Mittelosteuropäische Migrantinnen in Berlin: Transnationale Prozesse: Bildung, Erwerbstätigkeit, Familie 9783839441466

Observation with participation, at times with active participation - empirical study about female migrants from Central

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Mittelosteuropäische Migrantinnen in Berlin: Transnationale Prozesse: Bildung, Erwerbstätigkeit, Familie
 9783839441466

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Inhalt
1. Mittelosteuropäische Migrantinnen in Berlin
2. Berlin – Stadt der Vielfalt und der Migranten
3. Feldforschung und Interviews in Berlin
4. Erlebnis, Erinnerung, Erzählung – Verständnis und Interpretation von Lebensgeschichten: ein Forschungsüberblick
5. Migrationsforschung auf zwei biographischen Pfaden
6. Migrationsmotive, Handlungsvermögen, Statuspassagen mittelosteuropäischer Migrantinnen
7. Migrantinnen in familiären Kontexten
8. Arbeitsmigrantinnen – von der temporären Ressource zur permanenten Zuwanderung
9. Bildungsmigrantinnen und Au-pairs – mitgebrachtes und erweitertes kulturelles Kapital
10. Heiratsmigrantinnen – binationale Familienbildung und der schwierige Weg zu einer beruflichen Arbeit
11. Transnationale Lebensformen und Alltagspraktiken mittelosteuropäischer Migrantinnen in Berlin
12. Mütterliche Strategien zur Zukunft ihrer Kinder
13. Schlussbetrachtung
Verzeichnis der Tabellen
Literaturverzeichnis

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Helga Jockenhövel-Schiecke Mittelosteuropäische Migrantinnen in Berlin

Kultur und soziale Praxis

Helga Jockenhövel-Schiecke (Dr. phil.) lebt in Berlin und forscht zu Migranten und Geflüchteten. Sie war langjährige Flüchtlingsreferentin in einer internationalen NGO mit dem Themenschwerpunkt »Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge«.

Helga Jockenhövel-Schiecke

Mittelosteuropäische Migrantinnen in Berlin Transnationale Prozesse: Bildung, Erwerbstätigkeit, Familie

Zugleich Dissertation an der Freien Universität Berlin, Fachbereich Politik- und Sozialwissenschaften, Institut für Sozial- und Kulturanthropologie, Oktober 2016

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2017 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Satz: Francisco Bragança, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-4146-2 PDF-ISBN 978-3-8394-4146-6 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

1. Mittelosteuropäische Migrantinnen in Berlin  | 9 1.1 1.2 1.3 1.4

Das Thema und der Kontext | 9 Das multinationale Sample und die Forschungsinhalte  | 11 Zur biographischen Methode  | 13 Der konzeptionelle Rahmen | 14 1.4.1 Die »neue« Ost-West-Migration  | 14 1.4.2 Asymmetrische Zeitgeschichte in Mittelosteuropa und in der Europäischen Union  | 16 1.4.3 Feminisierung der Migration | 20 1.4.4 Migrantenvielfalt und Transnationalität als urbane Phänomene | 22 1.4.5 Deutschland ein Einwanderungsland? Widersprüche und Wandel der Zuwanderungspolitiken | 26

2. Berlin – Stadt der Vielfalt und der Migranten  | 31 2.1 »Vielfalt fördern – Zusammenhalt stärken« | 33 2.2 »Peuplierungspolitik« und Zuwanderung im alten Berlin  | 35 2.3 Stadt ohne Migranten – die Jahre von 1933 bis 1964 | 37 2.4 West-Berlin – die größte türkische Stadt außerhalb der Türkei | 39 2.5 Das wiedervereinigte Berlin – Einwanderungsstadt under construction | 40 2.5.1 Baustellen für Teilhabe und Chancengleichheit | 43 2.6 Die »neuen« Migranten aus mittelosteuropäischen Ländern – Zuwanderungstrends, Frauenanteile, Einbürgerungen | 48 2.6.1 »Sie wollen sesshaft werden« Roma-Zuwanderer aus Bulgarien und Rumänien | 55 2.7 Transnationale migrantische Räume in der Stadt | 58 2.7.1 Polski Berlin | 58 2.7.2 Das russischsprachige Berlin | 62

3. Feldforschung und Interviews in Berlin  | 73



3.1 3.2 3.3 3.4 3.5 3.6

Zugänge zum Forschungsfeld | 73 Begegnungen mit Migrantinnen | 76 »Doing biography« interaktive Datenproduktion mit der Migrantin | 80 Anmerkungen zur Interviewsprache | 83 Erzählbarkeit und Nichterzählbarkeit von Lebensereignissen | 84 Resümee: Autobiographische Erzählungen als Forschungsdaten | 88

4. Erlebnis, Erinnerung, Erzählung – Verständnis und Interpretation von Lebensgeschichten: ein Forschungsüberblick  | 91 4.1 4.2 4.3 4.4 4.5

Die Sicht der Biographieforschung – retrospektive Rekonstruktion | 93 Ansätze der Oral History – subjektive Erfahrungsgeschichte | 96 Erkenntnisse der neurowissenschaftlichen Gedächtnisforschung – soziale (Re-)Konstruktion im autobiographischen Gedächtnis | 98 Wahre Lebensgeschichten? Zum Quellenverständnis dieser Studie | 100 Exkurs: biographisches Erzählen im postsozialistischen Mittelosteuropa | 102

5. Migrationsforschung auf zwei biographischen Pfaden  | 107 5.1 5.2

Beispiele deutschsprachiger biographischer Migrationssforschungen | 109 Zur Interviewsprache in sprachübergreifenden Migrationsstudien  | 112

6. Migrationsmotive, Handlungsvermögen, Statuspassagen mittelosteuropäischer Migrantinnen  | 115 6.1 6.2 6.3 6.4 6.5 6.6

Gendertypische Motivbündel in der postsozialistischen Transformation | 115 Hauptmotive und Formen der Migration | 118 Das (ideale) Migrationsalter | 121 Handlungsvermögen der Migrantinnen | 122 Statuspassagen: grenzüberschreitende Bildungs-, Berufs- und Erwerbsprozesse | 123 Gender als Strukturprinzip von Migration | 125

7. Migrantinnen in familiären Kontexten  | 129 7.1 7.2 7.3 7.4 7.5

Zuwanderung von Migrantenpaaren | 129 Gründe der nachfolgenden Migration von Ehefrauen  | 132 Töchter werden »mitgenommen« in die Migration | 134 Bildungs-, Berufs- und Erwerbsprozesse | 136 Resümee: nachfolgende Migration in familiären Kontexten  | 138

8. Arbeitsmigrantinnen – von der temporären Ressource zur permanenten Zuwanderung  | 141 8.1 8.2 8.3 8.4 8.5

Arbeitsmigration in biographischen Erzählungen | 142 Transnationale Mütter und ihre Kinder | 147 Informelle transnationale Netzwerke als soziales Kapital polnischer Arbeitsmigrantinnen | 152 Bildungs-, Berufs- und Erwerbsprozesse | 155 Resümee: Berliner Optionen – Ehe, Kinder, Arbeit und Weiterbildung | 157

9. Bildungsmigrantinnen und Au-pairs – mitgebrachtes und erweitertes kulturelles Kapital  | 159 9.1 9.2 9.3 9.4 9.5

Au-pair als Schnupperkurs für eine Migration | 162 Studium und Promotion als Migrationsstrategie – mehrdimensionale Statuspassagen in biographischen Erzählungen | 167 Resümee: Chancengleiche Teilhabe als hochqualifizierte Fachkräfte am Berliner Arbeitsmarkt | 177 Feminisierung der Bildungsmigration aus mittelosteuropäischen Ländern | 183 Zuwanderung gegen den Fachkräftemangel: Bildungsmigranten an deutschen Hochschulen | 185

10. H eiratsmigrantinnen – binationale Familienbildung und der schwierige Weg zu einer beruflichen Arbeit  | 189 10.1 Migrationsmotiv: Liebe, Ehe und Familienbildung | 190 10.2 Binationale Ehen und Partnerschaften | 192 10.3 Heiratsmigrationen aus Mittelosteuropa: biographische Vielfalt | 195 10.4 Resümee: Individualisierte Migrationsverläufe und schwierige berufliche Statuspassagen | 201 10.5 Arbeitssuche und Erwerbstätigkeit in Berlin | 206

11. Transnationale Lebensformen und Alltagspraktiken mittelosteuropäischer Migrantinnen in Berlin  | 211 11.1 11.2 11.3

Transnationale migrantische Räume – empirische Forschungen und theoretische Modelle im Überblick | 211 Studien über transnational pendelnde Migranten zwischen Polen und Russland nach Deutschland | 215 Transnationale Lebensweisen und Alltagspraktiken der mittelosteuropäischer Migrantinnen in Berlin und ihre Indikatoren | 221 11.3.1 Zweisprachigkeit | 223 11.3.2 Bildungskapital und Erwerbstätigkeit | 224 11.3.3 Die transnationale Familie: doing family auf der digitalen Brücke | 227 11.3.4 Mobilität und Gefühle transnationaler Zugehörigkeiten | 232 11.4 Exkurs: Wiedervereinigung einer transnationalen Familie in Berlin | 238 11.5 Resümee: Transnationale Beziehungen mittelosteuropäischer Migrantinnen – familiengebunden und gendertypisch | 240

12. Mütterliche Strategien zur Zukunft ihrer Kinder  | 243 12.1 Die Kinder der Migrantinnen und ihre Familien | 244 12.2 Sozialisationsziel: Bilingualität in der Muttersprache und in Deutsch | 245 12.3 Simultaner bilingualer Spracherwerb | 249 12.4 Erwerb der deutschen Zweitsprache bei monolingual aufgewachsenen Kindern | 250 12.5 Außerfamiliäre Ressourcen zur Förderung mittelosteuropäischer Muttersprachen: Kindergärten, Samstagsschulen, Schulen | 253 12.6 Resümee: Die Bilingualität der Kinder – ein transnationales kulturelles Kapital im mehrsprachigen Europa | 259

13. Schlussbetrachtung  | 261 Verzeichnis der Tabellen  | 269 Literaturverzeichnis  | 271

1. Mittelosteuropäische Migrantinnen in Berlin

Im Zentrum dieser empirischen qualitativen Migrationsstudie stehen Migrantinnen aus dreizehn mittelosteuropäischen Ländern, die seit Beginn der »neuen« Ost-West-Migration 1989/1990 (Koser/Lutz, 1998) ihre Herkunftsländer verlassen haben und in Berlin zugewandert sind. Die Migrantinnen sind erwerbstätig oder suchen eine Arbeit, haben ein Studium oder eine Weiterbildung absolviert, leben in einer Ehe oder Partnerschaft und sind Mütter eines Kindes oder mehrerer Kinder. Hundert Migrantinnen haben in biographischen Interviews und mit ihren Erzählungen die essenziellen Daten beigetragen, die die Grundlage dieser Studie bilden. Die Herkunftsländer der Migrantinnen sind Estland, Lettland, Litauen, Polen, Tschechien, die Slowakei, Ungarn, Rumänien und Bulgarien, die seit 2004 bzw. 2007 Mitglieder in der Europäischen Union sind sowie Weißrussland, Russland, die Ukraine und Moldawien, die nicht zur EU gehören und sog. Drittstaaten sind1.

1.1 D as Thema und der K onte x t Ziel der Forschung war es, Wissen zu generieren über Migrationsmotive, Migrationsprozesse und die Lebensrealität der Migrantinnen in Berlin aus ihrer emischen Sicht als Akteurinnen (Schütz/Luckmann, 1979) und über ihre Handlungsorientierungen bei der beruflichen Verwertung ihres mitgebrach1 | Die Einwohnerzahl in diesen Ländern ist sehr verschieden, sie beträgt in Estland 1,3 Mio. (2010), Lettland 2,2 Mio. (2010), Litauen 3,1 Mio. (2012), Polen 38,2 Mio. (2011), Tschechien 10,5 Mio. (2009), der Slowakei 5,4 Mio. (2011), Ungarn 9,9 Mio. (2013), Rumänien 19 Mio. (2011), Bulgarien 7,4 Mio. (2011) sowie in Weißrussland 9,5 Mio. (2009), Russland 142 Mio. (2011), in der Ukraine 45,7 (2011) und in Moldawien 3,5 Mio. (2011).

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Mittelosteuropäische Migrantinnen in Berlin

ten und in Berlin meist erweiterten kulturellen Bildungskapitals (Bourdieu, 1983/1992; Nohl et al., 2010a). Weitere Forschungsinhalte waren die transnationalen Lebensformen der Migrantinnen und ihre Beziehungen zur Familie im Herkunftsland sowie die mütterlichen Strategien zur Zukunft ihrer Kinder, insbesondere zu deren früher Bilingualität. Die »neue« Migration aus Mittelosteuropa ist aufgrund ihres politischen Kontextes einzigartig. Nach den Jahrzehnten der Abschottung während der Kalten Krieges war nach 1989/1990 erstmalig eine Migration in ein westeuropäisches Land möglich, auch mit der Option einer Rückkehr, wie es sie bei einer Flucht in den Jahrzehnten zuvor nicht gegeben hätte. Gleichzeitig brachten die Transformationsprozesse mit dem Umbau der sozialistischen in neoliberale Gesellschaftsordnungen eine deutliche Verschlechterung der Lebensumstände mit sich – insbesondere für Frauen. Während Frauen zuvor aufgrund des »Staatsfeminismus« in den sozialistischen Arbeitsgesellschaften gleichgestellt waren und ein sicheres Einkommen hatten, führten die Transformationen in den mittelosteuropäischen Ländern zum Abbau von Frauenberufen, zum Mangel an bezahlter Arbeit und an Studienplätzen. Diese Transformationen in den Herkunftsländern hatten gendertypische Motive und Motivbündel der Frauen für ihre Migration zur Folge (Gal/Kligman, 2000a; Jähnert et al., 2001; Uspenskaja/Borodin, 2004; Kapitel 6). Zum Kontext jeder Migration gehören die Rechtsgrundlagen. Für Migranten2 aus mittelosteuropäischen Ländern gelten seit den beiden Osterweiterungen 2004 und 2007 in der Europäischen Union zwei völlig unterschiedliche Migrationsregime: Bürger der EU haben Freizügigkeit für die Zuwanderung und Arbeitssuche in Ländern der Union (Kayser, 2005-2011), Migranten aus Weißrussland, Russland, der Ukraine und Moldawien sind als Drittstaatenangehörige von der EU-rechtlichen Freizügigkeit ausgeschlossen. Für sie galt in Deutschland bis 2004 das Ausländerecht, seit 2005 regelt das Zuwanderungsgesetz (ZuwG) mit seinen mehrfachen Änderungen in Artkel 1, dem Aufenthaltsgesetz (AufenthG), die Einreise und den Aufenthalt von Migranten aus Drittstaaten. Rechtliche Regelungen der Freizügigkeit oder der Drittstaatenangehörigkeit haben erhebliche Folgen für das Leben der Zuwanderer. Migranten aus Drittstaaten benötigen zur Einreise ein Visum und erhalten eine Arbeitserlaubnis nur nachrangig zu Deutschen und Migranten mit dauerhaftem Aufenthalt. Ein Nachzug ihrer Kinder ist bis zu deren 16. Lebensjahr eingeschränkt und an Auflagen gebunden, während Migranten aus EU-Ländern ihre Kinder bis zu deren 21. Lebensjahr nachholen können.

2 | Ich verwende die maskuline Form des Substantivs für eine bessere Lesbarkeit des Textes, wenn beide Geschlechter gemeint sind, wie in diesem Satz: Migranten und Migrantinnen, Bürger und Bürgerinnen.

1. Mittelosteuropäische Migrantinnen in Berlin

Das politische Umfeld der Ost-West-Migration in Europa hat sich stark verändert, die knapp fünfundzwanzig Jahre der »neuen« Migration müssen aufgrund aktueller Entwicklungen als die »gute alte Zeit« bezeichnet werden. Seither ist Europa mit der EU zu einem Kontinent der Krisen geworden. Rechtspopulisten und Nationalisten sind in vielen Ländern erstarkt, sowohl im Westen wie im Osten, wo eine Generation nach Ende des Kalten Krieges dessen Schatten erneut spürbar werden. Russland wendet sich immer öfter gegen die Politik der Europäischen Union, vor allem gegen ihre Erweiterung nach Osteuropa. Das wurde in der Ukraine deutlich: bei den Maidan-Unruhen in Kiew (2013), mit der Annexion der Krim (2014) und der russischen Unterstützung der Separatisten in der Ostukraine. Und in der Europäischen Union, in der jahrzehntelang Friede und Wohlstand mit einer Politik der Kompromisse gesichert worden ist, schwindet das Vertrauen der Bürger in die EU-Institutionen. Es entwickeln sich gewaltige Fliehkräfte, am deutlichsten mit dem Brexit (2016). Beim Thema »Zuwanderung« scheinen gemeinsame Lösungen in der EU kaum noch möglich. Beispiele sind Ungarn und Polen, die sich weigerten Flüchtlinge entsprechend einer EU-Quote aufzunehmen (2015) und England, wo die Migration aus Mittelosteuropa und die kleinen Lädchen der Migranten mit heimatlichen Waren in englischen Städten zu den Begründungen des Brexit zählten.

1.2 D as multinationale S ample und die F orschungsinhalte Das multinationale Sample der hundert Migrantinnen für die Interviews habe ich während der Feldforschung in Berlin von November 2009 bis Dezember 2011 zusammengestellt, teilweise mit Hilfe des Schneeballsystems und mit einem theoretical sampling in Anlehnung an Glazer/Strauss (1967/2005; Kapitel 3.2). Neunundfünfzig Frauen waren aus neun mittelosteuropäischen EULändern zugewandert und einundvierzig Migrantinnen aus den vier Ländern, die nicht zur Europäischen Union gehören (Tabelle 8). Die unterschiedliche Bevölkerungsgröße der Herkunftsländer spiegelt sich in der Zusammensetzung des Samples: Die beiden Extreme sind das kleine Estland mit 1,3 Mio. (2010) Menschen und vier Migrantinnen im Sample und Russland, das größte Land in Mittelosteuropa, mit 142 Mio. (2011) Einwohnern und fünfzehn interviewten Frauen. Frauen aus den EU-Ländern sind in der Regel im Alter zwischen 25 und 30 Jahren migriert, Migrantinnen aus den Nicht-EU-Ländern waren mit 20 bis 25 deutlich jünger. Fünfzig Migrantinnen sind in der ersten Dekade der »neuen« Migration zwischen 1989 bis 2000 zugewandert, fünfzig in der zweiten Dekade von 2001 bis 2011. Zur Zeit der Interviews lebten sie zwischen zwanzig

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Mittelosteuropäische Migrantinnen in Berlin

Jahren und sechs Monaten in Berlin und hatten ihre Migration in vier Formen mit unterschiedlichen Rechtsgrundlagen vollzogen: • • • •

14 Frauen migrierten mit ihrer Familie, neun Ehefrauen und fünf Töchter, 12 Frauen waren Arbeitsmigrantinnen, 33 kamen als Bildungsmigrantinnen, davon zehn Au-pairs, 41 Frauen waren Heiratsmigrantinnen, die zu ihrem (zukünftigen) Ehemann zur Familiengründung zuwanderten.

In den Interviews wurde deutlich, dass für die meisten Migrantinnen ihr transnationaler Bildungsprozess und daran anschließend eine angemessene und ausbildungsadäquate Erwerbstätigkeit in Berlin im Mittelpunkt ihrer Biographie stehen. Mit diesem Lebensziel folgen sie dem mittelosteuropäischen Frauen-Leitbild (Gal/Kligman, 2000a; 2000b; Jähnert et al., 2001) und deshalb waren die Statuspassagen der Migrantinnen ein zentraler Bereich in der Forschung (Kapitel 6.5). Zu Beginn ihrer Migration hatten die meisten Frauen wegen geringer oder fehlender Deutschkenntnisse vor allem Sprachschwierigkeiten. Später mussten gerade Bildungsmigrantinnen und hoch-qualifizierte Frauen – die mehr als ein Drittel des Samples bilden – damit zurechtkommen, dass ihre Diplome aus dem Herkunftsland nicht anerkannt wurden oder höchstens als Teilleistungen für ein weiteres Studium in Deutschland verwendet werden konnten. Fast alle Bildungsmigrantinnen absolvierten ein zweites Studium in Berlin und alle arbeiteten gleichzeitig für ihren Lebensunterhalt in verschiedenen Jobs als Werkstudentinnen. Das verlängerte ihre Studiendauer um einige Jahre und wenn partnerschaftlich-familiäre Probleme hinzukamen benötigten einige Migrantinnen erheblich mehr Zeit bis zum ihrem zweiten Studienabschluss (Kapitel 9.2). Weitere Forschungsinhalte ergaben sich bei den Interviews und aus den biographischen Erzählungen der Migrantinnen. Ein Thema war ihre Beschreibung Berlins als beliebte Zuwanderungsstadt, deren migrantische mittelosteuropäische Räume sie gerne nutzen, um ihre Alltagspraktiken transnational anzureichern, mit dem Einkauf vertrauter Lebensmittel, einem muttersprachlichen Kirchgang oder dem bilingualen Kindergarten für ihr Kind (Kapitel 2.7). Viele Migrantinnen haben im Laufe der Jahre Zugehörigkeitsgefühle zu Berlin als ihrem Lebensmittelpunkt entwickelt, die sie gut mit Gefühlen der Zugehörigkeit zu ihrem Herkunftsland verknüpfen können – sei es Litauen, Tschechien, Russland oder anderswo. Die multiplen Zugehörigkeiten und ihre narrativen Identitätskonstrukte haben die Migrantinnen variantenreich beschrieben (Pfaff-Czarneka, 2012; Kapitel 11.3.4).

1. Mittelosteuropäische Migrantinnen in Berlin

1.3 Z ur biogr aphischen M e thode Für die Forschung habe ich einen Methodenmix verwendet, in dessen Zentrum leitfadengestützte biographische Interviews mit den Migrantinnen standen, um vergleichbare lebensgeschichtliche Daten zu erhalten und gleichzeitig den Frauen möglichst oft die Gelegenheit zu geben, biografische Narrationen beizutragen über lebensgeschichtliche Ereignisse und über ihre Handlungsorientierungen. Die Migrantinnen haben mit ihren eigenen Worten ihren Alltag in Berlin und ihre transnationalen Lebensformen beschrieben, ihren Gefühlen, Ängsten und Hoffnungen Ausdruck verliehen und so ihre emische Sicht auf ihr Leben und ihren Migrationsprozess als Grundlagen der Forschung beigetragen. Biographische Interviews sind für eine Migrationsforschung besonders geeignet, denn sie vermitteln eine doppelte Perspektive, die Sicht der Migrantin auf ihr Leben – die Innensicht – und gleichzeitig eine Sicht auf das gesellschaftliche und strukturelle Bezugssystem ihres Lebens – die Außenperspektive – sowohl im Herkunftsland als auch im Migrationsland (Rosenthal, 2005; Bukow/Spindler, 2006). Biographische Interviews machen Migrationsprozesse in ihrer Ganzheit sichtbar, sie lassen die Verknüpfungen mit den sozio-strukturellen Lebensbedingungen erkennen und geben Einblick in individuelle Erfahrungen mit Handlungsbeschränkungen und in subjektive Formen ihrer Verarbeitung. Das Forschungsprojekt erweckte bei den meisten Migrantinnen ein lebhaftes Interesse. Es war für sie in der Regel das erste Mal, dass sie eine umfassende Rückschau auf ihr Leben und ihre Migration vornahmen. Die interaktive Datenproduktion, das doing biography löste ihren Erzählfluss aus und bewirkte ihre intensive Mitarbeit (Kapitel 3.3). Ihre Aufgeschlossenheit für die biographische Thematik wird auch vor dem Hintergrund der aktuellen Biographieforschung in den Ländern Mittelosteuropas verständlich. Nach dem Zusammenbruch des Sozialismus erlebt die Biographieforschung einen Boom, vor allem in Russland, weil die Menschen mit ihren Lebenserinnerungen ihre Identität und Selbstrepräsentation aufarbeiten und neu justieren wollen (Obertreis/Stephan, 2009a; Kapitel 4.5)3.

3 | Die weißrussische Schriftstellerin Swetlana Alexijewitsch hat aus der autobiographischen Rückschau früherer Sowjetbürger eine eigene literarische Gattung geschaffen (vgl. 2013). 2015 erhielt sie hierfür den Nobelpreis für Literatur. In Weißrussland sind ihre Werke seit 1994 verboten.

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Mittelosteuropäische Migrantinnen in Berlin

1.4 D er konzep tionelle R ahmen Diese Migrationsstudie steht im Kontext des »age of migration«, als das Castles und Miller das ausgehende 20. Jh. charakterisiert haben (1993/2003) und das sich im 21. Jh. fortsetzt. Mehr Menschen als je zuvor begeben sich auf die Suche nach Arbeit, Bildung und einem besseren Leben in ein anderes Land oder suchen als Flüchtlinge Schutz und Sicherheit vor Armut und Krieg. Im Jahr 2013 waren es weltweit 232 Mio. Migranten, das sind 3,2 % der Weltbevölkerung, die knappe Hälfte (48 %) von ihnen Frauen (United Nations, 2013). Die Europäische Union ist täglich das Ziel vieler tausend Zuwanderer und Flüchtlinge. Deutschland ist das größte Aufnahmeland in der EU und hier nahm die Saldo-Zuwanderung nach zwanzig Jahren seit 2011 wieder kontinuierlich zu: 2013 und 2014 jeweils mit rund einer halben Million Zuwanderer (450.464; 576.924) und 2015 aufgrund vieler Flüchtlinge, vor allem aus Syrien, um mehr als eine Million (1.156.963) (BMI, Migrationsbericht, 2015). Die empirischen Ergebnisse aus den biographischen Interviews und Erzählungen der mittelosteuropäischer Migrantinnen werden in einen konzeptionellen und zeitgeschichtlichen Rahmen gestellt und im Kontext aktueller Entwicklungen und Diskurse der Migrationsforschung diskutiert. Themen des Rahmens sind (1) die »neue« Ost-West-Migration, zu der die Migrantinnen des Samples gehören und (2) als deren Hintergrund die asymmetrische Zeitgeschichte in Mittelosteuropa (Schlögel, 2013: 263f) und in der Europäischen Union in der zweiten Hälfte des 20. Jhs., (3) die weltweite Feminisierung der Migration seit Mitte der 1980er Jahre, die auch in dem hohen Anteil der Migrantinnen aus mittelosteuropäischen Ländern in Berlin festzustellen ist, (4) aktuelle Diskurse zur Migrantenvielfalt und Transnationalität als urbane Phänomene, die sich auch in Berlin entwickelt haben und (5) Widersprüche und Wandel der Zuwanderungspolitiken in Deutschland und die Realität der Einwanderung.

1.4.1 Die »neue« Ost-West-Migration Das Etikett »neu« für die Migration aus Mittelosteuropa nach Westeuropa leitet sich aus der Tatsache her, dass sie nach Jahrzehnten des abgeschlossenen Ostblocks4 erst durch die Grenzöffnungen ab 1989/1990 möglich wurde und sich während der Transformation in den Herkunftsländern fortsetzte (Nowak/ 4 | Auch durch den Eisernen Vorhang konnten immer mal wieder Flüchtlinge nach Westeuropa gelangen: 1956 während des Aufstands in Ungarn vor dessen Niederschlagung durch die Rote Armee waren es etwa 200.000, 1968 im Prager Frühlings vor dem Einmarsch der Truppen des Warschauer Paktes etwa 160.000 und 1980/81 rund 250.000 nach Einführung des Kriegsgrechts in Polen (Fassmann/Münz, 1994: 527).

