbeitspraxis des methodologischen Pluralismus hin adaptiert. Die Vielfalt der in Kapitel 3 beschriebenen Untersuchungsmethoden bedingt die Multilateralität des integrativen Forschungsdesigns dieser Arbeit. Dieses Design erlaubt einen flexiblen Einsatz unterschiedlicher Methoden bei der Erschließung der Modalverbsemantik und der Modalverbfunktionen im Interaktions- und Diskurskontext mit Blick auf die Argumentation auf den unterschiedlichsten sprachlichen Analyseebenen. Das Forschungsdesign wurde in den jeweiligen Kapiteln auf der Basis der empirischen Korpusanalysen insbesondere in Abschnitt 6.2.2.2 sowie Kapitel 8 weiterentwickelt. In der statistische[en] Auswertung des Gesamtkorpus in Kapitel 4 werden die Modalverben im engeren Sinn ausgehend von der in Kapitel 3 vorgestellten Grundklassifikation nach Hoffmann (2016: 314 f. bzw. 316–324) in „zielbezogene“ und „handlungsraumbezogene“ Modalverben untergliedert. Mit Hilfe einer quantitativen Modalverbanalyse konnte im Korpus der Bundespressekonferenzen zwi-

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schen 1990 und 2018 eine hohe statistische Homogenität nachgewiesen werden. Nur in ganz wenigen Einzelbereichen liessen sich erhöhte Standardabweichungen zwischen den einzelnen Bundespressekonferenzen beobachten. Diese geringfügigen Unterschiede im Korpus sind durch die Thematik (Bericht über Vergangenes oder Zukünftiges oder beides), die Pragmatik (Information, Aufforderung oder Beschwichtigung der Zielgruppe) und bei Mehr-Personen-Pressekonferenzen durch die Sprecherreihenfolge bedingt. Die Analysen aller untersuchten Bundespressekonferenzen, die in dem quantitativ ausgelegten Kapitel zusammengefasst werden, sowie die empirischen Detailanalysen in den weiteren Kapiteln lassen den Rückschluss zu, dass sich die Modalverbverwendung in den Mehr-Personen-Pressekonferenzen diskursiv und pragmatisch nicht signifikant von der Modalverbverwendung in den Ein-Personen-Pressekonferenzen unterscheidet. Die leichten Abweichungen der Modalverbgebrauchsmuster zwischen Pressekonferenzen mit nur einem/einer Politiker/in von denen mit mehreren Politiker/inne/n sind hauptsächlich interaktional bedingt und für die Konversationsanalyse relevant (vgl. Kapitel 8 und hier später im Fazit die Zusammenfassung zu Kapitel 8). Die diskursive und pragmatische Homogenität beim Modalverbgebrauch in den einzelnen Bundespressekonferenzen lässt sich damit begründen, dass Modalverben mit ihren vielfältigen Redehintergründen im politischen Diskurs abhängig von den mit Selbstprofilierung verbundenen Politikerintentionen nach mehr oder weniger festen kommunikationsstrategischen Mechanismen für die politische Legitimation durch persuasive Argumentation eingesetzt werden. Die geringen statistischen Abweichungen im persönlichen Modalverbgebrauch zwischen den Politiker/inne/n bzw. deren Redenschreiber/inne/n oder aus diachroner Sicht des fast 30 Jahre überspannenden Korpus stützen dieses Untersuchungsergebnis ebenfalls. In Kapitel 4 wurden die Modalverben im engeren Sinn, nämlich dürfen, können, müssen, mögen/möchte-, sollen und wollen, im Gesamtkorpus quantitativ analysiert. Daran schloss sich eine methodologische Beschreibung der Korpusanalyse der beiden Bundespressekonferenzen 1990 und 2013 in Kapitel 5 sowie die exemplarische Untersuchung der Redehintergründe in diesen beiden Bundespressekonferenzen in den Kapiteln 6 bis 8. Diese erfolgte nach dem in Kapitel 3 vorgestellten Klassifikationsschema von Zifonun (in Zifonun et al. 1997: 1910). Bei den Untersuchungen ab Kapitel 3 liessen sich im politischen Diskurskontext folgende statistische Tendenzen in der Modalverbverwendung beobachten: – Die Modalverben im Korpus werden fast immer deontisch verwendet. Rein epistemische sowie absolute Verwendungen (wie z. B. bei müssen und wollen) liegen zusammen bei nur 1 % der Modalverbbelege vor. In der politischen Kommunikation ist die Vermittlung eines kompetenten Eindrucks notwendig. Deshalb ist es nachvollziehbar, dass in einer Bundespressekonferenz mit informativer Funktion anstelle von Vermutungen (=Epistemik) Fakten

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und Einstellungen zu politischen Wirklichkeitsentwürfen, Handlungen und Zielsetzungen zum Ausdruck gebracht werden. Auch sind absolute Verwendungen stilistisch markiert und wirken so in der öffentlichen Kommunikation deplatziert. Im Gesamtkorpus dominieren die handlungsraumbezogenen Modalverben gegenüber den zielbezogenen im Verhältnis von 70 % zu 30 %. Wie in den Kapiteln 6 (Bundespressekonferenz von 1990), 7 und 8 (Bundespressekonferenz von 2013) exemplarisch belegt, hängt dies damit zusammen, dass politische Pläne unter Rückgriff primär auf die Semantik handlungsraumbezogener Modalverben mit Hinweisen auf Handlungsmöglichkeiten (können) und Handlungsnotwendigkeiten (müssen) im argumentativen Verfahren legitimiert werden. Die Frequenz dieser beiden handlungsraumbezogenen Modalverben – können auf Platz 1 gefolgt von müssen auf Platz 2 – unterstützt diese Schlussfolgerung. In den Eingangsstatements fällt die Dominanz der handlungsraumbezogenen Modalverben mit 60 % zu 40 % zielbezogenen Modalverben geringer aus als in den Diskussionsteilen mit 74 % zu 26 %. Die noch höhere Frequenz der handlungsraumbezogenen Modalverben in der Diskussion lässt sich damit erklären, dass in Begründungen bei der Diskussion insbesondere bei kritischen Journalistenfragen oft vom circumstantiellen Redehintergrund der Modalverben können und müssen bei Schilderungen der mit diesem Redehintergrund verbundenen Rahmenbedingungen für politische Handlungen Gebrauch gemacht wird. In den Eingangsstatements werden hingegen neben der Erläuterung der Rahmenbedingungen politische Handlungspläne angekündigt. Bei diesen Handlungsankündigungen rückt der teleologische Redehintergrund der zielbezogenen Modalverben – auf Platz 1 wollen gefolgt von sollen und nur in seltenen Fällen möchte – stärker in den Vordergrund. Die Modalverbsemantik insbesondere von wollen wird dazu genutzt, durch das Aufzeigen positiver Einstellungen zu den angekündigten politischen Handlungszielen ein entsprechend positives Framing zu bewirken, so dass in der anschließenden Diskussion möglichst wenig Zweifel und damit Begründungs- und Rechtfertigungsbedarf auf journalistischer Seite entstehen.

Nach dieser kurzen Erörterung wesentlicher quantitativer Unterschiede im Gebrauch von handlungsraumbezogenen und zielbezogenen Modalverben im Korpus werden die semantischen, diskursiven bzw. pragmatischen Eigenschaften der Modalverben dürfen, können, müssen sowie mögen/möchte-, sollen und wollen zusammenfassend dargestellt. Resümee der Untersuchungsergebnisse zu den handlungsraumbezogenen Modalverben:

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Bei der Verwendung handlungsraumbezogener Modalverben lässt sich vor allem – wie bereits erwähnt – der circumstantielle Redehintergrund beobachten. Ursächlich hierfür ist, dass Umstände und Gründe der Handlungsmöglichkeiten (können und in einigen wenigen Ausnahmen auch dürfen) und die Handlungsnotwendigkeiten (müssen) im Diskurskontext aufgezeigt werden. Ein rein circumstantieller Redehintergrund handlungsraumbezogener Modalverben liegt insbesondere in der Diskussion zwischen Journalist/inn/en und Politiker/inne/n nur selten vor. Denn in der Diskussion überlappen die unterschiedlichen, teils widersprüchlichen Intentionen zwischen den unterschiedlichen Akteuren/Akteurinnen, die sich in der Komplexität der Argumentation und damit auch des Modalverbgebrauchs niederschlägt. Dies führt häufig – wie wir es in den Kapiteln 6 bis 8bemerkt haben – zu Überschneidungen des circumstantiellen Redehintergrunds mit anderen Redehintergründen: Bei Helmut Kohl lässt sich in der Bundespressekonferenz 1990 häufiger eine Überschneidung mit dem normativen Hintergrund feststellen, um Handlungsnotwendigkeiten durch Schilderung ethisch-moralischer Gründe argumentativ zu unterstreichen. In der Diskussion der Bundespressekonferenz 2013 wird der circumstantielle Redehintergrund oft mit einem teleologischen Redehintergrund verbunden. Die Kombination dieser beiden Redehintergründe dient argumentativ dazu, von Journalist/inn/en infrage gestellte politische Handlungsnotwendigkeiten als Voraussetzung für positiv geframte Zielsetzungen darzustellen.

Resümee der Untersuchungsergebnisse zum handlungsraumbezogenen Modalverb dürfen: – Das Modalverb dürfen ist mit nur 5 % der Belege das zweitseltenste Modalverb im Korpus. Auf den semantischen Gebrauch im Sinne einer Einschränkung, die die Handlungsautonomie der Zuhörer/innen infrage stellen könnte, wird bei dürfen im Korpus weitgehend verzichtet. Dieser Verzicht auf dürfen in der politischen Kommunikation einer Demokratie kann damit begründet werden, dass der Eindruck eines autoritären Führungsstils vermieden werden soll. – Anstelle von dürfen im Sinne einer Erlaubnis wird deshalb oft – wie in den Kapiteln 6 und 7 exemplarisch aufgezeigt – das positiv geframte Modalverb können im Diskurskontext semantisch umfunktioniert und zum Ausdruck einer Erlaubnis verwendet. – In den Eingangsstatements kommt dürfen fast nur in usuellen Konstruktionen mit stark interaktionalem Charakter wie in [man+darf+sagen] zum Einsatz, um politische Verhandlungsergebnisse einzuleiten. Solche Konstruktio-

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nen mit dürfen treten ansonsten vorwiegend in den stark gesprochensprachlichen Antworten der Politiker/innen auf die Journalistenfragen auf. Resümee der Untersuchungsergebnisse zum handlungsraumbezogenen Modalverb können: – Das möglichkeitsmodale können war im Gesamtkorpus mit 35 % der Belege das häufigste Modalverb. – Die Verwendung des Modalverbs können zeichnet sich in den Eingangsstatements durch eine besondere Vielfalt der Redehintergründe aus. Die beiden häufigsten Redehintergründe sind bei können der circumstantielle und der teleologische Redehintergrund. – Häufig treten der circumstantielle und der teleologische Gebrauch des Modalverbs können in den Diskussionen mit Journalist/inn/en auf. Diese Verwendung ist mit der kommunikativ-pragmatischen Funktion verbunden, zuerst bereits bestehende politische Umstände zu schildern und anschließend auf diesen aufbauend zukünftige politische Zielsetzungen festzulegen. Mit dieser Kombination der Redehintergründe kann argumentativ bereits im Voraus ein Zweifel an politischen Handlungszielen vermieden werden. – Die Satzformeln unter jedem Beleg erlauben Rückschlüsse auf topologische Musterhaftigkeit in Sätzen mit Modalverben. So stellt sich heraus, dass das am häufigsten verwendete Modalverb können v. a. zwei topologische Muster aufweist: (1) Es steht häufig im Nebensatz in Verbletztstellung, also direkt hinter dem die Zielsetzung beinhaltenden Vollverb und damit in dessen direktem Skopus. Daneben wird können im Hauptsatz mit Skopus auf den Nebensatz eingesetzt, in dem aus Sprechersicht Handlungsmöglichkeiten als erstrebenswert dargestellt werden. (2) Im Vorfeld der können-Verwendung im Hauptsatz werden häufig Präpositionalphrasen und Adverbien verwendet, aus denen der circumstantielle Redehintergrund erschlossen werden kann. Diese durch die Präpositionalphrasen und Adverbien beschriebenen Rahmenbedingungen bestimmen, ob das Modalverb extra- oder intrasubjektiv gebraucht wird. Solche Rückschlüsse benötigen jedoch häufig ergänzend die Anwendung des Diskurswissens. Dieser satztopologische Befund, der sich aus der Erfassung der Satzformeln in den Kapiteln 6 (Bundespressekonferenz 1990) und 7 (Bundespressekonferenz 2013) ergibt, erlaubt die Schlussfolgerung, dass sich die Musterhaftigkeit der Modalverbverwendung – wie zu Beginn dieser Arbeit angenommen – sogar auf der syntaktischen Ebene niederschlägt.

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Resümee der Untersuchungsergebnisse zum handlungsraumbezogenen Modalverb müssen: – Mit 31 % der Modalverbbelege ist das notwendigkeitsmodale müssen das zweithäufigste Modalverb im Korpus. Müssen wird im Gegensatz zu den anderen Modalverben fast nie negiert (nur 2 % der Belege statt 10 % bis 22 % bei den anderen Modalverben). – Beim Modalverb müssen kann im Korpus regelmäßig eine Überschneidung des circumstantiellen Redehintergrunds mit dem normativen Redehintergrund beobachtet werden. Eine Verbindung dieser Redehintergründe war in dem argumentativen Kontext musterhaft, in dem Verhandlungsresultate von Politiker/inne/n durch Journalist/inn/en angezweifelt werden. Die Persuasion verläuft in diesen Fällen über die Emotionen, indem die Handlungsnotwendigkeit unter Nennung ethisch-moralischer Begründungen stark hervorgehoben wird. – Müssen zeigt auch sprecherübergreifend in Verbindung mit Personalpronomen und Substantiven strukturelle und diskursive Musterhaftigkeit. Politiker/innen vermeiden es, durch ein Sprecher-Ich als Subjekt in [ich+muss]Konstruktion einem versprachlichten extrasubjektiven Handlungszwang zu unterliegen. Dieser Verzicht auf die Kombination von müssen mit der 1. Person Singular resultiert aus der eine starke Verpflichtung signalisierenden Semantik von müssen, die für die Politiker/innen zu viel Handlungszwang in konkreten politischen Anliegen erzeugen würde. Müssen wird im Korpus deshalb v. a. mit Abstrakta oder Kollektiva als Subjekt oder aber mit den Subjektpronomen wir und man beobachtet, die ein Kollektiv oder die unbestimmte Allgemeinheit als Adressierte ansprechen und verpflichten. Insgesamt gesehen wird im Korpus eine extrasubjektive Handlungsverpflichtung möglichst von allen konkreten Interaktant/inn/en des politischen Diskurses ferngehalten. Dieser Einsatz des Modalverbs müssen läuft damit eigentlich seiner auf eine starke Verpflichtung ausgerichteten Grundsemantik entgegen. Resümee der Untersuchungsergebnisse zu den zielbezogenen Modalverben: – Die zielbezogenen Modalverben betragen 30 % aller Modalverbbelege im Korpus. Sie werden teleologisch eingesetzt, jedoch meist in Überschneidung mit anderen Redehintergründen. Sie werden im Korpus primär verwendet, um politische Handlungsziele anzukündigen und dabei positive Einstellungen der Politiker/inne/n aufzuzeigen. Damit entsteht im argumentativen Kontext ein positives Framing angekündigter Zielsetzungen. – Während bei den handlungsraumbezogenen Modalverben oft eine Präpositionalphrase oder ein Adverb den Satz eröffnet, verläuft bei den zielbezogenen Modalverben die topologische Informationsserialisierung beginnend mit

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dem Subjekt weitgehend linear und damit kognitiv subtiler. Denn bei zielbezogenen Modalverben stehen nicht die Handlungsmöglichkeiten und -notwendigkeiten im Vordergrund, sondern die Zielsetzung selbst. Resümee der Untersuchungsergebnisse zum zielbezogenen Modalverb mögen/ möchte-: – Das zielbezogene Modalverb mögen tritt im Korpus vor allem in seiner Konjunktiv-II-Form möchte- auf. Es ist mit 4 % der Belege das Modalverb mit der niedrigsten Frequenz im Gesamtkorpus. In den Eingangsstatements kommt es mit 5 % etwas häufiger vor als in den Diskussionen mit den Journalist/inn/en mit 3 %. – Aufgrund der schwach ausgeprägten volitiven Semantik von möchte- ist dieser Befund in der politischen Kommunikation nicht überraschend. Mögen/ möchte- weist wie wollen neben dem teleologischen auch einen volitiven Redehintergrund auf. Es wird aber im Gegensatz zu wollen aufgrund seiner schwächer ausgeprägten volitiven Semantik nur selten verwendet, da es bei der Selbstprofilierung dem Bild eines/r in der politischen Psychologie notwendigerweise handlungswilligen Politikers/Politikerin entgegenstehen würde. – Möchte- wurde vorwiegend in kognitiv-verfestigten usuellen Fügungen wie [ich+möchte+danken] oder [ich+möchte+sagen] als Teil von Danksagungen oder als Mitteilungsankündigung verwendet. Der teleologische und volitive Redehintergrund rückte durch den höflichkeitsmarkierenden Charakter dieser Konstruktionen in den Hintergrund. Denn diese Belege konzentrieren sich nicht auf die Festlegung weiterführender politischer Zielsetzungen (teleologischer Redehintergrund) oder das Aufzeigen intra- oder extrasubjektiver Wünsche (volitiver Redehintergrund) in Bezug auf eine politische Proposition. Resümee der Untersuchungsergebnisse zum zielbezogenen Modalverb sollen: – Die Frequenz des notwendigkeitsmodalen Modalverbs sollen fällt mit 8 % der Modalverbbelege im Korpus erheblich niedriger aus als die des handlungsraumbezogenen und ebenfalls notwendigkeitsmodalen Modalverbs müssen. Dieser Befund lässt sich darauf zurückführen, dass bei der Begründung von Handlungsnotwendigkeiten im argumentativen Kontext durch den Einsatz von müssen die notwendigkeitsmodale Semantik erheblich stärker hervorgehoben werden kann als mit sollen. – Das Modalverb sollen wird im Korpus am häufigsten mit dem teleologischen Redehintergrund verwendet. Die Analysen auf der Mikroebene (Satz) zeigen, dass das Eintreten angekündigter politischer Ziele mit der teleologischen Semantik des Modalverbs sollen – in Kombination mit Zeitangaben als Telizitätshinweis – im satztopologischen Umfeld als wahrscheinlich markiert wird.

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Wie bei müssen kann auch bei sollen oft eine Überschneidung mehrerer Redehintergründe festgestellt werden. So zeigt sich in Belegen neben dem dominanten teleologischen Redehintergrund häufig ein zusätzlicher circumstantieller Redehintergrund, der der Operationalisierung auf der Meso- (Redebeitrag und Interaktion) und Makroebene (Diskurs) entnommen wird. Zudem liegt in einigen Belegen bei den meisten sollen-Belegen neben dem teleologischen Redehintergrund auch ein normativer Redehintergrund vor. Eine normative Verwendung des Modalverbs sollen ergibt sich vorwiegend dann, wenn die Politiker/innen den Ursprung einer Zielsetzung im argumentativen Verfahren auf eine Konvention oder Norm zurückführen. Das Autorität framende Modalverb sollen wird wie müssen häufig mit Abstrakta in Subjektposition eingesetzt, so dass seine notwendigkeitsmodale Semantik von einem konkreten menschlichen Agens ferngehalten wird und der modale Zwang sich auf die Zielsetzung – also die Abstrakta – richtet. Damit wird die Restringierung der Handlungsfreiheit eines Agens durch das Modalverb sollen vermieden.

Resümee der Untersuchungsergebnisse zum zielbezogenen Modalverb wollen: – Das zielbezogene und stark volitive Modalverb wollen zeigt mit 26 % in den Eingangsstatements zu 15 % in der Diskussion mit den Journalist/inn/en von allen Modalverben die größte Abweichung hinsichtlich der Frequenzverteilung zwischen den beiden Teilen der Bundespressekonferenz. Dieser Unterschied lässt sich mit den unterschiedlichen Funktionen der Eingangsstatements und der Diskussion in den Bundespressekonferenzen erklären: Während in den Eingangsstatements politische Zielsetzungen und Verhandlungsergebnisse angekündigt werden und mit der Semantik von wollen die positive Einstellung dazu aufgezeigt wird, werden diese Ziele in der Diskussion mit Journalist/inn/en unter Rückgriff auf circumstantielle handlungsraumbezogene Modalverben in Erklärungen und Rechtfertigungen als notwendig oder möglich begründet. Diese Schlussfolgerung lässt sich auch auf die Ergebnisse der N-Gramm-Analyse stützen: [ich+will] und [wir+wollen] sind die beiden häufigsten Konstruktionen im Eingangsstatement. In der Diskussion sind diese beiden Konstruktionen dagegen nur auf Platz 2 und 7 der häufigsten NGramme. – Die Beleganalysen zeigen, dass die Überschneidung des volitiven Redehintergrunds mit dem teleologischen beim Modalverb wollen sowohl in den Eingangsstatements als auch in der Diskussion musterhaft ist. Dies deutet auf eine hohe Identifikation der Politiker/innen mit den von ihnen angekündigten politischen Zielsetzungen hin. Dieselbe Schlussfolgerung wird auch

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durch die Vorkommenshäufigkeit des Modalverbs wollen in Kombination mit der 1. Person Singular und Plural bestätigt. Bei der Analyse der satztopologischen Muster ist wollen häufig in den Konstruktionen [wir+wollen+Objekt+Vollverb] oder – deutlich seltener mit absolutem Gebrauch – [wir+wollen+Objekt] zu beobachten. Durch diese topologische Nähe entsteht die Möglichkeit des positiven Framings durch Übertragung der positiven Semantik von wollen auf das Objekt sowie – bei einem nicht-absoluten Gebrauch – auch auf das Vollverb. Mit beiden Konstruktionen wird folglich politisches Engagement mit aus Sicht der Sprecher/innen erstrebenswerter Zielsetzungen positiv geframt. In Sätzen mit dem absolut gebrauchten wollen rückt die Zielorientierung deutlich in den Vordergrund, denn die Äußerung weist zugleich einen höheren Grad diskurspositioneller Nähe des Agens zur Proposition auf.

Durch die Beleganalysen in den Kapiteln 6 bis 8 konnten die in Kapitel 4 festgestellten statistischen Unterschiede zwischen den Eingangsstatements und in den Diskussionen mit den Journalist/inn/en erklärt werden. Aufgrund der verschiedenen Funktionen der Eingangsstatements und der Diskussionen unterscheidet sich der Modalverbgebrauch in den zwei Teilen hinsichtlich der Modalverbklassen, der Konstruktionen, der Steuerung der Redehintergründe, der Topologie und der argumentativen Funktion. Zu den häufigsten N-Grammen gehören in den Eingangsstatements die volitiven Modalverbkonstruktionen, während die Diskussionen eine ausgewogenere modale Verteilung aufweisen. In den Diskussionen wiederum lassen sich im Unterschied zum Eingangsstatement häufig Konstruktionen vom Typ [ich+Modalverb+sagen] bei den Modalverben dürfen, können, müssen und wollen mit stark interaktionalem Charakter feststellen. Während in den Eingangsstatements Modalverben in Hauptsätzen sehr häufig Präpositionalphrasen oder Adverbien im Vorfeld führen, dominiert in den positiven wie negierten Antworten die topologische Standardsatzfolge mit Subjekt in Vorfeldposition. Ein etwaiger Negator steht dabei fast immer direkt hinter dem Modalverb. Die Analyseergebnisse zeigen, dass im jeweiligen situativen Kontext ein deutlicher Zusammenhang zwischen dem Modalverbgebrauch und dem Aufbau der Argumentationsstruktur besteht und die Unterschiede auf den stark persuasiven Einsatz von Modalverben im argumentativen Kontext in den unterschiedlichen Teilen der Bundespressekonferenzen zurückgehen. Eine Untersuchung der Redehintergründe des Modalverbgebrauchs erwies sich als wissenschaftlich fruchtbar, denn anhand der Forschungsresultate konnten aus den Informationen zu den Redehintergründen Rückschlüsse auf die Argumentation gezogen werden. Für diese Erkenntnisse war es für die Erschließung der Redehintergründe notwendig, im Rahmen des in dieser Arbeit entwickelten multilateralen Forschungs-

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designs die Analysen auf den unterschiedlichen Ebenen – der Mikroebene (Satz), der Mesoebene (Redebeitrag und Interaktion) und der Makroebene (Diskurs) durchzuführen. Dieser methodologische Pluralismus ermöglichte durch die unterschiedlichen Untersuchungsebenen und die Vielfalt linguistischer Methoden, die zum Einsatz kamen, eine Flexibilität, die bei der Zuordnung der Modalverben zu den Redehintergründen im Diskurskontext ausschlaggebend war. Die exemplarische Detailanalyse des Modalverbgebrauchs in den Kapiteln 6 bis 7 zeigt ohnehin, dass eine eindeutige Zuordnung der Belege zu einem einzigen Redehintergrund nach dem diskutierten Klassifikationsschema von Zifonun oft nicht möglich ist. Sogar eine Abgrenzung nach den Modalverbgrundkategorien des Handlungsraumbezugs und des Zielbezugs nach Hoffmann lässt sich bei dieser korpuslinguistischen Untersuchung der Modalverben nicht immer aufrechterhalten. Der theoretische Erkenntnisgewinn dieser Kapitel liegt darin, dass unter Anwendung des Klassifikationsschemas nach den Modalverbredehintergründen zum einen semantische, diskursive und pragmatische Modalverbgebrauchsmuster im Hinblick auf die Argumentation in den Bundespressekonferenzen erfasst werden konnten. Zum anderen wurde nachgewiesen, dass eine mit der Theorie deckungsgleiche Anwendung von Modalverbklassifikationen an Korpora ohne Modifikationen dieser Theorie und ohne methodologische Flexibilität nicht möglich ist. Damit sind empirische Arbeiten wie diese für die Optimierung und Weiterentwicklung grammatischer Theorien hilfreich. Der gleichzeitige Einsatz verschiedener linguistischer Methoden aus der Grammatik, der Semantik, der Pragmatik, der Diskursanalyse, der Kognitionslinguistik, Konstruktionsgrammatik und Konversationsanalyse mit dem Anspruch des methodologischen Pluralismus bei den Beleganalysen in den Kapiteln 6 bis 8 ermöglicht die Erfassung von Modalverbgebrauchsmustern auf den unterschiedlichen sprachlichen Ebenen. So stellte sich heraus, dass neben den semantischen und pragmatischen Mustern des Modalverbgebrauchs im Korpus auch ein hoher Grad struktureller Musterhaftigkeit festzustellen ist. Diese strukturellen Muster erstrecken sich über die einzelnen Wortformen und N-Gramme auch auf satztopologische Muster. Nach der exemplarischen Untersuchung dieser Modalverbgebrauchsmuster in den Kapiteln 6 und 7 wurde in den weiteren Teilen der Arbeit auf weitere Detailanalysen der Redehintergründe im Korpus der Bundespressekonferenzen verzichtet und diese – wo sinnvoll – nur zur Stützung der Argumentation ausgeführt. Denn die Fortsetzung der Redehintergrund-Detailanalysen hätte kaum einen weiteren Erkenntnisgewinn erbracht. Vielmehr wurde im weiteren Verlauf der vorliegenden Arbeit die Modalverbverwendung im Gesprächsverlauf konversationsanalytisch und konstruktionsgrammatisch (Kapitel 8) sowie kognitionslinguistisch (Kapitel 9) in Augenschein genommen, um dem für die Modalverbanalyse eines

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politiksprachlichen Korpus in der Einleitung postulierten holistischen Anspruch des methodologischen Pluralismus gerecht zu werden. Im Kapitel 8 wurden am Beispiel der Diskussion der Bundespressekonferenz 2013 Modalverben im konversationellen Verlauf analysiert. Für eine konversationsanalytische Modalverbuntersuchung wurde ein Forschungsdesign nach Birkner (2020) und Fábián (2011) entwickelt, das Methoden aus der Konversationsanalyse und der Pragmatik zusammenführt und für die konversationsanalytische Untersuchung von Formaten aus der politischen Kommunikation ergänzt. Das im Kapitel 8 entwickelte Forschungsdesign entspricht auch innerhalb dieses Kapitels dem Anspruch des methodologischen Pluralismus und diente dazu, am Beispiel der Diskussion der Bundespressekonferenz 2013 Modalverben, die in konversationellen Sequenzteilen vorkommen, im Verhältnis zueinander und im Hinblick auf die Handlungssequenzen im Gesprächsverlauf zu analysieren. In der Einleitung dieser Arbeit wurde Birkners (2020: 249) Feststellung angeführt, dass Dissens in der Konversation zu einer erhöhten Komplexität der Konversation führt. Diese strukturelle Komplexität schlug sich auch auf der Ebene der Redebeiträge nieder, die durch journalistische Turns mit Dispräferenz indiziert wurden. Dies hängt – in Anlehnung an Schröters (2021: 5) Argumentationsdefinition – mit der Funktion argumentativer Verfahren zusammen, „den Status der Unstrittigkeit auf etwas bislang Strittiges zu transferieren.“ Meine Hypothese zu Beginn der Arbeit lautete, dass in Turns Modalverben Präferenz und Dispräferenz im argumentativen Zusammenhang zum Ausdruck bringen und einen Perspektivenwechsel der Gesprächspartner/inne/n herbeiführen wollen. Mit Hilfe der Transkriptionsanalysen im Kapitel 8 konnte nachgewiesen werden, dass Modalverben aufgrund ihrer argumentativen Funktion bei Dissens in strukturell komplexen Redebeiträgen in miteinander zusammenhängenden Sequenzteilen rekurrent eingesetzt werden. Sie treten bei strittigen Inhalten zur wechselseitigen Perspektivendarstellung im Konversationsverlauf abwechselnd auf und tragen damit zur Konsensaushandlung argumentativ bei. Die durchgeführte konversationsanalytische Modalverbuntersuchung bestätigte damit den von v. Polenz (2008: 218) festgestellten KORREKTUR-Charakter des Modalverbeinsatzes im konversationellen Verfahren bei der argumentativen Aushandlung von Konsens. Deshalb waren im Korpus Modalverben in politischen Interaktionen insbesondere als Teile von sprachlichen Handlungen – v. a. Begründungen, Bewertungen, Erklärungen – oft im Anschluss an die kritischen Fragen von Journalist/inn/en in Redebeiträgen zu beobachten, um die journalistischen Inhalte semantisch zu korrigieren. Modalverben wurden beim Signalisieren von Dissens als musterhafte Elemente kommunikativer Praktiken eingesetzt und richteten sich Birkner (2020:14) zufolge in Anlehnung an Robinson (2016: 11) auf die Entstehung einer „Normalisierung“ im politischen interaktionalen Prozess.

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Bei der empirischen Analyse der Modalverbverwendung in der Konversation zwischen Journalist/inn/en und Politiker/inne/n verhielten sich die Modalverben bei der kontrastiven Analyse in den beiden exemplarisch untersuchten Bundespressekonferenzen 1990 mit einer Person und 2013 mit mehreren Personen argumentativ und hinsichtlich ihrer Redehintergründe ähnlich (vgl. Abschnitt 6.2.2.1 im Vergleich zu Kapitel 8). Abweichungen in der Modalverbverwendung wurden hinsichtlich ihrer Funktion festgestellt, die auf die von Auer (2020: 224) postulierten Hilfeleistung in der Konversation zurückgeführt werden. In der konversationsanalytischen Modalverbuntersuchung der Bundespressekonferenz 2013 wurde unter Anwendung des methodologischen Pluralismus nachgewiesen, dass Modalverben im konversationellen Kontext in Redebeiträgen zum Einsatz kamen, die konversationsstrukturell mehrfach indiziert waren: Zum einen durch inhaltlich dissensmarkierende journalistische Redebeiträge, zum anderen durch einen vorangegangenen Redebeitrag eines Politikers/einer Politikerin, der ebenfalls auf die Zurückweisung des Dissenses aus der journalistischen Frage zielte. Das Aufgreifen des Modalverbs in zwei oder mehr aufeinander folgenden Turns von Angela Merkel, Sigmar Gabriel und Horst Seehofer ist mit der Funktion verbunden, in Bezug auf die gleiche Proposition, die von den Journalist/inn/en als dispräferiert markiert wurde, einen kollektiven Konsens der Koalitionspartner/inne/n in der strittigen Sache zu signalisieren und so kritisierte politische Zielsetzungen und Handlungspläne gemeinschaftlich zu verteidigen. Diese regelmäßige Anpassung des Modalverbgebrauchs in Antworten auf kontroverse journalistische Fragen hin unter den Koalitionspartner/inne/n führt zur Herausbildung funktionaler Musterhaftigkeit auf der Konversationsebene. In der Diskussion mit Journalist/inn/en in den Bundespressekonferenzen 1990 und 2013 wurde außerdem die Verwendung der Konstruktionen mit Modalverben im engeren Sinn – insbesondere mit Blick auf die Konstruktionen [ich+MV+sagen] in der Interaktion untersucht (vgl. Abschnitt 6.2.2.2und Abschnitt 8.3.1). Für die Analyse wurden Modalverbkonstruktionen semantisch in Anlehnung an Langacker (2008: 203) als Modifizierungskonstruktionen und pragmatisch-funktional nach Ziem & Lasch als Argumentstrukturen eingestuft. Bei der Form- und Funktionsbestimmung der Modalverbkonstruktionen stützte ich mich auf die Feststellung von v. Polenz (2008: 159), der die „Inhaltsgrammatik“ und die „Satzsemantik“ miteinander verbindet und Verben unterschiedlichen Prädikationsklassen zuordnet. Nach dem Aussagerahmentyp wurden anschließend die Modalverbkonstruktionen des Typs [ich+MV+sagen] als EINSTELLUNGSMITTEILUNG eingestuft, die aus der Modalverbsemantik und der Semantik des Vollverbs sagen und der Funktion dieser Konstruktion resultiert. Während im Abschnitt 6.2.2.2 die Modalverbkonstruktionen [ich+MV+sagen] in der Diskussion der Bundespressekonferenz 1990 auf ihre pragmatische Funktion hin überprüft und

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mit den von Imo (2007) in einem alltagssprachlichen Korpus festgestellten Funktionen dieser Modalverbkonstruktionen im Vergleich diskutiert wurden, stand in der Diskussion der Bundespressekonferenz 2013 (Kapitel 8) die Verwendung dieser Modalverbkonstruktionen im Konversationsverlauf mit mehreren Teilnehmer/ inne/n aus der Politik und dem Journalismus im Vordergrund. Mit Hilfe der empirischen Analyse der Modalverbkonstruktionen [ich+MV+sagen] konnte am Korpus der Bundespressekonferenzen 1990 und 2013 nachgewiesen werden, dass zu den von Imo (2007) beobachteten pragmatischen Funktionen dieser Modalverbkonstruktionen zusätzliche Funktionen hinzutreten, die sich in einem politiksprachlichen Korpus als musterhaft erwiesen. In Imos Korpus dient [ich+MV+sagen] v. a. dem Erwerb des Rederechts oder als Disfluenzmarker, was im Korpus der Bundespressekonferenzen repräsentativ nicht belegt werden konnte. Hinsichtlich des Untersuchungskorpus dieser Arbeit sei wie in der Einleitung darauf verwiesen, dass man von Mustern nicht nur im Zusammenhang von statistisch hochsignifikanten sprachlichen Merkmalen sprechen kann, sondern auch dann, wenn einzelne sprachliche Phänomene v. a. an argumentativ entscheidenden Stellen rekurrent mit der gleichen Funktion eingesetzt werden. So ließen sich in beiden Bundespressekonferenzen die Modalverbkonstruktionen [ich+muss+sagen] oder alternativ [man+muss+sagen] als Dispräferenzmarker in Turns mit der Funktion einer kommunikativen Grenzziehung beobachten, die von kritischen journalistischen Turns indiziert wurden. Die nach ihrem semantischen Hintergrund unterschiedliche Modalverbkonstruktion [ich+kann+sagen] wurde hingegen oft verwendet, um präferierte politische Zielsetzungen einzuleiten und durch die Übertragung der positiven Modalverbsemantik von können ein positives Framing der Zielsetzung zu bewirken. Eine solche Verwendung dieser Modalverbkonstruktion konnte sowohl in Präferenz als auch Dispräferenz signalisierenden Turns der Politiker/inne/n beobachtet werden. Dies erlaubt die Schlussfolgerung, dass im Fall kritischer Rückfragen durch positives Framing Zweifel widerlegt werden sollen. Auffällig war außerdem der Einsatz der Konstruktion der Modalverbkonstruktion [ich+darf+sagen] in Redebeiträgen, die von journalistischen Turns indiziert wurden, die keine Kritik, sondern Verständnissicherung im konversationellen Austausch mit den Politiker/inne/n zum Ziel hatten. Diese Konstruktion diente im Korpus mehrfach der kommunikativen Rückversicherung und trat einleitend oder als Einschub auf. Mit diesem Gebrauch wird gegenüber den Journalist/inn/en kommunikative Kooperationsbereitschaft signalisiert. In allen Belegen kommen die Modalverbkonstruktionen [ich+MV+sagen] zum Einsatz, um in Konversationen eine Einstellungsänderung herbeizuführen. Mit dieser Beobachtung kann dank der Anwendung des methodologischen Pluralismus der eingangs postulierte Charakter der Modalverbkonstruktionen als musterhafte modifikative Argumentationsstruktur bestätigt werden, der aus dem gesellschaftlich konsensuellen Wissen

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über die Form, Funktion und Bedeutung sowie über ihre Verwendung in interaktionalen Routinen resultiert. In Abschnitt 6.2.2.2 und in Kapitel 8 erfolgte die in der linguistischen Forschung bisher zu seltene Anwendung konversationsanalytischer und konstruktionsgrammatischer Theorien bei der Analyse politiksprachlicher Korpora. Zudem gelang es unter Anwendung des methodologischen Pluralismus in diesen beiden Kapiteln, konversationsanalytische und konstruktionsgrammatische Theorien und Methoden zu optimieren und weiterzuentwickeln. In Kapitel 8 wurden dazu konversationsanalytische Theorien nach Birkner (2020) und Fábián (2011) diskutiert und basierend auf diesen weitere Theorien und Methoden entwickelt. Diese wurden für die Untersuchung sprachlicher Handlungen und kommunikativer Praktiken im Konversationsverlauf an gesprochensprachlichen Korpora ausgearbeitet. Damit soll außerdem das Interesse in der Konversationsanalyse, aber auch in der Konstruktionsgrammatik an der Erforschung politiksprachlicher Korpora angeregt werden, die in beiden Disziplinen bislang ein starkes Forschungsdesiderat darstellen. Der Forschungsertrag des letzten Kapitels 9 liegt darin, Theorien aus der Kognitionslinguistik zu diskutieren, die sich für eine kognitionslinguistische Modalverbuntersuchung eignen. Hierfür wurden in dem kognitionslinguistischen Forschungsdesign die kräftedynamische Dimension und die Dimension der Aufmerksamkeitsverschiebung nach Talmy (1976, 1988a, 1988b, 2000, 2006) besprochen, aber auch ausgewählte Aspekte der Theorien zu semantischen Rollen in Anlehnung an Fillmore (1968a, 1968b), Talmy (1976; 1988a oder 1988b; 2000), von Polenz (2008: 170–173) und Fabricius-Hansen (2016: 397 f.) diskutiert. Die beiden Dimensionen der Kräftedynamik und der Aufmerksamkeitsverschiebung nach Talmy wurden für eine angewandte Modalverbanalyse ausgewählt, weil diese im Unterschied zu vielen anderen kognitionslinguistischen Theorien Modalverben von Anfang an punktuell berücksichtigten. Bei der Besprechung der Theorien zu den semantischen Rollen ergab sich die Notwendigkeit, auch die Semantik der Modalverben zu berücksichtigen. Mit diesen Diskussionen und der Weiterentwicklung dieser kognitionslinguistischen Ansätze wurden die Weichen für die im zweiten Teil des Kapitels 9 folgende empirische kognitionslinguistische Modalverbuntersuchung gestellt, mit dem Ziel, am Beispiel ausgewählter Sätze aus dem Korpus der Bundespressekonferenzen zwischen 1990 und 2018 die semantische Stärke, die kognitive Funktion der Modalverben und ihren Einfluss auf Dynamiken, Ursachen, Perspektiven und Zuständigkeiten in politischen Prozessen zu verdeutlichen. Die kognitionslinguistische Untersuchung und die modellhafte Visualisierung der Sätze mit Modalverben mit und ohne Negation zeigen die satzmodifizierende Semantik der Modalverben bei der Schilderung der Zusammenhänge von Ereignissen auf. Dies hat zur Folge, dass

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auch die Dynamiken durch die semantische Stärke der Modalverben im Satz- und im Diskurskontext modifiziert werden. Dieses Resultat stützt die Erkenntnisse modalverbsemantischer Untersuchungen in den Eingangsstatements der Bundespressekonferenzen und den anschließenden Diskussionen mit Journalist/inn/en in den Kapiteln 5 bis 8. Die kognitionslinguistische Visualisierung der Modalverbsemantik in Sätzen führt zu der Erkenntnis, dass die beiden Dimensionen der Kräftedynamik und der Aufmerksamkeitsverschiebung sowie die semantischen Rollen mithilfe der starken semantischen und kognitiv suggestiven Wirkung der Modalverben politische Machtverhältnisse und nationale wie internationale politische Handlungen (primär Handlungsmöglichkeiten und Handlungsnotwendigkeiten, aber gelegentlich auch Handlungseinschränkungen und Erlaubnisse) hervorheben. Mit diesen Ergebnissen ergänzen die kognitionslinguistischen Modalverbanalysen in Kapitel 9 die Forschungsresultate aus den vorangegangenen Kapiteln. Die Ergänzung des interdisziplinären Forschungsdesigns um kognitionslinguistische Theorien und Forschungsmethoden ermöglicht als integrativer Bestandteil des methodologischen Pluralismus einen erweiterten Blickwinkel bei der Modalverbbetrachtung und gewährleistet die Visualisierung der Modalverbsemantik Abschließend kann festgestellt werden, dass die multilaterale Kombination der unterschiedlichen Theorien und Methoden aus den linguistischen Teildisziplinen der traditionellen Grammatik, der Semantik, der Diskursanalyse, der Pragmatik, der Konversationsanalyse, der Konstruktionsgrammatik und der Kognitionslinguistik einen umfassenden Einblick in die Modalverbverwendung in Korpora ermöglicht. Mit der Anwendung des integrativen Forschungsdesigns in dieser Arbeit konnten Modalverbgebrauchsmuster auf der strukturellen, der pragmatischen, der diskursiven, der konversationellen und der konstruktionellen Ebene erschlossen werden. Dieser methodologische Pluralismus ermöglichte eine umfassende Erfassung der Modalverben und ihre Bedeutung für die Argumentation im politischen Diskurskontext. Die Analysen in den einzelnen Kapiteln und auch über diese hinaus zeigen, dass Modalverben im Diskurskontext – wie eingangs angenommen – die Argumentation nach Schröter (2021: 5) unterstützen und zur „Überwindung oder Verringerung des Zweifels an einem Standpunkt oder der Verschiedenheit von Standpunkten“ – insbesondere in Interaktionen im konsens- und dissensuellen Aushandlungsprozess – beitragen.

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https://doi.org/10.1515/9783111245263-012

13 Anhang: Bundespressekonferenzen im Korpus 13.1 Die Bundespressekonferenz vom 17.7.1990 mit Bundeskanzler Helmut Kohl Protokoll nach https://archiv.bundesregierung.de/resource/blob/975236/237440/ 63b9cde71a07804a8ee297d1561cd1ed/2009-11-16-regierungsdokumente-20-jahre-dteinheit-data.pdf?download=1#%5B%7B%22num%22%3A235%2C%22gen%22%3A0% 7D%2C%7B%22name%22%3A%22FitH%22%7D%2C846%5D Ergänzt um die Protokollteile, die das Büro des Altkanzlers zur Verfügung stellte. Der Diskussionsteil ist noch mit einem Sperrvermerk versehen und kann deshalb hier nicht abgedruckt werden. 1 2 3 4 5 6 7 8

Vorsitzender der Bundespressekonferenz Rauhaus: Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Pressekonferenz ist eröffnet. Wir begrüßen den Herrn Bundeskanzler und in seiner Begleitung Herrn Teltschik und Herrn Klein. Herr Bundeskanzler, wir enthalten uns, wie Sie wissen, an dieser Stelle jeglicher Kritik und jedes Lobes. Aber das einhellige Echo heute in den Zeitungen legitimiert mich doch wahrscheinlich, Ihnen herzliche Glückwünsche zu dem Erfolg Ihrer Reise auszusprechen. Noch ein Hinweis – vielleicht legt sich dann auch die Harmonie wieder. Der Herr Bundeskanzler steht auch zu anderen Fragen, die sich zwischen Kaukasus und Wolfgangsee bewegen, zur Verfügung.

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Bundeskanzler Kohl: Herr Vorsitzender, meine Damen und Herren! Zunächst einmal, am Wolfgangsee bin ich noch nicht. Ich hoffe, am kommenden Wochenende dort zu sein. Meine Damen und Herren, ich möchte heute unmittelbar nach dem Abschluss einer Serie wichtiger Gipfelbegegnungen – ich nenne den europäischen Rat in Dublin, den NATO-Gipfel in London, den Weltwirtschaftsgipfel in Houston sowie mein Treffen mit dem sowjetischen Präsidenten Gorbatschow – eine Bilanz ziehen der ersten sechs Monate dieses Jahres und, soweit dies möglich ist, die Perspektiven der weiteren Arbeit bis zum Ende dieses Jahres aus der Sicht der Bundesregierung erläutern.

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Die Entwicklung der vergangenen sechs Monate und die Ergebnisse der Gipfel Begegnungen geben mir die Zuversicht, dass wir in diesem Jahr eine neue Seite der deutschen und auch der europäischen Geschichte aufschlagen können:

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Durch die Herstellung der staatlichen Einheit Deutschlands, durch erhebliche Fortschritte in der europäischen Integration, durch die Erarbeitung der tragenden Elemente einer dauerhaften und gerechten europäischen Friedensordnung und damit eines neuen Verhältnisses partnerschaftlicher Zusammenarbeit in Frieden und Freiheit zum Wohle aller Bürger. Dank intensiver und vertrauensvoller Gespräche und Konsultationen auf allen Ebenen, die auch in ihrer Dichte und Häufigkeit beispiellos waren, können wir heute von einem Durchbruch auf dem Wege zur Regelung der äußeren Aspekte der deutschen Einheit sprechen und zudem die

https://doi.org/10.1515/9783111245263-013

310  13 Anhang: Bundespressekonferenzen im Korpus

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Konturen einer künftigen europäischen Architektur klar erkennen. Hierzu hat entscheidend beigetragen, dass wir deutsche unseren Weg zur Einheit immer auch im klaren Bewusstsein unserer nationalen und europäischen pflichten gehen werden. Wir haben von Anfang an darauf geachtet, dass der Prozess zur Einheit in einem stabilen europäischen Rahmen eingebettet wird.

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Deutsche Einheit und europäische Einheit sind unauflöslich miteinander verbunden. Deutsche Politik kann nicht gegen, sondern vernünftigerweise nur mit unseren Partnern und Nachbarn vorstellbar und auch erfolgversprechend sein. Daher von Anfang an engste Abstimmung im Rahmen der EG und der NATO. Daher auch die immer wieder von mir vorgetragene klare Absage an einen nationalen Alleingang oder an einen deutschen sonderweg. Daher von Anfang an das uneingeschränkte ja zum festen Bündnis mit den freiheitlichen Demokratien Europas und Nordamerikas und zur zunehmenden Integration in der europäischen Gemeinschaft. Diese Ausrichtung wird auch in Zukunft Leitlinie meiner Politik sein. Ich glaube, wir haben guten Grund – ich selbst vor allem dankbar zu sein denen, die geholfen haben. Das sind vor allem die Menschen in unserem Vaterland, vor allem unsere Landsleute in der DDR. Den drei Verbündeten, die besondere Verantwortung tragen für Berlin und Deutschland als Ganzes, insbesondere unseren amerikanischen Freunden und hier allen voran Präsident Bush. Der EGkommission und deren Präsidenten Jacques Delors. Der Weitsicht und dem Realitätssinn von Präsident Gorbatschow. Mit einem Wort: unseren Verbündeten und Nachbarn in West und Ost, die von Anfang an Verständnis und dann auch vertrauen bewiesen haben.

46 47 48 49

Vor sechs Monaten habe ich ihnen von dieser Stelle aus die Grundlagen der Politik der von mir geführten Bundesregierung in diesem historischen Prozess erläutert. Alle diese Grundlagen sind unverändert gültig und sie haben auch ihren Niederschlag in den Ergebnissen der Gipfeltreffen gefunden.

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Es liegt im Interesse von ganz Europa, dass sich die europäische Gemeinschaft als Modell des Zusammenschlusses freier Völker, als Kern der künftigen europäischen Friedensordnung entschlossen fortentwickelt. Nur so ist sie in der Lage, ganz Europa den notwendigen halt zu verleihen.

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Wir brauchen weitere substantielle Fortschritte in Abrüstung und Rüstungskontrolle. Der NATO-gipfel in London – das war deutlich in den Gesprächen mit Präsident Gorbatschow – hat hierfür klare, weitreichende Signale verabschiedet, die vor allem auch in Moskau verstanden wurden. Das westliche Bündnis gestaltet sich um, ändert seine Strategie und Struktur und nimmt zu den Staaten des Warschauer Paktes Beziehungen der Freundschaft und Zusammenarbeit auf. Eine gemeinsame Gewaltverzichtserklärung wird dies besiegeln.

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Unsere Politik muss darauf gerichtet sein, dass sich die in der Sowjetunion und in den Ländern mittel- und Südosteuropas eingeleiteten Reformen in stabilen Bahnen entwickeln und zum Erfolg geführt werden können.

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Bereits im letzten Jahr sind wichtige Schritte zur Unterstützung der Reformen in Polen und Ungarn angelaufen, in diesem Jahr ist die Hilfe für weitere Länder hinzugekommen. Wesentlich ist gleichermaßen die Einigkeit unter den westlichen Partnern, dass es auch notwendig ist, die Sowjetunion in diese Maßnahmen einzubeziehen.

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Wenn wir heute aufgrund der Gipfeltreffen der letzten vier Wochen von einem Durchbruch sprechen können und mehr und mehr die Konturen des künftigen Europas vor uns sehen, wissen

13.1 Die Bundespressekonferenz vom 17.7.1990 mit Bundeskanzler Helmut Kohl 

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wir auch, dass noch ein schwieriger, ein arbeitsreicher weg vor uns liegt. Ich beginne mit der Deutschlandpolitik. Seit zwei Wochen sind die deutschen in der Bundesrepublik Deutschland und in der DDR wieder ohne trennende grenzen unauflöslich miteinander verbunden. Das Inkrafttreten der Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion war ein entscheidender Schritt auf dem Weg zur Einheit. Dieser Schritt ist auch überall in der Welt so verstanden worden. Die Währungsumstellung in der DDR ist nicht zuletzt dank der vorzüglichen Vorarbeit aller beteiligten Stellen reibungslos, ja besser als von vielen Zweiflern erwartet, verlaufen. In der DDR ist eine Fülle von Gesetzen in Kraft getreten, die die rechtlichen Voraussetzungen für die Einführung der sozialen Marktwirtschaft schaffen sollen. Jeder weiß, dass die völlige Umgestaltung der Lebensverhältnisse in der DDR besonders in der Anfangszeit zum Teil erhebliche Schwierigkeiten mit sich bringt. Es wird viel Arbeit erfordern, bis wir Wohlstand und sozialen Ausgleich für alle deutschen verwirklicht haben. Niemandem werden aber gerade in dieser Übergangszeit unbillige härten zugemutet.

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Und wir haben alle Chancen, in einer relativ kurzen Zeit unser Ziel zu erreichen. Zweitens ein Bericht über die Ergebnisse der Gespräche mit Präsident Gorbatschow. Ich bin, wie Sie wissen – viele von ihnen waren ja mit dabei gestern von meiner zweiten Reise in die Sowjetunion in diesem Jahr zurückgekehrt. Bei meinem ersten Besuch im Februar konnte ich berichten, dass wir deutsche seitens der sowjetischen Führung „grünes Licht“ für unseren Weg zur Einheit haben, dass wir auch über ihre Form, Frist und Bedingungen selbst entscheiden können. Heute kann ich die für alle deutschen gute Nachricht mitbringen, dass nunmehr auch über alle äußeren Aspekte zwischen uns und der Sowjetunion Einigkeit erzielt ist. Wir wollen zukunftsgewandte Verträge, umfassende Zusammenarbeit, Vertrauen und nicht zuletzt die breite Begegnung unserer Völker, insbesondere der jungen Generation. Wir wollen damit zugleich unseren Beitrag leisten für eine dauerhafte und friedliche Entwicklung in Europa. Dies alles wird Leitmotiv – und daran bin ich mit Präsident Gorbatschow einig – eines umfassenden Kooperationsvertrages des vereinten Deutschland [sic!] mit der Sowjetunion sein, der so bald wie möglich nach der Vereinigung abgeschlossen sein wird.

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Dieser Vertrag wird geschlossen auf der festen Grundlage und im beiderseitigen klaren Verständnis, das mit der deutschsowjetischen Zusammenarbeit als auch mit der festen Verankerung im Westen ein unerlässlicher Beitrag der Stabilität in der Mitte Europas und darüber hinaus geleistet wird. Auf der Grundlage dieser – wie auch Präsident Gorbatschow sagte – gemeinsamen Philosophie haben wir die praktischen Probleme, die auf dem Weg zur deutschen Einheit noch vor uns liegen, gelöst.

102 Ich will noch einmal die wichtigsten Punkte hier aufführen. Die Einigung Deutschlands umfasst 103 die Bundesrepublik Deutschland, die DDR und ganz Berlin. 104 105 106 107

Mit der Herstellung der Einheit Deutschlands werden die Viermächte-Rechte und Verantwortlichkeiten in Bezug auf Deutschland als Ganzes und Berlin beendet. Das vereinte Deutschland erhält zum Zeitpunkt seiner Vereinigung seine volle und uneingeschränkte Souveränität.

108 Das geeinte Deutschland kann in Ausübung seiner vollen und uneingeschränkten Souveränität 109 frei und selbst entscheiden, ob und welchem Bündnis es angehören will. Dies entspricht dem 110 Geist und dem Text der KSZE-Schlussakte. 111 Ich habe als Auffassung der Bundesregierung erklärt, dass das geeinte Deutschland Mitglied

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des atlantischen Bündnisses sein möchte, und ich weiß, dass dies auch dem Wunsch der DDR entspricht. Herr Ministerpräsident de Maizière hat das gestern in seinem Kommentar deutlich gemacht. Wir haben uns auch heute früh noch einmal in unserem Gespräch in diesem Sinne klar ausgesprochen.

116 Das geeinte Deutschland schließt mit der Sowjetunion einen zweiseitigen Vertrag zur 117 Abwicklung des Truppenabzugs aus der DDR, der, wie die sowjetische Führung erklärt hat, 118 innerhalb von drei bis vier Jahren beendet sein soll. 119 120 121 122 123

Was ich hier so einfach vortrage, drei bis vier Jahre, meine Damen und Herren, heißt, dass die sowjetischen Truppen spätestens 1994 deutsches Gebiet verlassen. Und ich will noch einmal darauf hinweisen: Das bedeutet, dass 50 Jahre nach dem Tag, an dem sowjetische Truppen zum ersten Mal das damalige deutsche Reichsgebiet im Kampf im zweiten Weltkrieg betreten haben, die letzten sowjetischen Soldaten aus Deutschland abziehen werden.

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Ferner soll für diesen Zeitraum ein Überleitungsvertrag über die Auswirkungen der Einführung der D-Mark abgeschlossen werden. Während der Dauer der Anwesenheit sowjetischer Truppen auf dem Territorium der heutigen DDR werden keine Strukturen der NATO auf dieses Gebiet ausgedehnt.

128 Artikel 5 und 6 des NATO-Vertrages finden sofort mit der Vereinigung auf das gesamte Gebiet 129 des vereinten Deutschland Anwendung. 130 Nicht integrierte verbände der Bundeswehr, das heißt verbände der territorialen Verteidigung, 131 können sofort nach der Vereinigung Deutschlands auf dem Gebiet der heutigen DDR und in 132 Berlin stationiert werden. 133 134 135 136 137 138 139

Für die Dauer der Anwesenheit sowjetischer Truppen auf dem Gebiet der heutigen DDR sollen nach unseren Vorstellungen die Truppen der drei Westmächte in Berlin verbleiben. Die Bundesregierung wird die drei Westmächte darum ersuchen und ihnen einen entsprechenden Vertrag vorschlagen. Für den Aufenthalt der westlichen Streitkräfte muss eine Rechtsgrundlage durch Vertrag zwischen der Regierung des vereinten Deutschlands und den drei Mächten geschaffen werden. Wir gehen davon aus, dass selbstverständlich die Zahl und die Ausrüstung dieser Truppen nicht stärker sein soll als heute.

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Nach Abzug der sowjetischen Truppen aus dem Gebiet der heutigen DDR und aus Berlin können in diesem Teil Deutschlands auch der NATO angegliederte Truppen stationiert werden, allerdings ohne für Atomwaffen verwendbares Abschussgerät. Ausländische Truppen und Atomwaffen sollen nicht dorthin verlegt werden.

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Die Bundesregierung erklärt sich bereit, noch in den laufenden Wiener Verhandlungen eine Verpflichtungserklärung abzugeben, die Streitkräfte eines geeinten Deutschlands innerhalb von drei bis vier Jahren auf eine Personalstärke von 370.000 Mann zu reduzieren. Diese Reduzierung soll mit Inkrafttreten des ersten Wiener Abkommens beginnen. Dies bedeutet: legt man die bisherige Sollstärke von Bundeswehr und nationaler Volksarmee zugrunde, so werden die Streitkräfte des künftigen geeinten Deutschlands um 45 Prozent vermindert.

150 Das geeinte Deutschland wird auf Herstellung, Besitz und Verfügung der ABC-Waffen 151 verzichten und Mitglied des Nichtverbreitungsvertrages bleiben.

13.1 Die Bundespressekonferenz vom 17.7.1990 mit Bundeskanzler Helmut Kohl 

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152 Ich gehe selbstverständlich davon aus, dass die drei Westmächte ebenso wie die Regierung der 153 DDR, mit der ich in der Persönlichkeit des Ministerpräsidenten heute bereits gesprochen habe, 154 auch diese Einigungsvorstellung unterstützen werden. 155 156 157 158 159 160 161 162

Meine Damen und Herren, ein weiterer Schwerpunkt meiner Gespräche mit Präsident Gorbatschow, aber auch der Gespräche von Bundesfinanzminister Waigel mit seinen sowjetischen Partnern war eine zukunftsgewandte wirtschaftlich-finanzielle Zusammenarbeit. Aufgrund der drei westlichen Gipfel von Dublin, London und Houston konnte ich der sowjetischen Führung und vor allem Präsident Gorbatschow verdeutlichen, dass der Westen auf den Erfolg der Perestroika setzt und ihn nach besten Kräften fördern will. Dies ist nach dem Ergebnis meiner vielen Gespräche der Wunsch und das Anliegen unserer westlichen Freunde und Partner.

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Noch Ende dieser Woche wird der Präsident der EG-kommission Jacques Delors nach Moskau reisen und auf der Grundlage des vom europäischen Rat in Dublin erteilten Mandates das Gespräch aufnehmen. Präsident Gorbatschow hat mir noch mitgeteilt, dass er noch vor seinem Urlaub mit dem amtierenden Präsidenten der Gemeinschaft, mit dem Ministerpräsidenten Italiens, Giulio Andreotti, das Gespräch in dieser Frage sucht.

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Die Hauptarbeit – und dabei gab es zwischen uns beiden volle Übereinstimmung – ist jedoch in der Sowjetunion selbst zu leisten. Präsident Gorbatschow bereitet mit seinen Mitarbeitern ein umfassendes marktwirtschaftliches Reformprogramm vor, das er im September dem Obersten Sowjet vorlegen will und das nach seinem Willen alsbald in Kraft gesetzt wird. Dies – und darin waren wir uns einig – ist die entscheidende Voraussetzung für eine wirkliche und wirksame westliche Abstützung dieser Politik.