1. Mittelosteuropäische Migrantinnen in Berlin

Nowosielski, 2011). In dem Etikett »neu« spiegelt sich die Auf bruchstimmung in Europa nach dem Ende des Kalten Krieges: die »neue« Ost-West-Migration (Koser/Lutz, 1998) vollzog sich in einem »neuen« Europa (Schlögel, 2013) und einem »neuen« Berlin, wiedervereinigt und Stadt der Migrantenvielfalt (Kleff/ Seidel, 2009; Beauftragter des Berliner Senats für Integration und Migration, 2007a). Neu waren anfangs auch die hohen Zahlen, denn zwischen 1989 und 1994 wurden in Westeuropa vier Mio. Zuwanderer aus Mittelosteuropa geschätzt 5 (Koser/Lutz, 1998: 4) und neu war die geographisch eindeutige Ost-West-Ausrichtung dieser innereuropäischen Migration. Ebenfalls neu waren in Europa die temporären Formen der Migration – zirkulär, saisonal oder pendelnd – und der große Anteil der Arbeitsmigranten, die eine temporäre Migration als Ressource nutzten, ohne dauerhaft den heimatlichen Lebensmittelpunkt aufzugeben, vor allem Migranten aus Polen, Rumänien und Bulgarien (vgl. Black, et al., 2010; Nowicka, 2007; Metz-Göckel et al., 2006; Diminescu, 2003; Morokvasic, 1994; 1999). Neu war auch der relativ hohe Anteil der Migrantinnen aus Mittelosteuropa als Teil der globalen Feminisierung der Migration (Tabelle 1; Kapitel 1.4.3). Eine nachhaltig neue Qualität erhielt die innereuropäische Ost-West-Migration 2004 und 2007 mit der Freizügigkeit für Migranten aus zehn mittelosteuropäischen Ländern, nach deren Beitritt zur Europäischen Union. Seither besteht eine Ungleichheit unter den Migranten aus Mittelosteuropa, das migrationsrechtlich jetzt zweigeteilt ist – in EU- und Nicht-EU-Länder. Die Europäische Union garantiert ihren Bürgern auf dem Gebiet der EU umfangreiche Rechte: Freizügigkeit, Zugang zu den Arbeitsmärkten, damit verbunden Zugang zum sozialen Sicherungssystem im Aufenthaltsland und das aktive und passive Wahlrecht bei Wahlen zum Europäischen Parlament und auf kommunaler Ebene (Kayser, 2011). Migranten aus Ländern Mittelosteuropas, die nicht zur EU gehören, haben als Drittstaatenangehörige keinen Anspruch auf diese EU-Gleichheitsrechte. Weitere rechtliche Ungleichheiten kommen hinzu, so beim Kindesnachzug: Drittstaatenangehörige können ihre Kinder nur bis zum 16. Lebensjahr und unter strengen Auflagen (Einkommen, Wohnraum) nach Deutschland nachholen, Kinder von EU-Bürgern können bis zum 21. Lebensjahr nachkommen. Und bei der Einbürgerung wird Drittstaatenangehörigen die Doppelte Staatsbürgerschaft verweigert, während EU-Bürger den Pass ihres Herkunftslandes behalten können (FreizüG/EU; ZuwG; StAG; Kayser, 2011). Die europäische Ost-West-Migration war in den vergangenen fünfundzwanzig Jahren ein dynamischer Prozess, der der Forschung vielfältige The5 | Hinzu kamen in der gleichen Zeit weitere fünf Mio. Flüchtlinge aus dem früheren Jugoslawien, die vor dem Bürgerkrieg geflohen waren.

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Mittelosteuropäische Migrantinnen in Berlin

men bot. Gleichwohl steckt die qualitative Erforschung dieser Migration europaweit noch in den Kinderschuhen, ebenso fehlen verlässliche quantitative Daten, die Vergleiche ermöglichen (Engbersen et al., 2010: 20). Eine Ausnahme sind Arbeitsmigranten, über die es einige Studien gibt (u.a. Black et al., 2010; Triandafyllidou, 2006a; Pallaske, 2001). Vor allem Arbeitsmigrantinnen, die in reproduktiven Arbeiten tätig sind, haben das Interesse der Forschung auf sich gezogen (Metz-Göckel et al., 2007; 2008; 2010; Lutz, 2008a; 2008b; Cyrus, 2008; Karakayali, 2010; sowie Rotkirch, 2005; Keough, 2006; Hantzaroula, 2008; Haidinger, 2008; Kindler, 2008).

1.4.2 Asymmetrische Zeitgeschichte in Mittelosteuropa und in der Europäischen Union Zum Hintergrund der innereuropäischen Ost-West-Migration gehört die fundamental unterschiedliche zeitgeschichtliche Entwicklung in den mittelosteuropäischen Herkunftsländern der Migrantinnen und in den westeuropäischen Zielländern der Europäischen Union in der zweiten Hälfte des 20. Jhs. In diesen Jahrzehnten hat sich der Osten und der Westen Europas politisch, sozial, kulturell und mental auseinanderentwickelt und das hat auch zu asymmetrischen Erfahrungen und Erinnerungen der Menschen in den beiden Teilen des Kontinents geführt, auf die Schlögel hingewiesen hat (2013: 263f). Die Menschen in Mittelosteuropa haben zwischen 1945 und 1989 eine verstörend menschenfeindliche Politik im sowjetischen Machtbereich durchlebt. Die Erinnerungen daran in den Familien und in den Ländern haben auch die Motive und Motivbündel der Migrantinnen im Sample beeinflusst oder zumindest unterlegt. Die heutigen Staaten in Mittelosteuropa waren über Jahrhunderte Spielmasse von Großmächten, vor allem von Russland und Deutschland. Zwischen 1939 (dem Hitler-Stalin-Pakt) und 1953 (Stalins Tod) hat Mittelosteuropa eine Zeit blutiger Gewalt erlebt, während der 14 Mio. Menschen in den »Bloodlands« (Snyder, 2010: 9f) ermordet wurden, im Baltikum, in Zentralpolen, Weißrussland und der Ukraine. Grund waren die Kolonisierungsbestrebungen Hitlers und Stalins, die mit Gebietsaufteilungen im geheimen Zusatzprotokoll zum Pakt festgelegt waren. Es folgte der Einmarsch der Wehrmacht, die deutsche Besatzung, der Holocaust an der jüdischen Bevölkerung, die Verschleppung von Millionen Zwangsarbeitern ins »Reich« und schließlich die Zerstörung weiter Gebiete zu »verbrannter Erde«, insbesondere in der Ukraine, vor deren (Rück) Eroberung durch die Rote Armee (vgl. Schlögel, 2013: 269). Nach dem verlustreichen Krieg arrondierte Stalin einige westliche Grenzregionen für die Sowjetunion mit Bevölkerungsverschiebungen, um dort eine ethnische Homogenität zu schaffen (Ciesielski, 2006; Sienkiewicz, 2009), gefolgt von Deportationen der nationalen Eliten und einer massiven Sowjeti-

1. Mittelosteuropäische Migrantinnen in Berlin

sierung (Snyder, 2010: 319f). Insbesondere die Bevölkerung der sechs Länder, die 1990/1991 ihre »zweite nationale Wiedergeburt« erlebt haben – Estland, Lettland und Litauen – und die als Nationalstaaten neu gegründet wurden – Weißrussland, Moldawien und die Ukraine – waren als Sowjetrepubliken jahrzehntelang einer massiven Russifizierung ausgesetzt, aufgrund der staatlich geförderten Zuwanderung aus anderen Landesteilen der Sowjetunion und der offiziellen Sprachpolitik, der zufolge Russisch in allen Sowjetrepubliken Amts- und Unterrichtssprache war. Die Folgen der Russifizierung bereiteten diesen sechs Staaten erhebliche Probleme bei der Durchsetzung ihrer nationalen Landessprache als Amts- und Bildungssprache und beim Umgang mit den russischsprachigen Zuwanderern, die seit 1990 dort eine neue Minderheit bilden. Verbunden mit diesen Schwierigkeiten ist die (Wieder-)Herstellung der nationalen Identität und ihrer Narrative in den sechs Staaten (Besters-Dilger/ Woldan, 2010; Ismayr, 2010; Kappeler, 2011; Bohn/Shadurski, 2011; Lucius, 2011; Bochmann et al., 2012; Smoltczyk, 2014). Diese Skizzen der komplexen mittelosteuropäischen Zeitgeschichte zeigen eindringlich, dass der gemeinsame europäische Erlebnis- und Erfahrungsraum, auf den bei der Beschreibung der Werte Europas in der Literatur verwiesen wird (Mandy, 2009), zumindest im 20. Jh. in Mittelosteuropa über Jahrzehnte nicht existierte. Gleichwohl fühlen sich die meisten der rund 300 Mio. Mittelosteuropäer, von denen fast die Hälfte in Russland lebt, historisch, kulturell und mit ihrer Werteordnung zu Europa gehörig (Sugar, 1995; Ismayr, 2010). Auch die interviewten Migrantinnen haben sich als Europäerinnen bezeichnet, als die sie sich vor allem seit 1989/1990 nach Öffnung der Grenzen zu Westeuropa fühlen. Mittelosteuropa entstand in seiner gegenwärtigen Form mit 20 Staaten ab 1989 nach dem Zerfall der Sowjetunion und Jugoslawiens6; dreizehn der 20 Staaten sind Herkunftsländer der Migrantinnen im Sample. Das riesige Gebiet ist in dieser Studie durch die biographischen Erzählungen der Migrantinnen verwoben. Ausgehend von peripheren Orten, aus denen einige Migrantinnen kommen, beginnt Mittelosteuropa eine Stunde östlich von Berlin in Słubice und Zielona Góra in Westpolen, reicht im Norden bis Tallinn in Estland, gelegen am »Westmeer«, der westeuropäischen Ostsee, geht über Workuta am russischen Polarkreis nach Osten über den Ural, der geographischen Grenze des europäischen Russland, nach Krasnojarsk und Nowosibirsk in Westsibirien 6 | In dieser Migrationsstudie sind Migrantinnen aus den Nachfolgestaaten Jugoslawiens – Slowenien, Kroatien, Serbien, Montenegro, Bosnien-Herzegowina, Mazedonien und das Kosovo – nicht eingeschlossen, denn von dort sind schon ab den 1960er Jahren »Gastarbeiter« zugewandert und Anfang der 1990er Jahre kamen viele Bürgerkriegsflüchtlinge, so dass es aus diesen Ländern bereits eine längere Migrationsgeschichte mit Berlin und Deutschland gibt.

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Mittelosteuropäische Migrantinnen in Berlin

und von dort über Charkow in der Ukraine und Semferopol auf der Krim nach Süden bis Constanza an der rumänischen und Burgas an der bulgarischen Schwarzmeerküste und im Westen bis Prag, von wo es bis Berlin »nur viereinhalb Stunden bis Südkreuz« sind, wie eine tschechische Migrantin sagte, die mit ihren Kindern jeden Monat mit dem Zug nach Prag fährt, um ihre Eltern bzw. die Großeltern der Kinder zu besuchen. In Westeuropa stand in der gleichen Zeit die Europäischen Gemeinschaft im Mittelpunkt der politischen Entwicklung. Ihr Grundstein wurde auf den Ruinen des 2. Weltkrieges 1957 mit den Römischen Verträgen als »Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl« von sechs Staaten gelegt, darunter Deutschland. Die Gemeinschaft ist 1992 im Vertrag von Maastricht zur »Europäische Union« umbenannt worden und die »vier Freiheiten« der Marktintegration wurden vertieft: Freizügigkeit von Waren, Kapital, Dienstleistungen und freie Mobilität der Bürger. Die EU führte die Unionsbürgerschaft ein und baute die Kompetenz des Europaparlaments aus (Mau/Verwiebe, 2009: 236f). Eine neue supranationale Ordnung schob sich über die Nationalstaaten (Lepsius, 2001), die nun eine »emergente europäische Gesellschaft« bilden (Verwiebe, 2004: 12). Ein neues Europa ist 2004 und 2007 nach jahrzehntelanger Teilung entstanden, als zehn mittelosteuropäische Länder der Europäischen Union beitraten. 2013 wurde Kroatien das 28. Mitglied. In der EU hat sich mit den mittelosteuropäischen Mitgliedsländern die soziale Heterogenität vergrößert, aufgrund der postsozialistischen Transformation und der Folgen des forcierten marktorientierten Umbaus der Wirtschaft (Bach/Sterbling, 2008: 9f). Die Union hat aus diesem Grund ihre Kohäsionspolitik aktualisiert, die auf eine Umverteilung zwischen reicheren und ärmeren EU-Regionen zielt, um Armut und soziale Ausgrenzung in weniger entwickelten Regionen zu verringern und den Zusammenhalt der EU zu stärken, ohne die Europäische Union zu einer Transferunion zu machen7. Die Europäische Union umfasste 2015 eine halbe Milliarde Menschen, die in Frieden, Sicherheit und relativem Wohlstand leben, sie ist deshalb eine Erfolgsgeschichte (Halman et al., 2005: 15; Sachverständigenrat, 2013)8. Bei vielen 7 | Von 2007 bis 2013 betrug der Kohäsionsfonds rund 308 Mrd. Euro, die hauptsächlich in die mittelosteuropäischen Mitgliedsländer geflossen sind (Mau/Verwiebe, 2009: 251, Abb. 31). Für die Jahre 2014 bis 2040 soll der Fonds auf 366,8 Mrd. aufgestockt werden (EU Regional-Info, 2013). 8 | Diese Erfolge haben auch skurrile Folgen, denn einige finanzschwache EU-Länder (Spanien, Portugal, Griechenland, Ungarn und Lettland) bieten Schengen-Visa gegen Immobilienkäufe in ihrem Land an oder vergeben sie bei einem Kurzaufenthalt gegen Bezahlung, was bei reichen Russen, Chinesen und Arabern durchaus auf Interesse stößt (SPIEGEL online 13.11.2013).

1. Mittelosteuropäische Migrantinnen in Berlin

Unionsbürgern ist über die Jahre eine EU-europäische Identität entstanden, denn mit der umfassend genutzten freizügigen Mobilität hat sich eine Vielfalt von alltagsweltlichen EU-europäischen Sozialräumen entwickelt, in denen die Bürger die EU positiv erleben. Gleichwohl steuert die Europäische Union sechzig Jahre nach ihren Anfängen durch »stürmische Gewässer« (Sachverständigenrat, 2013: 25), denn mehrere Krisen und Konflikte haben sich zu großen Belastungen für die Gemeinschaft akkumuliert u.a. der 2016 beschlossene Brexit. Die Gründe der Krisen sind vielfältig, aber vor allem ist es ein Unbehagen, dass bei vielen Bürgern gegenüber der Europäischen Union entstanden ist, weil sie auf deren Transnationalismus »von oben« kaum Einfluss haben und die Institutionen in Brüssel handeln, ohne die Bürger zu beteiligen (Mau/Verwiebe, 2009: 245; Gerhards/Lengsfeld, 2013: 12). Zum 60. Jubiläum der Europäischen Union hat die Kommission 2017 ein Weißbuch vorgelegt, das fünf Wege zur zukünftigen Gestaltung der EU 27 skizziert, die von den Mitgliedstaaten diskutiert und beschlossen werden können. Grundlage des politischen Handelns der Europäischen Union sind die gemeinsamen Werte, die 2007 im Vertrag von Lissabon festgeschrieben wurden. Diese Werte, die »aus dem kulturellen, religiösen und humanistischen Erbe Europas«, schöpfen, wie es in der Präambel heißt, sind »Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte, einschließlich der Rechte von Minderheiten. Diese Werte sind allen Mitgliedstaaten in einer Gesellschaft gemeinsam, die sich durch Pluralismus, Toleranz, Gerechtigkeit, Solidarität und die Gleichheit von Frauen und Männern auszeichnet« (Artikel 1a). Die EU hat sich zu einer Wertegemeinschaft erklärt und sich eine rechtsverbindliche Handlungsgrundlage gegeben für ihre politische Rolle als supranationales Gemeinwesen. Europa wird im politischen Diskurs seit Jahren meist gleichgesetzt mit der Europäischen Union (vgl. Verwiebe, 2004; Baasner, 2008; Mau/Verwiebe, 2009; Mandry, 2009; Risse, 2010; Gerhards/Lengsfeld, 2013; Sachverständigenrat, 2013), denn sie war in den vergangenen Jahrzehnten erfolgreich in dem Prozess, die Identität Europas als Gemeinschaft zu besetzen und die Bedeutung anderer europäischer Organisationen einzuschränken, wie die des Europarates (Risse 2010: 4; 100f), dem seit 1949 alle 47 Staaten9 Europas angehören und der »die Aufgabe hat, einen engeren Zusammenschluss seiner Mitglieder zu verwirklichen« (Art. 1 der Satzung).

9 | Von denen Russland, Kasachstan und die Türkei nur einen kleinen europäischen Landesteil haben.

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Mittelosteuropäische Migrantinnen in Berlin

1.4.3 Feminisierung der Migration Die Feminisierung der Migration ist seit Mitte der 1980er Jahre regional unterschiedlich als »a mighty but silent river« (United Nations: Population Report, 2006) zu beobachten. Gleichzeitig wurden Frauen erstmals als selbständige Migrantinnen in der Forschung wahrgenommen (Morokvasic, 1984). Zuvor galten Männer nach traditionellem Rollenmuster als Akteure der Migration, denen Frauen und Kinder später als »abhängige« Migranten nachfolgten (Piore, 1979). Migrantinnen waren in Migrationsstudien unsichtbar (DeLaet, 1999; Kofman, 1999; Hahn, 2000), obwohl schon 1885 – also hundert Jahre zuvor – Ravenstein, der erste Migrationstheoretiker, festgestellt hatte »woman is the greater migrant than man« und auf Ausmaß und Bedeutung der Migrantinnen hingewiesen hatte10. Der Begriff »Feminisierung der Migration« für die kontinuierliche Zunahme von Migrantinnen, wurde von Castles und Miller in die Migrationsliteratur eingeführt (1993/2003: 9). Er wird in drei Varianten gebraucht: (1) er bezeichnet allgemein den Anstieg der Frauen unter den Migranten, deren Anteil sich dem der Männer angleicht oder ihn übersteigt, (2) er wird für die Zunahme einzelner Migrantinnengruppen benutzt, insbesondere der Arbeitsmigrantinnen und (3) wird eine Feminisierung der Migration auch konstatiert, »wenn der Frauenanteil zwar noch nicht das quantitative Ausmaß der Männer erreicht hat, aber von seiner stetigen Entwicklung her eine eindeutige Konvergenzbewegung erkennen lässt« (Han, 2003: 61). Eine Zunahme der Migrantinnen begann in den 1970er Jahren mit Arbeitsmigrantinnen aus Asien und Mittelamerika, als Folge des Strukturwandels der Wirtschaft und der globalen Arbeitsmärkte, ausgelöst von der weltweiten Ölkrise 1973 (Han, 2003: 79f). In den Herkunftsländern führte diese Entwicklung zu einer »Feminisierung des Überlebens« (Sassen, 2003) und in den Zielländern zu der Expansion des Dienstleistungssektors. In westlichen Ländern war die Erwerbsbeteiligung der Frauen signifikant angestiegen, deshalb wurden nun Arbeitsmigrantinnen als Haushälterinnen, Putzfrauen, als Kinderund Altenpflegerinnen beschäftigt, vor allem in den USA, in Westeuropa und in den Ölstaaten. Mit der Globalisierung der 1990er Jahre stieg der Bedarf an den »neuen Dienstmädchen der Globalisierung« weiter (Lutz, 2008a; Odierna, 2000; Hondagneu-Sotelo, 1994; 2001; Parrenas, 2001a; Hochschild, 2000; Ehrenreich/Hochschild, 2004). Eine vergleichbare Entwicklung setzte nach dem Zerfall des Ostblocks ab 1989 ein, als Frauen aus mittelosteuropäischen Ländern das wirtschaftliche 10 | Und er hatte hinzugefügt: »This may surprise those who associate women with domestic life, but the figures of the Census clearly prove it« (Ravenstein, 1885: 196, zitiert nach DeLaet, 1999: 3).

1. Mittelosteuropäische Migrantinnen in Berlin

und soziale Überleben ihrer Kinder und der Familie mit ihrer Arbeitsmigration in die Nachbarländer gesichert haben (Hantzaroula, 2008; Haidinger, 2008; Kindler, 2008; Keough, 2006), ebenso in Westeuropa (Rotkirch, 2005; Triandafyllidou, 2006b; Lutz, 2008a; 2008b; Karakayali, 2010). Sie fanden Arbeit in privaten Haushalten, in der Kinderbetreuung und der Altenpflege, mit der Folge, dass sich ein ost-westlicher care-drain in Europa abzeichnete, analog des global care chain, den Hochschild festgestellt hatte (2000). 1995 hatte Zlotnik erstmals den Anteil der Migrantinnen für einige westeuropäische Länder zusammengetragen, soweit statistische Angaben überhaupt verfügbar waren, als »a first step on the path to a better understanding of … the international migration of women« (1995: 230). In Deutschland bspw. betrug der Anteil der Migrantinnen 1973, dem Jahr des Anwerbestopps, 37  % und stieg bis 1989 auf 45 % an (Zlotnik, 1995: 240). Inzwischen liegen weltweite und regionale Übersichten der UN über den prozentualen Anteil der Migrantinnen vor, aus denen ich einige für den Forschungskontext relevante Angaben anführe: Tabelle 1: Überblick über prozentuale Anteile der Migrantinnen Jahr

Weltweit

Europa

Mittelosteuropa

Westeuropa

Deutschland

1990

48,8 %

51,4 %

53,6 %

47,8 %

44,5 %

2000

49,1 %

51,8 %

52,6 %

50,4 %

49,9 %

2010

48,1 %

51,6 %

52,2 %

51,6 %

51,9 %

2013

48,0 %

51,9 %

52,1 %

51,7 %

52,2 %

Quelle: United Nations, 2013.

Die Feminisierung der Ost-West-Migration aus mittelosteuropäischen Ländern war von Anbeginn hoch und ist es weiterhin. Zur gleichen Zeit ist der Anteil der Migrantinnen in Deutschland kontinuierlich angestiegen. Im Jahr 2013 liegen Mittelosteuropa und Deutschland mit 52,1 % bzw. 52,2 % der Migrantinnen (fast) gleichauf und beide damit 4 % über dem globalen Migrantinnenanteil (48 %) (Tabelle 1). Die hohe Migrationsmobilität der Frauen aus mittelosteuro­päischen Ländern verdeutlicht das nachhaltige Handlungs- und Entscheidungsvermögen der Frauen und ihre anerkannte Stellung im öffentlichen Raum, die sie mit ihrer Ausbildung und Erwerbstätigkeit während des Sozialismus erreicht hatten (Kapitel 6). In Berlin spiegelt sich diese Entwicklung, denn seit 1990 ist in der Stadt die Feminisierung der »neuen« Migration aus Mittelosteuropa festzustellen, wie die melderechtlichen Statistiken der Migrantinnen aus den dreizehn Herkunftsländern der Studie zeigen (Kapitel 2.6; Tabellen 5; 6.1; 6.2). Im Jahr 2011 betrug der Frauenanteil 53 % aller gemelde-

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Mittelosteuropäische Migrantinnen in Berlin

ten Migranten (54.880), von ihnen kamen 51 % der aus den neun EU-Ländern (38.130) und 61 % (16.750) aus den vier Nicht-EU-Ländern Mittelosteuropas. Die empirische Forschung zur Feminisierung der Migration und zur aktuellen Frauenmigration begann kurz vor der Jahrtausendwende und konzentrierte sich weltweit ausschließlich auf die Arbeitsmigrantinnen, die mit Putzund Fürsorgearbeiten in Haushalten wohlhabender Länder tätig waren. Am umfänglichsten beforscht wurden Arbeitsmigrantinnen aus Mexiko, die meist illegal in die USA migrieren (Hondagneu-Setelo, 1994; 2001; Hondagneu-Setelo/Avila, 1997) und aus den Philippinen, wo ihre Migration staatlich gefördert wird (Parrenas, 2001a; 2001b; 2005). Auch in Deutschland sind viele Arbeitsmigrantinnen mit Tätigkeiten in der sekundären Reproduktion beschäftigt und häufig kommen sie aus mittelosteuropäischen Ländern (Lutz, 2008a; 2008b; Karakayali, 2010; Apitzsch/ Schmidbaur, 2010). Unter ihnen sind zahlreiche pendelnde Migrantinnen aus Polen, die ihren Lebensmittelpunkt weiterhin in Polen haben und zur Arbeit nach Deutschland pendeln (Metz-Göckel et al., 2006; 2007; 2008; 2010), auch nach Berlin (Cyrus, 2008). Als Pendeln werden vielfältige Formen der Mobilität bezeichnet: Pendeln kann regelmäßig oder gelegentlich erfolgen, bspw. jedes Wochenende, immer zu den Feiertagen, ein oder zwei Mal im Jahr usw. Pendeln gilt als bevorzugte Mobilitätsform von Müttern, die so ihre produktiven und reproduktiven Arbeiten transnational koordinieren können (Morokvasic, 2003b: 111f; Robila, 2011; Kapitel 8.2) . In meinem Sample fällt die relative hohe Zahl der Bildungsmigrantinnen auf, die ein Drittel ausmacht. Dreiunddreißig Frauen sind als Bildungsmigrantinnen zugewandert, davon zehn Au-pairs und zwei Sprachschülerinnen. Sechsunddreißig Migrantinnen hatten zur Zeit des Interviews ein oder zwei abgeschlossene Studien. Die Datenlage zu hochqualifizierten Migrantinnen ist prekär (Heß, 2012: 18), sowohl in Deutschland als auch weltweit (Kofman/ Raghuram, 2009). Einige neuere Arbeiten zeigen jedoch eine fortschreitende Feminisierung der Bildungsmigration (Heß, 2012; Mayer et al., 2012; Jungwirth, 2011b; Jungwirth et al., 2012), auch bei mittelosteuropäischen Migranten in Deutschland (Heß, 2012: 34f), während die bisherige Forschung über hochqualifizierte Migranten einen »male gender bias« aufwies (Liversage, 2009: 121; Kapitel 9.4).

1.4.4 Migrantenvielfalt und Transnationalität als urbane Phänomene Migrantenvielfalt und Transnationalität sind urbane Phänomene, denn die meisten Migranten leben in großen Städten, die sie mit kultureller Vielfalt prägen, mit ihren transnationalen Verbindungen global vernetzen und deren Alltagsleben sie mitgestalten. Berlin ist hierfür ein gutes Beispiel. Schon in der

1. Mittelosteuropäische Migrantinnen in Berlin

ersten biographischen Migrationsstudie Anfang des 20. Jhs. über die 300.000 polnischen Mi­granten in Chicago11 haben die Autoren Thomas und Znaniecki die Mitgestaltung des neuen städtischen Umfelds mit seinen transnationalen Bezügen durch die Migranten in ihre Untersuchung miteinbezogen (Thomas/ Znaniecki, 1927/1958). Die neuere Stadtsoziologie begann mit Sassen (1991), die »Global Cities« wie New York, London und Tokio als wirtschaftliche Zentren und als Finanzmärkte des globalen ökonomischen Systems definierte. In Deutschland bezeichnete Sassen später Frankfurt a.M. als Global City, vielleicht auch München, verneinte diese Rolle aber für das wiedervereinigte Berlin, weil die Stadt kein Eingangstor und Zentrum des globalen Wirtschaftssystems sei (Sassen, 2000). Der Global-City-Ansatz, der zentral für die Entwicklung von Globalisierungstheorien ist, wurde wegen seines einseitigen Fokus auf wirtschaftliche Aspekte und der Vernachlässigung kultureller Phänomene auch kritisiert (Smith, 2001: 50f). Die Bezeichnung als Global City wird inzwischen nicht mehr als Klassifizierung verwendet (Wildner, 2012: 215), während immer mehr Städte in Prozesse der Globalisierung einbezogen sind. Im Index der Global Cities stand Berlin 2014 auf Rang 19 und 2016 auf Rang 16 (www.atkearney. com). Bei der Typisierung von Großstädten werden die Bezeichnungen Global City, Weltstadt und Metropole oft synonym verwendet, obgleich sich ihre Definitionen unterscheiden: Als Weltstadt gilt ein politisch-kulturelles Zentrum mit weltweiter Bedeutung, bspw. Hauptstädte wichtiger Staaten und als Metropole eine Großstadt mit einem großen Versorgungs-, Einzugs- und Zuständigkeitsbereich. Diese Bezeichnungen spielten auch im Berliner Diskurs zur Identitätsfindung der Stadt nach der Wiedervereinigung in den 1990er Jahren eine Rolle (Krätke/Borst, 2000; Lanz, 2011), bevor Berlin sich offiziell als »Stadt der Vielfalt und der Migranten« definierte und damit anerkannte, dass die Migrantenvielfalt wesentlich zur Gestaltung des neuen Berlin beiträgt (Beauftragter des Berliner Senats für Integration und Migration, 2007a; Kapitel 2.1). Großstädte sind aufgrund ihrer wirtschaftlichen Bedeutung seit den 1990er Jahren weltweit das Ziel transnationaler Migrationen und dort entstanden große Migranten-Communities. In europäischen Städten wird das als »neue« Vielfalt thematisiert, die die Migranten in das urbane Zusammenleben der Stadtgesellschaften einbringen (Bukow et al., 2011a), auch als »super diversity« am Beispiel Londons (Vertovec, 2010b). In diesen Städten wird einerseits die faszinierende Vielfalt12 in einzelnen Migrantenquartieren aus Sicht der Mehrheitsgesellschaft ethnographisch beschrieben, andererseits aber auch 11 | Chicago war zu dieser Zeit – nach Warschau und Lodz – die drittgrößte Stadt mit polnischen Einwohnern (Thomas/Znaniecki, 1927/2958, II: 1511). 12 | Zur Diskussion der Inhalte von Vielfalt siehe Bukow et al., 2011b.