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Meine Damen und Herren, dieser kurze Überblick über einige wesentliche Themen und Fragestellungen der nächsten Monate zeigt, dass wir bereits mitten in grundlegenden Weichenstellungen für unsere gemeinsame europäische Zukunft stehen. Ich will aus diesem Grunde auch darauf hinweisen, dass allein die Terminübersicht bis zum Dezember deutlich macht, in welcher fahrt das ganze vonstattengeht.

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Mein Treffen mit dem amtierenden Präsidenten des europäischen Rates, Ministerpräsident Andreotti, am 10. September steht in dieser Reihe. Ich nenne die deutsch-französischen Gipfelkonsultationen am 17. Und 18. September in München, das sondertreffen des europäischen Rats am 3. November 1990 in Rom, das KSZE-gipfelreffen am 19. Und 21. November 1990 in Paris – das ist für uns besonders wichtig, weil ja bei dieser Gelegenheit das Abschlussdokument „zwei-plus-vier“ präsentiert werden soll. Ich nenne dann den europäischen Rat am 13. Bis 15. Dezember 1990 in Rom – das ist ein ganz wichtiges Datum, weil ja bei dieser Gelegenheit die beiden Regierungskonferenzen eröffnet werden sollen: Die Regierungskonferenz über die Vollendung der Wirtschafts- und Währungsunion in der europäischen Gemeinschaft und die Regierungskonferenz – ich will sie einmal so nennen – zur weiteren Entwicklung der politischen Einheit in Europa.

190 Ich hoffe, dass wir dieses Jahr so gut zu Ende führen können und dass das, was im ersten halben 191 Jahr begonnen wurde, dann auch fortgeführt werden kann. Ich selbst und die von mir geführte 192 Bundesregierung wird alles daran setzen, dazu ihren Beitrag zu leisten. 193 Wie Sie entdeckt haben, habe ich ein anderes, ganz wichtiges Datum hier nicht erwähnt: die 194 Bundestagswahl, die gesamtdeutschen Wahlen im Dezember. Ich gehe davon aus, dass es wohl

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13 Anhang: Bundespressekonferenzen im Korpus

195 der erste Dezembersonntag sein wird nach den jetzt in der Diskussion befindlichen Daten. Sie 196 haben sicherlich Verständnis dafür, dass ich zum Schluss zum Ausdruck bringe, dass ich die 197 Absicht habe, diese Wahl zu gewinnen.

Das Protokoll der Journalistenfragen unterliegt noch der Sperrfrist und ist deshalb hier nicht abgedruckt.

13.2 Die Bundespressekonferenz vom 1.7.1991 mit Helmut Kohl Das Protokoll des Eingangsstatements wurde durch das Büro des Altkanzlers Kohl zur Verfügung gestellt wurde. Ein Protokoll der Diskussion ist im Büro des Altkanzlers Kohl nicht archiviert. Da das Protokoll noch einem Sperrvermerk unterliegt, kann es hier nicht abgedruckt werden.

13.3 Die Bundespressekonferenz vom 21.3.1996 mit Helmut Kohl Protokoll nach https://www.bundesregierung.de/breg-de/service/bulletin/bulletin-1990-bis-1999/ aktuelle-fragen-der-wirtschafts-und-sozialpolitik-erklaerung-des-bundeskanzlersvor-der-presse-in-bonn-805612 Ein Protokoll der Diskussion liegt nicht vor. 1

Meine Damen und Herren,

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das Bundeskabinett hat heute die jüngsten gewalttätigen Ausschreitungen durch kurdische Extremisten aufs Schärfste verurteilt. Der Wortlaut der Erklärung liegt Ihnen vor. Lassen Sie mich persönlich noch hinzufügen:

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Kein PKK-Mitglied darf in Deutschland weiter sein terroristisches Unwesen treiben. Wer seinen Aufenthalt in Deutschland zu schweren Straftaten nutzt, muß rasch verurteilt und aus Deutschland schnellstmöglich abgeschoben werden. Die Koalition hat sich bereits auf Verschärfungen der ausländerrechtlichen Ausweisungs- und Abschiebungsregelungen geeinigt. So wird künftig bei schwerem Landfriedensbruch eine Ausweisung des Täters zwingend sein. Diese Gesetzesarbeiten werden abgeschlossen, und zwar sehr schnell, und wir werden über die Vorlage bereits in der Kabinettsitzung am nächsten Mittwoch entscheiden.

13.3 Die Bundespressekonferenz vom 21.3.1996 mit Helmut Kohl 

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Ich will darauf hinweisen, daß es wichtig ist, daß die Länder die bestehenden Vorschriften konsequent anwenden. Das gilt sowohl für das beschleunigte Verfahren vor Gericht als auch für den Vollzug der Ausweisung. Die Bundesländer haben hier eine ganz besondere Pflicht zum Handeln. Ich will auch heute die Gelegenheit nutzen, um die Länder aufzufordern, mit aller Härte Recht und Gesetz Geltung zu verschaffen. Wir müssen dabei wegkommen von jahrelangen Strafverfahren. Vorrangiges Ziel muß es sein, terroristische Täter möglichst schnell abzuschieben.

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Ich appelliere aber auch in diesem Zusammenhang an alle Kurden, daß sie sich nicht zu terroristischen gewalttätigen Aktionen in unserem Land verrühren lassen. Ich bitte sie, ihr Aufenthaltsrecht und das ihrer Familien nicht aufs Spiel zu setzen. Das friedliche Zusammenleben von Deutschen und Ausländern darf nicht in Frage gestellt werden. Deswegen ist es auch wichtig, daß wir klar unterscheiden zwischen den über 2 Millionen Türken, die bei uns leben, und zwischen den über 400.000 Kurden innerhalb der türkischen Gruppe, die friedlich hier leben, die wichtige Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen in deutschen Unternehmen sind, die hoch geachtet werden, und den wenigen, die Terror treiben, einen Terror, den wir auf gar keinen Fall akzeptieren können.

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Meine Damen und Herren, das öffentliche Bild der letzten Tage und Wochen ist von heftigen Diskussionen über den Standort Deutschland geprägt. Dabei gibt es natürlich immer wieder gegenseitige Schuldzuweisungen. Ich sehe diese Entwicklung mit Sorge, denn eine solche Debatte ist der falsche Weg, Probleme zu lösen. Sie gefährdet das nach wie vor vorhandene große Ansehen, das der Standort Deutschland nicht zuletzt im Ausland genießt. Wie groß unsere Reputation im Ausland ist, zeigt die Umfrage, die gestern von einem Schweizer Institut veröffentlicht wurde, wonach Deutschland weltweit an hervorragender vierter Stelle hinter den USA, Singapur und Japan rangiert, wobei es bemerkenswert ist, daß die schlechte Note über die Verhältnisse in Deutschland laut diesem Institut überwiegend von Befragten aus dem Manager-Bereich in Deutschland kam.

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Die Arbeitslosigkeit mit jetzt über 4,3 Millionen Arbeitslosen ist die zentrale Herausforderung für die deutsche Innenpolitik. Sie ist eine Aufforderung an Wirtschaft, Gewerkschaften und Politik zum Handeln. Diese Frage, das persönliche Schicksal der von Arbeitslosigkeit Betroffenen, darf niemanden gleichgültig lassen. Deswegen gibt es hier eine gemeinsame Verantwortung von Wirtschaft, Gewerkschaften und Politik. Im Januar haben wir uns im „Bündnis für Arbeit und Standortsicherung“ ein Ziel gesetzt: Wir wollen die Arbeitslosigkeit bis zum Jahr 2000 halbieren. Ich weiß, daß dies ein sehr ehrgeiziges Ziel ist, denn es bedeutet einen Rückgang der Arbeitslosigkeit um rund 2 Millionen. Aber ich weiß aus meiner Erfahrung, daß ohne ehrgeizige Ziele nichts zu erreichen ist, und ich weiß vor allem, daß wir ein vergleichbares Ziel schon einmal erreicht haben. Nach meiner Wahl zum Bundeskanzler Ende 1982 ist es gelungen, in der alten Bundesrepublik zwischen 1983 bis zum Beginn der neunziger Jahre über 3 Millionen zusätzliche Arbeitsplätze zu schaffen.

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Diese hohe Arbeitslosigkeit ist kein unabwendbares Schicksal. Es gibt vor allem nicht den geringsten Grund, den wirtschaftlichen Niedergang Deutschlands an die Wand zu malen, es sei denn, man will das aus wahltaktischen Gründen tun. Wie die Öffentlichkeit gerade vor Wahlen irregeführt werden soll, zeigt zum Beispiel das Thema Renten. Wochenlang wurde behauptet, die Renten würden in diesem Jahr gekürzt.

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13 Anhang: Bundespressekonferenzen im Korpus

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Tatsache ist aber: Die Renten werden in diesem Jahr – wenn auch bescheiden – erhöht, und zwar um 0,46 Prozent im Westen und um 0,56 Prozent im Osten. Diese Rentenanpassung ist kein willkürlicher Akt oder in das Belieben von Politikern gestellt. Es wird vielmehr nach der – gemeinsam mit der SPD beschlossenen – Rentenformel angepaßt. Das heißt: Steigen die Nettolöhne, dann steigen auch die Renten. An diesem klaren und verläßlichen Maßstab für die Rentner halten wir fest.

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Die meisten Experten im In- und Ausland rechnen mit einer schnelleren Gangart der Konjunktur im weiteren Verlauf dieses Jahres. Eine der wichtigsten Erfahrungen für mich ist indes, daß eine Belebung der Konjunktur nicht automatisch zu einem entsprechenden Rückgang der Arbeitslosigkeit führt. Wir müssen und werden deshalb die strukturellen Verbesserungen am Standort Deutschland weiter vorantreiben – im Interesse der Arbeitsplätze hierzulande.

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Es gibt keinen Grund, den Standort Deutschland schlecht zu reden. Deutschland hat unbestreitbare Stärken: Wir haben eine ausgewogene Wirtschaftsstruktur – mit leistungsfähigen großen ebenso wie kleinen und mittleren Unternehmen. Wir haben eine hohe Qualifikation der Arbeitnehmer. Wir haben eine gut ausgebaute öffentliche Infrastruktur. Wir haben wirtschaftliche und soziale Stabilität, um die uns manche in Europa beneiden.

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Zum Bild Deutschlands gehören auch folgende Meldungen aus diesen Tagen: Wir haben 1995 mit 93 Milliarden DM den höchsten Überschuß im deutschen Außenhandel seit 1990 gehabt. Wir haben in weiten Teilen der Branchen 1995 glänzende Geschäftsergebnisse, insbesondere in der deutschen Chemieindustrie, aber auch zum Beispiel bei Siemens, VEBA, MercedesBenz, BMW, RWE und VIAG. Wir haben eine Inflationsrate von VA Prozent und damit praktisch überhaupt keine Inflation. Die langfristigen Zinsen liegen mit zirka 6 1/2 Prozent auf niedrigem Niveau.

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Zu den wichtigen positiven Ergebnissen unserer Politik zähle ich, daß allen Jugendlichen, die dies wollen, ein Ausbildungsplatz angeboten werden konnte. Damit hängt eine andere gute Nachricht zusammen: Die Jugendarbeitslosigkeit ist hierzulande mit 8 Prozent erheblich niedriger als in fast allen anderen Ländern der Europäischen Union. Der EU-Durchschnitt liegt bei fast 21 Prozent, in Frankreich sind es 27 Prozent, in Spanien fast 42 Prozent. Im übrigen bin ich froh, daß es jetzt nach langer Diskussion das „Meister-BAfÖG“ gibt. Damit erleichtern wir den Weg zum Meister oder Techniker und den Schritt in die Selbständigkeit, also auch zu neuen Arbeitsplätzen.

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Ich weiß natürlich ebenso um die Schwachstellen des Standortes Deutschland. Deshalb ist es so wichtig, das gemeinsam von Politik, Wirtschaft und Gewerkschaften am 23. Januar 1996 vereinbarte „Bündnis für Arbeit und zur Standortsicherung“ durch konkretes Handeln rasch voranzubringen. Ich erwarte, daß jeder seinen Beitrag leistet – Unternehmen, Verbände, Gewerkschaften und Politik. Entscheidend für die weitere Entwicklung ist der Ausgang der jetzt begonnenen Lohnrunde.

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Die anstehenden Tarifverhandlungen – Chemie, Bau, öffentlicher Dienst – sind eine erste Gelegenheit, der Beschäftigung wirklich Vorrang einzuräumen. Und im öffentlichen Dienst muß deutlich werden, welch hohes Gut die Sicherheit des Arbeitsplatzes ist. Es liegt mir fern, in die Tarifautonomie einzugreifen. Ich gehe aber davon aus, daß jeder, der einen Tarifvertrag unterschreibt, nicht nur an die Einkommensinteressen der bereits Beschäftigten denkt, sondern ebenso an jene, die Arbeit suchen. Dies gebietet die Solidarität mit den Arbeitslosen. Aus

13.3 Die Bundespressekonferenz vom 21.3.1996 mit Helmut Kohl 

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98 gesamtstaatlicher Verantwortung sage ich: Ich glaube nicht, daß die jetzt genannten Zahlen 99 diesem Solidaritäts-Anspruch gerecht werden. Ich fordere beide Tarifparteien auf, im Geiste 100 des vereinbarten Bündnisses zu verhandeln. 101 102 103 104 105 106 107

Die gegenwärtige Auseinandersetzung der Tarifpartner in der Überstundenfrage zeigt für mich, wie wichtig es ist, das Instrument der Arbeitszeitkonten viel intensiver zu nutzen. So kann Arbeit flexibler organisiert und können Überstunden auf ein vertretbares Maß reduziert werden. Beides hilft Unternehmen, Beschäftigten und Arbeitslosen. Und angesichts der prekären Situation in der Bauwirtschaft würde ich es sehr begrüßen, wenn die Tarifpartner sich rasch auf die notwendigen Regelungen verständigen, damit das Entsendegesetz endlich wirksam werden kann.

108 Mit dem Ziel einer Senkung der Lohnzusatzkosten haben die Tarifparteien im Bündnis für 109 Arbeit und zur Standortsicherung zum Beispiel auch Gespräche zur Verringerung betrieblicher 110 Fehlzeiten vereinbart. Deren Ergebnisse erwarte ich mit Interesse. 111 112 113 114 115 116

Die Bundesregierung handelt entschlossen. Sie setzt das „Bündnis für Arbeit und zur Standortsicherung“ unverzüglich um. Schon eine Woche nach der Vereinbarung mit Wirtschaft und Gewerkschaften im Januar hat die Bundesregierung das „50-Punkte-Aktionsprogramm für Investitionen und Arbeitsplätze“ beschlossen. Am 8. Februar 1996 haben wir es bereits im Parlament diskutiert. Für das Umsetzen haben wir uns kurze Fristen gesetzt – vornehmlich die Zeitspanne bis zur Vorlage des Bundeshaushalts ’97 im Juli diesen Jahres.

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Das Bundeskabinett hat heute eine erste Umsetzungsbilanz des Aktionsprogramms entgegengenommen. Der Bundesminister für Wirtschaft wird hierüber morgen ausführlich berichten. Fest steht: Wir werden das Aktionsprogramm zur Standortverbesserung Punkt für Punkt abarbeiten. Die Bundesregierung denkt bei den notwendigen Entscheidungen nicht daran, jene aus den Augen zu verlieren, die auf die Hilfe der Gesellschaft angewiesen sind. Ich halte auch nichts davon, alles in Frage zu stellen, was die soziale Stabilität und die Menschlichkeit unserer Gesellschaft ausmacht. Wir bauen den Sozialstaat nicht ab, sondern um. Hierzu gehört, den Mißbrauch von Sozialleistungen zu bekämpfen. Genauso wichtig ist aber, den um sich greifenden Steuerbetrug aufzudecken und gegen den Subventionsschwindel anzugehen.

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Beim Umbau des Sozialstaates müssen wir berücksichtigen, wie dramatisch sich unsere Gesellschaft in den letzten Jahren verändert hat. So müssen wir im Blick auf künftige Generationen die Tatsache sehen, daß wir das Land mit den ältesten Studenten und den jüngsten Rentnern sind. Diese Rechnung kann doch nicht aufgehen, wenn ein Akademiker erst mit durchschnittlich 29 Jahren in das Berufsleben eintritt und bereits mit 60 Jahren wieder in Rente oder Pension geht. Dann war er von durchschnittlich 73 Lebensjahren gerade einmal 31 Jahre berufstätig. Das bedeutet ein Verhältnis von rund 40 Prozent Arbeit zu 60 Prozent Nichterwerbstätigkeit. Es ist doch jedem einsichtig: Bei steigender Lebenserwartung kann und muß auch die Lebensarbeitszeit schrittweise verlängert werden.

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Wir müssen durch kürzere Ausbildungszeiten einen früheren Berufseintritt erreichen und auch das tatsächliche Renteneintrittsalter wieder an die gesetzliche Altersgrenze von 65 Jahren heranführen. Wir müssen das auch tun, weil m diesen Jahren bis 2000 ein wirklich europäischer Arbeitsmarkt entsteht und weil es völlig indiskutabel für mich ist, daß junge Deutsche im

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13 Anhang: Bundespressekonferenzen im Korpus

140 Regelfall um vier Jahre später auf den Arbeitsmarkt kommen – etwa junge Akademiker – als 141 ihre französischen, englischen, spanischen oder italienischen Kollegen. 142 143 144 145 146

Um nur einmal deutlich zu machen, um welche Größenordnung es dabei geht: Gelänge es uns, das tatsächliche Renteneintrittsalter um ein Jahr hinauszuschieben, dann würde dies eine Beitragssenkung um fast 2 Beitragspunkte ermöglichen. Die Bundesregierung wird auch in Zukunft das Fundament unseres Sozialstaates sichern, indem sie alle vertretbaren Einsparmöglichkeiten nutzt.

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Der Kampf gegen die Arbeitslosigkeit ist und bleibt gemeinsame Pflicht von Wirtschaft, Tarifpartnern und Politik. Zum Bereich der Politik gehören die Bundesregierung und die sie tragende parlamentarische Mehrheit, aber eben auch die parlamentarische Opposition sowie die Länder und Gemeinden.

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Bundesregierung, Bundestag und Bundesrat haben in gesamtstaatlicher Verantwortung zu handeln. Mit gesamtstaatlicher Verantwortung hat es aber nichts zu tun, wenn die SPD die Mehrheitsverhältnisse im Bundesrat systematisch für eine Verzögerungs- und Blockadepolitik mißbraucht – und zwar bei Gesetzen, durch die die öffentlichen Haushalte entlastet, die Lohnzusatzkosten gedämpft oder bürokratische Hemmnisse abgebaut werden sollen.

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Allein in der Bundesratssitzung am l. März sind alle Gesetzesvorhaben der Bundesregierung oder der Koalition, die – im Sinne der Standortverbesserung – einem dieser Ziele dienen, verzögert oder blockiert worden: sei es durch Ablehnung, sei es durch Anrufung des Vermittlungsausschusses, sei es durch eine Anzahl von Änderungsanträgen.

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Ich will nur diese Beispiele nennen: Es wurden abgelehnt die Novellierung des Asylbewerberleistungsgesetzes und die Novellierung des Krankenhausfinanzierungsgesetzes. Im Vermittlungsausschuß war es die Arbeitslosenhilfe als ein wichtiges Reformgesetz. Es gab umfängliche Änderungsanträge beim Gesetz zur Beschleunigung von Genehmigungsverfahren, beim Gesetz zur Beschleunigung und Vereinfachung von emissionsschutzrechtlichen Genehmigungsverfahren, bei der Novelle zur Verwaltungsgerichtsordnung und der 18. BAfÖG-Novelle. Ich könnte die Beispiele fortsetzen – ich will es nicht tun. Ich will nur heute noch einmal von dieser Stelle aus auch an die Mehrheit des Bundesrates appellieren, vor allem, wenn jetzt in einigen Tagen die Landtagswahlen vorbei sind, daß es möglich sein muß – und das ist das Angebot der Bundesregierung -, in vernünftigen Gesprächen jetzt mit möglichst wenig Zeitverzug die notwendigen Gesetze herbeizuführen.

171 Bundesregierung und Koalition sind und bleiben handlungsfähig. Wir haben einen klaren 172 Wählerauftrag zur Zukunftsgestaltung unseres Landes. Diesen Auftrag werden wir erfüllen.

13.4 Die Bundespressekonferenz vom 11.6.2002 mit Gerhard Schröder und Joschka Fischer Protokoll nach dem unkorrigierten Manuskript Dokumentnummer 2002–062a, das durch das Büro des Altkanzlers Schröder zur Verfügung gestellt wurde. Da das Protokoll noch einem Sperrvermerk unterliegt, kann es hier nicht abgedruckt werden.

13.6 Die Bundespressekonferenz vom 4.8.2010 mit Guido Westerwelle 

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13.5 Die Bundespressekonferenz vom 18.8.2004 mit Gerhard Schröder und Joschka Fischer Protokoll nach dem unkorrigierten Manuskript Dokumentnummer 2004–091b, das durch das Büro des Altkanzlers Schröder zur Verfügung gestellt wurde. Da das Protokoll noch einem Sperrvermerk unterliegt, kann es hier nicht abgedruckt werden.

13.6 Die Bundespressekonferenz vom 4.8.2010 mit Guido Westerwelle Protokoll nach https://archiv.bundesregierung.de/archiv-de/dokumente/pressekonferenz-von-vizekanzler-guido-westerwelle-zur-kabinettssitzung-und-aktuellen-themen-843746 1 2

Vorsitzender der Bundespressekonferenz Gößling eröffnet die Pressekonferenz und begrüßt Guido Westerwelle.

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Westerwelle: Meine sehr geehrten Damen und Herren, Herr Vorsitzender, vielen Dank für die Einladung. Hinter uns liegen einige sehr ereignisreiche, aber auch arbeitsreiche Monate. Deshalb freue ich mich, dass ich, bevor auch ich meinen Sommerurlaub antrete, die Gelegenheit habe, Ihnen noch Rede und Antwort zu stehen, so wie es auch in früheren Zeiten üblich gewesen ist. Wir haben heute im Kabinett das Lateinamerikakonzept der Bundesregierung beschlossen. Das ist auch mir persönlich ein sehr wichtiges Anliegen. Ich glaube, dass wir, wenn wir in Deutschland und in Europa über Lateinamerika reden, in weiten Teilen einen Kontinent vor uns sehen, der hier immer noch sehr stark unterschätzt wird. Das meine ich nicht nur in Bezug auf die wirtschaftliche Bedeutung von Lateinamerika, sondern auch in Bezug auf die wachsende strategisch-politische Bedeutung dieses Kontinents. Wir haben im Koalitionsvertrag festgelegt, dass wir über die Ressorts ein umfassendes Lateinamerikakonzept vereinbaren. Das Ergebnis dieser Abstimmung, das Ergebnis dieser Arbeit ist heute im Kabinett verabschiedet worden. Wir teilen mit Lateinamerika nicht nur gemeinsame wirtschaftliche Interessen, sondern vor allen Dingen auch gemeinsame Werte. Das ist die beste Basis für unsere enge Kooperation, so unterschiedlich die einzelnen Staaten in Lateinamerika auch sind. Die Bekenntnisse zur Demokratie, zu den Menschenrechten, zur globalen Verantwortung – das gehört alles dazu. Auch stellen wir fest, dass Lateinamerika auf internationaler Ebene ebenfalls ein wichtiger Partner für uns ist. Ich denke beispielsweise an die Fragen des Klimaschutzes, aber auch an die Fragen der Abrüstungspolitik, bei denen wir nur gemeinsam in der Welt vorankommen können und bei denen der lateinamerikanische Kontinent, die Staaten des lateinamerikanischen Kontinents, ganz wesentlich mitwirkten und auch mit uns Deutschen und mit uns Europäern sehr gut zusammenwirkten. Die Region ist mit 500 Millionen Menschen eine der dynamischsten Wachstumsmärkte weltweit. Deshalb ist es das Ziel der Bundesregierung und auch mein ganz persönliches Ziel, uns nicht nur kulturell zu verbinden, nicht nur auf eine Vernetzung von Bildung und Wissenschaft zu setzen, sondern auch die Wachstumschancen für

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13 Anhang: Bundespressekonferenzen im Korpus

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unsere eigene deutsche Wirtschaft bestmöglich zu nutzen. In der Außenpolitik gibt es mehrere große Linien und Fragen, die uns in den ersten Monaten der neuen Bundesregierung besonders beschäftigt haben. Für mich ist ein besonders wichtiges Feld das Thema der Abrüstungspolitik und der Rüstungskontrolle gewesen. In diesen Tagen ist – natürlich auch durch das, was weltweit an Sanktionen gegenüber dem Iran beschlossen wird – sehr viel die Rede von der nuklearen Nichtverbreitung. Wir wollen nicht vergessen, dass die nukleare Nichtverbreitung und die Abrüstung zwei Seiten derselben Medaille sind. Wer anderen Ländern sagt, dass eine atomare Bewaffnung nicht in Betracht kommt, ist dann besonders glaubwürdig, wenn er auch selbst bereit ist abzurüsten, auch ausdrücklich nuklear abzurüsten.

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Das Thema der Abrüstung und Rüstungskontrolle ist in meinen Augen eine Aufgabe für die Menschheit, die nicht von geringerem Interesse und nicht von geringerer Verantwortung und Bedeutung ist wie zum Beispiel die Sicherung des Klimas, wie zum Beispiel auch die Bewältigung der ökologischen Herausforderungen. Wenn wir nicht achtgeben, dann kann ein Jahrzehnt der Aufrüstung dazu führen, dass nukleare Materialien, nukleare Waffen in die Hände von Terrororganisationen geraten. Das ist eine Gefährdung für die Menschen, für die Stabilität unserer Welt und natürlich auch für den Frieden in unserer Welt. Wir haben aber einige erfreuliche Fortschritte zu verzeichnen, die nicht einem Land und den Bemühungen eines Landes geschuldet sind, sondern dem gemeinsamen Interesse. Wir haben es nämlich geschafft, dass die Überprüfungskonferenz zum Nichtverbreitungsvertrag erfolgreich abgeschlossen werden konnte. Es ist schon bemerkenswert, dass sich im vergangenen Mai zum ersten Mal alle Teilnehmer zum Ziel der vollständigen Abschaffung aller Arten von Atomwaffen bekannt haben. Damit werden übrigens auch die bisher nicht erfassten substrategischen Nuklearwaffen in den weiteren Abrüstungsprozess einbezogen. Dass diese Nichtverbreitungskonferenz in New York ein Erfolg geworden ist, ist keine Selbstverständlichkeit, vor allen Dingen, wenn man daran denkt, wie unterschiedlich die Interessen der Teilnehmerstaaten sind, und wenn man sich daran erinnert, dass diese Nichtverbreitungskonferenz vor fünf Jahren noch ergebnislos gescheitert ist. Dies ist ein wichtiger Beitrag für Abrüstung und für Nichtverbreitung. Darüber hinaus ist es ein Fortschritt und ohne Zweifel rundweg zu begrüßen, dass die Vereinigten Staaten von Amerika und Russland mit ihrem neuen START-Vertrag einen Meilenstein bei der abrüstungspolitischen Zusammenarbeit erreicht haben. Das ist etwas, was wir natürlich nachdrücklich unterstützten. Wir setzen darauf, dass das Schritt für Schritt nicht nur ratifiziert, sondern auch umgesetzt wird, und sind optimistisch, dass aus diesem START-Neuvertrag eine wirkliche umfangreiche Bewegung für Abrüstung in der Welt und nicht nur zwischen den beiden beteiligten Staaten entstehen kann. Außerdem konnten wir erreichen, dass auch innerhalb der Nato – natürlich auch in Vorbereitung des strategischen Konzepts, das wir ja im Herbst in Lissabon beraten wollen – eine Diskussion über die Bedeutung von Nuklearwaffen im Bündnis angestoßen werden konnte. Die USA haben ja auch eine eigene Selbstdefinition zur Frage der Nuklearstrategie und zur Rolle von Nuklearwaffen veröffentlicht und verabschiedet. Es ist bemerkenswert, dass auch die Vereinigten Staaten von Amerika die Bedeutung der nuklearen Waffen deutlich verringern wollen. Das ist natürlich auch für uns Deutsche wichtig; denn Sie wissen, dass sich die Bundesregierung den Abzug auch der letzten Atomwaffen aus Deutschland zum langfristigen Ziel gesetzt hat, und zwar – ich will nachdrücklich betonen, was ich übrigens international an dieser Stelle immer wieder betone – in Absprache mit unseren Verbündeten in der Nato. Dieses sind positive Signale, ebenso übrigens, wie ja auch einige von Ihnen darüber berichtet haben, dass das umfassende Verbot

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von Streumunition soeben in Kraft getreten ist. Das macht Mut, nukleare und auch konventionelle Abrüstung weiter mit Nachdruck voranzutreiben.

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Das Thema Frieden und das Thema Abrüstung und Rüstungskontrolle hängen ganz eng miteinander zusammen. Deswegen sehen wir natürlich das, was im Nahen Osten derzeit stattfindet, mit großer Sorge. Dort herrscht eine sehr angespannte Situation. Das belegen nicht zuletzt die jüngsten Auseinandersetzungen und die schweren Gefechte an der libanesischisraelischen Grenze. Wir appellieren an alle Beteiligten, jetzt besonnen und konstruktiv vorzugehen. Wir appellieren an alle Beteiligten, den radikalen Kräften entgegenzutreten, die den Weg zum Frieden in der Region torpedieren wollen. Diese radikalen Kräfte dürfen keinen Erfolg haben. Wir rufen zur konstruktiven und besonnenen Vorgehensweise auf. Stattdessen wollen wir Fortschritte erzielen. Das ist ein Thema, das jetzt in der zweiten Jahreshälfte mit Sicherheit von großer internationaler Bedeutung, aber insbesondere natürlich auch für uns Deutsche von großer politischer Bedeutung ist. Wir wollen darauf setzen, dass wir Fortschritte auf dem Weg zu einer Zweistaatenlösung erreichen können. Deswegen wollen wir unseren Beitrag dazu leisten, dass es einen Einstieg in direkte Friedensverhandlungen geben kann. Sie wissen, dass ich selbst diesbezüglich zahlreiche Gespräche nicht nur in der Region, sondern vor allen Dingen auch mit den arabischen Amtskollegen geführt habe. Es gibt jetzt eine grundsätzliche Zustimmung der Arabischen Liga zu solchen direkten Verhandlungen. Das ist ein sehr ermutigendes Signal, welches die Konfliktparteien unbedingt aufgreifen sollten. Dies ist keine Selbstverständlichkeit. Die Arbeit ist noch nicht getan. Aber man muss wissen, dass die Selbstbefristung, die von den verschiedenen Parteien vorgenommen worden ist, vier Monate beträgt. Das heißt, dass wir jetzt in eine entscheidungsträchtige Zeit übergehen. Wenn wir wollen, dass aus den indirekten Friedensgesprächen direkte Friedensverhandlungen werden können, dann ist es auch an uns, entsprechend zu wirken und auf unsere Gesprächspartner einzuwirken. Was die Lage im Gazastreifen anbelangt, hat sich die israelische Regierung mit der Einführung einer Negativliste einen offensichtlichen Politikwechsel verordnet. Wie unsere Haltung dazu ist, ist Ihnen natürlich bekannt. Wir sind als deutsche Bundesregierung, aber auch in der Europäischen Union selbstverständlich der Auffassung, dass wir einen umfassenden Zugang zum Gazastreifen einfordern. Umgekehrt möchte ich mit großem Nachdruck begrüßen, was als Politikwechsel auch von der israelischen Regierung nicht nur beschlossen worden ist, sondern auch geschultert wird. Die israelische Regierung sieht sich hier einem großen innenpolitischen Druck ausgesetzt. Sie hat einen Politikwechsel in Richtung auf eine Öffnung des Gazastreifens beschlossen. Das ist ein Schritt in die richtige Richtung, der nicht ausreicht, aber den wir mit großem Nachdruck anerkennen und auch begrüßen, und wir stärken der israelischen Regierung auch den Rücken, diese Politik fortzusetzen. Wir arbeiten natürlich hieran nicht nur seitens der deutschen Bundesregierung, sondern auch in engster Abstimmung mit dem Quartett, natürlich auch mit Tony Blair und selbstverständlich auch und vor allen Dingen auf der europäischen Ebene. Ich begrüße in diesem Zusammenhang die israelische und türkische Bereitschaft, mit dem von Ban Ki-Moon eingesetzten internationalen Team zur Untersuchung der Vorfälle in den Gewässern vor Gaza Ende Mai zusammenzuarbeiten. Auch das ist ein Fortschritt, und auch das ist ein Beitrag, damit eine umfassende, glaubwürdige und transparente Aufarbeitung tatsächlich gewährleistet werden kann.

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Ich will mit einer kurzen Bemerkung zur Lage der Innenpolitik aus meiner Sicht schließen. Ich glaube, dass wir in der Bundesregierung einiges auf den Weg gebracht haben, was sich jetzt positiv in der Wirtschaft und auf dem Arbeitsmarkt niederschlägt. Das soll nicht der Versuch sein, einen Wirtschaftsaufschwung und eine hervorragende Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt

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alleine als Ergebnis der Arbeit der Bundesregierung zu reklamieren; denn wir alle wissen, dass hierbei viele Umstände eine Rolle spielten, übrigens nachdrücklich auch das sehr verantwortungsvolle Handeln der Tarifvertragsparteien, nicht nur in den letzten Monaten, sondern in Wahrheit in den letzten Jahren. Das ist positiv. Aber wir glauben, dass auch die Entlastung der Familien zu Anfang des Jahres, die Stärkung des Mittelstandes und insbesondere die von uns beschlossene Stärkung der Familienbetriebe einen Beitrag dazu geleistet haben, dass wir wieder eine hervorragende Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt zu verzeichnen haben. Wir können hier sehr optimistisch sein und setzen darauf, dass diese Entwicklung, die sich in der Wirtschaft sehr positiv abzeichnet, auch anhaltend positive Ergebnisse auf dem Arbeitsmarkt hat. Denn das ist es, was für die Menschen vor allen Dingen zählt: dass sie eine Arbeit haben und dass sie, wenn sie eine Arbeit suchen, diese auch finden. Das ist gemeinsam mit der Wirtschaftspolitik von großer Bedeutung und in einem großen Zusammenhang zu sehen.

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Darüber hinaus haben wir große Aufgaben zu bewältigen gehabt. Wir haben nicht nur, was die griechische Finanzkrise angeht, eine große Arbeit zu erledigen gehabt, sondern wir haben es auch bewirken müssen, dass der Euro und damit auch Europa insgesamt in schwierigster Zeit stabilisiert wurde. Jetzt sind wir in den Gesprächen darüber, welche Konsequenzen wir daraus ziehen müssen, welche strukturellen Konsequenzen daraus gezogen werden müssen, damit eine solche Krise des Euro – bestmöglich – nicht noch einmal eintreten kann.

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Aber ich glaube, dass auch insoweit die Arbeit der Bundesregierung überzeugend gewesen ist. Wir haben einen Bundeshaushalt beschlossen, bei dem wir uns eben, weil wir Zeiten des Aufschwungs haben, daran erinnert haben, dass gerade in Zeiten des Aufschwungs die Staatsfinanzen konsolidiert werden müssen. Es wird gespart, die Ausgaben werden wirklich zurückgeführt. In einem einzigen Bereich geschieht dies nicht. Das ist der Bereich, der für Deutschland von herausragender Bedeutung ist, nämlich der Bereich von Bildung, Forschung und Ausbildung. Hier hat die Bundesregierung eine klare Priorität gesetzt. Wir haben große Debatten zur Gesundheitspolitik gehabt. Diese gesundheitspolitischen Debatten sind niemals sonderlich erfreulich, aber sie sind unbedingt notwendig, wenn wir das Gesundheitswesen in einem Umfeld, in dem sich die Altersstruktur unserer Bevölkerung verändert, auf Dauer stabilisieren wollen. Das ist eine Aufgabe, die im Augenblick nicht nur Freunde macht; aber auf Dauer erkennt jeder, dass wir unser Gesundheitssystem wie alle unsere sozialen Sicherungssysteme zukunftsfest machen müssen. Auch das ist richtig: Es gibt andere Bereiche – ich denke zum Beispiel an das Thema der Bürgerrechte, der Rechtsstaatlichkeit -, in denen wir gute Fortschritte erzielen konnten. Deswegen kann ich zusammenfassen: Es hat Anfangsschwierigkeiten gegeben, aber ich denke, dass die Ergebnisse der Politik, die die Bundesregierung in diesen ersten Monaten mit erarbeitet hat, eine positive Bilanz, jedenfalls eine positive Zwischenbilanz, rechtfertigen.

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Frage: Herr Minister, Sie haben auf die Nonproliferationsbemühungen hingewiesen. Der USStabschef, Admiral Mullan, hat diese Woche bekanntgegeben, er habe Angriffspläne gegen Iran im Zusammenhang mit der möglichen nuklearen Aufrüstung. Sind der Bundesregierung diese Angriffspläne bekannt, haben Sie in irgendeiner Weise Kenntnis von diesen Plänen der USRegierung bekommen, und wie beurteilen Sie den Vorgang?

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Westerwelle: Wir haben an derartigen Überlegungen nicht teilgenommen und beteiligen uns auch an derartigen Überlegungen nicht. Wir haben die Sanktionen nicht beschlossen, um ein Land zu treffen, sondern um eine Regierung, die sich bisher der Kooperation verweigert, an den Verhandlungstisch zurückzubringen. Wir setzen eindeutig auf einen politischen Weg.

166 Frage: Wie bewerten Sie denn die Kritik von Altbundeskanzler Helmut Schmidt an der 167 Europäischen Union, an der personellen Besetzung, an der Schwäche und an der jüngsten 168 Erweiterungsrunde, die ja sehr massiv ausgefallen ist? 169 170 171 172 173 174 175 176 177 178 179 180 181 182 183 184 185 186 187 188 189 190 191 192

Westerwelle: Ich habe mich mit der Kritik, die Sie ansprechen – im Detail jedenfalls -, nicht auseinander gesetzt und will deswegen auch nicht auf eine Wortmeldung des von mir sehr geschätzten Altbundeskanzlers Bezug nehmen. Ich kann nur allgemein etwas dazu sagen. Ich bin ein Europäer vom Scheitel bis zur Sohle, und ich kann nur sagen: Wenn man Europa in solchen schweren Zeiten nicht verteidigt, dann macht man einen ganz schweren Fehler. Über Europa kritisch zu reden, ist leicht. Europa aber dann, wenn es schwierig ist, zu verteidigen, auch als großes Friedens- und Wohlstandsprojekt, das ist schon sehr viel schwieriger. Deswegen will ich Ihnen hier sagen: Ich habe in den ersten Monaten meiner Amtszeit den Schwerpunkt meiner Europapolitik nicht nur darauf gelegt, gute Beziehungen zu den größeren Staaten in Europa zu suchen, sondern habe auch sehr viel Kraft und sehr viel Zeit darauf verwandt, exzellente Beziehungen mit den kleineren und mittelgroßen Ländern auf gleicher Augenhöhe zu entwickeln, aufrechtzuerhalten oder auch weiterzuentwickeln. Ich habe, wenn ich es richtig zusammenrechne bis auf drei europäische Mitgliedstaaten mittlerweile alle persönlich besucht, war zu bilateralen Antrittsbesuchen dort, habe nicht beiläufig das Gespräch auf internationalen oder europäischen Konferenzen gesucht, sondern habe, um dem Gastland die Ehre zu erweisen, das Gastland auch tatsächlich besucht, ausdrücklich auch die kleineren und mittleren Staaten. Wer sich die Statik, die mit dem Lissabon-Vertrag jetzt verbunden ist, genauer ansieht, der weiß, dass die Rolle der kleinen und mittleren Staaten in der Europäischen Union wächst und nicht schrumpft. Dementsprechend ist es in unserem eigenen Interesse einer guten Außenpolitik, einer guten Europapolitik, dass wir die europäische Integration vorantreiben, dass wir da, wo es hakt, die Probleme auch anpacken – ich denke zum Beispiel an die Finanzkrise; da sind wir bei der Arbeit -, dass wir aber auch zu denen zählen, die Europa wirklich verteidigen. Europa wird als große Idee erst dann wirklich errungen sein, wenn auch die Generation, die Krieg und Hunger nicht erlebt hat, ohne Wenn und Aber zu Europa steht.

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Frage: Herr Westerwelle, Sie haben gesagt, es hat in der Bundesregierung Anfangsschwierigkeiten gegeben. Ist das sozusagen die gesamte Selbstkritik, die Sie zu üben haben, an der Regierung, an sich selbst und an Ihrer Partei, oder gibt es da noch ein bisschen mehr?

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Westerwelle: Ich bin jemand, der vom ganzen Naturell her nach vorn schaut. Ich glaube auch, wenn sich die Lage für Deutschland ganz augenscheinlich sehr verbessert hat, dann ist es an uns, auch die Probleme der Zukunft anzupacken. Ich bin niemand, der selbstgrüblerisch zurückdenkt und noch einmal die Frage stellt, was alles wie hätte anders gemacht werden können, wo vielleicht auch ungerechte Kritik bei uns gelandet ist oder wo auch Kritik angebracht an uns berechtigt gewesen ist. Ich bin jemand, der nach vorn schaut, und lebe mein Leben am besten so, dass man nach vorn schaut, analysiert, aber dann vor allen Dingen auch anpackt und gestaltet. Das ist in meinen Augen das, worum es jetzt wirklich geht.

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205 Zusatzfrage: Manchmal lernt man ja auch aus Fehlern, die man gemacht hat. Dazu muss man 206 notwendigerweise zurückblicken. Was haben Sie denn gelernt? 207 Westerwelle: Vor allen Dingen, dass man in Bundespressekonferenzen nicht allzu 208 gruppendynamisch Selbstzweifel ausbreitet. 209 Zusatz: Das verstehe ich nicht. 210 Westerwelle: Doch. Das haben Sie sehr genau verstanden. Ich habe gar keinen Zweifel daran, 211 dass Sie das verstanden haben. 212 213 214 215 216 217 218 219

Frage: Herr Westerwelle, ich möchte noch ein bisschen nachfragen. Sie haben sich trotz des Blicks nach vorn mit anhaltend schlechten Umfrageergebnissen auseinanderzusetzen. Die Zufriedenheit mit ihrer Amtsführung hat nicht nur in der Bevölkerung, sondern auch in Ihrer Partei rapide nachgelassen. Welche Konsequenzen ziehen Sie daraus? Denken Sie womöglich auch über eine Veränderung, eine Verjüngung an der Parteispitze nach, darüber, Ihre Arbeit auf mehrere Schultern zu verteilen? Kurzum: Wie wollen Sie diesem Beliebtheitsverfall begegnen? Ich habe eine zweite Frage, wenn Sie erlauben, zur Debatte über die Verlängerung der Laufzeit von Atomkraftwerken. Welches Ergebnis streben Sie an und warum?

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Westerwelle: Es ist so, wie Sie es beschreiben. Niemand freut sich darüber, wenn die Umfragen in einem Tal sind. Ich bin schon sehr lange in der Politik und habe, was die Umfragen angeht, auf sehr hohen Bergen gestanden, bin aber auch erfolgreich durch manches sehr tiefe Umfragetal geschritten. Es gibt ein Rezept – das ist das, was die Bürger zurecht verlangen -, und zwar: Seine Arbeit machen, Probleme lösen und eine richtige Politik machen, die vor allem langfristig trägt, nicht nur darauf zu achten, was kurzfristig beliebt macht, sondern darauf, was langfristig fürs Land richtig ist und was trägt. Das ist es das, was ich als Rezept persönlich lebe und was ich denjenigen empfehle, die sich darüber Gedanken machen. Ich glaube, je mehr die Ergebnisse des Regierungshandelns, die guten Ergebnisse, für die Bürger sichtbar werden, desto besser wird sich die demoskopische Kurve entwickeln, die ohnehin nur eine flüchtige Momentaufnahme ist, übrigens im Guten wie im Schlechten. Die zweite Antwort, die ich Ihnen gebe möchte, ist: Ich glaube, wir müssen in Deutschland vor allem bei einer Sache aufpassen: Nicht jede Debatte ist gleich ein schwerer Streit. Es ist vielmehr so, wenn wir beispielsweise in diesem Herbst über die Energiepolitik zu entscheiden haben, dann halte ich es nicht nur für hinnehmbar, sondern ich halte es für geradezu wünschenswert, dass die Gesellschaft darüber ausführlich, bitte auch kontrovers, diskutiert.

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Neben den großen Aufgaben, die wir als Menschheit ohnehin immer zu bewältigen haben wie Bewahrung der Schöpfung, Frieden und Wohlstand, sind Bildung und Energie die großen Fragen unseres Jahrhunderts. Deswegen werden wir auch bei der Frage der Energie in Deutschland eine Debatte brauchen. Ich finde, dass man das nicht gleich als einen Streit abtun sollte. Streit ist es dann, wenn nicht mehr das Argument trägt, sondern wenn man sich in der Form verliert. Aber wenn es eine gute kontroverse Debatte ist, zum Beispiel in der Energiepolitik, dann ist das sachdienlich, dann gehört das zur Demokratie. Mich würde es eher wundern, wenn wir die Debatte im Herbst nicht führen würden. Ich wünsche mir diese Debatte, weil ich glaube, dass wir auch nur so die gesellschaftliche Akzeptanz für eine Energiepolitik bekommen werden, die auf Dauer ökologisch, ökonomisch, sozial und außenpolitisch trägt. Das ist aus meiner Sicht der Fall. Zur Sache selbst nur noch eine Einschätzung dazu. Wir erarbeiten über den Sommer auch das Energiekonzept der Bundesregierung. Das politische Ziel für uns

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ist völlig klar. Wir wollen das Zeitalter der regenerativen Energien erreichen. Dieses Zeitalter der regenerativen Energien können wir nur erreichen, wenn wir auch Brücken in dieses Zeitalter bauen. Dazu zählt, dass alte Kohlekraftwerke durch saubere modernere Kohlekraftwerke ersetzt werden können. Dazu zählt auch eine maßvolle und überlegte Verlängerung der Laufzeiten der Atomkraftwerke, die aus unserer Sicht eine Brückentechnologie darstellen, um das Zeitalter der erneuerbaren Energien wirklich erreichen zu können. Die genauen Fragen werden jetzt erarbeitet, und wir werden sie im Herbst auf der Tagesordnung haben.

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Frage: Herr Westerwelle, eine Frage zur Innenpolitik. Zählt die Diskussion um die Sicherungsverwahrung, die in der Koalition geführt wird, zu den Themen, bei denen Sie sagen würden, das muss und sollte kontrovers diskutiert werden? Zweiter Aspekt: Unterstützen Sie die Bundesjustizministerin Leutheusser-Schnarrenberger in ihren Vorstellungen zur Novelle der Sicherungsverwahrung? Danke.

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Westerwelle: Ich finde, dass die Bundesjustizministerin hier sehr klug argumentiert. Denn es ist auch für jemanden, der wie ich Jura studiert hat, rechtsstaatlich ein ungewöhnlich schwieriges Feld. Zwei Aspekte sind miteinander in Einklang zu bringen. Erstens ist praktisch für die Sicherheit unserer Bürger zu sorgen, das heißt zu verhindern, dass gemeingefährliche Täter ihr Unwesen treiben können. Man erreicht aber die praktische Sicherheit der Bevölkerung nur dann, wenn man auch rechtssicher entscheidet. Dazu gibt es eine europäische Rechtsprechung, die berücksichtigt werden muss. Daran kommt niemand vorbei. Beides muss zusammengebracht werden. Ich bin absolut sicher, dass uns das auch gelingen wird. Denn hinsichtlich des Ziels sind sich alle einig: Man muss unsere Bevölkerung vor gemeinen Kriminellen schützen. Zugleich muss man rechtstaatlich korrekt vorgehen. Denn was nützt es, irgendetwas zu beschließen, was einige Monate später wieder von den Gerichten aufgehoben wird. Praktische Sicherheit und Rechtssicherheit sind keine Gegensätze, sondern sind zwei Seiten derselben Medaille.

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Frage: Herr Westerwelle, ich habe zwei Fragen. Die erste Frage ist eine einfache Lernfrage: In der vergangenen Woche hat es keine Kabinettssitzung gegeben, in der nächsten Woche wird es keine Kabinettssitzung geben. Was ist der Grund dafür, dass es in dieser Woche eine Kabinettssitzung geben musste?

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Westerwelle: Den Grund haben Sie soeben benannt, und zwar weil es in der vergangenen Woche keine gegeben hat und in der nächsten Woche keine geben wird. Es stand etwas an und das musste entschieden werden, so einfach ist es. Übrigens – soweit ich weiß – war das auch früher so.

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Zusatzfrage: Ihr Parteifreund Brüderle hat eine Debatte über die Rentengarantien ausgelöst. Nun haben Sie im Frühjahr schon über die Leistungsfähigkeit des Sozialstaats gesprochen. Mich interessiert, unterstützen Sie Herrn Brüderle in seiner Einschätzung, dass die Renten auf Dauer nicht stärker als die Löhne steigen können und dass deswegen die Rentengarantie abgeschafft werden muss?

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Westerwelle: Praktisch stellt sich die Frage zurzeit nicht. Erstens rechnen wir alle damit, dass wir in den nächsten Jahren Einkommenszuwächse bei den Löhnen haben werden. Das muss man zunächst sagen. Zweitens glaube ich, dass das ein klassischer Fall dafür ist, dass in einer Gesellschaft, in der es eine politische Landschaft gibt, klugerweise diskutiert wird. Es geht um die Tragfähigkeit der sozialen Sicherungssysteme, aller sozialen Sicherungssysteme, und zwar

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auch in Zeiten, in denen sich die Altersstruktur unserer Bevölkerung verändert. Die Menschen werden älter. Das ist ein Thema, das auf eine Tagesordnung gehört. Das sollte unbedingt sachlich besprochen werden. Darüber hinaus hat der Bundeswirtschaftsminister Rainer Brüderle selbst gesagt, dass es über etwaige Änderungen in der Koalition keine Vereinbarungen gibt. Deswegen stellt sich diese Frage derzeit nicht. Aber, dass wir eine solche systematische Debatte über die Tragfähigkeit der sozialen Sicherungssysteme nicht fürchten sollten, davon bin ich überzeugt. Praktisch steht das ohnehin überhaupt nicht an. Es geht darum, dass wir mutmaßlich in den nächsten Jahren mit Einkommens- und Lohnzuwächsen rechnen können.

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Frage: Was aber praktisch in den nächsten Jahren anstehen wird, ist der zweite Teil der Rentengarantie, also dass die Einsparungen, die bei den Rentnern in diesem Jahr nicht erzielt wurden, nachgeholt werden müssen. So steht es im Gesetz. Man hört jetzt aus Kreisen der Union, dass Bedenken bestehen, dass das umzusetzen sein wird und dass man, wenn die Rentner einen kleinen Zuwachs haben, ihnen die Hälfte wegnimmt. Kann man mit der FDP rechnen? Ist davon auszugehen, dass Sie auf jeden Fall konsequent dafür eintreten werden oder dass die jetzt verteilten Wohltaten wieder bei den Rentnern eingesammelt werden?

306 Westerwelle: Wir haben in der Koalition keine Vereinbarung über eine Gesetzesänderung 307 getroffen. Deswegen stellt sich eine derartige Frage nicht. 308 309 310 311 312 313 314

Frage: Herr Westerwelle, wenn Sie erlauben, möchte ich Ihnen zwei kurze Fragen stellen. Zum Thema Zuwanderung haben Herr Brüderle und Frau Schavan eine Debatte über den erleichterten Zuzug ausländischer Fachkräfte angestoßen. Können Sie uns bitte Ihre Meinung dazu sagen und uns mitteilen, ob Sie für eine drastische Absenkung der Hürden für ausländische Fachkräfte sind? Meine zweite Frage: Es gab gerade Meldungen über einen Anschlag auf den iranischen Präsidenten, der glimpflich verlaufen ist. Können Sie uns Einschätzungen im Hinblick auf die Stabilität des Irans nach diesem Anschlag liefern?

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Westerwelle: Zu der zweiten Frage werde ich mich aus verständlichen Gründen jetzt nicht äußern; vielleicht werde ich dies zu einem späteren Zeitpunkt tun. Sie haben darauf hingewiesen, dass die Meldung zehn Minuten alt ist. Sie haben sicherlich volles Verständnis dafür, dass ich mich erst einmal mit dem Gehalt dieser Meldung auseinandersetzen muss. Vorher kann ich Ihnen aus verständlichen Gründen dazu nichts sagen.

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Was die Frage des Zuzugs und die Frage der Migrationsbewegungen in unserem Lande angeht, so gibt es drei Aufgaben, die wir anpacken müssen, und alle drei gehören zusammen. Erstens müssen wir diejenigen, die wir in Deutschland haben, also unsere eigene junge Generation, qualifizieren, damit sie auch die Beschäftigung übernehmen können, für die Fachkräfte gesucht werden. Die Qualifizierung der eigenen, vor allem der jungen Generation, ist die Aufgabe Nummer 1. Aufgabe Nummer 2 ist, dafür zu sorgen, die Auswanderung von qualifizierten Menschen zu reduzieren. In Wahrheit sind wir in den letzten Jahren ein Auswanderungsland gewesen. Viel zu viele begabte Menschen haben Deutschland verlassen. Wir müssen unser Land so attraktiv machen, dass die Menschen hier ihre Begabung einsetzen. Aufgabe Nummer 3: Es ist natürlich auch richtig, dass wir intelligente Bürgerinnen und Bürger, die für uns und unsere Entwicklung positiv sind, im wohlverstandenen nationalen Interesse einladen, bei uns zu arbeiten und hier zu wirken. Deswegen habe ich beispielsweise veranlasst, auch wenn das vermutlich noch etwas dauern wird, dass das gesamte Verfahren – damit meine ich jetzt nicht politische Vereinbarungen zwischen Staaten; Sie wissen, das ist immer ein Thema, Visafragen sind immer ein Thema – technisch, auch in Bezug auf die Visa-Vergabe, unbürokratischer,

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effizienter und schneller gestaltet werden kann, damit diese jungen interessierten und begabten Menschen zum Beispiel bei uns die Universität besuchen oder bei uns ihr Wissen und ihre Begabung einsetzen. Es geht darum, wie diesen jungen Menschen das erleichtert werden kann. Es sind oftmals ganz praktische Fragen, und ich hoffe, dass wir bald Vorschläge dazu unterbreiten können. Das dauert – das müssen wir wissen – gelegentlich sehr lange und hat mit vielen technischen Fragen zu tun, unter anderem etwas mit der Barzahlung bei Gebühren in Landeswährung, mit der Erreichbarkeit usw. Es geht auch darum, welche Möglichkeiten wir zum Beispiel haben – auch elektronisch -, es vielleicht jungen Menschen aus den Golfstaaten, die hier lernen möchten oder die hier ihre Begabung einsetzen möchten, zu erleichtern, hierher zu kommen. Das sind Fragen, die damit zusammenhängen. Damit ist jedes Ressort befasst. Das ist etwas, was das Auswärtige Amt im Augenblick sehr beschäftigt und wofür ich mich eingesetzt habe. Alle drei gehören zusammen. Also ich sehe keinen Unterschied zwischen der Qualifizierung der eigenen jungen Generation und der Einladung hochbegabter Menschen aus anderen Regionen der Welt, hier bei uns ihr Wissen und ihre Begabung zu unserem Wohle einzusetzen und zu entfalten.

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Zusatzfrage: Darf ich konkret nachfragen? Sie wissen, dass es einen Streit oder eine Debatte um die Eingangsschwellen, also um die Gehälter, um die Mindestgehälter gibt. Würden Sie sich wie der Wirtschaftsminister positionieren, der gefordert hat, diese Schwellen drastisch abzusenken?

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Westerwelle: Ich will jetzt nicht ins Detail gehen. Sie wissen, dass ich in der letzten Legislaturperiode noch in der Oppositionsfunktion daran gewirkt habe, ein sogenanntes Punktesystem zu erarbeiten, ein System, das ich unverändert positiv bewerte. Das ist Ihnen klar. Es ist natürlich eine Diskussion, die derzeit stattfindet. Ich will darauf hinweisen, ohne jetzt auf jedes Detail einzugehen, dass ich einen Widerspruch zwischen den beiden Fragen nicht sehen kann.

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Frage: Herr Minister, eine Frage zum Thema Hartz IV. Es ist zurzeit einiges in der Diskussion, unter anderem eine Entkopplung der Hartz IV-Entwicklung von der Rentenentwicklung hin zu einer Kopplung an die Entwicklung der Nettolöhne beziehungsweise der Inflation. Die Frage ist: Wird es mit der FDP eine solche Entwicklung oder eine entsprechende Reform geben, oder stellen Sie sich dagegen? Ich habe noch eine zweite Frage, wenn Sie erlauben. Das ist vielleicht eine persönliche Frage. Es war heute für Sie keine routinemäßige Kabinettssitzung. Vielleicht können Sie etwas zum Verlauf erzählen, also wie das heute im Vergleich zu anderen Kabinettssitzungen ablief. – Danke.

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Westerwelle: Ich komme zunächst zu der Frage der Hartz IV-Entwicklungen. Das Lohnabstandsgebot sollten wir in Deutschland nicht ignorieren. Es muss so sein, dass sich ordentliche Arbeit auch ganz persönlich lohnt. Rente zum Beispiel ist das Ergebnis von lebenslangem Arbeiten. Rente ist kein Almosen. Rente ist die Gegenleistung für ein Leben voll harter Arbeit. Das muss man, denke ich, auch in einem Zusammenhang sehen.

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Darüber hinaus gibt es eine Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, die derzeit in der Bundesregierung umgesetzt wird. Dabei geht es vor allem um die Kinder. Es geht um die Kinder, um die Bildungschancen der Kinder. Ich bin seit langem der Überzeugung – das habe ich auch immer wieder öffentlich gesagt -: Eine gute Bildungspolitik ist wahrscheinlich die beste Sozialpolitik, die man für junge Menschen haben kann. Wie können wir es jetzt so organisieren, dass das, was wir für junge Menschen tun wollen, um ihnen Chancen zu eröffnen,

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um ihre Chancen zu vergrößern, gerade wenn sie aus einkommensschwachen oder sozial schwierigen Verhältnissen kommen, auch wirklich bei den Kindern landet, das heißt, dass wirklich in die Chancen, in die Zukunftschancen der Kinder investiert wird. Das ist es, womit wir uns derzeit befassen. Das ist die gesamte Debatte hinter den Gutscheinen, die Sie verfolgen. Darum geht es dabei: Wie können wir es also schaffen, dass das Geld der Bürgerinnen und Bürger, der Steuerzahlerinnen und Steuerzahler auch dort bei den Kindern landet, dass es deren Chancen auch wirklich vergrößert. Das ist die Debatte. Daran wird jetzt gearbeitet. Daran arbeitet Frau Kollegin von der Leyen – ich kann das so aus den bisherigen Erfahrungen der Zusammenarbeit sagen – sehr gut. Wir haben drei Maßnahmen bei der Hartz IV-Gesetzgebung in den ersten Monaten beschlossen. Die erste Maßnahme ist: Keine Leistung ohne die Bereitschaft zur Gegenleistung. Das heißt, wenn jemand jung ist, jünger ist als 25 Jahre, gesund ist und keine eigenen Angehörigen zu versorgen hat, dann bekommt er innerhalb von sechs Wochen auch ein Angebot für Arbeit, für Weiterbildung oder für eine sinnvolle Beschäftigung. Wir erwarten aber auch, dass sie angenommen wird. Fördern und fordern. Das ist beschlossen. Das Zweite ist etwas, was ich selbst, wie Sie wissen, durch manche Wortmeldung, über die Sie umfangreich diskutiert haben, befördert und gewollt habe. Das Zweite ist: Wir haben dafür gesorgt, dass das Schonvermögen für die älteren Hartz IV-Bezieher entsprechend verdreifacht wird. Das ist Leistungsgerechtigkeit. Wenn jemand ein Leben lang gearbeitet hat, vorgesorgt hat und sich für das Alter etwas zurückgelegt hat, dann ist es richtig und leistungsgerecht, dass er von dem, was er sich für das Alter zurückgelegt hat, auch mehr behalten darf. Alles andere wäre ein Fehler. Warum sollte man noch für das eigene Alter vorsorgen, wenn man sowieso so behandelt wird, als hätte man es nicht getan? Das haben wir geändert, also Verdreifachung des Schonvermögens.

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Eine Sache, die meiner Meinung nach zu mancher Geschichte einladen könnte, ist die Debatte mit den Ferienjobs, bei der es darum geht, dass Kinder aus Hartz IV-Familien das, was sie sich im Ferienjob erarbeitet haben, auch behalten dürfen und es nicht mit den Sätzen der Eltern verrechnet werden muss. Das ist Leistungsgerechtigkeit. Das ermutigt einen jungen Menschen anzupacken. Das ist etwas, was in diesen Zusammenhang hineingehört. Das heißt, diese Debatte, die Sie angesprochen haben, hat stattgefunden, aber sie hat auch konkret Ergebnisse. Das sind drei sehr gute Ergebnisse. Das vierte Ergebnis, das wir schaffen wollen, ist die Treffsicherheit, also dass das, was wir für die Bildung junger Menschen ausgeben, das, was wir für die Förderung der jungen Mengen als Steuerzahler ausgeben wollen, auch wirklich bei den Kindern dieser Hartz IV-Familien ankommt. Das ist ein berechtigtes Anliegen.

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Sie haben nach meinen persönlichen Eindrücken gefragt. Sie haben gefragt, was anders war als sonst. Die Kabinettssitzung war erheblich kürzer. Es ist Sommer. Sie wissen – das ist ja auch früher schon so gewesen -, dass das Kabinett eine oder zwei Sitzungen im Sommer durchführt. Es gibt viele Fragen, die auf der Tagesordnung stehen und mit denen wir nicht warten wollten, bis die reguläre Sitzung stattfinden kann. Das ist in früheren Zeiten genauso gewesen. Neu für mich ist einzig, dass ich es jetzt zum ersten Mal selbst erlebt habe als derjenige, der die Sitzung leiten durfte. Ich kann Ihnen sagen – das ist kein Geheimnis -: Man empfindet es in diesem Augenblick als eine große Ehre, dass man seinem Land dienen darf.

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Zusatzfrage: Eine Nachfrage zum ersten Thema, Herr Minister. Die Frage war bezogen auf die Entkoppelung der Entwicklung der Hartz IV-Sätze von der Rentenentwicklung hin zu einer Entwicklung der Nettolöhne beziehungsweise Inflation. Vielleicht könnten Sie dazu kurz Ihre Meinung sagen.

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Westerwelle: Ich möchte jetzt nicht ins Detail gehen, weil es auch sehr technische Fragen sind, die über das hinausgehen, was ich Ihnen an Grundsätzlichem dazu geantwortet habe. Ich glaube, der Hinweis auf das Lohnabstandsgebot und darauf, was das Wesen beziehungsweise der Charakter von Rente ist, ist auch zielführend.

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Frage: Herr Westerwelle, eine Frage zu Ihrem Kerngebiet Außenpolitik und zu einer der größten Veranstaltungen, auf der Sie kürzlich waren: die Afghanistan-Konferenz in Kabul. Dort haben Sie erneut auf das neue amerikanische Konzept für Afghanistan hingewiesen und es gelobt. Sie haben erneut darauf hingewiesen, dass Deutschland mit der vernetzten Sicherheit einen Einfluss auf dieses Geschäft gehabt habe. Es gibt nun die ersten Äußerungen des amerikanischen Oberkommandierenden für Afghanistan – Sie werden es gelesen haben, ich kann es noch einmal zitieren -: „Rammt eure Zähne in das Fleisch des Feindes und lasst ihn nicht mehr los! Geht hinaus und eliminiert denjenigen, der die Bevölkerung gefährdet.“ Dazu habe ich drei Fragen. Die erste Frage ist: Wie steht die Bundesregierung zu diesem Marschbefehl? Die zweite Frage lautet: Werden die Bundeswehrsoldaten diesen Marschbefehl, der ausdrücklich für alle Isaf-Soldaten gilt, befolgen? Drittens hätte ich gern Ihre Einschätzung: Sie haben sehr stark das neue Konzept für die Reintegrierung von Talibankämpfern in Kabul vorgestellt, und zwar auch mit einem persönlichen Beitrag. Wie passen diese harschen Worte und auch das harsche Vorgehen der Isaf in den letzten Worten zu diesem Versöhnungsprogramm?

443 Westerwelle: Ich kann nicht beurteilen, ob es wirklich so gesagt worden ist. 444 Zusatzfrage: Das gibt es schriftlich, also das ist unzweifelhaft. 445 446 447 448 449 450 451 452 453 454 455 456 457 458 459 460 461 462 463 464 465 466 467

Westerwelle: Ich möchte es umformulieren: Erstens: Ich will nicht beurteilen, ob es wirklich so gesagt worden ist. Zweitens: Meine Wortwahl wäre es nicht. Drittens: Wir haben eine Afghanistan-Konzeption beschlossen, die gilt, weil die Politik entscheidet. Diese AfghanistanKonzeption ist in der internationalen Gemeinschaft nicht nur unter Beteiligung von Afghanistan und aller Truppensteller, sondern zum Beispiel auch aller Länder der Region erarbeitet worden. Diese Bedeutung wird in meinen Augen sehr unterschätzt. Dass anders als in London, wo ein Nachbarland noch gefehlt hat, in Kabul alle Nachbarländer der Region anwesend gewesen sind und sich sehr detailliert auf das Afghanistan-Konzept verständigt haben, das ist eine besondere Qualität, die es auch zu würdigen gilt. Es sind drei Gesichtspunkte, wobei einer von der neuen Bundesregierung in unserem Afghanistan-Konzept sehr viel stärker betont wird als früher. Erstens wissen wir, dass wir militärisches Engagement brauchen. Wir brauchen militärisches Engagement in Afghanistan, um unsere eigene Sicherheit vor Anschlägen zu vergrößern. Zweitens werden wir nur erfolgreich sein, wenn wir dem Land eine wirtschaftliche und soziale Perspektive geben. Deswegen: Entwicklungszusammenarbeit, Bildungschancen, Frauenrechte, dass Mädchen zur Schule gehen können. Drittens kann Afghanistan von uns nur dann erfolgreich mit all den Herausforderungen bewältigt werden, wenn wir eindeutig eine politische Lösung anstreben und diese wollen. Deswegen: Reintegration und innere Aussöhnung. Das ist das eigentlich Neue in der Afghanistan-Konzeption: Die klare Betonung des politischen Weges. Es ist das Primat der Politik, und es ist richtig, dass die afghanische Regierung unter schwierigsten Umständen auch diese Politik der Reintegration und der Aussöhnung begonnen hat. Wir unterstützen das, nicht nur als deutsche Bundesregierung, sondern wir unterstützen das auch als all die Staaten der Völkergemeinschaft, die bei der Afghanistan-Konferenz in Kabul versammelt waren.

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468 Zusatzfrage: Ich möchte nachfragen. Sie sagen, es ist nicht meine Wortwahl, was General 469 Petraeus dort gesagt hat. 470 Westerwelle: Ich habe gesagt: Das wäre nicht meine Wortwahl. 471 Zusatzfrage: Okay: „Das wäre nicht meine Wortwahl.“ Wenn es nicht Ihre Wortwahl wäre, 472 gilt das dann aus Sicht der Bundesregierung nicht für die deutschen Bundeswehrsoldaten? 473 474 475 476 477

Westerwelle: Ich glaube, wir sind uns einig darüber, dass in bestimmten Situationen vielleicht auch etwas anders gesprochen wird, als mir es beispielsweise von den Lippen ginge. Ich glaube, es war ausreichend klar und deutlich, wobei wir immer berücksichtigen müssen: Ist es wirklich so gesagt worden und bei welchem Anlass, in welchem Zusammenhang, und wie wurde es übersetzt?

478 Zusatzfrage: Ich habe eine Nachfrage dazu. Herr Westerwelle, am Montag wurde hier vom 479 Sprecher des Verteidigungsministeriums, Herrn Dienst, aus diesem Brief wörtlich zitiert. Es 480 gibt also einen drei Seiten langen Brief, eine Weisung. Ich sage das, weil Sie davon sprachen, 481 dass Sie nicht wüssten, wie es gesagt worden sei. Heißt das, Sie kennen diesen Brief nicht? 482 483 484 485 486 487 488 489 490 491

Westerwelle: Sehen Sie, ich habe doch gesagt, dass ich mich darüber hinaus nicht zur Wortwahl weiter äußern will, auch aus Gründen der Zurückhaltung. Es ist, glaube ich, hinreichend deutlich geworden, was ich zur möglichen Formulierung gesagt habe und was ich hier zum Ausdruck gebracht habe. Ansonsten ist es, was den politischen Kern angeht, von mir sehr klar beantwortet worden. Das ist der eigentliche Punkt. Ich glaube, es macht wenig Sinn, dass wir uns jetzt in eine sprachliche Exegese der militärischen Befehle begeben. Dazu habe ich eine Meinung. Diese ist klar genug gesagt worden: Meine Wortwahl wäre so etwas nicht. Im Kern geht es darum: Gilt die Afghanistan-Strategie? Gilt also eindeutig die Unterstreichung auch der politischen Strategie? Das habe ich hier ohne Wenn und Aber mit Ja beantwortet. Das gilt.

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Frage: Herr Westerwelle, zwei Fragen, wenn Sie gestatten. Die erste Frage ist: Sie sprachen vorhin von der erfreulichen wirtschaftlichen Lage, von der guten Lage auf dem Arbeitsmarkt. Sie sagten selbst, dass es sozusagen ein Teilbeitrag gewesen sei und dies auf die steuerlichen Maßnahmen der Bundesregierung von Anfang des Jahres sowie auf die Zurückhaltung der Tarifpartner zurückzuführen sei. Würden Sie die Vorgängerregierung in diese Anerkennung einschließen? Zweitens: Die Debatte, die Sie im Zusammenhang mit Hartz IV und dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts losgetreten haben, folgte auch dem Impuls, dass es Sie geärgert hat, dass sofort über eine Erhöhung des Regelsatzes gesprochen wurde. Zum anderen haben Sie gerade die Bedeutung der Rente als Ergebnis eines lebenslangen Arbeitens ausdrücklich gewürdigt. Wenn ich das zusammenzähle, interpretiere ich Sie dann richtig, wenn ich sage: Sie können es sich politisch nicht vorstellen, dass am Ende eine Erhöhung der Regelsätze steht, während die Rentner in diesem Jahr eine Nullrunde haben und auch in den nächsten Jahren nicht allzu viel zu erwarten sein wird?

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Westerwelle: Sie wissen, dass die Bundesregierung derzeit die Konsequenzen aus dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts berechnet. Das ist das, was jetzt stattfindet. Dazu hat sich meines Wissens gestern die Bundesarbeitsministerin öffentlich in einem großen Zeitungsinterview völlig richtig eingelassen. Sie hat ausdrücklich erklärt, dass es bezüglich von Regelsätzen noch keine Entscheidung gibt, sondern derzeit die Erörterungen stattfinden. Ich habe Ihnen meinen Schwerpunkt genannt: Das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes bezieht

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511 512 513 514 515 516 517 518 519 520 521 522 523 524 525 526 527 528 529 530 531 532 533 534 535 536 537

sich vor allem auf die Lage und die Chancen der Kinder und der Jugendlichen. Dazu habe ich Ihnen ausführlich etwas gesagt. Ich habe Stellung dazu bezogen, was ich dabei als absolute Priorität ansehe. Ich glaube, es ist von ganz großer Bedeutung dafür zu sorgen, dass wir die Chancen von Kindern und Jugendlichen vergrößern, indem wir dafür sorgen, dass das, was wir als Steuerzahler aufwenden, auch wirklich bei diesen Kindern ankommt und ihre Bildungschancen verbessert. Das ist in meinen Augen eine ganz zentrale Aufgabe. Sie wissen, welche Überlegungen es dazu gibt. Das ist das, was hinter den Diskussionen zu den Gutscheinen steckt, was zu Recht in einer Demokratie kontrovers diskutiert wird. In diese Richtung würde ich gern die Diskussion sich entwickeln sehen. Man kann Diskussionen nur beeinflussen. In diese Richtung will ich sie auch im Rahmen meiner Möglichkeiten beeinflussen. Soviel zu der Frage, die Sie gestellt haben. Den Rest muss man sehen, wenn die Berechnungen vorliegen. Es ist schwierig, im Augenblick noch etwas anderes dazu zu sagen. Was die Frage angeht: Wer hat noch einen Anteil an der guten Wirtschaftsentwicklung und an der hervorragenden Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt? Das ist mit Sicherheit auch die letzte Bundesregierung, zum Beispiel mit ihrer Entscheidung, dass die Krankenkassenbeiträge steuerlich abgesetzt werden können. Deswegen stimmt es auch nach Angaben des Bundes der Steuerzahler: Mehr netto vom brutto. Das vergisst man immer. Es ist alles zusammengenommen. Also wer einmal nachrechnet, wird sehen – der Bund der Steuerzahler hat das gerade vor wenigen Wochen veröffentlicht -, dass die Gesamtbelastungen der Bürgerinnen und Bürger durch die Gesamtentlastungen, die zum Januar schon in der letzten Periode beschlossen oder von uns neu vereinbart worden sind, gesunken sind. Ich glaube, es ist eine Sache, die zu unglaublich wenig Resonanz in den öffentlichen Diskussionen geführt hat, die aber von größter Bedeutung war: Die kompletten Änderungen zugunsten der Familienbetriebe beim Erbschaftssteuerrecht. Wie viele Familienbetriebe haben öffentlich darüber gerätselt, ob sie hier bleiben sollen, weil der Betriebsübergang in ihrer Generation, in ihrer Familie ansteht. Ich glaube, dass zum Beispiel die Stärkung der Familienbetriebe gerade im Erbschaftssteuerbereich von ganz großer Bedeutung ist.

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Die Stärkung des Mittelstandes auch bei den Unternehmenssteuerbeschlüssen kam zur rechten Zeit. Sie kam geradezu goldrichtig. Als wir einen sehr harten Winter hatten, bei dem man normalerweise damit hätte rechnen müssen, dass es große Entlastungen gibt, haben wir gewissermaßen etwas dagegen gesetzt und den Mittelstand, der beschäftigungsintensiv ist, gestärkt. Wir haben damit auch das richtige psychologische Signal gesetzt: „Entlasst nicht, sondern haltet die Arbeitsplätze“! Das sehen Sie bis hin zu den guten Entwicklungen bei der Abnahme der Kurzarbeit. Also auch das ist ein sehr gutes Ergebnis. Es haben immer viele einen Anteil daran. Wenn man sehr präzise sein muss, dann war es nicht einmal die letzte Bundesregierung, die das mit der Absetzbarkeit der Krankenkassenbeiträge – im Übrigen mit unserer Zustimmung – beschlossen hat, und damit auch ein Stück Binnenkonjunktur bewirkt hat, sondern es war, genau genommen, sogar das Bundesverfassungsgericht, denn es ist das Urteil umgesetzt worden. Sie sehen, wenn es dem Frieden dient, bin ich gern bereit, dem Erfolg sehr viele Mütter und Väter zuzugestehen, Hauptsache ist, es läuft gut.

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Frage: Herr Minister, ich habe eine Frage zum Thema Afghanistan und zur militärischen Seite dieser Mission. Wenn man die jüngsten Meldungen aus den vergangenen Wochen und Monaten von der Isaf zur Kenntnis nimmt, gibt es die Tendenz, dass offensive Operationen auch in den Unruhe-Distrikten im deutschen Zuständigkeitsbereich zunehmend von alliierten – oder in Klammer – amerikanischen Einheiten übernommen werden, während die Bundeswehr sich dort auf Sicherungsaufgaben beschränkt. Ist es eine Arbeitsteilung, die Sie begrüßen? Ist es gut, dass

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557 sich die Bundesregierung beziehungsweise die Bundeswehr bestimmte Grenzen auferlegt und 558 diese Art des offensiven Einsatzes, der unter Umständen mit gezielten Tötungen verbunden ist, 559 den Alliierten überlässt? 560 Westerwelle: Sie knüpfen an die Veröffentlichung dieser Dokumente an. Ich vermute, das ist 561 der Hintergrund. 562 563 564 565

Zusatzfrage: Ich wollte jetzt nicht in diese Richtung gehen, sondern ich beziehe mich auf Presseveröffentlichungen der Isaf aus den vergangenen Wochen, wobei über nächtliche Operationen auch im deutschen Einsatzgebiet berichtet wird, an denen aber Bundeswehrsoldaten nicht beteiligt waren.

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Westerwelle: Ich bin nicht willens und auch nicht in der Lage, hier jetzt sehr spezielle militärische Aspekte auszubreiten und deren Sinnhaftigkeit in dieser Bundespressekonferenz zu erörtern. Das wäre eher Aufgabe des Bundesverteidigungsministers. Ich bitte Sie, solche Fragen mit dem Bundesverteidigungsminister beziehungsweise mit den Ministerien im Detail zu erörtern. Ich bin federführend für die politische Strategie, für die politische Konzeption und kann nicht zu jeder militärisch-technischen Frage des Einsatzes Stellung beziehen. Ich will es auch nicht, weil es anmaßend wäre, den Eindruck zu erwecken, als wäre man als Außenminister in demselben Maße militärisch-technisch, was die Einsätze angeht, kompetent, wie das der Verteidigungsminister ohne Zweifel ist, der sich damit auseinandersetzt. Ich kann Ihnen nur sagen, dass wir eine sehr gute Kooperation und Abstimmung haben, nicht nur in der Bundesregierung zwischen dem Verteidigungsminister und mir, sondern auch innerhalb des Bündnisses, gerade, was die Länder angeht, die im Norden wirken. Was die Fragen der gezielten Tötung angeht, die verständlicherweise auch erörtert worden sind, so ist es hart, über so etwas zu reden. Aber Sie wissen, dass ich der Minister gewesen bin, der in der Regierungserklärung erstmalig eine rechtliche Qualifizierung des Afghanistan-Einsatzes vorgenommen hat, nämlich als einen bewaffneten Konflikt im Sinne des humanitären Völkerrechts. Daraus ergibt sich einiges. Ich habe Anfang des Jahres in der Regierungserklärung im Deutschen Bundestag nach der Londoner Afghanistan-Konferenz eindringlich darauf hingewiesen, dass das eine bedeutende juristische Qualifizierung ist. Auf die Regierungserklärung darf ich noch einmal hinweisen. Ich will dazu politisch einen Nachsatz anfügen: Seitdem ich im Amt bin, habe ich diesen Einsatz nicht nur immer sehr realistisch betrachtet, sondern auch geschildert. Ich habe ihn vor allen Dingen nicht beschönigt. Ich habe nicht zuerst als Mitglied der Regierung die Truppen in Afghanistan besucht, sondern schon vorher als Mitglied der Opposition. Um die besondere Gefährlichkeit des Einsatzes in Afghanistan wusste ich nicht erst, seitdem ich Außenminister bin. Ich muss Ihnen leider sagen, dass sich meine sehr ernste Betrachtung der Sicherheitslage nicht verändert hat. Wir wissen: Die Erntezeit geht zu Ende. Wir wissen: Es kann noch einmal eine weitere Anspannung und Bedrohung der Sicherheitslage bedeuten. Niemand wünscht sich das. Niemand will es herbeireden. Aber jeder sollte wissen, dass das passieren kann. Ob es uns gefällt oder nicht – so ist die Lage. Es ist als relativ neuer Außenminister an mir, diese Lage nach besten Kräften in einer vernünftigen Richtung zu gestalten. Deswegen haben wir einen Strategiewechsel mit dem Afghanistan-Konzept der Bundesregierung beschlossen – jetzt gerade erst in Kabul augenscheinlich auch von der internationalen Völkergemeinschaft gedeckt – und haben der politischen Lösung eine ganz besondere Bedeutung gegeben.

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600 Wir haben am Anfang darüber gesprochen, was Streit und was Diskussion ist. Ich sage Ihnen 601 voraus: Es wird noch manche sehr schwere Diskussion zum Beispiel bei den Fragen auf uns 602 zukommen, wo Aussöhnung Grenzen hat und mit wem man sich überhaupt aussöhnen kann. 603 604 605 606

Zusatzfrage: Eine Nachfrage, weil Sie noch einmal das Stichwort „gezielte Tötung“ aufgenommen haben und darauf hingewiesen haben, dass Sie die rechtliche Qualifikation dieses Einsatzes vorgenommen haben: Mir ist nicht ganz klar geworden, wie Ihr Verhältnis zu der Frage der gezielten Tötung ist, ob Sie sie für legitim halten oder nicht.

607 Westerwelle: Ich glaube, ich habe auf die Rechtslage hingewiesen. Die Rechtslage ist 608 diesbezüglich eindeutig. Da geht es nicht um Legitimität, es geht um Legalität. 609 Zusatzfrage: Aus Ihrer Sicht ist es legal? Es ist gar keine Frage, dass sie legal ist, wenn ich Sie 610 richtig verstehe. 611 Westerwelle: Wir müssen wissen, dass gegnerische Kämpfer in einem nicht internationalen 612 bewaffneten Konflikt in dem vom humanitären Völkerrecht gesteckten Rahmen gezielt 613 bekämpft werden können und auch dürfen. 614 615 616 617 618 619 620 621

Ich will Ihnen das ganz offen sagen: Es war, wenn ich es recht in Erinnerung habe, die erste Regierungserklärung, die ich gehalten habe. Sie wissen, dass Regierungserklärungen sehr sorgfältig zwischen den verschiedenen Ressorts abgestimmt werden. Ich weiß noch, dass ich morgens zu den Abgeordneten gegangen bin, die sich besonders mit der Afghanistan-Politik befasst haben. Sie haben genau gewusst, was in dieser juristischen Qualifizierung steckt. Ich war damals ein wenig überrascht, dass das nur ganz am Rande Beachtung gefunden hat. Ob es uns gefällt oder nicht – so ist die Lage. Wir haben die Aufgabe, die Sicherheit unseres Landes und unsere Frauen und Männer, unsere deutschen Landsleute, zu schützen.

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Frage: Herr Westerwelle, in einigen Medien wird die Frage einer Partei rechts von der Union thematisiert. Tun Sie das als ein Journalistenthema im Sommerloch ab? Oder hat das für Sie einen realen Bezug, gerade auch mit Blick auf programmatische und personelle Schwierigkeiten in der Union und mit Blick auf das Umfragetief Ihrer Partei?

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Westerwelle: Ich glaube, es ist ganz normal, dass es Diskussionen gibt, wenn die Demoskopie nach unten zeigt. Ich erlebe das nicht zum ersten Mal. Nächstes Jahr bin ich 10 Jahre Parteivorsitzender und bin, wie gesagt, schon auf mancher Umfragehöhe und auch schon in manchem Umfragetief gewesen. Das gehört in der Politik dazu. Ich rate jedem zu einer gewissen gesunden Distanz. Weder wenn die Umfragewerte ganz unten sind noch wenn sie ganz oben sind, sollte man das quasi nicht schon für die ganze Wahrheit nehmen. Ich glaube, wenn wir sehen, dass die Ergebnisse der Politik für die Bürgerinnen und Bürger greifbar besser werden, wenn wir sehen, dass damit ganz sicherlich auch die demoskopische Zustimmung wächst, werden sich meiner Einschätzung nach auch solche Debatten schnell im Archiv wiederfinden.

636 Frage: Herr Westerwelle, als Sie im Herbst begannen, sich mit Herrn Seehofer zu duzen, 637 begannen Herr Seehofer und die übrigen Teile der CSU, der FDP von morgens bis abends vor 638 das Schienbein zu treten. Haben Sie manchmal bereut, dass Sie dieser Duzfreundschaft 639 zugestimmt haben? Wären Sie heute lieber beim „Sie“? 640 Westerwelle: Nein.

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641 Zusatzfrage: Zweitens. Welche Bedeutung hat Ihrer Ansicht nach die Landtagswahl in Baden642 Württemberg für die Koalition in Berlin? 643 644 645 646 647 648 649 650 651

Westerwelle: Das ganze nächste Jahr ist ein wichtiges Wahljahr. Allein schon von Ihnen wird auf jede Wahl sehr genau geachtet. Wie immer gibt es bei Landtagswahlen Dinge, die ausschließlich in dem Land bewegt und auch entschieden werden. Dann gibt es natürlich auch Fragen, die etwas mit der Großwetterlage zu tun haben. Man wird sehen, wie es im nächsten Jahr sein wird. Ich bin, was die Landtagswahlen, die Wahlen nächstes Jahr angeht, von einem gesunden Optimismus geführt. Gerade weil die Bürger sehen, dass nach anfänglichen Schwierigkeiten eine sehr sachorientierte Politik mit sehr guten Ergebnissen für die Bürger gemacht wird, bin ich der Überzeugung, dass sich das auch im nächsten Jahr bei den Wahlen in Zustimmung für die Regierungsparteien im Bund zeigen wird. Ich bin da recht optimistisch.

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Zusatzfrage: Und der erste Teil der Frage?

653 Westerwelle: Sie haben gefragt, ob ich es bedauert habe. Ich habe gesagt: Nein. Das war eine 654 geschlossene Frage mit einer geschlossenen Antwort. 655 Zusatzfrage: Eine Nachfrage zur Landtagswahl in Baden-Württemberg. Es gibt einige Leute, 656 die sagen: „Wenn die Regierung in Stuttgart baden geht, ist die Koalition in Berlin im Grunde 657 politisch am Ende.“ Würden Sie dem zustimmen? 658 659 660 661 662 663 664

Westerwelle: Wir gewinnen die Wahl in Baden-Württemberg. Ich bin davon absolut überzeugt. Gerade wenn ich mir die erfolgreiche Arbeit der Landesregierung in Baden-Württemberg ansehe, wenn ich mir ansehe, wie hervorragend auch die Wirtschaft in Baden-Württemberg wächst, hat das ganz entscheidend mit der Zuverlässigkeit der Regierungsparteien in Stuttgart zu tun. Deswegen glaube ich, dass wir gemeinsam sehr gut abschneiden werden. Wie bei den letzten zahlreichen Wahlen auch, werden wir dort eine bürgerliche Mehrheit aus Union und FDP schaffen.

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Frage: Herr Westerwelle, wie erklären Sie sich, dass die Fraktionsvorsitzende der FDP in Baden-Württemberg bei Ihrer Wiederwahl als Landesvorsitzende 20 Prozent nach unten abgestürzt ist? Ich frage das vor dem Hintergrund all dessen, was Sie hier eben zu der relativ erfolgreichen Politik gesagt haben, die Sie in Berlin als Summe für sich erkennen. Zweitens: Sie waren für Ihre Verhältnisse relativ zurückhaltend, als Sie Ihre Gefühlslage beschrieben haben, wie es heute bei Ihrer „Kanzlerpremiere“ gewesen ist. Mich würde schon interessieren: Hatten Sie eigentlich erhebende Gefühle? Saßen Sie auf dem Platz der Kanzlerin?

672 Westerwelle: Ich saß geografisch an derselben Stelle. 673 Zuruf: Was heißt denn das? 674 Westerwelle: Das heißt, dass ich nicht weiß, welcher Stuhl da stand und dass ich mir über diese 675 Frage auch offen gestanden weniger Gedanken gemacht habe als Sie. 676 677 678 679 680 681

Soll ich Ihnen sagen, wie das stattgefunden hat? Ich habe mich heute Morgen um 9 Uhr statt mit der Bundeskanzlerin mit dem Kanzleramtsminister getroffen. Wir sind die Kabinettsmappe durchgegangen und haben noch verschiedene weitere Fragen miteinander besprochen, bei denen wir uns beim Regierungshandeln synchronisieren und auch zu Entscheidungen kommen müssen beziehungsweise diese über den Sommer vorbereiten müssen. Wir haben über Fragen gesprochen, die Sie noch nicht angesprochen haben und die ich von mir aus auch noch nicht

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angesprochen habe. Das ist zum Beispiel die Frage der humanitären Hilfe, was Pakistan angeht. Deutschland – BMZ und AA gemeinsam – wird mit etwa 1 Million Euro humanitäre Hilfe leisten. Wir haben, wie Sie sich natürlich vorstellen können, die Frage Israel/Libanon erörtert. Das ist das, was wir erörtert haben.

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Weil Sie so persönlich danach fragen, will ich Ihnen sagen, wie sich das für mich darstellt: Wenn Sie nach langen Jahren Opposition in der Regierungsverantwortung sind, freuen Sie sich in dem Augenblick auch auf die Aufgabe. Aber wenn Sie sie dann haben, spüren Sie auch ein Maß von Verantwortung – und zwar Tag und Nacht -, wie sich das nur wenige wirklich ausmalen können. Ich habe manchmal über die Unausgeschlafenheit von Amtsvorgängern gelästert. Heute kann ich es gelegentlich auch nachvollziehen. So altersmilde wird man. Das ist die Gefühlslage. Es ist eher eine Frage, dass Sie Aufgaben lösen. Sie haben einfach sehr viel zu tun.

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Nehmen Sie ein großes Thema, über das ich mich mit dem Innenminister ausgetauscht habe, nämlich dass wir Russland nicht nur als Geste, sondern auch ganz praktisch Hilfe angeboten haben, was die Brände angeht. Mit solchen Fragen sind Sie natürlich befasst, und zwar ob Sie Urlaub haben oder nicht, ob Tag oder Nacht ist. Das ist das andere Leben, was man nicht mitbekommt, wenn man das alles beobachtet. Das ist einfach eine ganz andere Aufgabe. Die Verantwortung ist schon sehr, sehr groß, gerade, wenn Sie natürlich auch mit internationalen Konflikten vertraut und befasst sind. Was die Frage des Ergebnisses von unserer Fraktionsvorsitzenden Birgit Homburger angeht, so hat sie eine klare Zwei-Drittel-Mehrheit auf dem Landesparteitag bekommen.

703 Zuruf: Eine knappe. 704 705 706 707

Westerwelle: Sie hat eine Zwei-Drittel-Mehrheit auf dem Landesparteitag bekommen. Ehrlich gesagt: Wer lange in einer Partei aktiv ist, hat schon gute und auch schon einmal weniger gute Wahlergebnisse einstecken müssen. Das geht jedem so. Das ändert aber nichts an meiner außerordentlich großen Wertschätzung für die Arbeit der Fraktionsvorsitzenden.

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Frage: Herr Westerwelle, eine Frage zur Koalition: Sie sprachen gerade von politischer Verantwortung. Würden Sie angesichts der Umfragewerte der FDP so weit gehen, dass Sie als Parteivorsitzender auch die politische Verantwortung für diesen Status quo übernehmen? Eine zweite Frage zur Wehrpflicht: Ist die geplante Aussetzung etwas, womit Sie leben können? Oder fordern Sie nicht vielmehr angesichts der von Ihnen skizzierten Herausforderungen in Afghanistan letztlich eine Berufsarmee?

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Westerwelle: Was die Frage der Umfragen angeht, die, wie ich persönlich glaube, die Bürger weniger beschäftigt, als diejenigen, die hier in Berlin übrigens auf beiden Seiten des Schreibtisches arbeiten, so ist eine Sache überhaupt gar keine Frage: Wenn man Vorsitzender ist – das geht jedem Vorsitzenden so -, dann trägt man für alles am Schluss immer die Verantwortung. Das ist überhaupt gar keine Frage. Das gehört einfach dazu. Wenn ich mir die Bilanz meiner Arbeit als Parteivorsitzender ansehe, so gab es schon Monate mit sehr schlechten Umfrageergebnissen. Aber die Wahlergebnisse haben gestimmt. Sonst säße ich nämlich nicht hier. Ich glaube, das ist noch viel wichtiger. Wenn Sie am Anfang einer Regierungspartei sehr schwierige Dinge lösen müssen und auch sehr unpopuläre Entscheidungen treffen müssen, die aber für das Land richtig sind, macht sich das bedauerlicherweise auch manchmal

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demoskopisch bemerkbar. Selbst die – das sage ich unumwunden – nicht erfreulich ausgegangene Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen hat für die FDP immer noch das zweitbeste Wahlergebnis in den letzten 30 Jahren gebracht. Wir haben zugelegt. Gelegentlich rate ich dazu, solche Sachen nicht nur virtuell zu diskutieren, sondern einfach einmal zu schauen, wie die Wahlergebnisse gewesen sind. Das ist auch etwas, was von denen, die es angeht und die es zu entscheiden haben – die Delegierten unserer Parteitage -, genau gesehen wird.

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Zur Debatte zur Wehrpflicht muss ich sagen: Mich wundert es nicht, dass darüber nicht nur in der Koalition, sondern auch in der Gesellschaft kontrovers diskutiert wird. Das ist eine ganz schwierige Abwägungsfrage, die ich für mich persönlich entschieden habe, und zwar nicht aus Gründen der Strukturreform und auch nicht aus Gründen der Kosteneinsparung. Aus Gründen der Wehrgerechtigkeit bin ich der Überzeugung: Wenn weit weniger als 20 Prozent eines jeden Jahrgangs von jungen Männern überhaupt bei der Bundeswehr Dienst tut, dann stellt sich die Wehrgerechtigkeitsfrage als von größter Bedeutung dar. Deswegen bin ich seit langem der Überzeugung, dass die Wehrpflichtigenarmee aus Gründen der Wehrgerechtigkeit umgewandelt werden sollte, indem die Wehrpflicht ausgesetzt wird. Ich begrüße, dass der Bundesverteidigungsminister dieses heiße Eisen anpackt und es derzeit bearbeitet.

741 Zusatzfrage: Zur Berufsarmee würden Sie jetzt nicht eine Forderung erheben? [Abbruch: 742 akustisch unverständlich] 743 744 745 746 747 748 749 750 751 752 753 754 755 756 757

Westerwelle: Das hat damit übrigens nichts zu tun. Sie wissen, dass Wehrpflichtige auf einer solchen Basis gar nicht [nach Afghanistan] – ich sage das einmal so – hinbefohlen werden können. Das ist der entscheidende Unterschied. Ich muss Ihnen dazu sagen, dass das weniger etwas mit diesen Fragen zu tun hat. Das sind alles Argumente, die mit in die Waagschale geworfen werden. Für mich ist die Frage der Wehrgerechtigkeit ausschlaggebend. Wenn nur noch 16–17 Prozent eines Jahrgangs junger Männer überhaupt bei der Bundeswehr Dienst tun, dann stellt sich eben die Frage der Wehrgerechtigkeit – besser gesagt die Frage der Wehrungerechtigkeit -, denn die anderen arbeiten dann zum überwiegenden Teil schon an ihrem persönlichen Lebensweg und darüber hinaus. Das verzerrt für viele junge Männer die Lage. Ich glaube, das ist eine Debatte, die Deutschland führen muss. Ich bin deswegen schon seit langem aus Gründen der Wehrgerechtigkeit für die Aussetzung der Wehrpflicht. Ich begrüße, dass sich der Verteidigungsminister dieser Frage annimmt und sich ihr stellt. Bitte sehen Sie es mir nach, dass die nächste Frage die letzte Frage ist. Bitte sehen Sie es mir nach, aber ich muss um 12.30 Uhr bei einer Veranstaltung sein. Die Pressekonferenz ist schon deutlich länger geworden als geplant.

758 Vorsitzender Gößling: Sie müssen einfach öfter kommen. Dann schaffen wir den 759 Fragenkatalog. Sie sind herzlich eingeladen, wenn Sie aus dem Urlaub zurück sind. Dann 760 arbeiten wir die restlichen Fragen ab. 761 Westerwelle: Muss das sofort nach dem Urlaub sein? 762 Vorsitzender Gößling: Nein, das können Sie entscheiden. 763 Westerwelle: Sie müssen das einmal so sehen: Dann komme ich aus dem Urlaub wieder, man 764 ist gerade entspannt und dann soll es schon gleich wieder loslegen. 765 Vorsitzender Gößling: Hier war es doch bisher auch ganz entspannt.

13.7 Die Bundespressekonferenz vom 27.11.2013 mit Angela Merkel, u.a. 

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766 Westerwelle: Ja. 767 768 769 770

Frage: Herr Minister, Sie haben selber gerade die Sicherheitslage in Afghanistan beschrieben. Halten Sie es dennoch für realistisch, dass Teile der Sicherheitsverantwortung an die afghanischen Sicherheitskräfte übergeben werden können, wie Sie das vor Kurzem angekündigt haben?

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Westerwelle: Ja. Ein realistisches Bild von Afghanistan und der Sicherheitslage in Afghanistan sollte jeden zu größter Differenzierung veranlassen. Es gibt, wenn ich es richtig im Kopf habe, im Norden von Afghanistan etwa 134 Distrikte. Acht davon gelten als besonders gefährlich. Das ist ungefähr die Größenordnung. Ich kann nicht ganz sicher sagen, ob es 133 oder 134 sind. Die Größenordnung stimmt mit Sicherheit. Das muss man also wissen. Deswegen haben [bei der Afghanistan-Konferenz] auch die internationale Gemeinschaft und Präsident Karsai das Ziel formuliert, im Jahr 2014 in vollem Umfang die Sicherheitsverantwortung zu übernehmen. Das ist nicht das Ziel des deutschen Außenministers oder der Bundesregierung, sondern das ist das Ziel der gesamten Völkergemeinschaft und ausdrücklich der afghanischen Regierung. Auf dem Weg dorthin wollen wir natürlich regional Schritt für Schritt vorgehen. Eine Einschränkung mache ich ausdrücklich – das habe ich übrigens auch in der Regierungserklärung getan, die ich dazu kürzlich gehalten habe. Natürlich immer unter dem Vorbehalt, dass die Voraussetzungen, die wir annehmen, auch eintreten – das ist doch ganz selbstverständlich -, und immer natürlich auch in engster Abstimmung mit unseren Bündnispartnern.

785 Herzlichen Dank und Ihnen noch einen schönen Tag!

13.7 Die Bundespressekonferenz vom 27.11.2013 mit Angela Merkel, Sigmar Gabriel und Horst Seehofer Eigentranskript nach http://www.youtube.com/watch?v=3_5N-IvwKAc 1 2 3 4

Vorsitzender der Bundespressekonferenz Hebestreit: (…) Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel, den bayerischen Ministerpräsidenten und CSU-Vorsitzenden Horst Seehofer sowie den SPD Parteivorsitzenden Sigmar Gabriel und auch wenn das klar ist, das Thema der heutigen Sitzung lautet die Vorstellung des Koalitionsvertrages.

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Alle drei Parteivorsitzenden werden mit einem Eingangsstatement beginnen. Und dann könnte ich mir vorstellen, gibt es vielleicht auch die eine oder andere Fragen. Jetzt noch ein letztes Mal bitte die Photographen und die Kamerateams auf ihre angestammten Plätze und nicht mehr durch den Saal laufen! Vielen Dank! Frau Bundeskanzlerin!

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Eingangsstatement Merkel: Ja, meine Damen und Herren! Wir haben heute in den frühen Morgenstunden einen Koalitionsvertrag vereinbart, CDU/CSU und SPD unter dem Motto Deutschlands Zukunft gestalten.

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13 Anhang: Bundespressekonferenzen im Korpus

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Und der Duktus und der Geist dieses Vertrages heißt, dass wir eine Große Koalition sind, um auch große Aufgaben für Deutschland zu meistern. Ich glaube, dass diese Aufgaben vor allen Dingen sich angesiedelt sind in den drei Themenbereichen: solide Finanzen, sicherer Wohlstand und soziale Sicherheit. Zentrale Versprechen, das kann ich für die christlichdemokratische Union sagen, die wir den Menschen während des Wahlkampfes gemacht haben, haben wir eingehalten, werden wir umsetzen können.

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Erstens zu dem Thema solide Finanzen. Wir haben gesagt, wir wollen in dieser Legislaturperiode zu dem Punkt kommen, an dem wir keine neuen Schulden machen, und das heißt ja nichts anderes, als dass wir Ja sagen zur Zukunft unseres Landes, dass wir Ja sagen zu Lebenschancen für die Jüngeren, für die Kinder und Enkel, und solide Finanzen heißt genauso, dass wir für unser gemeinsames Europa darauf Wert legen, dass wir keine Schuldenunion haben, sondern dass wir eine Stabilitätsunion entwickeln, und der Geist der Koalitionsverhandlung war immer und das spiegelt sich auch im Europakapitel wider, Europa ist für Deutschland unablässlich. Wir brauchen Europa. Deutschland kann nur stark sein, wenn wir ein starkes Europa haben und der Euro steht für diese gemeinsame… dieses gemeinsame Europa als unsere gemeinsame Währung.

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Zweitens, wir sagen, wir wollen den Wohlstand sichern. Sicherer Wohlstand für die Menschen im Lande. Das ist das Ziel unserer Arbeit. Das ist für mich von besonderer Wichtigkeit und für die christlich-demokratische Union, dass wir gesagt haben, wir wollen die Steuern nicht erhöhen. Keine Steuererhöhung, weil wir glauben, dass das gut ist für den Mittelstand, für die kleinen Unternehmen, für diejenigen, die in unserem Land Arbeitsplätze schaffen und die damit auch Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern Sicherheit geben.

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Wir werden in die Zukunft investieren und zwar in Forschung, in Bildung. Ich habe immer wieder von der Bildungsrepublik gesprochen. Wir kommen dem einen Schritt näher, in dem wir in besonderer Weise Hochschulen unterstützen werden, und auch den Kita-Ausbau weiterbefördern werden.

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Wir werden zusätzlich 3 Milliarden in die Forschung geben und den Aufwachs auch gerade bei den außeruniversitären Einrichtungen für die Länder mit übernehmen, damit Länder dann auch andere Aufgaben verbessert erfüllen können.

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Wir werden investieren in unsere Verkehrsinfrastruktur. Wir haben immer wieder davon gesprochen, dass wir hier zum Teil von der Substanz leben. Wir werden hier also einen großen Schwerpunkt setzen, 5 Milliarden mehr in die Verkehrsinfrastruktur allein aus dem Bundeshaushalt, und eine der großen Aufgaben, die vor uns liegt und die sehr viel mit dem sicheren Wohlstand für die Bürgerinnen und Bürger in Deutschland zu tun haben, das ist dass wir für die Energiewende stemmen.

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Wir haben sehr viel Zeit mit dieser Frage verbracht. Wir haben hier sehr detailliert beraten und wir müssen die Bezahlbarkeit, die Versorgungssicherheit und die Umweltfreundlichkeit in eine Balance bringen, und ich glaube, das ist uns gelungen. Wir haben Ausbaukorridore festgelegt. Wir haben deutlich gemacht, dass wir gute Standorte gerade bei Onshore-Wind vor nicht so guten Standorten privilegieren müssen, und ich glaube, mit diesem Kompromiss ist uns ein Schritt in die richtige Richtung gelungen, aber diese Energiewende wird uns noch viel Kraft abverlangen.

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Das Gute war, dass ich in den Beratungen immer gespürt habe, das wollen wir, weil uns der Industriestandort am Herzen liegt, weil uns auch die Frage der Arbeitsplätze am Herzen liegt und wir sind uns des internationalen Wettbewerbs bewusst, aber wir sind auch davon überzeugt, dass die Energiewende eine riesige Chance für Deutschland ist.

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Wir sind, wenn es uns gelingt, Vorreiter in vielen Technologien und deshalb glauben wir, dass die Chancen größer sind als die Risiken, aber wir werden die Risiken nicht unter einen Tisch kehren, sondern sie anpacken.

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Für den Wohlstand ist weiterhin wichtig, dass wir natürlich die universitäre Ausbildung fördern, aber eben auch die duale Berufsausbildung. Wir haben ganz bewusst gesagt, wir wollen den Ausbildungspakt fortentwickeln. Wir wollen jedem jungen Menschen eine Chance geben, und wir sagen: Vollbeschäftigung, das kann ein realistisches Ziel für Deutschland sein und das soll auch eins sein.

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Damit bin ich bei dem dritten Thema: die soziale Sicherheit. Gute Arbeit ist das Kapitel überschrieben, in dem, das sage ich ganz freimütig, die Union sich nicht immer leicht getan hatte.

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Hier lagen unsere Vorstellungen zum Teil sehr weit auseinander, und (Versprecher) die Beratungen waren dennoch geprägt von dem Wunsch, das richtige Maß an Flexibilität und Sicherheit zu finden, und ich glaube, das ist uns an vielen Stellen gelungen.

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Dass die Frage des einheitlichen, flächendeckenden, gesetzlichen eine der großen Brocken war, die wir überwinden mussten und die wir gestalten mussten, das war seit langem bekannt. Die Unionsvorstellungen waren hier im Regierungsprogramm andere, aber ich finde, wir haben einen fairen Kompromiss gefunden, und wir haben auch gerade gestern nochmal sehr, sehr wichtige Gespräche gehabt, um die ganze Sache so zu machen, dass dabei Chancen entstehen und nicht Risiken auf Arbeitsplatzverlust vielleicht überwiegen könnten.

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Und deshalb freue ich mich, dass es uns gelungen ist zu sagen, ja, wir führen ihn ein am 1. Januar 1015, aber es gibt die Möglichkeit der Abweichungen noch für zwei Jahre, wenn andere Tarifverträge gelten oder noch geschlossen werden. Ich sag auch sehr freimütig, dass mir sehr daran liegen würde, gerade in den neuen Bundesländern die Tarifbindung zu vergrößern.

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Wir haben hier eine Situation, in der die Sozialpartner nicht die Rolle spielen, wie das in der klassischen Entwicklung der sozialen Marktwirtschaft Westdeutschlands war. Und vielleicht können wir diese Chance ja nutzen, um das auch besser hinzubekommen.

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Und wir haben gesagt, im Gesetzgebungsverfahren werden wir den Dialog zu Arbeitgebern und Arbeitnehmervertretern suchen und mögliche Probleme in den Branchen zum Beispiel bei Saisonarbeitern auch aufzugreifen, und wir wollen auch die ehrenamtliche Tätigkeit zum Beispiel im Rahmen von Minijobs so bewertet wird [sic!], dass daraus keine Probleme entstehen.

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Das Thema Rente hat eine umfassende Rolle gespielt in unseren Beratungen. Ich freue mich, dass wir übereingekommen sind, die Mütterrente, also die Gerechtigkeitsfrage der Frauen und Mütter, die vor 1992 ihre Kinder bekommen haben, zu verbessern. Das ist ein Riesenschritt, den wir tun. Wir glauben, dass wir das angesichts der verbesserten Beschäftigungslage wagen können.

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13 Anhang: Bundespressekonferenzen im Korpus

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Ich freue mich, dass wir genauso zum 1.7.2014 wie die Mütterrente auch die Erwerbsminderungsrente einführen wollen. Für viele Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zentraler Punkt, und wir werden dann die solidarische Lebensleistungsrente haben, voraussichtlich erst ab 2017 einführen, weil das ein sehr komplexes Gesetzgebungsvorhaben ist. Und wir haben lange um einen Punkt gerungen: Wir wissen, Rente mit 67, das ist eine richtige Antwort auf die demographische Entwicklung.

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Und dann war die Frage, wie gehen wir mit Menschen um, die 45 Jahre einzahlen in ein System, bei denen wächst heute die Lebensarbeitszeit nicht auf von 65. Das ist schon im Gesetz. Und jetzt war die Frage, kann man angesichts der Arbeitswelt, die sich heute noch nicht voll auf diese verlängerte Lebensarbeitsdauer eingestellt hat, sagen, es gibt auch ab 63 eine abschlagsfreie Rente. Und wir haben uns entschieden, aufwachsend auf 65 genau dies auch einzuführen, weil wir dann sagen in meh(reren) [Abbruch infolge einer Reparatur] etlichen Jahren wird die Wirtschaft sich auch besser darauf eingestellt haben.

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Ein letzter Punkt, wir haben auch sehr intensiv diskutiert, wie können wir in der Gesellschaftspolitik denjenigen, die Kindern mit ausländischer Herkunft oder ausländischen Eltern ein Signal senden, dass sie bei uns willkommen sind. Und deshalb haben wir gesagt, für die in Deutschland geborenen und aufgewachsenen Kinder entfällt in Zukunft der Optionszwang. Die Mehrstaatlichkeit wird also hingenommen, und ansonsten bleibt das Staatsbürgerschaftsrecht wie es ist. Dies ist ein klares Signal, wir wollen diese jungen Menschen. Sie sind Teil unserer Gesellschaft, und das haben wir deshalb miteinander vereinbart.

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Es wundert nicht, wir kamen mit sehr unterschiedlichen Vorstellungen in die Beratungen, und deshalb hat es auch ein bisschen gedauert. Es ist sehr interessant, wie man einen gleichen Sachverhalt so unterschiedlich manchmal auch betrachten kann, und deshalb waren es für mich…

120 [Unterbrechung durch Gelächter im Hintergrund] 121 122 123 124 125 126

Ja, das ist halt das spannende am Leben. … und deshalb waren es für mich sehr gute und von Vertrauen geprägte Beratungen. Dafür möchte ich Danke sagen. Und ich glaube, wir haben gute Chancen, dass wir 2017 sagen können, dass es den Menschen besser geht als heute, und deshalb empfehle ich meiner Partei eine Annahme des Koalitionsvertrags. Sie wissen, die christlichdemokratische Union wird am 09. Dezember darüber auf einem kleinen Parteitag beraten heute Abend auf dem Bundesvorstand.

127 Vorsitzender der Bundespressekonferenz: Bevor ich Herrn Gabriel, glaube ich, als nächstes 128 das Wort gebe…Es gab verschiedene Kollegen, die etwas verwirrt sind, die Namenschilder 129 haben wir vertauscht, die Personen bleiben gleich. 130 [Unterbrechung des Vorsitzenden der Bundespressekonferenz durch Seehofer] auf Wunsch der 131 Kanzlerin, wird mir gerade zugerufen, insofern…[Unterbrechung] 132 Seehofer: [gleichzeitig]… auf Wunsch der Kanzlerin 133 Merkel: Ich wollte gerne beschützt sein. 134 Vorsitzender der Bundespressekonferenz: Herr Gabriel als Nächstes, bitte sehr! 135 Gabriel: Ich bin froh, dass ich der Alte geblieben bin.

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136 Merkel unterbricht Gabriel: Ja, das wäre ja erst verrückt geworden. 137 Eingangsstatement Gabriel: Also, ich könnte ja sozusagen schon mal Große Koalition üben 138 und sagen, dem, was die Bundeskanzlerin gesagt hat, ist nichts hinzu zuzufügen, aber… 139 140 141 142 143 144

(Öö) Erstens, ich stimme allem zu und will vor allen Dingen hervorheben, dass in der Tat, dass ausgesprochen faire und nicht…nicht selten humorvolle Beratungen waren, in denen wir zusammengetroffen sind, dass da, sagen wir mal, in bestimmten Feldern oder in einer bestimmten Perspektiven auf unser Land oder auf Europa noch Unterschiede existiert haben, ergibt sich aus der Natur der Sache, dass wir unterschiedlichen Parteien angehören, aber das war eine faire Veranstaltung, für die ich mich ausdrücklich bedanken will.

145 Ich will hier auch sagen, dass ich [Selbstkorrektur] wir auf der sozialdemokratischen Seite 146 wissen, dass dies Verhandlungen waren, die jedenfalls nie den Eindruck erweckt haben, es 147 würde auf unterschiedlichen Niveaus mit oder übereinander geredet. 148 Das mag man als selbstverständlich erachten. Frau Merkel hat gesagt, für sie sei das 149 selbstverständlich. Für uns war das jedenfalls bemerkenswert und auch dafür haben wir uns 150 gestern bedankt. 151 Frau Dr. Merkel hat gesagt eine Große Koalition für große Aufgaben, das stimmt. Insbesondere 152 bei drei großen Aufgaben, die wir in dem Koalitionsvertrag auch beschreiben. 153 154 155 156 157 158 159 160 161 162 163 164 165

Das ist natürlich zuallererst die Stabilisierung Europas und des Euros. Vor uns liegt ein Europawahlkampf, bei dem alle der europäischen Idee treu bleiben und sie fortentwickeln und sozusagen stabilisieren und auch wieder neu beleben wollen, überall auch in Deutschland alle Hände voll damit zu tun haben werden, sozusagen antieuropäische Parteien, rechtspopulistische Parteien, die gegen Europa mobilisier…, mobil machen wollen, die sozusagen im Zaum zu halten und unserer Bevölkerung und nicht nur unserer, dem Rest in Europa das Vertrauen zurückzugeben, muss man vielleicht sagen, oder auch wenigstens zu erhalten, dass diese große Idee nicht beschädigt werden darf, weil die Zukunft der Menschen auf unserem Kontinent und insbesondere unserer Kinder und Enkel davon abhängen wird, dass die europäische Idee weiter mit Leben erfüllt ist. Deswegen hat das einen so großen Stellenwert. Ich glaube, dass es uns nur gelingen wird, wenn wir den Menschen in Europa wieder eine Perspektive auf Arbeit und Beschäftigung geben und zugleich auch die europäische Idee wieder aus den Händen der Bürokratie befreien und sie sozusagen den Menschen zurückgeben.

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Beides hat beide Teile, wie mobilisieren wir Wachstum und Beschäftigung, insbesondere im Feld Jugendarbeitslosigkeit, aber auch, wie befreien wir diese europäische Idee, die nach wie vor eine fantastische ist und eine große, vielleicht [Reparatur]…Nein, die große, zivilisatorische Leistung des zwanzigsten Jahrhunderts: Wie befreien wir die aus den Händen der Bürokratie?

170 Die zweite große Aufgabe, das hat Frau Dr. Merkel zu recht gesagt, ist in Deutschland die 171 Energiewende. 172 173 174 175 176 177

Auch wir glauben, dass es riesige Chancen gibt, nicht nur in Deutschland, in Deutschland für Wachstum und Beschäftigung, für Klimaschutz, für Unabhängigkeit von fossilen Rohstoffen, aber die ganze Welt schaut auf dieses Land, und wenn dieses Experiment schief ginge, dann ist das Scheitern der Klimaschutzkonferenz in Warschau oder der bescheidene Ausgang das kleinste Problem, was wir auf der Welt haben, weil dann sich kein Land der Erde mehr ’rantrauen wird, an sozusagen eine solches [Versprecher des Redners] technologische

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13 Anhang: Bundespressekonferenzen im Korpus

178 Herausforderung. Ich halte sie für die größte technische, [Selbstkorrektur] technologische, 179 wirtschaftliche, soziale und ökologische Herausforderung seit der Deutschen Einheit. 180 181 182 183 184 185

Der, der Koalitionsfakt [Versprecher], der Koalitionsvertrag macht klar, wir beibehalten und wie man sagen könnte, auf dem Zielkorridor bleiben, aber dafür tun, dass das in Deutschland sozial und wirtschaftlich verträglich ist. könnte sich die Energiewende auch schnell nicht nur zu einer Belastung entwickeln, sondern auch zu einer dramatischen Beschädigung des Wirtschaftsstandortes Deutschland.

werden die Ziele wir müssen alles Ginge das schief, der Bevölkerung Industrie- und

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Deswegen ist das so eine große Herausforderung, mit der wir uns, wie ich finde, zurecht lange auseinandergesetzt haben, und wo mein Eindruck ist, dass wir hier den Grundstein gelegt haben, Versorgungssicherheit, Preise, Wandel der Energieversorgung alles miteinander ins [Reparatur] [sic!] ein vernünftiges Verhältnis zu bekommen.