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Mittelosteuropäische Migrantinnen in Berlin

die Einpassung dieser Vielfalt in die städtischen Strukturen thematisiert, in ihre politischen, rechtlichen und wirtschaftlichen Systeme, um diese Vielfalt der Stadtgesellschaft einzuverleiben und sie einzugrenzen (Bukow et al., 2011b; Schroe­der, 2011). Berlin ist hierfür ein Beispiel. Vielfalt hat das urbane Leben schon immer geprägt, aber auf die gegenwärtige »neue« Vielfalt der Migranten reagieren die Stadtgesellschaften in Europa ambivalent. In einzelnen Quartieren entwickeln sich neue hybride Wirklichkeiten, während die Stadt in homogenen Vierteln und in ihren Institutionen weiterhin als ein nationaler Raum verstanden wird, in der die neue Vielfalt allenfalls auf Zeit geduldet ist, bis sich die Zuwanderer integriert haben (Bukow et al., 2011b; Vertovec/Wessendorf, 2010). Bis Migranten in europäischen Städten ein »akzeptierter Teil der Gesellschaft« sind, wie Penninx »Integration« definiert, ist der Weg noch weit, das zeigt seine vergleichende Studie zu Integrationspolitiken in europäischen Städten (2009: 614). Die empirischen Befunde spiegeln eine Pluralität der Politiken, viele Städte befinden sich immer noch in der Phase der Nicht-Politik oder der Ad-hoc-Reaktion auf die Migrantenvielfalt und sind nicht willig oder nicht in der Lage, sich konstruktiv auf sie einzustellen (Penninx, 2009: 627; Bukow et al., 2011a: 228). Diese Problematik ist auch ein Grund für den mühsamen Prozess der Schaffung einer EU-weiten Migrationspolitik, wie sie im Vertrag von Amsterdam 1997 vereinbart wurde (Penninx, 2009: 628). Einen neuen Forschungsansatz zur Vielfalt der Migranten in Städten haben Glick Schiller und Caglar entwickelt, der migrantische Akteure als Initiatoren urbaner Umstrukturierungsprozesse (re-scaling) in den Fokus nimmt (Glick Schiller, 2012a; Glick Schiller/Caglar, 2011a; 2011b). Die dynamische Partizipation von Migranten bei der Um- und Neugestaltung der Städte und bei deren transnationaler Vernetzung ist bislang kaum untersucht worden, denn Migranten werden von Sozialwissenschaftlern vor allem als Arbeitskräfte der Wirtschaft thematisiert oder als Initiatoren in der ethnischen Nischenökonomie und religiöser Vereinigungen. Glick Schiller und Caglar fordern mehr empirische Forschung »without an ethnic lens« über die Beteiligung von Migranten an der Gestaltung der Städte (2011a: 64f; 2011b). Und sie kritisieren den methodischen Nationalismus in der Migrationsforschung, bei dem die Stadt (wie der Staat) als nationaler Container der Mehrheitsbevölkerung analysiert wird, in den sich die Migranten einpassen oder nicht. Diese Feststellung trifft auch für einen Teil der Literatur über Migranten in Berlin zu (Kapitel 2.5.1). Die Vielfalt der Migranten in der Stadt prägt auch ihre Transnationalisierung, denn Migranten sind häufig Hauptakteure bei der Herausbildung »transnationaler sozialer Felder« in den Städten. Andererseits unterhält nicht jeder Migrant transnationale Beziehungen und auch Alteingesessene können transnationale soziale Beziehungen in Städten schaffen und aufrechterhalten

1. Mittelosteuropäische Migrantinnen in Berlin

(Glick Schiller, 2012b: 33; Krätke, et al., 2012: 20). Transnationale Städte definiert Smith (2001: 19): »sites of transnational practices, contexts of transnational network formation, socially structured settings for social interaction, and mediators of power, meaning, and effects of transnational flows ›from above‹ as well as ›from below‹«.

Transnationale Urbanität wird durch eine Vielzahl grenzüberschreitender Prozesse und sozialer Beziehungen geschaffen, die Städte zu Zentren globaler Vernetzung machen, in denen sich Ströme von Menschen, Gütern und Informationen konzentrieren. Im Kontext der Globalisierung hat sich die Transnationalisierung in Städten beschleunigt und verdichtet, zu der Migranten auf vielfache Weise beitragen (Krätke et al., 2012; Glick Schiller, 2012b; Wildner, 2012). Transnationale Urbanität wird, Pries (2008: 77; 211) und Vertovec (2009: 12) folgend, auf drei Maßstabsebenen (scales) untersucht, der Makro-, der Meso- und der Mikro-Ebene, um transnationale städtische Räume adäquat beschreiben und analysieren zu können (Krätke et al., 2012: 10; Wildner, 2012: 219f). Auf der Makro-Ebene sind es weltweit agierende politische Institutionen und transnationales Regierungshandeln, auf der Meso-Ebene plurilokale Unternehmen und grenzüberschreitend agierende soziale Organisationen, auf der Mikro-Ebene Individuen, Haushalte, Netzwerke, politische und soziale Zusammenschlüsse und (kulturelle) Alltagspraktiken. Prozesse der Transnationalisierung zeichnen sich durch komplexe Verbindungen und Wechselwirkungen zwischen diesen Ebenen aus, die auch konfliktreich verlaufen können (Krätke et al., 2012: 7; Wildner, 2012: 220). In der Forschung werden zwei Wirkrichtungen bei Transnationalisierungsprozessen beschrieben: »von oben«, wenn die Akteure supranationale politische Institutionen oder transnationale Unternehmen sind (Pries, 2008) und »von unten«, wenn es sich um informelle Zusammenschlüsse und Grassroot-Bewegungen handelt, die lokal verortet und grenzüberschreitend vernetzt sind (Smith/Guarnizo, 1998). Letztere sind auf der Mikro-Ebene der transnationalen Urbanität angesiedelt und zu ihnen gehören insbesondere die transnationalen Vernetzungen migrantischer Akteure. Die Vielfalt der Migranten und ihre transnationalen Beziehungen, wie sie in den urbanen Zentren heute Realität ist, erfordern ein Überdenken und eine Veränderung der Inhalte ihrer »Integration« in die Mehrheitsgesellschaft 13. Neue Wege hat Berlin 2007 mit seinem Integrationskonzept »Vielfalt fördern – 13 | Auf die Wandlungen der Konzepte von »Assimilation« zu »Integration«, »Inkorporation« und »Inklusion« in der Literatur und den in Deutschland seit Jahrzehnten geführten öffentlichen Diskussionen gehe ich hier nicht ein (vgl. u.a. Pries, 2007; Hess et al., 2009; Bukow et al., 2011a; einen Überblick gibt Kiepenheuer-Drechsler, 2013: 69-88).

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Mittelosteuropäische Migrantinnen in Berlin

Zusammenhalt stärken« beschritten, um den gesellschaftlichen Anforderungen dieser Stadt, die geprägt ist von einer großen Migrantenvielfalt, Genüge zu tun und ihre Zukunft zu gestalten. Im Berliner Integrationskonzept werden zwei kontroverse Themen der Integrationsdebatte miteinander verbunden: Vielfalt/diversity und Zusammenhalt/gemeinsame Werte (Beauftragter des Berliner Senats für Integration und Migration, 2007a; Kapitel 2.1). Im Alltag wird in Berlin aber weiterhin die Integration der Migranten, vor allem ihrer Kinder gefordert: gute Deutschkenntnisse, schulische und berufliche Ausbildung und Erwerbstätigkeit (Kapitel 2.5.1). Die migrantische Lebensrealität in der Stadt haben die mittelosteuropäischen Migrantinnen des untersuchten Samples in ihren biographischen Interviews beschrieben: sie gestalten ihre transnationalen Lebensformen und Alltagspraktiken jeweils in einer individuellen und simultanen Mischung aus integrativen und transnationalen Bezügen und Aktivitäten, die sich im Laufe des Migrationsprozesses durchaus verändern können (Kapitel 11.3). In vergleichbarer Form werden migrantische Lebensformen auch in neueren empirischen Migrationsstudien geschildert (u.a. Levitt, 2003; Levitt/Glick Schiller, 2004).

1.4.5 Deutschland ein Einwanderungsland? Widersprüche und Wandel der Zuwanderungspolitiken »Die Bundesrepublik Deutschland ist kein Einwanderungsland« lautete über Jahrzehnte die politische Maxime, die jedoch eine »parteiübergreifende Lebenslüge« war (Bade, 1994b: 20). Im Widerspruch zu der Maxime hatte Deutschland aus politischen oder wirtschaftlichen Gründen eine Reihe von »Zugangstoren« geöffnet, rechtliche Regelungen für bestimmte Migrantengruppen, durch die Millionen Zuwanderer in das Land kommen konnten, während gleichzeitig eine restriktive Ausländerpolitik betrieben wurde. Erst ab Mitte der 1990er Jahre akzeptierten Politik und Gesellschaft allmählich die Realität der Einwanderung und die im Land über Jahrzehnte entstandene Migrantenvielfalt. Es begann ein Wandel in der Zuwanderungspolitik, als deren Ergebnis Deutschland eine »dynamische Einwanderungsgesellschaft« geworden ist (Sachverständigenrat, 2013: 23), die 2013 im internationalen OECD-Ranking der Zuwanderer an zweiter Stelle der Beliebtheit hinter den USA stand (OECD, 2014). Ein Rückblick auf die Rechtsgrundlagen und die Realität der Einwanderung über vier Zugangstore im Kontext der früheren restriktiven Zuwanderungspolitik: • Das erste Zugangstor ist Art. 16 GG »Politisch Verfolgte genießen Asylrecht«, der 1949 in das Grundgesetz aufgenommen wurde, als Lehre aus

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der Verfolgungspolitik und dem Holocaust unter den Nationalsozialisten. In den 1990er Jahren wurde das Asylrecht mehrfach eingeschränkt u.a. mit der Festlegung sicherer Herkunftsländer und der Drittstaatenregelung, nach der Verfolgte, die über einen sicheren Drittstaat einreisen, in Deutschland nicht das Recht auf Asyl geltend machen können. • Ein zweites Zugangstor diente der Aufarbeitung der Kriegsfolgen. Das Bundesvertriebenengesetz (BVFG) von 1953 ermöglichte die Zuwanderung von 4,5 Mio. Spät-/Aussiedlern als »deutsche Volkszugehörige« aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten, der Sowjetunion und Ländern Mittelosteuropas. Ab 2010 kamen über dieses Zugangstor jährlich nur noch rund 2000 Spät-/Aussiedler, woraufhin 2013 die Zuwanderung gesetzlich wieder erleichtert wurde, vor allem für Kinder und Enkel von Spät-/Aussiedlern (10. BVFG ÄnderungsG) und die Zahlen steigen langsam wieder (Migrationsbericht 2014: 37; Tab. 3-1). • Das dritte Zugangstor wurde mit der Anwerbung von Gastarbeitern aus acht Ländern zwischen 1955 und 1973 geöffnet, um den Bedarf der Wirtschaft nach Arbeitskräften zu decken. Das Zugangstor wurde 1973 geschlossen, der Nachzug bzw. die Einwanderung der Ehepartnern und Kindern aber ermöglicht. • Über ein viertes Zugangstor wurden aus humanitären Gründen Kontingentflüchtlinge14 aufgenommen, so nach dem Vietnamkrieg ab 1975 vietnamesische Bootsflüchtlinge und ab 1991 Jüdische Zuwanderer aus Ländern Mittelosteuropas. Die Zuwanderung begann mit den »Gastarbeitern«, die in großer Zahl nach Deutschland kamen, aufgrund der Anwerbeverträge mit Italien (1955), Spanien (1960), Griechenland (1960), der Türkei (1961), Marokko (1963), Portugal (1964), Jugoslawien (1968) und Korea (1970). Die Anwerbung war zunächst als Rotation geplant, die sich aber als nicht durchführbar erwies. 1973 wurde der Anwerbestopp verhängt, um die Zuwanderung zu beenden. Gleichzeitig erhielten die hier lebenden Gastarbeiter das Recht ihre Familien nachzuholen und sich in Deutschland niederzulassen, wofür sich viele entschieden haben. Aus Gastarbeitern wurden Migranten, für deren Integration es jedoch keine Konzepte gab (Bade, 1994a; Bundeszentrale für politische Bildung, 2004). Ab Mitte der 1970er Jahre suchten viele Flüchtlinge in Deutschland Schutz vor Verfolgung und Bürgerkrieg. Sie kamen wegen politischer Unruhen aus Äthiopien und Eritrea (1974-1993), während des Bürgerkrieges im Libanon (1975-1990), nach dem Militärputsch in der Türkei (1980), nach der islami14 | Kontingentflüchtlinge erhalten einen dauerhaften Aufenthaltsstatus und sind Asylberechtigten rechtlich weitgehend gleichgestellt ohne ein Asylverfahren durchlaufen zu müssen.

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schen Revolution im Iran (1979), während des Iran-Irak-Krieges (1979-1985) und im Afghanistan-Krieg (1979-1989). Mit dem Zerfall des sozialistischen Blocks in Mittelosteuropa 1990/1991 und dem Beginn der Balkankriege 1991 stieg die Zahl der Asylsuchende und Bürgerkriegsflüchtlinge aus diesen Ländern von 190.000 im Jahr 1990 auf über 440.000 im Jahr 1993. Asylbewerber durchliefen meist jahrelange Anerkennungsverfahren, ohne arbeiten zu dürfen. Wurden sie als Asylberechtigte anerkannt, konnten sie Integrationsmaßnahmen in Anspruch nehmen; die meisten wurden jedoch abgelehnt und blieben mit eine Duldung in Deutschland, wenn sie nicht in ihr Herkunftsland abgeschoben werden konnten. Geduldete Flüchtlinge erhielten keine Integrationshilfen und hatten oft auch ein Arbeitsverbot (Bade, 1994a; Bundeszentrale für politische Bildung, 2004). Die Zuwanderung von Spät-/Aussiedlern nahm nach der Auflösung des Ostblocks erheblich zu: von mehr als 200.000 im Jahr 1988 erreichte ihre Zahl in den Jahren 1989 und 1990 Spitzenwerte von 377.055 und 397.073 Zuwanderern und verringerte sich von 1991 bis 1996 auf jeweils um die 220.000 pro Jahr, nachdem die Aufnahmekriterien eingeschränkt worden waren. Insgesamt sind 4,5 Mio. Spät-/Aussiedler seit 1950 zugewandert, die beiden größten Gruppen aus der der ehemaligen Sowjetunion (knapp 2,5 Mio.) und aus Polen (1,5 Mio.) (Bundesverwaltungsamt, Jahresstatistik 2009; vgl. Worbs et al., 2013). Aus Mittelosteuropa wurden nach 1989/1990 insgesamt 227.000 jüdische Zuwanderer als Kontingentflüchtlinge aufgenommen. Diese beiden großen Zuwanderungsgruppen aus Mittelosteuropa – Spät-/Aussiedler und jüdische Kontingentflüchtlinge – waren privilegiert aufgrund der Rechte, die sie über ihre Zugangstore hatten: beide Gruppen konnten im Familienverband über drei Generationen zuwandern, beide Gruppen erhielten Sprachkurse und Maßnahmen zur beruflichen Integration und Spät-/Aussiedler erwarben außerdem als deutsche Volkszugehörige bei ihrer Aufnahme die deutsche Staatbürgerschaft, ebenso ihre nichtdeutschen Ehepartner und ihre Kinder15. Einen Einblick in die migrantische Lebensrealität und die begrenzte staatliche Planbarkeit von Einwanderung vermittelt die Tatsache, dass viele Zuwanderer dieser beiden Gruppen jetzt in transnationalen Familien leben, obwohl Deutschland ihre Migration in drei-Generationen-Familien ermöglicht hatte. Vor allem Verwandte nichtdeutschstämmiger und nichtjüdischer Ehepartner wollten oder konnten nicht nach Deutschland auswandern16. Viele Spät-/ Aussiedler und jüdische Zuwanderer praktizieren eine »long-distance« Familienkultur (Darieva, 2006) und verfolgen plurilokale Lebensprojekte (Kaiser, 15 | Bundesvertriebenengesetz (BVFG) von 1953 § 4-7 i. V. m. Art. 116 Abs.1 Grundgesetz. 16 | In Bayern bspw. haben mehr als die Hälfte (55 %) der jüdischen Zuwandererhaushalte Verwandte im Herkunftsland (Haug/Wolf, 2007: 39).

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2006) mit engen transnationalen verwandtschaftlichen Bindungen, häufiger Kommunikation und gegenseitigen Besuchen. Die Transnationalität bei Spät-/ Aussiedlern ist in der Literatur bislang kaum beachtet worden (Kaiser, 2006), obwohl sie eine gut erforschte Migrantengruppe sind (vgl. Worbs et al., 2013)17, aus offizieller Sicht kehrten sie als deutsche Volkszugehörige »in die alte Heimat« zurück und ließen kein Herkunftsland und keine Familie zurück. In ihren Narrationen vermitteln vor allem Russlanddeutsche – so ihre Eigenbezeichnung – ein anderes Bild (vgl. Kuznezowa, 2005; Dyck/Mehl, 2008; Ipsen-Peitzheimer/Kaiser, 2006, Kaiser/Schönhut, 2015)18. Eine neue Studie beschreibt das transnationale Leben junger bildungserfolgreicher Spät-/Aussiedler zwischen Deutschland und Russland (Schmitz, 2013; Kapitel 11.2). Der Wandel zu einer realistischen Zuwanderungspolitik begann mit Erleichterungen für die Einbürgerung hier geborener Kinder von Migranten. Im Jahr 2000 folgte der ius soli (Art.4 Abs.3 StAG), mit dem in Deutschland geborene Kinder ausländischer Eltern unter bestimmten Voraussetzungen auch die deutsche Staatsbürgerschaft erwerben, mit der Option sich bei Volljährigkeit für eine Staatsbürgerschaft zu entscheiden. Seit 2014 können Migrantenkinder, die in Deutschland geboren sind, als Volljährige ihre Doppelte Staatsbürgerschaft behalten, unter der Voraussetzung, dass sie acht Jahre in Deutschland gelebt oder sechs Jahre die Schule besucht haben, einen Schulabschluss oder eine Ausbildung abgeschlossen haben. 2005 trat – nach jahrelanger kontroverser Diskussion (Hailbronner, 1991) – das Zuwanderungsgesetz (ZuWG) in Kraft, das u.a. für Neuzuwanderer einen Integrationskurs vorsieht, bestehend aus 600 Stunden Sprach- und 100 Stunden Orientierungskurs (§ 43 Abs.2 AufenthG). Impulse erhielt der Wandel der Zuwanderungspolitik durch die zeitgleiche erste Osterweiterung der EU 2004, mit der die Bürger der acht mittelosteuropä­ischen Beitrittsländer Freizügigkeit und ein Niederlassungsrecht in der EU erhielten (Kayser, 2005). Der Wandel zeigte sich auch im Sprachgebrauch, denn in Politik und öffentlicher Wahrnehmung wurden aus Gastarbeitern, Asylsuchenden, Bürgerkriegsflüchtlingen und Spät-/Aussiedlern nun Migranten und Menschen mit Migrationshintergrund.

17 | Eine Biographie der Veröffentlichungen von 1917 bis 1998 zu Russlanddeutschen nennt über 10.000 Titel, davon über 400 zur Integration (Brandes/Dörringhaus, 1999: 199) und eine Biographie der Publikationen von 2000 bis 2008 über die Integration von Spät-/Aussiedlern zählt über 300 Titel auf (Reitemeier, 2009). 18 | Spät-/Aussiedler kehren auch nach Russland zurück, von 2000 bis 2006 waren es 13.661 Rückwanderer. Die Regierung der Russischen Föderation hat 2007 das »Programm Landsleute« aufgelegt, mit dem sie 300.000 Personen mit russischer Muttersprache – Spät-/Aussiedler und jüdische Zuwanderer – zur Rückkehr motivieren will, um der demographischen Krise in Russland gegenzusteuern (Schmid, 2009).

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Der beginnende Fachkräftemangel erforderte in den letzten Jahren einen Paradigmenwechsel in der Zuwanderungspolitik (Nohl et al., 2010a: 9): Deutschland bemüht sich um die Zuwanderung studentischer Bildungsmigranten und (hoch) qualifizierter Fachkräfte aus Drittstaaten – auch aus Mittelosteuropa – und fördert ihre Zuwanderung aufenthaltsrechtlich (§16 – §20 AufenthG; Kapitel 9.5). Ein essenzieller Beitrag zu diesem Paradigmenwechsel ist das »Gesetz zur Feststellung und Anerkennung im Ausland erworbener Berufsqualifikationen« (BQFG), das seit April 2012 in Kraft ist. Das Gesetz garantiert einen Rechtsanspruch auf eine individuelle Gleichwertigkeitsprüfung ausländischer Berufsabschlüsse mit deutschen Referenzberufen innerhalb von drei Monaten nach Vorlage der Unterlagen19. Das BQFG wird von Gesetzen der Länder ergänzt für die Berufe, die in ihre Kompetenz fallen: Erzieher, Sozialarbeiter, Lehrer, Ingenieure, Architekten u.a.20. Damit wird der jahrzehntelange brain waste (Engelmann/Müller, 2007) unter (hoch)qualifizierten Migranten in Deutschland teilweise beendet und ihr mitgebrachtes Bildungskapital anerkannt.

19 | Eine solche Gleichwertigkeitsprüfung war bisher an die deutsche Staatsbürgerschaft gebunden und damit nur Spät-/Aussiedlern zugänglich. 20 | Das Online-Portal des Bundes »Anerkennung in Deutschland« bietet mehrsprachige Informationen zum Verfahren und in den Ländern wurden Beratungsstellen eröffnet, in Berlin bspw. die Zentrale Erstanlaufstelle Anerkennung (ZEA).

2. Berlin – Stadt der Vielfalt und der Migranten

Am Beginn des 21. Jahrhunderts inszeniert sich Berlin als weltoffen und kosmopolitisch, als Stadt der Vielfalt und der Migranten, die ganz wesentlich zu dieser Vielfalt und zur Erschaffung des »neuen Berlin« beitragen (Beauftragter des Berliner Senats für Integration und Migration, 2007a; Kleff/Seidel). Berlin ist seit 1989 wiedervereinigt, seit 1990 Hauptstadt und mit 3,6 Mio. (2014) Einwohnern die bevölkerungsreichste Stadt Deutschlands, mit steigender Tendenz. Die Berliner sind eine Bevölkerung mit vielen Herkünften, Menschen aus mehr als 180 Ländern leben in der Stadt, drei Viertel von ihnen kommen aus europäischen Ländern, davon über 30  % aus den 28 Ländern der EU (Amt für Statistik Berlin-Brandenburg, 2015). Jeder vierte Berliner ist Migrant oder hat einen Migrationshintergrund1, seine Wurzeln liegen in der 1 | Im Berliner Partizipationsgesetz wird der Migrationshintergrund nur über zwei Generationen definiert (§ 2 ParIntG), anders als in der Definition des Statistischen Bundesamtes, die sich über drei Generationen erstreckt und die seit 2005 dem bundesweiten Mikrozensus zugrunde liegt. Der Begriff »Migrationshintergrund« wurde in den 1990er Jahren in den Erziehungswissenschaften geprägt, um Phänomene längerfristiger Migrationsfolgen besser erfassen zu können (10. Kinder- und Jugendbericht, 1998). Nach der Definition des Statistischen Bundesamtes hat eine Person einen Migrationshintergrund, wenn 1. sie nicht auf dem Gebiet der Bundesrepublik geboren wurde und 1950 oder später zugewandert ist, 2. und/oder wenn die Person keine deutsche Staatsbürgerschaft hat oder eingebürgert wurde, 3. und/oder wenn ein Elternteil der Person eine der unter (1) oder (2) genannten Bedingungen erfüllt. Daraus ergibt sich, dass etwa zwei Drittel der Menschen mit Migrationshintergrund eigene Migrationserfahrungen haben, während das Drittel der in Deutschland geborenen Kinder diese nicht hat (Statistisches Bundesamt, 2005).

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Türkei, in Polen, Russland, auf dem Balkan, am Mittelmeer, im Nahen Osten, in afrikanischen oder asiatischen Ländern. Sie alle haben ihre Werte und Lebensentwürfe, ihre Sprache und kulturellen Gewohnheiten mitgebracht und haben so in den letzten 50 Jahren Berlin und die Lebensweise der Berliner verändert und mitgeprägt: das Straßenbild, die Gastronomie, die reichhaltigen Obst- und Gemüseläden, den Speisezettel, den Dienstleistungsbereich, die religiöse Vielfalt und vieles mehr. Gleichzeitig vermitteln Medienberichte in oft alarmistischem Ton, dass das neue und vielfältige Berlin zahlreiche ungelöste Probleme hat. Einige Migrantengruppen und Stadtteile gelten als problematisch, was mit den Versatzstücken »türkisch-arabischsprachige Jugendliche«, »Nord-Neukölln« und »Parallelgesellschaft« thematisiert wird (Buschkowsky, 2012; Mosler, 2005), nun auch mit der »Armutszuwanderung von Roma«. Neukölln steht dabei im Fokus, denn von den 300.000 Bewohnern des Bezirks sind rund 42 % Migranten, davon etwa 60 % im nördlichen Neukölln (Bezirksamt Neukölln, 2012: 4). Migranten aus der Türkei und aus arabischsprachigen Ländern, die vor zwei oder drei Generationen zuwandert sind, stehen in der Kritik wegen anhaltender Sprach- und Schulprobleme ihrer Kinder, ihrer hohen Arbeitslosigkeit und der patriarchalisch-repressiven Moral, mit der Mädchen und Frauen ihre Lebensweise vorgeschrieben wird, bspw. dem Verbot der Teilnahme am Sportunterricht und an Klassenfahrten bis zu Zwangsverheiratungen. Neue Vielfalt bringen Roma-Migranten aus Rumänien und Bulgarien und ihre Kinder, die seit 2007 in Nord-Neukölln zuwandern und das Schulamt vor große Herausforderungen stellen (Bezirksamt Neukölln, 2012; 2014: Kapitel 2.6.1) Das tägliche Leben in der 3,6-Millionen-Stadt pulsiert zwischen diesen extremen Darstellungen Berlins, der positiven Präsentation der Vielfalt durch die Politik und den Problemen an der Basis im Spiegel medialer Berichte. Seit 2005 bemüht sich die Verwaltung verstärkt die Vielfalt zu gestalten und Lösungen für soziale und wirtschaftliche Schwierigkeiten zu finden, die sich über Jahrzehnte akkumuliert haben, weil Migranten in Berlin nicht als solche wahrgenommen wurden (Integrationsbericht, 2010; Sachverständigenrat, 2012; Kapitel 1.4.5). Nach dem Mauerfall haben sich die Probleme in der Stadt verschärft und neue sind hinzugekommen. Die Gründe lagen in den massiven wirtschaftlichen Strukturveränderungen und einer Beschäftigungskrise mit hohen Arbeitsplatzverlusten als Folge der Wiedervereinigung, verbunden mit der chronischen Krise öffentlicher Finanzen (Häußermann/Kapphan, 2000; Krätke/Borst, 2000; Kapitel 2.5). Zur gleichen Zeit war Berlin auf der Suche nach einer neuen Identität, nachdem es sich jahrzehntelang als Frontstadt im Kalten Krieg und als »geteilte Stadt« identifiziert hatte. Der Diskurs zur Identitätsfindung führte zu »irrwitzigen Boom-Phantasien« (Lanz, 2011: 122) und Expertenprophezeiungen eines Bedeutungssprungs der Stadt zur Global City mit 6 Mio. Einwohnern

2. Berlin – Stadt der Vielfalt und der Migranten

und zum zentralen Drehkreuz nach Osteuropa. Schließlich traf der Diskurs auf die Realität in der Stadt und Berlin gilt fortan wieder – wie vor dem Zweiten Weltkrieg – als kosmopolitische Metropole, in der nun auch die kulturellen Prozesse der Hybridisierung und die Internationalisierung als wertschöpfende Standortfaktoren erkannt und vermarktet werden (Krätke/Borst, 2000: 285f; Lanz, 2011: 123f). Die Wirtschaft in Berlin ist langsam wieder auf einen Expansionskurs gekommen, mit einem robusten Wachstum im Dienstleistungsbereich und Zuwächsen im Baugewerbe und in den Informations- und Kommunikationsbranchen. Damit verbunden ist die Schaffung neuer Arbeitsplätze, die zu einem nachhaltigen Rückgang der Arbeitslosigkeit geführt hat (Senatsverwaltung für Wirtschaft, Technologie und Forschung, 2016). Auch der städtische Haushalt konnte konsolidiert werden, 2015 hat die Stadt einen Haushaltsüberschuss von 1,25 Milliarden Euro erwirtschaftet, was lokale Medien als Sensation gefeiert haben.