190 191 192 193 194 195 196 197 198 199 200 201 202 203 204 205 206 207 208 209 210 211 212 213 214 215 216 217 218 219 220 221 222

Die dritte große Aufgabe ist die Reform des bundesstaatlichen Finanzausgleichs und des Länderfinanzausgleichs. Neben den bekannten Diskussionen um den Solidarpakt zwei, den Länderfinanzausgleich und die bundesstaatliche Ordnung muss es nach Auffassung aller, die darüber dort geredet haben, auch darum gehen, die in den letzten Jahrzehnten – muss man wahrscheinlich sagen – immer stärker vorangegangene Entkopplung von Aufgabenverantwortung und Finanzverantwortung zu reduzieren und auf den unterschiedlichen Ebenen wieder jedenfalls mit dem Anspruch anzutreten, Aufgaben und Finanzverantwortung wieder klarer zuzuordnen oder zueinander zu bringen. Hm. Aber es ist nicht nur die Koalition der großen Aufgaben. Ich will ausdrücklich sagen, der Koalitionsvertrag ist auch einer für die kleinen Leute, vielleicht muss man sagen, auch für die kleinen und fleißigen Leute. Hier wird vieles geregelt, was in Deutschland die wirtschaftliche Entwicklung, aber auch die soziale Entwicklung verbessern soll. Und der Koalitionsvertrag zeigt an vielen Stellen, dass Politik keine abgehobene Veranstaltung irgendwo zwischen Reichstag und Kanzleramt ist, sondern dass dieser Koalitionsvertrag das Zusammenleben der Menschen und ihre Sorgen, aber auch ihre Hoffnungen, ihre Chancen ganz fest in den Blick und auch konkret in den Blick nimmt. Wie gesagt die Große Koalition hat einen Koalitionsvertrag für die kleinen Leute geschrieben, die jeden Tag ihrer Verantwortung nachkommen, die sich um ihre Familien kümmern, um Nachbarschaften, um Engagement, um dieses Land. Und es ist eine Menge drin, was – glaube ich – helfen wird, Fairness und soziale Balance in diesem Land zu stabilisieren oder da, wo sie verloren gegangen ist, zurückzubringen. Auf den gesetzlichen Mindestlohn von 8,50 € ab 2015 hat die Bundeskanzlerin schon hingewiesen. Ich will nur sagen, dass das, was Sie im Koalitionsvertrag finden, identisch ist mit dem Gesprächs- und Verhandlungsergebnis mit den deutschen Gewerkschaften, die im DGB zusammengeschlossen sind, und dem DGB. Sie werden sich vorstellen können, dass das für uns als Sozialdemokraten eine große Bedeutung gehabt hat. Frau Dr. Merkel hat völlig recht, diese sozusagen Vorschläge, die mit den Gewerkschaften besprochen worden sind, haben die große Chance, dass wir eines der strukturellen Probleme in unserem Land, das es Teile gibt, bei denen nur zu 30 % überhaupt das existiert, was wir Sozialpartnerschaft oder Tarifverträge nennen, dass das endlich wieder ins Lot gebracht wird. Denn wir wollen die Tarifautonomie, aber wir wissen, dass sie in nicht unerheblichen Teilen vor allem Ostdeutschlands nur auf dem Papier und nicht in der Realität steht. Das, was wir dort besprochen haben und was die große Zustimmung auch der Gewerkschaften gefunden hat, soll das voranbringen. Ich finde, es ist ein sehr gutes Verhandlungsergebnis. Wir haben verabredet, dass wir die Tarifbindung erhöhen wollen durch

13.7 Die Bundespressekonferenz vom 27.11.2013 mit Angela Merkel, u.a.

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die Verbesserung der Allgemeinverbindlichkeit von Tarifverträgen. Das Ziel ist es ja nicht, dass in Deutschland die Leute 8,50 € verdienen, sondern dass sie vernünftige und fair ausgehandelte Tariflöhne bekommen. Dafür haben wir eine gute Regelung gefunden. Wir sind rangegangen, die Bedingungen zu verbessern, dass für [sic!] gleicher Lohn für gleiche Arbeit gezahlt wird, insbesondere im Bereich der Leih- und Zeitarbeit. Wir wollen das Thema Werkvertragsarbeitnehmerwesen so organisieren, dass das ursprüngliche Ziel natürlich möglich ist. Es gibt ganz viele Betriebe, die das absolut fair machen im … wo es überhaupt keine Schwierigkeiten gibt. Aber Sie wissen, dass gerade in den letzten Jahren der Missbrauch zugenommen hat. Wir haben Regelungen aufgeschrieben, wie wir diesen Missbrauch beseitigen können. Beim Thema Rente geht es um diejenigen, die ein sehr langes Arbeitsleben hinter sich haben und für die, wenn wir keine Regeln für sie finden, oftmals die Rente mit 67 schlicht und ergreifend zu einer Rentenkürzung wird, weil sie sich selber aus einer Arbeitsgeneration kommen, in der es wenig Fortschritte bei der Humanisierung der Arbeitsverhältnisse gegeben hat, wenige Weiterbildungsmöglichkeiten, all das, was in den letzten Jahren zugenommen hat, in dieser Generation gar nicht existiert hat. Und deswegen haben wir uns verständigt auch übrigens in Gesprächen, die wir mit den Gewerkschaften geführt haben [äh], welche Lösungsmöglichkeiten wir da finden können, auf eine Regel, bei der nicht nur das Alter der jetzigen Regelung runtergesetzt wird auf 63, und dann langsam auf 65 wieder aufwächst, sondern vor allen Dingen die Zeiten der Arbeitslosigkeit mit reingerechnet werden. Die Rentenversicherung macht dies mit im Durchschnitt fünf Jahren. Mehr kann sie auch gar nicht berechnen. Das Ergebnis ist schlicht und ergreifend, dass Menschen, die von der heutigen Regelung nichts haben, weil sie in ihrem Leben arbeitslos geworden sind, dass die jetzt von dieser Regelung etwas haben. Aber wir reden hier über sehr langjährig beschäftigte Menschen, die zum Teil jetzt in Arbeit sind und 45, 46, 48 Jahre lang arbeiten, keine hohen Löhne und Gehälter hatten und eine bescheidene Rente. Denen wollen wir einen Ausstieg ermöglichen, ohne dass es zu drastischen Abschlägen kommt. Ich glaube, dass das ein Akt der Fairness ist. Zur Erwerbsminderungsrente, zum zum zum Thema Fahrplan Angleichung der Renten Ost und West und der solidarischen Lebensleistungsrente – Daran sehen Sie, wie kreativ Koalitionsverhandlungen sind. Kenner der Szene werden das sofort erkennen, [äh], man muss ja auch voneinander lernen, das war, das ist ja schon gesagt worden. – [äh], auch die wird kommen. Allerdings, darauf hat Frau Dr. Merkel schon hingewiesen, dass es sozusagen auf diese Rente von etwa 850 € für langjährig Versicherte, die lange Zeit den Niedriglohnsektor haben und deshalb nach 40 Jahren Beschäftigung und Beitragszahlung heute unterhalb der Sozialhilfe landen, also weniger kriegen als einer, der gar nicht gearbeitet hat. Um die geht es dabei. Das hinzubekommen als eine besondere Regel der Grundsicherung wird viel Kraft und Mühe kosten. Deswegen trauen wir uns nicht zu, das für den Anfang der Legislaturperiode zu versprechen. Wir haben es geschafft, gemeinsam auf [äh] Fortschritte aufzuschreiben im Bereich gleicher Bezahlung von Frauen und Männern. Wir wollen nicht hinnehmen, dass wir jedes Jahr von der Europäischen Union mitgeteilt bekommen, dass in Deutschland 23 % geringere Löhne und Gehälter bei Frauen als bei Männern bezahlt werden. Aber man muss auch sagen, da hat zwei unterschiedliche Bereiche. Da sind Dinge in dem Entgeltgleichheitsgesetz formuliert, die muss man mit Tarifvertragsparteien erfüllen und auch überprüfbar machen, aber im Kern geht es natürlich darum, dass wir in Deutschland auch eine Debatte brauchen über die Wertschätzung von sozialen und von Pflegeberufen. Sie verdienen in Deutschland, wenn Sie eine Tonne Stahl im Stahlwerk bewegen das Vierfache von dem, was Sie verdienen, wenn Sie sieben Kilo Kind in der Kindertagesstätte bewegen oder 70 Kilo Mensch im Altenheim. Und darüber mal zu reden, wie wir das, da haben wir, da gibt’s keine Schalter um Lösungen, die

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man da sofort hinkriegt [Gelächter] – Ja ist so, also, ist eine durchaus zutreffende Beschreibung, aber wir wollen versuchen, das in den Griff zu bekommen. – Wir haben auch im Bereich Pflege eine Lösung gefunden, wo wir immerhin vier Mrd. € mobilisieren, um mehr Pflegekräfte, aber vor allem auch eine bessere Bezahlung von Pflegekräften möglich zu machen. Auch das ist Gegenstand des Koalitionsvertrages. Wir haben insgesamt 6 Milliarden Euro für Bildung mobilisiert. Die Länder werden damit Kindertagesstätten, Hochschulen, aber auch Ganztagsbetreuung oder Ganztagsschulen machen können. Das steht in sozusagen der Freiheit der Länder. Wir haben uns verabredet, dass wir die Kommunen im Rahmen der Beschlussfassung über ein Bundesteilhabegesetz, dass das Thema Eingliederungshilfe Inklusion, dass die Kommunen in diesem Rahmen, wie bereits im Vermittlungsausschuss der letzten Legislaturperiode verabredet, am Ende mit 5 Mrd. € pro Jahr entlastet werden. Dafür muss man aber erst das Gesetz machen. Wir haben die Mietpreisbremse drin, mehr Mittel für Städtebau, wir wollen dort vor allen Dingen Möglichkeiten schaffen, den Städten auch zu helfen, die – das ist eine überschaubare Anzahl – die sehr stark von Armutswanderung aus Osteuropa betroffen sind, die brauchen Hilfe. Zu Pflegekräfte hab’ ich schon was gesagt, zur Abschaffung des Optionszwangs für in Deutschland geborene und aufgewachsene Kinder auch. Frau Merkel hat dazu mehr Stellung genommen. Ich will sagen, ich glaube, daran, an diesem Beispiel zeigt sich, dass es einen großen Einigungswillen gab in der Koalition. Ich will das auch mal klar und offen sagen: Da gibt es Teile – das hat Frau Merkel gesagt – im Bereich der Sozialkapitel, wo die CDU/CSU jetzt jedenfalls nicht zu allererst drauf gekommen wäre, und es gibt [Gelächter] die da – das muss ich einschränkend sagen – diese Bemerkung CDU/CSU muss ich mir abgewöhnen, weil diese Kombination gibt’s nicht, wie ich gelernt habe, [äh], sondern es gibt eine CDU und eine CSU, und wer es nicht glaubt, soll die [sic!] die nächsten Koalitionsverhandlungen mit denen machen, [äh] [Gelächter][äh], aber, aber diese Frage wird für viele Menschen in Deutschland, die sozusagen unter diesem Zwang optieren zu müssen [sic!], eine, die Empfindung haben, bewusst ausgegrenzt zu sein oder in eine Sonderrolle gedrängt zu werden, obwohl sie hier geboren und aufgewachsen sind, Schulabschlüsse gemacht haben, Berufsausbildung, Studium, für die wird das – glaub’ ich – ein großartiges Signal sein, dass wir sagen: Ihr gehört zu uns. Und wir wollen keine künstlichen Hürden aufbauen. Ich bin jedenfalls CDU und CSU außerordentlich dankbar, dass wir das hingekriegt haben. Es zeigt, dass das auch eine Koalition ist, die sich sozusagen auch der Modernisierung dieser Gesellschaft verpflichtet fühlt.

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Insgesamt darf ich Ihnen sagen, dass gestern alle Mitglieder der Verhandlungskommission der SPD diesen Koalitionsvertrag einstimmig nicht nur gebilligt, sondern für gut und sehr gut empfunden haben. Wir haben heute alle unsere Mitglieder darüber informiert und auch die Mitglieder mit einem Brief aufgefordert, bei dem vor uns stehenden Mitgliedervotum mit Ja zu stimmen. Ich persönlich bin der festen Überzeugung, dass das passieren wird. Wir werden eine breite Mehrheit für den Koalitionsvertrag finden. Denn die SPD ist seit 150 Jahren eine Partei, die sich dem Fortschritt für Menschen verpflichtet fühlt und nicht der Frage, ob sie sich dabei im Wohlbefinden befindet. [äh], es wäre eine – glaube ich – für mich unvorstellbare Lage, wenn sich das verändert hätte, das glaube ich nicht. Heute wie vor 150 Jahren wollen Sozialdemokraten das Leben für Menschen besser machen. Dieser Koalitionsvertrag macht es besser, stärkt Deutschland und Europa, und deshalb werden die Mitglieder der SPD mit Sicherheit zustimmen. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!

314 Vorsitzender der Bundespressekonferenz: Herr Seehofer!

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Seehofer: Frau Bundeskanzlerin, lieber Herr Gabriel, meine Damen und Herren, ich wollte die Große Koalition von Anfang an, und deshalb war es für mich heute in der Früh [Lacher] war es heute in der Früh [sic!] ein schönes Gefühl, als der Vertrag in Ordnung war. Ich bin hochzufrieden mit dem Inhalt des Vertrages. Ich will auch sagen für die CSU, dass alle wesentlichen Wahlaussagen, Wahlversprechen eingehalten worden sind. Und diese Wahlaussagen waren ja mitursächlich für das hohe Maß an Vertrauen, das wir in Bayern erhalten haben. Ich möchte in aller Kürze drei Punkte, die mir besonders wichtig sind, anführen. Es werden durch diesen Vertrag massive Impulse für Infrastruktur, Forschung und Bildung gesetzt. Das ist ein ganz wesentlicher Beitrag zur hohen Beschäftigung in der Bundesrepublik Deutschland. Und es ist eine maßgebliche Hilfe für die Länder und für die Kommunen. Wir nehmen das Geld auch in Bayern gerne an. Es sind Milliarden. Das zweite: Solide Finanzen, das ist uns gemeinsam sehr wichtig. Keine Schulden ab 2015. Keine Steuererhöhungen, auch keine indirekten Steuererhöhungen durch Abbau von irgendwelchen Ausnahmen und Verbreiterung von Bemessungsgrundlagen. Das war beides sehr, sehr wichtig. Und dann die gerechte Sozialpolitik. Ich möchte auch ausdrücklich sagen, das habe ich gestern Abend auch in meinem Dank an die Verhandlungsdelegationen zum Ausdruck gemacht [sic!], dass da vieles an gerechter Sozialpolitik für die kleinen Leute drin ist. Ich bin froh, dass die Mütterrente kommt am 1.7.2014 neben vielem anderem. Ich glaube, wir haben zum Mindestlohn eine gute Lösung auch unter Einbindung der Tarifpartner gefunden, auch jetzt in der Umsetzung. Dass geltende Tarifverträge weiter gelten, dass neue Tarifverträge geschlossen werden können. Und ich bin auch froh, dass es zu keinen Kürzungen bei den Familienleistungen kam – das Betreuungsgeld bleibt –, dass es zu Verhandlungen über den Länderfinanzausgleich im Zusammenhang auch mit anderen Fragen kommt zwischen Bund und Ländern und zwischen den Ländern. Ich begrüße ausdrücklich die Reform des Optionsmodells. Ich glaube, man darf sagen, Frau Bundeskanzlerin, dass die CSU daran nicht ganz unbeteiligt war. Und wir haben die PKW-Maut, wo ich mit großer Freude die Interpretationen erlebe, aber der Text ist ziemlich eindeutig. [äh], ich [Allgemeines Gelächter] – War Anlass zum Zweifel? [Lachen Seehofer] – Die PKW-Maut steht im Vertrag. Ich will ihn nicht vorlesen. Ich glaube, insgesamt muss man in der Tat hervorheben, es war eine sehr, sehr gute und vertrauensvolle Grundlage des Gesprächs der Verhandlungen. Das ging so weit, dass zu irgendeinem Zeitpunkt die Bestätigung des gegenseitigen Vertrauens von Herrn Gabriel als nicht mehr notwendig bezeichnet wurde. Es war, hat uns aber über so manche Klippe hinweggeholfen, dieses Vertrauen, und dafür möchte ich mich ausdrücklich bedanken. Ich glaube, das sollte auch der Geist in der praktischen Arbeit im Alltag der nächsten Jahre sein, und insgesamt meine ich, dass wir [Reparatur], uns ein gutes Werk gelungen ist, ein gutes Werk, das unser Land voranbringen wird. Das ist ja unsere Motivation, dass wir diesen Wohlstand, diese soziale Sicherheit, diese finanzielle Stabilität in unserem Lande weiter festigen und ausbauen. Ich bin also sehr, sehr zufrieden.

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Vorsitzender der Bundespressekonferenz: Vielen Dank! Soweit dazu! Bevor wir zu den Fragen kommen, muss ich gleich um Entschuldigung bitten, dass ich relativ streng sein muss, weil wir schon knapp zwei Dutzend Wortmeldungen haben und maximal eine Stunde. Insofern eine Frage, eine Nachfrage, dann gehen wir weiter! Und die erste Frage hat Christina Dunz.

357 Journalistin Dunz: Herr Gabriel, Sie haben sich ja, Sie haben sich zuversichtlich gezeigt, dass 358 die SPD Mitglieder zustimmen werden, trotzdem steht diese Große Koalition genau unter 359 diesem Vorbehalt. Wird das künftig so sein, dass die SPD ihre Parteimitglieder über

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Koalitionen abstimmen lassen wird, oder auch Regierungshandeln? Und Frau Bundeskanzlerin und Herr Seehofer, wie finden Sie das eigentlich? Es wurde ja auch zusätzlich der Kabinettszuschnitt und die Ministerpostenbesetzung soll ja erst nach diesem Mitgliedervotum bekannt gegeben werden. Ist das die Angst auch bei Ihnen, dass das Spitzenpersonal ihrer drei Parteien abgelehnt werden könnte, oder was ist der Grund? Und Herr Seehofer, wollen Sie vielleicht Ihre Namen schon mal nennen?

366 Gabriel: Mein [sic/Reparatur] meine Antwort lautet: Die Frage, wann es bei uns 367 Mitgliederbegehren gibt, finden Sie bei uns in der Satzung der SPD. 368 Nachfrage der Journalistin Dunz: Meine Frage war, ob Sie das künftig in der Koalition so 369 weitermachen werden? 370 Gabriel widerholt seine Aussage: Sie finden bei uns die Frage, wann es ein Mitgliedervotum 371 ist. Das steht in der Satzung und nur da so, wie es da formuliert ist, wird es Mitgliedervoten 372 geben. 373 374 375 376 377 378

Merkel: Ja, [ähm], ehrlich gesagt [äh] respektieren wir selbstverständlich die Entscheidungen der sozialdemokratischen Partei Deutschlands. Bei Beginn der Koalitionsverhandlungen wussten wir, dass es dieses Mitgliedervotum gibt, und wir haben auch den Wunsch – das darf ich sagen – respektiert, dass man bis zur Entscheidungsfindung aller Parteien, aber in diesem Fall auch der sozialdemokratischen Partei die Ressortzuschnitte noch nicht bekannt gibt. Sie dürfen aber davon ausgehen, dass die Parteivorsitzenden sich damit beschäftigt haben.

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Seehofer: Ich werde meiner Partei am Freitagnachmittag, Parteivorstand und den Bundestagsabgeordneten in München den Koalitionsvertrag nochmal erläutern. Wir werden darüber abstimmen und dann ist dieses Kapitel für uns abgeschlossen. Ich habe auf unserem Parteitag am Samstag mehrfach gefragt, ob ein Wunsch besteht, dass wir nochmal einen Parteitag abhalten. Das war nicht der Fall. Offensichtlich deshalb, weil wir ja das Wesentliche…

384 Unterbrechung durch Gabriel: Das würde uns nie passieren! 385 Seehofer geht auf Gabriel ein: Ja, aber ich würde Ihnen raten, auf diesen Zustand 386 hinzuarbeiten, Herr Gabriel! 387 Gabriel reagiert auf Seehofers Aussage: Herr Seehofer! [Lachend] Also, auch darauf können 388 wir uns verständigen. 389 390 391 392 393 394

Seehofer: Und Sie werden von mir keine Namen hören, weil ich den [Reparatur] [äh] die Vereinbarung, die wir heute Nacht geschlossen haben als eine sehr kluge betrachte. Und das geht ja noch weiter, nicht die Ressorts festzulegen und dann die Namen weg oder die Ressorts festzulegen und dann die Namen noch nicht zu veröffentlichen, sondern auch die Ressortzuschnitte nicht bekannt zu geben. Ich habe das wir für eine ausgesprochen kluge Entscheidung gehalten.

395 Vorsitzender der Bundespressekonferenz: Dieter Wonka! 396 Journalist Wonka: Herr Gabriel, weil Sie so nett lachen. Ich wüsste gern von Ihnen, der 397 bisherige CSU-Generalsekretär, der ja nach dem Willen von Herrn Seehofer Minister werden 398 soll, hat über Sie vor einiger Zeit gesagt, Sie seien übergewichtig und unfähig […] 399 Unterbrechung durch Gabriel: Mit meinem Übergewicht hat er recht […]

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400 Journalist Wonka: [unterbricht Gabriel und ergreift das Wort wieder] Würden Sie sagen, das 401 ist die eine [Reparatur] das ist der Grund deshalb, weshalb Sie nicht vor haben in die Regierung 402 einzutreten, weil Sie in so einer Gurkentruppe nicht vertreten sein wollen? 403 Gabriel: Das war [sic!] mir jetzt zu viele Schachtelsätze. Ich habe das nicht verstanden. 404 Versuchen Sie einfach mal zu sagen, was Sie von mir wissen wollen? 405 Journalist Wonka [reagiert auf die Nachfrage von Gabriel]: Ich wollte von Ihnen wissen 406 [Abbruch] 407 [Unterbrechung durch] Gabriel: Welche ungewöhnliche Übung auch! 408 Journalist Wonka [ergreift das Wort nach der Unterbrechung]: Ob Sie mit jemandem als 409 Vizekanzler im Kabinett zusammenarbeiten können, der Sie für übergewichtig und unfähig 410 hält? Oder ist das alles vergessen? 411 412 413 414

Gabriel: Ich mache jetzt mal die Wiederholung Ihrer Frage, nur damit Sie merken, dass die Antwort deshalb ganz einfach ist. Sie haben mich gefragt, ob ich mit jemandem als Vizekanzler im Kabinett zusammenarbeiten kann, der mich für übergewichtig und was haben Sie nochmal gesagt, dumm [Zwischenrede]

415 Journalist Wonka: unfähig 416 Gabriel [redet weiter]: unfähig hält? [wegen Nuscheln unverständlich] – Na ja, diese Situation 417 wird ja nicht eintreten, weil jemand, der sowas sagt, wird ja nicht im nächsten Kabinett 418 Vizekanzler. Sie müssen Ihre Fragen klüger stellen! 419 Vorsitzender der Bundespressekonferenz: Herr Wonka! Wollen Sie’s noch einmal 420 probieren? [Gelächter] 421 422 423 424

Journalist Wonka: Dann stell’ ich die Frage [ähm] ohne Herrn Dobrindt und wüsste gern, ob Sie den Mut haben in diese Regierung als Vizekanzler einzutreten und ob das ein politisches Zeichen für das neue Vertrauen ist, dass der Vorsitzende der zweitstärksten, kommenden Regierungsparteien sich auch personell in der Regierung der Verantwortung stellt?

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Gabriel: Diese Frage, wie sich die Ressorts aufteilen und wer da hineingeht, klären wir, nachdem die SPD-Mitglieder entschieden haben. Und zu Herrn Dobrindt: Ich habe in Erinnerung, zu welchen Äußerungen ich in Wahlkämpfen fähig bin. Da würde ich einen Teufel tun, andere für ihre zu kritisieren.

429 Seehofer: Sie sehen das Vertrauen! [Gelächter] 430 Gabriel: Im Übrigen: Zu 50 % hat er ja recht gehabt. [Gelächter] Das ist eine… [Reparatur] 431 Das können Sie sich ja aussuchen. Das hängt von Ihrer individuellen Gewichtsklasse ab, glaube 432 ich. 433 Seehofer: Ich wollte noch dazwischenrufen, die CSU hat immer zur Hälfte Recht! 434 Vorsitzender der Bundespressekonferenz: Theo Geers! Der müsste sich nur ein Mikrophon 435 erobern! 436 Journalist Geers: Ich habe eine Frage zum Thema solide Finanzen. Seit heute Morgen, ich 437 sage es mal so, geistert eine Zahl durch die Gegend, nämlich 23 Milliarden Euro, die Sie mehr 438 ausgeben wollen. Mich würde zum einen interessieren, wie kommt diese Zahl zustande, weil

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wenn ich Ihre prioritären Ausgaben zusammenrechne, dann komme ich auf Minimum 28, möglicherweise auch über 30 Milliarden, und zum zweiten möchte ich gerne wissen, wie sich das verträgt, wie Sie das finanzieren wollen, wenn Sie gleichzeitig ab 2015 ohne Neuverschuldung auskommen wollen? Wie soll das [Reparatur] Wie passt das zusammen?

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Merkel: [Mmh] Ja! [äh]. Dazu müssten [Reparatur] werden Sie ja dann in den nächsten Tagen auch die [Reparatur] spätestens bei der Haushaltsaufstellung 2014 die Aufteilung auf die einzelnen Jahresscheiben sehen. Es sind zum Teil Zahlen genannt, zum Beispiel bei der Übernahme von Kosten für die Eingliederung, also die [Reparatur] das Bundesleistungsgesetz, das wir machen wollen, die gehen über die Legislaturperiode hinaus bis ins Jahr 2018 oder 19, so dass Sie die einfache Addition der Zahlen, die Sie eben gehört haben, noch nicht für diese Legislaturperiode [Reparatur] das [äh] unbedingt ergeben muss. Die mittelfristige Finanzplanung geht ja auch über die Legislaturperiode hinaus, aber wir haben das alles sehr sorgsam durchgerechnet und immer wieder auch angeglichen an die realen Möglichkeiten. Und insofern ist das, wie der Bundesfinanzminister uns noch einmal bestätigt hat, sehr gut begründbar, für die Jahre [Reparatur] für das Jahr 14 wird es noch ein (Reparatur) kein strukturelles Defizit, aber ein konjunkturelles Defizit geben. Seit [Reparatur] ab 2015 können wir die Null darstellen, immer basierend natürlich auf den heutigen Annahmen von Wirtschaftswachstum und Beschäftigungsentwicklung. Wir haben im Übrigen an einer Stelle gesagt, falls es neue Spielräume geben sollte, dass wir bessere Steuereinnahmen haben, ’ne bessere Beschäftigungssituation, dann werden wir auch gerade im Blick auch auf Vorhaben der Länder noch einmal das im Verhältnis 2/3 zu 1/3 aufteilen. Ob es solche Spielräume gibt, können wir heut’ nicht sagen. Wenn ich mir die letzte Legislaturperiode anschaue und auch die vorletzte, dann kann ich nur sagen, die Steuereinnahmen haben sich jeweils anders entwickelt als man das an einen bestimmten Tag sagen konnte, wir haben das also sehr sorgsam gemacht.

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Gabriel: Vielleicht damit Sie sozusagen die von Ihnen vermutete Differenz an einem Beispiel sehen können, wir haben im Jahr 2011 verabredet, dass wir die deutschen Kommunen um 4,5 Milliarden Euro pro Jahr entlasten. Aber wir haben ein aufwachsendes Modell gemacht von 2012 an, und 2014 erreichten sie die 4,5 Milliarden, da kommt die letzte Tranche dazu und dann ist es durchgeschrieben eine Entlastung von 4,5 Milliarden Euro pro Jahr. So müssen Sie sich auch die Entlastung im Zusammenhang mit der Eingliederungshilfe mit dem Bundesbetreuungsgesetz vorstellen. Erstens, das Gesetz muss erst mal da sein, vorher [Abbruch]. Wir machen sogar vorab eine Entlastung der Kommunen, ich glaube von einer Milliarde, in den Jahren 2015 und 2016, aber wenn das Gesetz da ist, wird es dort die gleiche Regel geben, also ich kann Ihnen ja [sic!] Ihnen die Jahresscheiben nicht sagen, aber es wird im Grunde das gleiche Modell sein wie bei der Entlastung der Grundsicherung. Das wächst auf und dann gibt es Endjahr, bei dem ist dann die Entlastung von fünf Milliarden Euro pro Jahr erreicht und wird dann durchgeschrieben.

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Journalistin Braun: Lisa Braun, Presseagentur Gesundheit. Sie Drei haben mit einem Federstrich 14 Milliarden Euro aus dem Koalitionsvertrag gestrichen. Herr Seehofer, Sie wissen, welche 14 Milliarden Euro ich meine; das ist der Bundeszuschuss zur gesetzlichen Krankenversicherung. Das sind die versicherungsfremden Leistungen, also Familienmitversicherung, die ich im Vertrag nicht mehr finde. Die waren ja bisher immer schon sehr wackelig, und mal wurden sie bezahlt und mal nicht, je nach Finanzlage des Finanzministers. Können Sie vielleicht mal sagen, wie verbindlich diese 14 Milliarden Euro für die gesetzliche Krankenversicherung in Zukunft sind?

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Merkel: Also, das ist erst einmal [Abbruch] Die Tatsache, dass das nicht im Koalitionsvertrag festgeschrieben ist, der immerhin schon über 177 Seiten umfasst, deutet darauf hin, dass da nichts geändert wurde, sondern die mittelfristige Finanzplanung ist da erstmal nicht angetastet. Wir haben ja für die Jahre 2 [Unterbrechung]. Ich weiß nicht, in diesem Jahr haben wir etwas herausgenommen, glaube ich, also im Grundsatz bleibt das wie gesagt jetzt so. Im Grundsatz bleibt dieser Gesundheitsfonds selbstverständlich wie gesagt dieser Gesundheitszuschuss aus den Steuermitteln selbstverständlich erhalten. Er hat immer mal wieder geschwankt, das wissen Sie, aber dass der verschwunden ist, das ist also [Reparatur] entspricht in keiner Weise der Realität.

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Gabriel: Sie haben zwischendurch immer mal Koalitionsvertragsentwürfe in der Hand gehabt, und dann ist Ihnen, weil Ihnen der, der sie Ihnen geschickt hat, das nicht gesagt hat, folgendes passiert: In unseren Texten gibt es Dinge, die sozusagen, wo wir den Eindruck hatten, dass man sie nicht erwähnen muss, waren gelb notiert. Wenn Ihnen das Einer kopiert, gefaxt oder geschickt hat, dann ist das Gelb oft verschwunden, und dann haben die, die das gekriegt haben, gedacht, da stände ein Text da drin, und haben sich dann gewundert, wenn der offizielle Texter kam, dass das nicht mehr drinnen ist. Meine herzliche Bitte ist, da ich ja nicht glaube, dass Sie in Zukunft solche Geschenke nicht mehr annehmen, beschweren Sie sich bei denen, die das Ihnen geschickt haben, ohne Ihnen zu sagen, was wirklich drin’ steht. [Pause]

502 Vorsitzender der Bundespressekonferenz: Michael [Unterbrechung durch Gabriel] 503 Gabriel: Das ist ein solcher Fall. 504 Vorsitzender der Bundespressekonferenz: Michael Brücker 505 506 507 508 509 510 511 512 513 514

Journalist Brückner: Frau Bundeskanzlerin, Sie haben in den letzten vier bis acht Jahren immer wieder die Demografie und die künftige Wettbewerbsfähigkeit dieses Landes ganz nach vorne gestellt. Nun haben Sie einem Koalitionsvertrag zugestimmt, in dem sozialpolitische, rentenpolitische Maßnahmen verabredet werden, die in den nächsten Jahren vielleicht nicht mehr in Ihrer Amtszeit, aber vielleicht danach massive Milliardenlasten an künftige Generationen aufbürden. Haben Sie sich da von Ihren eigenen Idealen verabschiedet? Und dann Herr Gabriel nochmal die Frage kurz zurück: Verstanden habe ich das jetzt nicht, warum die SPD-Basis entscheiden darf über Deutschlands künftige Koalition, aber nicht wissen darf, welche sozialdemokratischen Fachleute diese Position vertreten sollen. Können Sie uns eine inhaltliche Begründung vielleicht dafür geben?

515 Gabriel: Na klar. 516 517 518 519 520 521 522 523 524 525 526

Merkel: Wir haben das sehr sorgsam abgewogen und wir haben bereits im Vorfeld des Regierungsprogramms lange darüber diskutiert, können wir das wagen, den Schritt von einem Jahr mehr Anerkennung von Erziehungsleistungen im Rentensystem zu übernehmen? Und wir waren der Meinung, dass die gute Beschäftigungslage, in der wir uns befinden, diesen Schritt rechtfertigt. Er ist allerdings [öhm] dann auch einer, der schon sehr stark zu Buche schlägt. Wir haben sehr ausführlich gesprochen. Wir haben dann das Thema der solidarischen Lebensleistungsrente, hier wird es einen überwiegenden Beitrag des Steuerzahlers geben zu diesem Thema, weil der Bund die Grundsicherung übernommen hat, die Grundsicherung mit dieser solidarischen Lebensleistungsrente verknüpft wird, und wir außerdem Steuermittel noch aus der sogenannten Wanderungsbewegung haben. Das sind Knappschaftssteuermittel aus der Rente, die dann in Zukunft für solche Fälle [ähm] der langjährig Beschäftigten [ähm] zur

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Aufstockung verwendet werden können, also hier ist ein ausgesprochen ordnungspolitisch sauberer Weg gewählt worden, sage ich mal. Der andere ist ein Weg, den wir sehr wohl abgewogen haben. Wir haben eine Demografiereserve jetzt angelegt zum ersten Mal in der Pflegeversicherung, um genau auf diesen Punkt zu agieren. Und wenn ich einen Satz des CSUVorsitzenden nehmen darf, die Mütter, die wir jetzt sozusagen gerechter behandeln, sind die, die auch für die heutigen Beitragszahler für die Rente einen riesigen Beitrag leisten oder für die, die von morgen, wenn der demografische Wandel schon stark stattfinden wird, und insofern haben diese Frauen Kinder erzogen unter Bedingungen, die noch nicht so gut waren wie die, die heute da sind, was Vereinbarkeit von Beruf und Familie anbelangt, so haben wir uns zu diesem Schritt entschlossen, aber das wird unsere Demografiestrategie insgesamt, die (Reparatur) sozusagen das Land vorzubereiten auf einen großen Wandel, [äh] wird [äh] das nicht schwächen.

539 Gabriel: Herr Brücker! Die Antwort auf Ihre Frage ist, dass es den Wunsch innerhalb der SPD 540 gab, über die Inhalte des Koalitionsvertrags zu entscheiden und nicht über Personalfragen. 541 Vorsitzender der Bundespressekonferenz: Andreas Rinker 542 543 544 545 546 547 548 549 550 551 552 553

Journalist Rinker: Ich würde ganz gerne nochmal zurückkommen auf das Finanztableau. Frau Bundeskanzlerin, vielleicht können Sie nochmal sagen, wenn Sie sagen, das sei solide durchgerechnet, wieso sich dann die Differenz von 15 Milliarden, die Herr Schäuble vorher ausgegeben hatte als Spielraum und der genannten 23, aber zumindest von der Opposition mittlerweile auf 40 Milliarden taxierten Mehrausgaben ergibt? Gibt es zu dem, was Sie erwähnt haben, dass es [Reparatur], wenn es mehr Spielräume gibt, auch zusätzlich etwas verteilt werden kann, auch zwischen Ihnen Drei eine Verabredung, was getan werden kann, wenn die Steuereinnahmen nicht so fließen wie erwartet? Wird dann gekürzt an einzelnen Projekten? Und Herr Seehofer! Eine kurze Nachfrage: Sie haben auf dem CSU-Parteitag gesagt, dass Sie das Regierungsprogramm von CDU und CSU nicht ganz vollständig gelesen hätten, etwas flapsig. Den Koalitionsvertrag haben Sie jetzt in Gänze gelesen oder drohen Ihnen da kleine Überraschungen?

554 Seehofer: Ich kenne eine Person, die hat ihn auf jeden Fall gelesen. [Zwischenrede] 555 Gabriel: Die kennen wir ja. 556 Seehofer: Sie ist aber nicht im Raum, und… [Zwischenrede] 557 Merkel: Aber ich glaube, sie ist im Raum. 558 Seehofer: Sie ist im Raum? [fragend] [lautes Gelächter] 559 Seehofer: Ich korrigiere mich. Ja, sie ist im Raum. 560 Merkel: [ähm]… sitzt… [Unterbrechung durch Seehofer] 561 562 563 564 565 566

Seehofer: Das andere war [Abbruch] Man darf ja gar nicht mehr Humor [Reparatur], das war ja das Schöne an diesen Koalitionsverhandlungen war [sic!], dass auch mal Humor möglich war ohne Langfristwirkung, und ich hab’ das am Parteitag [Satzabbruch] Jeder am Parteitag hat das verstanden. Und dann wird man gleich so hingestellt, als würde der Parteivorsitzende sein Wahlprogramm nicht kennen. Das kennen wir natürlich, aber das wird mich nicht abhalten, auch weiterhin den Alltag auch mit Humor zu begleiten.

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Merkel: Herr Rinker! Ich kann jetzt nicht in allen Einzelheiten das Finanztableau darstellen, dass es da natürlich auch bestimmte verhandlungstaktische Aspekte gab, das wird Sie nicht wundern. Wir mussten dennoch mehr streichen, als wir ausgeben können. Finden Sie nicht? [Zu Gabriel gewandt] Wir mussten viel streichen, also wenn…

571 [Unterbrechung durch Gabriel] Verhandlungstaktik habe ich gemeint. 572 573 574 575 576 577 578 579 580 581 582 583 584 585 586 587

Merkel: Also, das! Ich verstehe. Und Sie werden sehen, ich will es eigentlich nochmal sagen, das müssen Sie ja dann sehen, auf die Jahre aufwachsend, wie sich das darstellt. Sie wissen, dass wir in den Jahren 16 und 17 mehr Spielräume haben finanzieller Art. Das geht schon aus der mittelfristigen Finanzplanung hervor, und dass wir 14/15 weniger Spielräume haben. Das wird sich auch darstellen in diesen aufwachsenden Beträgen. Wir werden, wie Herr Gabriel es schon gesagt hat, für die Eingliederung jetzt am Anfang, bis das Gesetz entsteht, erstmal relativ geringe Beträge zahlen. Die werden dann auch in der nächsten Legislaturperiode aufwachsen. Wir werden für die Infrastruktur, so hatte es sich die Union auch vorgenommen, fünf Milliarden mehr aus Steuermitteln ausgeben. Wir werden etwas tun müssen, weil die [Reparatur] der Rentenbeitrag jetzt nicht gesenkt wird, dass wir das [Reparatur] den Bundeszuschuss auch ausgleichen, und das kombiniert mit Eingliederung, wird auch über drei Milliarden ausmachen. Wir werden etwas für die Städte tun, so wie das Herr Gabriel das [sic!] gesagt hat, wir nehmen [sic!] wir investieren drei Milliarden in Forschung und Entwicklung und insgesamt sechs Milliarden dann in Bildung. So stellt sich das dar, aber eben nicht Jahr für Jahr gleich aufgeteilt, sondern die Aufteilung muss auch noch entwickelt werden, aber der Bundesfinanzminister hat uns das plausibel dargestellt, dass das möglich ist.

588 Vorsitzender der Bundespressekonferenz: Reinhard Zweigler! 589 590 591 592 593 594

Journalist Zweigler: Frau Bundeskanzlerin! Es war bereits von der großen Kreativität in den Verhandlungsrunden die Rede. Ich hätte von Ihnen gern gewusst, warum verschieben Sie denn die Ost-West Rentenangleichung auf das Jahr 2019? Ein Jahr, in dem diese Koalition wahrscheinlich nicht mehr im Amt sein wird. Fehlt Ihnen heute der Mut oder das Geld oder beides? Und wenn Sie gestatten, kennen Sie inzwischen ein PKW-Maut-Modell, das europakompatibel ist und die deutschen Autofahrer nicht belasten wird?

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Merkel: Wir haben ja keine Gesetzgebungsarbeit jetzt gemacht, sondern wir haben Prinzipien geschrieben. Das gilt für das EEG, das gilt für andere Dinge. Das gilt für das Gesetzgebungsverfahren vom Mindestlohn. Das gilt für die [Reparatur] den Ausbau der digitalen Infrastruktur, der im Übrigen von uns auch sehr intensiv behandelt wurde, und insofern wird dann [ähm] aber derjenige, der sich mit den Verkehrsfragen beschäftigt, sicherlich diese Prinzipien wie alle anderen Ressortminister ihre Prinzipien dann für die entscheidenden Gesetzvorhaben auch darlegen und uns zeigen, wie welcher Weg gefunden wird. Zweitens, was die Ost-West-Angleichung der Renten anbelangt, können Sie sich vorstellen, dass wir das auch sehr intensiv debattiert haben. Wir haben – und das ist auch unter Mitwirkung der ostdeutschen Ministerpräsidenten entstanden – gesagt, 2019 läuft der Solidarpakt aus. Wir haben eine sehr positive Entwicklung jetzt gehabt. Wir sind über 90 % des Westniveaus für die [Reparatur] für das Ostniveau. Wir denken, dass wir im Laufe der Legislaturperiode noch einmal eine Steigerung erleben können, wenn wir die Einführung des flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohns gut hinbekommen in den neuen Ländern. Dafür sind ja auch diese Übergangszeiten nochmal wichtig, dann wird das z. B. auch wieder zu einer Erhöhung des Rentenniveaus führen und dann wollen wir 2016, glaube ich, uns das einmal anschauen, wie

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sich die Entwicklung fortentwickelt hat, und dann im Rahmen der Verhandlungen auch zwischen Bund und Ländern das bis 2019 Regeln. Jede natürliche Erhöhung des OstRentenniveaus mindert uns die Aufgabe, dann eine Ad-hoc-Anpassung zu machen, und deshalb haben wir das für einen vernünftigen Weg gehalten.

615 Vorsitzender der Bundespressekonferenz: Majid Zatar 616 Journalist Zatar: Herr Gabriel… 617 [Unterbrechung durch] Gabriel: Ganz kurz! Die Frau Bundeskanzlerin… [Unterbrechung des 618 Journalisten der letzten Frage] 619 Vorsitzender der Bundespressekonferenz: Die Maut, oh, die Mautantwort! Die wollten wir 620 ja nicht unterschlagen! 621 Seehofer: Die ist beantwortet! 622 [ungefähr synchron] Merkel/Gabriel: Die ist doch beantwortet! 623 Journalist Zweigler: Das war mir zu allgemein! 624 625 626 627 628 629 630 631

Seehofer: Nein, wir haben – darf ich mal sagen – bei allen großen Dingen, Energiewende, Hochtechnolog [Reparatur], also Hochgeschwindigkeitsnetz, Mindestlohn Prinzipien vereinbart, und es gilt jetzt [[äh] [äh]] bei der neuen Regierung diese Prinzipien umzusetzen, und genauso haben wir es bei der PKW-Maut oder auch bei der LKW-Maut gemacht. Das ist also ein roter Faden durch den ganzen Koalitionsvertrag. [äh], also ein [Abbruch] Und dass wir Europarecht einhalten, dass wir die Deutschen nicht belasten wollen, die deutschen KFZ-Halter, das steht auch in diesem Bayernplan. Das ist ein Vorläufer dieses Koalitionsvertrages. [Gelächter]

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Journalist Zatar [der vom Vorsitzenden der Bundespressekonferenz zuletzt aufgefordert wurde, aber vom letzten Journalisten unterbrochen wurde]: Herr Gabriel, die Frau Bundeskanzlerin hat ja bereits gesagt, dass die drei Parteivorsitzenden sich mit der Frage Kabinettszuschnitt und Ministerposten beschäftigt haben. Was sagt das eigentlich über Ihr persönliches Bild, über Ihre [[äh] [äh]] SPD-Mitglieder aus, wenn Sie jetzt die nächsten zwei Wochen Regionalkonferenzen besuchen und so tun, als gäbe es diese Liste nicht, wo doch jeder Genosse und jeder Ortsverein weiß, dass das nicht stimmt?

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Gabriel: Also, erstens behaupte ich gar nicht, dass wir uns nicht über die Frage der Ressortzuschnitte unterhalten hätten. Das hat ja Frau Merkel eben gesagt. Das zweite ist, [unverständlich], ich verstehe den Wunsch, wahrscheinlich bei der Öffentlichkeit oder eines Teils, insbesondere aber der Ihres Berufstandes, das ist für Sie wichtig, das verstehe ich. Bei uns aber in der SPD hat es eine lange Debatte um die Frage gegeben, ob man eigentlich die Abstimmung über ein Sachthema bewusst oder unbewusst, formal oder nicht formal mit Personen verbinden soll. Und da ist die Bitte aus allen Gliederungen der SPD gekommen, das nicht zu tun, und sobald wir Ressortzuschnitte nennen, geht es nur noch um die Frage, welche Personen sind das. Tun Sie mir einen Gefallen! Ich respektiere Ihren Wunsch darüber zu berichten und halte das für ganz normal. Meine Bitte ist einfach, respektieren Sie einfach den Wunsch unserer Mitglieder, soweit Sie [sic: Satzabbruch] Das ist ja keine, ist ja keine [sic!] bösartiger Wunsch. Bei uns gibt es bestimmte Prinzipien, wie Mitglieder auf welchem Weg sie ihre Meinung äußern. Das ist in anderen Parteien auch so. Da gab es eine ganz breite Bitte

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darum, dies nicht zu tun. Und da es sich in dieser Frage um einen Willensbildungsprozess der SPD handelt und sonst, von sonst niemandem, entscheidet auch nur die SPD darüber, wie sie mit ihren Fragen umgeht. Das, das sind einfach zwei unterschiedliche Interessen zwischen Ihnen und vielleicht auch Teilen der Öffentlichkeit und den Interessen der Mitglieder und Vertreter und Delegierte und Vorstandsmitglieder meiner Partei. Das ist einfach eine unterschiedliche Sichtweise. Vielleicht ändert sie sich ja innerhalb der nächsten Tage und Wochen.

659 Vorsitzender der Bundespressekonferenz: Bitte sehr! 660 661 662 663

Journalistin Wassermann: [äh], Xenia Wassermann für die Deutsche Welle, [äh]. Die zukünftige Opposition im Bundestag wird ja nur rund 20 % betragen. Und kann so eine kleine Opposition überhaupt eine so große Regierungskoalition wirkungsvoll kontrollieren? Was wollen Sie da dafür tun, dass das funktioniert?

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Merkel: Wir haben ausdrücklich gesagt, dass wir da, wo es zum Beispiel um Untersuchungsausschuss oder ähnliches geht, die Rechte der Opposition so gestalten werden, dass das auch berücksichtigt wird. Ich glaube, da finden wir im Deutschen Bundestag [Reparatur] werden da gute Lösungen gefunden. Das ist gar keine Frage. Es gab bei der ersten Großen Koalition in Deutschland schon mal eine noch kleinere Opposition und Deutschland hat das auch dauerhaft keinen Schaden zugefügt, sondern das ist auch vernünftig abgelaufen, Und ansonsten ist es natürlich so, dass, wenn Sie auch nach den Wahlen die Umfragen gesehen haben, die Bürgerinnen und Bürger ja eine Große Koalition nicht so abstoßend fanden. Man kann das mögen oder nicht mögen, aber wenn man einfach gefragt hat, wie sieht es dann aus, dann ist das [Reparatur] entspricht das halt auch im hohen Maße dem Wählervotum und damit müssen wir umgehen. Das ist keine einfache Situation, wenn man 504 Abgeordnete in einer Koalition hat [ähm] und dann eine relativ kleine Opposition. Das hat ja auch [Reparatur], deshalb haben wir uns ja auch die Sondierungsgespräche nicht ganz leichtgemacht, um das auch wirklich auszutesten. Aber jetzt ist es, wie es ist, und wir haben diese Verantwortung anzunehmen, und die Menschen haben eben viele Unionsmitglieder und viele Sozialdemokraten gewählt, und da [sic!] die müssen sich nun auch im Deutschen Bundestag präsentieren können. Also, es gilt das gleiche und geheime Wahlrecht in Deutschland, und die Abgeordneten haben den Rückhalt der Wählerinnen und Wähler. Man kann jetzt nicht sagen, weil die Einen so viele sind, dürfen sie nicht ganz so viel reden und die Anderen müssen bisschen was dazu bekommen. Der Abgeordnete [Reparatur], [ähm], die Abgeordneten meiner Fraktion haben das gleiche Recht für die gleiche Unterstützung wie die Abgeordneten der Grünen oder der Linken. Und [äh] wir haben, glaube ich, nun eines der austariertesten Wahlrechte in Europa, vermute ich mal – haben wir uns ja auch lange genug damit beschäftigt – und nun hat jeder vom Volk gewählte Abgeordnete auch die Rechte, und dass wir dann trotzdem zur Kontrollfunktion des Parlaments bestimmte Quoren verändern, das – finde ich – ist selbstverständlich und das haben wir auch schon gemacht.

690 Gabriel parallel: Und übrigens, auch schon die Redezeit bei der letzten Sitzung auf Wunsch 691 der Fraktionen verlängert haben. Daran wird es nicht scheitern. 692 Vorsitzender der Bundespressekonferenz: Ahmed Külaci. 693 Journalist Külaci: Frau Bundeskanzlerin, was die Türkei und EU-Beziehungen betrifft, das

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steht im Vertrag, also Koalitionsvertrag, dass das privilegierte Verhältnis weiterentwickelt werden soll. Wie ist also zu verstehen? Das ist es so zu verstehen, dass Sie Ihre Position, dass man der Türkei nur eine privilegierte Partnerschaft anbietet, aufgegeben haben? Und darüber hinaus an Herrn Sigmar Gabriel. Herr Gabriel, Sie wollten ja eine generelle doppelte Staatsbürgerschaft in diesem Vertrag sehen. Jetzt stelle ich aber fest, dass Sie meinem 17jährigen Sohn diese Möglichkeit geben – das ist schön – aber dessen 63jährigen Vater nicht. Ist das nicht ungerecht?

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Gabriel: Ja, also die [Reparatur] zu der letzten, zu der letzten Frage: Natürlich wollte die SPD eine noch weitergehendere [sic!] Regelung durchsetzen. Das war im Koalitionsvertrag mit CDU und CSU nicht zu vereinbaren. Nun wären wir ja töricht, wenn wir in einer der umstrittensten Punkte, nämlich des Optionszwangs, gesagt hätten, das regeln wir nicht, weil wir wollen das Andere nicht auch noch kriegen. Ich mach’ mal ’ne Prognose, dieser Schritt, die Hinnahme von Mehrstaatlichkeit, so heißt es ja dann formal oder die doppelte Staatsbürgerschaft bei Kindern und Jugendlichen, die in Deutschland geboren sind und hier aufgewachsen sind, ist für die Union ein weiter Weg gewesen, ein weiter Weg. Ich bin sehr sicher, ganz unabhängig von der Frage des Koalitionsvertrages, dass dieser Weg weitergehen wird. Wir haben doch in Wahrheit hier ein Tabu gebrochen und dafür hatten die Kolleginnen und Kollegen aus der Union verdammt viel Mut – muss man auch mal sagen – oder vielleicht auch einfach nur die Bereitschaft sich auf etwas einzulassen, was Ihrer bisherigen Haltung diametral entgegensteht, und ich glaube, dass es ein großer Wert ist, dass wir das geschafft haben, und ich bin sicher, ist meine Prognose, die nächsten Schritte kommen auch.

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Merkel: Ich beteilige mich jetzt mal an der Prognose nicht, sondern ich sage, dass wir uns zu diesem Schritt entschlossen haben und dass uns das nicht leicht gefallen ist und dass wir glauben, dass unser Staatsbürgerschaftsrecht [äh] mit seiner regelmäßigen Vermeidung, glaube ich, heißt es, von Mehrstaatlichkeit gute Gründe hat, aber nichtsdestotrotz glauben wir, dass wir denjenigen, die hier aufwachsen, ein Signal senden sollten. Wenn man sich die praktischen Fälle anschaut, ist das Staatsbürgerschaftsrecht ja auch in [Reparatur] mit vielen Ausnahmen ausgestattet und es hat in ganz besonderer Weise natürlich auch türkischstämmige junge Menschen gefordert [sich] jetzt immer wieder betroffen, die optieren mussten, aber einfach ist uns dieser Schritt nicht gefallen, das kann man sagen, da haben wir sehr, sehr sorgsam abgewogen. Was die Haltung zur Türkei anbelangt, so hat sie sich überhaupt nicht geändert. Wie Sie wissen, dass wir die Beitrittsverhandlungen führen ergebnisoffen [sic!]. Auch hier haben wir unterschiedliche Meinungen, was das Endresultat anbelangt, aber wir hatten schon in der Koalition von 2005 bis 2009 eigentlich diesen Weg immer wieder beschritten. Und dass die Fra [Reparatur], dass die Wegstrecke ja eh eine recht lange ist, das haben wir auch in den letzten Jahren erlebt. Mir geht es darum [äh], ich habe das immer wieder auch gesagt, auch in Zusammenarbeit mit dem Premierminister Erdogan, die hier in Deutschland lebenden [sic!] lebenden türkischstämmigen Menschen, insbesondere wenn sie deutsche Staatsbürger sind, aber auch wenn sie langjährig sich hier aufhalten, sind genauso Bürgerinnen und Bürger, für die ich ihre Bundeskanzlerin bin wie für diejenigen, die schon Jahrhunderte in Deutschland leben, und ich glaube, das ist das, was wir auch gemeinsam durchsetzen.

735 Vorsitzender der Bundespressekonferenz: Als nächstes, Thomas Bertner! 736 Journalist Bertner: Eine Frage zur PKW-Maut an alle drei Parteivorsitzenden. Frau 737 Bundeskanzlerin, Sie hatten sich ja sehr deutlich positioniert im Wahlkampf, und auch die SPD 738 war gegen die PKW-Maut. Ich würde mich dafür interessieren, wie schwer es war, sich jetzt

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739 trotzdem darauf zu einigen für Sie, und was mich besonders interessiert, ist es jetzt ein 740 Prüfauftrag, der da im Koalitionsvertrag steht, oder ist das mehr? 741 Merkel: Da steht klar, dass ein Gesetzentwurf noch im Jahr 2014 erarbeitet werden soll. Die 742 Prinzipien waren für mich das Entscheidende, um mich dann für diese Entscheidung auch 743 einzusetzen. 744 Seehofer: Ich erinnere an den Satz der Bundeskanzlerin: „Wir haben noch immerhin eine 745 Lösung gefunden“. Und es geht nicht um den Gesetzentwurf, sondern um die Verabschiedung 746 des entsprechenden Gesetzes 2014. 747 Merkel: Und also ich könnte jetzt sagen, in meiner Regierung werden Gesetzentwürfe, wenn 748 sie gut sind, immer verabschiedet, jedenfalls auf der Bundesebene, solange die Länder nicht 749 dabei sind. 750 Gabriel: Ich sehe das ganz gelassen. Ich meine, was [Abbruch] Jetzt mal im Ernst, es steht 751 drinnen, es muss europarechtskonform sein. Es soll keinen deutschen Autofahrer stärker als 752 heute belasten. Ich meine, was sollte ich für ein Problem damit haben? 753 Seehofers Zwischenruf: Das steht auch schon im Bayernplan. 754 Gabriel weiterhin: Es gab doch nur eine Debatte um die Frage, ob das überhaupt möglich ist. 755 Das war doch der Hintergrund. Und wenn das möglich ist, ja, was soll ich dagegen haben? 756 Seehofer: Sehr gut. [Gelächter] 757 Vorsitzender der Bundespressekonferenz: Nico Fried [Gelächter] Nico Fried! 758 759 760 761 762 763 764 765 766

Journalist Fried: Frau Bundeskanzlerin, zwei Fragen! Ich habe noch nicht ganz verstanden, wie Sie von einer, sagen wir mal von einer Gerechtigkeit zwischen den Generationen sprechen können. Wenn ich mal nebeneinander stelle, die sechs Milliarden, die Sie jetzt immer für Bildung und Forschung nennen, die ja zur Hälfte offensichtlich in die Forschung gehen sollen, was ja immer noch weniger ist als das, was allein in die Mütterrente gehen wird an Summen. Können Sie das bitte noch mal darstellen, insbesondere, was eigentlich für die jüngere Generation aus diesem Koalitionsvertrag herausspringt, auch wenn ich sehe, dass offensichtlich doch keine BAföG-Erhöhung kommt. Und das Zweite: Wie schnell gedenken Sie, den Beschluss zur Vorratsdatenspeicherung umzusetzen?

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Merkel: Sofern die Regierung gebildet wird, wird die Vorratsdatenspeicherung umgesetzt. Wir haben hier ganz klar uns eingelassen. Wir werden darauf hinwirken, dass dann eine Novelle des [Reparatur] der Richtlinie gemacht wird, bei der die Datenspeicherfrist nochmal verkürzt wird, [ähm], aber das wird auch eines der ersten Gesetzgebungsvorhaben sein. Zweitens: Ich habe mich vielleicht, oder ich habe mich nicht vielleicht, sondern ich habe mich nicht präzise ausgedrückt. Alles was Sie an Zahlen genannt haben, das sind zusätzliche Zahlen. Das heißt, wir geben, glaube ich, für Forschung heute [sic!] und Bildung 13 Milliarden allein zusätzlich aus der letzten Legislaturperiode. Jetzt kommen nochmal Bildung und Forschung dazu, also das sind nicht die Gesamtausgaben, und wir erhöhen die Straßeninvestitionen um fünf Milliarden Euro. Das heißt also, wir verstärken das Gewicht dieser [äh] Bereiche. Es wird im Übrigen in der nächsten Legislat- [Reparatur] [äh], also jetzt in der kommenden Legislaturperiode das Bruttoinlandsprodukt neu berechnet. Die Forschungsausgaben sind Teil des Bruttoinlandsprodukts, und damit wir das 3 %-Ziel auch beim Wirtschaftswachstum weiter

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13 Anhang: Bundespressekonferenzen im Korpus

halten können, müssen wir unsere Forschungszuwächse nochmal erhöhen [äh] gegenüber dem, was wir eigentlich gebraucht hätten, um das 3 %-Ziel zu erhalten. Und insofern glaube ich, wenn wir Hochschulpakt nehmen, wenn wir die Ausbildungsinitiative nehmen, wenn wir die Frage der [äh] [Reparatur] dem Zweite-Chance [sic!] das Programm nehmen, die ganzen Bildungsberatungen, wenn wir den Kita-Ausbau nehmen, dann kann man sehr wohl sagen, dass man hier etwas für die zukünftige Generationen tut. Und ich rede da gar nicht darum herum, Herr Fried, der Punkt der Mütterrente und auch anderer rentenrechtlicher Maßnahmen, ist einer, bei dem wir auch auf der Wegstrecke aufpassen müssen, wenn wir dann mal die Rentenberichte in die nächste Legislaturperiode hinein weiterentwickeln, dass wir die Rentenversicherung nicht überfordern, das ist richtig. Wir haben uns nur wegen der guten Beschäftigungssituation diesen Punkt herausgenommen, aber [ähm] dennoch habe ich ja das Andere gesagt, das sind zusätzliche Maßnahmen zu dem, was [äh] ansonsten schon bisher passiert ist.

792 Vorsitzender der Bundespressekonferenz: Die Kollegin hier vorn. 793 794 795 796 797 798

Journalistin: Frau Bundeskanzlerin, eine Frage zur Europapolitik, Russlandpolitik! In Ihrem Koalitionsvertrag steht, dass die Sicherheit in Europa nur mit Russland und niemals gegen Russland möglich ist. Heißt das, dass die neue Bundesregierung nichts dagegen unternehmen wird gegen die Entscheidung der Ukraine, die kurzfristig von Europa kehrt gemacht hat, und diese Entscheidung wurde von gewaltigem Druck von Russland getroffen? Welche Meinungen gibt es dazu?

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Merkel: Ich werd’ ja morgen den [Reparatur] nach Vilnius reisen, werde wohl auch den ukrainischen Präsidenten treffen, der – soweit ich das jetzt gelesen habe – sicherlich ablehnen würde, dass man auf ihn Druck ausübt, sondern für sich behaupten würde, dass er eine eigenständige Entscheidung [äh] getroffen hat, im Übrigen manchmal aber auch davon spricht, dass wiederum Europa Druck ausgeübt hat, was ich wiederum ablehne, sondern sage, [äh] wir haben der Ukraine eine Einladung gegeben im Zusammenhang mit der östlichen Partnerschaft. Die Ukraine hat jetzt eine Entscheidung getroffen, im Augenblick nicht das Assoziierungsabkommen unterschreiben zu wollen. Wir werden sie weiter einladen, das zu tun. Wir haben ein strukturelles Problem, ich habe das neulich auch im Deutschen Bundestag gesagt. Ein Näherheranrücken an Europa wird im Augenblick in Russland immer verstanden wie ein Abrücken von Russland und diese „Entweder-oder-Mentalität“ müssen wir überwinden. Das werden die Länder der östlichen Partnerschaft nicht alleine schaffen, sondern hier muss die Europäische Union – und ich sehe hier auch eine ganz besondere Aufgabe für Deutschland – mit Russland sprechen, dass wir aus diesem „Entweder-Oder“ herauskommen. Der Kalte Krieg ist zu Ende. Die Länder müssen freiwillig entscheiden dürfen und sollen freiwillig entscheiden, und wir wollen Russland als strategischen Partner. Wir brauchen Russland auf die lange Strecke. Wir brauchen das heute. Wir sind durch Gaslieferungen und vieles nun mal auf das Engste mit verbunden. Russland hat ein Interesse an einer Modernisierungspartnerschaft und wir müssen die letzten Relikte eines Kalten Krieges jetzt wirklich überwinden, und ich werde da sehr gerne daran mitarbeiten.

819 Vorsitzender der Bundespressekonferenz: Die nächste Frage in der Mitte! 820 821 822 823

Journalist Dreesen: Uwe Dreesen, dänisches Fernsehen, TV2 Denmark. Ich hab’ eine Frage für Sie, Frau Bundeskanzlerin. Sie haben gesagt, Sie respektieren das Mitgliedsvotum der SPD, aber nach solch einem historischen Wahlsieg nach so vielen Wochen mit Verhandlungen, ist es nicht ein bisschen frustrierend oder sehr frustrierend, dass 400.000, 500.000 SPD-Mitglieder

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824 das Vetorecht haben? 825 826 827 828 829 830 831 832 833

Merkel: Es könnte passieren, dass [äh] 100 Parteitagsmitglieder das Vetorecht haben. Das ist so bei Koalitionsvereinbarung. [ähm], wir kennen das [äh] Konstrukt der Minderheitsregierung in Deutschland nicht. Das ergibt sich aus dem Zweikammer-System und aus vielen anderen Dingen. Wir haben ein großes System von „Checks und Balances“ in unserem Staatsaufbau und deshalb sind wir gewohnt, Mehrheiten zu suchen und [äh], insoweit ist das ein völlig normaler [äh] Vorgang, und [ähm] ich will jetzt [ähm] [Abbruch] ist sicherlich eine [Reparatur] eher eine Entscheidung der SPD gewesen [sic!], wie auch jetzt [äh] nicht schon eine lange Tradition hat, aber normalerweise entscheiden Vorstände oder [äh] kleine Parteitage oder manchmal große Parteitage, aber weitaus weniger Menschen über das Schicksal einer Koalition.

834 Journalist Dreesen: Aber jetzt können Sie nur abwarten. Das muss doch frustrierend sein. 835 836 837 838

Merkel: Also, ich meine, also [ähm], warum soll ich nicht warten 14 Tage. [ähm], das ist doch [sic!: Satzabbruch]… Schauen Sie, die Wahl ist jetzt so lange her, hätten wir noch ’ne Woche länger verhandelt, also warten kann ich. Man wartet auf den Wahltag, man wartet, man macht Sondierungsgespräche, man macht Koalitionsgespräche, und es [Abbruch]

839 Zwischenruf Gabriel: Man wartet das ganze Leben. 840 Merkel [setzt fort]: Es gibt Länder in Europa, da dauern Regierungsbildungen noch länger und 841 insofern, ich sitze ruhig und mache meine Arbeit. 842 843 844 845 846 847 848 849 850 851 852 853 854 855 856 857 858 859 860 861 862 863 864 865 866

Gabriel: Ich würde gern einmal, den Versuch unternehmen, darauf hinzuweisen, dass ich jedenfalls der Überzeugung bin, dass Sie keine Menschen mehr finden, die in Parteien eintreten, wenn die den Eindruck haben, dass sie immer nur Beitrag zahlen und sonst nix zu melden haben. Ich glaube, was wir da machen, ist ein angemessener Umgang mit dem Motto des vermutlich wichtigsten Parteivorsitzenden der SPD nach dem Zweiten Weltkrieg, Willy Brandt. Der hat gesagt: Mehr Demokratie wagen! Das gilt auch in der eigenen Partei. Und wir haben einen langen Prozess, wir haben zwei Jahre lang über die Frage debattiert, wie müssen sich Organisationsreformen in der SPD [sic!], da war von Bundestagswahlen, von Koalitions… [sic!: Abbruch] [Reparatur] lange nicht die Rede. In den Jahren zweizehn und zweielf hat die SPD einen langen, langen Prozess über die Reform ihrer Organisationsstrukturen geführt. Viele von Ihnen haben darüber berichtet. Und einer der Bestandteile war, dass die Mitgliedsorganisationen der SPD, die Bezirk- und Landesverbände das Recht haben, in wichtigen Fragen, wenn Sie – glaube ich – fünf Landesverbände haben, ein Mitgliedervotum zu einer bestimmten Frage durchzusetzen. Das haben wir damals in der Satzung verankert, da war von Bundestagswahlen nicht die Rede und schon gar nicht von Großer Koalition oder sonst irgendwas. Und jetzt kommt eine Situation, bei der jedenfalls in meiner Partei viele sagen, das ist eine auch für uns intern wichtige Frage, eine bedeutsame Wahl für die Frage. Nicht nur für die Frage, wie wird regiert? Nicht nur für die, die da in der Regierung sitzen, sondern auch für uns Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten, ist das eine Frage, an der wollen wir beteiligt werden. Jetzt soll der Vorsitzende der SPD oder der Vorstand sagen, naja wisst Ihr, wir haben das zwar reingeschrieben in die Satzung, dass wenn Ihr das wollt, dass wir ein Mitgliedervotum machen, aber in diesem Fall, wo es uns betrifft, da wollen wir das eigentlich nicht machen. Das ist natürlich Wahnsinn! Das wäre die Desavouierung eines zweijährigen Prozesses in der SPD unter der Überschrift „Mehr Demokratie wagen“ gewesen. Und deswegen ist das, was wir jetzt machen, die logische Konsequenz eines satzungsmäßigen Rechts, das wir gerade erst eingeführt

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haben und zwar auf dem Bundesparteitag der SPD 2011. Das wäre schon ein bisschen abenteuerlich, wenn wir jetzt den Versuch machen würden. Wir würden alle denkbaren Verschwörungstheorien, die es in der Bevölkerung gegenüber der Politik gibt, die es in Parteien, allen Parteien oder in vielen, gegenüber der Führung gibt, die seien da nur an Posten interessiert, ist eine der Antworten auf die Frage, warum wir das nicht zum Gegenstand der Abstimmung machen wollen, das hätte alles bestätigt. Und jetzt sagen wir: Nein. Wir sind uns unserer Sache sicher. Wir wissen, dass das ein guter Vertrag ist. Wir wissen, dass das ein Vertrag ist, bei dem man Kompromisse eingehen muss, auch da gilt Brandt: „Politik besteht aus Kompromissen, aber die besseren Kompromisse sind die mit Sozialdemokraten“. Das weiß bei uns jeder und deswegen gibt es kein Problem. Ein Problem gäbe es, wenn wir denen gesagt hätten, wir machen das nicht, wir entscheiden im Vorstand, in einem kleinen Parteitag oder was auch immer. Und deswegen glaube ich, ist das ein notwendiger Modernisierungsprozess. Übrigens er hat uns erst mal weit mehr als 2500 neue Mitglieder beschert. Nun kann man sich die Frage stellen, treten die ein, um es zu machen oder zu verhindern? Machen Sie sich mal keine Sorgen, ich kenne meinen Laden schon ganz gut, und man ist überrascht, wer da so als junger Mensch kommt, weil er diese Koalition will. Gerade hier in Berlin ist das siebzehntausendste Mitglied eingetreten. Jemand, der Grafiker und selbständiger Musiker ist, ich glaube Ende 20, Anfang 30. Natürlich habe ich so reagiert wie Sie, und habe gesagt, „Na, trittst Du ein, um es zu verhindern?“ Antwort: „Nein, das Gegenteil! Ich finde, ihr macht das richtig.“ Und deswegen ist das für meine Begriffe anders als für Ihre, aber für meine, ist das eine Stärkung meiner Partei und übrigens, auch dient es dazu, dass Entscheidungen, die man durchsetzt, auch dann legitimiert bei denen sind, die möglicherweise dagegen sind, wenn sie beteiligt gewesen sind. Das ist der Grund, warum wir das machen. Wir sind sehr überzeugt davon, und wir sind sehr überzeugt davon, dass das zu einem großen Erfolg führen wird. Und das werden Sie noch 14 Tage lang nicht sein, und dann sind auch Sie es! [Zwischenruf vom Publikum unverständlich] Gabriel reagiert darauf [Zwischenruf: Aber Sie haben schon so viele Wetten verloren.]

893 Vorsitzender der Bundespressekonferenz: Thorsten Denkler! 894 895 896 897 898 899

Journalist Denkler: Eine Frage an Herrn Gabriel: Sie haben die abschlagsfreie Rente mit 63 nach 45 Versicherungsjahren eingeführt. Das ist in Wirklichkeit abschlagsfreie Rente nach [Reparatur] mit 65 und nicht mit 63 Jahren. War das ja auch mal das Ziel, die Zielgröße sein soll? Und an Herrn Seehofer: Seit wann siezen Sie sich eigentlich wieder, oder wollen Sie sich duzen, oder wie läuft es jetzt bei Ihnen mit Herrn Gabriel oder Sigmar? Oder wie verstehen Sie sich?

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Gabriel: Ich bin gleich gespannt auf seine Antwort, aber es ist, wenn Sie es genau wissen wollen, für langjährig Versicherte die Wiederherstellung des alten Rentenrechts ohne Abzüge. Das ist das, was da stattgefunden hat. Für langjährige Versicherte, für den Lkw-Fahrer, der 45 Jahre auf dem Bock gesessen hat, für den Fliesenleger, für den Dachdecker, für den Schichtarbeiter im Stahlwerk, für Leute, die viel länger arbeiten als ihre Kinder und Enkelkinder arbeiten werden. Für Leute, die ein Berufsleben hinter sich haben, das in diesem Raum einschließlich des Deutschen Bundestages und meiner Kinder niemand mehr haben wird. Keines meiner beiden Kinder wird so lange arbeiten, wie meine Mutter gearbeitet hat. Sie leben in einer weit besseren Arbeitswelt. Gott sei Dank! Sie haben viel höhere Einkömmen [Hyperkorrektur], sie haben ein viel gesünderes Leben, sie haben weniger körperliche Belastungen, und sie haben ein längeres Leben, und sie haben eine weit höhere Rente. Und jetzt reden wir über Menschen, die das alles nicht haben, weil die 45/46/48 [Abbruch] Ich habe

13.7 Die Bundespressekonferenz vom 27.11.2013 mit Angela Merkel, u.a.



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912 gerade einen, der hat 50 Jahre gearbeitet als Arbeiter, und dem wollen wir mal sagen: „Nun 913 darfst du gehen, und wir ziehen Dir nix von deiner Rente ab!“ Das halte ich für überfällig. 914 915 916 917 918

Seehofers Zwischenruf: Wobei man hinzufügen muss, dass das heute schon im Gesetz steht, dass jemand, der langjährig versichert ist, auch dann, wenn wir das 67. Lebensjahr einmal haben, werden in der vollen [äh] Ausbreitung [äh] [Reparatur] kann man abschlagsfrei dann mit 65, also zwei Jahre vorher gehen. Das ist das gleiche Prinzip, das wir jetzt [äh] für den Übergang beschlossen haben.

919 Gabriel: Nur, dass in der jetzigen Regelung in Zeiten der Arbeitslosigkeit nicht angerechnet 920 werden, und das tun wir in Zukunft, weil die Erwerbsbiografien derjenigen, von denen ich eben 921 geredet habe, Arbeitslosigkeit in der Regel in überschaubarem Maß beinhaltet. 922 Merkel: Und für die neuen Bundesländer ist das eine ganz wichtige Sache, weil da viele auch 923 sehr unverschuldet in Arbeitslosigkeit gekommen sind. 924 Merkel an Seehofer: Ich glaube, Du hattest ja eine Frage! 925 Seehofer: Ach so, ja, ja, [Zwischenrede durch den Vorsitzenden der Bundespressekonferenz 926 unverständlich] also ich… [Unterbrechung] 927 928 929 930

Journalist: [Der Anfang der Frage unverständlich]… die Frage war eher, was es mit den 63 oder 65 Jahren auf sich hat? Da gibt es ja offenbar eine Idee, von 63 es zu machen, dann wieder bei 65 zu landen. Das habe ich nicht ganz verstanden. Und die Frage nach dem Duzen und Siezen war nicht beantwortet.

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Gabriel: Es ist eine Treppe, die etwas anders aussieht als die Treppe, die jetzt bereits existiert mit Blick auf 67, sie wird etwas verzögert sein, aber sie entwickelt sich sozusagen natürlich auch entlang der Erwerbsbiografien. Das ist, wenn Sie so wollen, der Kompromiss dabei. Entscheidend ist am Ende, deswegen haben die Gewerkschaften diesen Kompromiss mitgetragen und finden ihn gut, dass wir für diese langjährigen Erwerbsbiografien letztlich eine Situation herstellen im Rentenrecht wie vor der Rente mit 67, aber nur für sehr lan [sic!] lange Erwerbsbiografien. Das ist der Grund, warum die Gewerkschaften auf [sic!] diesen Kompromiss außerordentlich wichtig finden.

939 Merkel Zwischenrede: Wenn ich auch, auch ma [Abbruch] 940 [Unterbrechung durch] Gabriel: Es ist auch keine preiswerte Angelegenheit. 941 942 943 944 945 946 947 948 949

Merkel: Wenn ich auch mal sagen darf, der [Reparatur] die Entwicklung der Rente von 65 früher bis 67, entwickelt sich doch so, dass bis zum Jahre 2029 in Stufen langsam die Lebensarbeitszeit auf 67 erhöht wird. Und wir bilden jetzt einen Prozess nach. Wir sagen, abschlagsfrei mit 63, jetzt sind wir heute schon auch bei den 65-Jährigen bei 65 plus drei Monaten im nächsten Jahr, und etwas zeitverzögert, also erst beendet im Jahre 2032, wachsen jetzt die, die in 14 mit 63 Jahren in Rente gehen dürfen abschlagsfrei, wenn sie 45 Versicherungsjahre inklusive Arbeitslosenjahre haben, auf im Jahre 2032 auf Menschen, die die gleiche Versicherungszeit [Reparatur] die gleiche Beitragszeit haben, [äh], und dann sind [Reparatur], enden sie sie bei 65 Jahren.

950 Seehofer: Immer zwei Jahre vorher.

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13 Anhang: Bundespressekonferenzen im Korpus

Gabriel: Vor zehn Jahren konnten sie mit 65 abschlagsfrei in Rente gehen. Und damals waren Zeiten der Arbeitslosigkeit mal dabei, mal nicht dabei. Das hat im Rentenrecht ständig gewechselt, dann ist das nur für die möglich gewesen, die eine ungebrochene Erwerbsbiografie haben, nämlich die 45 Jahre durchgearbeitet haben, nicht einen Tag arbeitslos waren. Die konnten auch noch mit 65 gehen, trotz der Einführung der Rente mit 67. Dabei sind viele Menschen rausgefallen, die eben gebrochene Erwerbsbiografien haben, aber trotzdem sehr, sehr lange Arbeitszeiten haben. Und für die ermöglichen wir jetzt – und das war unser Ziel – um die geht’s, die Möglichkeit, das beginnt mit 63, und dann wächst es auch auf 65, und wenn man fü… [Reparatur] im Jahr 2032 – glaube ich – das Jahr 65 erreicht hat, dann ist für sehr lange Erwerbsbiografien das Rentenrecht so, wie es früher war.

961 [Journalistenfrage unverständlich] 962 Vorsitzender der Bundespressekonferenz: Neee, das müssen wir jetzt [Abbruch] Wir haben 963 so viele Listen noch [Abbruch] Ich hab noch zwei Fragen auf der Liste. Wir haben eigentlich 964 keine Zeit mehr. Angela Wefers! Vorletzte Frage, bitte! 965 966 967 968 969

Journalistin Wefers: Ich habe eine Frage zur Bankenunion und zu der direkten Vergabe von Hilfen an Banken. Da gibt es einen zehnzeiligen Bandwurmsatz mit vielen Wenn und Abers im Koalitionsvertrag, den ich so verstehe, dass das heißt, direkte Bankenhilfen gibt es nur, wenn der Staat so pleite ist, dass er nicht mal mehr europäische Hilfen bekommt. Das ist jetzt ein bisschen zugespitzt, aber ist das das, was Sie wollen, weil das ja sehr umstritten ist?

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Merkel: Also, der [Reparatur] die Worte sind da schon so gewählt, das Wort Pleite taucht da mit Bedacht nicht auf, sondern es geht darum, wenn einmal [Reparatur] ein Land keinen Zugang zum Markt mehr haben könnte, weil es einige Banken rekapitalisieren muss über den im ESM vereinbarten Mechanismus, dann kann der Weg der direkten Bankenrekapitalisierung gewählt werden, das heißt, dann wird das nicht auf die Staatsschuld angerechnet, was die Entkopplung in solchen Fällen von Staatsschwierigkeiten und Bankenschwierigkeiten ausmacht, aber im Grunde als Ultima Ratio und nicht als der Normalfall.

977 Vorsitzender der Bundespressekonferenz: Michael Wüllenweber mit der allerletzten Frage! 978 979 980 981

Journalist Wüllenweber: In 2009 hieß es ja bei der Vorstellung des Bundeskanz [Reparatur] [äh] des Koalitionsvertrages ab 2015 [sic!] wird zurückgeduzt „Horst und Guido“. Wie weit ist das jetzt mit der persönlichen Annäherung zwischen Ihnen, Herr Gabriel und Herr Seehofer, und wie gefährlich ist das?

982 Gabriel: Man kann sich wertschätzen und respektieren, ohne dass man sich duzt, und man kann 983 sich nicht wertschätzen und nicht respektieren, wenn man sich duzt. Bislang haben wir uns für 984 die erste Variante entschieden. 985 Seehofer: Wir saßen ja drei Jahre in der letzten Koalition, Großen Koalition nebeneinander im 986 Kabinett. Wir hatten jetzt einfach zu viel zu tun, würde ich mal sagen. 987 Gabriels Zwischenruf: Wir erklären das schon noch. 988 Seehofer [setzt fort]: Wir sind erst um 6 Uhr ins Bett gekommen. 989 Gabriels Zwischenruf: Getrennt. [Gelächter im Publikum]

13.8 Die Bundespressekonferenz vom 31.8.2015 mit Bundeskanzlerin Angela Merkel 

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990 Seehofer: Ich könnte mir… [Abbruch: Seehofer schockiert] Jetzt hätte ich fast was gesagt. Also, 991 ich kann mir vorstellen, dass sich der Status mal ändert, wenn er den Mitgliederentscheid 992 gewonnen hat. [Gelächter bei Gabriel und im Publikum] 993 Merkel: Ich werde die Sa [Unterbrechung unverständlich] Ich werde die Sache gut beobachten. 994 Herzlichen Dank! 995 Vorsitzender der Bundespressekonferenz: Ich bedanke mich und entschuldige mich bei 996 denen, die nicht drangekommen sind.

13.8 Die Bundespressekonferenz vom 31.8.2015 mit Bundeskanzlerin Angela Merkel Protokoll nach https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/pressekonferenzen/sommerpressekonferenz-von-bundeskanzlerin-merkel-848300 Videoüberprüft nach https://www.youtube.com/watch?v=5eXc5Sc_rnY 1 2 3

Vorsitzende der Bundespressekonferenz Welty: Meine Damen und Herren, herzlich willkommen in der Bundespressekonferenz. Wir begrüßen sehr herzlich die Bundeskanzlerin Angela Merkel. Herzlich willkommen! Das Wort ist das Ihre.

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Merkel: Frau Welty, ich möchte mich für die Einladung der Bundespressekonferenz und auch für das Verständnis dafür bedanken, dass wir diese Pressekonferenz wegen der GriechenlandAbstimmung am 17. Juli verschieben mussten. Heute ist der 31. August, und selbst meteorologisch kann man noch von Sommer sprechen. Insofern ist es gerade noch in der Zeit.

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Ich möchte noch kurz beim Thema Griechenland verharren und sagen, dass wir inzwischen ein drittes Programm haben. Wir haben die erste Tranche dieses Programms ausgezahlt. Es wird Neuwahlen in Griechenland geben, und ich gehe davon aus, dass Griechenland seinen Verpflichtungen auch nachkommen wird.

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Heute werden wir sicherlich über alle Fragen sprechen können, die uns beschäftigen: Ukraine, Klimaschutz, Energiewende, Bund-Länder-Finanzen und, und, und. Ich könnte noch viele Themen nennen. Aber ich möchte von meiner Seite zu Beginn etwas ausführlicher nur zu einem Thema einige Worte sagen, und zwar zu den vielen Menschen aus aller Herrenländer [sic!], die bei uns in Deutschland Zuflucht suchen.

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Meine Damen und Herren, was sich zurzeit in Europa abspielt, das ist keine Naturkatastrophe, aber es gibt eine Vielzahl katastrophaler Situationen. Es spielen sich unendlich viele Tragödien ab und auch unfassbares Gräuel, wie [wir] vor einigen Tagen in Österreich, als in einem Lkw über 70 Menschen tot gefunden wurden, von skrupellosen Schleppern zugrunde gerichtet. Das [hm] sind solche Gräueltaten, die man [hm] gar nicht fassen kann und wo man einfach sagen muss [hm]: Das sind Bilder und Vorstellungen, die unsere Kraft auch übersteigen. Und das geschieht alles, während wir hier in geordneten, in sehr geordneten Verhältnissen leben.

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13 Anhang: Bundespressekonferenzen im Korpus

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Wir werden gleich auch über Erstaufnahmeeinrichtungen, Bearbeitungsdauer, Rückführungen, faire Verteilung in Europa, sichere Herkunftsländer, Bekämpfung von Fluchtursachen sprechen. Das müssen wir auch. Aber wir werden darüber sprechen müssen [ähm] vorher, was eigentlich uns leiten sollte und was mich auch bewegt, wenn wir darüber sprechen [hm], dass wir [ähm] bis zu 800.000 Menschen haben [hm], die in diesem Jahr zu uns kommen werden. – So die jüngsten Prognosen.

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Die allermeisten von uns kennen den Zustand völliger Erschöpfung auf der Flucht, verbunden mit Angst um das eigene Leben oder das Leben der Kinder oder der Partner, zum Glück nicht. Menschen, die sich zum Beispiel aus Eritrea, aus Syrien oder dem Nordirak auf den Weg machen, müssen oft Situationen überwinden oder Ängste aushalten, die uns wahrscheinlich schlichtweg zusammenbrechen ließen. Und deshalb müssen wir beim Umgang mit Menschen, die jetzt zu uns kommen, einige klare Grundsätze gelten lassen. Und diese Grundsätze entstammen nicht mehr und nicht weniger als unserem Grundgesetz, unserer Verfassung.

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Erstens: Es gilt das Grundrecht politisch Verfolgter auf Asyl. Wir können stolz sein auf die Humanität unseres Grundgesetzes. Und in diesem Artikel zeigt sie sich ganz besonders. Schutz gewähren wir auch all denen, die aus Kriegen zu uns fliehen. Auch ihnen steht dieser Schutz zu.

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Und der zweite Grundsatz, das ist die Menschenwürde. Das ist ein Grundsatz, den uns schon der Artikel 1 des Grundgesetzes aufgibt. Die Menschenwürde eines jeden, gleichgültig ob er Staatsbürger ist oder nicht, gleichgültig, woher und warum er zu uns kommt und mit welcher Aussicht darauf, am Ende eines Verfahrens als Be [sic, Reparatur] Asylbewerber anerkannt zu sein. Wir achten die Menschenwürde jedes Einzelnen, und wir wenden uns mit der ganzen Härte unseres Rechtsstaates gegen die, die unsere Mensche [sic, Reparatur] andere Menschen anpöbeln, die andere Menschen angreifen, die ihre Unterkünfte in Brand setzen oder Gewalt anwenden wollen. Wir wenden uns gegen die, die zu Demonstrationen mit ihren Hassgesängen aufrufen. Es gibt keine Toleranz gegenüber denen, die die Würde anderer Menschen infrage stellen. Und wie ich es schon zu Beginn dieses Jahres in meiner Neujahrsansprache gesagt habe, sage ich auch heute denen, die, aus welchen Gründen auch immer, bei solchen Demonstrationen mitlaufen: Folgen Sie denen nicht, die zu solchen Demonstrationen aufrufen! Zu oft sind Vorurteile, zu oft ist Kälte, ja sogar Hass in deren Herzen. Halten Sie Abstand!

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Ich sage aber auch: Trotz alledem ist unser Land immer noch ein gutes Land. Es ist in guter Verfassung. Die oft beschworene zivile Gesellschaft, sie ist bei uns Realität, sie ist Wirklichkeit, und es macht mich stolz und dankbar zu sehen, wie unzählige Menschen in Deutschland auf die Ankunft der Flüchtlinge reagieren. Die Zahl derjenigen, die heute für Flüchtlinge da sind, die Zahl der Helfenden, die Zahl derjenigen, die fremde Menschen durch die Städte und Ämter begleiten, sogar bei sich aufnehmen, überragt die Zahl der Hetzer und Fremdenfeinde um ein Vielfaches, und sie wächst noch, auch dank – und das möchte ich hier ausdrücklich erwähnen -vieler wunderbarer Berichte darüber von Ihnen, den Medien, gerade in den letzten Tagen. Und ich erlaube mir ausnahmsweise einmal, sie auch zu ermutigen, genau das fortzusetzen; denn damit geben Sie den vielen guten Bürgerinnen und Bürgern die Möglichkeit, ihresgleichen in der Berichterstattung zusehen, damit zeigen Sie Vorbilder und Beispiele, und Sie machen wieder anderen Mut.

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Die überwältigende Mehrzahl unserer Menschen ist weltoffen. Unsere Wirtschaft ist stark,

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unser Arbeitsmarkt ist robust, ja sogar aufnahmefähig. Denken wir an den Bereich der Fachkräfte. Wenn so viele Menschen so viel auf sich nehmen, um ihren Traum von einem Leben in Deutschland zu erfüllen, dann stellt uns das ja nun wirklich nicht das schlechteste Zeugnis aus. Unsere Freiheit, unser Rechtsstaat, unsere wirtschaftliche Stärke, die Ordnung, wie wir zusammenleben – das ist es, wovon Menschen träumen, die in ihrem Leben Verfolgung, Krieg, Willkür kennengelernt haben. Die Welt sieht Deutschland als ein Land der Hoffnung und der Chancen, und das war nun wirklich nicht immer so.

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Nun stellt sich die Frage: Was müssen wir in einer solchen Situation, in der wir natürlich vor einer riesigen Herausforderung stehen, tun? Da will ich einiges dazu sagen.

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Im Juni bereits haben wir bei dem Treffen der Ministerpräsidenten mit der Bundesregierung und den kommunalen Spitzenverbänden gemeinsam festgestellt: wir stehen vor einer großen nationalen Aufgabe; die geht jeden an. Und das wird eine zentrale Herausforderung sein, nicht nur für Tage oder Monate, sondern soweit man das absehen kann, für eine längere Zeit. Und deshalb ist es wichtig, dass wir schon sagen: Deutsche Gründlichkeit ist super, aber es wird jetzt deutsche Flexibilität gebraucht. Und wir haben eine Vielzahl von Beispielen, in denen wir gezeigt haben, dass wir dazu in der Lage sind.

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Ich will an die Bankenrettung erinnern. Da haben wir innerhalb weniger Tagen bei der internationalen Finanzkrise – Bund, Länder gemeinsam – die notwendigen Gesetze durchgesetzt.

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Ich will an den Atomausstieg erinnern, als wir in kürzester Zeit doch eine Wende im wahrsten Sinne des Wortes bei der Energiewende vollzogen haben.

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Ich will an die Naturkatastrophen erinnern, denen wir immer entschlossen und geschlossen begegnet sind zwischen Bund, Länder [sic!] und Kommunen.

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Und wenn ich vielleicht an ein sehr schönes Beispiel erinnern darf im fünfundzwanzigsten Jahr der deutschen Einheit: Die deutsche Einheit haben wir auch nicht mit normal [sic!] Arbeit gelöst, sondern wir sind viele neue Wege gegangen, ob das die Verkehrswegebeschleunigungsgesetze waren, die Abordnung von vielen ehrenamtlichen Helfern in die neuen Bundesländer.

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Und vor so einer Herausforderung steh [sic, Reparatur] stehen wir jetzt auch wieder. Das [sic, Reparatur] die Beispiele der Vergangenheit zeigen uns: Wann immer das [Reparatur] es darauf angekommen ist, sind wir in der Lage – Bundesregierung, Länder und Kommunen – das Richtige und das Notwendige zu tun. Aber wir müssen die Dinge jetzt beschleunigen. Wir müssen das, was uns hindert, das Richtige zu tun, auch zeitweise außer Kraft setzen und deshalb auch ein Stück Mut dabei zeigen. Was müssen wir also im Lande tun?

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Wir haben jetzt die Strukturen aufgebaut, in denen wir, glaube ich, die nationale Kraftanstrengung, die nationale Aufgabe lösen können. Wir haben eine permanente Koordinierung des Bundes mit den Ländern beim Bundesinnenministerium angesiedelt. Wir werden am neunten September ein Treffen der Chefs der Staatskanzleien mit dem Bundesinnenminister und dem Chef des Kanzleramtes haben. Und wir werden am vierundzwanzigsten September – darauf arbeiten wir jedenfalls hin – ein umfassendes Paket beschließen und dann auch, hoffe ich, parlamentarisch schnell durchsetzen, indem wir die

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108 notwendigen Regelungen treffen. Und wir werden dann auch Treffen mit den gesellschaftlichen 109 Gruppen haben, um hier die notwendigen Kraftanstrengungen auch noch einmal zu bündeln. 110 111 112 113 114 115 116 117

Worum geht es? – Es geht einmal um die Beschleunigung der Verfahren. Wir brauchen sowohl mehr Erstaufnahmeeinrichtungen, weil nur in der Kooperation des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge und den Erstaufnahmeeinrichtungen schnelle Entscheidungen getroffen werden können. Und es geht dabei darum, zu sagen „Wer hat eine hohe Bleibeperspektive?“, und es geht genauso darum, zu sagen „Wer hat so gut wie keine Chance, bei uns zu bleiben?“. Und diese Anträge müssen schnell entschieden werden, und dann müssen die Rückführungen in die Heimatländer, hier geht es vor allen Dingen auch um die Länder des westlichen Balkans, schnell erfolgen. Und das muss aus den Erstaufnahmeeinrichtungen heraus passieren.

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Wir sind hier in einer sehr intensiven Kooperation mit den Ländern; denn es gibt bei der Unterbringung und gerade bei der Schaffung der Erstaufnahmeeinrichtungen natürlich viele praktische Probleme zu bedenken. Es gibt inzwischen eine sehr gut funktionierende Zusammenarbeit mit der BImA. Die Zurverfügungstellung von Bundesliegenschaften erfolgt unbürokratisch. Aber wir müssen natürlich auch schauen: Wie können wir noch mehr Erstaufnahmeeinrichtungen schaffen? Wie können Bund und Länder hier zusammenarbeiten?

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Hier stellen sich dann eine Reihe von praktischen Fragen: Brandschutzanforderungen und Immissionsschutzgesetze, die sich mit Baugesetzen beißen. Wir sammeln im Augenblick alle Bemerkungen der Kommunen und auch der Länder und das Ganze wird dann in eine Gesetzesinitiative münden müssen, wo wir solche Standards, die uns daran hindern, das Notwendige zu tun, dann auch zeitweise aufheben und Abweichungen möglich machen, damit wir schnell reagieren können.

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Zweitens geht es natürlich um eine faire Kostenverteilung. Wir werden auflisten: Wer [Reparatur] macht was? Was machen die Kommunen? Was machen die Länder? Was macht der Bund? – Und dann wird sich der Bund einer fairen Kostenverteilung nicht entgegenstellen. Im Gegenteil: Uns ist auch klar, dass wir mehr tun werden, als wir bislang tun.

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Drittens brauchen wir dann Integrationsanstrengungen, wenn die Anträge schneller bearbeitet werden, auch für die, die eine hohe Perspektive haben, hier zu bleiben, [Reparatur] insbesondere auch Flüchtlinge aus Syrien oder aus anderen Bürgerkriegsregionen. Dann geht es darum, Lehrer zu finden, die Deutschunterricht geben können, die die Kinder unterrichten. Wir haben allein in Städten wie Berlin oder München mehr als 400 neue Klassen. Sie können sich vorstellen: Das geht nicht dadurch, dass man allein mit den jetzt gerade im Dienst befindlichen Lehrern arbeitet. Wir werden schnell Kurse machen müssen, wenn es um Deutschkenntnisse und um vieles andere geht. Das kann man mit dem normalen deutschen Vorgehen nicht machen. Das gilt auch für die Betreuung minderjähriger Jugendlicher, wenn Sie alleine daran denken, dass in München 4.000 sind und dass eine Erzieherinnenausbildung Jahre dauert. Da müssen wir Mittel und Wege finden, auch Zwischenlösungen zu finden. All das muss besprochen werden.

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Und dann geht es natürlich um die langfristigen Wohnungs- und Arbeitsperspektiven. In jeder Erstaufnahmeeinrichtungen [sic!] – so wäre es idealerweise sinnvoll – müsste gleich die Bundesagentur für Arbeit sitzen. Man müsste die Qualifikationen aufnehmen und auf diese Dinge arbeiten wir hin.

150 Ich sage ganz einfach: Deutschland ist ein starkes Land und [Reparatur] das Motiv, mit dem

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wir an diese Dinge herangehen, muss [Reparatur] sein: Wir haben so vieles geschafft – wir schaffen das! Wir schaffen das, und wo uns etwas im Wege steht, muss es überwunden werden, muss [äh] daran gearbeitet werden. Der Bund wird alles in seiner Macht Stehende tun zusammen mit den Ländern, zusammen mit den Kommunen, genau das durchzusetzen.

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Wir haben dann die europäische Dimension, und hier glaube ich, dass wir schon sagen dürfen: Europa als Ganzes muss sich bewegen. Die Staaten müssen die Verantwortung für asylbegehrende Flüchtlinge teilen. Die universellen Bürgerrechte waren bislang eng mit Europa und seiner Geschichte verbunden. Das ist einer der Gründungsimpulse der Europäischen Union. Versagt Europa in der Flüchtlingsfrage, geht diese enge Bindung mit den universellen Bürgerrechten kaputt. Sie wird zerstört, und es wird nicht das Europa sein, was wir uns vorstellen, und das Europa sein, das wir als Gründungsmythos auch heute weiterentwickeln müssen.

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Und was operativ in Europa folgt, ist, dass Deutschland und Frankreich ein sehr hohes Maß an Übereinstimmung haben für die nächsten Schritte und dass wir dies jetzt natürlich mit anderen Länder konsultieren. Es hat auch keinen Sinn, dass wir uns gegenseitig öffentlich beschimpfen, aber man muss eben einfach sagen: Die derzeitige Situation ist nicht zufriedenstellend. Die Innenminister werden sich am 14. September treffen. Die Regierungschefs, wenn notwendig, sie stehen immer bereit [sic!]. Es geht um sichere Herkunftsländer. Es geht um Hot Spots, die in Italien und Griechenland errichtet werden. Es geht um eine faire Lastenverteilung, also um Quoten innerhalb Europas, die natürlich nicht nur die Bevölkerungszahl in sich tragen, sondern auch die wirtschaftliche Kraft, aber [ähm] um ein Stück Fairness.

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Und es gibt einen dritten Punkt, den wir beachten müssen, und das ist die Bekämpfung der Fluchtursachen. Hier zeigt sich [ähm], welche Bedeutung Außenpolitik hat und welche Bedeutung internationale Kooperation hat. Wir erleben jetzt, dass der Syrien-Konflikt nicht weit von uns entfernt stattfindet, sondern dass inzwischen eine Situation entstanden ist, in der alle Nachbarländer Syriens überfordert sind, ob das der Libanon ist, ob das Jordanien ist oder ob es die Türkei ist. Indem dieses Thema uns jetzt erreicht, was uns das darin bestärken sollte, mit noch mehr Nachdruck den diplomatischen Bemühungen eine Chance zu geben, diesen Konflikt zu lösen. Ich weiß, welch dickes Brett [Reparatur] das ist, das wir bohren müssen, aber es ist unabdingbar.

181 Wir müssen uns weiter um die Frage Afghanistan [ähm] bemühen. Der Bundesaußenminister 182 ist dort gerade zurzeit. Die Gespräche mit den Taliban müssen weitergeführt werden. 183 184 185 186

Und wir werden im November einen Gipfel haben mit den afrikanischen Ländern seitens der europäischen Staats- und Regierungschefs [ähm] auf Malta, um auch dort darüber zu sprechen, was es für den afrikanischen Kontinent bedeutet, wenn die besten jungen Menschen diesen Kontinent verlassen, weil sie für sich keine Hoffnung sehen.

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Ich fühle mich auch darin bestärkt, dass wir letztes Jahr die Westbalkan-Konferenz ins Leben gerufen haben; denn gerade auch die Perspektiven auf dem westlichen Balkan müssen verbessert werden, wenn wir nicht nur abwehren wollen, sondern diesen Ländern wirklich eine Perspektive geben wollen.

191 Das wollte ich Ihnen zu Beginn sagen und jetzt stehe ich zur Verfügung für alle ihre Fragen, 192 egal aus welchem Themengebiet sie stammen.

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193 Vorsitzende Welty: Vielen Dank, Frau Bundeskanzlerin. An Ihrer Seite sitzt natürlich, wie 194 immer, Regierungssprecher Steffen Seibert. 195 [ähm] Da das Interesse groß ist und ich schon viele Meldungen auf dem Zettel habe, die Bitte 196 um eine Frage pro Wortmeldung respektive eine Zusatzfrage und ne [sic!] kurze Vorstellung 197 ist auch immer schön. – Es geht los mit Frau Dunst. 198 199 200 201

Frage: Frau Bundeskanzlerin [ähm], Sie sind in Sachsen auf das Übelste beschimpft worden von einer rechten Gruppe [ähm]. Geben Sie Menschen dieser Gesinnung, dieser rechten Gesinnung verloren, oder versuchen Sie, die [ähm] politisch noch zu erreichen, und warum ist dieses Problem vor allem in Ostdeutschland so groß?

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Merkel: Ja also, es gehört dazu, dass man als Politiker auch mal beschimpft wird. Das ist [Reparatur] ficht mich jetzt nicht weiter an. Was mich anficht, ist, dass wir solchen Hass und solche Stimmung in unserem Land haben. Und da ist meine Antwort ganz klar: Hier muss es eine ganz klare Abgrenzung geben. Hier kann keinerlei Entschuldigung sein [sic!] [ähm]. Natürlich sagen wir unsere Argumente, aber es geht hier schon darum [ähm], dass man nicht – würde ich sagen – die Spur von Verständnis zeigt. Keine biografische Erfahrung, keine [sic!] historisches Erlebnis, nichts, aber auch gar nichts rechtfertigt ein solches Vorgehen.

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Ob das Ganze nun im Osten ausgeprägter oder weniger ausgeprägt ist – Sie haben ja in der Geschichte der Bundesrepublik schon verschiedene Situationen gehabt -, [ähm] das möchte ich jetzt nicht bewerten. Ich will daraus auch keinen Ost-West-Konflikt machen. Ich will nur sagen: Wo das auftritt [ähm], lasse ich mich jedenfalls nicht auf Erklärungsmuster ein. Natürlich ist jeder Mensch ein Mensch, aber wir haben auch die Verpflichtung im Blick auf unser Grundgesetz das [ähm], was wir wollen. Und deshalb kann es keine Toleranz an dieser Stelle geben und schon gar keine Erklärung.

216 Frage: Frau Bundeskanzlerin, für wie sinnvoll halten Sie die politische Debatte, die es jetzt 217 gibt, dass Politiker aus dem Westen mit dem Finger auf den Osten zeigen und umgekehrt? 218 Bringt uns das weiter? 219 220 221 222 223 224 225 226 227

Merkel: Ich sagte ja schon: Das [ähm] bringt uns natürlich überhaupt nicht weiter. Wir müssen die Dinge so nehmen, wie sie sind. Wir haben – man muss das auch einfach realistisch sehen – sowohl in Sachsen als auch in Mecklenburg-Vorpommern zum Beispiel [ähm] durchaus Orte, in denen leider rechtsextremes [ähm] Gedankengut [ähm] scheinbar salonfähig geworden ist. Dagegen muss man mit der [ähm] gesamten Klarheit vorgehen. [ähm] Man muss auch – glaube ich – das ist auch eine Aufgabe – die Menschen, die sich dagegenstellen, ermutigen. Das kann in bestimmten Regionen besonders wichtig sein. Es gibt im Übrigen – das will ich, ohne den Rechtsextremismus in irgendeiner Weise zu relativieren, auch sagen – ziemlich harte linksextreme Vorgänge, die auch nicht [ähm] gewaltfrei sind.

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Aber jetzt noch einmal zurück zum Rechtsextremismus: Also vor allen Dingen aufpassen, dass Menschen nicht eingeschüchtert werden in bestimmten Regionen! Deshalb ist es richtig, wenn man sich dem entgegenstellt, wenn man in solchen Orten Veranstaltungen stattfinden lässt, Bürgermeister unterstützt usw. Das gilt jetzt nicht nur für Heidenau, sondern [Reparatur] für viele andere Regionen. Aber seien wir ehrlich [ähm]: Es gab und gibt natürlich auch in den alten Bundesländern natürlich Strömungen und Gedankengut, was nicht gut ist [sic!]. Ich rate uns nicht, daraus eine Ost-West-Diskussion zu machen. Weil darin liegt schon der Ansatz. Ob irgendetwas gewesen ist im Osten, ist völlig egal. Wir sind ein Land, wir sind 25 Jahre lang ein

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236 Land, und das gehört sich nicht, das hat mit unserer Verfassung nichts zu tun. Wir sind dem 237 Geltungsbereich des Grundgesetzes beigetreten, nicht mehr und nicht weniger, und jetzt haben 238 wir das durchzusetzen. 239 Zusatzfrage: Ich darf eine kurze Nachfrage stellen. 240 Man sieht ja in Sachsen, dass solche rassistischen Ausschreitungen dort besonders stark sind, 241 wo die NPD auch stark ist. Bedauern Sie heute im Nachhinein, dass es beim NPD242 Verbotsverfahren einen Alleingang des Bundesrats gibt? 243 244 245 246

Merkel: Das bedauere ich nicht. Die Frage, ob ein Parteienverbot dieses Gedankengut sozusagen verschwinden lässt, [Reparatur] über die kann man weit diskutieren [sic!]. Jetzt hat aber der Bundesrat diesen NPD [Reparatur] -Verbotsantrag gestellt. Der wird vor dem Bundesverfassungsgericht verhandelt, und insofern werden wir dann das Ergebnis sehen.

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Frage: Der Bundespräsident hat sich am Wochenende für eine Neudefinition des Nationenbildes in Deutschland ausgesprochen. Er sprach von einer Gemeinschaft der Verschiedenen. Man müsse wegkommen von einem Bild einer Nation, überwiegend christlich, überwiegend hellhäutig und sehr homogen. Sehen Sie auch die Notwendigkeit einer Neudefinition des Nationenbildes, und falls ja, wie sieht’s aus [sic!]?

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Merkel: Also ich glaube, unser Land hat sich in seiner Geschichte, solange es die Bundesrepublik Deutschland gibt, verändert – immer wieder verändert. Wir haben am Anfang Millionen Heimatvertriebene integriert beziehungsweise die Heimatvertriebenen selbst haben einen großen Beitrag dazu geleistet. Wir haben dann lange den Fehler gemacht, Gastarbeiter als Gastarbeiter zu bezeichnen, und sind glücklicherweise nunmehr doch seit geraumer Zeit dazu gekommen zu sehen, dass es unsere Mitbürger sind, egal welcher Abstammung. Dass sie in der dritten oder vierten Generation bei uns leben, hat unser Land schon verändert. Das hat zu der Diskussion geführt, ob der Islam zu Deutschland gehört oder nicht, wo ich mich klar auch ausgesprochen habe [sic!], dass er inzwischen natürlich zu Deutschland gehört und diese Tendenz wird sich jetzt noch einmal verstärken, dass wir Verschiedenheit haben.

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Wir haben im Übrigen nicht nur eine unterschiedliche Blickweise auf die Menschen, die in unserem Land leben und die unsere Nation ausmachen, nicht das hat sich nur verändert, sondern auch die Lebensformen haben sich verändert über die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Das heißt, wenn Sie so wollen: Die Nation oder die Gesellschaft, das Land verändert sich beständig, und immer wieder ist es eine Bestätigung unseres Grundgesetzes, unserer Art zusammenzuleben, unseres Wirtschaftsmodells der sozialen Marktwirtschaft. Also immer wieder ist das, was die Gründungsimpulse dieses Landes waren, bewährt sich [sic!] immer wieder unter neuen Bedingungen, und das, finde ich, ist das eigentlich Ermutigende an der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland.

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Frage: Frau Dr. Merkel, Sie waren in den letzten Wochen und Monaten dabei, Ihre Partei von einem Einwanderungsgesetz zu überzeugen. So war zumindest zu hören und zu lesen. Würden Sie sagen, angesichts der jetzigen Flüchtlingsthematik weder Ihrer Partei noch Deutschland derzeit zuzumuten ist, weil vielleicht auch ein bisschen Ehrlichkeit in die Debatte auf beiden Seiten gehört, und wie ist eigentlich Ihre grundsätzliche Haltung zu diesem Gesetz? Was muss darin stehen, wann ist der richtige Zeitpunkt, und wann werden Sie sich in dieser Frage aus der Deckung trauen?

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Merkel: Also erst einmal, wenn Sie sich erinnern: Angesichts der Jubiläumsfeierlichkeiten der CDU habe ich davon gesprochen, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist. Wir erleben im Augenblick Einwanderung auf eine sehr spezifische Form , nämlich in diesem Falle durch Asylbewerber, durch Bürgerkriegsflüchtlinge. Und viele von ihnen werden sehr lange – nach menschlichem Ermessen – bei uns bleiben. Und wir haben immer gesagt – und das ist ja auch die allgemeine Diskussion -: Ein Einwanderungsgesetz brauche ich, um auch gerade Interessen Deutschlands, nämlich Bedarf Arbeitskräfte, Fachkräften vernünftig zu bedienen und darauf richtigen Antworten zu finden. Wir haben da gesetzlich und rechtlich sehr viel gemacht, was zum Teil gar nicht bekannt ist, weil wir das Ganze nicht „Einwanderungsgesetz nennen“, sondern weil wir das „Aufenthaltsgesetz“ nennen. Darunter sind viele Dinge, von denen die OECD sagt, mit ihnen gehörten wir zu den fortschrittlichsten Ländern, die es überhaupt gibt.

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Ich rate dazu, angesichts der jetzt stattfindenden Entwicklung, erst einmal zu schauen, wie viel Arbeitsplätze wir eigentlich noch besetzen müssen, wenn wir übersehen, wie sich die weiteren Flüchtlings- und Asylbewegungen entwickeln. Das ist im Augenblick in einem sehr großen Umbruch begriffen, weil ja sehr viele haben, die zu uns kommen, von denen wir die Qualifikation noch gar nicht kennen, von denen wir nicht wissen, entsprechen sie dem, was wir an Fachkräften brauchen, entsprechen sie dem nicht, entspricht es dem Leerstellenangebot, was wir haben. Dann kann man über das Thema wieder sehr nüchtern sprechen. Im Augenblick erscheint es mir nicht das Vordringlichste zu sein, weil wir im Augenblick eine Einwanderung bekommen aus dem Grund der Überzeugungen unseres Grundgesetzes, bei denen ich noch nicht absehen kann – ich bin ja auch keine Hellseherin -, welchen Effekt das ausmacht. Es wird mit Sicherheit einiges verändern, weil auch sehr viele junge Menschen zu uns kommen, sehr viele Menschen, die eben auch sicherlich gerne einen Beruf lernen und all das müssen wir jetzt erst einmal organisieren.

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Zusatzfrage: Gestatten Sie in diesem Zusammenhang noch eine Zusatzfrage. Sie sagen, ein Einwanderungsgesetz sei im Moment nicht das Vordringlichste. Da stelle ich mir die Frage: Das Thema wird alles über Monate uns [sic!] beschäftigen. Ist es eigentlich möglich, in dieser Phase einen Wahlkampf mit Blick auf 2017 zu führen, der bisher schon einmal da gewesen ist, oder denken Sie an eine Art von ganz neuem Wahlkampf: alles in einer Großen Koalition, und keiner will den anderen hart angehen; weil es könnte ja von manchen Leuten falsch verstanden werden?

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Merkel: Ob Sie es mir glauben oder nicht: Ich denke im Augenblick überhaupt nicht an Wahlkampf, sondern nur an die Frage, wie wir die Probleme, die ich benannt habe, vernünftig lösen und dem, dem, was unser Bild von uns selbst ist, gerecht werden können, und zwar Bund, Länder und Kommunen zusammen. Das ist allemal wichtiger als jeder Wahlkampf und deshalb brauchen wir uns darüber jetzt keine Gedanken zu machen. Wir müssen das Richtige tun. Da wird jeder, glaube ich, einsehen: Wenn wir 800.000 Menschen haben, die vielleicht in diesem Jahr zu uns kommen und jetzt nehmen wir mal an, wir haben eine Anerkennungsquote von 50 Prozent, sind 400.000 Menschen [sic!], Wenn wir darüber gesprochen hätten, [Reparatur] sind die meisten davon jung. Es wird bei vielen Familiennachzug geben, gerade bei den syrischen Bürgerkriegsflüchtlingen. Und wenn Sie sich jetzt einmal überlegen: Wenn ich Ihnen vor einem Jahr gesagt hätte, wir sprechen jetzt in einem Jahr über eine Einwanderung von 400.000, dann hätten Sie gesagt: So viel muss es ja auch nicht gleich sein.

321 Also insofern: Lassen Sie uns doch das jetzt erst einmal gut machen. Dann wird man sicherlich 322 darüber nachdenken müssen, ob man den Menschen auf dem westlichen Balkan, die ja auch

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Beitrittsverhandlungen mit der Europäischen Union großen Teilen führen, Perspektiven gibt, wenn es gut ausgebildete Fachkräfte gibt. Aber all das macht unsere Rechtslage heute schon möglich, und so wird man sich dem Thema nähern und da gibt’s nicht mit in Deckung sein, sondern es spricht, wie gesagt, alles dafür, dass wir ein Land sind, in das man gerne einwandert, aus welchen Gründen auch immer.

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Und wir müssen dafür sorgen, dass wir jetzt erst einmal unserer humanitären Verantwortung gerecht werden und denen, die ein Recht auf humanitären Schutz haben, dieses Recht gewähren und sie dann auch gut integrieren, und denen, die das nicht haben, auch deutlich sagen, dass sie keine Bleibeperspektive in Deutschland haben. Das muss dann auch umgesetzt werden in Form von Rückführungen in die Heimatländer, in Form von Einreisesperren, die es dann auch geben muss. Auch das gehört zur Wahrheit dazu.

334 Frage: Frau Bundeskanzlerin, was erwarten Sie von der Türkei bei der Lösung der 335 Flüchtlingsprobleme? 336 337 338 339 340 341 342 343 344 345 346 347 348 349 350

Merkel: Erstens hat die Türkei in den vergangenen Jahren sehr, sehr viel getan und tut es heute noch zur Lösung der Flüchtlingsprobleme aus Syrien. Es sind fast zwei Millionen Flüchtlinge an der türkisch-syrischen Grenze und sehr, sehr viele, die sich sonst noch in der Türkei aufhalten. Und manches, was wir [Reparatur] von dem sichtbar wird, was wir heute erleben. Die vielen, die aus der Türkei nach Griechenland kommen, zeigt natürlich, dass die Türkei auch in einer gewissen Weise an der Grenze dessen angelangt ist, was sie selber bewältigen kann. Und deshalb werden wir mit der Türkei Gespräche führen, wie können wir hier auch gegebenenfalls helfen, wie können wir gemeinsam vorgehen. Denn die Situation, wie sie jetzt ist, dass der eine sozusagen die Flüchtlinge durchlässt, der Nächste in Griechenland sie durchlässt, dass dann die Westbalkanstaaten durchwandert werden, dann einer einen Zaun baut und der Zaun vielleicht auch überwunden wird, das ist ja nicht [sic!] weder die Rechtssituation noch ist es eine zufriedenstellende Situation und deshalb werden wir sehr vertrauensvoll und sehr kamerad- und freundschaftlich [sic!] auch mit der Türkei darüber sprechen, wie können wir das machen. Ich habe aber ansonsten nur meine größte Hochachtung davor auszudrücken, was die Türkei in den vergangenen Jahren geleistet hat.

351 Frage: Die Staaten des westlichen Balkans, insbesondere Mazedonien, sind mit dem Strom von 352 Flüchtlingen überfordert. Mit welcher Maßnahme kann Deutschland helfen? 353 354 355 356 357 358 359 360 361 362 363 364 365 366

Merkel: Ich glaube, es wäre eine gute Hilfe für Deutschland, wenn wir das machen, was wir europäisch – Deutschland und Frankreich – vorgeschlagen haben und was wir [sic!] im Übrigen die Innenminister auch bereits besprochen haben, aber was jetzt durchgesetzt werden muss. Und Deutschland und Frankreich haben gesagt: Spätestens bis zum Ende des Jahres, nämlich Registrierungszentren in Griechenland, wo [sic!] [Reparatur] die dann natürlich europäisch betrieben werden können – das schafft Griechenland nicht alleine -, und bei diesen Registrierungszentren dann eine, eine [sic!] sozusagen eine Abschätzung, ob jemand ein Recht auf Asyl haben könnte oder ob es eine erkennbare Nicht-Bleibeperspektive gibt . Wir werden ja auch mit den afrikanischen Ländern sprechen müssen, welche Länder sind Bürgerkriegsländer, welche Länder nicht -, und dann eine, eine [sic!] faire Verteilung innerhalb der Europäischen Union. Und dann ist Mazedonien aus dieser schwierigen Lage und auch Serbien heraus. Denn das, was sich dort jetzt abspielt, ist natürlich schon ein Stück nicht [sic!] Nichtgerechtigkeit. Wir haben ein ein [sic!] Asylsystem innerhalb der Europäischen Union. Das funktioniert nicht, und Mazedonien und Serbien sind dabei die Leidtragenden. Das ist deutlich

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zu unterscheiden von dem, was ich sage, über die Bürgerinnen und Bürger Mazedoniens und Serbiens. Sie haben verschwindend geringe Anerkennungsquoten, und aus meiner Sicht sind sie sichere Herkunftsstaaten, zumal sie ja auch alle die Mitgliedschaft in der Europäischen Union anstreben.

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Frage: Frau Bundeskanzlerin, ich habe eine Frage zu den Atomwaffen in Deutschland. Ab dem Herbst 2015 sind im US Bundeshaushalt die Modernisierungen der Atomwaffen auch in Büchel etatiert. Unterstützt die Bundesregierung die atomare [Reparatur] Nachrüstung hier in der Bundesrepublik und befindet sich damit in Widerspruch zu ihrer früheren Haltung?

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Merkel: Wir werden mit den Vereinigten Staaten darüber sprechen. Vielleicht hat das Verteidigungsministerium das [sic!] schon begonnen; das weiß ich nicht. Ich werde mich noch einmal erkundigen, und dann werden wir Ihnen zum gegebenen Zeitpunkt [Reparatur] die Information geben.

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Zusatzfrage: Darf ich noch eine Nachfrage dazu stellen? Sie haben ja offenbar auf dem NatoGipfel 2012 offenbar Ihre Haltung geändert, die ja damals in der Koalitionsvereinbarung 2009 noch deutlicher war, die Forderung nach dem Abzug dieser Waffen [sic!]. Fürchten Sie eine Veränderung des Verhältnisses zu Russland, wenn jetzt diese moderneren B61–12-Waffen in Deutschland stationiert werden?

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Merkel: Also meine Haltung im Koalitionsvertrag 2009 , neeh, ja 2009 [Reparatur], als wir die Koalition mit der FDP hatten, war immer schon so, nämlich dass wir aufpassen müssen, was an Folgewirkungen ist [sic!]. Wir müssen gucken, wenn an dann an anderer Stelle Atomwaffen stationiert werden und in Deutschland keine mehr sind, muss man sich fragen: Ist dann eigentlich der Balance und der Sicherheit mehr gedient? Das alles muss man bedenken im Zusammenhang mit diesen Fragen. Insofern gehört das in einen größeren Zusammenhang.

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Unsere Politik ist – das wissen Sie – ja nicht, Russland zu provozieren. Aber es ist natürlich auch so, wenn Sie sich Russlands Rüstungspolitik anschauen und Modernisierungspolitik [sic!], dann ist es nicht so, dass dort gar nichts passiert. Das heißt , es gibt auch keinen Grund, nichts zu tun. Jetzt rede ich aber über keine spezielle Waffengattung. Ich sage nur: Alles, was wir zum Beispiel auf dem Nato-Gipfel in Wales gemacht haben, was auch eine Ertüchtigung für die mittel- und osteuropäischen Länder anbelangt, hat seine Ursache auch darin, dass das, was wir angestrebt haben und was ich weiterhin anstrebe, nämlich ein konstruktives Verhältnis zwischen der Nato [Reparatur] und Russland, im Augenblick nicht zufriedenstellend gegeben ist. Ich habe mich trotzdem, und ich bleibe auch dabei, immer für den Erhalt der Nato-RusslandAkte ausgesprochen [Reparatur], und ich werde das auch weiterhin tun, auch im Blick auf den Warschauer Nato-Gipfel dann.

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Frage: Frau Bundeskanzlerin, noch einmal zurück zur Flüchtlingskrise: Sie hatten gesagt , dass da auch finanzielle Mehrbelastungen auf den Bund zukommen werden. Können Sie schon irgendwie beziffern, in welcher Höhe? Und wären Sie bereit, dafür angesichts dieser großen Herausforderung auch das Ziel eines ausgeglichenen [Reparatur] Haushalts aufzugeben?

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Merkel: Diese Frage des ausgeglichenen Haushalts steht, glaub’ ich, zurzeit noch nicht zur Debatte angesichts der guter [sic!] steuerlicher Entwicklung, zumindest in diesem Jahr. Diese steuerlichen Entwicklungen sind im Übrigen nicht nur für den Bund gut. Darüber wird oft geschrieben, sie sind anteilmäßig auch für Länder und Kommunen natürlich besser; das ist eine erfreuliche Mitteilung.

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Dennoch kann ich im Augenblick nur sagen, dass der Bund mehr tun wird, dass wir uns sehr genau anschauen werden, wer hat welche Aufgaben zu erledigen, und unseren fairen Anteil im Rahmen einer nationalen Kraftanstrengung dafür leisten werden. Die Details werden bis zum 24. September besprochen werden zwischen Bund und Ländern, und dann werden wir Sie auch informieren.

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Frage: Frau Bundeskanzlerin, viele von uns sind relativ frisch aus dem Urlaub wieder da – das sieht man auch noch – und haben im Kopf , dass das Image Deutschlands im Zusammenhang mit der Griechenland-Krise durchaus Schaden erlitten hat. Ich würde gerne wissen: Macht Ihnen das etwas aus, oder – wie Sie sagen würden – ficht Sie das an? Unabhängig davon : Gibt es daraus etwas zu lernen? Gibt es einen konkreten Plan dafür, wie man dieses Image wieder drehen will?

421 Merkel: Darf ich nur etwas fragen? Wo, meinen Sie, hat das Image Schaden erlitten? 422 Zusatz: In Italien. Wenn man nicht nur die veröffentlichte Meinung liest, sondern auch mit dem 423 normalen Italiener spricht, ist schon wieder die Rede davon, dass die Deutschen ihre Macht in 424 einer Art und Weise ausüben, die schon wieder das Wort Panzer zulässt. 425 426 427 428 429 430 431 432 433 434 435 436 437 438

Merkel: Wenn man sich die Diskussionslage beim Europäischen Rat angeschaut hat, dann war es ja bei Weitem nicht so, dass Deutschland dort isoliert war; das kann der Finanzminister berichten, das kann ich berichten. Und ich würde an dieser Stelle immer erklären, wenn ich damit konfrontiert werde, dass Deutschland einen sehr großen Beitrag dazu geleistet hat, dass Europa geschlossen auch auf die Griechenland-Herausforderung geantwortet hat. Es gab Länder, die hätten vielleicht zu einfacheren Bedingungen geholfen, aber es gab auch Länder, die waren sehr, sehr kritisch insgesamt, ob man weiter helfen soll. Und eine der Ergebnisse [sic!], die wir erreicht haben, ist, dass Europa, wie in schon so vielen anderen Fragen einheitlich gehandelt hat, und das hat sehr viel mit der deutsch-französischen Kooperation zu tun und deshalb bin ich , ehrlich gesagt, mit mir sehr im Reinen, und wenn ich mit mir im Reinen bin, dann kann ich es auch immer gut erklären. Und dann wird man sehen : Man muss auch damit leben, dass andere etwas einmal kritisch sehen. Wir sehen ja manchmal in anderen Ländern auch etwas kritisch und finden das ganz normal. Und insofern können wir auch das aushalten, dass uns andere einmal kritisch sehen.

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Ansonsten – das glaube ich schon, wenn wir über das [Reparatur] nächste große Problem, nämlich die Flüchtlinge, reden – gibt es ein hohes Maß an Übereinstimmung darüber, dass Italien zu entlasten ist. Man kann nicht sagen: Alle Flüchtlinge [Reparatur], die dort ankommen, müssen, nur weil sie jetzt über das Mittelmeer kommen, von Italien behalten werden. Das Dublin-Abkommen funktioniert nicht mehr so, wie es einmal war, weil sich die Situationen verändert haben und so wird es wichtig sein, dass sich jeder von uns sich für Europa und für die Gemeinsamkeit einsetzt, und dann kommen wir schon voran.

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Frage: Frau Bundeskanzlerin, ich habe noch einmal eine Frage zu den Flüchtlingen und auch zu Europa. Der slowakische Ministerpräsident hat für Sonntag ein Sondertreffen der VisegrádStaaten angekündigt. Fürchten Sie eigentlich wegen dieser doch heftigeren Debatte um die Quotenverteilung von Flüchtlingen eine Spaltung in Ost und West?

450 Gilt das, was Sie vorhin für Ostdeutschland gesagt haben, nämlich ihr mangelndes Verständnis 451 oder Nicht-Verständnis für menschenverachtende Haltungen, eigentlich auch in Bezug auf

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452 Osteuropa, wo ja auch einige Politiker entweder nur Christen, keine Schwarzen oder nur 453 Katholiken als Flüchtlinge aufnehmen wollen? 454 Merkel: Ja, ich glaube, dass ein Visegrád-Treffen stattfindet, ist ja okay. Und es finden ja auch 455 Treffen zwischen Deutschland und Frankreich statt, und zwischen Deutschland und Italien und 456 ähnliches statt. Daran [Reparatur] habe ich nichts auszusetzen. 457 458 459 460 461 462

Ich glaube, dass unsere Werteordnung in Europa aufbaut auf [sic!] auf der Würde jedes einzelnen Menschen und mich bekümmert es, wenn man dann anfängt zu sagen : „Muslime möchten wir nicht, und wir sind ein christliches Land.“ Vielleicht sagt morgen einer: „Auch das Christentum ist nicht mehr so wichtig, sondern wir sind mehr ohne jede Religion.“ Das kann nicht richtig sein. Und da habe ich genauso wenig Verständnis wie für Äußerungen, die im eigenen Lande gemacht werden, und darüber müssen wir in Europa auch sprechen.

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Im Übrigen ist es Kern europäischen Handelns [Reparatur], dass wir dort, wo wir ein Problem haben, wir versuchen, miteinander und fair dieses Problem zu lösen, niemanden überzubelasten und unterschiedlich natürlich zu bewerten, dass viele Länder aus Mittel- und Osteuropa [Reparatur] natürlich einen noch sehr viel geringeren Lebensstandard haben und dass man (nicht) einfach die Bevölkerungszahl nehmen kann; das ist doch vollkommen klar. Aber wenn jemand sagt „Ich mache bei der ganzen Sache nicht mit, das ist nicht mein Thema“, das kann es aus meiner Sich nicht geben und darf es nicht geben. Deshalb werde ich mich jedenfalls mit aller Kraft dafür einsetzen, dass Europa in dieser Frage nicht versagt, sondern dass Europa unser aller Europa ist. Da muss man sich auch auf gemeinsame Werte auch verständigen.

472 Zusatzfrage: Befürchten Sie also eine Ost-West-Spaltung oder nicht? 473 474 475 476 477 478 479 480 481

Merkel: Mit Furcht gehe ich sowieso nicht an die Sache heran. Ich sehe, dass es bestimmte Länder gibt, die eine bestimmte Meinung haben. Und jetzt ist es die Aufgabe – das kann etwas dauern; das haben wir ja in Europa öfter -, jetzt ist es die Aufgabe, daraus einen möglichst gemeinsamen Kurs hinzubekommen. Und alles andere würde uns allen nicht gut tun; denn jeder hat auch mal eine Herausforderung zu bewerkstelligen, und bis jetzt sind wir gut damit gefahren [Reparatur], dass wir die verschiedenen Herausforderungen immer gemeinsam auch gelöst haben. Diese gehört dazu und wird im Übrigen auch sehr darüber entscheiden, wie das Bild von Europa auch in der Welt ist. Das muss uns nicht leiten. Leiten müssen uns unsere Werte. Man muss nur wissen, was man auch anrichtet.