2.1 »V ielfalt fördern – Z usammenhalt stärken « »Vielfalt fördern – Zusammenhalt stärken« ist das Leitmotiv des Integrationskonzepts in Berlin, das sich im Kontext der Neuorientierung der deutschen Politik und des Zuwanderungsgesetz (ZuWG) seit 2005 als Einwanderungsstadt versteht (Beauftragter des Berliner Senats für Integration und Migration, 2007a). Im Berliner Konzept finden sich die im Nationalen Integrationsplan »Neue Wege, Neue Chancen« 2007 vorgegebenen Rahmenbedingungen wieder und es spiegelt aktuelle migrationswissenschaftliche Diskurse, die die Rolle der Migranten bei der Gestaltung postmoderner Stadtgesellschaften als Orte der Vielfalt, der »super diversity« diskutieren (vgl. Bukow et al., 2011a; Glick Schiller/Caglar, 2011a; Vertovec, 2010b; Kapitel 1.4.4). Diese Integrationspolitik ist in Berlin ein Paradigmenwechsel2 und ihr zentrales Anliegen ist die Herstellung der Chancengleichheit der Migranten mit zwei Zielen: die kulturelle Vielfalt der Migranten zu erhalten und zu fördern und ihre Teilnahme als Akteure in allen Bereichen zu ermöglichen, damit sie ihre Potentiale einbringen können (Beauftragter des Berliner Senats für Integration und Migration, 2007a: 6). Um diese Ziele zu erreichen sind acht Handlungsfelder festgelegt und mit Maßnahmenkatalogen verbunden worden, deren integrationspolitische Ent-

2 | Es ist die dritte Phase der Integrationspolitik in der Stadt, die erste verlief von 1971 bis 1981, die zweite von 1981 bis 2003 mit jeweils anderen Schwerpunkten (vgl. Gesemann, 2009: 314).

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wicklungen und Erfolge jährlich mit einem indikatorengestützten Monitoring gemessen werden: (1) Schaffung einer Willkommenskultur für Neuzuwanderer mit verbesserter Präsentation der kulturellen Vielfalt Berlins und einer Stärkung interkultureller Kompetenzen, (2) Integration der Migranten durch Teilnahme am Erwerbsleben und ihre Förderung durch Ausbildung, Weiterbildung und Existenzgründungen, (3) Integration der Kinder durch Bildung in Kindertagesstätten und Schulen, vor allem die Verbesserung ihrer Sprachkompetenz und der Schulabschlüsse, (4) Stärkung des sozialräumlichen Zusammenhalts3, (5) die interkulturelle Öffnung der Verwaltung, (6) Partizipation und Stärkung der Zivilgesellschaft (Beauftragter des Berliner Senats für Integration und Migration, 2007b). Zentraler Bestandteil der Integrationspolitik ist das Partizipationsgesetz (ParIntG), mit dem eine umfassende Teilhabe der Migranten und ihrer Organisationen in allen gesellschaftlichen Bereichen Berlins erreicht werden soll. Integration wird im Gesetz als ein gesellschaftlicher Prozess verstanden, der die ganze Berliner Bevölkerung einschließt und zu gleichen Teilhabechancen für alle führt. Das Partizipationsgesetz ist seit Januar 2012 in Kraft und es ist das erste seiner Art in Deutschland. Das Gesetz schafft die Voraussetzung für die interkulturelle Öffnung der städtischen Verwaltung, bei der nun Mehrsprachigkeit und interkulturelle Kompetenz als Qualifikationen für Einstellung und Beförderungen gelten. Damit eröffnet es Arbeitsplätze für Migranten und eine interviewte Migrantin hatte sich bereits mit guten Aussichten beim Senat beworben. In diesem Handlungsfeld kann das Integrationskonzept sein Versprechen einlösen, die kulturelle Vielfalt der Migranten zu erhalten und gleichzeitig ihre chancengleiche Teilhabe in der Gesellschaft zu ermöglichen. Chancengleichheit für Migranten und der Erhalt ihrer kulturellen Vielfalt im Kontext des Selbstbildes Berlins als weltoffene kosmopolitische Metropole, ist jedoch in den drei zentralen Teilhabefeldern – dem Arbeitsmarkt, der beruflichen und der schulische Bildung – wesentlich schwerer erreichen; Berlin hat hier noch zahlreiche Baustellen (Kapitel 2.5.1). Zur unterschiedlichen Rezeption des Integrationskonzepts einige Stimmen aus dem fachpolitischen Umfeld: einerseits wird erwartet, dass auf seiner Grundlage zukünftig eine »strategische Steuerung« der Integration zu erreichen ist (Gesemann, 2009: 3 | Die Handlungsfelder 2 bis 4 werden im Kapitel 2.5 behandelt. Weitere Handlungsfelder sind (7) Perspektiven für Flüchtlinge, (8) Verbesserung der Kooperation zwischen Senat und Bezirken.

2. Berlin – Stadt der Vielfalt und der Migranten

317), andererseits wird es als »Botschaft von der Metaebene« bezeichnet, die keine der dringend benötigten zusätzlichen Lehrerstellen für Migrantenkinder schaffen (Buschkowsky, 2012: 86). Stimmen und Ansichten von Akteuren an der Basis der Berliner Integrationspolitik hat Kiepenheuer-Drechler zusammengetragen und »aus ethnologischer Perspektive« untersucht (2013).

2.2 »P euplierungspolitik« und Z uwanderung im alten B erlin Berlin ist seit 350 Jahren eine Einwanderungsstadt, seit Friedrich Wilhelm, der Große Kurfürst von Preußen, eine aktive »Peuplierungspolitik« (Wilke, 1987: 354) begonnen hatte, indem er 1671 ein Niederlassungsedikt für 50 jüdische Familien aus Wien erließ. Preußen suchte »reiche, wohlhabende Leute« zur »Beforderung des Handels und Wandels« (Scheiger, 1990: 166f), denn das Land war nach dem Dreißigjährigen Krieg verwüstet und die Zahl der Einwohner dezimiert, in Berlin von 12.000 auf 7.500. Berlin wird seither von Zuwanderern geprägt, wie keine andere Stadt in Deutschland. Die Migranten kamen fast immer aus Osteuropa, mit Ausnahme der Hugenotten, und oft waren sie Glaubensflüchtlinge. Unter ihnen waren viele jüdische Migranten, die in Preußen hohe (Sonder-)Abgaben entrichten mussten und die aufgrund der ihnen auferlegten Beschränkungen vor allem im Geld- und Warenhandel tätig waren. Erst 1714 erhielten sie die Erlaubnis für den Bau einer Synagoge, 43 Jahre nach Gründung der Jüdischen Gemeinde, Staatsbürger konnten sie erst ab 1812 werden, fast 150 Jahre nach Beginn ihrer Zuwanderung (Scheiger, 1990). Als Gründungsdokument der Berliner Einwanderungspolitik gilt das »Edikt von Potsdam« von 1685. Im Edikt bot der Große Kurfürst den calvinistischen Hugenotten aus Frankreich »eine sichere und freye retraite in alle unsere Lande und Provincien« (Birnstiel/Reinke, 1990: 47). Es legte in vierzehn Artikeln die Verfassung der Französischen Kolonie fest und räumte den Hugenotten zahlreiche Privilegien ein, Zollfreiheit, Steuerbefreiung und materielle Hilfe bei der Gründung von Manufakturen (Wilke, 1987: 355). Hugenotten wanderten zwischen 1684 und 1710 in Berlin zu4 und bewirkten aufgrund ihrer vielfältigen Berufe in Preußen einen ökonomischen Innovationsschub. Sie schufen das französische Berlin, an das heute noch die Französische Straße, der Gendarmenmarkt mit dem Französischen Dom und das Französische Gymnasium erinnern, das 1685 als erste öffentliche Schule Berlins gegründet wurde (Birnstiel/Reinke, 1990).

4 | Ihre Gesamtzahl wird auf höchstens 20.000 Flüchtlinge geschätzt; sie bildeten um 1710 etwa 1,5 % der Bevölkerung Brandenburg-Preußens (Wilke, 1987: 359).

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Der Integrationsprozess der Hugenotten verlief über drei bis vier Generationen, das heißt, er dauerte hundert Jahre, eine interessante Tatsache im Kontext gegenwärtiger Debatten über die Integration von Migranten im neuen Berlin. Die Hoffnung der Flüchtlinge auf Rückkehr und ihre juristische Selbständigkeit als Französische Kolonie verzögerte die Integration, die in den sozialen Schichten unterschiedlich war. Der Adel blieb am Hof Preußens französisch, die Armen mussten sich dem Berliner Alltagsleben sprachlich anpassen, während die breite Schicht der Gewerbetreibenden an der französischen Sprache und Kultur festhielt und bevorzugt untereinander heiratete (Wilke, 1987: 427; 369). Als Napoleon 1806 Berlin besetzte, betonten die Hugenotten ihm gegenüber, sie seien »französische Preußen« (Wilke, 1987: 430). Mit der juristischen Auflösung der Französischen Kolonie (1809-1812) war die Integration der Hugenotten weitgehend vollzogen, sie bildeten zu dieser Zeit 3 – 5 % der Bevölkerung. Der Deutsch-Unterricht am Französischen Gymnasium, der Ende 18. Jhs. eingeführt wurde, bewirkte allmählich ihre Zweisprachigkeit (Wilke, 1987: 428-429). Im 18. Jh. wanderten böhmische Protestanten als Flüchtlinge zu, die vor der Gegenreformation geflohen waren und ließen sich im 1737 gegründeten Böhmisch-Rixdorf im heutigen Neukölln nieder. Sie behielten lange Zeit ihre tschechische Muttersprache bei, arbeiteten in der Landwirtschaft und im Handwerk, vor allem in der Flachs- und Wollherstellung für die Berliner Textilindustrie5 (Graffigna, 1990). Zwischen 1881 und 1914 kamen viele jüdische Migranten aus Russland, Galizien und Rumänien, die vor Pogromen fliehen mussten und nach der Oktoberrevolution 1917 migrierten erneut viele Russen in die Stadt; Berlin war zu dieser Zeit der »Ostbahnhof Europas« (Burchard, 2002; Schlögel, 2007). In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erlebte Berlin eine stürmische Entwicklung zur größten Industriemetropole in Europa und hierfür wurden hunderttausende Arbeitskräfte benötigt. Sie kamen aus den östlichen preußischen Landesteilen, unter ihnen viele Polen, die nach der 3. Teilung Polens 1795 »preußische Untertanen polnischer Nationalität« geworden waren (Hartmann, 1990). 1895 lebten 1,7 Millionen Menschen in Berlin, darunter 290.000 Migranten, die meisten waren Polen (130.000) und Russen (knapp 100.000) und alle leisteten bis 1933 wertvolle Beiträge zur Entwicklung der Stadt. Der Migrantenanteil betrug in Berlin um die Jahrhundertwende 17  %. Zum Vergleich: im neuen Berlin leben gegenwärtig 13,5 % Migranten bzw. 25,5 % Menschen mit Migrationshintergrund. Und schon vor mehr als hundert Jahren klagten Lehrer an Berlins Schulen über die mangelnden Deutschkenntnisse eines Teils der Schüler, deren Muttersprache Polnisch, Sorbisch, Russisch oder Jiddisch 5 | An die Böhmen und ihre Lebensweise in Berlin wird seit 2005 in einem kleinen Museum im ehemaligen Schulgebäude des Böhmischen Dorfes in der Kirchgasse 5 erinnert.

2. Berlin – Stadt der Vielfalt und der Migranten

war und über die »zuweilen außerordentlich mühseligen und langwierigen Prozesse der Integration« bei Migranten (Jersch-Wenzel/John, 1990: 8). In den 1920er Jahren gab es in Berlin zwei osteuropäisch geprägte Viertel, das Scheunenviertel, das als sozialer Brennpunkt galt und in dem die ärmeren orthodoxen Juden lebten und Jiddisch sprachen und »Charlottengrad«, wie die gebildeten russischen Migranten ihr bevorzugtes Wohngebiet im Westen der Stadt nannten. In beiden Vierteln existierten Parallelgesellschaften, in denen nur wenige daran interessiert waren, Deutsch zu lernen oder sich in die Berliner Gesellschaft zu integrieren6. Dieses »Russki Berlin« etablierte sich zur Hauptstadt der russischen Emigration und unter der Regie der russischen Gemeinde wurde ein dichtes Netz von Selbstorganisationen geschaffen. Zeitweise lebten 360.000 russische Migranten in der Stadt. Viele verließen Berlin in den späten 1920er Jahren wieder, u. a wegen der erstarkenden nationalsozialistischen Kräfte und der steigenden Lebenskosten (Scheiger, 1990; Burchard, 2002; Schlögel, 2007; Boldt, 2008; Stiftung Jüdisches Museum, 2012).

2.3 S tadt ohne M igr anten – die J ahre von 1933 bis 1964 Mit Hitlers Machtergreifung 1933 war das Ende des alten Berlin als Einwanderungsstadt gekommen und ihre Vielfalt wurde zerstört (Wildt/Kreutzmüller, 2012: 13). Noch hier lebenden Migranten und viele Deutsche verließen Berlin, es folgte die Vertreibung jüdischer Bürger und ab 1941 die Deportation und Ermordung von 160.000 Berliner Juden in Auschwitz und anderen Vernichtungslagern (Gruner, 2013). Berlin war in dieser Zeit zwar eine Stadt ohne Migranten, aber »selten war Berlins Einwohnerschaft internationaler« (Pagenstecher/Buggeln, 2013: 127), denn rund eine halbe Million Zwangsarbeiter, ein Drittel von ihnen Frauen, arbeiteten im Verlauf des Zweiten Weltkrieges in Berliner Betrieben. Zwangsarbeiter aus Osteuropa mussten das Zeichen »P« für Pole oder »Ost« für Russe an der Kleidung tragen, waren in mehr als 3000 Lagern und Baracken notdürftig untergebracht, litten an Unterernährung und ihnen war jede Teilnahme am öffentlichen Leben strikt verboten (Pagenstecher/Buggeln, 2013; Berliner Geschichtswerkstatt, 20007; Herbert, 1986: 148f). 6 | »Berlin Transit. Jüdische Migranten aus Osteuropa in den 20er Jahren« lautete der Titel einer Ausstellung, die im Jüdischen Museum zeigte, wer die Flüchtlinge waren und wie sie im armen Scheunenviertel und im bürgerlichen Charlottenburg ihr Leben führten. Der Katalog enthält zahlreiche zeitgenössische Fotos: Stiftung Jüdisches Museum Berlin, 2012. 7 | Die Dokumentation der Berliner Geschichtswerkstatt veröffentlichte eine Auswahl von Zeitzeugenberichten ehemaliger Zwangsarbeiter aus Polen, der Ukraine und Weiß-

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Sie gehörten zu den 13,5 Millionen Zwangsarbeitern – »Hitlers Sklaven« – die nach Deutschland verschleppt wurden, davon 8,5 Millionen Zivilarbeiter, die meisten aus Osteuropa (von Plato et al., 2008: 9-11 8). Unter ihnen waren auch 72.000 meist junge Frauen, die als »hauswirtschaftliche Ostarbeiterinnen« Zwangsarbeit in deutschen Haushalten (Winkler, 2000: 152) und Kinderzimmern (Mendel, 1994) leisten mussten9. Nach Kriegsende warteten viele ehemalige Zwangsarbeiter jahrelang als DPs – deported persons – in Lagern auf ihre Rück- oder Umsiedlung (Jacobmeyer, 1992). Nach dem Ende des Krieges lebten 1945 nur Deutsche in der zerstörten Stadt, außer den Angehörigen der vier Besatzungsmächte, die unter sich blieben. Berlin war fast zwanzig Jahre eine Stadt der Deutschen, in die nun Deutsche zuwanderten. Zwischen 1945 und 1950 kamen etwa 150.000 Vertriebene aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten und ab 1953 bis zum Mauerbau 1961 flohen hunderttausende DDR-Bürger über die offenen Sektorengrenzen oder kamen mit der S-Bahn nach West-Berlin, von denen die meisten nach Westdeutschland weitergeleitet wurden10. Mit dem Bau der Berliner Mauer 1961 fehlten in West-Berlin über Nacht 56.283 Arbeitskräfte, die vorher täglich aus Ost-Berlin als Pendler zur Arbeit gekommen waren. Deshalb begann Mitte der 1960er Jahre in Berlin die Anwerbung von Gastarbeitern. Im Jahr des Mauerbaus lebten 22.000 Ausländer in Berlin, weniger als 1  % der Bevölkerung (Kleff/Seidel, 2009: 27).

russland, die in Berlin gearbeitet hatten und die nach einem Aufruf von Betroffenenverbänden ihre Berichte in Briefform niederschrieben. 8 | Mit der Dokumentation ihrer lebensgeschichtlichen Erinnerungen in dem Buch »Hitlers Sklaven« wollten die Herausgeber in Zusammenarbeit mit der Stiftung »Erinnerung, Verantwortung und Zukunft« den Zwangsarbeitern und Zwangsarbeiterinnen aus über 20 europäischen Ländern ein Denkmal setzen. 9 | Ehemalige Zwangsarbeiter aus Osteuropa erhielten erst in den 1990er Jahren eine Entschädigung über die o.g. Stiftung, deren Kapital von Deutschland und der Wirtschaft zusammen finanziert wurde. Die »hauswirtschaftlichen Ostarbeiterinnen« bekamen jedoch keinerlei Entschädigung, denn ihre Reproduktionsarbeit wurde nicht als Arbeit für die Kriegswirtschaft anerkannt (Winkler, 2000: 164). 10 | Von 1949 bis 1961 flohen 2,5 bis 3 Mio. Menschen aus der DDR nach West-Berlin und nach Westdeutschland (Heidemeyer, 1994: 37-48).

2. Berlin – Stadt der Vielfalt und der Migranten

2.4 W est-B erlin – die grösste türkische S tadt ausserhalb der T ürkei Berlin ist untrennbar mit der Zuwanderung aus der Türkei verbunden, die in West-Berlin im November 1964 begann, als acht türkische Frauen als erste »Gastarbeiterinnen« auf dem Flughafen Tempelhof ankamen11. Die Arbeitsmigration nach West-Berlin setzte neun Jahre später als in der übrigen Bundesrepublik ein und war anfangs weiblich, denn Berlin brauchte Frauen mit geschickten Händen für die Produktion in der Elektro- und Textilindustrie. In den folgenden Jahren stieg die Nachfrage nach ausländischen Arbeitskräften schnell an. Nach den Türken kamen vor allem Jugoslawen und Griechen und eine Besonderheit war der hohe Anteil der zuwandernden Frauen in Berlin, der bei 40 % lag. Als 1973 die Bundesregierung den Anwerbestopp verhängte, waren von den 180.000 Gastarbeitern in Berlin 80.000 Türken12, die mit ihrem neuen Selbstverständnis als Zuwanderer ihre Familien nachholten und dauerhaft in Berlin bleiben wollten, vor allem nach dem Militärputsch 1980 in der Türkei. Junge türkische Migranten suchten dann über Jahrzehnte ihre Ehepartner meist in der Türkei13 und mit dieser Heiratsmigration stieg die Zahl der türkischen Migranten weiter an. Ihre bevorzugten Stadtviertel waren Kreuzberg, Wedding und Tiergarten, wo die Mieten in unsanierten Altbauwohnungen preiswert waren. Als der Migrantenanteil dort Mitte der 1970er Jahre auf 15 % anstieg, während er in West-Berlin statistisch bei 9 % lag, begann eine Debatte über Ghettobildung in der Stadt. Daraufhin verfügte der Senat eine »Zuzugssperre« für Ausländer in den drei Bezirken, die auf vielfache Weise umgangen wurde und erst 1989/1990 aufgehoben wurde (Häußermann/Kapphan, 2000: 84-85). Insbesondere Kreuzberg wurde von türkischen Migranten geprägt, die zeitweise ein Drittel der Bewohner waren. Die lokale Presse sprach von »Klein Istanbul« und in türkischen Medien wurde Berlin als »größte türkische Stadt außerhalb der Türkei« bezeichnet14. Türkische Migranten sind die größte Mig11 | Zur gleichen Zeit, im Herbst 1964 waren schon eine Million Gastarbeiter in Westdeutschland beschäftigt, davon 22,7 % Frauen (Herbert, 1986: 197 und 262, Anm. 84). 12 | In Westdeutschland waren es 2,59 Millionen, unter ihnen mehr als 600.000 Türken, die seit 1972 die größte nationale Gruppe unter den Gastarbeitern war (Herbert, 1986: 212, 216). 13 | Nach Straßburger fand etwa die Hälfte der Ehen türkischer Migranten der 2. Generation in Deutschland mit Partner aus der Türkei statt (2001: 6). 14 | Kreuzberg hat seither mehrere Wandlungsprozesse erlebt. In den 1980/1990er Jahren galt das Viertel als multikulturell und zog Künstler und junge Leute mit alternativen Lebensentwürfen an. Nach der Wiedervereinigung verlor es seine Insellage an der Mauer, es liegt nun in der Mitte Berlins und für die Mittelschicht wurde es chic in Kreuz-

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rantenpopulation Berlins und sie beeinflussen auf vielfältige Weise das Leben in der Stadt, betreiben eine »ethnische Ökonomie« mit hunderten Obst- und Gemüseläden, mit Restaurants und Imbissständen (Scholz, 1990) und haben sich eine eigene Infrastruktur geschaffen, mit Sportvereinen, Arztpraxen, Gebetsräumen und Moscheen. In den 1970/1980er Jahren kamen viele Flüchtlinge aus dem Libanon, Palästina, dem Iran und anderen Ländern. Sie reisten über den Flughafen in Ost-Berlin ein, fuhren mit der S-Bahn nach West-Berlin und beantragten Asyl. Nach Ausrufung des Kriegsrechts 1981 in Polen wanderten etwa 80.000 Polen zu, die als deutschstämmige Spät-/Aussiedler oder als politisch Verfolgte anerkannt wurden (Häußermann/Kapphan, 2000: 203). Die Zuwanderung nach West-Berlin summierte sich von 1964 bis zur Wiedervereinigung 1989 auf 300.000 (296.620) Migranten (Tabelle 2) in einer Bevölkerung von 2,1 Mio. und bewirkte die »bedeutendste soziokulturelle Veränderung der Nachkriegszeit« (Kapphan, 2001: 91). Tabelle 2: Zuwanderung nach West-Berlin von 1964 bis 1989 in abgerundeten Zahlen Jahr

Anzahl Migrantinnen und Migranten

1970

100.000

1980

200.000

1989

300.000

Quellen: Statistisches Landesamt Berlin, 1990; Häußermann/Kapphan, 2000: 98; Ohliger/Raiser, 2005: 18/19.

2.5 D as wiedervereinigte B erlin – E inwanderungsstadt under construction 15 Das wiedervereinigte »neue« Berlin hatte und hat viele Baustellen beim städtebaulichen und sozialen Zusammenwachsen der beiden Stadthälften und ihrer Bewohner nach den Jahrzehnten der getrennten Entwicklung, ebenso bei der Verbesserung der wirtschaftlichen Situation und dem Abbau der Arbeitsloberg zu wohnen. Eine Gentrifizierung begann, Altbauwohnungen wurden zu Wohneigentum saniert und wegen der steigenden Mieten verliessen Migrantenfamilien Kreuzberg (Lang, 1998). 15 | Gesemann, 2009.

2. Berlin – Stadt der Vielfalt und der Migranten

sigkeit. Berlin ist eine arme Stadt (Häußermann/Kapphan, 2000; Kapphan, 2001). Nirgendwo in Deutschland leben so viele Menschen von staatlichen Transferleistungen wie in Berlin. Die Altbauviertel der westlichen Innenstadt sind zu einem »Milieu der Benachteiligung« geworden (Häußermann et al., 2007: 82). Die Ansiedlung der Migranten im westlichen und östlichen Stadtgebiet ist mehr als zwanzig Jahre nach der Wiedervereinigung noch immer sehr unterschiedlich. West-Berlin brachte 1989 einen Anteil von 13,7 % (300.000) in das neue Berlin ein, Ost-Berlin nur 1,6 % (20.000)16 (Häußermann/Kapphan, 2000: 212). Der Migrantenanteil der Bevölkerung Berlins hat sich seither bei 13,5 % stabilisiert, in östlichen Bezirken liegt er zwischen zwei und fünf Prozent. In den 1990er Jahren hat sich die Zuwanderung in Berlin über die bekannten Zugangstore zunächst massiv fortgesetzt, vor allem aus Mittelosteuropa: • Bis April 1991 wanderten fünf- bis sechstausend jüdische Migranten aus der ehemaligen Sowjetunion zu, die noch in der DDR Asyl erhalten hatten und ab Juni 1990 als Kontingentflüchtlinge anerkannt wurden17. Weitere 30.000 jüdische Zuwanderer aus den Nachfolgestaaten der Sowjetunion haben sich in den folgenden Jahren in Berlin angesiedelt (Kapphan, 1997: 125, Tab.1) und sie sind Teil der »neuen« Migration. Mit ihrer Aufnahme wollte Deutschland den Wiederauf bau jüdischen Lebens und eine Stärkung der überalterten Jüdischen Gemeinden fördern18.

16 | Auch in der DDR wurden Arbeitsmigranten beschäftigt, insbesondere aus Polen und bis 1990 gab es Verträge zur Anwerbung »ausländischer Werktätiger« mit Kuba (1978), Mosambik (1979) und Vietnam (1980), die eine Rotation nach fünfjährigem Aufenthalt vorsahen. 1989 arbeiteten etwa 93.000 Vertragsarbeiter in der DDR, davon 59.000 aus Vietnam. 1990 mussten die meisten in ihre Herkunftsländer zurückkehren (Bade/Oltmer, 2004: 90-96). 17 | Die Zuwanderung jüdischer Familien aus der ehemaligen Sowjetunion basierte auf einer Vereinbarung der Ministerpräsidenten der Bundesländer vom 15. 2. 1991. Sie wurde 2005 auf der Grundlage von § 23 Abs. 2 AufenthG neu geregelt: Kriterien sind die eigenständige Sicherung des Lebensunterhaltes, Kenntnisse der deutschen Sprache und die Aufnahme in eine Jüdischen Gemeinde. Die Zuwanderer werden nach dem Königssteiner Schlüssel auf die Bundesländer verteilt, die Quote für Berlin beträgt 2,3 %. Bis Ende 2006 waren 226.651 jüdische Zuwanderer aus mittelosteuropäischen Ländern nach Deutschland migriert (Haug/Wolf, 2007: 9; Haug/Schimany, 2005). 18 | Schütze hat (1997) mit 43 jungen jüdischen Zuwanderern in Berlin eine biographische Studie erarbeitet über ihre Gründe nach Deutschland zu migrieren und nicht nach Israel. Zu dieser Thematik siehe auch Schoeps et al., 1996 und Kessler, 2003, sowie Gromova, 2013.