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Frage: Frau Bundeskanzlerin, ich habe eine Frage bezüglich der Ukraine, und zwar Herr Poroschenko hat neulich verkündet, dass er die Zentralisierung der Ukraine und den Status des Donbas als eine selbständige Republik oder ein selbständiges Gebiet der Ukraine [Reparatur] nicht mehr berücksichtigt. Das wird auch nicht mehr die Frage sein. Beabsichtigen Sie , auf Herrn Poroschenko einzuwirken, damit er diesen Teil der Minsker Abkommen auch berücksichtigt, oder haben Sie das schon gemacht? Danke schön.

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Merkel: Ich habe mich ja vorige Woche mit dem französischen Präsidenten und Petro Poroschenko getroffen. Sie haben sicherlich auch die Pressekonferenz verfolgt. In der hat sich der ukrainische Präsident am Tag der Unabhängigkeit der Ukraine zu den Verabredungen von Minsk bekannt. Wir haben dann im Einzelfall sehr detailliert darüber gesprochen, wie wir die Hürden, die sich jetzt in dem politischen Prozess auftun, überwinden können. Es gab dazu am Wochenende auch ein Telefonat des französischen Präsidenten mit dem russischen Präsidenten und mir. Auch darin haben wir diese Themen besprochen.

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Wir haben verabredet, dass wir demnächst auch wieder in Form des Normandie-Telefonats wieder sprechen werden, dass die Arbeit in den trilateralen Kontaktgruppen zusammen mit den Vertretern der, wie sie sich nennen, Republiken Donezk und Lugansk – ich würde sagen: mit den Separatisten – stattfinden müssen [sic!] und dass wir jetzt insbesondere das Thema der Lokalwahlen vor uns haben. Hierbei geht es darum, dass wir es schaffen, das Wahlgesetz, das ja auch vonseiten der ukrainischen Rada in Arbeit ist, so gestalten, dass es auch von den Separatisten anerkannt wird. In den Minsker Vereinbarungen [Reparatur] wird beschrieben, dass die Wahlen nach ukrainischem Recht und nach den Prinzipien von ODIR, also der OSZEOrganisation, stattfinden müssen. Bis jetzt gab es keine Übereinstimmung [Reparatur], dass die Vertreter der Separatisten akzeptiert haben, dass ein Vertreter von ODIR in die politische Arbeitsgruppe der trilateralen Kontaktgruppe kommt.

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So bemühen wir uns im Detail darum diesen Prozess voranzubringen. Und alles geschieht auf der Grundlage der Vereinbarungen von Minsk, und ich habe den ukrainischen Präsident nicht gehört, dass [sic!] gesagt hat, dass er sich diesem Prozess nicht weiter anschließen wird. Im Gegenteil: Die Gespräche waren sehr konstruktiv.

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Heute finden gerade wieder Beratungen auch in der Ukraine statt . Wir reden da noch über die Frage: Ist die Verfassungsdiskussion richtig gewichtet? Wir haben uns dafür eingesetzt, auch darüber ist berichtet worden, dass die Rada – und das hat sie dann ja auch getan – den [Reparatur] speziellen Status von Donezk und Lugansk auch in den Entwürfen [Reparatur]. Darüber gibt es jetzt einen Disput zwischen Russland und der Ukraine, ob das an der richtigen Stelle in der richtigen Form ist. Dazu hat es Rechtsberatungen gegeben hier im deutschen Außenministerium mit den entsprechenden Experten inklusive der Venedig-Kommission [Reparatur]. So sind wir, sage ich einmal, in sehr subtiler Feinarbeit [Reparatur] immer versucht, die Dinge voranzubringen. Leider geht es langsamer, als man denkt, aber wir fühlen uns diesem Prozess [Reparatur] sehr verpflichtet.

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Frage: Heute im ukrainischen Parlament wurden Verfassungsänderungen laut der Minsker Vereinbarungen verabschiedet, ob das Friedensprozess überleben kann und es gibt Berichte, dass demnächst ein Treffen stattfinden soll mit Wladimir Putin im Normandie-Format [sic!]. Ob das jetzt vorbereitet wird? Und ob dieses Treffen eigentlich an der Zeit ist?

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Merkel: Also wir haben verabredet, dass wir als [Reparatur] nächsten Schritt ein Telefonat haben. Es kann sein, dass sich dann die Außenminister noch einmal konsultieren werden. Aber es kann durchaus passieren, dass wir auch ein solches Normandie-Treffen machen. Man muss dann natürlich die Hoffnung haben, dass es auch einen Schritt vorangeht; das muss also gut vorbereitet sein. Aber im Grundsatz gibt es dazu von allen Seiten eine Offenheit.

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Ich will noch einmal das unterstreichen, was Sie gerade gesagt haben: Heute grade [sic!] gab es wieder Verfassungsdebatten im ukrainischen Parlament, wo die ja auch für die Ukraine nicht ganz einfachen Dinge eines speziellen Status’ von Donezk und Lugansk diskutiert werden. Ich meine, das ist immerhin ukrainisches Gebiet. Also ich finde, das ist auch schon etwas, bei dem die Abgeordneten sehr mit sich ringen müssen. Diesen Prozess verfolge ich auch mit großer Achtung.

535 Frage: Sie hatten angesprochen, dass unbürokratisch Dinge verändert werden müssen. Geht

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536 das über Immissionsschutz, Brandschutz hinaus? Was konkret wollen Sie und unbürokratisch 537 jetzt schnell verändern, damit Sie nachher dann nicht zum Beispiel dem Vorwurf ausgesetzt 538 sind, dass Sie Flüchtlinge in unsichere Quartiere stecken? 539 540 541 542

Ganz kurz noch die zweite Frage hinterher: Die Frau, die Sie in Heidenau so heftig beleidigt hat, was man ja auch im YouTube-Internet-Video sieht, und gegen die auch ermittelt wird, ficht Sie nicht an, wie Sie sagen. Aber sind Sie vielleicht doch auch bereit, einmal einen Dialog mit so jemandem zu führen, oder eher eine Klage zu unterstützen? Gegen die wird ja ermittelt.

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Merkel: Weder unterstütze ich die Klage – wir sind ja ein Rechtsstaat – noch habe ich jetzt das dringende Bedürfnis , in eine längere Diskussion einzutreten , weil ich glaube, dass meine Aufgaben [sic!] eher darin besteht, Menschen, die helfen wollen, und Menschen, die etwas Positives tun, zu ermutigen. Ansonsten haben wir unsere Rechtsordnung. Und wir haben auf der einen Seite Meinungsfreiheit, also ich kann als Bundeskanzlerin nicht erwarten, dass man mir immer nach dem Munde redet – davon bin ich auch weit entfernt; ich kann Widerspruch gut aushalten und freue mich, dass ich in einem Lande lebe, in dem es Meinungsvielfalt und Meinungsfreiheit gibt -, aber diese Meinungsfreiheit ist durch Rechtsetzung begrenzt. Und wenn dann ermittelt wird durch die entsprechenden Institutionen, dann entspricht das unserer Rechtsordnung und Überzeugungsarbeit leiste ich im Augenblick vor allem darin, dass wir das ganze Thema auch gut bewältigen.

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Jetzt haben Sie gefragt: Was machen wir dann mit den Standards? – Schauen Sie, wir stehen im Augenblick vor folgender Frage: Wie ist der Brandschutz in einem Zelt? Und wie ist im Winter das Leben in einem Zelt? Und wie ist die Brandschutzordnung zu bewerten, wenn eine Bundeswehrkaserne oder eine amerikanische Kaserne bis vor wenigen Monaten von Soldaten bewohnt wurde, der Brandschutz vielleicht noch eine Übergangszeit hatte und jetzt sind die Soldaten raus und jetzt gilt der totale neue Brandschutz? Und wollen wir jetzt in eine Kaserne, die vielleicht eine Heizung hat, sanitäre Einrichtungen hat und einen Brandschutz hat, der zumindest vorgestern noch okay war, dürfen wir da Asylbewerber hineinnehmen, ja oder nein, oder müssen sie stattdessen im Zelt bleiben, wobei in Bezug auf Zelte in der Brandschutzordnung in Deutschland noch nicht viel festgelegt wurde? – Und da kommen wir zu dem Ergebnis, dass es vielleicht besser ist, eine Übergangsbestimmung zu schaffen, dass der Brandschutz, die Geländerhöhe, die Wärmedämmung und vieles andere, was man inzwischen noch alles geregelt hat, jetzt einmal hinten anstehen können, wenn wir dafür zu einer vernünftigen Unterbringung kommen.

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Und so haben wir eine Vielzahl von Fragen: Darf ich in einem Gewerbegebiet bauen? Wie verhält sich das Immissionsschutzrecht dazu? Darf ein Augenarzt eine gesundheitliche Erstuntersuchung machen, wenn er trotzdem eine Approbation hat? Darf ein Hautarzt das nicht? – So zählen die Länder und Kommunen zig solcher Regelungen auf, die uns alle darin bestärken, dass wir einfach sagen müssen : In dieser Situation können wir uns daran nicht halten. Wir haben jetzt glücklicherweise von der Europäischen Union die Bestätigung bekommen, dass die normalen Ausschreibungsregelungen in dieser Situation nicht einzuhalten sind, sondern dass man bestimmte Aufträge auch schneller vergeben kann. Das sind jetzt die Dinge , über die wir reden müssen.

577 Jetzt haben wir zwei Fragen: Können wir alles einzeln regeln, oder aber machen wir, weil wir 578 nicht wissen, ob übermorgen wieder 20 Hinderungen kommen, gleich noch ein etwas 579 allgemeineres Standardabweichungsgesetz oder Beschleunigungsgesetz, wie auch immer Sie

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das nennen wollen, und darüber denkt der Innenminister zusammen mit den Ländern nach. Und das Ziel muss heißen, die bestmögliche Unterbringung und die schnellstmögliche Bearbeitung der Anträge zu ermöglichen. Da wird man an manchen Stellen über die bestehenden , sehr auf eine sozusagen statische Situation ausgerichteten Dinge hinwegsehen müssen.

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Ich glaube, wir sollten nicht als Erstes die Diskussion führen [Reparatur], wo die Gefahr liegt, sondern auch gucken: Wo ist die Chance? Man kann natürlich, ich habe darüber oft im Zuge der deutschen Einheit nachgedacht, alles so machen: Man hat eine Schule [Reparatur], die noch so aussieht, wie sie zu Zeiten des Sozialismus aussieht [sic!], und die Alternative ist nun das tollste, beste, superste Gymnasium, vom Brandschutz [Reparatur] – wenn Sie für den rbb arbeiten, dann wissen Sie das – bis hin zum Fachkabinett und zur voruniversitären Ausbildung usw. usf., und dazwischen gibt es nichts. Eine ganze Generation von Schülern muss dann sozusagen auf dem Niveau der sozialistischen Oberschule sein und Gott sei Dank haben wir das überwunden und gesagt: Dazwischen muss es auch noch etwas geben. Das braucht dann ja nicht der Endzustand zu sein, aber in so einer Herausforderung […]

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Ich habe auch über die Frage gesprochen: Wenn sie 4.000 unbegleitete Jugendliche haben, dann ist es ja schlechterdings nicht möglich […] Für diese 4.000 gibt es ja keine Erzieher, Betreuer nach herkömmlicher Arbeit des Kinder- und Jugendhilfegesetzes. Die sollen alle die allerbeste mögliche Sache haben. Aber zwischen dem [Reparatur] Aufenthalt in einer Turnhalle, wo es nun wirklich schlecht ist, wo [sic!] aber dann keiner etwas sagt, weil, wenn der klassische Kinder- und Jugendhilfeplatz ist nicht da [sic!], dann bleibt man eben in der Turnhalle zu 200 – das ist mit Sicherheit nicht besser, als wenn wir versuchen, langsam eben die Dinge vernünftig zu regeln. Und so werden wir uns einiges einfallen lassen müssen. Und ich glaube, dass auch inzwischen der Geist gut ist, in dem Bund und Länder und Kommunen hierüber beraten. Die Praktiker können Ihnen einfach unendlich viele solcher Geschichten erzählen [Reparatur].

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Was wir auch nicht machen dürfen, ist [sic!]: Dann wird vor Ort gesagt, wenn 500 Flüchtlinge kommen, „Nun handele einmal, nun handele einmal!“. Und wir setzen dann all die Beamten und Angestellten dort in den Landratsämtern und den kommunalen Verwaltungen einem Zustand aus, in dem sie geltendes Recht sehenden Auges verletzen müssen, und wir helfen ihnen nicht und sagen: Da gucken wir einmal lieber nicht hin, ehe wir etwas auf der Bundesebene ändern; das machen wir nicht. – Das können wir so nicht machen. Und da haben wir auch auf der Bundesebene die Verpflichtung, gemeinsam Dinge zu machen. Das muss sowieso immer gemeinsam von Bund und Ländern beschlossen werden. Deshalb werden da auch alle Parteien gebraucht beim Mitmachen [sic!].

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Frage: Frau Bundeskanzlerin, Sie haben gerade noch einmal die Notwendigkeit der verstärkten diplomatischen Bestrebungen zur Lösung des Syrien-Konflikts angesprochen. Welche Rolle sehen Sie dabei für den Iran? Sehen Sie auch einen neuen diplomatischen Handlungsspielraum nach der Wiener Vereinbarung zum iranischen Nuklearprogramm [Reparatur]?

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Merkel: Ich halte erstens das Wiener oder Genfer Nuklearabkommen – oder wie auch immer man es nennt – für einen Fortschritt. [äh] Es muss jetzt umgesetzt werden. Und ich bin dennoch betrübt oder finde es nicht akzeptabel, wie der Iran über Israel nach wie vor spricht. Das ist ein herber Rückschlag beziehungsweise kein Rückschlag, aber eine Enttäuschung, dass hier auch gar keine Wende zu erkennen ist, was die Akzeptanz des Staates Israel anbelangt.

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Ich glaube, dass der Iran sehr viel Einfluss auf das hat, was in Syrien stattfindet. Jeder ist eingeladen, sich konstruktiv an den Verhandlungen zu beteiligen. Vor allen Dingen sehe ich aber die Aufgabe, dass gerade in dem E3+3-Format jetzt auch an anderen Stellen weitergearbeitet werden kann, und die Kontakte zum Iran sind dabei mit Sicherheit hilfreich. Das gilt insgesamt im Kampf gegen IS, das gilt aber auch für andere Organisationen wie zum Beispiel Hisbollah und Hamas.

628 Frage: Guten Tag, Frau Bundeskanzlerin! Ich habe zwei kurze Fragen zu Ihrem Treffen mit dem 629 polnischen Präsidenten. 630 Vorsitzende Welty: Eine bitte! 631 Merkel: Manch einer macht es geschickter, indem er einfach eine Nachfrage stellt, aber na gut! 632 Vorsitzende Welty: Eine Nachfrage zur selben Frage ist ja schon erlaubt! 633 Vorsitzende Welty: Stellen Sie also eine Nachfrage! 634 Zusatzfrage: Frau Bundeskanzlerin, haben Sie mit Präsident Duda eine Einigung gefunden, 635 was das Thema „Flüchtlinge“ oder das Thema „Nato-Truppen im Baltikum oder in Polen“ 636 betrifft? 637 Zweite Frage: Präsident Duda hat gestern gesagt, dass er Bundespräsident Gauck im Gespräch 638 mit ihm gesagt hat, dass es in Polen keine Gerechtigkeit heutzutage gibt. Hat Präsident Duda 639 auch Ihnen gegenüber so eine Aussage zu Polen formuliert? Vielen Dank. 640 641 642 643

Merkel: Also ich berichte aus den internen Gesprächen sowieso nicht , und ansonsten mischen wir uns auch nicht in die Innenpolitik ein. Die öffentlichen Äußerungen von Präsident Duda kennen wir ja, und dass er sich um die soziale Gerechtigkeit bemüht, kennt man schon aus der Zeitungslektüre.

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Wir hatten ein sehr gutes Gespräch, wo wir verabredet haben, dass wir den Warschauer NatoGipfel auch gemeinsam vorbereiten. Ich habe ihm gesagt, dass meiner Sicht die Russland-NatoAkte nicht infrage gestellt werden sollte, dass wir vor allen Dingen die Beschlüsse von Wales umsetzen. Wir sind uns auch einig [Reparatur], dass diese Beschlüsse umgesetzt werden müssen .

649 Und was die Flüchtlingsfrage anbelangt, so werden wir noch weitere Gespräche mit Polen 650 führen müssen – nicht nur mit dem Präsidenten, sondern auch mit der polnischen 651 Ministerpräsidentin -, wie wir zu einer fairen Lastenverteilung kommen. 652 653 654 655 656 657 658 659 660 661

Frage: Frau Bundeskanzlerin, Sie sprachen vorhin schon von den Beispielen der Bankenrettung oder die [sic!] Naturkatastrophen, mit denen Deutschland fertig geworden sei. Wenn ich mich recht erinnere, hat sich die Bundesregierung in diesem Zusammenhang sehr oft dazu entschlossen, ein großes Programm aufzulegen, ein Signal zu senden, nicht einzelne Maßnahmen zu beschließen und über einen längeren Zeitraum anzukündigen, sondern sozusagen ein gebündeltes Paket zu präsentieren – 25 Milliarden, 50 Milliarden, was auch immer damals sozusagen nötig war. Wenn ich jetzt denke – Stichwort Flüchtlingskrise – an Wohnungsbau, Bildung, Polizei und all das denke, was einem in diesem Zusammenhang sonst noch einfallen könnte, was spricht dann dagegen, ein solches Gesamtprogramm zu verkünden? Gibt es möglicherweise falsche Signalwirkungen, die damit verbunden sein könnten?

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Und dann würde ich ganz kurz gerne noch einmal auf die Ost-West-Frage versuchen zurückkommen, als Nachfrage zu fragen [sic!], die andere Kollegen gestellt haben. Was sagen Sie denen, die im Osten leben und sagen „Im Grunde sind wir irgendwie bei ganz vielen Fragen der politischen Bildung, Demokratiebewusstseins, des Freiheitsbegriffs usw. wieder sehr weit zurückgeworfen worden und führen jetzt wieder Debatten, die wir eigentlich irgendwie seit zehn, zwanzig Jahren hinter uns glaubten.“ Was sagen Sie denen?

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Merkel: Erstens. Als in Baden-Württemberg – ich glaube, 1991 war es – plötzlich 11 Prozent Republikaner im Landtag waren, konnte man auch sagen, dass man Debatten führt, wo [sic!] man wieder zurückgeworfen wurde wieder. Debatten sind da, wenn sie da sind, und sie müssen geführt werden, wenn sie aufkommen. Und die würde ich genauso wenig wie ich sagen würde, ich muss mit irgendeiner spezifischen Ost-Geschichte irgendwelche Phänomene jetzt erklären, genauso wenig sage ich: Ich möchte eine Debatte nicht mehr führen [Reparatur]; denn die haben wir doch schon einmal vor 20 Jahren geführt. Es kann sein, dass man in jeder Generation jede Debatte wieder führen muss. Und wenn sie da ist, muss sie geführt werden.

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Wir haben eine Konstante. Das ist unser Grundgesetz. Das ist die generelle Ausrichtung. Jetzt sind die neuen Bundesländer [Reparatur] sehr unterschiedlich. Wir haben jahrelang hier in Berlin die Debatten über den 1. Mai und darüber geführt, ob man in der Vornacht Gewalt anwenden darf. Jetzt haben wir solche Phänomene in Leipzig und müssen die Debatte wieder genauso führen. Ich rate uns [Reparatur], so wenig wie möglich so Erklärungsmuster zu suchen, die immer gleich mit Verständnis verbunden sind. Dazu gehört auch, dass es nicht sein kann, dass gesagt wird, wir hätten eine Debattenkultur nach der deutschen Einheit gehabt, damit hätten wir ein Thema abgearbeitet, und nun dürften wir es nicht wieder aufrufen. Dann waren sie offensichtlich noch nicht genug debattiert. Da muss man jetzt Flagge zeigen und deutlich machen, worum es geht.

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Zweitens. Was das Gesamtpaket anbelangt: Jedes Paket muss sich natürlich an den Herausforderungen messen. Sicherlich wird das Paket, das wir jetzt aufzulegen haben, auch nicht im einstelligen Millionenbereich sein. Ich will aber dem Finanzminister hier wirklich nicht vorgreifen.

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Was wir vorhaben, ist in der Tat: All die Maßnahmen [Reparatur], die wir jetzt im Auge haben, von eben der Frage, wie geht man mit sicheren Herkunftsstaaten um, über die Frage, wie gehen wir mit Standards um, von der Frage, wie müssen vielleicht auch Kompetenzen mit Kommunen und Ländern noch einmal neu betrachtet werden. All das soll in einem Paket verabschiedet werden. Das sind zum Teil Rechtsetzungen, das sind aber auch finanzielle Dinge.

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Was die Komplikation ausmacht: Wenn ich soundso viele Kernkraftwerke habe, und ich sage: Ich steige dann aus dem aus und dann aus dem aus und dann aus dem aus, dann habe ich eine klare Perspektive und kann das ordnen. Hier habe ich eine Situation, wo ich nicht weiß, wie viele Hot Spots nun wirklich gebaut werden in Europa, wie viele Flüchtlinge nun wirklich ankommen, wie schnell [Reparatur] die Asylverfahren sind. In dem Moment, wo ein Asylverfahren beendet ist und positiv beschieden zum Beispiel bei jemandem aus Syrien oder bei einem Bürgerkriegsflüchtlingsantrag, dann ist der nicht mehr im Asylbewerberleistungsgesetz, die Leistung wird also nicht mehr von den Ländern und Kommunen übernommen, sondern in dem Moment befindet sich derjenige in Hartz IV. Das heißt, die Leistung wird vom Bund übernommen und zum Teil, was die Kosten der Unterkunft

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anbelangt, von den Kommunen. Das heißt ich hab, je nachdem, wie sich die Dinge entwickeln, ob unsere Beschleunigungsgesetze wirklich funktionieren , völlig unterschiedliche Belastungen. Ich habe natürlich als konstanten Teil, dass die Kommunen und Länder werden mehr Kindergärtner, Lehrer usw. einstellen müssen. Wir müssen mehr machen, die Bundesagentur für Arbeit hat völlig neue Aufgaben. Und das müssen wir jetzt geschickt so bündeln, dass wir sagen: Ja, jeder trägt seinen fairen Anteil, aber in einer Situation, in der wir die Gesamtbelastung für die nächsten zwei Jahre noch nicht genau abwägen können [sic!].

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Sie haben es ja erlebt: Wir haben im Juni einen großen Gipfel gemacht, wir haben das Ganze als nationale Aufgabe dargelegt, wir haben jetzt die ersten Gesetzesvorschläge des Bundesinnenministers, der gesagt hat, wir brauchten längere Aufenthaltsdauern gegebenenfalls in der Erstaufnahmeeinrichtung [Reparatur], wir brauchen andere Veränderungen noch – bei der Residenzpflicht usw. – in der Zeit der Erstaufnahmeeinrichtung. Und wir müssen sozusagen Schritt für Schritt jetzt vorgehen und einen geschickten Weg [Reparatur] finden, wie wir uns die Gesamtherausforderung vernünftig teilen. Und das wird ein Programm sein, das natürlich Milliardenbeträge umfasst.

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Frage: Ich habe eine Frage zu Griechenland. Frau Bundeskanzlerin, Ihr Finanzminister sagt, dass der Spielraum für weitere Zugeständnisse Griechenland gegenüber [äh] in der Schuldenfrage, sei es in Form von Laufzeitverlängerungen oder Zinssenkungen, sehr begrenzt sei. Teilen Sie diese Auffassung, und wenn ja, was meinen Sie, wie lange könnte man die griechischen Schulden strecken? Der IWF scheint etwas mehr zu verlangen.

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Merkel: Naja, wir haben ja eine Rechtslage. Es gibt ein Bail-out-Verbot [äh] in den europäischen Verträgen. An denen misst sich dieser Spielraum. Und wir haben jetzt ja eine Diskussion über die Frage, wie berechne ich die Schuldentragfähigkeit. Darüber ist in den letzten Tagen sehr viel geschrieben worden und auch in den vergangenen Monaten und Jahren schön [äh], [Reparatur] gerade auch von dem Chef des ESM, Herrn Regling, schon debattiert worden, weil wir eine spezifische Situation haben. Der IWF hat seine Regeln, wann er seine Schulden zurück haben möchte , die EZB hat ihre Regeln, wann sie ihre Zinszahlungen erhalten möchte. Die Gläubiger Griechenlands, soweit sie im ESM versammelt sind, haben ja Griechenland eine weite Stundungsregelung gegeben, ab wann überhaupt die Rückzahlungen beginnen, und dann auch noch zu sehr geringe [sic!] Zinsen. Bei den Zinsen haben wir zum Beispiel , ich glaube, keinen Spielraum, weil diese schon sehr gering sind. Alles, was sozusagen nicht einmal die Finanzierung des ESM widerspiegelt, wäre ja dann in dem Sinne ein Bail-out.

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Und wir haben aber natürlich bei der sogenannten „grace period“ – ab wann muss und wie hoch die Rückzahlung einsetzen – einen gewissen Spielraum, und es ist richtig, dass wir wegen der Sonderheit des griechischen Staates [Reparatur] in seinem Verhältnis zum ESM wir nicht einfach nach den 120 Prozent Schulden fragen, sondern dass wir fragen: Wie ist denn die tatsächliche Belastung, die Griechenland aus seinem Schuldendienst erwächst? 15 Prozent könnten ein Maßstab sein [Reparatur]. Und bis 2022 – weiß ich jetzt nicht – oder 2023, wo zurückzuzahlen ist, liegt die Belastung ja auch deutlich unter 15 Prozent, während wir europäische Mitgliedstaatenhaben, die sagen: Unsere Verschuldung, obwohl sie geringer ist, bedeutet eine höhere innere Belastung als das [sic!], was Griechenland heute hat.

746 Und wenn dann die Rückzahlungspflichten beginnen, muss man gucken, dass man es immer

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747 bei den 15 Prozent hält. Sodass ich relativ optimistisch bin, dass man [äh] eine solche Regelung 748 hinbekommt, die sowohl die Anforderungen des IWF widerspiegelt, als auch die Lösbarkeit des 749 Problems. 750 Frage: Frau Bundeskanzlerin, Sie haben am Anfang gesagt, Dublin funktioniert nicht mehr so, 751 wie es sollte. Steht für Sie Schengen / Dublin irgendwie zur Disposition? 752 Merkel: Schengen und Dublin, das ist ja nun ein weites Feld. 753 Zusatzfrage: Könnte es modifiziert eingeschränkt werden? 754 755 756 757

Nachfrage: Sie fahren übermorgen in die Schweiz. Die Schweiz hat einen Ausländeranteil von 23 Prozent und möchte die Personenfreizügigkeit ritzen, sage ich einmal, und angesichts der jetzigen Situation in Europa Kontingente einführen. Ändert das Ihre Meinung zum Wunsch der Schweiz?

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Merkel: Nein, ich respektiere natürlich den Ausgang des Referendums, was in der Schweiz durchgeführt wurde, und unterstütze auch, dass wir uns bemühen, Lösungen zu finden, eine möglichst enge Anbindung der Schweiz an die Europäische Union zu erhalten. Aber das Prinzip der Freizügigkeit ist ein Grundprinzip der Europäischen Union und jetzt müssen wir gucken, welche Möglichkeiten da gefunden werden.

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Ich freue mich auf den Besuch in der Schweiz. Wir sind Nachbarn, haben vielerlei Verpflichtungen und gute Beziehungen [Reparatur]. Ich werde mich auch erkundigen. Die Bearbeitung bestimmter Asylanträge ist in der Schweiz deutlich kürzer, als wir das bis jetzt in Deutschland geschafft haben. Sicherlich werden wir uns darüber auch austauschen.

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Ich habe gesagt, dass Dublin III [Reparatur], das heißt, dass das [Reparatur] Land, bei [sic!] dem der Flüchtling zuerst ankommt, nicht nur zu registrieren hat, sondern eben auch dann den Aufenthalt gewährleisten muss. Das erkennt man ja an allen Ecken und Enden. [Reparatur] Aber da besteht kein automatischer Zusammenhang mit Schengen. Ich sage nur: Wenn es nicht gelingt, eine faire Verteilung der Flüchtlinge innerhalb Europas zu schaffen, dann wird sicherlich von einigen die Frage von Schengen auch auf die Tagesordnung kommen. Wir wollen das nicht, sondern wir wollen eine faire Verteilung der Flüchtlinge. Und dann wird man auch nicht über Schengen reden müssen.

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Frage: Frau Bundeskanzlerin, [äh] die Frage passt hier ganz gut: In Budapest sind hunderte Flüchtlinge in einen Zug mit dem Ziel Deutschland gesetzt worden, und möglicherweise haben Ihre Worte [äh] „Dublin funktioniert nicht mehr“ dazu beigetragen, dass die Behörden vor Ort sagen: Die Erstaufnahme soll einmal bitte schön in Deutschland passieren, die halten sich sowieso nicht mehr an Dublin. Wie stehen Sie zu dieser Rechtsauffassung und zu dieser Haltung der ungarischen Behörden?

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Damit verbunden die Frage: Gestern Abend fand ein Treffen der Unionsparteien im Kanzleramt auch zum Thema Flüchtlinge statt. Mussten Sie da innerhalb Ihrer eigenen Partei und vor allem auch gegenüber der Schwesterpartei erst einmal [Reparatur] den Kurs klarziehen, bevor Sie nächste Woche im [äh] Koalitionsausschuss das Thema für die gesamte Bundesregierung [äh] festzurren? Sind die Unterschiede vor allem zwischen CDU und CSU da noch besonders groß?

786 Merkel: Nee, die sind überhaupt nicht groß – um nicht zu sagen : Es gibt keine. Wir sind uns 787 völlig einig, dass wir zwei Säulen haben, um denen helfen zu können, die Hilfe brauchen. Nach

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dem, was ich heute auch ausgeführt habe, muss man es auch schaffen [Reparatur], diejenigen, die kein [sic!] Bleibeperspektive haben, dass man sie schnell in ihre Heimatländer zurückführt. Ansonsten haben wir über alle Facetten gesprochen; Sie sehen ja, welche Latte das umfasst. Und das ist, glaube ich, normal, dass man sich da einmal vorbereitet und abstimmt; das tut die A-Seite ja auch. Ansonsten haben wir innerhalb der Bundesregierung einen Staatssekretärsausschuss, der die Dinge vorbereitet für die Ländergespräche, und wir haben den Koordinierungsstab mit den Ländern, sodass wir eigentlich über alle Facetten der Kooperation verfügen.

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Was jetzt anbelangt die Frage Dublin III: Die geltende Rechtslage ist Dublin III, insofern schätze ich es sehr, dass Ungarn die Flüchtlinge registriert und, dass das nicht alle Länder machen, muss man sagen; Ungarn macht dies sehr vollständig. Und [äh] ich glaube, es ist eine gewisse Verwirrung daraus entstanden, dass [äh] es in Deutschland ja eine innere Diskussion war, in der einige Länder gesagt haben: Bei den syrischen Flüchtlingen muss man doch sehr schnell zu einer Meinungsbildung kommen, denn es sind doch [äh] wirklich in überwiegendem Weise [sic!] Bürgerkriegsflüchtlinge. Und da hat der Chef des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge gesagt: Jawohl, bei den Syrern versuchen wir die Identitätsherstellung [Reparatur][sic!], und dann gibt es auch eine sehr schnelle Prozedur die Anerkennung als Bürgerkriegsflüchtling [Reparatur] zu machen.

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Das wiederum hat dazu geführt, dass der Eindruck entstand : Wenn ein Syrer nach Deutschland kommt und er kann sich als Syrer ausweisen, dann ist er in Deutschland willkommen. Das entspricht auch der faktischen Lage, genauso wie man sagen kann, dass wenn jemand aus dem Kosovo kommt, er mit großer Wahrscheinlichkeit kein Bleiberecht hat. Und dieses hat nun zu dem Missverständnis geführt [äh], nur nach Deutschland könnten alle Syrer kommen. Und das entspricht aber nicht der Rechtslage [Reparatur], und das haben wir der ungarischen Regierung bereits schon gesagt – die ja nun mit dem faktischen Phänomen zu kämpfen hat, dass viele aus Syrien sagen: Lasst uns nun endlich nach Deutschland.

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Und [äh] ich glaube, wir werden das durch gute diplomatische Gespräche auch alles klarziehen. Aber es ist nicht so, dass wir jetzt von Dublin III abweichen können; denn wir haben keine andere Rechtsgrundlage. Ich sag’ nur: Weil der eine einen Zaun baut, der andere die Leute durchlässt und der Dritte andere Schwierigkeiten hat, nicht mehr voll registriert, muss ich doch sagen: Wenn ein solcher Zustand Realität ist, dann muss ich auch versuchen, einen zu finden, bei dem wieder Recht und praktisches Handeln übereinstimmen. Aber die Rechtsgrundlage, nach der wir uns verhalten und nach der sich Ungarn bezüglich der Registrierung verhält, ist die, die heute gilt.

822 Zusatzfrage: Das heißt, wenn ein Zug aus Ungarn hier ankommt, dann sagen Sie auch: Die 823 sollen bitte hier bleiben? 824 825 826 827 828

Merkel: Schauen Sie, jeder hat einen individuellen Anspruch auf Überprüfung [Reparatur]. Und dann wird geguckt, woher kommt die Person – hat sie Dokumente usw. usf. Und bei Menschen, die aus Bürgerkriegsregionen kommen, ist die Anerkennungsquote sehr hoch. Das entspricht aber nicht der Tatsache, dass ich sagen würde, in anderen Ländern wäre die gering. Auch Ungarn kann ja überprüfen und alle Transitländer dazwischen.1 Auch sie haben alle

1 Beleg für den gesprächslinguistischen Sammelteil

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Verfassungen, die nicht so unterschiedlich von der unsrigen sind. Und insofern ist es kein deutsches Phänomen, dass jemand [Reparatur], der aus einem Bürgerkriegsgebiet nach der Genfer Flüchtlingskonvention kommt, einen Anspruch auf Schutz hat. Das ist eine europäische Gemeinsamkeit, daran sollten wir uns vielleicht alle noch einmal erinnern.

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Frage: Frau Bundeskanzlerin, meine Kollegin und ich – wir sind aus Lateinamerika – interessieren uns zurzeit sehr für die Gefühle von den Deutschen. Es ist sehr viel passiert, was das Deutsche Bild ein bisschen geprägt hat im Ausland, und das ist nicht so lange her. Ich würde gerne wissen: Wie fühlten Sie sich nach der Begegnung mit dem Mädchen aus Palästina und diese [sic!] weltweiten Skandal, den diese Begegnung ausgelöst hatte? Wie haben Sie diesen Skandal und die Diskussion über das Thema „Wie unmenschlich ist Frau Merkel?“ verkraftet?

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Merkel: Also, ich habe ja, glaube ich, mit diesem Mädchen, das sehr beeindruckend integriert ist und Deutsch gelernt hat und gerne bei uns zur Schule geht, ja eine Diskussion geführt, die eine sehr allgemeine Diskussion über die Frage war: Wem können wir helfen, wem können wir nicht helfen? Und wir wissen ja, dass Menschen aus wirklichen Kriegsgebieten kommen, und darüber haben wir gesprochen. Das hat das Mädchen natürlich sehr berührt; mich hat das auch sehr berührt. Aber ich glaube und auch, wenn man das Mädchen hinterher gehört hat, wie es über dieses Gespräch gesprochen hat, dann [äh] war das etwas, was doch auch doch exemplarisch für sehr viele Schicksale steht. Und, [äh] dass Deutschland so hilft – dass später ja herauskam, dass das Mädchen vom Deutschen Roten Kreuz auch nach Deutschland gebracht wurde, weil es sehr dringenden medizinischen Bedarf hatte; das konnte ich ja vorher nicht wissen [äh] -, hat ja noch einmal gezeigt, dass wir wirklich auch ein humanes Land sind.

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Und trotzdem [äh]: Sagen wir mal, wenn wir jetzt unterscheiden müssen, wem können wir helfen, dann sind es die Menschen, die jetzt aus Aleppo fliehen, die aus richtiger Bedrohung fliehen; [äh] denen können wir helfen. Wenn jemand seit 20 Jahren in einem palästinensischen Flüchtlingslager [Reparatur] in Jordanien gewesen ist, dann ist das kein einfaches Schicksal, aber es ist nicht per se ein Schicksal, was zum Anspruch auf Asyl in Deutschland berechtigt.

855 Zusatzfrage: Verzeihung, Frau Bundeskanzlerin, aber wie fühlen Sie sich angesichts dieses 856 Skandals? Das ist für Sie natürlich auch eine Aufgabe, aber es war ja sehr heftig. 857 858 859 860 861 862 863 864 865

Merkel: Ja, es gehört ja auch zu meiner Arbeit, dass es Dinge gibt, die sind sehr heftig [sic!]. Wenn ich mit Angehörigen von [äh] Soldaten spreche, die [äh] in Afghanistan gefallen sind, wenn ich mit jungen Menschen spreche, die ein schweres Schicksal hatten, wenn ich in Marxloh bin und mit [äh] Menschen spreche, die sagen „Wir haben uns so viel aufgebaut als türkischstämmige Menschen , und jetzt kommen Schlepperbanden mit Rumänen und Bulgaren und machen uns alles kaputt“, dann sind das immer wieder sehr emotional bewegende Dinge und ich glaube, meine Aufgabe ist doch, auf der einen Seite jedes einzelne Schicksal ernst zu nehmen – als Bundeskanzlerin – und trotzdem auch auf Regeln und Gesamtzusammenhänge zu achten.

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Was gar nicht passieren [äh] darf – gerade das ist der Unterschied zwischen Demokratie und und [sic!] anderen [äh] Systemen, dass die Begegnung eines Menschen mit der Bundeskanzlerin sein Schicksal bestimmt. Wir sind ein Rechtsstaat. Ich habe das gerade auch erlebt [Reparatur] in [äh] der Erstaufnahmeeinrichtung in Heidenau: Viele denken, wenn sie jetzt die Bundeskanzlerin sehen, hat das vielleicht eine Auswirkung auf ihren Asylantrag. Das hat es in Deutschland nicht, und das ist gut so. Ein, zwei, drei Personen kennen [Reparatur] und dann

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872 läuft die Sache schon: Das ist gerade nicht das, wofür viele Menschen nach Deutschland 873 kommen, sondern wir versuchen, ein Rechtsstaat zu sein. 874 875 876 877 878 879 880 881

Frage: Frau Merkel, als Sie vor einem Jahr und als Sie vor zwei Jahren hier saßen, war eines der Hauptthemen immer die NSA-Affäre und die Dinge, die sich darum herum sich gerankt haben. In der Zwischenzeit sind einige internationale Entwicklungen dazugekommen. Viele davon – wie die Entwicklung in der Ukraine – waren offensichtlich nicht vorauszusehen. Da würde ich von Ihnen heute gerne – auch ein bisschen rückschauend – erfahren: Wie zufrieden sind Sie eigentlich mit der Arbeit Ihres Geheimdienstes, also des BND, auch angesichts der Erkenntnisse, die sich über die internen Abläufe und vielleicht auch Fehler beim BND in den vergangenen Monaten gezeigt haben?

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Merkel: Erst einmal will ich sagen, dass die Arbeit von BND, von Bundesverfassungsschutzes [sic!], von Bundeskriminalamts gerade in den Zeiten terroristischer Bedrohungen von mir ausgesprochen gewürdigt wird. Ich finde, wir erleben [äh] im Augenblick – ob es die Bundespolizei ist, ob es das BAMF ist, ob es Beamte und Angestellte in den Landratsämtern, in den Kommunen, in Ländern oder im Bund sind – sehr, sehr viel Einsatzbereitschaft. Und dass bei uns [äh] glücklicherweise bis heute noch kein terroristischer Anschlag passiert ist, ist auf die Kooperation unserer Dienste zurückzuführen und auf die sehr gute Arbeit der Dienste.

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Wo es Fehler gibt und wo es Unzulänglichkeiten gibt, müssen die benannt werden, und das wird ja auch [äh] getan. Sie wissen , dass wir jetzt den Beauftragten haben, der jetzt auch nochmal Bericht erstatten wird, der vom Parlament ist [sic!] und trotzdem brauchen wir die Kooperation mit den amerikanischen Diensten. Gleichzeitig glaube ich, dass die Einordnung „Was muss man wissen über andere Länder?“ und [äh] „Wie ist das Verhältnis von Sicherheit und Freiheit?“ bei uns anders gesehen wird. Eine Vielzahl der Informationen, die offensichtlich gesammelt werden , brauche ich zumindest für meine Regierungsarbeit nicht. Und habe nicht den Eindruck, dass ich dadurch im internationalen Wettbewerb unglaublich benachteiligt bin. Das ist nach wie vor meine Einschätzung.

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Zusatzfrage: Vor zwei Jahren hatten Sie zum Beispiel angekündigt, es brauche so etwas wie Airbus auch für europäische Datensicherheit und es brauche so etwas wie ein No-SpyAbkommen. Das hat sich im Laufe der Zeit alles zumindest ein wenig verflüchtigt. Oder setzen Sie dort nach wie vor auf den langen Atem, dass dort irgendwann so etwas möglich sein wird?

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Merkel: Na ja, als ich jetzt zum Beispiel in Brasilien war [Reparatur], haben wir eine gemeinsame Initiative gemacht, was den Schutz privater Informationen [sic!], womit wir dieses Abkommen der Uno erweitern wollen. Da arbeiten wir jetzt weiter zusammen. Es gab ja die Verhandlungen über die Frage eines Abkommens mit den Vereinigten Staaten von Amerika. Da haben wir zu einem bestimmten Zeitpunkt ja gesagt, dass das offensichtlich nicht zu dem von uns gewünschten Erfolg führt, weil wir ja auch gewisse Anforderungen an so etwas stellen. und daraus haben wir dann zum Beispiel auch Schlussfolgerungen gezogen. Der Bundesinnenminister hat dann ja gesagt – es gibt jetzt unter dem Stichwort 360-GradÜberwachung läuft -, dass wir auch gucken: Wo werden [sic!] bei uns spioniert im umfassenden Sinne?

912 Einiges hat sich also als sehr kompliziert herausgestellt, aber alle diese Punkte, die ich vor zwei 913 Jahren genannt habe, finde ich nach wie vor vernünftig. Aber nicht alle konnte ich realisieren, 914 weil sie nicht nur von mir abhängen.

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Frage: Frau Merkel, zum gleichen Thema, also zum NSA-Skandal: Herr Seibert hat hier ja einige heftige Stunden erleben müssen, weil wir nachgefragt haben [Reparatur], wann genau er eigentlich welche Information zur Frage eines No-Spy-Abkommens gehabt hat. Es hieß von Ihrer Seite und auch vonseiten Herrn Seiberts sehr lange Zeit, es werde ein No-Spy-Abkommen geben. Heute wissen wir ja, dass die Grundlage für diese Information offenbar eine falsche war. Sehen Sie das heute noch genauso oder sagen Sie heute: Nach bestem Wissen und Gewissen haben wir Sie dummerweise falsch informiert?

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Merkel: Nein, also ich sage das weiter genauso: Nach bestem Wissen und Gewissen haben wir Sie informiert. Alle Details dazu werden dann ja in den entsprechenden Gremien, sprich im Untersuchungsausschuss diskutiert und sind auch zum Teil schon diskutiert worden. Dem habe ich jetzt nichts hinzuzufügen.

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Frage: Frau Merkel, ich habe eine Frage zu Ihrer Kanzlerschaft: Kanzler vor Ihnen, die länger im Amt waren als Sie, haben in ihren letzten Kanzlerjahren keinen politischen Antrieb mehr gehabt und nur noch dahinregiert. Sie führen jetzt die wahrscheinlich erfolgreichste Bundesregierung aller Zeiten, Sie sind auf dem Höhepunkt Ihres Schaffens. Meine Frage ist: Was möchten Sie noch Großes erreichen, warum sind Sie noch Kanzlerin?

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Merkel: Ja, ich habe ja dem deutschen Volk versprochen, als ich angetreten bin [äh] zur letzten Bundestagswahl, dass ich für diese Legislaturperiode mein Amt ausüben möchte. Und seitdem diese Legislaturperiode begonnen hat, die wir ja damals auch in sehr umfangreichen Koalitionsverhandlungen ja sozusagen mit Projekten versehen haben, hat sich herausgestellt, dass eigentlich eine Vielzahl von neuen Projekten auf uns zugekommen sind, die im Übrigen die Große Koalition ganz hervorragend jedes Mal bewältigt hat – ob das die IS-Angriffe sind, ob das die Herausforderungen mit der NSA sind, ob das jetzt die Frage des Minsker Abkommens und der Ukraine-Konflikt, ob [äh] das die Frage der griechischen [äh] Herausforderung ist oder jetzt die Frage, der ja auch zum Zeitpunkt der Koalitionsverhandlungen nicht absehbaren großen Zahl von Menschen, die zu uns kommen. So fühle ich mich jeden Tag einfach gefordert , mir auch über ganz neue Situationen Gedanken zu machen. Das bereitet mir nach wie vor Freude. Und ich hoffe, dass ich das in dem Geist, wie ich es einmal zu Beginn gesagt habe, auch weiter tun kann, nämlich in dem Geist, dass ich Deutschland auch dienen möchte und eine von vielen bin, die ihre Verantwortung wahrnehmen, aber eben als Bundeskanzlerin versuche, meine Pflicht zu tun.

946 Zusatzfrage: Frau Merkel, wie finden Sie das neue Jugendwort des Jahres, das für „nichts tun, 947 nichts sagen und keine Entscheidung treffen“ steht? Ist man auf diese Popularität bei der Jugend 948 ein bisschen stolz? 949 Merkel: Schauen Sie, mit diesen verschiedensten Worten des Jahres [äh] beschäftige ich mich 950 weniger. Meistens gehören sie auch nicht zu meinem Sprachgebrauch oder nur selten. Und 951 insofern nehme ich das [Reparatur] emotionslos zur Kenntnis. 952 953 954 955

Frage: Frau Bundeskanzlerin, die Türkei steht jetzt vor Neuwahlen; am 1. November 2015. Regierungskritische Medien und sogar die Unternehmen haben momentan sehr große Schwierigkeiten momentan und mit der PKK hat man den Friedensprozess aufgebrochen. Wie sehen Sie die Entwicklung der Türkei?

956 Als zweite Frage, wenn Sie erlauben: Innenminister de Maizière hat vorgeschlagen, dass man

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957 in der Türkei vielleicht eine Aufnahmeeinrichtung für Flüchtlinge aufbauen sollte. Wie sehen 958 Sie diesen Vorschlag? 959 960 961 962 963 964 965 966 967 968 969 970 971 972

Merkel: Wir werden mit der Türkei, wie ich es erst schon gesagt habe, über verschiedene Facetten auch der Frage beraten müssen: Wie können wir die Türkei einerseits entlasten von der ja wirklich sehr großen [äh] Belastung auch von Flüchtlingen, aus nicht nur Syrien, sondern auch aus Afghanistan und aus Pakistan, die jetzt im Augenblick kommen. Und darüber wollen wir, wie ich es schon gesagt habe, freundschaftlich und kameradschaftlich mit der Türkei sprechen. Zweitens. Wir freuen uns, dass die Türkei jetzt auch aktiver noch in den Kampf gegen IS eingestiegen ist und auch den Vereinigten Staaten von Amerika Luftstützpunkte zur Verfügung stellt. Drittens. In einem Telefonat mit dem Premierminister Davutoğlu hatte ich jetzt auch vor wenigen Wochen noch einmal betont, dass es von deutscher Seite aus sehr wünschenswert ist, alles zu versuchen, den Prozess mit der PKK durchaus nicht für alle Zeit ad acta zu legen, sondern zu versuchen, wieder zu friedlichen Lösungen zu kommen. Wir haben diesen Versöhnungsprozess, der ja schon sehr weit gediehen war, immer sehr [äh] positiv begleitet. Und ich hoffe, dass man auch einen Weg dahin zurück finden kann eines Tages. Insofern werden wir in diesem Geiste mit der Türkei auch weiter sprechen.

973 974 975 976 977

Frage: Frau Merkel, über die Ursachen der Flüchtlingskatastrophe haben wir nicht gesprochen. War es zum Beispiel ein Fehler im Nachhinein, dass Deutschland sich enthalten hat bei der Libyen-Abstimmung seinerzeit? Welche Fehler sehen Sie, die Deutschland – oder auch der Westen, um es weiter zu fassen – gemacht hat, so dass es überhaupt zu dieser Flüchtlingskatastrophe kommen konnte, was Libyen [Reparatur] angeht?

978 Merkel: Dass wir nicht darüber gesprochen haben, hängt bis jetzt daran, dass noch keiner 979 gefragt hat. Deshalb freue ich mich, dass Sie diese Frage stellen. 980 Zusatz: Deswegen frage ich. 981 982 983 984 985 986 987 988 989 990 991 992 993 994 995 996 997 998

Merkel: Deshalb freue ich mich, dass Sie diese Frage stellen. Zweitens glaube ich nicht, dass die Frage, ob man sich damals enthalten hat oder nicht enthalten hat über das Schicksal Libyens eine große Auswirkung hat. Die Situation in Libyen ist schwierig. Der Einsatz von Ländern dort , der Gaddafi verjagt hat, letztlich nicht zu einer Stabilisierung geführt. Deshalb unterstützen wir alle jetzt auch mit Nachdruck ja auch alle die Bemühungen des UN-Vermittlers León. Wir mussten feststellen oder müssen ja feststellen, dass es das Allheilmittel, das Rezept nicht gibt, wie man gerade auch in Ländern, die andere Prägungen haben, Konflikte löst. Wir sehen die Situation im Irak. Wir sehen aber auch, dass in Afghanistan noch nicht die Stabilität haben, die wir uns wünschen . Wir sehen, dass Somalia, wo ja auch mal vor vielen Jahren einen militärischer [sic!] Einsatz war, zu keiner Stabilisierung geführt hat. Wir sehen eine schwierige Situation im Sudan, wo wir versucht haben, mit diplomatischen Mitteln und der Teilung des Landes in zwei Staaten eine Beruhigung herbeizuführen. Also es zeigt sich, dass es von außen in vielen Fällen nicht sehr einfach ist [äh], Konflikte zu lösen. Umso mehr glaube ich, dass wir trotzdem unsere Anstrengungen bezüglich Syrien [sic!] verstärken müssen. Und hier hoffe ich, dass eine Vielzahl von diplomatischen Bemühungen, die es im Augenblick gibt mit Staaten der Region, aber vor allen Dingen mit den Vereinigten Staaten von Amerika und Russland, auch dazu führt, dass wir hier vielleicht doch einmal Fortschritte erzielen. Aber es ist von außen nicht so einfach. Das ist für mich eine der Lehren der Geschichte, also der letzten 20 Jahre.

13.8 Die Bundespressekonferenz vom 31.8.2015 mit Bundeskanzlerin Angela Merkel 

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999 Das Zweite ist , dass Europa – anders, als wir uns das vor 25 Jahren vorgestellt haben, im Grunde 1000 umgeben ist von Konflikten und dass die Rolle der Außenpolitik, die Rolle, mit der wir uns 1001 einmischen, aber auch die Rolle von Entwicklungspolitik, von finanzieller Unterstützung 1002 sicherlich noch weiter wachsen wird. Das ist ja eine Diskussion, die wir seit geraumer Zeit 1003 führen. Und, dass wir uns unter gar keinen Umständen denken können, dass wir uns aus 1004 irgendetwas heraushalten können. Und dieses Nicht-Heraushalten-Können bedeutet dann 1005 letztlich auch, dass man sich Verbündete suchen muss, und dazu gehört für mich die Nato. Dazu 1006 gehören für mich die Vereinigten Staaten von Amerika. Dazu gehört an vielen Stellen aber auch 1007 die Einsicht, dass auch ohne Russland etwas nicht zu lösen ist. Ich will an dieser Stelle noch 1008 einmal darauf hinweisen: Die Beseitigung der Chemiewaffen in Syrien, das war ja eine sehr 1009 kritische Situation, ist damals durch einen Vorstoß des russischen Präsidenten in Kooperation 1010 mit den Vereinigten Staaten von Amerika im Grunde durchgeführt worden. Das ist ein gutes 1011 Beispiel dafür, dass wir uns [sic!] bestimmte militärische Auseinandersetzungen nicht haben 1012 mussten. 1013 Aber wir werden noch viel Kraft und viel ja auch [sic!] Ideen hineinstecken müssen, und wir 1014 werden auch viel mehr Gemeinsamkeit in der Europäischen Union entwickeln müssen, alle 1015 unsere Ideen zusammenpacken müssen, um zu versuchen, solche Konflikte zu lösen. Sie finden 1016 vor unserer Haustür statt, und wenn wir sie so nicht lösen, dann [Reparatur] müssen wir sie 1017 lösen, indem wir Flüchtlinge aufnehmen und diese Wahrheit [Reparatur] manifestiert sich 1018 immer mehr. Und wenn man sich vielleicht vor ein paar Jahren über die Flüchtlingsbewegung 1019 von Mexiko in die Vereinigten Staaten von Amerika gesprochen hat, dann haben wir jetzt 1020 Flüchtlingsbewegungen mit Syrien, aber auch mit unserem Nachbarkontinent Afrika. Auch das 1021 EU-Afrika-Verhältnis ist sicherlich noch nicht in dem Zustand, wie es sein müsste. Da müssten 1022 wir vielleicht noch kameradschaftlicher – ähnlich wie innerhalb der EU – unsere [äh] 1023 Meinungen austauschen. Das könnte manchmal auch etwas kontrovers werden. 1024 Zusatzfrage: Hat sich Deutschland in Ihrer Kanzlerschaft – unabhängig davon, dass Sie 1025 Kanzlerin sind, aber in diesen zehn Jahren – zur Weltmacht gewandelt? 1026 Merkel: Also, ich führe diese Kategorisierung nicht. Ich habe weder das Wort der Mittelmacht 1027 jemals gebraucht noch der Weltmacht. Wir haben eine große Verantwortung [äh]: wir sind die 1028 größte Volkswirtschaft innerhalb der Europäischen Union, und was [äh] 25 Jahre nach der 1029 deutschen Einheit sicherlich richtig ist: Die Tatsache, dass wir mit der deutschen Einheit die 1030 volle Souveränität erlangt haben, hat ihre Folgerungen im Guten, aber auch in der Frage der 1031 Verantwortungsübernahme, aber nicht mehr und nicht weniger, und ohne Verbündete werden 1032 wir gar nichts ausrichten. 1033 Frage: Heute Morgen hat der französische Wirtschaftsminister von einer Neugründung 1034 Europas gesprochen und hat einen Euro-Kommissar mit weitreichenden Befugnissen ins Spiel 1035 gebracht. Was halten Sie von beiden Ideen? Würden Sie auch so weit gehen? 1036 Merkel: Ich habe ja schon vor Jahr und Tag darüber gesprochen, dass die Eurozone eine 1037 vertiefte [Reparatur] [äh] Ausprägung braucht. Wir haben dann immer über Formalien 1038 gesprochen . Wir haben nie gefragt „Was brauchen wir eigentlich?“, sondern haben immer 1039 „Braucht es eine Vertragsänderung oder braucht es keine Vertragsänderung?“, und wenn etwas 1040 eine Vertragsänderung brauchte, war die Sache dann schon fast vom Tisch. [äh] Wir sollten in 1041 der Tat fragen, und da hat Herr Macron [äh] durchaus Recht -: Was brauchen wir? Da wird es 1042 sicherlich noch mehr Vorstellungen geben als die, die er heute geäußert hat.

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1043 Ich habe sehr früh von einem kleinen gemeinsamen Euro-Budget gesprochen, um Länder 1044 [Reparatur] auch bei der Verbesserung ihrer Wettbewerbsfähigkeit zu helfen. [äh] Wir müssen 1045 dann aber auch fragen: Wozu dient etwas? Es geht nicht einfach nur um „la pour la“, also um 1046 einen Finanzausgleich – wir haben innerhalb der Europäischen Union ja einen gewissen 1047 Finanzausgleich durch Nettozahler- und -Empfängerländer -, sondern es geht dann um die 1048 zweckbestimmte Frage: Was brauchen wir, um die wirtschaftliche Konvergenz im Sinne der 1049 Wettbewerbsfähigkeit zu verbessern? Und darüber müssen wir reden und ich freue mich dass, 1050 nachdem François Hollande und ich bereits im Mai ein gemeinsames Papier verabschiedet 1051 haben, in Frankreich jetzt diese Diskussion auch vertieft geführt wird. Und wir werden 1052 versuchen, das mit Frankreich sehr gemeinsam zu tun. 1053 Frage: Frau Bundeskanzlerin, Sie sprechen ja auch viel von gerechter Verteilung von 1054 Flüchtlingen. Gibt es denn irgendwelche Anzeichen, dass die hartleibigen Partner – wie David 1055 Cameron oder auch die Osteuropäer – bereit sind, auf Sie zuzugehen, also auch mehr Flüchtlinge 1056 aufzunehmen? Die österreichische Innenministerin brachte heute zum Beispiel ins Spiel, dass 1057 man denjenigen Ländern, die keine Flüchtlinge aufnehmen wollen, Hilfen kürzen könnte. Was 1058 halten Sie von solchen Vorstellungen? 1059 Merkel: Naja, wir haben im Europäischen Rat bis jetzt einmal über die Dinge gesprochen – 1060 beziehungsweise haben de facto zweimal darüber gesprochen -, werden aber natürlich noch 1061 öfter darüber reden müssen. Ich möchte [Reparatur] jetzt sozusagen nicht alle Folterinstrumente 1062 nach außen zeigen. Wir wollen kameradschaftlich zu einer Lösung kommen. Wir müssen nur 1063 wissen, es gibt Länder, die nehmen nicht an der gesamten gemeinsamen Asylpolitik teil: Das 1064 ist Großbritannien, das ist Irland, das ist Dänemark. Das ist gar kein Vorwurf an diese Länder. 1065 Jemand aus Irland hat mich kritisiert, aber ich habe gar nichts gegen Irland gesagt. Ich habe 1066 lediglich nüchtern festgestellt, dass sie nicht Teil der gemeinsamen europäischen Asylpolitik 1067 sind. Und [äh] mit diesen Ländern können wir auch nicht einfach sagen: So, ihr müsst jetzt 1068 einmal bitte eine Quote akzeptieren. Sie haben immer gesagt: Sie nehmen nicht teil an dieser 1069 europäischen Asylpolitik. Die ist also sozusagen ein Teil dessen, was man „verstärkte 1070 Zusammenarbeit“ im weiteren Sinne nennt. Und jetzt lassen Sie uns jetzt [sic!] einmal reden, 1071 und weniger übereinander, sondern vor allen Dingen erst einmal miteinander. 1072 Frage: Eine Nachfrage zu der Frage vom Kollegen von der „FAZ“ zur Eurozone: (ohne 1073 Mikrofon, zum Teil akustisch unverständlich) … Für wie dringend halten Sie es denn, dass man 1074 da zu einem Ergebnis und auch zur Umsetzung kommt? Ist das etwas, was man dieses Jahr oder 1075 nächstes Jahr weiter diskutiert? Sehen Sie es auch wie Herr Macron, dass dieses kleine Euro1076 Budget zwischen ein und drei Prozent des BIP umfassen sollte? 1077 Merkel: Da habe ich noch keine klaren Vorstellungen, [äh] ich glaube auch, ich werde 1078 [Reparatur] auch keine Zeitvorgaben mehr machen. Ich habe mich einmal, vor bestimmt zwei 1079 Jahren, irgendwie versteift, bis zu welchem europäischen Rat ich mein kleines Euro-Budget 1080 durchgesetzt haben möchte und die verpflichtenden oder bindenden Regelungen, wir [sic!] die 1081 wir da eingehen und [äh] bin mit dieser Zeitvorgabe gescheitert. Insofern [äh] freue ich mich, 1082 wenn weitergehende Regelungen möglichst bald kommen, wenn sie vernünftig und 1083 ausgewogen sind und wenn sie dem Ziel [Reparatur] dienen, was ich immer sage, dass die 1084 Eurozone aus der Krise stärker hervorkommen soll als sie hineingegangen ist. Da sind einige 1085 Dinge geschafft, aber wir haben längst noch nicht die intensive Zusammenarbeit, wie wir sie 1086 brauchen [Reparatur].