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• Während des Bürgerkrieges im früheren Jugoslawien suchten viele Flüchtlinge Schutz in Berlin, vor allem wenn sie Verwandte – frühere Gastarbeiter – in der Stadt hatten und zwischen 1991 und 1995 wurden 30.000 bosnische Bürgerkriegsflüchtlinge temporär aufgenommen. Die meisten mussten Ende der 1990er Jahre in die Nachfolgestaaten Jugoslawiens zurückkehren (Mihoc, 2001: 145). • Von 1991 an wanderten etwa 130.000 Spät-/Aussiedler aus mittelosteuropäischen Ländern und Zentralasien in Berlin zu, davon rund 75.000 aus Polen und rund 55.000 aus der ehemaligen Sowjetunion (vgl. Ohliger/ Raiser, 2005: 21); Spät-/Aussiedler sind als deutsche Staatsbürger in den Statistiken über Migranten ausländischer Herkunft nicht enthalten19. Viele von ihnen gehören in Berlin zur polnisch- oder russischsprachigen Community (Kapitel 2.7.1; 2.7.2). • Auch Flüchtlinge und Asylbewerber suchten Schutz in der Stadt. In den frühen 1990er Jahren kamen etwa 20.000 Kurden aus dem Irak und der Türkei sowie Libanesen, von denen die meisten nicht anerkannt wurden, aber mit einer Duldung bleiben konnten20 (Häußermann/Kapphan, 2000: 203f; Kapphan, 2001: 94f). Mitte der 1990er Jahre ist in Berlin eine Verringerung der Zuwanderung eingetreten, als Folge der Stabilisierung der weltpolitischen Lage. Die Zahl der Einwohner nichtdeutscher Herkunft war nach der Wiedervereinigung bis 1996 um knapp 150.000 Zuwanderer angestiegen und hatte einen Höhepunkt mit 444.112 Migranten erreicht. Dieser Stand ist bis 2003 nahezu unverändert geblieben. Zu dieser relativ niedrigen Statistik trugen drei Entwicklungen bei: (1) die Rückkehr bzw. Abschiebung von Bürgerkriegsflüchtlingen aus dem ehemaligen Jugoslawien, (2) die Einbürgerung von fast 200.000 Migranten (182.614), die nun zu den rund 25 % Berlinern mit Migrationshintergrund gehören und (3) die Tatsache, dass Migrantenkinder nicht mehr in Ausländerstatistiken gezählt werden, denn aufgrund des ius soli (Art.4 Abs.3 StAG) ha-

19 | Statistiken der Berlin zugeteilten Spät-/Aussiedler konnten mir die zuständigen Behörden, das Landesamt für Gesundheit und Soziales in Berlin und das Bundesverwaltungsamt in Bonn, nicht zugänglich machen. Ab 1991 wurden sie Berlin mit einer Quote von 2,7 % zugewiesen, ab 2005 mit der Quote von 4,9 %. 20 | Ist eine Abschiebung in das Herkunftsland nicht möglich, wird aus der Duldung in der Regel eine jahrelange Kettenduldung, bevor über eine Altfallregelung eine Aufenthaltserlaubnis erteilt wird. Bspw. lebten am 1.1.2010 in Berlin 5.818 Geduldete, davon 3.325 länger als sechs Jahre und in Deutschland insgesamt 89.498 Geduldete, von ihnen 56.963 länger als sechs Jahre (8. Integrationsbericht, 2010:305).

2. Berlin – Stadt der Vielfalt und der Migranten

ben nach 1990 in Deutschland geborene Kinder von Migranten die Deutsche Staatsbürgerschaft bzw. die Doppelte Staatsbürgerschaft 21. In Berlin hat sich erst nach 2004 wieder eine moderate Zuwanderung entwickelt, die zu über 70 Prozent aus europäischen Ländern kommt. Nach der ersten EU-Osterweiterung war ein leichter Anstieg auf insgesamt 450.000 Migranten in der Stadt festzustellen, der sich in den folgenden zehn Jahren langsam fortgesetzt hat: 2014 lebten 573.342 Migranten in der stetig wachsenden Bevölkerung Berlins, die im gleichen Jahr 3,6 Mio. erreichte. Die größte Migrantenpopulation sind über 200.000 Menschen mit türkischen Wurzeln22, die zweit- und drittgrößte bilden polnisch- und russischsprachige Zuwanderer der »neuen« Ost-West-Migration (Amt für Statistik Berlin-Brandenburg, 20122014).

2.5.1 Baustellen für Teilhabe und Chancengleichheit Ein Teil der Bevölkerung Berlins mit und ohne Migrationshintergrund leidet auch mehr als zwei Jahrzehnte nach der Wiedervereinigung noch unter den Altlasten des wirtschaftlichen Strukturwandels. Chancengerechtigkeit auf dem Arbeitsmarkt, bei ihren Bildungserfolgen und denen ihrer Kinder und bei ihrer Wohnsituation ist für die Betroffenen noch lange nicht erreicht (Häußermann et al., 2010). Die Gründe dafür werden bei Deutschen in der Regel als »soziale Benachteiligung« beschrieben, bei Migranten als »mangelnde Integration«. Eine mangelnde Integration ist ebenfalls eine Altlast, denn Integrationskonzepte und Fördergelder gab es vor 2005 nur für privilegierte Zuwanderer – Spät-/Aussiedler, Kontingentflüchtlinge und Asylberechtigte. Die kulturelle Vielfalt der Migranten, die von der Berliner Politik so positiv für das neue Berlin dargestellt wird, bleibt im Kontext der Realität ihrer Teilhabe bei Erwerbstätigkeit und im Bildungsbereich weitgehend unerwähnt. Ausnahmen finden sich bei der »ethnischen Ökonomie« und neuerdings bei Mehrsprachigkeit und interkultureller Kompetenz, die seit 2012 als Qualifikationen für den Öffentlichen Dienst der Stadt gesetzlich festgelegt sind. Die Vielfalt der Berliner Migranten zeigt sich aber auch bei ihrer Bildung. Die Stadt hat ein wachsendes Potential hochqualifizierter und gut ausgebildeter Migranten, der Anteil der 18-65-Jährigen mit Hochschulreife liegt mit 40,2 % bundesweit an der Spitze (Durchschnitt: 21,5 %) und der Anteil der Schüler nichtdeut21 | Voraussetzung für die Doppelte Staatsbürgerschaft ist: sie haben acht Jahre in Deutschland gelebt oder sechs Jahre hier die Schule besucht, einen Schulabschluss oder eine Ausbildung abgeschlossen. 22 | In dieser Statistik sind Migranten und Menschen mit Migrationshintergrund, gerechnet bis zur 3. Generation, enthalten, von denen rund 80.000 eingebürgert sind (Amt für Statistik Berlin-Brandenburg, 2010).

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scher Staatsangehörigkeit, die das Gymnasium besuchen ist mit 30,4 % sehr hoch (in Bayern bspw. 18,4 %) (Integrationsmonitoring der Länder, 2011). Trotz dieser Ausnahmen bestätigt sich auch in Berlin die Kritik von Migrationswissenschaftlern, die europäische Stadt werde von der Mehrheitsgesellschaft als »nationaler Container« verstanden, in den sich die Migranten einpassen müssen, spätestens in der 3. Generation (vgl. Bukow et al., 2011b; Glick Schiller/ Caglar, 2011a; 2011b). Die volle Teilhabe und Chancengleichheit am Arbeitsmarkt und an den Bildungsangeboten – wie aktuell die Definition von ›Integration‹ lautet (11. Integrationsbericht, 2016) sind die Voraussetzung für einen gleichberechtigten Zugang der Migranten und ihrer Kinder zu den gesellschaftlichen Ressourcen, die überdies aus volkswirtschaftlichen Gründen dringend geboten ist, denn das Potential der Migranten wird in Deutschland zu wenig genutzt – so offizielle Verlautbarungen (Nationaler Integrationsplan, 2007: 78; 8. Integrationsbericht, 2010: 93). Die folgende Bestandsaufnahme auf den Berliner Baustellen für Teilhabe und Chancengleichheit der Migranten zwischen 2005 und 2015 zeigt, trotz der Heterogenität der verfügbaren Daten, dass es in vielen Bereichen Probleme gibt, für deren Abbau noch Jahre intensive Arbeit erforderlich sind, trotz einiger Verbesserungen in den letzten Jahren23. Der Arbeitsmarkt hatte nach dem Zusammenbruch des Industriestandortes Berlin als Folge der Wiedervereinigung zwischen 1991 und 2004 mehr als die Hälfte – rund 250.000 – Arbeitsplätze im verarbeitenden Gewerbe verloren. Die Arbeitslosenquote war von 9,4 % im Jahr 1991 auf den Höchststand von 21,5 % im Jahr 2005 gestiegen. Die Quote arbeitsloser Migranten hatte sich im gleichen Zeitraum noch dramatischer von 14,5 % auf 44,1 % erhöht (Gesemann, 2009: 319). Die Berliner Wirtschaft begann ab 2005 jährlich wieder um 2,2 % zu wachsen (IAB Regional, 2016: 14). Seither ist Zahl der Arbeitslosen langsam gesunken, bspw. 2012 auf 12,3 % und bei Migranten auf 22,0 %, im Jahr 2014 auf 9,6 % und bei Migranten auf 21,2 % (Bundesagentur für Arbeit, 2015: 28). In beiden Gruppen sind Frauen etwas stärker von Arbeitslosigkeit betroffen, verfügen aber über eine bessere Schulbildung, denn 19,5 % haben in jeder Gruppe die allgemeine Hochschulreife (Bundesagentur für Arbeit, 2015: 23; 30). 25 Jahre nach der Wiedervereinigung. hat die Arbeitslosenquote in Berlin 2016 mit 9,2 % annähernd den Stand vor 1991 erreicht, bei Migranten ist sie mehr als doppelt so hoch. Das entspricht der bundesweiten Erfahrung, denn die Zahl arbeitsloser Migranten ist in allen Kommunen etwa doppelt so hoch, 23 | Vergleiche der Daten in Berlin mit anderer Bundesländern zeigen, dass in allen Kommunen noch große Anstrengungen erforderlich sind, um die volle gesellschaftliche Teilhabe der Migranten und ihrer Kinder zu erreichen (8. Integrationsbericht 2010; Sachverständigenrat, 2012).

2. Berlin – Stadt der Vielfalt und der Migranten

wie die der Arbeitslosen insgesamt (8. Integrationsbericht, 2010: 93). In Berlin ist die Arbeitslosenquote seit Jahren die höchste der 16 Bundesländer, ebenso die Quote der arbeitslosen Migranten. Vor allem Migranten mit geringer Qualifikation sind von Arbeitslosigkeit betroffen. 2005 hatte in Berlin mehr als die Hälfte (53,2 %) von ihnen keinen Schulabschluss und über 80 % (81,1 %) keine abgeschlossene Berufsausbildung (Bundesagentur für Arbeit, 2006). 2014 waren Verbesserungen erkennbar: 26.7 % der arbeitslosen Migranten hatte keinen Schulabschluss und 73,3 % keine Berufsausbildung (Bundesagentur für Arbeit, 2015: 30). Andererseits hat es in Berlin zwischen 2010 und 2014 bei sozialversicherungspflichtigen beschäftigten Migranten einen starken Anstieg gegeben (IAB Regional, 2016: 16). Eine wichtige Rolle für die wirtschaftliche Teilhabe der Migranten in Berlin spielt die Selbständigkeit, denn die »ethnische Ökonomie« ist seit den 1970er Jahren ein gut entwickelter Wirtschaftszweig in der Stadt, besonders bei türkischen Migranten (Scholz, 1990; Hillmann, 2001: 198f; Pütz, 2004). 2014 betrug die Selbständigenquote der Migranten in Berlin 24,7 % und war damit über zehn Prozentpunkte höher als unter Deutschen (14,3 %) (IAB Regional, 2016: 17). Bei der empirischen Erforschung kleiner und mittelständischer Betriebe von Migranten, die die Berliner Kieze prägen, zeigte sich aber, dass Selbstständigkeit oft eine Selbstausbeutung ist und dass viele Betriebe im permanenten Kampf um ihr wirtschaftliches Überleben sind. Bundesweit betrug 2008 die Selbstständigenquote bei Migranten 11,5 %. Zwei Drittel der Betriebe hatte weniger als vier Beschäftigte und die Quote der sog. Solo-Selbstständigen lag bei 60 %; bei Migrantinnen, die fast alle im Dienstleistungssektor arbeiten, sind es sogar 68 %, so dass der Arbeitsplatzeffekt der »ethnischen Ökonomie« nicht besonders groß ist (8. Integrationsbericht, 2010: 101f). Bei der Berufsausbildung im dualen System für junge Migranten ist die Entwicklung in Berlin besorgniserregend, obwohl die duale Ausbildung in Deutschland einen hohen Stellenwert für den Zugang zum Arbeitsmarkt hat. Um 50 % war der Anteil der auszubildenden jungen Migranten zwischen 1991 bis 2006 zurückgegangen, 2006 lag ihre Ausbildungsquote bei 14,8 %, während sie bundesweit 23 % betrug (8. Integrationsbericht, 2010: 70). 2013 hatte sich die Quote junger Migranten in dualer Ausbildung in Berlin auf 5,6 % weiter verschlechtert und lag bundesweit an vorletzter Stelle, während sie in Deutschland 12,6 % und bei deutschen Jugendlichen 27,5 % betrug (Integrationsmonitoring der Länder, 2013). Die Gründe sind Sprachdefizite und unzureichende oder fehlende Schulabschlüsse, aber auch die Anforderungsprofile und Vorbehalte der Betriebe (11. Integrationsbericht, 2016: 140f). In Berlin arbeiten viele junge Migranten nach der Schule in der »ethnischen Ökonomie« oder im Niedriglohnsektor (Ohliger/Raiser, 2005: 32). Mit einem Qualifizierungsnetzwerk für Migranten und dem Versuch ausländische Betriebe an der Berufsausbildung zu beteiligen, hat sich die Stadt um Verbesserungen be-

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müht, jedoch keine Trendwende erreicht (Gesemann, 2009: 323). Bundesweit ist die Quote ausbildender Migrantenbetriebe mit 5-15 % (je nach Herkunftsland) unterdurchschnittlich, lediglich türkische Unternehmen erreichen eine Quote von 19  %; insgesamt bilden 25  % der Betriebe aus (8. Integrationsbericht, 2010: 82). Fast die Hälfte der jungen Migranten verließ 2007 die Schule entweder ohne Abschluss (20,9 %) oder mit einem Hauptschulabschluss (23,6 %); 2009 hatten sich die Quoten in Berlin bei den Schulabbrechern auf 17,2 % verbessert; bundesweit war im gleichen Zeitraum die Zahl der Schulabbrecher von 17,2 % auf 14,2 % zurückgegangen (Integrationsmonitoring der Länder, 2011; 8. Integrationsbericht, 2010: 60f). Angesichts dieser Statistik hat die Integrationsbeauftragte der Bundesregierung deutlich gemacht, dass »diese anhaltend hohe Zahl der 15- bis 19-Jährigen ohne Schulabschluss nicht hinzunehmen ist und nicht nur den Jugendlichen selbst angelastet werden kann« (8. Integrationsbericht, 2010: 64). Fünf Jahre später haben sich die Quoten in Berlin und bundesweit verbessert: ohne Abschluss verließen die Schule in Berlin 14,4 % Schüler nichtdeutscher Herkunftssprache, bundesweit 12,3 %, die Berufsbildungsreife erreichten in Berlin 19,2 % bzw. den Hauptschulabschluss bundesweit 26,5 % der Jugendlichen, den Mittlerem Abschluss in Berlin 33,5  %, bundesweit 44,3 % und das Abitur in Berlin 33,0 % und bundesweit 17,1 % (Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Wissenschaft, 2016: Tab.18.2; 11.Integrationsbericht, 2016: 109). In Berlin ergab die Suche nach den Ursachen des mangelnden Bildungserfolgs von Migrantenkindern mehrere Gründe, die oft zusammen wirksam sind: eine nichtdeutsche Familiensprache, unzureichende Deutschkenntnisse, das Aufwachsen in Ballungsräumen von Zuwanderern und eine geringe Bildung der Eltern (Gesemann, 2009: 321)24. Die intensive Verbesserung der deutschen Sprachkompetenz zugewanderter Kinder und Jugendlicher ist seit 2007 ein zentrales Ziel im Berliner Integrationskonzept und im Nationalen Integrationsplan, der vorsieht, dass »von Anfang an die deutsche Sprache zu fördern« ist, um die chancengleiche Teilhabe der Kinder von Migranten zu erreichen (Beauftragter des Berliner Senats für Integration und Migration, 2007b; Nationaler Integrationsplan, 2007). Berlin hat eine schwierige Ausgangslage, denn der Anteil der Schüler nichtdeutscher Herkunftssprache25 lag 2007 bei 33,9 %, 24 | Eine erste Sprachstandsfeststellung in Berlin 2002 bei 10.000 Kindern vor ihrer Einschulung zeigte, dass mangelnde Sprachbeherrschung sowohl ein Problem von Migranten- als auch von Unterschichtskindern war: 50,75 % waren Kinder deutscher und 49,25 % nichtdeutscher Herkunft (Ohliger/Raiser, 2005: 35). 25 | Als »Schüler nichtdeutscher Herkunftssprache« werden seit 1999 Schüler erfasst, »deren Mutter- bzw. Familiensprache nichtdeutsch ist« (Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Sport, 2007: 7).

2. Berlin – Stadt der Vielfalt und der Migranten

er hat sich 2015/2016 auf 44,3 % erhöht, in den Bezirken Mitte, Kreuzberg und Neukölln liegt er bei 60-70  %; (Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Wissenschaft, 2015/2016: 20). Seit dem Schuljahr 2005/6 werden in Berlin die Sprachkenntnisse aller Kinder vor Schuleintritt überprüft. 2006 ergab die Sprachstandsfeststellung bei über 25.000 Schulanfängern, dass mehr als die Hälfte der Kinder nichtdeutscher Herkunftssprache (54,4  %) intensiv in Deutsch gefördert werden mussten, im Bezirk Neukölln waren es 64,6  % und bei Migrantenkindern, die keine Kita besucht hatten 71,9 %. Kinder deren Deutschkenntnisse nicht ausreichten, wurden ein halbes Jahr früher eingeschult, um an einem Sprachförderkurs teilzunehmen (Beauftragter des Berliner Senats für Integration und Migration, 2007b). Mit Änderung des Berliner Schulgesetzes 2014 wurde der verbindliche Sprachtest für Schulanfänger vorgezogen. Kinder, die keine Kita besuchen und nicht genügend Deutsch sprechen, müssen nun eineinhalb Jahre vor der Einschulung täglich fünf Stunden (statt bisher drei) zur Sprachförderung in eine Kindertagesstätte gehen und Eltern, die ihre Kinder nicht zum Test oder nicht zur Sprachförderung schicken, müssen ein Bußgeld bis zu 2500 Euro zahlen. Zwei weitere positive Entwicklungen haben die Bildungssituation der Berliner Kinder nachhaltig verbessert. Für die Drei- bis Sechsjährigen ist seit 2011 der Besuch von Kindertagesstätten beitragsfrei, Eltern müssen lediglich 23 Euro für das Mittagessen bezahlen. Außerdem ist in Berlin mit den zweisprachigen Staatlichen Europaschulen eine Schulform geschaffen worden, in deren Konzept neun Muttersprachen von Migrantenkindern in das Curriculum integriert sind, um so ihr sprachliches und kulturelles Kapital zu erhalten und zu fördern und auch deutschen Schülern diese Sprachen zu vermitteln26. Seit dem Schuljahr 2011/12 werden mehr als 6000 Schüler zweisprachig an 17 Grund- und 13 weiterführenden Europaschulen unterrichtet, zwei Drittel (64,8  %) von ihnen haben eine nichtdeutsche Herkunftssprache (Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie, 2016: 36). Um die Lebenssituation in den Altbauvierteln der westlichen Innenstadt zu verbessern, in denen viele Migranten leben, ist in der Berliner Stadtentwicklung 1998 ein langfristiges Quartiermanagement für 17 Quartiere eingerichtet worden. Diese Quartiere sind seit der Wiedervereinigung von Arbeitslosigkeit und Armut geprägt (Häußermann et al., 2007: 82f). Den höchsten Migrantenanteil haben die früheren West-Bezirke Neukölln-Nord (35 %), Wedding (33,9 %) und Kreuzberg (31,43 %). Im Ostteil der Stadt ist Marzahn-Nord der einziger Bezirk im Quartiermanagement, obwohl nur 3.15  % Migranten aus Russland und Vietnam dort leben, aber fast 15 % Spät-/Aussiedler aus der 26 | Sprachkombinationen sind jeweils Deutsch mit Englisch, Französisch, Italienisch, Neugriechisch, Polnisch, Portugiesisch, Russisch, Spanisch und Türkisch.

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Mittelosteuropäische Migrantinnen in Berlin

früheren Sowjetunion. Auch bei ihnen ist die Arbeitslosigkeit wegen mangelhafter Deutschkenntnisse hoch und als »Russen« sind sie das Ziel spürbarer Ausländerfeindlichkeit im Quartier (Ohliger/Raiser, 2005: 48f; Häußermann/ Kapphan, 2000: 164; Häußermann et al., 2010). Die Bemühungen des Quartiermanagements haben bislang nicht dazu geführt, dass in den Problemquartieren Berlins »die Abwärtsspirale gestoppt werden konnte« (Häußermann et al., 2007: 78; Häußermann et al., 2010). Das Quartiermanagement wird im Rahmen des Programms »Soziale Stadt« fortgesetzt und erhält weiterhin Fördermittel des Bundes (www. quartiermanagement-berlin.de). Auf den Baustellen für Teilhabe und Chancengleichheit der Migranten und ihrer Kinder sind in Berlin einige Verbesserungen erreicht worden, aber sie werden in den nächsten Jahren Baustellen bleiben, zu denen mit den Roma-Zuwanderern neue Baustellen hinzugekommen sind (Kapitel 2.6.1). Das doppelte Ziel des Berliner Integrationskonzeptes, die kulturelle Vielfalt der Migranten zu erhalten und gleichzeitig ihre chancengleiche gesellschaftliche Teilhabe zu ermöglichen konnte nur in zwei Handlungsfeldern erreicht werden: in der interkulturellen Öffnung der Stadtverwaltung und in der politischen Partizipation der Migrantenorganisationen, denn zu allen migrationspolitischen Themen werden mehr als hundert selbstorganisierte Vereine und Initiativen der Migranten angehört und damit wird ein Beitrag zur sozialen Integration der Zuwanderer geleistet (Gesemann, 2009: 328; Kapitel 2.1). Aber in essentiellen Handlungsfeldern für die wirtschaftliche und gesellschaftliche Teilhabe – Sprachkompetenz, Schulbildung, Berufsausbildung und Arbeitsmarkt – spielt die kulturellen Vielfalt der Migranten keine oder nur eine geringe Rolle und unter Sprachkompetenz wird in der Regel nur die in der deutschen Sprache verstanden. Für Migrantenkinder findet eine Anerkennung und Förderung ihres kulturellen Herkunftskapitals, insbesondere ihrer Zweisprachigkeit, in wenigen, zumeist von Migranten betriebenen bilingualen Kindergärten und in Samstagsschulen statt, sowie in einigen Grund- und weiterführenden Schulen und in den Staatlichen Europaschulen (Kapitel 12.5).

2.6 D ie » neuen « M igr anten aus mittelosteuropäischen L ändern – Z uwanderungstrends , F r auenanteile , E inbürgerungen Zu der Vielfalt Berlins als Einwanderungsstadt kommt seit 1989/1990 die »neue« innereuropäische Ost-West-Migration hinzu, zu der auch die hundert interviewten Migrantinnen aus dreizehn mittelosteuropäischen Herkunftsländern gehören, die Protagonistinnen dieser Forschung. Die neue Migration hat sich in Berlin auf vielfältige Weise entfaltet und die Stadt ist für Migranten aus Mittelosteuropa ein beliebtes Migrationsziel geworden, gelegen am östlichen

2. Berlin – Stadt der Vielfalt und der Migranten

Rand Deutschlands und in relativer Nähe zu ihren Herkunftsländern, wie es die Migrantinnen im Interview oft zum Ausdruck brachten. Sie schätzen das großstädtische Lebensgefühl in Berlin und erleben es als eine migrationserfahrene Stadt, in der sie sich akzeptiert und zugehörig fühlen und auf deren Arbeitsmarkt die meisten von ihnen gute Erwerbsmöglichkeiten und berufliche Perspektiven gefunden haben, trotz des schwierigen Umfeldes für Teilhabe und Chancengleichheit, wie oben beschrieben. Alle mittelosteuropäischen Communities haben sich sprachliche und kulturelle Netzwerke oder zumindest Nischen in der Stadt geschaffen, auch bilinguale Kindergärten und muttersprachliche Samstagsschulen, in denen ihre zweisprachig aufwachsenden Kinder ihre Muttersprache bzw. die Herkunftssprache ihrer Mutter sprechen und ihnen kulturelle Traditionen der Herkunftsländer vermittelt werden (Kapitel 2.7; 12). Mit der »neuen« Migration knüpfen die Zuwanderer an die 350 Jahre lange Tradition der Migrationen aus Mittelosteuropa in Berlin an, die die Geschichte und Kultur der Stadt mitgeprägt haben. Die Zuwanderungstrends aus den dreizehn mittelosteuropäischen Ländern begannen unmittelbar nach den Grenzöffnungen und 1991 kurz nach der Wiedervereinigung zählte die erste Statistik für ganz Berlin über 45.000 (46.312) Zuwanderer aus Mittelosteuropa, zwei Drittel (29.002) im Westteil und ein Drittel (17.310) im Ostteil der Stadt (Tabelle 3). Die Migranten kamen damals aus neun Ländern, aus denen im Laufe der politischen Entwicklungen in den folgenden Jahren die dreizehn Herkunftsländer der Migrantinnen dieser Studie geworden sind. Bis zum Abschluss der Interviews Ende 2011 hatte sich das Zuwanderungssaldo27 aus den dreizehn Ländern in Berlin auf über hunderttausend (101.650) mehr als verdoppelt; zwei Drittel der Migranten (61.922) stammen aus den heutigen neun mittelosteuro­päischen EU-Ländern, ein gutes Drittel (39.922) aus den vier Nicht-EU-Ländern (Tabelle 4). Die Zuwanderungstrends entstanden als Folge der wirtschaftlichen und sozialen Veränderungen während der Transformation in den Herkunftsländern und der rechtlichen Voraussetzungen für eine Migration nach Deutschland – den klassischen push-pull-Faktoren der Migrationstheorie (Lee, 1966). In der ersten Dekade stammten die meisten Migranten aus russischsprachigen Ländern (32.480), unter ihnen viele als Kontingentflüchtlinge aufgenommene jüdische Migranten; in der zweiten Dekade wanderten deutlich weniger russischsprachiger Zuwanderer ein (7.248) und die meisten Migranten (41.759) kamen aus den neuen EU-Ländern, die größte Gruppe waren polnische Zuwanderer (21.066).

27 | Die Saldo-Berechnung der Zuwanderung in Tabelle 4 hat das Amt für Statistik Berlin-Brandenburg 2012 auf meine Bitte gegen eine Gebühr zusammengestellt, aber leider ohne Differenzierung nach Frauen und Männern.

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Mittelosteuropäische Migrantinnen in Berlin

Tabelle 3: Stand der Zuwanderung 1991 aus mittelosteuropäischen Herkunftsländern im West- und im Ostteil des wiedervereinigten Berlin Herkunftsland

Berlin

Westteil

Ostteil

Estland

16

16

0

Lettland

18

17

1

Litauen

4

4

0

Polen

26.600

19.492

7.108

Tschechoslowakei

1.796

1.048

748

Ungarn

2.637

1.281

1.356

Rumänien

2.126

1.434

692

Bulgarien

2.914

929

1.985

Sowjetunion

10.201

4.781

5.420

Gesamt

46.312

29.009

17.310

Quelle: Amt für Statistik Berlin-Brandenburg, 1992.

Ab Mitte der 1990er Jahre verlief die neue Migration nach Berlin kontinuierlich und moderat. Weder 2004 noch 2007 hat nach den EU-Osterweiterungen ein großer Auf bruch von Migranten zu einer EU-Binnenwanderung stattgefunden, auch nicht nach der wirtschaftlichen Krise 2008/2009. Denn »Sesshaftigkeit ist in Europa die dominante Lebensform«, so der Sachverständigenrat (2013: 50). Offenkundig nutzen Mittelosteuropäer ihre Niederlassungsfreiheit als EU-Bürger mit Augenmaß, möglichst nach vorheriger Abklärung vor Ort oder zunächst in temporärer Form, begünstigt durch die geographische Nähe zwischen Herkunfts- und Migrationsland. Für die Binnenwanderung in Europa und in der EU gibt es eine ganze Reihe »natürlicher Mobilitätsbarrieren« (Sachverständigenrat, 2013: 18; Verwiebe, 2004), so die europäische Vielfalt der Sprachen, die Bildungs- und Ausbildungstraditionen, sowie die Steuer- und Sozialversicherungssysteme. Hierzu gehört in Deutschland die mangelnde oder nur teilweise Anerkennung im Herkunftsland erworbener Diplome, die die Zuwanderung von Fachkräften und die Verwertung ihres mitgebrachten kulturellen Kapitals auf dem lokalen Arbeitsmarkt erschwert (Kapitel 9). Um diese Mobilitätsbarriere abzubauen, ist 2012 das »Gesetz zur Feststellung und Anerkennung im Ausland erworbener Bildungsqualifikationen (BQFG) verabschiedet worden.

2. Berlin – Stadt der Vielfalt und der Migranten

Tabelle 4: Zuwanderungssaldo aus den mittelosteuropäischen Herkunftsländern von 1991 bis 2011 in Berlin

Herkunftsland

19912000

20012011

Davon ab EU-Beitritte 2004/2007

Gesamt

Estland

191

367

321

558

Lettland

702

2.589

2.442

3.291

Litauen

406

1.565

1.349

1.971

Polen

12.514

21.066

16.040

33.580

Tschechische Rep.

645

1.130

888

1.775

Slowakei

245

299

213

544

Ungarn

972

576

436

1.548

Rumänien

1.491

4.994

4.289

6.475

Bulgarien

2.213

9.173

7.556

11.386

Tschechoslowakei Von 1991-1994

794

Summe

20.163

41.759

Weißrussland

759

487

1.246

Russ. Föderation

17.494

5.008

22.506

Ukraine

5.079

1.467

6.542

Moldawien

330

286

616

Ehem. Sowjetunion Von 1991-1994

8.818

Summe

32.480

Saldo

794 33.534

61.922

8.818 7.248

39.728 101.650

Quelle: Amt für Statistik Berlin-Brandenburg, 2012, eigene Berechnungen.

Der Verlauf der Zuwanderungen und die Frauenanteile sind gut in den melderechtlichen Statistiken der »Ausländer« erkennbar (Tabellen 6.1, 6.2). Die beiden größten mittelosteuropäischen Migrantenpopulationen waren bereits 1991 polnische Migranten (26.600) und Zuwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion (10.201) (Tabelle 3). Auch zwanzig Jahre später sind 2011 die Migranten aus Polen (43.984/davon 22.978 Frauen) und aus der Russischen Föderation

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52

Mittelosteuropäische Migrantinnen in Berlin

(16.410/davon 9.957 Frauen) die größten mittelost­europäischen Communities in der Stadt, beide mit hohen Frauenteilen (Tabelle 6.2). Aus Polen kommt in Berlin die illegale Zuwanderung meist pendelnder Arbeitsmigranten hinzu, die melderechtlich nicht in Erscheinung treten und deren Zahl unbekannt ist (Cyrus, 2007; 2008). Sie bilden mit den polnischsprachigen (7.187) und allen russischsprachigen (16.913) Eingebürgerten (Tabelle 7), den Spät-/Aussiedlern aus Polen und der früheren Sowjetunion, sowie den gemeldeten Migranten aus Weißrussland, der Ukraine, Moldawien und der ehemaligen Sowjetunion (insgesamt 29.099) das polnisch- und das russischsprachige Berlin (Kapitel 2.7.1; 2.7.2). Die Zuwanderung aus den kleinen und mittleren Ländern Mittelosteuropas verlief über die Jahre unterschiedlich. Aus den drei Baltischen Ländern begann sie 1991 in Berlin mit ganz kleinen Zahlen (Tabelle 3) und hat sich bis 2011 auf 5.391 Migranten aus den Baltischen Ländern gesteigert (Tabelle 6.2). 1991 haben aus den drei südlichen Ländern – Ungarn, Rumänien und Bulgarien – 7.677 Migranten in der Stadt gelebt, jeweils etwa zur Hälfte in WestBerlin und in Ost-Berlin (Tabelle 3). Zehn Jahre später im Jahr 2000 hatte sich das Saldo der Migranten aus diesen Ländern auf 4.676 verringert (Tabelle 4) und knapp 2.000 (1.955) hatten sich einbürgern lassen (Tabelle 7). In der zweiten Dekade nahm die Saldozuwanderung aus den drei Ländern, die seit 2004 bzw. 2007 zur EU gehören, wieder zu: zwischen 2001 und 2011 kamen knapp 15.000 (14.743) Migranten, insbesondere aus Rumänien (4.994) und Bulgarien (9.173) (Tabelle 4). Ab 2012 stieg im Kontext erhöhter Zuwanderungen nach Deutschland auch die Migration aus mittelosteuropäischen EU-Ländern nach Berlin an: 2015 hatte sich vor allem die Zahl der Migranten aus Polen (54.951), Bulgarien (24.200) und Rumänien (16.500) in der Stadt deutlich erhöht (Amt für Statistik Berlin-Brandenburg, 2016). Eine Feminisierung ist in Berlin bei dem Frauenanteil der Migranten aus den dreizehn Ländern Mittelosteuro­pas deutlich erkennbar, denn über die Jahre sind mehr als die Hälfte der Zuwanderer Frauen (vgl. Kapitel 1.4.3). Im Jahr 2011 belief sich der Frauenanteil mit 54.880 Migrantinnen auf 53 % der melderechtlich Registrierten (101.651)28, davon 51 % (38.130) aus neun EU-Ländern und 61 % (16.750) aus den vier Nicht-EU-Ländern (Tabellen 6.1, 6.2)29. Der Anteil der Migrantinnen ist bei den einzelnen Ländern unterschiedlich hoch, 28 | Die frühen Migrantinnen aus der Tschechoslowakei und der Sowjetunion sind hier nicht mitgezählt. 29 | Das Migrationsalter von Frauen liegt statistisch in der Regel zwischen 15 und 45 Jahren; im Jahr 2011 waren 62,7 % bzw. 62,8 % aller Migrantinnen aus den EU- und Nicht- EU-Ländern in diesem Alter (Amt für Statistik Berlin-Brandenburg, 2012), vergleichbar mit dem besten arbeits- und reproduktionsfähigen Alter der Migrantinnen des Samples (Kapitel 6.3).

2. Berlin – Stadt der Vielfalt und der Migranten

mit einem deutlichen Nord-Süd-Gefälle, das über die Jahre relativ gleich geblieben ist, wie die Bespiele zeigen: am Ende der ersten Dekade der Ost-WestMigration im Jahr 2000 hatten die nördlichen Herkunftsländer die höchsten Frauenanteile: 74 % aus Weißrussland, 67 % aus Litauen, 61 % aus Lettland und 60 % aus Estland. Im gleichen Jahr migrierten aus den südlichen Ländern die niedrigsten Frauenanteile nach Berlin: aus Ungarn nur 36  %, aus Rumänien 45 % und aus Bulgarien 47 % (Tabelle 5). Zehn Jahre später 2011 kamen die höchsten Frauenanteile weiterhin aus nördlichen Ländern: 70  % aus Weißrussland, 64 % aus Estland, 63 % aus der Ukraine, sowie je 60 % aus Litauen, der Russischen Föderation und der Slowakei; die wenigsten Migrantinnen kamen aus Rumänien (46 %), aus Bulgarien (47 %) und aus Ungarn (49 %) (Tabelle 5). Tabelle 5: Anteil der Frauen bei den mittelosteuropäischen Migranten in Berlin – am Beispiel melderechtlicher Statistiken der Jahre 2000 und 2011 Herkunftsland

Jahr 2000

Jahr 2011

Estland

60 %

64 %

Lettland

61 %

46 %

Litauen

67 %

60 %

Polen

53 %

52 %

Tschechien

59 %

57 %

Slowakei

58 %

60 %

Ungarn

36 %

49 %

Rumänien

45 %

46 %

Bulgarien

47 %

47 %

Weißrussland

74 %

70 %

Russland

57 %

60 %

Ukraine

57 %

63 %

Moldawien

51 %

52 %

Quelle: Amt für Statistik Berlin-Brandenburg, 2000, 2011.

Das Nord-Süd-Gefälle der in Berlin zugewanderten Migrantinnen aus mittelosteuropäischen Ländern legt die Schlussfolgerung nahe, dass die bevorzugte Migration von Frauen aus nördlichen Ländern durch die relative Nähe zu ihrem Herkunftsland beeinflusst ist, wie es Migrantinnen im Interview auch

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Mittelosteuropäische Migrantinnen in Berlin

sagten. Der geschätzt hohe Anteil polnischer Migrantinnen in der Stadt lässt sich aber melderechtlich nur mit 52 % (2011) belegen, die enge Nachbarschaft Berlins zu Polen lädt Frauen eher zum Pendeln ein. Auch Migrantinnen aus den südlichen Ländern Mittelosteuropas migrieren bevorzugt in benachbarte Länder30 und nicht in das ferne Berlin. Bspw. hat die Migration ungarischer Frauen nach Österreich eine lange Tradition und seit Mitte der 1990er Jahre migrieren Frauen aus Rumänien nach Italien, Frauen aus der Ukraine pendeln nach Polen, Frauen aus Moldawien und Bulgarien in die Türkei (Österr.-Ungarische Expertinnenakademie, 2009; Sarti, 2008; Akalin, 2009). Ein Überblick über die Einbürgerungen31 von Migranten und Migrantinnen aus Mittelosteuropa in Berlin zeigt keine hohen Zahlen, wie sie nach fünfundzwanzig Jahren der »neuen« Migration vielleicht zu erwarten wären. Insgesamt haben sich knapp 30.000 (28.265) Zuwanderer einbürgern lassen; in der ersten Dekade waren es mit 17.190 Eingebürgerten deutlich mehr, als in der zweiten Dekade mit 11.055 Einbürgerungen (Tabelle 7). Insgesamt kamen 11.352 Eingebürgerte aus den neun (späteren) EU-Ländern, wesentlich mehr waren es aus den vier russischsprachigen Ländern mit 16.913. Die meisten Eingebürgerten gehören zu den zwei großen mittelosteuropäischen Communities in der Stadt, den Zuwanderern aus Polen (7.187) und den russischsprachigen Migranten aus der Russischen Föderation (12.534), der Ukraine (3.710), Weißrussland (357) und Moldawien (312) (Amt für Statistik Berlin-Brandenburg, 1991-2011b). Der Anteil der Frauen unter den Eingebürgerten wird für die meisten Länder Mittelosteuropas in der Berliner Statistik erst ab dem Jahr 2000 angegeben. Das hat zur Folge, dass die Angabe der Gesamtzahl der eingebürgerten Migrantinnen in Tabelle 7 nicht ihrer tatsächlichen Anzahl entspricht und der Frauenanteil erst für die zweite Dekade der Zuwanderung ausgewertet werden kann. In der zweiten Dekade liegt der Anteil eingebürgerter Frauen bei allen mittelosteuropäischen Herkunftsländern deutlich über dem der Männer (6.771 zu 4.284): Frauen stellen 70 % der Eingebürgerten aus Estland, Litauen und der Slowakei, 65  % aus Polen und Weißrussland, zwischen 61  % und 64  % aus Lettland, Rumänien und Bulgarien, 58 % aus der Russischen Föderation und der Ukraine und zwischen 54 % und 56 % aus Tschechien, Ungarn und 30 | Ravenstein stellte schon zu Beginn der Migrationsforschung fest, dass Frauen bei den »short-journey migrations« überwiegen (1889: 288). 31 | Die Rechtsgrundlagen für Einbürgerungen sind über die Jahre mehrfach geändert worden, auch die notwendigen Aufenthaltsfristen (gegenwärtig 8 Jahre, bei besonderen Intergrationsleistungen 7 oder 6 Jahre)), worauf ich hier nicht eingehe. Aus den in der jährlichen Einbürgerungsstatistik angeführten Rechtsgrundlagen geht aber hervor, dass ein Teil der Einbürgerten aus Mittelosteuropa Spät-/Aussiedler waren, die offenkundig erst eingebürgert wurden, nachdem ihre deutsche Abstammung überprüft worden war (Amt für Statistik Berlin-Brandenburg, 1991-2011b).

2. Berlin – Stadt der Vielfalt und der Migranten

Moldawien (Tabelle 7). Die interviewten Migrantinnen im Sample haben differenzierte Überlegungen zur Einbürgerung beschrieben (Kapitel 11.4.4).

2.6.1 »Sie wollen sesshaft werden« Roma-Zuwanderer aus Bulgarien und Rumänien Im Kontext der neuen Migration aus Mittelosteuropa begann in Berlin 2007 nach dem EU-Beitritt Bulgariens und Rumäniens die langsame Zuwanderung von Roma aus beiden Ländern. Im Sommer 2007 und 2008 kamen erste kleinere Gruppen in die Stadt. Zunächst wurde ihre Anwesenheit als temporär und auf die Sommermonate beschränkt wahrgenommen (Bezirksamt Neukölln, 2012: 4). Diese Annahme erwies sich als falsch, denn fünf Jahre später, 2012 ging man von mindesten 20.000 Roma in der Stadt aus und 2013 waren fast 30.000 Migranten aus Bulgarien (18.352) und Rumänien (10.880) in Berlin gemeldet, davon 5.578 in Neukölln (Amt für Statistik Berlin-Brandenburg, 2013, 2014; Bezirksamt Neukölln, 2014: 8). Diese Statistiken haben aber – nach Einschätzung des Bezirksamt Neukölln – nur begrenzte Aussagekraft, denn bei den polizeilich registrierten Roma in Nord-Neukölln halten sich zahlreiche Verwandte und Bekannte ohne eine Anmeldung auf (Bezirksamt Neukölln, 2012: 6). Offizielle Zahlen über Roma unter den Zuwanderern gibt es jedoch nicht, denn in Deutschland werden keine ethnischen Statistiken geführt. Die neuen Zuwanderer sind in Berlin auf gutem Weg, sich zur drittgrößten Migranten-Community aus Mittelosteuropa zu entwickeln, nach den Migranten aus Polen und denen aus russischsprachigen Ländern. Berlin liegt damit an der Spitze der Roma-Zuwanderung in Deutschland, aber auch in Duisburg, Dortmund, Mannheim und Offenbach hat seit 2007 die Zuwanderung aus Bulgarien und Rumänien und zugenommen und diese Armutswanderung »stellt die Zielstädte vor enorme Herausforderungen« (Deutscher Städtetag, 2013: 3)32 . Roma sind mit dem EU-Beitritt Rumäniens und Bulgariens zur größten ethnischen Minderheit in der Europäischen Union geworden, deren Zahl auf etwa 2 Mio. in Rumänien, 500.000 in Bulgarien, 600.000 in Ungarn, 55.000 in der Slowakei und 30.000 in Polen geschätzt wird 33. Roma leben in allen südosteuropäischen Ländern am Rande der Gesellschaft und in großer Armut, 32 | Zum Jahresende 2013 waren in Deutschland insgesamt 116.964 Zuwanderer aus Rumänien und 58.862 aus Bulgarien gemeldet; zum Jahesende 2015 waren es 174.779 aus Rumänien und 71.709 aus Bulgarien. 33 | In Serbien und Mazedonien gibt es ebenfalls große Roma-Minderheiten, die nicht EU-Bürger sind, aber seit Dezember 2009 visafrei in die EU einreisen können und seither kommen zahlreiche Roma aus beiden Ländern als Asylbewerber nach Deutschland, haben jedoch kaum Aussicht auf ein Bleiberecht.

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Mittelosteuropäische Migrantinnen in Berlin

haben kaum Zugang zu Bildung und leiden aufgrund der wirtschaftlichen Transformation nach dem Sozialismus unter hoher Arbeitslosigkeit (EU-MIDIS, 2009). In Berlin wohnten Roma-Zuwanderer anfangs oft als illegale Untermieter für 100 Euro pro Person in Sozialwohnungen von Hartz-IV-Empfängern oder in Gruppen von 20 bis 40 Menschen in schlechten, aber teuren Wohnungen einiger stadtbekannter Vermieter im nördlichen Neukölln. Inzwischen leben mehrere hundert Roma-Familien mit vielen Kindern »an letzter Stelle« in der Rangordnung der 160 Nationalitäten in diesem Bezirk (Bezirksamt Neukölln, 2012: 6). Anfangs hatten sie nur Gelegenheitsjobs oder verdienten sich auf den Straßen Berlins etwas Geld mit dem Putzen von Autoscheiben, mit Betteln vor Kaufhäusern und Geschäften und in kleinen Musikantengruppen in U- und S-Bahnen. Rumänische Migranten in Berlin, mit denen ich über die Zuwanderung ihrer Landsleute sprach, reagierten abweisend: »…ach, das sind doch alles nur Roma«. Im Mai 2010 wurde in Berlin eine mobile Anlaufstelle für Roma geschaffen34, in der sie Orientierungshilfen und Beratung erhalten können. »Sie wollen sesshaft werden« lautete die Erkenntnis des Leiters der Anlaufstelle nach wenigen Wochen Beratungsarbeit, denn in Bulgarien und Rumänien sehen sie keine Zukunft für sich (taz, 18.8. 2010). Mit dem Titel »Paradies Neukölln« beschrieb die Presse den Umzug des Dorfes Fantanele, 35 km nordwestlich von Bukarest nach Nord-Neukölln, einem der ärmsten Bezirke Berlins, wo in einem Wohnblock in der Harzer/Ecke Treptower Straße 500 Dorf bewohner leben und 200 weitere über Berlin verstreut sind. Und viele Roma aus Fantanele wollen noch folgen, einem Dorf, in dem es weder eine Kanalisation noch Straßenlampen gibt und wo die Einkünfte aus der Schweinezucht zum Überleben der Familien nicht ausreichen (Der Spiegel, 2012, 2013). Ganz anders ist das nach ihrem Umzug in den deutschen Sozialstaat – so der Spiegel – viele Familien erhalten nun eine Grundsicherung, das »aufstockende« Hartz IV und Kindergeld und lösen damit für sich das Versprechen eines besseren Lebens ein, das mit dem EU-Beitritt Rumäniens verbunden war (Der Spiegel, 2012: 42-44). 2011 hat eine Siedlungsgemeinschaft der katholischen Kirche den Wohnblock in der Harzerstraße mit 2000 Wohnungen gekauft. Ein Projektleiter sorgt jetzt wie ihr neuer Dorfvorsteher mit Güte und Strenge für Ordnung, er hat die Mieter verantwortlich in die Umgestaltung des Innenhofes und des Müllplatzes eingebunden, lässt sie selbst ihre Lebenssituation mit baulichen Maßnahmen in den Häusern und Wohnungen verbessern, bietet ihnen Beratung und einen Sprachkurs an. Er tut dies so erfolgreich, dass der Wohnblock über die Stadt hinaus als Vorzeigeprojekt gilt (Bezirksamt Neukölln, 2012: 19). 34 | »Anlaufstelle für europäische Wanderarbeiterinnen und Wanderarbeiter und Roma – Konfliktintervention gegen Antiziganismus«.

2. Berlin – Stadt der Vielfalt und der Migranten

Nach Angaben des Bezirksamtes hatten bis Ende 2012 in Neukölln 1377 bulgarische und 1034 rumänische Bürger ein Gewerbe angemeldet, bis Ende 2013 waren es 3000 (Bezirksamt Neukölln, 2014: 10), denn Neu-Zuwanderer aus EU-Ländern können eine dauerhafte Aufenthaltserlaubnis nach EU-Recht erhalten, wenn sie als selbstständige Gewerbetreibende tätig sind, bspw. als Schrotthändler, im Bau- und Putzgewerbe oder als Musiker. Diese Regelung nutzten zahlreiche Zuwanderer, um sich und ihren Familien einen dauerhaften Aufenthalt in Berlin zu sichern. Reichen die Einkünfte ihres Gewerbes zum Leben nicht aus, garantiert das Zweite Sozialgesetzbuch eine Grundsicherung, das »aufstockende« Hartz IV (Bezirksamt Neukölln, 2012: 7). Seit Januar 2014 haben Zuwanderer aus Rumänien und Bulgarien die Arbeitnehmerfreizügigkeit in der EU und das hat zu einem Anstieg ihrer legaler Beschäftigung in Berlin geführt. Der Senat von Berlin hat nach längerem Zögern 2013 den »Berliner Aktionsplan zur Einbeziehung ausländischer Roma« vorgelegt (Beauftragter des Berliner Senats für Integration und Migration, 2013), im Rahmen der EU-Initiative für »Nationale Strategien zur Integration der Roma bis 2020«. Im Zentrum des Aktionsplans stehen die Kinder der Zuwanderer und ihre Beschulung. In Neukölln nimmt die Anzahl der Schüler aus Rumänien und Bulgarien stetig zu, 2011 wurden 650 – 700 schulpflichtige Roma Kinder ermittelt, deren Zahl sich schnell verdreifacht hat und weiter zunimmt. Die Kinder werden als lernwillig und aufgeschlossen beschrieben, haben aber geringe oder keine Deutschkenntnisse und können dem Unterricht in Regelklassen nicht folgen. Auch sind sie häufig nicht altersgerecht entwickelt, nicht alphabetisiert und haben wenig oder keine schulischen Vorerfahrugen (Bezirksamt Neukölln, 2012: 5). Für diese Kinder wurde 2011 eine neue Klassenart, die »Lerngruppe für Neuzugänge ohne Deutschkenntnisse« mit je 12 bis 15 Plätzen eingeführt, deren Anzahl von 61 Lerngruppen im Juni 2011 auf 168 Lerngruppen im Januar 2013 für 2500 Kinder erhöht wurde, um sie auf Regelklassen vorzubereiten. Für Jugendliche wurden Praxisgruppen geschaffen, in denen ihnen die notwendigen Kenntnisse vermittelt werden, um einen Schulabschluss zu erreichen. Hinzu kommen Freizeitangebote am Nachmittag, Ferienschulen und schulbezogene Sozialarbeit (Beauftragter des Berliner Senats für Integration und Migration, 2013: 6-8). Ein Kita-Besuch wäre für alle Kinder der Zuwanderer wünschenswert, er scheitert u.a. an den vollen Kitas in Neukölln und so ist zu erwarten, dass auch in den kommenden Jahren viele Kinder ohne oder mit geringen Deutschkenntnissen eingeschult werden (Bezirksamt Neukölln, 2012: 8-10). Die im Berliner Aktionsplan festgelegten Ziele verdeutlichen, dass die Stadt noch am Anfang einer rudimentären Integration dieser Migranten steht, zumal Roma oft »ein großes Misstrauen gegenüber staatlichen Behör-

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Mittelosteuropäische Migrantinnen in Berlin

den und Institutionen« haben (Beauftragter des Berliner Senats für Integration und Migration, 2013: 12).

2.7 Tr ansnationale migr antische R äume in der S tadt Seit Beginn der neuen Migration sind in Berlin zahlreiche transnationale migrantische Netzwerke und Nischen, Einrichtungen und Läden von mittelosteuropäischen Zuwanderern geschaffen worden, die ich bei der Feldforschung kennenlernte, von denen Migrantinnen im Interview erzählten oder die im öffentlichen Raum wahrnehmbar sind. In den beiden großen Migranten-Communities, der polnischen und der russischsprachigen, ist eine transnationale Infrastruktur entstanden, mit Vereinen, bilingualen Kindergärten, Schulen, Religionsgemeinschaften, Geschäften und Restaurants, die das Leben in Berlin mitprägen und teilweise auch in der Literatur beschrieben wurden (Stach, 2002; Miera, 2007; Kapphan, 1997; Burchard, 2002; Schlögel, 2007). Die migrantischen Einrichtungen sind über die Stadt verteilt, sie liegen geographisch nicht konzentriert beieinander, wie früher die der russischen Migranten im Scheunenviertel und in Charlottenburg. Auch die meisten anderen mittelosteuropäischen Communities haben sich in Berlin transnationale Nischen geschaffen, wobei sie meist von der Botschaft und Institutionen ihres Herkunftslandes unterstützt wurden. Diese Nischen sind in der Berliner Öffentlichkeit aber kaum wahrnehmbar. Zu ihnen gehören die muttersprachlichen Samstagsschulen für Kinder, wie sie die estnische, die litauischen, die tschechische und die ungarische Community aufgebaut haben (Kapitel 12.5). Transnationale Räume sind auch die Rumänische und die Bulgarische Schule, der Chor der Berliner Letten und der Bulgarische Frauenchor, die Gemeinden der Rumänischen und der Bulgarischen Orthodoxen Kirchen und zahlreiche informelle Zusammenschlüsse, wie der estnische Literaturkreis und der tschechischslowakische Stammtisch. Andere Projekte haben weniger Zuspruch erhalten, so kam bspw. 2010 die Gründung einer lettischen Samstagsschule nicht zustande und den bilingualen deutsch-tschechischen Kindergarten besuchte zur Zeit der Feldforschung nur ein Kind mit tschechischer Muttersprache.

2.7.1 Polski Berlin In Berlin leben über 150.000 Menschen mit polnischer Muttersprache, so die Einschätzung des Polnischen Sozialrats im Jahr 2011. Sie sind größte Migrantengruppe aus einem mittelosteuropäischen Land in der Stadt. Mit der Bezeichnung »Polski Berlin« (Stach, 2002; Miera, 2007) betreiben sie eine Aneignung der Stadt, die mit ihrer großen Zahl und der Nähe zu Polen begründet wird,

2. Berlin – Stadt der Vielfalt und der Migranten

denn Berlin ist nur einen Katzensprung von Polen entfernt – achtzig Kilometer bzw. eine gute Stunde Fahrt mit der Bahn oder dem Auto. Polnischsprachige Migranten spielen im öffentlichen Diskurs in Berlin kaum eine Rolle, sie sind weitgehend unsichtbar und fügen sich in das Straßenbild, die Arbeitsprozesse und das Leben der Stadt ein. Eine Mitarbeiterin einer großen polnischen Migrantenorganisation, die seit 20 Jahren in Berlin lebt, sagte mir »wir Polen, wir wollen uns integrieren«. So ist die Selbst- und die Fremdwahrnehmung polnischsprachiger Migranten in Berlin weitgehend kongruent. Polnischsprachige Migranten in Berlin haben unterschiedliche Lebensentwürfe und bieten ein heterogenes Bild, das sich aus den verschiedenen Zuwanderungswellen ergeben hat, sie haben kein ausgeprägtes Zusammengehörigkeitsgefühl und das spiegelt sich auch bei ihren Vereinen wider. Diese Charakterisierungen treffen auch auf die insgesamt 1,5 bis 2 Mio. polnischsprachigen Zuwanderer in Deutschland zu (Nagel, 2009). Sie haben unterschiedliche Bezugsrahmen zu Polen und zu Deutschland – ihre »Integrationen« so Faist im Plural – verlaufen in drei Mustern: Assimilation, kultureller Pluralismus und Transstaatlichkeit (Faist, 2000a: 28f). In Berlin setzt sich die Community aus vier Gruppen zusammen aus: die älteste Gruppe kam in den 1980er Jahren als politische Flüchtlinge nach West-Berlin oder arbeitete in Ost-Berlin als Vertragsarbeiter. Viele dieser frühen Migranten sehen Berlin heute als ihr Zuhause an und ein Teil hat einen deutschen Pass (Tabelle 7). Die zweite Gruppe sind Arbeitsmigranten, die seit den 1990er Jahren in Berlin im Servicebereich und im Handwerk arbeiten, einige pendeln heute noch, andere haben sich dauerhaft in der Stadt niedergelassen. Nach dem EU-Beitritt Polens 2004 migrieren auch gut ausgebildete junge Polen, die in IT Berufen und im Tourismus arbeiten, die Unternehmer, Künstler und Studenten sind und oft ein transnationales Leben zwischen Berlin und Polen führen. Zur polnischsprachigen Community gehören auch geschätzte 75.000 Spät-/Aussied­ler von denen die meisten schon in den 1980er Jahren zuwandert sind35. Viele Spät-/Aussiedler sprechen weiterhin Polnisch in der Familie, oft sind sie mit einem polnischen Partner verheiratet und viele haben Verwandte in Polen. Die meisten Spät-/Aussiedler sind, auch aufgrund der Sprachförderung in Deutschland, fließend zweisprachig und beruflich gut integriert, die Frauen arbeiten bspw. in der Migrantenberatung, als Erzieherinnen, Lehrerinnen und Altenpflegerinnen und tragen so zur Förderung der deutsch-polnischen Interkulturalität und zur Pflege der polnischen Sprache bei.

35 | Zahlen über die nach Berlin zugewanderten Spät-/Aussiedler gibt es nicht, sie werden als Deutsche nicht gesondert in der Einwohnerstatistik geführt. Insgesamt sind 1,5 Mio. Spät-/ Aussiedler aus Polen in die Bundesrepublik Deutschland umgesiedelt (Bundesverwaltungsamt, Jahresstatistik 2009).