13.9 Die Bundespressekonferenz vom 20.7.2018 mit Bundeskanzlerin Angela Merkel 

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1087 Ich denke, wir sollten auch nicht vergessen . Ich sage einmal: Ich denke eher [Reparatur], dass 1088 wir einen kontinuierlichen Entwicklungspfad haben werden. Wir müssen jetzt noch die 1089 Bankenunion verbessern, die Kapitalmarktunion [Reparatur] halte ich für sehr wichtig, dann 1090 müssen wir uns noch um die wirtschaftliche Governance mit bestimmten Wettbewerbszielen 1091 machen [sic!], und dann können wir auch über die Frage nachdenken: Was brauchen wir dazu 1092 an materiellen Mitteln, damit alle Länder das auch erreichen können? Und darüber finden jetzt 1093 [äh] Gespräche zwischen den Finanzministern statt, sicherlich auch zwischen den 1094 Wirtschaftsministern und vor allen Dingen auch zwischen François Hollande und mir. Wir 1095 haben gerade auch wieder verabredet, da weiter zu denken. Dann werden wir schauen, wie viel 1096 Unterstützung bei anderen wir dafür finden. 1097 Vorsitzende Welty: Frau Bundeskanzlerin, Herr Seibert, danke für den Besuch in der 1098 Bundespressekonferenz! Wir haben nicht alle Fragen beantworten können, aber doch eine 1099 Menge. 1100 Merkel: Dankeschön!

13.9 Die Bundespressekonferenz vom 20.7.2018 mit Bundeskanzlerin Angela Merkel Protokoll nach https://www.bundesregierung.de/Content/DE/Mitschrift/Pressekonferenzen/2018/ 07/2018-07-20-bpk-sommerpk-merkel.html Videoüberprüft nach https://www.youtube.com/watch?v=br99oMijJFw 1 2 3 4

Vorsitzender der Bundespressekonferenz Dr. Mayntz: Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen! Herzlich willkommen in der Bundespressekonferenz zu einer weiteren Pressekonferenz mit der Bundeskanzlerin. Es ist die 23. in ihrer Amtszeit. Wir freuen uns, dass Sie wieder hier sind. Sie haben das Wort!

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Merkel: Gut, dass einer mitzählt. Das hätte ich jetzt nicht gewusst. Guten Tag, meine Damen und Herren! In der Tat ist diese sommerliche Begegnung schon eine Tradition. Ich möchte mich bei der Bundespressekonferenz für die Einladung bedanken. Letztes Jahr standen wir kurz vor der Bundestagswahl. Heute treffen wir uns vier Monate nach Amtsantritt der neuen Bundesregierung. Daraus können Sie ermessen, dass die Regierungsbildung relativ lange gedauert hat. Ich möchte mich zu diesem Zeitpunkt deshalb gern Ihren Fragen stellen. Vorher einige einführende Bemerkungen: Es liegen ereignisreiche Monate, auch arbeitsreiche Monate, hinter uns. Wir haben sie als neue Bundesregierung genutzt, um Entscheidungen zu treffen, die ganz konkrete Verbesserungen der Lebenssituation der Menschen in unserem Lande mit sich bringen. Wir haben ja im Koalitionsvertrag versprochen, dass wir uns die Themen vornehmen und anpacken, die die Menschen auch im Alltag bewegen, die den sozialen Zusammenhalt stärken und die auch helfen, entstandene Spaltungen zu überwinden. Wir wollen vor allen Dingen dafür Sorge tragen, dass der Wohlstand nicht nur bei einigen, sondern bei möglichst

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allen ankommt, und gleichzeitig die Weichen für die Zukunft richtig stellen. Wir werden uns dann daran messen lassen, wie weit wir vorangekommen sind und wo wir spürbare Veränderungen vorgenommen haben. Ich glaube, dass die Kabinettsitzung dieser Woche, über die Ihnen ja schon berichtet wurde, beispielhaft für das steht, was wir uns vorgenommen haben. Da geht es erstens um Teilhabe für alle. An diesem Mittwoch haben wir ein Programm beschlossen, um gerade Langzeitarbeitslosen zu helfen, wieder in Arbeit zu kommen – einerseits durch finanzielle Unterstützungen, sogenannte Zuschüsse, für die Arbeitgeber, aber auf der anderen Seite auch durch sehr individuelle Betreuung für jeden einzelnen Betroffenen. Zweitens geht es um die Weichenstellung für die Zukunft. Dafür ist jetzt am Mittwoch die Strategie für die künstliche Intelligenz beispielhaft gewesen, also eine nationale Strategie, die sich dann natürlich auch in europäische Vorhaben einfügen muss. Wir sind der Meinung, dass wir hier Aufholbedarf haben. Deshalb sind die Eckpunkte beschlossen worden. Die Strategie wird dann bis zu einem speziellen Digitalkabinett im November fertig sein. Wir haben gleichermaßen beschlossen – das halte ich für sehr, sehr wichtig -, Planungsvorhaben zu beschleunigen. Wir haben inzwischen Geld für Investitionen, aber nicht immer die Möglichkeit, dass dieses Geld auch abfließt, weil Planungsvorgänge zu langsam sind. Deshalb haben wir jetzt sehr schnell nach Beginn der Arbeit der Regierung dieses für mich zentrale Vorhaben aus dem Koalitionsvertrag auf den Weg gebracht. Drittens: Natürlich war eine der klaren Botschaften der Bürgerinnen und Bürger, dass wir noch mehr Ordnung und Steuerung der Migration brauchen. Die Tatsache, dass wir neue sichere Herkunftsländer definiert haben – die nordafrikanischen Länder, aber auch Georgien -, zeigt: Auf der einen Seite wollen wir denen, die Schutz brauchen, auch Schutz geben. Aber auf der anderen Seite wollen wir auch denen gegenüber, die keinen Anspruch auf Hilfe haben, dieses sehr schnell klären und nicht Hoffnungen wecken, die dann nicht eingelöst werden können. Es hat sich also an diesem Kabinett ein wenig beispielhaft gezeigt, was uns wichtig ist. Wir haben in diesen vier Monaten zwei Haushalte beschlossen – den für 2018, den für 2019. Ich will vielleicht symbolisch sagen: Die Tatsache, dass wir einen ausgeglichenen Haushalt haben, scheint jetzt schon der Normalität anzugehören. Das ist aber nach wie vor eine große Kraftanstrengung. Wir haben damit auch erreicht, dass der Teil des Haushalts, der für Schuldendienst aufzuwenden ist, deutlich gesunken ist. 1999 mussten wir noch 16,7 Prozent ausgeben, um den Schuldendienst für schon gemachte Schulden zu bedienen. Heute – unter natürlich anderen Bedingungen, auch mit anderen Zinsen – sind das nur noch 5,5 Prozent. Wir werden im nächsten Jahr oder vielleicht schon in diesem Jahr die 60 Prozent der Gesamtverschuldung erreichen. Das ist wichtig, weil das ja auch ein Zukunftskriterium für den Maastricht-Pakt ist. Denn gerade ein Land mit so großen demographischen Herausforderungen wie Deutschland darf nicht zu viel Gesamtverschuldung haben. Deshalb sind das gute Botschaften. Wir werden in dieser Legislaturperiode über 40 Milliarden Euro mehr als in der letzten Legislaturperiode zur Verfügung haben, um Maßnahmen für die Bürgerinnen und Bürger durchzusetzen. Wir haben einen Schwerpunkt bei den Familien gesetzt. Wir haben jetzt schon ein höheres Kindergeld und einen höheren steuerlichen Freibetrag für Kinder vereinbart. Wir haben die Brückenteilzeit, also die Rückkehr aus Teilzeit in Vollzeit, auf den Weg gebracht. Wir haben das Baukindergeld beschlossen. Wir arbeiten intensiv an einem Gesetz für verbesserte qualitative Bedingungen im Kita-Bereich. Wir konnten zum achten Mal in Folge verkünden, dass sich die Renten erhöhen. Wir sind natürlich gleichermaßen dafür verantwortlich, die Altersversorgung auch zukunftssicher zu gestalten. Deshalb haben wir die dazu gehörige Kommission eingesetzt wie übrigens eine Vielzahl anderer Kommissionen auch, die bis 2020 ihren Bericht vorlegen soll, wie sich denn das Rentensystem nach 2024 weiter entwickeln wird. Für uns sind die Fragen, die Menschen

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im Alter bewegen, von besonderer Bedeutung. Ich habe ja in den letzten Tagen selber ein Pflegeheim besucht. Wir können sagen, dass wir mit der „konzertierten Aktion Pflege“ von drei Ministerien – dem Gesundheitsminister, der ja für Pflege verantwortlich ist, dem Arbeitsminister und der Familienministerin – einen Schwerpunkt gesetzt haben, um sowohl die Arbeitsbedingungen in der Pflege zu verbessern als auch die Personalausstattung zu verbessern. Das Pflegestärkungsgesetz sagt uns, dass 13 000 neue Stellen jetzt sehr schnell geschaffen werden, und wir werden die Ausbildung auf völlig neue Grundlagen stellen. Das ist ganz wichtig, um die Attraktivität des Pflegeberufs deutlicher zu machen. Das alles ist jetzt natürlich kein Anspruch auf Vollständigkeit für die Maßnahmen, die wir im sozialen Bereich ergreifen. Aber es gibt Ihnen einen Einblick, was auf den Weg gebracht wurde, was geplant ist. Wir haben einen zweiten Schwerpunkt im gesamten Bereich der digitalen Agenda gesetzt. Hierzu haben wir auch die Strukturen in der Bundesregierung verändert. Sie wissen, wir haben im Kanzleramt eine koordinierende Funktion, auch mit der Staatsministerin für Digitalisierung. Wir haben jetzt ein Digitalkabinett geschaffen, das auch schon getagt hat. Wir werden eine Klausurtagung vornehmen und als Bundesregierung auch Beratung durch einen Digitalrat bekommen. Erneuerung und Zusammenhalt sind also die großen Themen neben den außenpolitischen Herausforderungen. Sie wissen, dass wir uns ganz intensiv mit Europa beschäftigt haben, auch gerade mit der deutsch-französischen Zusammenarbeit. Ich glaube, diese Aufgabe, Europa zusammenzuhalten, Europa auch an den Punkten arbeiten zu lassen, die für die globale Ordnung von Bedeutung sind, das wird in den nächsten Jahren von ganz besonderer Wichtigkeit sein. Aber das möchte ich jetzt hier nicht im Detail ausführen, sondern damit schließen. Ich freue mich jetzt auf Ihre Fragen und werde versuchen, sie gut zu beantworten. Die Arme gehen ja auch schon hoch.

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Frage: Frau Bundeskanzlerin, Sie haben jetzt innenpolitische Projekte erwähnt, aber ich möchte gleich auf ein anderes Thema zu sprechen kommen, nämlich den US-Präsidenten, weil er ja die Weltordnung doch etwas verändert. Es hat jetzt mehrere Beispiele gegeben, dass er sich nicht an Zusagen hält, die er gemacht hat, in schriftlicher oder mündlicher Form. Zu nennen sind das Abrücken von der G7-Erklärung und jetzt nach der Pressekonferenz mit Trump die Korrektur dessen, was er dort gesagt hat. Deswegen hätte ich ganz gern von Ihnen gewusst: Haben Sie überhaupt noch eine gemeinsame Basis für Absprachen mit dem US-Präsidenten? Wieso können Sie sich darauf verlassen, dass das steht, was er gesagt hat? Eine kleine Zusatzfrage zu Thyssenkrupp: Sind Sie eigentlich der Meinung, dass die Zerschlagung des Konzerns den Prinzipien einer sozialen Marktwirtschaft entspricht?

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Merkel: Ich glaube, man kann schon sagen, dass der bewährte oder uns gewohnte Ordnungsrahmen im Augenblick stark unter Druck steht. Dennoch ist die transatlantische Zusammenarbeit auch mit dem Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika natürlich zentral für uns. Ich werde sie auch weiter pflegen. Es ist so, dass das, was mir wichtig ist, was mir in meiner ganzen politischen Arbeit immer wichtig gewesen ist – Multilateralismus, die feste Überzeugung, dass wir, wenn wir zusammenarbeiten, Win-win-Situationen, also Vorteile für alle, schaffen können -, im Augenblick nicht immer das herrschende Prinzip ist. Trotzdem wird mich das jetzt nicht davon abbringen, weiter dafür zu werben. Ich glaube, nur so können wir vorankommen. Wenn wir uns einmal die Europäische Union anschauen, dann ist ja Europa im Grunde das Paradebeispiel dafür, dass wir zu 28 oder in Zukunft vielleicht zu 27 miteinander zusammenarbeiten. Wir glauben, dass wir davon alle profitieren. Deshalb werde ich das auch im internationalen Rahmen weiter eingeben. Aber es ist nicht so selbstverständlich, wie wir das in den vergangenen Jahren gewohnt sind. Deshalb muss man im Zweifelsfalle auch stärker über

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den richtigen Weg streiten. Was Thyssenkrupp anbelangt, so sind das jetzt natürlich Entscheidungen, die ein Unternehmen zu treffen hat. Ich persönlich schließe mich der Meinung des nordrhein-westfälischen Ministerpräsidenten an, der ja auch dafür wirbt, dass Thyssenkrupp ein möglichst breit aufgestelltes Gremium ist. Aber zum Schluss ist es eine wirtschaftliche Entscheidung.

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Frage: Frau Bundeskanzlerin, mich würde interessieren, welche Erwartungen Sie an das Fachkräfteeinwanderungsgesetz haben, das ja jetzt recht kurzfristig nach der Koalitionseinigung kommen soll. Soll das nur den Status quo festschreiben, wie es im Koalitionsvertrag klang, also die bestehenden Regelungen zusammenfassen und schlüssig verbinden oder so ähnlich? Oder soll es etwas qualitativ Neues bringen, zum Beispiel ein Punkte-System? Welches Signal soll Ihrer Ansicht nach davon ausgehen?

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Merkel: Über die Methodik haben wir noch nicht gesprochen. Aber dieses Fachkräftezuwanderungsgesetz soll nicht nur die Dinge zusammenfassen, sondern, ich glaube auch, da Möglichkeiten der Gewinnung von Fachkräften eröffnen, wo wir heute noch keine guten Möglichkeiten haben. Ich glaube, das ist schon ein zentrales Projekt. Deshalb finde ich es auch gut, dass wir gesagt haben, wir wollen da bis Jahresende die Dinge auf den Weg bringen. Warum ist es wichtig? Erstens: Weil Deutschland trotz der Freizügigkeit innerhalb der Europäischen Union, wodurch wir ja jedes Jahr Hunderttausende Arbeitskräfte aus anderen Ländern bekommen, Fachkräftemangel hat. Trotz der europäischen Regelung der Blue Card, die wir ja schon haben – aber mit Einkommensgrenzen, oberhalb derer dann Fachkräftezuwanderung möglich ist -, haben wir, zum Teil gerade in einfachen Berufen, einen großen Mangel an Fachkräften. Deshalb messe ich diesem Gesetz eine große Bedeutung zu. Zweitens ist es für mich auch ein Ergänzungsstück des Kampfes gegen illegale Migration. Wir haben mit den Ländern des westlichen Balkans ja sehr gute Regelungen gefunden, nachdem wir sie a) zu sicheren Herkunftsländern erklärt haben, also die Prozesse der Beantragung von Asyl sehr viel schneller abgearbeitet werden konnten. Aber wir haben eben nicht nur Ausreisen notwendig gemacht oder zum Teil auch freiwillige Ausreisen ermöglicht, sondern wir haben auch gesagt: Wer in Deutschland einen Arbeitsplatz nachweisen kann, hat die Möglichkeit, legal nach Deutschland zu kommen. Ich glaube, dieses Ergänzungsstück kann prototypisch auch für Vereinbarungen mit anderen Ländern sein. Also, beim Fachkräftezuwanderungsgesetz oder -einwanderungsgesetz geht es um eigene deutsche Interessen. Aber sie können so ausgestaltet werden, dass sie wiederum zu Partnerschaft oder Abkommen mit anderen Ländern führen können und sind deshalb für die Frage der Ordnung und Steuerung der Migration durchaus von Bedeutung.

145 Frage: Letzte Woche ging ja nach fünf Jahren der NSU-Prozess zu Ende. Die Angehörigen der 146 Opfer gingen sehr enttäuscht aus dem Gerichtssaal. Können Sie ihre Gefühle nachempfinden? 147 148 149 150 151 152 153 154 155

Merkel: Ich kann insgesamt die Gefühlslage der Familien nachempfinden. Denn ein Gerichtsprozess, der ein großer intensiver Gerichtsprozess war, der auch mit harten und nach meiner Meinung gerechtfertigten Strafen geendet hat, kann natürlich das Leid und auch die Frage nach dem gesamten gesellschaftlichen Umfeld einer solchen Erfahrung nicht allein wiedergutmachen. Deshalb gab es Untersuchungsausschüsse. Deshalb gab es eine Vielzahl von Maßnahmen, die aus den Untersuchungsausschüssen – auf der Bundesebene zumindest schon – nicht nur formuliert wurden, sondern zum allergrößten Teil auch umgesetzt wurden. Deshalb wird teilweise immer noch in den Bundesländern gearbeitet, und deshalb haben die Angehörigen der Opfer auch ein Recht darauf, dass die gesellschaftliche Diskussion, wie so

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etwas passieren konnte, weiter geführt wird. Nur daraus kann dann insgesamt vielleicht eine gewisse Befriedung entstehen. Aber das ist ein so schwerwiegendes und auch eingreifendes Erlebnis für diejenigen, die das erleben mussten, dass die Gesellschaft sich insgesamt damit noch lange wird beschäftigen müssen.

160 Zusatzfrage: Sie haben ja eine lückenlose Aufklärung versprochen. Sie blieb aber aus. Ist die 161 NSU-Akte für Sie somit geschlossen? 162 163 164 165 166 167

Merkel: Ich habe ja deutlich gemacht, dass sie für mich nicht geschlossen ist, weil meine Aufgabe gerade noch einmal in einer anderen Dimension liegt. Sie liegt ja nicht darin, Gerichtsverfahren durchzuführen, sondern sie liegt darin, das gesamte Umfeld aufzuklären, dafür Sorge zu tragen, dass die Sicherheitsbehörden besser kooperieren, besser zusammenarbeiten, damit wir wirklich sicher sein können, dass so etwas nicht wieder geschieht. Daran wird noch weiter zu arbeiten sein.

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Frage: Frau Bundeskanzlerin Merkel, ich habe auch eine Frage zur NSU. Es gab falsche Aussagen, Leugnung von Wissen, Urkundenfälschungen, massive Fehlleistungen. Ich würde gern wissen: Nicht in einem einzigen Fall ist bei der Polizei, bei der Justiz und bei der Verfassungsschutzbehörde ein Dienstverfahren wegen Strafvereitelung im Amt eröffnet worden. Ist das für Sie nachvollziehbar?

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Merkel: Ich kann jetzt wieder nur aus meiner Perspektive sagen: Wir haben in vielen Fällen die Arbeitsweise der Behörden grundlegend geändert. Verantwortlich bin ich ja auch für die Sicherheitsbehörden des Bundes. Aber wir haben auch mit den Ländern sehr intensiv zusammengearbeitet. Deshalb glaube ich, dass wir aus diesen schrecklichen Erfahrungen vieles gelernt haben und wir vieles inzwischen auch besser machen. Das ist kein abgeschlossener Prozess, sondern das wird immer noch weiter gehen.

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Frage: Frau Bundeskanzlerin, ich habe eine Frage: In der Union gibt es jetzt neben einigen Erzkonservativen auch eine liberale Basisbewegung, die Union der Mitte. Warum erscheint das unter einer Kanzlerin und Bundesvorsitzenden Merkel nötig? Wie erklären Sie sich das, diese Erosion? So würde ich es sagen.

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Merkel: Nein, das würde ich nicht sagen. Das sind Initiativen. Sie hat es auch immer einmal wieder gegeben, wenn sich verschiedene Flügel oder Strömungen innerhalb einer Volkspartei artikulieren wollten. Dass es davon jetzt nicht nur eine gibt, sondern auch eine zweite, das empfinde ich eher als ein Zeichen von Aktivitäten, also dass sich Mitglieder einfach artikulieren wollen und gleich gesonnene Mitglieder suchen. Gerade in Zeiten der sozialen Medien sind solche Initiativen natürlich ganz anders und viel einfacher handhabbar. Insofern ist das für mich eher ein Ausdruck von Lebendigkeit.

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Frage: Frau Merkel, da Sie vom Zusammenhalt der Gesellschaft als zentrales Ziel der Regierung gesprochen haben, welchen Anteil hat die Union mit ihrem Flüchtlingsstreit an der Spaltung der Gesellschaft? Wenn Sie sich die Sprache im politischen Diskurs auch in den Unionsparteien ansehen – auch die Verächtlichmachung oder massive Infragestellung von Justiz, auch von Presse, auch Ihrer eigenen Regierungspolitik -, wie sehr hat der Rechtspopulismus Ihrer Meinung nach eigentlich schon das Ruder übernommen?

196 Merkel: Wir stehen immer vor der Frage, wenn es Meinungsverschiedenheiten gab oder auch 197 geben wird – das ist ja nicht das letzte Mal, dass es Meinungsverschiedenheiten gibt -: Soll so

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13 Anhang: Bundespressekonferenzen im Korpus

ein Streit ausgetragen werden? Soll darüber eine Auseinandersetzung geführt werden? Dazu sage ich ein klares Ja. Ist das nachvollziehbar, was wir dort diskutiert haben? – Da würde ich sagen: Die Tonalität war oft sehr schroff. Ich messe der Sprache auch eine sehr, sehr große Bedeutung zu. Ich persönlich werde mich immer wieder sehr gegen bestimmte Erosionen von Sprache wenden, weil ich glaube, dass es auch Ausdruck von Denken ist. Deshalb muss man sehr vorsichtig sein. Ich glaube, das haben ja auch einige jetzt schon versucht zu beherzigen. Das ist ein Ausdruck politischer Kultur. Er kann Spaltung auch befördern. Aber jede Art von Auseinandersetzung, von Streit, nun zu vermeiden, damit die Gesellschaft nicht gespalten erscheint – ich glaube, Versöhnung in einer Gesellschaft kann nur durch das Austragen von Meinungsverschiedenheiten geschehen. Die Form, in der das passieren muss, ist sicherlich noch verbesserungsfähig.

209 Zusatzfrage: Stimmt es Sie nachdenklich, dass 60 Prozent der Bevölkerung eine längere 210 Kompromisssuche nicht für eine gute Idee halten und sie mehr auf eine starke Führung durch 211 starke Männer oder vielleicht auch Frauen setzen? 212 213 214 215 216 217 218 219 220 221

Merkel: Ich denke, dass wir dafür werben müssen – ich werde es jedenfalls weiter tun -, dass Kompromisse notwendig sind und das Finden von Kompromissen zum Teil eine gewisse Zeit dauert. Das darf nicht endlos sein. Es muss zu Ergebnissen kommen. Die Ergebnisse müssen auch klar sein. Aber aus meiner Sicht ist das in einer komplizierten Welt absolut notwendig. Eigentlich kann das jeder schon bei sich zuhause erkennen, wenn man zum Beispiel Meinungsbildung in Familien verfolgt. Je größer sie sind, umso komplizierter werden sie auch. Da ist Politik im Grunde für eine ganze Gesellschaft von der Methodik her nichts anderes. Wenn jeder zu Wort kommen soll, wenn jeder seine Meinung ausdrücken können soll, dann muss auch eine bestimmte Zeit für diese Meinungsfindung gegeben werden. Ich werde immer dafür werben, dass ein Kompromiss eine vernünftige Sache ist.

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Ich habe sehr oft gesagt: Kompromisse sind Ergebnisse, bei denen die Vorteile unter dem Strich die Nachteile überwiegen. Aber politische Entscheidungen sind selten Hundert-zu-NullEntscheidungen, sondern es sind sehr oft Entscheidungen, die dann als Ergebnis eines längeren Diskurses getroffen werden, und dieser Diskurs gehört dazu. Ich werde in meiner politischen Arbeit dafür werben, dass nicht alles in der ersten Sekunde entschieden sein kann. Dann näherten wir uns sehr autokratischen Methoden.

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Frage: Frau Merkel, ich will auch noch einmal etwas zur NSU fragen. Da hatten Sie ja nicht nur angekündigt, dass alle Morde aufgeklärt werden, sondern auch, dass alle zuständigen Behörden in Bund und Ländern mit Hochdruck daran arbeiten werden. Mich würde noch einmal persönlich Ihr Urteil dazu interessieren. Wie zufrieden sind Sie jetzt mit Ihrem Versprechen im Nachhinein?

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Merkel: Ich sage einmal: Wir haben das, was wir normalerweise tun, sehr intensiv getan. Wir haben einen Untersuchungsausschuss gehabt. Wir haben danach als Regierung, ich glaube, 47 Maßnahmen vorgelegt bekommen, die wir umzusetzen haben. Das haben wir getan. Wo immer sich noch einmal eine Lücke ergibt, wo immer neue Erkenntnisse sein werden, werden wir wieder handeln. Deshalb betrachte ich das auch nicht als ein abgeschlossenes Kapitel. Es bleibt die Frage im Raum – und die kann man im Grunde nur dadurch beantworten, dass so etwas nicht wieder passiert -: Wie konnte ein so komplexes schreckliches Vorgehen möglich sein, ohne dass die zuständigen Behörden es zwischenzeitlich gemerkt und längst aufgeklärt haben? Deshalb ist das ein sehr dunkler Fleck in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Das

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242 ist überhaupt keine Frage. Deshalb darf man das Kapitel auch nicht einfach schließen. Aber wir 243 haben vieles getan. Wo immer ich darauf aufmerksam gemacht werde, Weiteres zu tun, werden 244 wir das auch tun. 245 246 247 248 249

Zusatzfrage: Ein Punkt wäre zum Beispiel in Hessen. Sie haben ja von allen zuständigen Behörden in Bund und Ländern gesprochen. In Hessen werden NSU-Akten jetzt 120 Jahre geheim gehalten, wahrscheinlich um zu vertuschen, welche Verbindung der Verfassungsschutz dort mit dem NSU hatte. Was halten Sie davon angesichts Ihres Versprechens? Ist für Sie persönlich Quellenschutz wichtiger als Aufklärung?

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Merkel: Quellenschutz ist ein Teil des Rechtstaates. Das wissen Sie, glaube ich, aus eigener Erfahrung auch gut. Aber das muss natürlich immer im Bereich der Verhältnismäßigkeit sein. Ich habe eben darauf hingewiesen. Mein Zuständigkeitsbereich – aus den will ich mich nicht zurückziehen, ich kann natürlich immer wieder mit Betroffenen in den Bundesländern sprechen – ist erst einmal die Bundesebene, für die ich auch verantwortlich bin. Ansonsten muss man mit den Ländern darüber sprechen. In den einzelnen Ländern sind ja noch nicht überall die Untersuchungen abgeschlossen. Insofern sage ich noch einmal: Das Kapitel kann noch nicht geschlossen werden.

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Frage: Ich springe einmal zur Nahost-Politik. Inwieweit wird sich das sogenannte Nationalitätengesetz in Israel auf sie auswirken? Ist das für Sie persönlich noch Diskriminierung, oder trägt es schon Apartheidszüge? Denn es stimmt ja überhaupt nicht mit den seinerzeitigen Auflagen der Uno für die Staatsgründung Israels überein.

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Merkel: Ich möchte mich in die inneren Angelegenheiten Israels nicht einmischen. Ich verfolge die Diskussion natürlich sehr aufmerksam. Ich bin der festen Überzeugung, dass es das Recht der Existenz für einen jüdischen demokratischen Staat gibt, im Übrigen zusammen mit einem lebensfähigen palästinensischen Staat, woran wir immer noch arbeiten und wobei wir leider wenige Fortschritte sehen. Es hat eine sehr intensive Diskussion gegeben. Ich denke, dass in dieser Diskussion sehr, sehr wichtig ist, dass der Minderheitenschutz als Teil der Demokratie auch eine wirklich wichtige Bedeutung hat. Das ist ja auch seit dem Gründungsaufruf für den Staat Israel so. Deshalb kann ich schon verstehen, dass es jetzt eine sehr kontroverse Diskussion gibt. Aber es ist, wie gesagt, eine Diskussion in Israel, in die ich mich jetzt nicht direkt einmischen möchte.

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Frage: Frau Bundeskanzlerin, in zwei Wochen jährt sich das Nationale Forum Diesel. Die Expertengruppe, die eingesetzt worden ist und sich mit der Frage der Hardwarenachrüstung beschäftigen sollte und wollte, wird vermutlich nicht zu einem Abschlussbericht kommen. Wird die Bundesregierung trotzdem in absehbarer Zeit eine Entscheidung fällen, wie es mit Hardwarenachrüstungen aussieht?

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Merkel: Ja, die Bundesregierung muss eine Entscheidung fällen. Ich habe jetzt das Zieldatum Ende September gesetzt. Wir haben die Gutachten. Wir haben die technischen Arbeitsgruppen. Wir haben noch keine Abschlussberichte dieser Arbeitsgruppen. Aber das kann nicht bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag vertagt werden. Deshalb brauchen wir hierzu eine gemeinsame Haltung der Bundesregierung. Sie ist zurzeit noch nicht gegeben. Es gibt sehr unterschiedliche Einschätzungen, auch zwischen den Autoherstellern, dem Kfz-Gewerbe. Wir müssen schauen, wie wir unter der Maßgabe der Verhältnismäßigkeit, der Notwendigkeit, Fahrverbote möglichst zu vermeiden, eine vernünftige Lösung finden. Ende September.

394  13 Anhang: Bundespressekonferenzen im Korpus

285 Frage: Frau Bundeskanzlerin, welche Schlüsse ziehen Sie aus den Erkenntnissen über die 286 russische Manipulation der öffentlichen Meinung in den USA für sich und für Deutschland? 287 288 289 290 291 292

Merkel: Für Russland ist die sogenannte hybride Kriegsführung, unter der man vielleicht auch Desinformation verstehen kann, erkennbar oder auch niedergeschrieben sozusagen ein festgelegtes Mittel, um zu agieren. Wir setzen alles daran, hier die richtige Faktenlage immer wieder darzustellen und zu argumentieren. Das haben wir in den vielleicht am sichtbarsten gewordenen Fällen wie im Fall Lisa oder dann auch zu unseren Soldaten in Litauen sehr schnell getan und haben damit, denke ich, auch gute Erfolge erzielt.

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Frage: Frau Bundeskanzlerin, ich möchte noch einmal auf den wochenlangen Streit um die Flüchtlingspolitik zurückkommen, der uns ja so lange gequält hat und der, wie ich fand, auch die Regierung fast an den Abgrund geführt hat. Frau Bundeskanzlerin, können Sie vor diesem Hintergrund eigentlich noch vertrauensvoll mit dem Bundesinnenminister zusammenarbeiten? Er hat immerhin Ihre Richtlinienkompetenz infrage gestellt.

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Merkel: Sie haben das Schlüsselwort vielleicht schon genannt. Ich denke, dass es ganz wichtig ist – dafür bin ich ja verantwortlich -, dass eine Regierung handlungsfähig ist. Wir haben am Ende dieser Auseinandersetzung einen gemeinsamen Weg gefunden, der genau den Richtlinien entspricht, die für mich wichtig sind, dass man nämlich nicht einseitig, nicht unilateral, nicht unabgestimmt handelt und auch nicht zu Lasten Dritter. Das hat mich geleitet. Das halte ich auch für eine so fundamentale Frage, dass man das sozusagen zum Bereich der Richtlinienkompetenz mit hinzuzählen kann. Für mich ist der Maßstab – das haben die Väter und Mütter des Grundgesetzes eigentlich gut geregelt -, dass Minister nur derjenige sein kann, der diese Richtlinienkompetenz akzeptiert. Dazu gibt es eine Geschäftsordnung der Bundesregierung. Das Ergebnis unseres Disputes oder unserer Auseinandersetzung war, dass wir einen Weg gefunden haben, um das entsprechend diesen Richtlinien durchzusetzen. Darauf setze ich. Dann kann Zusammenarbeit funktionieren. Wenn das nicht der Fall wäre, könnte Zusammenarbeit in einer Regierung nicht funktionieren.

311 Zusatzfrage: Können Sie nachvollziehen, dass viele sagen: „Diese vier Wochen Streit haben 312 sehr viel Vertrauen gekostet und vor allem viel Politikverdruss befördert“? 313 314 315 316 317 318 319 320 321 322 323

Merkel: Ich glaube, dass das so ist und dass wir deshalb aufgefordert sind, durch weitere Arbeit zu zeigen, dass wir schwierige Probleme auch in einer anderen Tonalität lösen können. Trotzdem war der Gegenstand des Streites oder der unterschiedlichen Meinungen einer, um den es sich zu streiten lohnte. Die Frage, wie wir in Europa vorgehen, ob wir das einseitig machen, ob wir das unabgestimmt machen, ob wir das zu Lasten Dritter machen, ja oder nein, ist für mich eine zentrale Frage meiner Politik, und ich denke, auch mit Blick auf den Rest der Welt gibt es viele, viele gute Gründe, dass Europa zusammenhält. Diese Pressekonferenz findet am 20. Juli statt. Der 20. Juli ist nicht irgendein Tag in der deutschen Geschichte. Viele Menschen haben ihr Leben für Europa, für ein gemeinsames Europa gelassen. Das sehe ich schon als einen wichtigen Auftrag an, der im Übrigen auch schon in der Präambel des Grundgesetzes niedergelegt ist.

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Frage: Frau Bundeskanzlerin, Sie haben schon gesagt, wie wichtig die transatlantischen Beziehungen noch sind. Aber Präsident Trump hat vor Kurzem gesagt – ich zitiere -: Die Europäische Union ist ein Feind. – Kann es sich die Europäische Union noch leisten, Freund und Verbündeter zu sein, wenn der Präsident sagt, die Europäische Union sei ein Feind?

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Merkel: Aus meiner Sicht müssen wir es uns leisten, weil wir die Vereinigten Staaten von Amerika als einen wichtigen Partner sehen, auch wenn er aus unserer Sicht nicht immer eine Politik macht, in der wir immer gleiche Meinungen haben. Die Geschichte der transatlantischen Beziehungen zeigt ja, dass es dabei auch viele Konflikte gab. Aber es lohnt sich allemal, diese Konflikte zu lösen. Ich hoffe, dass wir auch weiterhin die Kraft dazu aufbringen. Deshalb kann ich mir diese Wortwahl nicht zu eigen machen. Ich habe einen anderen Ansatz.

334 Frage: Frau Bundeskanzlerin, gehen Sie mit der derzeitigen EU-Ratspräsidentschaft in allem 335 konform, was zur Migrations-, Asyl- und Frontex-Politik vorgelegt wird? 336 337 338 339 340 341 342 343 344 345 346 347 348

Merkel: Maßstab für mich ist das, was wir in gemeinsamen Schlussfolgerungen niederlegen, so auch bei dem letzten Europäischen Rat, als Österreich die Präsidentschaft ja noch nicht hatte. Wir werden am 20. September ein informelles Treffen haben, bei dem es auch noch einmal um die Fragen der Migration geht. Für mich ist natürlich wichtig, dass wir Außengrenzschutz betreiben. Aber ich habe die Sorge – ich habe das auch nach dem Europäischen Rat im Juni deutlich gemacht -, dass dieser Außengrenzschutz als ein völlig einseitiges Vorgehen verstanden wird. Ich glaube nach meiner persönlichen politischen Erfahrung, dass wir dies nur im Miteinander mit den Herkunftsländern tun können. Wir haben ja das EU-Türkei-Abkommen prototypisch verhandelt. Das war nur möglich, weil man mit der Türkei gesprochen hat. Deshalb muss man jetzt selbstverständlich auch mit den betroffenen afrikanischen Ländern sprechen und nicht über sie. Das habe ich auch nach dem Juni-Rat gesagt. Dieser Aspekt kommt mir manchmal etwas zu kurz, aber wir werden ihn auch weiter in die Arbeit der Europäischen Union und damit auch in die Arbeit der österreichischen Präsidentschaft mit einbringen.

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Frage: Frau Bundeskanzlerin, ich habe zwei Fragen. Sie haben vorhin die Frage der Fachkräfte angesprochen. Sie werben jetzt Pflegkräfte aus Albanien und Kosovo an. Meine Frage ist: Wie würden Sie jetzt vorgehen? Welche konkreten Pläne gibt es dafür? Meine zweite Frage ist: Die albanische Regierung aus Kosovo ist jetzt in Brüssel gewesen, um über die Visaliberalisierung mit Federica Mogherini zu sprechen. Auf der anderen Seite wird aber wieder eine Mauer in Mitrovica gebaut, der Stadt im Norden von Kosovo. Wie würden Sie diese Lage kommentieren? Kann Deutschland in Bezug auf die Visaliberalisierung Druck ausüben?

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Merkel: Für die Visaliberalisierung haben wir eine klare Agenda, die von der Kommission vorgegeben wurde und die von uns auch unterstützt wird, was alles sichergestellt sein muss. Diese Agenda muss vom Kosovo abgearbeitet werden. Auch für alle Fortschritte im Zusammenhang mit den Beitrittsverhandlungen haben wir klare Vorgaben sowohl im Blick auf Serbien als auch im Blick auf das Kosovo, was die serbische Minderheit und bestimmte Normalisierungsprozesse anbelangt. Insofern sind, denke ich, beide Roadmaps, wie man ja heutzutage sagt, also Pläne, das, wonach wir uns richten werden. Was zum Zweiten die Pflegekräfte anbelangt, so bekommen schon seit geraumer Zeit jedenfalls in einigen Ländern des westlichen Balkans junge Menschen oder Menschen, die Interesse an Pflegeberufen in Deutschland haben – das fällt ja genau unter die Fachkräftefragezuwanderung -, ihre Ausbildung zum Teil schon dort vor Ort durch deutsche Institutionen. So wird man auch im Kosovo vorgehen und versuchen, Menschen, die interessiert sind, eine Chance auf eine Arbeit zu geben.

369 Frage: Frau Bundeskanzlerin, wir haben eine Umfrage in Auftrag gegeben, wie zufrieden die 370 Bürger bisher mit der Politik der Bundesregierung sind. Wir haben darum gebeten, auch Noten

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371 zu vergeben. Das Ergebnis ist allenfalls mittelmäßig bis ausreichend. Was glauben Sie, warum 372 die Bürger mit der Arbeit der Bundesregierung unzufrieden sind? 373 374 375 376 377 378 379 380 381

Merkel: Wir haben ja schon über die letzten Wochen gesprochen. Ich denke, weder Sie noch ich sind über das Ergebnis vollkommen verwundert, weil doch ein Thema im Vordergrund stand, weil die Tonalität zum Teil auch recht harsch war und weil bei den Bürgerinnen und Bürgern vielleicht gar nicht richtig angekommen ist, dass wir auch die vielen Dinge, die ich zu Beginn dieser Pressekonferenz extra noch einmal vorgetragen habe, gemacht haben. Deshalb habe ich es heute noch einmal in den Vordergrund gerückt, dass sehr viel mehr Arbeit geleistet wurde, als vielleicht nach außen gedrungen ist. Aber das haben wir uns selbst zuzuschreiben. Deshalb werden wir schauen, dass wir Konflikte – die wird es, ich sage es noch einmal, auch weiterhin geben – so austragen, dass darüber die Ergebnisse nicht in den Hintergrund treten.

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Frage: Frau Bundeskanzlerin, was halten Sie angesichts dessen, was in Helsinki passiert ist, von der Einladung zu einem zweiten Treffen, die Donald Trump an Wladimir Putin geschickt hat? Halten Sie einen zweiten Gipfel für sinnvoll? Wenn ich darf: Medienberichten zufolge fahren Sie dieses Jahr nicht nach Italien in den Urlaub. Hat das mit den politischen Entwicklungen in meinem Land zu tun?

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Merkel: Zu meinen Urlaubsplänen sage ich grundsätzlich nichts und deshalb auch nichts in diesem Jahr. Das ist aber nichts Neues. Zweitens: Ich finde, dass es wieder zur Normalität werden muss, dass sich russische und amerikanische Präsidenten treffen. Denn es ist ja richtig, dass wahrscheinlich 90 Prozent des Nuklearwaffenarsenals in den Händen dieser beiden Länder liegen. Schon allein aus Abrüstungsgründen gibt es viele Themen, die man dort besprechen muss, aber auch aus vielen anderen Dingen heraus. Deshalb freue ich mich über jedes Treffen. Ansonsten kann ich die Einladung von zwei Staatschefs natürlich nicht kommentieren. Aber immer, wenn gesprochen wird, ist das im Grunde gut für alle – gerade wenn zwischen diesen beiden Ländern gesprochen wird. Dass seit, glaube ich, 2005 kein russischer Präsident mehr in den Vereinigten Staaten von Amerika war, muss ja nicht die Normalität sein.

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Frage: Ich möchte noch einmal auf das transatlantische Verhältnis zu sprechen kommen. JeanClaude Juncker reist nächste Woche nach Washington, um zu versuchen, einen drohenden Handelskrieg noch abzuwenden – Stichwort „Autozölle“. Was ist Ihre Erwartung? Kann das noch abgewendet werden? Wie sollte die EU in dieser Frage – Stichwort „Handelskrieg“ – generell auf Donald Trump reagieren, eher mit Härte oder eher abgestuft nach dem Motto: „Wir halten uns Gegenmaßnahmen eventuell offen, aber wollen erst einmal verhandeln“? Was ist Ihre Strategie?

404 Merkel: Natürlich agieren wir nur, wenn Maßnahmen notwendig sind. Wir werden sie nicht 405 schon vorfristig in Kraft setzen; das ist klar. 406 407 408 409 410 411 412 413

Was den Handel anbelangt, haben wir eine sehr ernste Situation auf der Welt; das will ich ganz deutlich sagen. Die große Finanzkrise in den Jahren 2007 und 2008 konnten wir überhaupt nur deshalb bewältigen, weil wir nicht unilateral, sondern weil wir multilateral gehandelt haben. Wir haben damals das Format der G20 auf Ebene der Staats- und Regierungschefs eingeführt. Wir haben alle miteinander – Sie erinnern sich an den Übergang der Präsidentschaft von Bush zu Obama – Konjunkturprogramme aufgelegt. China hat damals einen großen Beitrag dafür geleistet, dass die Weltwirtschaft nicht in eine Rezession abgerutscht ist. Wir haben uns ein gemeinsames Regelwerk für Finanzinstitutionen gegeben und auch bestimmte Grundsätze

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definiert. Dieser Weg hat uns im Grunde aus einer extrem komplizierten Situation herausgeführt. Deshalb glaube ich, dass wir jetzt an einem Punkt stehen, der auch dazu führt, dass die internationalen Organisationen wie der IWF die Wachstumsprognosen nach unten korrigieren. Wir haben schon erhebliche Zölle und auch Gegenmaßnahmen gegenüber China. Wir haben für Europa die Stahl- und Aluminiumzölle. Gerade an der Automobilindustrie sieht man, wie eng die globalen Wirtschaftsketten miteinander verflochten sind. Wenn Zölle auf Autoexporte aus Amerika nach China erhoben werden, dann bedeutet das für deutsche Unternehmen letztendlich schon wieder, dass sie ihre Gewinnprognosen verändern müssen. Daran sieht man ja die ganze Verflechtung. Wir haben ja nicht nur Autos, die aus Europa nach Amerika exportiert werden, sondern wir haben ja auch über 400 000 Autos, die in Amerika hergestellt und im Wesentlichen in den Rest der Welt exportiert werden. Das größte BMWWerk steht nicht in Deutschland, sondern in Spartanburg in South Carolina. Diese Verflechtung ist, denke ich, auch bei den Anhörungen in Washington zur Sprache gekommen. Deshalb sehen wir diese potenziellen Zölle in dem Bereich zum einen als Verstoß gegen WTO-Regeln, aber zum anderen eben auch als eine wirkliche Gefahr für die Prosperität vieler auf der Welt. Deshalb ist die Reise von Jean-Claude Juncker aus unserer Sicht wichtig. Er wird dort Vorschläge machen, wie man in einen Gesprächsprozess kommen kann, um das abzuwenden. Ich will mich hier jetzt nicht mit Erwartungen oder Prognosen beschäftigen, sondern wir, alle Mitgliedsstaaten der Europäischen Union, haben gesagt: Jean-Claude Juncker soll diese Reise nach Washington übernehmen. Wir werden einheitlich als Europäer auftreten. Dann müssen wir das Ergebnis der Gespräche abwarten.

435 Zusatzfrage: Wie soll die EU auftreten, eher hart oder eher konziliant? 436 437 438 439 440 441 442 443 444 445 446 447 448 449 450

Merkel: Sie soll die Dinge beim Namen nennen. Das habe ich ja eben auch getan. Unsere Überzeugung, dass wir denken, dass das mit den WTO-Regeln nicht vereinbar ist. Wir wollen diese Zölle nicht. Wir glauben, dass wir uns gegenseitig schaden, dass nicht nur uns in der Europäischen Union geschadet wird, sondern dass das viel breitere Auswirkungen haben kann. Mit dieser klaren Position fährt Jean-Claude Juncker nach Amerika, um auch Möglichkeiten für Gespräche zu unterbreiten. Wir haben im Grunde zwei Reaktionsmöglichkeiten. Die eine Möglichkeit ist, dass wir, wenn wir WTO-konform handeln wollen, zu einer breiten Palette von Produkten in Gespräche eintreten. Die andere Möglichkeit ist, dass wir uns mit den Vereinigten Staaten von Amerika sektoral in Bezug auf Zölle befassen. Dann müssen wir aber entsprechend dem WTO-Regime allen anderen Ländern der Welt, mit denen wir im Autobereich handeln, die gleichen Begünstigungen geben. Das sind die zwei möglichen Ansatzpunkte. Jetzt wird man darüber reden, was möglich ist, in welchen Prozess wir eintreten können. Das ist unsere präferierte Vorgehensweise. Sollte das zu keinem Ergebnis führen, werden wir uns natürlich auch – Sie haben ja gehört, dass die Europäische Kommission daran arbeitet – mit Gegenmaßnahmen beschäftigen. Aber das ist die mit Abstand schlechtere Lösung.

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Frage: Frau Bundeskanzlerin, ich habe eine Frage zur politischen Kultur. Im Nachklapp des Helsinki-Gipfels erleben wir gerade, dass die Halbwertzeiten von Aussagen von Staats- und Regierungschefs relativ kurz geworden sind. Wenn ich mit Menschen in Russland rede, sagen diese mir, Lüge sei ein adäquates Mittel der Außenpolitik, ganz klar, Stichwort „grüne Männchen“. Mich würde interessieren: Frustriert Sie das manchmal? Haben Sie das Gefühl, dass sich damit vielleicht auch etwas auf das deutsche System auswirkt, dass sich hier die politische Kultur nachhaltig verändert und Schaden nimmt?

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Merkel: Ich denke, es gibt schon eine Veränderung in der politischen Kultur. Sie ist einerseits durch die völlig veränderten Möglichkeiten der sozialen Medien getrieben. Das ist gar keine Frage. Ich denke auch, dass es sehr wichtig ist, dass wir uns von allen Seiten, sowohl vonseiten der Politik als vielleicht auch von Ihrer Seite, vonseiten der Journalisten, mit der Frage der Verantwortlichkeit für richtige Meldungen beschäftigen. Denn eines ist auch klar: In dem Moment, in dem im Grunde jeder durch die sozialen Medien Teilhaber, Teilnehmer und auch Akteur im Informationsaustausch ist, ist die Verantwortlichkeit für die Richtigkeit einer Angabe natürlich viel weiter gestreut. Ich persönlich denke nicht, dass die Plattformen einfach sagen können, sie seien nichts weiter als ein physikalisches Bindeglied zwischen verschiedenen Akteuren, sondern dass jeder, der so große Plattformen betreibt, auch dafür verantwortlich ist, dass darauf bestimmte Standards eingehalten werden. Aber das ist ein langer und weiter Weg, weil es dabei um globale Verbreitungen geht und man mit nationalen Einzelmaßnahmen natürlich nur bedingt etwas erreichen kann. Jeder kann jetzt ja nur seinen Beitrag dazu leisten. Ich denke, ich habe schon auf die Frage von der Kollegin gesagt, dass es mir sehr wichtig ist, dass ich umso mehr versuche, auf meine Sprache zu achten, präzise zu sein, dass natürlich auch die Fakten stimmen und dass sozusagen durch Beispielgebung versucht wird, diesen Prozess einer manchmal auch – so würde ich sagen – gewissen Verwahrlosung ein wenig im Zaume zu halten, weil ich glaube, dass es zwischen Denken, Sprechen und Handeln einen ziemlich engen Zusammenhang gibt.

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Frage: Frau Bundeskanzlerin, ich habe eine Frage zur EU-Asylrechtsreform. Österreich macht den Eindruck, als gehe es nur noch um Außengrenzschutz. Das heißt für Österreich auch die Schließung der Mittelmeerroute. Bei denjenigen, die ein Recht auf Asyl haben, stellt sich die Frage, wo sie dann noch unterkommen. Wenn die Frage der Verteilung durch die Ratspräsidentschaft Österreichs gar nicht geklärt wird, ergibt sich ja die Frage, wie das künftig geregelt wird. Wirken Sie auf Österreich irgendwie ein, damit man sich doch wieder stärker um die EU-Asylrechtsreform kümmert?

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Merkel: In der Tat steht der Außengrenzschutz im Augenblick sehr oft im Zentrum der Diskussionen. Er ist ja auch wichtig; das will ich überhaupt nicht in Abrede stellen. Aber wie Sie an der deutschen Diskussion gesehen haben, ist auch die Ordnung und Steuerung der Sekundärmigration für uns wichtig. Sie sehen jetzt an Italien, dass von dort aus die Frage der Lastenteilung oder der Aufgabenteilung wichtig ist. Für Italien war in den Schlussfolgerungen zum letzten Europäischen Rat zum Beispiel der zentrale Satz: Die Migration ist nicht nur Aufgabe eines Mitgliedsstaates, sondern sie ist eine Herausforderung für alle Mitgliedsstaaten. Deshalb wird sich, denke ich, aus der unterschiedlichen Interessenlage der einzelnen Mitgliedsstaaten auch für die österreichische Präsidentschaft ganz automatisch die Aufgabe ergeben, sich mit verschiedenen Facetten der Migrationspolitik zu beschäftigen. Aber richtig ist auch: Die Frage der Verteilung und die Frage der Solidarität unter den Mitgliedsstaaten ist natürlich sehr viel besser zu lösen, wenn man beim Außengrenzschutz Erfolge verzeichnen kann. Gleichzeitig ist das auch für die Flüchtlinge gut, weil dann nicht so viele Menschen ertrinken oder Schaden nehmen, gerade im Mittelmeer. Insofern ist Außengrenzschutz für mich eben auch Entwicklungspolitik, auch Partnerschaft mit Afrika und vieles andere mehr. Andere beschäftigen sich eben mit den Fragen der Sekundärmigration. Ich denke, die Präsidentschaft muss und wird sich mit allen Fragen beschäftigen.

501 Frage: Es geht um den erheblichen Druck auf Deutschland seitens des amerikanischen 502 Präsidenten wegen der Militärausgaben. Wie würden Sie dieses Problem lösen? Werden Sie F-

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35 aus Amerika bestellen und sagen, damit sei die Sache erledigt, oder werden Sie in die Militärforschung oder die Forschung für militärische Zwecke zum Beispiel in der Militärindustrie investieren? Wie werden Sie die zwei Prozent erreichen, die Herr Trump von Ihnen verlangt?

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Merkel: Die zwei Prozent und die Entwicklung der Verteidigungsaufgaben jedes Mitgliedsstaates der Nato in Richtung dieser zwei Prozent sind ja keine neue Entwicklung, sondern das ist ein Beschluss aus Wales 2014, den wir noch unter der Präsidentschaft von Barack Obama und noch in ganz anderen Situationen gefasst haben, und zwar nicht deshalb, weil wir diese Zahlen so wichtig fanden, sondern weil wir gesehen haben, dass wir ganz neuen Herausforderungen gegenüberstehen. Es war die Zeit nach der Annexion der Krim, die Zeit nach dem Eingriff in die Ostukraine. Damals hat man gesagt: Es ist nicht nur so, dass wir durch die Nato so wie zum Beispiel in Afghanistan agieren müssen, sondern wir müssen auch dem Thema der Bündnisverteidigung wieder eine größere Bedeutung beimessen. Deshalb haben alle diese Entwicklung unterstützt. Wenn man sich anschaut, welche Ausgaben wir an die Nato melden, also Nato-relevante Ausgaben, dann sieht man, dass Deutschland seine Verteidigungsausgaben von 2014 – damals waren es 34,7 Milliarden Euro – bis zum Jahr 2019, wofür jetzt der Haushaltsentwurf vorliegt, auf 46,3 Milliarden Euro erhöht hat. Sie sehen also, dass hier in wenigen Jahren, in fünf Jahren, ein erheblicher Aufwuchs stattgefunden hat. Das ist auch bitter notwendig, weil es gar nicht um irgendeine Aufrüstung geht, sondern im Grunde um eine vernünftige Ausrüstung unserer Bundeswehr. Wir haben auf der einen Seite eigene europäische Waffensysteme, und wir haben auf der anderen Seite amerikanische. Wir haben jetzt zum Beispiel unsere Drohnen aus Israel geleast. Das heißt, wir agieren auf dem gesamten internationalen Markt je nach der Qualität und der Notwendigkeit. In den letzten anderthalb Jahren haben wir auch eine massive Stärkung unserer europäischen Verteidigungsinitiativen erlebt, und zwar durch die strukturierte Zusammenarbeit und durch die Schaffung eines Verteidigungsfonds, der auch dazu genutzt wird, gemeinsame europäische Waffensysteme zu entwickeln. Wir haben in Europa zurzeit 178 Waffensysteme. Die Amerikaner haben weniger als 50. Daran können Sie auch ermessen, wie ineffizient unsere Gelder ausgegeben werden. Denn jedes Waffensystem bedarf einer speziellen Wartung, einer speziellen Ausbildung und ist nicht kompatibel mit dem Nachbarwaffensystem. Deshalb werden wir in den nächsten Jahren – man muss sagen: Jahrzehnten – auf eine Vereinheitlichung in Europa hinwirken. Wir werden zum Beispiel auch ein gemeinsames europäisches Kampfflugzeug entwickeln; nicht wie heute, wo wir den Eurofighter und gleichzeitig die Rafale haben, sondern hier wird es gemeinsame Entwicklungen geben. Das kann auch für die Wettbewerbssituation gut sein, denn wir wissen zum Beispiel, dass die Gründung von Airbus im zivilen Bereich der Luftfahrt dazu geführt hat, dass wir heute zwei große Anbieter haben. Das ist, glaube ich, insgesamt für den Wettbewerb auf der Welt sehr gut. Das heißt, man muss sich nicht einseitig auf Systeme eines Herstellers konzentrieren, sondern ein gewisser Wettbewerb ist insgesamt gut. So werden wir in Europa vorgehen. Dort, wo es Gründe gibt, auch amerikanische Systeme zu kaufen, wird man das tun, aber wir haben auch einen eigenen europäischen Anspruch.

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Frage: Frau Bundeskanzlerin, Sie haben vor ungefähr einem Jahr in München eine Rede gehalten und gesagt oder signalisiert, dass sich Deutschland und Europa nicht mehr auf die Vereinigten Staaten verlassen könnten und ihr Schicksal in die eigene Hand nehmen sollten. Manche beklagen, dass seitdem nicht viel geschehen sei. Verstehen Sie das und diese Kritiker? Würden Sie sagen, dass Deutschland eine neue transatlantische Strategie braucht? Ist das irgendetwas, das sich die Bundesregierung überlegt?

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Merkel: Ich glaube, dass der Satz wahr ist und sich auch durch die Ereignisse danach weiter bestätigt hat, dass wir uns nicht einfach auf die Ordnungsmacht und Supermacht Vereinigte Staaten von Amerika verlassen können. Ich finde, es ist auch legitim, dass Europa seine Rolle in der globalen Ordnung findet; denn die geographische Verortung Europas ist eine in einem ziemlich unruhigen Bereich der Welt. Wir haben nicht nur Russland als unseren Nachbarn, sondern wir haben vor allen Dingen auch den Mittleren und den Nahen Osten als unsere Nachbarn. Es gibt die Tatsache, dass der Kontinent, auf dem die wirtschaftliche Entwicklung am wenigsten so dynamisch stattgefunden hat, wie wir uns das wünschen, unser Nachbar Afrika ist, und das fordert Europa heraus. Ich verstehe in dem Sinne auch, dass die Vereinigten Staaten über Europa sagen: Ihr müsst in der Welt des 21. Jahrhunderts eine stärkere und gewichtigere Rolle bei der Lösung nicht nur militärischer, sondern auch politischer Konflikte einnehmen. Dem wird Europa zum Teil gerecht. Ich finde, dass eine der beeindruckendsten und auch relativ zügig umgesetzten Dinge wirklich die strukturierte Zusammenarbeit im Verteidigungsbereich ist – nicht gegen die Nato, sondern als Stärkung der Nato, aber natürlich auch mit der Möglichkeit, alleine zu agieren. Ich glaube nämlich nicht, dass die Nato zum Beispiel bei allen Konflikten in Afrika eine Rolle spielen wird. Das, was wir jetzt in Mali machen, und ähnliches sind ja Ausdruck dessen, dass man nicht einfach Frankreich damit alleine lässt, sondern dass es da auch mehr europäische Initiativen gibt.

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Wir müssen eine gemeinsame Antwort auf die Herausforderung der Migration finden. Da sind wir noch mitten im Prozess. Es ist ja unverkennbar, dass das Europa unter erhebliche Spannung setzt. Die Tatsache, dass man mehrere Stunden über den Satz diskutiert, dass die Migration nicht nur für ein einzelnes Mitgliedsland, sondern für alle Mitgliedstaaten der Europäischen Union eine Herausforderung ist, zeigt ja, wie zerrissen wir da zum Teil auch noch sind. Aber ich glaube, für die Zukunft Europas – ich habe das oft gesagt – ist die Frage, ob wir das Migrationsthema in all seinen Facetten gemeinsam lösen können, von entscheidender Bedeutung. Ich würde also sagen: Die Europäische Union ist in einem Transformationsprozess. Sie erkennt den Ernst der Lage an. Aber es ist noch nicht entschieden, ob wir den Herausforderungen schnell genug gerecht werden. Wir haben eine große wirtschaftliche Herausforderung – eines Tages sicherlich auch eine militärische – durch das Erstarken von China. Wir müssen unsere Beziehungen zu Russland ordnen. Wir haben also viel zu tun. Der Ordnungsrahmen auf der Welt verschiebt sich; das ist vollkommen klar. Das, was wir für viele Jahrzehnte für ganz natürlich gehalten haben, nämlich dass sich die Vereinigten Staaten von Amerika als Ordnungsmacht für die ganze Welt verstehen – im Guten und im Schlechten, sage ich einmal -, ist so für die Zukunft nicht mehr gesichert, und deshalb kommen ganz andere Fragestellungen auf uns zu.

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Frage: Frau Bundeskanzlerin, Sie haben bereits den Kabinettsbeschluss zu den sicheren Herkunftsländern angesprochen. Was erwarten Sie denn von den auch von Unionsministerpräsidenten geführten Landesregierungen an Druck auf die Grünen? Welche Appelle würden Sie an die Grünen richten, damit es nicht wieder wie in der letzten Legislaturperiode zu einer Hängepartie und einer Blockade im Bundesrat kommt? Glauben Sie, dass die Absagen von Libyen und Tunesien an Einrichtungen in ihren Ländern das letzte Wort in dieser Frage sind?

591 Merkel: Die Absagen haben mich erst einmal nicht verwundert, weil ich ja mit Libyen und 592 Tunesien schon selbst oft über solche Fragen gesprochen habe. Man wird immer weiter 593 miteinander im Gespräch bleiben. Sie müssen sich einmal die Situation in Libyen vorstellen.

13.9 Die Bundespressekonferenz vom 20.7.2018 mit Bundeskanzlerin Angela Merkel

594 595 596 597 598 599 600 601 602 603 604 605 606 607 608 609 610 611 612 613 614 615 616



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Libyen haben wir ja im Grunde doch schon eine große Aufgabe zugewiesen, nämlich dass die libysche Küstenwache die Flüchtlinge, die sie an Land bringt, dann ja auch wieder beherbergen muss. Das tut sie zum Teil zusammen mit dem UNHCR und mit der Internationalen Organisation für Migration. Libyen ist ja durch seine schwache Staatlichkeit in eine Situation geraten, in der es wirklich ein Transitland für viele Herkunftsländer ist. Deshalb, glaube ich, hilft man Libyen am meisten, indem wir auch selbst mit den Herkunftsländern sprechen; denn Libyen selbst ist ja gar nicht das Herkunftsland. Zweitens, wenn Sie immer von „Druck ausüben“ sprechen: Politik arbeitet daran, Lösungen zu finden. Das funktioniert nicht am allerbesten, indem man umso mehr Druck ausübt. Die Grünen in den Koalitionen haben bestimmte Überzeugungen, und jetzt geht es darum, mit Argumenten darum zu werben, dass man das, was wir für richtig halten, nämlich sichere Herkunftsländern in den genannten Fällen festzulegen, auch erreichen kann. Es gibt in den Koalitionen ganz klare Abreden dazu, wie man sich verhält, wenn ein Koalitionspartner nicht zustimmt. Diese Abreden nutzt die CDU sehr häufig in den Koalitionen, und dann kommt es zu einer Enthaltung des Landes. Jetzt werden die anderen Koalitionspartner – in diesem Falle die Grünen oder manchmal auch die FDP – das für sich natürlich auch in Anspruch nehmen. Insofern geht es um Argumente, um Überzeugung und darum, dass man miteinander spricht. Der Bundesrat ist ein eigenständiges Verfassungsorgan, und seine Meinungsbildung ist genauso wichtig wie die Meinungsbildung des Bundestags. Die Zusammensetzung des Bundesrats ist sehr divers, und insofern werden wir intensive Gespräche führen müssen. Das werden die Ministerpräsidenten der Union auch tun – davon bin ich zutiefst überzeugt -, weil es unsere gemeinsame Überzeugung ist, dass wir diese sicheren Herkunftsländer brauchen. Das werden auch die Ministerpräsidenten der SPD tun. Aber Koalitionen werden nach einem bestimmten Prinzip geführt.

617 Frage: Frau Bundeskanzlerin, Donald Trump hat Deutschland mehrmals kritisiert. Warum, 618 denken Sie, tut er das? Was hat er gegen Deutschland? Was denken Sie darüber, dass er 619 Deutschland so explizit kritisiert? 620 621 622 623 624 625 626 627 628 629 630 631 632 633 634 635 636 637 638 639

Merkel: Ich nehme es erst einmal zur Kenntnis. Ich habe da jetzt nicht nach der Motivation geforscht, sondern ich versuche, mit meinen Argumenten zu antworten. Sicherlich haben wir ja sehr enge Verflechtungen mit den Vereinigten Staaten von Amerika, gerade, was den Handel anbelangt. Wir sind ein Land unter den europäischen Ländern, das sehr intensiv mit Amerika handelt, und deshalb sind wir vielleicht auch prototypisch für eine Gesamtsituation. Ich glaube, dass wir Argumente austauschen müssen. Wenn zum Beispiel der Handelsüberschuss Deutschlands oder Europas gegenüber den Vereinigten Staaten von Amerika genannt wird, dann ist es wichtig, zu sagen: Das stimmt, wenn wir uns nur die Waren und die Güter anschauen. Wenn wir aber Dienstleistungen und die in die Vereinigten Staaten von Amerika zurücküberwiesenen Gewinne hinzuaddieren, wenn man sich also die Leistungsbilanz insgesamt anschaut, dann sieht das ganz anders aus. Dann haben wir eine ausgeglichene bis für die Vereinigten Staaten von Amerika leicht positive Leistungsbilanz. Die ist für mich relevanter. Solche Argumente versuche ich einzubringen. Aber sicherlich hat das auch etwas mit unserer ökonomischen Größe zu tun. Ich habe immer wieder gesagt: Bei den Verteidigungsausgaben sind wir nicht in der Spitzengruppe der europäischen Länder. Viele Osteuropäer sind hier weiter, Großbritannien ist weiter, Frankreich ist besser. Das bedeutet eben, dass wir unseren Verteidigungsetat auch weiter steigern werden. So versuche ich einfach, mich mit der Kritik auseinanderzusetzen, aber auch eine eigenständige, souveräne Antwort zu geben. Die stimmt nicht in allem mit den Betrachtungen des amerikanischen Präsidenten überein, und darüber haben wir uns ja auch intensiv ausgetauscht.

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13 Anhang: Bundespressekonferenzen im Korpus

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Frage: Frau Bundeskanzlerin, alle Ihre Vorgänger hatten es nicht in der Hand, Ihren Abschied irgendwann selbstbestimmt einzuleiten, weil es immer etwas gab, das sie davon abhielt, weil sie dachten, jetzt könnten oder dürften sie nicht gehen. Sind Sie mit sich und Ihrer Politik im Reinen, oder gibt es noch das eine große Thema, die eine große Herausforderung – zum Beispiel den Zusammenhalt der Gesellschaft -, die an Ihnen noch nagt, die Sie erledigen wollen?

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Merkel: „An mir nagen“ ist ein schöner Begriff. – Sie haben ja eben schon an der Antwort auf die Frage nach der globalen Ordnung gesehen, dass ich glaube, dass wir im Augenblick in einer sehr interessanten, spannenden und auch die Zukunft sehr bestimmenden Zeit leben, weil sich doch einiges in der globalen Ordnung verändert. Deshalb erfordert die politische Tätigkeit für mich als Bundeskanzlerin der Bundesrepublik Deutschland schon allerhöchste Aufmerksamkeit. Aber das sind ja Prozesse, die sicherlich weit über meine eigene Amtszeit hinausgehen. Ich kann nicht finden, dass ich im Augenblick nicht gefordert bin. Ich habe gegenüber den Menschen in Deutschland im Zusammenhang mit der Bundestagswahl die Aussage getroffen, dass ich für diese Legislaturperiode zur Verfügung stehe. Alles andere wird man erst im Rückblick entscheiden können; darüber brauchen wir heute nicht zu spekulieren. Zu tun ist jedenfalls genug; das will ich deutlich mitteilen. Das Wort „nagen“ beschreibt das eigentlich nicht, sondern das sind ja Aufgaben, die sich aus der Aufgabe ergeben, zu versuchen, für das Wohl des Landes das möglichst Richtige zu tun – natürlich mit anderen zusammen.

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Zusatzfrage: Sie haben jetzt zweimal gesagt, dass die Weltordnung so unter Druck sei. Sie haben das beim Katholikentag im Mai einmal als einen Zustand beschrieben, der kurz vor Kriegsausbrüchen – Dreißigjähriger Krieg usw. – entstanden ist. Sie beschreiben ja noch etwas vorsichtig, dass die Weltordnung unter Druck geraten ist. Aber für wie gefährlich halten Sie diese Situation? Wie nah stehen wir an dem Abgrund, dass diese Ordnung, wie Sie damals sagten, „schwupp, im Eimer“ sein kann?

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Merkel: Ich habe das eigentlich im Zusammenhang mit der Frage gesagt oder sagen wollen, ob wir aus der Geschichte gelernt haben. Wir haben uns sehr viel damit befasst, gerade wir als Deutsche, ob wir aus der Geschichte des Nationalsozialismus und aus dem, wie die Bundesrepublik Deutschland entstanden ist, etwas gelernt haben. Ich habe den 20. Juli schon erwähnt, der dafür auch ein ganz besonderer Tag ist. Ich glaube, dass wir jetzt in einer Zeit leben, in der die Zeitzeugen dieser schrecklichen Phase deutscher Geschichte mehr und mehr sterben, in der wir als nachfolgende Generationen vor der Verantwortung stehen, richtige Entscheidungen zu treffen, und dass sich in dieser Phase entscheiden wird, ob wir wirklich aus der Geschichte gelernt haben oder ob das von den zukünftigen Generationen sozusagen doch nicht so verinnerlicht wurde. Deshalb sind mir bestimmte Prinzipien so wichtig, über die sich jetzt ja auch eine ganze Auseinandersetzung entwickelt hat: Machen wir einfach aus Verzweiflung darüber, dass alles so langsam geht oder das es doch nicht so passiert, wie wir es wollen, jetzt auch unsere eigenen Dinge, oder fühlen wir uns auch dann, wenn es für uns schwierig ist, Europa wirklich verpflichtet? – Das ist für mich eine sehr grundsätzliche Frage. In diesem Kontext meinte ich das. Wir können hier also zeigen, dass wir aus der Geschichte etwas gelernt haben.

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Frage: Frau Bundeskanzlerin, noch einmal zurück zum Streit mit Horst Seehofer: Das ist ja nicht nur eine Frage der Tonalität, sondern auch eine Frage der Autorität gewesen. Es ist ein bisschen der Eindruck entstanden, dass man als Minister und als Koalitionspartner so ziemlich alles tun kann, wenn es denn nicht Ihre Richtlinienkompetenz berührt. Wie wollen Sie dem entgegenwirken, dass eben der Eindruck entstanden ist, man könne erpressen und Ultimaten

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stellen, und solange das nicht direkt Ihre Richtlinienkompetenz betrifft, passiert auch nichts, unternehmen Sie auch nichts? Ganz kurz eine zweite Frage, anschließend an die Frage von der Kollegin: Sie haben gesagt, dass Sie den Wählern versprochen haben, für diese Legislaturperiode zur Verfügung zu stehen. Können Sie den Wählern denn auch sagen, ob Sie für eine weitere Legislaturperiode definitiv nicht zur Verfügung stehen?

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Merkel: Es gibt für alle Dinge einen geeigneten Zeitpunkt. Was die erste Frage anbelangt, so habe ich ja von der Handlungsfähigkeit einer Regierung gesprochen. Die Frage, um die es ging, hat schon die Richtlinienfrage betroffen. Aber ich sage noch einmal: Es geht um das Handeln. Wir haben einen Kompromiss gefunden, entlang dessen wir jetzt handeln und der nach meiner festen Überzeugung auch von meinen Überzeugungen abgedeckt ist. Das ist das, was für mich entscheidend war.

696 Zusatzfrage: Ist die Frage, dass in der Öffentlichkeit der Eindruck entsteht, dass Ihre Autorität 697 angekratzt ist, zweitrangig? 698 699 700 701 702

Merkel: Erstrangig ist, dass die Handlungen der Regierung entsprechend den Richtlinien, die die Bundeskanzlerin vorgibt, erfolgen. Der Einschätzung, dass Schaden entstanden ist und dass es deshalb besser wäre, man würde solche Meinungsunterschiede anders lösen, habe ich ja heute hier schon mehrfach zugestimmt. Aber wir haben sie gelöst, und die Regierung hat sich als handlungsfähig erwiesen – in einer Frage, die durchaus richtlinienrelevant war.

703 Frage: Der amerikanische Präsident hat sich ja in dieser Woche – Stichwort Montenegro – noch 704 einmal zur Nato geäußert. Wie interpretieren Sie die Aussagen? Gehen Sie davon aus, dass er 705 die Richtlinienkompetenz infrage stellt oder abschwächen will? 706 Merkel: Ich glaube, Sie meinen jetzt nicht die Richtlinienkompetenz, sondern den Artikel 5. 707 Zusatz: Entschuldigung, ich wollte „Beistandspflicht“ sagen. 708 709 710 711 712 713 714 715

Merkel: Der Artikel 5, die Beistandspflicht, ist ein zentrales Element der Nato, und nach meiner Auffassung gilt dieser Artikel 5 für alle Mitgliedstaaten der Nato, nicht nur für große oder für kleine oder für einige. Montenegro hat sehr, sehr viele Anstrengungen unternommen, um Mitglied der Nato zu sein, und es hat auch viel Einflussnahme in Wahlkämpfen gegeben. Insofern freue ich mich über das Mitglied Montenegro. Es ist ja auch ein Staat des westlichen Balkans, der ja auch eine europäische Aufnahmeperspektive hat. Sicherlich liegt dafür noch viel Arbeit vor uns, aber für jeden Mitgliedstaat gilt der Artikel 5 und damit die Beistandspflicht.

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Frage: Frau Bundeskanzlerin, Sie sagten ja eben: Ich habe es versprochen, deswegen bleibe ich bis 2021. – Aber hatten Sie angesichts dieses doch recht dichten, anstrengenden letzten Jahres jemals Zweifel daran gehabt, ob Sie noch die richtige Kanzlerin sind, oder bestärken Sie diese Schwierigkeiten der Vergangenheit eigentlich dabei, „Jetzt erst recht“ zu sagen?

720 Merkel: Ich habe keine Veranlassung, von dem, was ich immer gesagt habe, abzuweichen, und 721 deshalb habe ich es heute so wiederholt. 722 Frage: Frau Bundeskanzlerin, haben Sie die Migrationskampagne der CSU zeitweise für einen 723 Putschversuch gehalten, also den Versuch, Sie zu stürzen? Haben Sie dabei einmal an Rücktritt 724 gedacht?

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13 Anhang: Bundespressekonferenzen im Korpus

Merkel: Ich habe diese Frage, um die wir gestritten haben, für eine sehr grundsätzliche Frage gehalten und deshalb ja auch die Maßstäbe sehr früh formuliert. Für mich war es wichtig, dass wir einfach ein verlässlicher Partner auch in Europa bleiben. Ich glaube, wir haben jetzt Wege gefunden, auf denen wir das erreichen können, und insofern will ich das nicht weiter kommentieren. Aber das war schon eine grundsätzliche Frage. Ich glaube, dass wir im Übrigen sehr viel stärker deutlich machen sollten, dass wir zwar nicht alle Probleme der Migration gelöst haben und ich ja deshalb auch die allerallermeisten Maßnahmen des Masterplans des Bundesinnenministers unterstütze, dass wir schon in der Koalitionsvereinbarung eine Vielzahl von Maßnahmen ergriffen haben und dass wir schon vorher eine Vielzahl von Maßnahmen ergriffen haben, aber dass wir auch deutlich machen sollten, dass wir sichergestellt haben, dass wir Vorsorge dafür getroffen haben, dass sich 2015 nicht wiederholt. Das können wir den Menschen auch mit guter Überzeugung sagen. Das heißt also, ich argumentiere oder versuche zu argumentieren, dass wir die Dinge positiv sehen, obwohl sie noch längst nicht alle gelöst sind.

739 Zusatzfrage: Darf ich noch einmal nachfragen, ob Sie im Zuge dieser Auseinandersetzung 740 auch einmal an einen Rücktritt gedacht haben und ob Sie sich – gegebenenfalls aus welchen 741 Gründen – dagegen entschieden haben? 742 Merkel: Nein. Wenn ich in der Mitte einer wichtigen Auseinandersetzung bin, dann muss ich 743 ja meine Kräfte darauf konzentrieren. 744 745 746 747

Frage: Da wir das Wort Rücktritt schon in den Mund genommen haben: Gehen Sie davon aus, dass Sie noch einmal einen Rücktritt angeboten bekommen werden? Die andere Frage ist: Wird das Bundeskabinett in dieser Besetzung das Ende der Wahlperiode 2021 erleben, abgesehen von Ihnen?

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Merkel: Sie können feststellen, wer welche Worte in den Mund genommen hat. Ich möchte das jetzt nicht weiter kommentieren. Wie das Kabinett am Ende der Legislaturperiode aussehen wird, kann ich heute nicht sagen. Im Augenblick arbeite ich gerne mit allen Ministern zusammen.

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Frage: Frau Merkel, hinter Ihnen liegt ja ein sehr intensives Jahr, um es einmal vorsichtig auszudrücken. Mich würde interessieren, wie erschöpft Sie tatsächlich sind, wenn Sie einmal für einen Moment ganz ehrlich sein können. Zweiter Teil der Frage: Inwiefern ist diese kollektive Erschöpfung, von der ja viele Politiker auch aus der Regierung klagen, möglicherweise auch ein Grund dafür, dass die politische Auseinandersetzung im Moment oft so hart geführt wird, und vielleicht auch dafür, dass so ein Streit wie zuletzt der in der Union eben eskaliert?

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Merkel: Ich klage nicht. Ich will nicht verhehlen, dass ich mich freue, wenn ich jetzt ein paar Tage Urlaub habe und etwas länger schlafen kann. Aber ich klage überhaupt nicht. Die Zeiten sind fordernd, und wir müssen versuchen, diesen Forderungen zu entsprechen. Ich freue mich, wenn ich jetzt gerade in den letzten Tagen auch einmal andere Themen der Politik in den Mittelpunkt stellen kann, von der künstlichen Intelligenz bis zum Besuch eines Pflegeheims. Die Welt ist ja politisch sehr viel breiter, als es vielleicht an manchem Tag den Eindruck macht. Das erfreut mich. Ansonsten glaube ich, dass sich bestimmte Mechanismen – ich sage es noch einmal: auch durch die neue Medienvielfalt – verändert haben und dass die globale Ordnung, wie ich schon gesagt habe, in einer bestimmten Drucksituation ist. Das fordert uns natürlich

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auch. Wir sind ein Teil dieser Welt und müssen unseren Platz immer wieder neu finden. Deutschlands Verantwortung steigt, Deutschlands Aufgaben steigen. Der wirtschaftliche Fortschritt ist nicht in Stein gemeißelt und auch nicht gesetzlich verankert, sondern wenn man sieht, mit welcher Verve sowohl die Vereinigten Staaten von Amerika als auch China und andere asiatische Länder im Bereich der Digitalisierung vorangehen. Viele Innovationen kommen nicht mehr aus Europa, sondern sie kommen von anderen Kontinenten; das haben wir vor 50 Jahren so nicht gekannt, dann fordert uns das. Aber ich finde jetzt überhaupt keinen Anlass, darüber zu klagen. Das ist unsere Aufgabe. Die sollten wir annehmen, und zwar mit Freude an der Sache. Ich meine, wir leben ja auch in spannenden Zeiten. Wer hätte gedacht, was alles möglich ist? Das finde ich immer noch faszinierend.

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Frage: Ich würde gerne noch einmal zum Thema der EU-Außengrenzen zurückkommen. Italien scheint es als wirksame Maßnahme des Außengrenzschutzes zu betrachten, Boote, die gerettete Flüchtlinge an Bord haben, nicht mehr anlegen zu lassen. Sehen Sie da einen Zusammenhang? Ist es im Sinne eines stärkeren EU-Außengrenzschutzes gerechtfertigt, dass man die Seenotrettung einschränkt? Wofür werden Sie sich dabei auf EU-Ebene einsetzen, was sowohl die EU-Mission Sophia als auch die privaten Retter betrifft, unter denen ja vor allen Dingen viele Deutsche sind, die derzeit auf Malta festsitzen?

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Merkel: Die Seenotrettung ist ja erst einmal eine internationale Aufgabe, aus der man sich sowieso nicht herausziehen kann. Man kann nur versuchen, Menschen davon abzuhalten, weil sie ihr eigenes Leben ja auch in Gefahr bringen, unter zum Teil unsäglichen Bedingungen überhaupt aufs Meer hinauszugehen. Ich glaube, dass es wichtig ist – das haben wir auch in den EU-Ratsschlussfolgerungen gesagt -, dass sich die privaten Seenotretter auch an die internationalen Bedingungen halten müssen, also die Territorialgewässer Libyens achten müssen. Das ist eine Forderung. Italien diskutiert jetzt in den europäischen Gremien, also in den entsprechenden Ausschüssen, darüber, wie denn der Satz zu verstehen ist, dass die Aufgabe eben nicht nur eine Aufgabe eines Landes ist, sondern eine Aufgabe der gesamten EU. Daran sieht man, dass uns auch im Zusammenhang mit dem Außengrenzschutz im Grunde das Thema der Solidarität der Mitgliedstaaten – Deutschland hat ja jüngst auch 50 Flüchtlinge aufgenommen – immer wieder ereilen wird. Deshalb wird eine Lösung des Gesamtproblems nicht möglich sein, wenn man nur einen Teil – einen wichtigen, einen sehr wichtigen Teil – in den Fokus nimmt, sondern man wird sich eben auch mit den anderen Fragen immer wieder auseinandersetzen müssen. Das ist für mich das Beispiel dafür.

800 Zusatzfrage: Aber was bedeutet diese europäische Gesamtlösung für die deutschen Retter, die 801 jetzt auf Malta festsitzen? Können die so lange warten, bis es diese europäische Gesamtlösung 802 gibt? 803 804 805 806 807 808

Merkel: Sicherlich nicht. Ich meine, auf Malta gibt es ja jetzt auch Gerichtsverfahren oder jedenfalls Ermittlungen, wenn ich das richtig verstehe. Ich will noch einmal sagen: Es ist wichtig, dass auch die Nichtregierungsorganisationen, die sich an Rettungen beteiligen, die Territorialgewässer Libyens respektieren. Ich glaube, über diese Frage wird dort in Malta verhandelt. Das ist von uns auch in den Schlussfolgerungen gemeinsam so beschlossen worden. Das ist also nicht eine rein maltesische Meinung, sondern eine Meinung aller Mitgliedstaaten.

809 Frage: Frau Merkel, Sie haben im Wahlkampf noch versprochen, dass Deutschland sein 810 Klimaziel für 2020 einhalten wird. In den Koalitionsverhandlungen wurde das dann

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zurückgenommen und darauf abgeschwächt, dass Sie alles tun werden, um es so weit wie möglich einzuhalten. Seitdem ist von der Zeit, die bis 2020 noch zur Verfügung steht, jetzt schon wieder ein Viertel vorbei, und passiert ist nichts – keine CO2-Steuer, keine Mittel für Sanierungen, keine Sofortabschaltung von Kohlekraftwerken, die Sie ja in den JamaikaSondierungsgesprächen schon einmal zugesagt hatten. Wäre es nicht an der Zeit, dass Sie auch diese zweite Hälfte des Versprechens zurücknehmen, oder können Sie irgendetwas dazu in Aussicht stellen, wie Sie das noch hinbekommen wollen?

818 819 820 821 822 823 824 825 826 827 828 829 830 831 832 833

Merkel: Sie wissen, dass wir unsere Prognosen und auch die Aussagen im Wahlkampf auf der Grundlage des Klimaschutzplans gemacht haben, den damals die Bundesumweltministerin Barbara Hendricks gemacht hatte. Sie hatte dafür bestimmte Annahmen zugrunde gelegt. In der Zeit der Regierungsbildung kamen dann plötzlich neue Annahmen zum Vorschein, muss ich sagen, die die Differenz zur Erreichung des Klimaziels 2020 sehr viel größer erscheinen ließen. Wir sind jetzt ja noch bei der Klärung, wie viel das wirklich ist. Wir haben dann jetzt in der Großen Koalition gehandelt, indem wir die Strukturwandelkommission für die Braunkohlegebiete berufen haben. Ich glaube, es ist auch der richtige Angang, zu sagen: Wir müssen erst die Perspektiven für die Menschen klären und dann darüber reden, welche Braunkohlekraftwerke wir abschalten können; wir können nicht einfach nur den Klimaaspekt sehen und die Zukunft der Menschen nicht sehen. Das ist politisch vernünftig, deshalb wird diese Kommission auch sehr schnell arbeiten und daraus dann die entsprechenden Schlussfolgerungen ziehen. Wir haben uns dann des Weiteren in einem Klimaschutzgesetz verpflichtet, wirklich sicherzustellen, dass die Klimaschutzziele bis 2030 eingehalten werden. Auch das wird sehr, sehr anspruchsvoll sein. Für 2020 unternehmen wir das, was möglich ist und was wir auch vernünftig begründen können.

834 835 836 837

Frage: Frau Bundeskanzlerin, ich möchte auch noch einmal nach Horst Seehofer fragen: Wenn Herr Seehofer sagt, Sie seien nur Kanzlerin, weil er das so wollte, wurmt Sie das dann eigentlich überhaupt nicht? Zweite Frage: Wenn Sie es sich aussuchen könnten, wen würden Sie dann mit in den Urlaub nehmen, Herrn Trump, Herrn Putin oder Herrn Seehofer?

838 839 840 841

Merkel: Die Frage für meinen Urlaub stellt sich für mich nicht. Urlaub ist Urlaub. Zur Frage zu Horst Seehofer kann ich nur das wiederholen, was ich schon gesagt habe: Es war eine harte Auseinandersetzung. Wir haben einen Kompromiss gefunden, der die Handlungsfähigkeit der Regierung sicherstellt, und das ist das, was für mich entscheidet.

842 843 844 845 846 847

Frage: Frau Bundeskanzlerin, können Sie uns sagen, was Ihnen durch den Kopf gegangen ist, als Sie die Pressekonferenz in Helsinki gesehen haben? Haben Sie da gedacht: Ja, da sind zwei Regierungschefs wichtiger Länder und die reden miteinander, das ist ja toll. Oder waren Sie überrascht oder vielleicht sogar besorgt über das, was da gesagt wurde? Weil wir gerade beim Ball spielen sind: Sind Sie erleichtert, dass Sie nicht nach Russland zur WM gefahren sind, um die deutschen Spiele zu sehen?

848 849 850 851 852 853 854

Merkel: Nein, überhaupt nicht erleichtert. Ich wäre, wenn wir nicht die internen Diskussionen gehabt haben, schon gerne gleich zum ersten Spiel gefahren, das sage ich ganz offen, und ich wäre dann gerne noch einmal zum Endspiel wiedergekommen. Ich freue mich jetzt oder gratuliere Frankreich von Herzen – wir haben das Erlebnis vor vier Jahren gehabt. Ich wäre jedenfalls gerne gefahren. Ich bin ja selbst ohne Fußball in Sotschi gewesen. Mit Fußball wäre ich noch lieber oder zumindest aus anderem Grunde nach Russland gefahren, das ist gar keine Frage. Zu Ihrer ersten Frage in Bezug auf die Pressekonferenz: Ich werde dazu keine

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Kommentare abgeben. Ich habe mich gefreut, dass die beiden gesprochen haben, und nehme das, was als Ergebnis da ist, zur Kenntnis. Ich glaube, dass es richtig ist, dass es weitere solche Treffen gibt; denn die ganze Agenda konnte ja überhaupt nicht abgearbeitet werden. Insgesamt liegt mir an verlässlichen Beziehungen zwischen Amerika und Russland. Dass es da Meinungsverschiedenheiten gibt und dass es da auch große und zum Teil tiefe Meinungsverschiedenheiten gibt, ist nicht verwunderlich, denn die gibt es zwischen Russland und Deutschland zum Beispiel auch.

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Frage: Frau Bundeskanzlerin, ich möchte noch einmal auf das Thema Seenotrettung im Mittelmeer zu sprechen kommen. Wir haben eben angemahnt, dass auch zivile Seenotretter die libyschen Hoheitsgewässer respektieren müssen. Dies vorausgesetzt: Unterstützen Sie die Arbeit ziviler Seenotretter? Gerade die Deutschen beziehen sich ja unter anderem auch auf die Cap Anamur, die vor 40 Jahren vietnamesische Boatpeople rettete und damals vom niedersächsischen Ministerpräsidenten Ernst Albrecht sehr massiv unterstützt wurde. Gilt Ihre Wertschätzung für die Arbeit ziviler Seenotretter in vergleichbarer Weise heute?

869 870 871 872 873 874

Merkel: Ich schätze die Arbeit ziviler Seenotretter, selbstverständlich, aber wie Sie es schon gesagt haben: vorausgesetzt, dass auch die Rechtsordnung respektiert wird. Ich schätze sie aber ausdrücklich. Sie haben ja unglaublich vielen Menschen in der Vergangenheit das Leben gerettet. Über die Situation, die wir jetzt haben, haben wir ja erst gesprochen, nämlich dass Italien anmahnt, dass es nicht das einzige verantwortliche Land ist. Mit dieser Situation müssen wir uns jetzt politisch auseinandersetzen.

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Zusatzfrage: Sie haben im Bundestag erklärt, man müsse die libysche Küstenwache auch ihre Arbeit machen lassen. Nun gibt es auch aktuelle Berichte, laut denen zum Teil libysches Küstenwachpersonal daran beteiligt sei, Boote zu versenken, wobei Flüchtlinge ums Leben kommen. Die libysche Regierung kontrolliert bestenfalls ein Viertel der Lager. Ist es in dieser Situation nicht notwendig, dass auch zivile Organisationen außerhalb der Hoheitsgewässer weiterhin eigene Aktivitäten zur Seenotrettung mit deutscher Unterstützung leisten?

881 Merkel: Außerhalb oder innerhalb? 882 Zusatz: Außerhalb, nur außerhalb. 883 884 885 886 887 888 889 890 891 892 893 894 895 896 897

Merkel: Zu außerhalb habe ich mich ja geäußert. Der libysche Ministerpräsident hat es häufig gesagt, gerade heute wieder in einem Interview: Er wünscht sich noch bessere Unterstützung bei der Ausbildung, er wünscht sich bessere Ausrüstung. Wir setzen uns dafür ein – und haben dafür auch finanzielle Unterstützung gegeben -, dass möglichst viele von denen, die zurückgebracht werden, vom UNHCR und der Internationalen Organisation für Migration betreut werden. Die libysche Regierung sagt dann zu Recht: Wir erwarten von euch auch Unterstützung für die Menschen, die ständig in Libyen leben, und nicht nur das Kümmern um Flüchtlinge. Auch das ist richtig, weil das natürlich etwas zu tun hat mit der Frage, ob es offene Lager oder offene Camps in Libyen geben kann – wir plädieren dafür, dass das nicht geschlossene sind. Aber Libyen hat eben sehr, sehr viele Flüchtlinge, die noch gar nicht die Ausreise gemacht haben, und deshalb endet unsere Arbeit auch nicht bei Libyen. Ich unterstütze aber beziehungsweise ich schätze – ich kann es jetzt zum dritten Mal oder zum vierten Mal sagen – dort, wo Menschen Menschen retten – entsprechend der Gesetzlichkeit -, die Dinge, und ich weiß auch, dass die libysche Küstenwache noch weit mehr Unterstützung braucht. Wenn uns solche Fälle bekannt werden, wie Sie sie geschildert haben, dann gehen wir denen nach,

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13 Anhang: Bundespressekonferenzen im Korpus

898 denn wir übernehmen mit der Mission Sophia in gewisser Weise ja auch eine Verantwortung 899 für die libysche Küstenwache. 900 901 902 903 904 905 906

Frage: Frau Bundeskanzlerin, in einem Monat geht das dritte Hilfsprogramm für Griechenland zu Ende, und damit ein ganzes Kapitel der Eurorettung, woran Sie sich maßgeblich beteiligt haben. Für Griechenland brachte aber auch das dritte Programm nicht das nötige Vertrauen, denn sonst würde Griechenland nicht für die nächsten 40 Jahre an erhöhte Primärüberschüsse gebunden. Warum dieses Misstrauensvotum an die heutige Regierung Griechenlands und an die nächste Regierung Griechenlands? Ist das nicht ein Armutszeugnis für die Politik der Rettung Griechenlands?

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Merkel: Ich glaube, dass man doch zwei Dinge in eine Balance bringen muss. Das ist auf der einen Seite die Frage, wie lange wir warten, bis bestimmte Hilfsgelder zurückgezahlt werden, und das ist auf der anderen Seite die Frage, warum man deshalb auch über eine gewisse Zeit weiter Erwartungen – wie zum Beispiel die nach Primärüberschüssen – formulieren muss. Wenn Griechenland keinen Primärüberschuss erwirtschaftet, dann wird es nicht möglich sein, den Schuldenstand zu reduzieren. Wir haben jetzt ja schon eine Vielzahl von Maßnahmen ergriffen, um dabei zu helfen, den Schuldenstand zu reduzieren – immer innerhalb der Regeln, die wir ja auch haben, also dass es keinen Schuldenschnitt im klassischen Sinne innerhalb des Euroraums geben kann. Insofern ist das doch ein guter Kompromiss, wie ich finde. Auf der einen Seite ist das Programm beendet. Ja, aber damit ist Griechenland sozusagen noch nicht wieder in dem Zustand, dass es nie ein Programm gegeben hat. Ich glaube – und ich habe mit dem Ministerpräsidenten Tsipras auch darüber gesprochen -, dass das im August ein wichtiger Tag ist, wenn dieses Programm beendet ist. Aber die Fortwirkung der Programme ist eben mit diesem Tag nicht beendet, und deshalb müssen wir uns auch in der Zukunft aufeinander verlassen können. Ich sehe da also eher einen Vertrauensbeweis, da wir Griechenland ja auch über Jahrzehnte weiter Zeit geben, aus einer schwierigen Situation herauszukommen.

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Zusatzfrage: Sie sollen Tsipras Ihre Zustimmung für den Aufschub der Mehrwertsteuer für die griechischen Inseln signalisiert haben. War das eine Gegenleistung für die Zustimmung Griechenlands zu einem bilateralen Abkommen für die schnelle Rückführung von Flüchtlingen aus Deutschland nach Griechenland?

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Merkel: Ich glaube, es ist schon oft gesagt worden, aber ausdrücklich nein. Ich habe mit ihm intensiv darüber gesprochen, dass wir diese Dinge absolut nicht verquicken, weil das für keinen von uns beiden in irgendeiner Weise gut gewesen wäre, und deshalb hat das auch nicht stattgefunden. Jetzt ist ja ein Weg gefunden worden, wie diese, ich sage einmal, Veränderung des Programms durch die Verlängerung der reduzierten Mehrwertsteuersätze kompensiert wird, und darüber wird ja auch der Haushaltausschuss am 1. August beraten. Ich glaube, dass dieser Weg, der jetzt gefunden wurde, ein guter Weg ist. Es gab jedenfalls keinerlei Vermischung der verschiedenen Dinge.

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Frage: Frau Bundeskanzlerin, bei der Abschiebung von Sami A. fühlt sich das Verwaltungsgericht Gelsenkirchen bewusst getäuscht; zumindest wurden auf jeden Fall Gepflogenheiten, die sonst üblich sind, nicht beachtet. Es gibt Juristenorganisationen, die darin ein Symptom für eine allgemeine Entwicklung sehen. Da gibt es meinetwegen eine Stadt Wetzlar, die eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts nicht umsetzt, die Rechts- und Fachaufsicht reagiert auch auf eine Mahnung des Verfassungsgerichts nicht; es gibt das Diktum von der Anti-Abschiebe-Industrie, das auch in diese Richtung geht. Sehen Sie da eine

13.9 Die Bundespressekonferenz vom 20.7.2018 mit Bundeskanzlerin Angela Merkel 

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942 allgemeine Entwicklung, die Ihnen Sorgen macht? 943 944 945 946 947

Merkel: Für die Bundesregierung kann ich sagen, dass wir Recht und Gesetz einhalten wollen und werden, und dass wir das, wo immer das notwendig ist, auch tun. Ich glaube, dass diese Prinzipien des Rechtsstaats auch richtig und wichtig sind. Im nordrhein-westfälischen Landtag wird heute ja noch einmal über den Einzelfall gesprochen. Das grundsätzliche Bekenntnis ist aber da: Der Rechtsstaat ist die Voraussetzung für Demokratie.

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Frage: Frau Bundeskanzlerin, wer sich mit dem Bereich Pflege beschäftigt, der weiß, dass die 8000 zusätzlichen Plätze, die die Koalition für den Pflegebereich festgeschrieben hat, natürlich viel zu wenig sind. Jens Spahn bemüht sich und will das noch ein bisschen aufbohren, aber das ist ja alles ein Tropfen auf dem heißen Stein. Sie waren jetzt ja in so einer Pflegeeinrichtung und haben die Probleme vor Ort gesehen. Haben Sie eigentlich als Regierungschefin jetzt einen neuen Erkenntnisstand? Wären Sie überhaupt in der Lage, umzuschichten und mehr Geld in System zu geben?

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Merkel: Erstens haben wir ja sehr viel mehr Geld in dieses System gegeben, nämlich 0,5 Prozentpunkte, was über 20 Prozent mehr innerhalb einer Legislaturperiode waren. Jens Spahn hat jetzt schon bekanntgegeben, dass die Leistungen, die wir versprochen und auch zugesichert haben, eine weitere Beitragserhöhung in diesem Bereich notwendig machen, und hinzu kommen noch die zusätzlichen Maßnahmen. Das heißt, beim Thema Geld ist vieles geschehen. Ich bin jetzt ja in dem Pflegeheim gewesen, weil mich ein Pfleger eingeladen hatte. Dort haben mir viele gesagt: Das ist alles richtig, was ihr macht, und das müsst ihr auch machen – Ausbildung verändern, keine Ausbildungsbeiträge mehr, sondern Ausbildungsvergütung, möglichst in einem komplizierten System mit kirchlichen Trägern, öffentlichen Trägern und privaten Trägern, aber auch so etwas wie eine einheitliche Tariflandschaft oder einheitliche Bezahlung für die Pflegekräfte schaffen. Der eigentliche Erkenntnisgewinn dort war aber, dass die Pflegekräfte mir gesagt haben: Wir möchten, dass unser Beruf in einem besseren Zusammenhang steht, dass unsere Arbeit mehr gewürdigt wird. Viele denken bei Pflegekräften nur daran, dass man sich mit alten und schwachen Menschen umgibt, aber sie haben mir immer wieder gesagt, dass sie in dem Moment, in dem mehr Zeit für die Menschen ist, unglaublich viel von den Menschen lernen, dass das wie ein Geschichtsunterricht aus eigenem Erleben ist und dass das eine schöne Arbeit ist. Ich weiß schon, dass wir die Bedingungen verbessern müssen, aber das klingt mir nach: Dass es eine Berufsgruppe ist, die darum kämpft, Anerkennung in der Gesellschaft zu bekommen, und zwar nicht nur dafür, dass sie etwas leistet, sondern auch dafür, dass das ein guter Beruf ist, ein Beruf, in dem man sich verwirklichen kann. Deshalb gehört die Verbesserung der Arbeitsbedingungen, aber auch die Anerkennung dieses Berufsbildes als ein erfüllender Beruf mit dazu. Das war eine der Erkenntnisse, die mir dort sehr klar mit auf den Weg gegeben wurden.

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Vorsitzender Dr. Mayntz: Ich schlage vor, dass ich diesen Zettel mit den vielen Namen von Kolleginnen und Kollegen, die nicht drangekommen sind, aufbewahre und beim nächsten Mal vorrangig behandle. – Für heute schönen Dank. Es gab im Bundestag eine Debatte darüber, ob die Regierungsbefragung ausgeweitet werden soll, und da wurde argumentiert, dass Sie sich, wenn Sie sich der Bundespressekonferenz stellen, natürlich auch dem Bundestag stellen könnten. Diese Parallele fand ich zunächst nicht so toll, denn Sie sind ja laufend im Bundestag und nicht so oft hier. Jetzt haben Sie vereinbart, dass Sie dreimal im Jahr in den Bundestag gehen. Ich finde die Parallele jetzt deutlich besser. Ich gebe Ihnen hiermit jedenfalls die Einladung mit auf den Weg.

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13 Anhang: Bundespressekonferenzen im Korpus

987 Merkel: Im Bundestag hatte ich jetzt erst einmal strengere Regeln, da durfte ich immer nur eine 988 Minute lang auf jede Frage antworten. 989 Vorsitzender Dr. Mayntz: Umso schöner ist es doch bei uns, oder? 990 Merkel: In Bezug darauf ja. Sonst ist es immer besonders schön im Bundestag. – Danke schön.

Stichwortverzeichnis Analyse – grammatische Analyse 7, 8, 19, 78, 88, 189 – interaktionale Analyse 8 – kognitionslinguistische Analyse 51, 243–245, 247, 258, 276, 277, 296 – korpuslinguistische Analyse 6, 54, 57, 78 – pragmatische Analyse 8, 78 – semantische Analyse 8, 88, 173, 189 AntConc 13, 70 Argumentation 1–4, 9, 11, 14, 20, 36, 44, 45, 52, 77, 93, 97, 110, 115–118, 120, 126, 128, 133, 161, 166, 179, 184, 188, 190, 191, 219, 222, 227, 229–231, 236, 239, 241, 280, 282, 285, 290, 291, 296 – argumentationsmodifizierende Kraft 21 – Argumentationsschemata 21 – argumentativer Austausch 4, 113 – Argumentationsverfahren 3 – argumentatives Verfahren 1, 9, 284, 289, 292 – Argumentationsmuster 1, 2, 4, 5, 179 – Argumentationsstruktur 3, 37, 50, 110, 132, 192, 290, 294 – persuasive Argumentation 6, 20, 21, 23, 37, 48, 54, 59, 64, 67, 70, 81, 108, 110, 116, 136, 158, 166, 167, 171, 172, 176, 178, 179, 185, 192, 237, 279, 280–283, 290 – politische Argumentation 3, 4 Diskurs 1, 3–5, 7, 16, 19, 38, 40, 48, 78, 80, 135, 158, 173, 186, 166, 283, 287, 391, 392 – Diskursanalyse 1, 2, 4–7, 11, 14, 16, 17, 20, 22, 36, 37, 40, 41, 49, 52–54, 78–80, 132, 133, 137, 199, 281, 291, 296 – Diskursdeixis (Diskursdeiktika) 40, 179, 181, 185 – Diskursfaktoren 79, 81, 134, 257 – Diskurskontext 2, 4, 5, 7, 10, 37, 47, 53, 54, 76, 78, 103, 105, 110, 175, 184, 186, 194, 195, 236, 238, 244, 252, 257, 260, 282, 283, 285, 291, 296 – Diskurspositionierung 181, 186–188, 210, 221, 231–233, 290 – Diskursreferenziell 4, 239

https://doi.org/10.1515/9783111245263-014

– Diskurswissen 19, 53, 90, 92, 94, 102, 104, 106, 108, 109, 117, 121, 122, 157, 158, 160, 167, 184, 286 – politischer Diskurs 3, 16, 78, 173, 195, 266, 240, 283, 287, 296, 391 Dispräferenz 1, 4, 9, 43–45, 68, 72–74, 110, 116, 118, 126, 201, 202, 216, 217, 220, 221, 232– 237, 239, 241, 242, 292, 294 Dynamiken 10, 52, 53, 245, 257, 258, 261–263, 266, 268, 270, 271, 276, 277, 295, 296 – Kräftedynamik 51, 53, 54, 245, 246, 248, 251, 252, 257, 270, 276, 295 Einstellungen 1–4, 10, 18, 38, 39, 41–44, 50, 53, 72, 73, 80, 103, 104, 108, 109, 112–116, 119, 125–128, 132, 164, 168, 170, 174, 177, 179, 182, 185, 187, 195, 208, 209, 235, 237–239, 259, 263, 277, 284, 286, 289, 293, 294 Form-Funktions-Paar 47–48 Funktion 2–5, 9, 10, 16–18, 20, 35, 37, 44, 46, 47, 49, 50, 55, 78, 80, 102, 104, 108, 110, 116, 118, 119, 125–127, 129, 136, 164, 172, 178, 179, 185, 186, 196, 199, 202, 203, 207, 209– 211, 216, 217, 227, 228, 232, 236, 237, 274, 279, 281, 283, 286, 289–295 – argumentative Funktion 36, 210, 234, 290, 292 – Kontrollfunktion 194, 353 GAT2 9, 12, 13, 37, 116, 133, 191, 210, 234, 280 Gespräch 20, 91, 165, 192, 204, 230, 242, 265, 309, 310–313, 317, 318, 321–323, 339, 343, 345, 366, 369, 373, 376, 380, 381, 387, 397, 400, 401 – Gesprächskomplex 193 – Gesprächssegment 210 – Gesprächsteilnehmer 43, 193, 276 – Gesprächsverlauf 291, 292 – Gesprächskontext 211 Grammatik 2, 6, 7, 11, 14, 15, 17, 40, 54, 77, 78, 164, 281, 291 – klassische Grammatik 2, 296 Handlung 28, 30–32, 35, 37, 38, 42, 45, 46, 53, 64, 72, 89, 90, 96, 97, 100, 101, 103, 108, 109, 113, 127, 130, 131, 135, 161, 162, 179, 194– 201, 203, 211, 217, 219, 220, 231, 236, 245, 247, 254, 259, 272, 277, 284, 292

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Stichwortverzeichnis

– Handlungen durch Sprache / sprachliche Handlung 5, 16, 38, 42, 45, 103, 127, 193, 197, 200, 211, 217, 236, 247, 292, 295 – Handlungskontext 32, 36, 191, 243, 278 – Handlungskoordination 20 – Handlungsplanung 20, 161, 189, 217, 221, 284, 293 – Handlungsrahmen 25–31, 67, 96, 100, 109, 130, 161, 177, 178, 188, 190, 220, 231, 232, 262, 267 – Handlungstypen 195, 196, 211, 212, 223 – Handlungssequenz 9, 44, 197–203, 205, 210– 213, 215–222, 226–233, 235, 236, 240–242, 292 – Handlungssequenzpaar 200, 201 – politische Handlung 2, 3, 72, 76, 80, 101, 113, 116, 130, 132, 135, 219, 220, 231, 238–240, 245, 276, 284, 296 Interaktion 16, 38, 42–48, 50, 52, 56, 77, 110, 113, 114, 119, 124, 125, 128, 159, 171, 175, 181, 188, 191, 193, 194, 196, 199, 201, 210, 218, 219, 230, 232–234, 237, 242, 245, 289, 291, 293, 296 – interaktionale Analyse 8 – Interaktionale Linguistik 43 – interaktionaler Gebrauch 8, 110, 174 – interaktionaler Einsatz 2, 8, 48, 110, 190, 192 – Interaktionsverlauf 232 Klassifikation 7, 14, 17–20, 22, 23, 28, 30, 36, 38, 39, 52, 57, 89, 107, 121, 132, 158, 160, 190, 208, 211, 243, 244, 253, 254 – Modalverbklassifikation 6, 7, 22, 23, 39, 218, 244, 291 Kognition 50 – kognitive Mechanismen 10, 40 Kognitionslinguistik 2, 6, 11, 15, 16, 40, 50–52, 54, 243, 249, 257, 281, 282, 291, 295, 296 – kognitionslinguistische Theorien (Talmy) 2, 16, 51, 52, 249, 266, 267, 278, 295, 296 – Agonist 52, 53, 240, 248, 251, 252, 258, 261, 262, 266, 267, 270, 271, 273, 276, 277 – Antagonist 52, 53, 246, 248, 251, 252, 261, 266, 267, 273, 274, 276, 277 – Figure 51, 249–251, 258–261, 263–277 – Ground 51, 249–251, 258–278

– Aufmerksamkeitsverschiebung (distribution of attention) 10, 51, 52, 54, 244, 245, 248, 249, 251, 252, 257 – Kräftedynamik (force dynamics) 10, 51–54, 244–246, 248, 251, 252, 257, 270, 277, 295, 296 – imaging system 51, 244 – Kausalität (causation) 2, 252, 253, 257, 264, 266, 267, 277 – Tiefenkasus 257, 263 – Tiefenprädikat 252, 253 – kognitionslinguistische Modalverbuntersuchung 10, 51, 278, 295, 296 – kognitionslinguistische Visualisierung 2, 259, 261, 263, 265–272, 274, 275, 278, 296 – kräftedynamische Modellierung 243, 246 – kräftedynamische Visualisierung 51, 276 Kommunikationsstrategie 43, 97, 158, 160, 163, 281, 283 – kommunikative Strategien 167, 195, 198 – kommunikationsstrategische Operationalisierung 43 Kollokation 69, 70, 72, 81, 100, 108, 116, 122 Konsens 2, 3, 25, 34, 35, 45, 106, 172, 194, 202, 210, 233, 235, 236, 238, 245, 292, 293 – Aushandlungsprozess 194, 195, 252, 277, 296 – Konsensaushandlung 9, 42–44, 46, 47, 50, 113, 195, 196, 210, 221, 229, 234, 237, 242, 292 Konstruktion 2, 16, 17, 41, 42, 45–50, 52, 58, 66– 68, 70–73, 75, 82, 83, 93, 105, 110, 112, 114– 116, 119, 122–131, 143, 155, 156, 158, 159, 164, 170, 171, 173, 174, 177, 178, 180, 181, 187, 189, 192, 202, 206, 209, 218–222, 227– 231, 234–239, 241, 245, 265, 269, 270, 272, 275, 285, 287–290, 293, 294 – Konstruktionen mit Modalverben 16, 109, 192, 209, 293 – Modalverbkonstruktion 2, 5, 8, 9, 44–50, 54, 77, 99, 103, 114, 127–129, 133, 159, 165, 171, 188, 191, 192, 205–210, 219, 228, 229, 231, 234–239, 241, 290, 293, 294 Konstruktionsgrammatik 2, 9, 16, 17, 46, 54, 78, 110, 190, 206, 207, 234, 282, 291, 295, 296 – konstruktionsgrammatische Formel 50, 206, 208

Stichwortverzeichnis

– konstruktionsgrammatische Untersuchung 8, 190, 191, 207, 240, 269 – Konstruktionskomponenten 49, 206–208 Kontext 2, 23, 26, 29, 32, 39, 40–42, 44, 52, 53, 64, 77, 78, 89, 90, 99, 101, 102, 107, 114, 129, 132, 166, 170, 177, 179, 188, 190, 192, 197 – interaktiver Kontext 41 – situativer Kontext 41, 132, 290 Konversation 4, 9, 42–47, 49, 50, 54, 110, 111, 113, 117, 129, 191–197, 200–202, 204–206, 209–211, 216, 217, 219, 222, 216, 227, 234, 237–239, 241, 293, 294 – Konversationsanalyse 2, 6, 9, 14, 16, 17 45, 46, 54, 110, 190, 192, 195, 196, 210, 216, 222, 281, 283, 291, 295, 296 – Konversationelle Hilfeleistung 236, 237, 242 – Konversationsstruktur 196, 202–204, 221, 222, 240, 242, 293 – konversationelles Verfahren 9 – konversationsanalytische Untersuchung 8, 9, 13, 44, 45, 190, 191–193, 195, 221, 222, 230, 234, 240, 280, 290, 292 – Konversationssegmentierung 205, 210 – Konversationsverlauf 42, 43, 45, 46, 48, 110, 194, 195, 205, 206, 210, 216, 222, 226, 228, 231, 235, 241, 292, 294, 295 Korrektur 4, 116, 341, 342, 358, 389 – Korrektur-Charakter 128, 238, 239, 292 Korpus 2, 6, 7, 10–12, 16, 17, 22, 23, 44, 48, 54– 57, 59, 64, 66–68, 70, 73, 74, 76, 94, 125, 132, 139, 163, 178, 181, 182, 187, 191, 205, 220–222, 227, 230, 232, 240, 241, 243, 253, 257, 260, 262, 265, 268–270, 274, 275, 279, 280, 282, 283, 285, 287, 288, 291, 292, 294, 295 – Korpusanalyse 75, 206, 281, 282, 293 – Korpuslinguistik 6, 13, 17, 22, 54, 56, 70, 72, 78, 190, 291 Marker 230 – Dispräferenzmarker 43–45, 234, 239, 241, 294 – Einstellungsmarker 44 – Konsensmarker 228 – Präferenzmarker 43, 44, 234 Makroebene 6, 7, 22, 24, 107, 132, 134, 135, 169, 186, 188, 281, 289, 291 Mesoebene 6, 22, 24, 134, 135, 169, 291



413

Mikroebene 6, 22, 24, 97, 106, 134, 135, 188, 288, 291 Modalität 3, 14, 16, 18, 19, 37, 50, 140, 185, 246 – modale Stärke 17, 170 Modalverb – deontische Modalverben 4, 18–20, 25, 33, 34, 36, 39, 56, 57, 74, 259, 260, 283 – extrasubjektive Modalverben 18, 23, 33, 89– 95, 97, 98, 100, 157, 184, 247, 286 – epistemische Modalverben 19, 175, 227 – handlungsraumbezogene Modalverben 6, 20, 23, 26, 27, 33, 57, 58, 63, 64, 67, 74, 82, 87, 88, 96, 98, 99, 101, 109, 111, 112, 116, 122, 123, 125, 128, 130, 131, 139, 140, 152, 154, 155, 158, 171, 172, 175, 188–190, 192, 217, 218, 222, 228, 230, 231, 234, 241, 247, 258, 259, 270, 274, 277, 282, 284–287 – intrasubjektive Modalverben 18, 23, 24, 32, 33, 88, 89, 90–95, 97, 104, 157, 244, 247, 257, 286 – zielbezogene Modalverben 6, 20, 23, 33–36, 53, 57, 58, 63, 64, 67, 75, 82, 84–88, 101, 104, 105, 108–111, 122, 123, 126, 128, 131, 139, 140, 147–152, 154, 171, 174, 175, 180, 186–188, 190–192, 217, 219, 222, 230, 235, 240, 247, 258, 269, 270, 271, 277, 281, 282, 284, 287–289 Modalverbanalyse 8, 78, 194, 208, 229, 232, 243, 245, 279, 282, 291, 295 – Grammatische Modalverbanalyse 7, 8 – Diskursive Modalverbanalyse 8 – Empirische Modalverbanalyse 138 – Exemplarische Modalverbanalyse 7, 191 – Kognitionslinguistische Modalverbanalyse 10, 51, 277 Modalverbbedeutung 2, 122, 209 Modalverbeinsatz 2, 9, 20, 45, 53, 54, 97, 116, 129, 130, 137, 138, 149, 190, 191, 195, 210, 211, 230, 233, 240, 279, 280, 292 Modalverbgebrauchsmuster 5–8, 282, 283, 291, 296 Modalverbfrequenz 189 Modalverbfunktion 103, 202, 282 Modalverbklassifikation 6, 7, 23, 218, 244, 291 Modalverbkonstruktion 5, 9, 45–50, 54, 77, 103, 127, 129, 133, 171, 191, 192, 205–207, 209, 210, 219, 228, 231, 234–239, 290, 293, 294

414 

Stichwortverzeichnis

Modalverbsemantik 1–4, 22, 51, 156, 157, 164, 170, 173, 211, 228, 240, 244, 248, 249, 251, 282, 284, 293, 294, 296 Modalverbtypologie 78 Modalverbuntersuchung 1, 38, 44, 61, 190–192, 195, 240, 292, 293, 295 – Quantitative Modalverbuntersuchung 11 Modalverbverwendung 2, 5, 7, 9, 10, 11, 14, 17, 21, 22, 39, 56, 63, 78, 79, 91, 93, 110, 128, 163, 189, 190, 191, 282, 283, 291, 293, 296 – Modalverbverwendungsmuster 2 Modifikationsfunktion 21 Muster 4, 5, 7, 9, 16, 19, 23, 36, 47, 132, 163, 172, 177, 183, 190, 206, 207, 243, 245, 269, 282, 286, 290, 291, 294 – Musterhaftigkeit 4, 5, 23, 49, 133, 170, 243, 282, 286, 287, 291 N-Gramm 71, 72, 75, 290, 291 – Modalverb-N-Gramme 7, 70 – N-Gramm-Analyse 71, 72, 289 Perspektivenreflexion 20, 239 Politischer Sprachgebrauch 17, 33, 35, 41, 111, 251, 257, 268 Politolinguistik 1 Pragmatik 1, 2, 6, 11, 16, 17, 36, 37, 40, 53, 54, 74, 78, 108, 132, 281, 283, 291, 292 Prädikationsklassen (von Polenz) 208, 209, 293 – Aktionsprädikate 208 – Genusprädikate 208 – Perspektivenprädikate (Ergänzung durch Fábián) 208, 209 – Prozessprädikate 208 – Statusprädikate 208 – Qualitätsprädikat 208 Perspektivenverschiebung 2 Perspektivenwechsel 3, 4, 44, 219 Politische Kommunikation 1, 4, 5, 10, 19, 20, 25, 38, 43, 44, 54, 69, 79, 96, 100, 108, 126, 132, 134, 154, 155, 157, 159, 175, 176, 179, 195, 197, 199, 228, 239, 248, 266, 270, 273, 278, 280, 281, 285, 278 Praktiken 3, 66, 197 – Kommunikative Praktiken 5, 45, 136 Redehintergrund 20, 22, 23, 24, 26, 27, 29, 34, 36, 90, 100, 109, 122, 129, 157–159, 164, 174, 181–183, 188, 190, 217, 218, 227, 231, 232, 243, 257, 259, 291

– circumstantiell 20, 23, 26–30, 33, 34, 67, 73, 89, 91, 97, 98, 100, 106, 107, 109, 121, 130, 131, 158, 160, 162, 164, 166, 168–170, 173, 176, 178, 188–190, 218, 220, 221, 230, 231, 241, 244, 258, 260, 262, 267, 284, 285, 287, 289 – epistemisch 24, 25 – normativ 26, 27, 28, 33–35, 109, 131, 157, 158, 176, 218, 227, 231, 232, 289 – stereotypisch 24, 25 – teleologisch 28, 31, 33, 34, 67, 97, 103, 105– 107, 131, 159, 160–162, 165, 170–174, 176– 178, 182, 186–190, 218, 227, 231, 241, 262, 267, 269, 273, 274, 286, 288, 289 – volitiv 29, 32–36, 73, 75, 104, 157, 158, 164, 174, 181–184, 187, 190, 217, 232, 270–272, 288 Rederecht 20, 44, 45, 129, 193, 194, 216, 230, 294 Referenz 69, 70 – Referenzwert 51, 42 Qualitative Analyse 36, 48, 50 Quantitativ – quantitative Analyse 11, 76, 283 – statistische Analyse 63, 74, 75, 141, 280, 282 Satzserialisierung 2, 21, 185 Semantik 2, 4, 6, 11, 14, 16, 17, 24, 26, 29, 32, 35– 37, 40, 47–49, 50, 52, 53, 66, 67, 72, 75, 90, 91, 94, 105, 107, 108, 110–112, 119, 124, 126, 128, 131, 132, 156, 161, 162, 166, 173, 179, 180, 186, 187, 194, 195, 207, 209, 218, 220, 227–229, 232, 237–241, 274, 251, 255, 257, 262, 264, 266, 268, 270, 272, 273, 276, 279, 281, 284, 288–291, 293, 295 – semantische Rollen 245, 253–257, 260, 262, 263, 266, 276, 295, 296 Sequenz 43–45, 194, 196, 204, 211, 212, 215–217, 219, 221–223, 227–229, 238, 240 – Handlungssequenz 9, 44, 197–203, 205, 210– 213, 215–222, 226–233, 235, 236, 240–242, 292 – Handlungssequenzpaar 200, 201 – Handlungssequenzpaarerweiterung 201 – Handlungssequenzklassifikation 199, 211 – Konversationssequenz 44, 216, 227 – Sequenzialität 196 – Sequenzpaar 196, 200, 201 Sprechakttheorie 37–39

Stichwortverzeichnis

– Illokution 37, 38, 80, 81, 97 – Perlokution 53, 81, 136 Sprecherwechsel 20, 43, 204, 205, 217 Statistik 7, 13, 56, 82, 84, 87, 119, 133, 137, 152, 275 – Gesamtstatistik 77, 85, 87 – Statistikauswertung 6, 54, 55 – statistische Auswertung 155, 280 – statistische Korpusanalyse 75 structures and processes of politics 79, 80, 134 Syntax 48, 109, 263, 278 Telizität 107, 108, 128, 180, 187 Token 11, 48, 56, 59, 70–73, 79–81, 99, 138–141, 173, 187, 188, 206, 207, 265, 279 Topologie 290 Type 159, 190 Typologie 22, 23, 78 Transkript 211, 212, 216, 217, 219, 222, 223, 226, 227, 230, 231, 237, 238, 240, 241 – Basistranskript 210 – GAT 2 9, 12, 13, 77, 133, 191, 210, 234, 280



415

– Transkription 191, 216, 222, 280 Turn 10, 44, 52, 194, 219–222, 226–233, 235, 237–243, 292–294 Untersuchung 1, 2, 5, 7, 9, 11, 17, 22, 23, 37, 46, 48, 51, 57, 77, 78, 81, 94, 107, 130, 175, 186, 192, 207, 210, 222, 231, 238, 243, 252, 255, 282, 283, 290, 291, 295 – grammatische Untersuchung 2, 7, 8, 243, 244 – interaktionslinguistische Untersuchung 269 – kognitionslinguistische Untersuchung 10, 54, 243, 257, 295 – konstruktionsgrammatische Untersuchung 8, 191, 207, 269 – konversationsanalytische Untersuchung 8, 9, 13, 44, 45, 190–193, 195, 221, 222, 230, 234, 240, 280, 292 – korpuslinguistische Untersuchung 22, 56, 72, 291 – pragmatische Untersuchung 8, 199 – semantische Untersuchung 2, 8, 296