59

60

Mittelosteuropäische Migrantinnen in Berlin

Zu den in Berlin lebenden polnischen Migranten kommt eine unbekannte Zahl von Pendlern hinzu, vor allem Frauen, die zur Arbeit nach Berlin kommen, ihr Zuhause aber weiter im westlichen Polen haben (vgl. Kapitel 3.1; Cyrus, 2008). Nach Einschätzung von Schlüsselinformantinnen aus der Community arbeiten mindestens 5000 polnische Pendlerinnen in der Stadt 36 und oft hörte ich »jeder Akademikerhaushalt hat eine polnische Putzfrau«. Sie haben sich in Berlin eine Erfolgsgeschichte erarbeitet, denn sie übernehmen mobil und arbeitswillig jeden Job im sekundären Reproduktionsbereich. Pendlerinnen partizipieren besonders rege an den transnationalen Netzwerken zwischen Berlin und Polen, in denen sie migrationsrelevante Informationen als soziales Kapital akkumulieren und weitergegeben (Bourdieu, 1983/1990; Haug, 2007; Senganata Münst, 2007; Kapitel 8.3). Im »Polski Berlin« sind in den vergangenen 30 Jahren zahlreiche Vereine von und für polnische Migranten geschaffen worden (vgl. Stach, 2002; Miera, 2007), die in der Öffentlichkeit kaum in Erscheinung treten37. Sie wurden von Migrantengruppen als Interessensvertretung und zur praktischen Bewältigung der Alltagsprobleme gegründet und haben heute meist nur noch wenige Mitglieder38. Bei Gesprächen mit ihren Vertreterinnen fiel auf, dass sie untereinander kaum vernetzt sind, sich gegenseitig häufig kritisch sehen oder zerstritten sind. Die größte Organisation ist der 1982 gegründete Polnische Sozialrat. Er hat seither seine Arbeit kontinuierlich weiterentwickelt, agiert als Sprecher der polnischen Migranten gegenüber der Berliner Verwaltung und bietet soziale und rechtliche Beratung für Zuwanderer an, seit 2004 auch für Migranten aus anderen Ländern Mittelosteuropas. Polnische Unternehmer/ innen sind in zwei Vereinen vertreten, die sich 2004 aus einer 2001 gegründeten Organisation aufgespalten haben: NIKE – Polnische Unternehmerschaft e.V. und Polnische Frauen in Wirtschaft und Kultur e.V. Die Veranstaltungen beider Vereine werden von der Mittelschicht der Community besucht, die gut in das Geschäftsleben Berlins integriert ist und dafür ihre transnationalen Verbindungen zum nahen Polen nutzt.

36 | Der Anteil der melderechtlich registrierten Polinnen liegt seit Jahren nur um die fünfzig Prozent, 2011 bspw. betrug er 52 %, ist also relativ niedrig im Vergleich zu anderen mittelosteuropäischen Migrantinnen (vgl. Tabelle 6.2), was auch ein Hinweis auf zahlreiche Pendlerinnen ist. 37 | In einem Internetportal sind alle polnischen Vereine und Organisationen in Berlin aufgelistet, die seit dem 19. Jh. gegründet wurden, davon 55 zwischen 1980 und 2008 (www.wirberliner.de). 38 | Siehe Miera, 2007: 197 – 215 zur Entstehung und Entwicklung polnischer Organisationen in den 1980er und 1990er Jahren in Berlin. Vgl. auch Nowosielski, 2011 und Nagel, 2009 über polnische Organisationen in Deutschland.

2. Berlin – Stadt der Vielfalt und der Migranten

Ein Ort emotionaler Zugehörigkeit, eine symbolische Heimat ist für viele Migranten die katholische Kirche. In der größten polnischen Kirche Berlins, der St.-Johannes-Basilika in Neukölln, kommen zahlreiche Migranten und Familien mit Kindern an Sonntagen zur Messe zusammen. Die Kirche bietet für 1000 Menschen Platz und wird seit 2005 von der Polnischen Katholischen Mission genutzt, die in den frühen 1980er Jahren als Diaspora-Kirche gegründet wurde. Polnischsprachige Gottesdienste für die von der Kirche geschätzten 24.000 polnischen Katholiken in Berlin werden auch von Gemeinden in Spandau, Wedding und Karlshorst abgehalten. Für polnischsprachige Kinder gibt es mehrere altersgemäße Angebote, in denen ihre Muttersprache gesprochen wird, so in zwei bilingualen Kindergärten, dem Maluch im Tiergarten (gegründet Ende der 1980er Jahre) und dem Kajtek in Wilmersdorf (gegründet 1997). Der Polnische Schulverein OSWIATA bietet seit Mitte der 1980er Jahre muttersprachlichen Unterricht an zehn Standorten an (Kapitel 12.5). An drei Schulen wird Polnisch unterrichtet als eine wählbare Fremdsprache: in der Katharina-Heinroth-Grundschule, die seit dem Schuljahr 2008/9 Staatliche Europaschule ist und seit dem Schuljahr 2005/6 in der Robert-Jungk-Gesamtschule, beide in Charlottenburg-Wilmersdorf, sowie in der Gabriele-von-Bülow-Oberschule in Reineckendorf, die seit 2001 europäische Begegnungsschule mit Polen ist und zwei polnische Partnerschulen in Warschau und Breslau hat. In der Kindertanzgruppe »Krakowiacy« werden rund 60 Kinder im Alter von 5 bis 10 Jahren in polnischen Volkstänzen und Liedern unterrichtet. Die Gruppe wird gern zu Veranstaltungen der Migranten eingeladen, um polnische Tänze vorzuführen, bspw. bei Kinderfesten von OSWIATA. Die polnischsprachige Bevölkerung und ihre Einrichtungen bilden in Berlin keine lokalen Schwerpunkte, wie auch an der breiten geographischen Verteilung der Sprachkurse von OSWIATA zu ersehen ist. Polnische Migranten haben keine ausgeprägte ethnische Ökonomie geschaffen. Einige Geschäfte, vor allem in Charlottenburg und Neukölln, bieten polnische Waren an, vorwiegend Lebensmittel. Die bekanntesten sind das Klon in Charlottenburg, das es seit Mitte der 1990er Jahre gibt. Ebenfalls in Charlottenburg liegen das Pod Koguten, ein Lebensmittelladen und das Cafe MetroPolen, das für sein Tortensortiment bekannt ist. In Neukölln bietet der Supermarkt Pyza polnische Lebensmittel an, dort ist auch der Buchbund, eine deutsch-polnischer Buchhandlung. Die kostenlosen Anzeigenblätter »Kontakty« und »Polonia« veröffentlichen Werbung für polnischsprachige Dienstleister in Berlin (Ärzte, Rechtsanwälte, Geschäfte) und Kleinanzeigen zur Arbeits- und Wohnungssuche, klassischen Anliegen von Migranten. Bei den Interviews nannten polnische Migrantinnen diese Blätter aber selten bei ihrer Mediennutzung, sie beschaffen sich Informationen vor allem aus dem Internet. Von den Angeboten im Polski Berlin

61

62

Mittelosteuropäische Migrantinnen in Berlin

nahmen die Migrantinnen höchstens eins regelmäßig wahr, überwiegend ein Bildungsangebot für ihre Kinder. Manchmal kaufen sie polnische Medien (Zeitungen, DVDs für die Kinder), einige Frauen besuchen zuweilen einen polnischsprachigen Gottesdienst, andere machen gelegentlich einen Einkauf in einem polnischen Lebensmittelladen oder haben einen polnischsprachigen Arzt. Aus den Interviews wurde aber deutlich, dass Einkäufe und Kirchgänge bevorzugt während der Familienbesuche in Polen vorgenommen werden.

2.7.2 Das russischsprachige Berlin Russischsprachige Zuwanderer sind im Berliner Alltag recht präsent, denn russische Gesprächsfetzen hört man überall in der Stadt (vgl. Schlögel, 2007: 425). Sie sind mit geschätzt 120.000 Menschen die zweitgrößte MigrantenCommunity aus Mittelosteuropa in Berlin. Am Anfang der »neuen« Migration kamen sie aus der Sowjetunion, die vom Baltikum über Moldawien bis nach Kasachstan und Usbekistan in Zentralasien reichte und ab 1993 aus deren 15 Nachfolgestaaten39. Der Beginn der russischsprachigen Community war die Migration der rund 30.000 jüdischen Migranten aus der ehemaligen Sowjetunion, die ab 1990 nach Ost-Berlin40 kamen und danach in die wiedervereinigte Stadt als Kontingentflüchtlinge zugewanderten. Viele zogen aus eigener Initiative nach Berlin, nachdem sie zuvor wegen der erfüllten Zuzugsquote der Stadt anderen Orten zugewiesen worden waren. Ein großer Teil der frühen Zuwanderer hat inzwischen die deutsche Staatsbürgerschaft angenommen (Tabelle 7). Der Jüdische Kulturverein e.V. vermittelte den Zuwanderern die Grundbegriffe des Judentums, die in der Sowjetunion nicht gepflegt werden konnten. In Berlin führte die Frage, wer nach den Religionsgesetzen Jude ist und wer nicht, zwischen neu zugewanderten und alteingesessenen Juden zu Auseinandersetzungen. Nur 8.500 der 30.000 jüdischen Zuwanderer sind in die Jüdische Gemeinde aufgenommen worden, sie haben eine jüdische Mutter und sind deshalb nach den orthodoxen Gesetzen Juden (Kessler, 2003). Viele der etwa 55.000 Spät-/Aussiedler aus der ehemaligen Sowjetunion in Berlin fühlen sich zur russischsprachigen Community gehörig. Bei der Feldforschung bin ich ihnen häufig in Einrichtungen der Community begegnet, sie arbeiten bspw. im Club Dialog und im Jugendzentrum Schalasch, in 39 | Zur Vielfalt der Gruppierungen in der russischsprachigen Community in Berlin vgl. Schlögel, 2007. 40 | Diese frühe Zuwanderung russischer Juden nach Ost-Berlin hat Wladimir Kaminer in seinem autobiographischen Buch »Russendisko« (2000) satirisch beschrieben. Kaminer kam im Sommer 1990 mit seinem Freund Mischa auf dem Bahnhof Lichtenberg an und wurde bald stadtbekannt mit seiner Russendisko, die er mit Freunden gelegentlich noch heute veranstaltet.

2. Berlin – Stadt der Vielfalt und der Migranten

russischsprachigen Kindergärten und Samstagsschulen, in Supermärkten für russische Lebensmittel und den kleinen Läden der »ethnischen Ökonomie«. Die Herausbildung der Wir-Gruppe »das russischsprachige Berlin« aus den unterschiedlichen Zuwanderungsgruppen begann Mitte der 1990er Jahre und die russischsprachigen Medien in der Stadt spielten dabei die entscheidende Rolle. Unter Nutzung des gemeinsamen kulturellen Nenners, der Sprache, haben sie mit Erfolg die Gemeinschaft des russischsprachigen Berlins definiert und den Zuwanderern die Sprache als Ressource für die Lösung von Alltagsproblemen vermittelt, wofür sie ihre öffentlichen Kommunikationskanäle zur Verfügung stellten (Darieva, 2002; Schlögel, 2007: 427f). »Radio Russki Berlin« bezeichnet sich als »Die Stimme unserer Stadt«, sendet täglich von 7 bis 19 Uhr und hat laut Werbung stündlich 25.000 Zuhörer. Die Wochenzeitung »Russkij Berlin« bietet der russischsprachigen Community Raum für private Anzeigen, um Kunden zu werben oder einen Partner zu suchen, sie wird auch im übrigen Deutschland als »Russjaka Germania« vertrieben. Aber keine Migrantin hat diese im Interview bei der Frage nach regelmäßig genutzten Medien erwähnt, für sie ist das Internet die Informationsquelle. Bei der Feldforschung zeigte sich, dass die Selbstverortung russischsprachiger Migranten von ihrer heutigen Nationalität ausgeht und sie die gemeinsame Sprache flexibel und situativ bei ihren privaten und beruflichen Kontakten nutzen. Russischsprachige Migranten bilden in Berlin keine Siedlungsschwerpunkte. Sie leben über die Stadt verstreut, meist in bürgerlichen Wohnlagen. Migrantinnen erklärten mir ihre Wohnungswahl oft mit der Erreichbarkeit eines russischsprachigen Kindergartens oder einer Schule mit Russischunterricht für ihr Kind. Zahlreiche russischsprachige Zuwanderer leben in den Bezirken Charlottenburg, vor allem jüdische Migranten, in Marzahn-Hellersdorf und in Lichtenberg (Ohliger/Raiser, 2005:13). Marzahn ist in den 1990er Jahren ein Siedlungsschwerpunkt für russischsprachige Spät-/ Aussiedler geworden, die in die dortigen Plattenbauten zogen und fast 15  % der Bevölkerung im Bezirk bilden (Ohlinger/Raiser, 2005: 48f; Häußermann/ Kapphan, 2000: 164). Bei der »ethnischen Ökonomie« fallen in Berlin drei große Supermärkte ins Auge, deren russische Import-Waren auf die Bedürfnisse der Migranten ausgerichtet sind, hier können sie echten Wodka, Pelmini und die bei den Kindern beliebten russischen Süßigkeiten kaufen. Im Westen der Stadt werden auf dem Einkaufsmarkt Rossia in Charlottenburg typische Lebensmittel für die russische Küche angeboten. Im Osten bietet der große Supermarkt Stolitschniye (großstädtisch) ein gut sortiertes Angebot russischer Lebensmittel, er hat auch eine Frischfleisch- und eine Fischtheke, die Migranten und andere Berliner gleichermaßen anziehen. Diesen Supermarkt erwähnten russischsprachige Migrantinnen häufig bei den Interviews, denn hier kaufen sie regelmäßig ein. Auch in Marzahn hat eine Migrantenfamilie einen Supermarkt für

63

64

Mittelosteuropäische Migrantinnen in Berlin

russische Lebensmittel eröffnet, der »alles anbietet, wonach man in Russland früher anstehen musste«, wie es in der Werbung heißt. Einige kleinere Lebensmittelläden wurden in Charlottenburg und Pankow eröffnet und in anderen Stadtteilen einige Mini-Mix-Märkte, eine Kette für russische Lebensmittel. Das Gewerbe russischsprachiger Betreiber ist von kleinen Läden geprägt, zu deren Kunden auch nichtrussischsprachige Bewohner der Nachbarschaft gehören, bspw. der moldawischen Schuster in Pankow und die Änderungsschneiderin aus Kasachstan in Charlottenburg. Im Stadtbild sind mehrere russischsprachige Buchhandlungen präsent, die DVDs, Videokassetten mit russischen Filmen, Musikkassetten, Zeitungen und Zeitschriften anbieten. Die größten sind das Gelikon mit zwei Geschäften und das Raduga, beide im Bezirk Mitte, die eine große russischsprachige Stammkundschaft haben (Kapphan, 1997; Burchard, 2002). Das Russische Haus für Wissenschaften und Kultur in der Friedrichstraße veranstaltet Vortragsabende, Ausstellungen und Theateraufführungen, Sprachkurse und Arbeitskreise für Migranten und interessierte Berliner. Es ist auch der Treffort für mehrere Gesprächskreise der Zuwanderer, insbesondere von Frauen. Nach Ansicht von Chevrekouko/Kusnezowa (2001) haben sich russischsprachige Zuwanderer in Berlin mit der steigenden Zahl ihrer Vereine mittlerweile eine gute alte deutsche Tradition zueigen gemacht. In der Anfangszeit war ihr Anliegen, eine Beratung in rechtlichen und bürokratischen Fragen zu erhalten, später standen pädagogische Fragen und die zweisprachige Erziehung der heranwachsenden Generation im Mittelpunkt des Austausches, inzwischen ist es das Bedürfnis der Migranten in Gesprächsgruppen die eigene Identität zu klären und zu festigen (2001: 82/83). Der Club Dialog e.V. begann 1988 in Ost-Berlin als Selbsthilfegruppe russischsprachiger Migranten. Heute bietet er Weiterbildungsseminare an, Sprach- und Computerkurse, betreibt den Jugendclub Schalasch und erteilt Kindern in der gut besuchten Samstagsschule nach Altersstufen Unterricht in ihrer Muttersprache und in russischen Schrift, angelehnt an die Curricula der Kindergärten und Schulen in Russland. Es gibt sechs bilinguale Mitra-Kindergärten41 in Berlin und für die schulische bilinguale Erziehung seit 1992/93 drei Staatliche Europa Schulen, zwei Grundschulen und eine Integrierte Sekundarschule, sowie eine private Grundschule. An drei Gymnasien kann Russisch als zweite Fremdsprache gewählt werden (Kapitel 12.5). Russischsprachige Migranten können in Berlin auch ihre Gotteshäuser aufsuchen. Russisch-orthodoxe Gottesdienst werden in der Christi-Auferstehungskathedrale in Wilmersdorf und in drei weiteren orthodoxen Kirchengemeinden gefeiert. Jüdische Zuwanderer können eine der zwölf Synagogen in Berlin aufsuchen, neun im Westteil der Stadt und drei im Ostteil, darunter die 41 | Drei weitere Mitra-Kindergärten sind in Potsdam, Leipzig und in Köln.

2. Berlin – Stadt der Vielfalt und der Migranten

Synagoge in der Oranienburgerstraße, die nach der Wiedervereinigung Berlins wiederaufgebaut und 1995 eröffnet wurde (Rebiger, 2010). Migranten aus der Ukraine, der zweitgrößte Zuwanderergruppe aus der ehemaligen Sowjetunion, sind in Berlin im öffentlichen Raum kaum repräsentiert. Es gibt einige kleine Organisationen, in denen sich Ukrainer zusammenfinden und mit gelegentlichen Veranstaltungen ihre Kultur pflegen. Die Griechisch-Katholische Gemeinde der Ukrainer trifft sich zu Gottesdiensten in Niederschönhausen und orthodoxe Ukrainer besuchen Gottesdienste russisch-orthodoxer Gemeinden. Es gibt keine Kindergruppe und keine Schule mit einem Angebot der ukrainischen Sprache, in die Eltern ihre Kinder schicken können, damit sie ihre Muttersprache auch außerhalb des Elternhauses lernen. In Berlin spiegeln sich bei den Migranten die politischen Probleme der Ukraine im gegenwärtigen Prozess der Selbstfindung zwischen der Europäischen Union und einem Gefühl der Zugehörigkeit zu Russland.

65

weiblich

Tschechoslowakei

957

1.796

1.305

weiblich

gesamt

2.914

800

gesamt

2.126

weiblich

881

gesamt

2.637

weiblich

2.691

945

1.999

1.702

4.297

1.081

3.763

862

941

1.971

1.734

4.170

1.004

3.148

827

2.520

6

weiblich

gesamt

32

gesamt

25

12.122 38

12.366

26.024

68

150

80

167

24

41

1993

weiblich

10.203

weiblich

29.013

10

26

32

60

11

21

1992

gesamt

26.600

2

weiblich

gesamt

4

7

gesamt

18

weiblich

7

weiblich

gesamt

16

1991

gesamt

ehem.

Bulgarien

Rumänien

Ungarn

Slowakei

Tschechien

Polen

Litauen

Lettland

Estland

868

1.833

1,481

3.594

819

2.357

828

2.667

50

284

72

151

12.379

27.627

101

207

153

290

28

50

1994

791

1.647

1.486

3.584

821

2.269

829

2.891

70

383

160

409

12.888

30.099

154

262

180

335

51

80

1995

709

1.500

1.492

3.506

838

2.189

832

2.735

114

310

233

517

13.475

29.462

184

298

240

479

60

97

1996

666

1.358

1.523

3.442

813

2.002

823

2.657

143

277

284

552

13.862

28.089

190

324

274

485

76

111

1997

Tabelle 6.1: In Berlin gemeldete Migranten und Migrantinnen aus den mittelosteuropäischen Herkunftsländern zwischen 1991 bis 2000

644

1.303

1.551

3.496

867

2.108

851

2.554

182

368

346

640

14.335

27.934

244

366

314

539

94

140

1998

629

1.256

1.562

3.639

902

2.091

885

2.504

219

443

422

729

14.955

28.359

280

426

368

612

99

149

1999

615

1.214

1.801

3.828

966

2.128

903

2.467

256

436

455

766

15.658

29.025

347

515

424

689

114

188

2000

66 Mittelosteuropäische Migrantinnen in Berlin

5.660

weiblich

8.232

6.932

13.145 6.434

12.185

30

10.201

gesamt

weiblich

1.040 63

386

weiblich

2.028

1.979

3.695

gesamt

796

984

weiblich

gesamt

1.882

gesamt

15.594

1994 111

1993

weiblich

1992 211

1991

gesamt

Quelle: Amt für Statistik Berlin-Brandenburg, 1991 bis 2000.

ehem. Sowjetunion

Moldawien

Ukraine

Russ.Föd.

Weißrussland

6.038

11.647

48

130

1.703

3.308

3.025

5.545

187

339

1995

5.631

10.722

70

176

2.233

4.111

3.691

6.716

257

433

1996

5.209

9.963

99

219

2.733

4.910

4.126

7.388

323

534

1997

4.752

9.132

145

290

3.326

5.645

4.572

8.078

383

619

1998

4.403

8.458

158

332

3.596

6.224

5.208

9.123

Apr-01

732

1999

3.960

7.583

209

406

4.024

6.943

5.820

10.179

536

856

2000

2. Berlin – Stadt der Vielfalt und der Migranten

67

weiblich 597

1.165

gesamt

586

1.118

2.387

Tschechoslowakei

4.734

4.326

weiblich 2.119

1.124

gesamt

2.293

2.175

958

2.459

weiblich 1.037

gesamt

weiblich 952

2.483

326

gesamt

517

474

weiblich 295

579

gesamt

984

870

17.014

weiblich 509

gesamt

weiblich 16.352

30.895

468

29.666

weiblich 415

gesamt

690

500

611

weiblich 484

gesamt

814

134

757

weiblich 123

gesamt

203

2002

201

gesamt

ehem.

Bulgarien

Rumänien

Ungarn

Slowakei

Tschech. Rep.

Polen

Litauen

Lettland

Estland

2001

538

1.078

2.581

4.993

1.192

2.383

1.006

2.496

363

558

598

1.007

17.823

32.291

506

743

539

855

149

222

2003

518

1.031

2.710

5.146

1.264

2.553

1.004

2.440

383

580

651

1.059

19.099

35.842

602

898

602

924

150

222

2004

514

1.010

2.770

5.198

1.317

2.627

1.062

2.554

397

630

707

1.159

20.665

40.787

736

1.092

662

1.073

183

271

2005

503

991

2.884

5.347

1.385

2.696

1.078

2.544

414

707

763

1.255

21.635

44.461

815

1.229

749

1.166

212

311

2006

488

963

3.541

6.621

1.617

3.309

1.085

2.318

436

721

831

1.322

21.799

44.400

865

1.298

780

1.204

225

323

2007

438

819

3.883

7.375

1.834

3.771

1.136

2.348

432

704

864

1.413

21.832

43.700

903

1.360

836

1.360

247

356

2008

387

671

4.221

8.304

2.115

4.267

1.215

2.387

437

770

877

1.454

21.730

42.355

947

1.481

954

1.948

260

392

2009

285

470

4.886

9.988

2.475

5.024

1.287

2.519

436

718

252

410

6.133

12.856

3.267

7.064

1.415

2.834

485

797

1.695 983

1.503

22.978

43.984

1.206

1.997

1.335

2.885

328

509

2011

901

21.571

40.988

1.049

1.708

1.108

2.447

271

419

2010

Tabelle 6.2: In Berlin gemeldete Migranten und Migrantinnen aus den mittelosteuropäischen Herkunftsländern 2001 bis 2011

68 Mittelosteuropäische Migrantinnen in Berlin

3.304

3.011

5.815

296

564

4.959

8.325

12.928

814

1.267

2003

2.760

5.330

324

611

5.147

8.510

7.901

13.574

895

1.371

2004

Quelle: Amt für Statistik Berlin-Brandenburg, 2001 bis 2011.

6.361

6.935

288

weiblich 3.606

551

462

4.800

8.117

weiblich 238

gesamt

weiblich 4.435

7.605

6.977

gesamt

12.119

11.152

weiblich 6.412

gesamt

726

weiblich 648

2002

1.152

2001

1.037

gesamt

ehem. Sowjetunion gesamt

Moldawien

Ukraine

Russ. Föd.

Weißrussland

2.570

4.983

336

628

5.252

8.667

8.163

14.005

929

1.402

2005

2.483

4.757

332

616

5.329

8.716

8.335

14.208

949

1.435

2006

2.300

4.403

344

632

5.351

8.709

8.579

14.615

964

1.444

2007

1.992

3.796

359

655

5.402

8.706

8.835

14.915

999

1.478

2008

1.742

3.223

365

661

5.312

8.453

8.992

15.026

984

1.419

2009

1.259

2.265

353

667

5.261

8.324

9.327

15.332

982

1.392

2010

1.157

2.069

354

670

5.409

8.496

9.957

16.410

1.030

1.454

2011

2. Berlin – Stadt der Vielfalt und der Migranten

69

6

4

95

68

9

4

9

4

17

6

21

14

68

35

59

5

48

4

4.165

2.482

113

8

51

1

432

63

660

309

863

392

gesamt

weiblich

gesamt

weiblich

gesamt

weiblich

Gesamt

weiblich

gesamt

weiblich

gesamt

weiblich

gesamt

weiblich

gesamt

weiblich

4

6

1

1

weiblich

1

40

gesamt

Gesamt 1991-2000 2001

29

55

12

17

9

26

3

3

4

5

81

126

6

8

5

7

0

1

2002

28

47

15

23

6

14

3

4

4

6

83

144

4

9

8

18

4

4

24

43

17

25

9

12

3

3

1

1

233

365

8

14

10

17

0

0

2003 2004

28

54

26

44

14

25

2

4

1

2

265

441

8

12

16

18

1

1

2005

7 5 19

11 7 7

24

44

12

21

6

13

4

4

3

5

260

415

35

60

59

91

10

17

2

3

1

1

226

348

14

0

5

1

0

69

110

26

37

14

26

4

5

1

10

176

261

6

6

10

15

1

3

2007 2008

1

2006

Tabelle 7: Einbürgerungen von Migranten und Migrantinnen aus den mittelosteuropäischen Herkunftsländern in Berlin zwischen 1991 bis 2011

60

93

26

45

12

20

5

6

3

5

184

266

5

8

4

7

3

3

88

128

38

54

17

27

8

12

6

7

148

209

10

12

11

16

1

1

2009 2010

94

139

42

67

21

27

6

9

4

8

250

352

8

10

6

11

6

8

2011

514

841

287

445

124

224

44

62

32

59

1.974

3.022

78

111

86

133

17

24

906

1.704

596

1.105

187

656

45

113

40

172

4.456

7.187

82

159

91

192

18

64

insgesamt gesamt 2001-2011 1991-2011

Bulgarien

Rumänien

Ungarn

Slowakei

Tschechien

Polen

Litauen

Lettland

Estland

70 Mittelosteuropäische Migrantinnen in Berlin

189

120

16

8

4.193

931

450

97

5

weiblich

gesamt

weiblich

gesamt

weiblich

238

8

16

120

189

139

238

12

17

10

24

199

349

129

266

15

24

2002 2003

7

15

149

298

200

321

9

15

2004

10

18

181

330

231

409

14

24

2005

19

32

197

359

231

419

23

35

2006

Quelle: Amt für Statistik Berlin-Brandenburg, 1991 bis 2011b.

17.190

139

9.654

gesamt

12

8

weiblich

17

77

gesamt

Gesamt 1991-2000 2001

21

31

167

263

170

285

21

39

9

12

107

170

91

158

19

19

2007 2008

6

13

124

178

103

169

13

22

2009

14

23

145

228

118

192

23

35

2010

10

15

130

226

121

185

21

33

2011

11.055

122

215

1.639

2.779

1.672

2.880

182

280

28.265

127

312

2.089

3.710

5.865

12.534

190

357

insgesamt gesamt 2001-2011 1991-2011

Moldawien

Ukraine

Russ. Föd.

Weißrussland

2. Berlin – Stadt der Vielfalt und der Migranten

71

3. Feldforschung und Interviews in Berlin

Die gegenwärtige dynamische Entwicklung Berlins und die Vielfalt seiner Migranten macht die Stadt zu einem interessanten und inspirierenden Ort für eine Feldforschung in den mittelosteuropäischen Communities und ihren transnationalen Räumen. Auf den ersten Blick sind Migranten aus Mittelosteuropa im städtischen Leben kaum sichtbar, sie werden es erst nach einigem Suchen. Hörbar sind häufig russischsprachige Zuwanderer mit ihren Unterhaltungen auf der Straße, in Bussen, Bahnen und Kaufhäusern, wie es auch Schlögel beschrieben hat (2007:424). Aufgrund der dreizehn mittelosteuropäischen Herkunftsländer im Sample fand die Feldforschung in einem »multisited context« statt (Marcus, 1995: 110), obwohl ich keine nationale Grenze überschritten habe. Teilnehmende Beobachtung, zuweilen auch dichte Teilnahme (Clifford, 1993; Spittler, 2001) bei Alltagssituationen in Familien, beim Besuch muttersprachlicher Kinderprojekte, bei Festen in Migrantenvereinen und in Botschaften haben die Feldforschung komplementiert.

3.1 Z ugänge zum F orschungsfeld Zu Beginn habe ich erste Kontakte zu Migrantinnen aus Mittelosteuropa in Berlin geknüpft, zunächst mit Besuchen bei zwei großen Migrantenorganisationen und einigen Beratungsstellen, die sich als Interessensvertreter von Migranten aus mittelosteuropäischen Ländern verstehen. Die dort tätigen Mitarbeiterinnen waren einerseits Schlüsselinformantinnen, bei denen ich meinen Lernprozess über die in Berlin lebenden Migrantinnen begonnen habe. Andererseits verstehen sie sich als gatekeeper ihrer Organisation und der jeweiligen Migranten-Community. Meine Erwartungen über sie Zugang zu Migrantinnen für die Interviews zu bekommen, erfüllten sich nicht, die gatekeeper hielten die Tore verschlossen, mutmaßlich weil sie sich von einer Erforschung ihres Wissensmonopols keine Unterstützung bei ihrer Aufgabe der Interessenvertretung erwarteten und möglicherweise auch, weil sie mit vergleichbaren Projekten – aus ihrer Sicht – schlechte Erfahrungen gemacht haben (vgl. Kun-

74

Mittelosteuropäische Migrantinnen in Berlin

zik/Zipfel, 2005: 241f). So sagte man mir bei der größten Polnischen Organisation zu Beginn des Gespräches »alle Polinnen arbeiten jetzt legal« (soll heißen: seit dem EU Beitritt Polens), offenkundig davon ausgehend, ich wolle über illegale Putzfrauen forschen, wie zuvor andere Sozialwissenschaftler (vgl. Cyrus, 2007; 2008). Und im Russischen Haus meinte die Vertreterin einer Migrantenorganisation kühl »Sie kommen Jahre zu spät mit Ihrer Forschung«, denn Russland gehe es jetzt wirtschaftlich gut und russische Frauen müssten nicht mehr ins Ausland gehen, um Geld zu verdienen. Die weitere Feldforschung verlief dann sehr viel kooperativer und erfolgreicher als ich Einrichtungen besuchte, die zum Lebensbereich der Migranten gehören, bspw. Sprachschulen, Kindergärten mit polnisch- und russischsprachiger Betreuung und muttersprachliche Samstagsschulen. Hier begegnete ich zahlreichen Migrantinnen, konnte in Gesprächen das Forschungsprojekt erläutern, für die Interviews werben und Fragen zur Vertraulichkeit beantworten. Die Suche nach weiteren Migrantinnen habe ich dann auf einige Kirchengemeinden ausgedehnt, auf Geschäfte, Cafés und Restaurants, die von Migranten betrieben bzw. von ihnen aufgesucht werden. Es gab auch spontane Begegnungen. So erkundigte ich mich beim Einkaufen in einem Laden »um die Ecke« nach dem schönen – wohl osteuropäischen? – Akzent der Verkäuferin und traf eine Migrantin aus Moldawien, die ich später auch interviewen konnte. Unterstützt bei der Suche nach Migrantinnen haben mich vor allem • der Club Dialog und seine Sprachschule für russischsprachige Migranten im Wedding, • die polnischsprachigen Kindergärten Kaitek in Wilmersdorf und Maluch im Tiergarten, • der polnische Schulverein OSWIATA, • Eltern der Katharina-Heinroth-Grundschule, der deutsch-polnischsprachigen Staatlichen Europaschule in Wilmersdorf, • die rumänisch-orthodoxe Kirchengemeinde in der Heerstraße, • das (vormalige) Ukraine Kompetenz Zentrum (UKZ) in Kreuzberg, • Mütter aus den muttersprachlichen Kindergruppen Estlands, Litauens, Tschechiens und Ungarns und • Migrantinnen aus dem Umfeld der Polnischen katholischen Kirche in der Lilien­t halstraße in Neukölln. Während der Feldforschung nahm ich Einladungen zu Kinderfesten und Weihnachtsfeiern der Migranten-Communities an und besuchte kulturelle Veranstaltungen aus dem reichhaltigem Angebot in Berlin, bspw. im Russischen Haus, im Polnischen Institut, im Collegium Hungaricum, im Rumänischen Kulturinstitut und im Bulgarischen Institut. Dabei erfuhr ich mit

3. Feldforschung und Inter views in Berlin

teilnehmender Beobachtung viel über das Leben der einzelnen Migrantengruppen in Berlin, über ihr Bemühen die Muttersprache und kulturelle Bräuche ihres Herkunftslandes zu erhalten und sie ihren Kindern zu vermitteln und ihr Herkunftsland und seine Kultur in der Berliner Öffentlichkeit bekannt zu machen. Im Laufe des Forschungsprozesses hat sich die ins Auge gefasste Zusammensetzung der Untersuchungsgruppe etwas verändert. So erwies es sich als zu schwierig, unter den polnischen Migrantinnen in Berlin pendelnde Hausarbeiterinnen und Pflegekräfte zu finden, wie sie in der Literatur beschrieben werden (Metz-Göckel et al., 2006; Cyrus, 2008). In meinem polnischen Sample habe ich vier Migrantinnen, die in typischen Jobs von Pendlerinnen arbeiten und alle vier leben seit Jahren in Berlin: zwei Frauen sind als Haushälterin und als Putzfrau beschäftigt, eine Frau ist ambulante Altenpflegerin und eine zweite hat gerade eine Umschulung zur ambulanten Altenpflegerin gemacht. Pendelmigrantinnen konnte ich jedoch in Berlin nicht finden, obwohl ich immer wieder hörte, dass zahlreiche Polinnen in der Stadt arbeiten und weiterhin in Polen leben (vgl. 2.7.1). Um pendelnde polnische Migrantinnen zu erreichen, habe ich die Feldforschung auf Züge aus Berlin ins nahe Polen ausgedehnt, mit denen an Freitagnachmittagen und -abenden polnische Migrantinnen und Migranten für das Wochenende zu ihren Familien in die grenznahen Regionen Westpolens zurückkehren. Die typischen Wochenend-Pendlerzüge fahren stündlich vom Bahnhof Lichtenberg nach Kostrzyn/Küstrin mit einer Fahrzeit von 1 Std. und 20 Min. In den gut gefüllten Züge sind mehr als die Hälfte der Reisenden Polinnen und Polen, die in Kostrzyn/Küstrin umsteigen, um die Anschlusszüge des polnischen Regionalverkehrs zu erreichen, über die die zweisprachige Ansage im Zug informiert. Ein Anschlusszug fährt nach Zbaszynek, er hält während der Fahrzeit von knapp zweieinhalb Stunden etwa alle 6 Minuten an 24 Stationen und ist eine sehr gute Verbindung für die Bewohner der Dörfer dieser ländlichen Region im Nordwesten Polens, um zur Arbeit nach Berlin und zurück zu fahren. Polnische Migrantinnen halten sich vor Abfahrt des Zuges in Berlin-Lichtenberg gegenseitig Plätze frei, sie sitzen während der Fahrt in kleinen Grüppchen zusammen, kennen sich offensichtlich schon lange und plaudern angeregt miteinander. »Besser nicht« lautete meist ihre rasche Antwort, wenn ich Frauen ansprach, das Forschungsprojekt kurz vorstellte und sie fragte, ob sie in Berlin einmal zu einem biographischen Interview bereit wären. Auf der Rückfahrt nach Berlin an den Freitagabenden bin ich dann polnischen Migrantinnen mit kleinen Kindern begegnet, die in Polen ihre Mutter unter der Woche besucht hatten und nun zum Ehemann nach Berlin zurückkehrten. Sie waren deutlich kommunikativer und mit mehreren von ihnen konnte ich mich zu einem späteren Interview verabreden.

75

76

Mittelosteuropäische Migrantinnen in Berlin

Nachdem sich auch in den Pendlerzügen die Suche nach pendelnden Polinnen, die zu einem Interview bereit sind, als erfolglos erwies und gleichzeitig zwei Studien veröffentlicht wurden, die pendelnde Migrantinnen aus Mittelosteuropa und ihre Arbeiten in der sekundären Reproduktion in Deutschland umfassend behandeln (Metz-Göckel et al., 2010; Karakayali, 2010) beendete ich die weitere Suche nach Pendlerinnen aus Polen für mein Sample1.

3.2 B egegnungen mit M igr antinnen Zwischen November 2009 und Dezember 2011 habe ich mehr als hundert leitfadengestützte biographische Interviews mit Migrantinnen aus Mittelosteuropa geführt, von denen ich hundert ausgewertet habe. Im multinationalen Sample stammen neunundfünfzig Frauen aus neun Ländern der Europäischen Union, aus Estland, Lettland, Litauen, Polen Tschechien, der Slowakei, Ungarn, Rumänien und Bulgarien und einundvierzig Migrantinnen aus den vier Nicht-EU-Ländern, Weißrussland, Russland, der Ukraine und Moldawien (Tabelle 8). Fast alle Frauen sprachen gut und fließend Deutsch, zahlreiche Migrantinnen sogar ausgezeichnet. Drei Frauen sprachen es mit grammatikalischen Ungenauigkeiten, weil sie Deutsch weder bei der Arbeit noch in ihrer Partnerschaft benötigen. Mit drei neu zugewanderten Frauen aus Lettland und Ungarn, führte ich das Interview in englischer Sprache (vgl. Kapitel 3.4, 5.2) Die Zusammenstellung des multinationalen Samples erfolgte im Prozess der Feldforschung nach den drei Kriterien meines Forschungskonzeptes: • • • •

die Migrantin ist zwischen 1989 und 2011 aus einem der dreizehn mittelosteuropäischen Herkunftsländer zugewandert, sie lebt in Berlin und hat ein Kind oder Kinder unter 18 Jahren.

Während der Kontaktknüpfung zu den Migranten-Communities in Berlin begegnete ich ersten Migrantinnen, die zu einem Interview bereit waren. Über das Schneeballverfahren, d.h. mit der Vermittlung der Protagonistinnen untereinander, der Empfehlung von Migrantin zu Migrantin, fand ich weitere Frauen für ein biographisches Interview. Nach einigen Interviews aus jedem

1 | Es war tröstlich zu lesen, dass die Autorinnen der beiden Studien ebenfalls sehr große Schwierigkeiten hatten, polnische und andere mittelosteuropäische Migrantinnen zu finden, die pendelnd in diesen Jobs arbeiten und zu einem Interview bereit waren (Metz-Göckel et al., 2010: 14-15; Karakayali, 2010: 92; in Berlin wird das auch von Cyrus erwähnt (2008: 181).

3. Feldforschung und Inter views in Berlin

Tabelle 8: Das multinationale Sample der interviewten Migrantinnen und die Zeit ihrer Migration Herkunftsland Estland

Zwischen 1989 und 2000

Zwischen 2001 und 2011

Gesamt

2

2

4

Lettland

1

8

9

Litauen

3

3

6

Polen

9

5

14

Tschechien

2

3

5

Slowakei

-

1

1

Ungarn

4

3

7

Rumänien

5

4

9

Bulgarien

2

2

4

Zusammen:

28

31

59

Weißrussland

4

2

6

Russland

7

8

15

Ukraine

5

7

12

Moldawien

6

2

8

Zusammen

22

19

41

Insgesamt

50

50

100

der dreizehn Herkunftsländer traf ich eine gewisse Auswahl unter den Migrantinnen, in Anlehnung an das theoretical sampling von Glazer/Strauss (1967/2005: 70; Flick, von Kardorff, Steinke, 2010: 290f), mit dem Ziel, eine möglichst große Varietät von Lebensgeschichten aus jedem Land im Sample zu erreichen und zu vermeiden, über das Schneeballsystem hauptsächlich Migrantinnen aus einzelnen Milieus oder Freundeskreisen zu interviewen. Kriterien für die Auswahl einer Migrantin waren u.a. die geographische Herkunft (Landesregion/Großstadt/Provinz), ihre Ausbildung im Herkunftsland und ihre Weiterbildung in Berlin, ihre gegenwärtige Berufs- und Arbeitssituation, ihre Lebenssituation mit Partner und Kindern und der Zeitpunkt ihrer Zuwanderung bzw. die Dauer ihres Aufenthaltes. Wenn für ein Herkunftsland eine gewisse Vielfalt unter den Migrantinnen erreicht war und damit eine theoretische Sättigung in der Untersuchungsgruppe, habe ich das Sampling abgeschlossen, denn es war nicht zu erwarten, dass sich aus weiteren Biographien völlig neue zusätzliche Informationen für die Forschungsthemen ergeben würden.

77

78

Mittelosteuropäische Migrantinnen in Berlin

In Berlin fällt auf, dass es keine selbstorganisierten Clubs, Vereine oder Frauengruppen von Migrantinnen aus einem der mittelosteuropäischen Länder gibt 2 . Bestehende Migrantenvereine werden offenkundig nur selten oder gar nicht von Frauen mit Kindern besucht. Migrantinnen aus demselben Herkunftsland begegnen einander vor allem in den muttersprachlichen Kindergruppen und Samstagsschulen. In ihrem privaten Umfeld kannten sie meist nur eine oder zwei Frauen gleicher Herkunft. Ausnahmen waren zwei russischsprachige Cliquen mit je vier Freundinnen aus Russland, Weißrussland und der Ukraine, die sich in Berlin kennengelernt hatten u.a. beim Studium an Berliner Universitäten. Eine Clique hat früher eine Krabbelgruppe für ihre Babys und Kleinkinder gegründet, als Überbrückung vor dem Besuch eines deutschsprachigen Kindergartens. Ein Merkmal des Schneeballsystems war, dass mir häufig Frauen mit Kindern im Kindergartenalter empfohlen wurden, denn Frauen mit jüngeren Kindern arbeiten oft nur Teilzeit und haben deshalb eher Zeit für ein Interview. Hinzu kommt, dass Mütter kleiner Kinder regelmäßig Kontakt untereinander haben, beim Bringen und Abholen ihrer Kinder vom Kindergarten. Einige Mütter haben das Schneeballsystem über ihr Herkunftsland hinaus ausgedehnt, ihre Vermittlung übersprang nationale Grenzen, analog der multinationalen Kindergruppen in Berliner Kitas, insbesondere in Charlottenburg und Pankow. Etwas schwieriger war es, Migrantinnen mit älteren Kindern zu finden, weil zahlreiche Frauen dann Vollzeit arbeiten und weniger Zeit und auch weniger Kontakt untereinander haben. Für manche Frauen war das Leben in dieser Phase auch schwieriger, etwa weil sie eine Trennung vom Partner durchlebten oder weil die Erziehung ihrer älteren Kinder sie mehr forderte, wie mir bspw. die albanische Mutter einer sechszehnjährigen Tochter mit dem deutschen Sprichwort erklärte »kleine Kinder, kleine Sorgen, große Kinder, große Sorgen«. Migrantenmütter haben wenig Zeit – das war eine der Erfahrungen, die ich bei den Verabredungen für die Interviews gemacht habe. Es war für sie nicht einfach, zwei, drei Stunden Zeit freizuschaufeln zwischen ihrer beruflichen Arbeit, der Betreuung ihrer Kinder, familiären Aufgaben und den Wünschen des Partners. Letztere waren meist nicht gerade begeistert über ein lebensgeschichtliches Interview ihrer Frau oder Lebensgefährtin. Die Abende und die Wochenenden sind der Familie vorbehalten, Feste und Schulferien waren für Interviews tabu, ebenso die längeren Vorbereitungszeiten der Feste und Fe2 | Dieser Eindruck bestätigt sich auch deutschlandweit, soweit hierzu Literatur zu finden war (Schwenken, 2000; Hunger, 2005; Kalwa, 2010: 214f); dagegen sind in den Herkunftsländern in den letzten zwanzig Jahren zahlreiche selbstorganisierte Frauengruppen entstanden, bspw. in Polen (Choluj, 2003; Fuchs, 2003) und in Russland (Zabadykina, 1996; Godel, 2002: 112-159; Zdravomyslova, 2000).

3. Feldforschung und Inter views in Berlin

rien, die dann prall gefüllt sind mit Reisen ins Herkunftsland, meist zu ihrer Mutter und der Oma der Kinder, und mit Besuchen ihrer transnationalen Familie in Berlin. Einige Frauen hatten nachvollziehbar wegen ihrer beruflichen Arbeit keine Zeit für ein Interview, bspw. eine ukrainische Migrantin, die in einer Spielhalle arbeitet und dort mit zahlreichen Überstunden ihre knappen Einkünfte auf bessert und eine albanische Migrantin, die ein kleines Café am Prenzlauer Berg betreibt und auf eine Arbeitswoche von sechseinhalb Tagen kommt. Auch freiberuflich tätige Migrantinnen haben lange Arbeitszeiten und wenig Freizeit, bspw. eine Immobilienmaklerin und eine Journalistin, die für Medien ihrer Community arbeitet – zumal alle Frauen der Zielgruppe Kinder zu versorgen haben. Es gab auch Ablehnungen des Interviews, bei denen offenkundig inhaltliche Gründe eine Rolle spielten, was sich bei Migrantinnen aus einigen Nationalitäten wiederholte. So war es relativ schwierig und langwierig polnische Migrantinnen zu finden, die zu einem biographischen Interview bereit waren, obwohl Polinnen die größte Gruppe der mittelosteuropäischen Frauen in Berlin sind. Auch einige Frauen aus der Ukraine, einem politisch unruhigem Herkunftsland, waren über das Schneeballsystem nicht zu einem Interview zu bewegen. Die meisten interviewten Migrantinnen hatten ein genuines Interesse an einer Forschung über mittelosteuropäische Frauen in Berlin. Sie waren als Migrantin und als Mütter interessiert zu erfahren, wie weibliche Lebensverläufe in der Migration sozialwissenschaftlich thematisiert werden und bei diesem Thema ergaben sich »auf Augenhöhe« oft lebhafte Gespräche. Für die meisten Frauen war es das erste Mal, dass sie intensiv über ihren Migrationsprozess reflektiert haben. Eine Frau aus dem Baltikum bemerkte am Ende unseres Gespräches über ihr Leben nachdenklich »es ist eigentlich alles angesprochen worden«. Und eine Russin, die im Alter von 30 Jahren schon auf ein ereignisreiches Leben zurückschaute, in dem sie alleinerziehend mit ihren beiden Kindern und in ihrem Beruf mehrere hohe Hürden gemeistert hatte, sagte nach unserem Treffen enthusiastisch, sie wolle später über ihr Leben eine Autobiographie schreiben. Mehrmals habe ich die Erfahrungen gemacht, dass russische Frauen es lieben, über ihr Leben zu reflektieren und sich nach dem Interview für »das interessante Gespräch« bedankten. Bei der Erarbeitung von Kontextwissen aus der Literatur las ich später, dass in den meisten mittelosteuropäischen Ländern, insbesondere in Russland, autobiographische Selbstrepräsentationen und biographische Zeitzeugenforschungen seit der postsozialistischen Wende auf großes Interesse stoßen und intensiv betrieben werden (Obertreis/Stefan, 2009a; Alexijewitsch, 2013; Kapitel 4.5). Der Ort für das Interview wurde meist von der Migrantin vorgeschlagen. Etwa die Hälfte der Frauen lud mich für das Interview in ihre Wohnung ein, wo manchmal auch die Kinder oder der Partner anwesend waren. Andere

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Interviews fanden in einem ruhigen Café in der Nähe ihrer Wohnung oder des Arbeitsplatzes statt. Gelegentlich trafen wir uns auch in den Räumen einer Migrantenorganisation oder einer Sprachschule, zwei Mal am Arbeitsplatz der Migrantin – einem kleinen Laden – und zwei Mal in meiner Wohnung. Dabei kam ich in der ganzen Stadt herum. Während die Migrantenorganisationen sich in typischen Migranten-Quartieren im Wedding und in Kreuzberg befinden, waren die Wohnungen meiner Interviewpartnerinnen über ganz Berlin verstreut: in einem Hochhaus in Rudow, einem Plattenbau in Lichtenberg, am Prenzlauer Berg, in Friedrichshain, Pankow, Schöneberg und Charlottenburg und auch im eigenen Haus in Lichtenrade, am Wannsee und in Heiligensee. Die Beispiele zeigen, dass Migranten aus Mittelosteuropa in Berlin keine Siedlungsschwerpunkte bilden, sie leben über die Stadt verteilt und vorwiegend in bürgerlichen Wohnvierteln. Ihre oft bewusste Wohnungswahl begründeten die Frauen meist nachdrücklich mit ihren Kindern: im Westteil der Stadt sollten diese »ganz normale« Berliner Schulen besuchen, keine mit einem hohen türkisch- oder arabischsprachigen Schüleranteil, die als Lernorte keinen guten Ruf haben. Im Ostteil Berlins war russischsprachigen Eltern die Erreichbarkeit von Schulen wichtig, die auch Russisch anbieten. Überlegungen, wie sie typisch für Familien der Bildungsmittelschicht sind.

3.3 »D oing biography« inter aktive D atenproduktion mit der M igr antin Das biographische leitfadengestützte Interview ist eine Mischform zwischen einem narrativen und einem Leitfadeninterview (Helfferich, 2004: 25). Es ist am besten geeignet, um möglichst umfassende lebensgeschichtliche Informationen aus dem Lebensverlauf jeder Migrantin zu gewinnen und zugleich von allen Interviewten vergleichbare Daten für die zentralen Themen der Studie zu generieren. Außerdem erhält bei dieser Interviewform jede Migrantin die Gelegenheit möglichst oft mit Narrationen ihre emische Sicht auf einzelne Sequenzen und Ereignisse ihres Lebens zu erzählen und zu reflektieren. Es zeigte sich, dass eine Erzählaufforderung bei den meisten Migrantinnen nicht nötig war, denn sie begannen meist schon bei der dritten Leitfadenfrage – nach dem aktuellen Familienstand – lebhaft zu erzählen und oft blieb der Leitfaden über längere Zeit unbeachtet, bis nach einer ausführlichen narrativen Passage der Migrantin unser Wiedereinstieg in die Leitfadenfragen erfolgte. Das Interview sollte den zeitlichen Rahmen von zwei Stunden nicht überschreiten, denn das war die Zeitspanne, die für berufstätige Migrantinnen mit Kindern gerade noch einzurichten ist, wie sich bei ersten Gesprächen gezeigt hatte. Gleichwohl haben zahlreiche Migrantinnen die Dauer des Interviews spontan verlängert, weil sie lebensgeschichtliche Ereignisse und Zusammen-

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hänge ausführlicher darstellen wollten. Im Leitfaden waren sieben Themenkomplexe zusammengestellt: 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7.

Persönliche Daten, Familienstand, Partner, Kinder, Herkunft, Eltern und Geschwister, Ausbildung, Hintergründe und Verlauf der Migration, Lebens- und Arbeitsverhältnisse in Berlin, berufliche Weiterentwicklung, Kinder, Spracherziehung, Kitabesuch und Schulwahl, Transnationale Beziehungen zu Familie und Freunden im Herkunftsland, Mobilität, Gefühle transnationaler Zugehörigkeiten, Überlegungen zur Zukunft.

Die Themenkomplexe des Leitfadens habe ich nicht als starren chronologischen Rahmen abgearbeitet, sondern sie im Verlauf der Lebensgeschichte »an passender Stelle« nachgefragt. Wenn es um die Rekonstruktion der individuellen Lebenszusammenhänge und die persönliche Sicht auf die Ereignisse und ihre Folgen in der Biographie geht, kann ein Leitfaden die Ergebnisse einschränken, weil er die Äußerungen der Befragten in gewisser Weise reglementiert. Erzählte Gesprächsanteile, vergleichbar dem narrativen Interview3, sind eine ideale und notwendige Ergänzung, um die Rekonstruktion der Lebensgeschichte möglichst umfassend zu erreichen In einer narrativen Interviewpassage hat die Migrantin die Möglichkeit aus ihrer Lebensgeschichte spontan eine Erzählung als Expertin in eigner Sache vorzutragen und autonom zu gestalten. Die Interviewerin hört zu, unterbricht die Erzählung nicht, gibt höchstens unterstützende und empathische Reaktionen zu erkennen und stellt erst nach dem Ende der Narration Nachfragen, soweit diese für das Verständnis der lebensgeschichtlichen Erzählung und ihre chronologische Zuordnung notwendig sind. In meiner Forschung hat es sich bei einzelnen emotional aufgeladenen Ereignissen in der Biographie als sinnvoll erwiesen, Nachfragen als Erzählaufforderung zu formulieren, um der Migrantin die Möglichkeit zu geben, das Erlebnis vertiefend zu schildern und ihre Gefühle zu äußern. Erzählgenerierende Nachfragen waren auch bei Themen angebracht, die aufgrund ihrer Individualität nicht im Leitfaden enthalten waren. Die Fähigkeit und die Bereitschaft zum Erzählen der Lebensgeschichte 3 | Das narrative Interview wurde von Schütze (1976,1983) entwickelt, als Versuch, die bis in die 1980er Jahre weitgehend unbeachtete menschliche Fähigkeit des Erzählens für die sozialwissenschaftliche Forschung zu nutzen. Grundlagen und Techniken der Interviewführung und -bearbeitung sind seitdem in zahlreichen Publikationen ausführlich diskutiert worden (z.B. Fischer-Rosenthal/Rosenthal, 1997; Lucius-Hoene/ Deppermann, 2004; Küsters, 2009) und das narrative Interview ist inzwischen eines der meistgenutzten Datenerhebungsverfahren in den Sozialwissenschaften.

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und zum doing biography waren bei den Frauen unterschiedlich ausgeprägt, meine Erfahrungen waren überwiegend sehr positiv, denn narrative Anteile wurden oft und gerne von den Migrantinnen beigesteuert. Das Thema »Lebensgeschichte« hat eine große Ich-Nähe und bei einem biographischen Interview spielt ein gutes Vertrauensverhältnis zwischen Migrantin und Interviewerin eine wichtige Rolle. Um das Vertrauen herzustellen, habe ich bei unserem ersten Kennenlernen oder zu Beginn des Interviews das Forschungsprojekt vorgestellt, meine Motivation für das Thema erläutert und den Frauen Anonymität bei der Verwendung ihrer biographischen Daten und eine leichte Verfremdung bei der Wiedergabe von Interviewinhalten zugesichert. Nach der Aufwärmphase begann das Interview mit ersten Leitfadenfragen und die Erinnerungsarbeit setzte bei der Migrantin ein. Die meisten Frauen haben zum ersten Mal eine umfassende Rückschau auf das eigene Leben gehalten, ihre narrativen Beiträge führten ad hoc oft zu Reflexionen und die Erzählung dramatischer Episoden ihres Lebens brachte lange verschüttete Gefühle wieder hervor. Die Migrantinnen hatten als Expertinnen für die Geschichte ihres Lebens und ihrer Migration ein Interesse daran, dass die erzählten Erinnerungen und Zusammenhänge von mir auch verstanden wurden. Ein lebensgeschichtliches Interview, das »doing biography« als zentraler Bestandteil der Forschung ist kein Alltagsgespräch, sondern die Lebensgeschichte wird von der Migrantin und der Interviewerin interaktiv reproduziert. Bukow/Spindler bezeichnen das doing biography als »ein hermeneutisches Bündnis« zwischen den beiden Beteiligten (2006: 28). Es erfordert eine hohe Konzentration von der Migrantin und der Interviewerin und eine Balance zwischen menschlichem Interesse und persönlichem Respekt, die notwendig sind bei der lebensgeschichtlichen Thematik und für die sachliche Erfüllung der Aufgabe des Interviews – der Produktion von Forschungsdaten- für die ein bestimmter zeitlicher Rahmen zur Verfügung steht. Der Leitfaden mit den vorgegebenen thematischen Komplexen muss durchgegangen werden, darf aber nicht als eine feste Sequenz behandelt werden, die chronologisch abzuarbeiten ist, was nach meiner Erfahrung angesichts der individuellen Lebensverläufe kaum möglich gewesen wäre. Gleichzeitig soll das Gespräch offen verlaufen und ein kontinuierlicher Erzählstimulus der Migrantin muss erhalten bleiben, damit sie narrative Passagen über das Erlebte, ihre Erfahrungen und ihre Gefühle einbringen kann. Mit Nachfragen der Interviewerin während des Leitfadens und nach narrativen Anteilen wird die individuelle Lebensgeschichte vervollständigt. Während der Gespräche konnte ich nicht immer die Rolle der interessierten, aber passiven Zuhörerin durchhalten, die höchstens mal ein »hm« einstreuen darf, wie es für Biographiestudien gefordert wird (Schütze, 1983; Rosenthal, 1995). Neuere Interviewvarianten lassen Raum für eine empathische Beteiligung des Interviewer (Helfferich, 2004: 24f). Dem Interviewer wird

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zugestanden, wie im Alltag in der biographischen Kommunikation Neugier zu zeigen, hin und wieder eine eigene lebensgeschichtliche Erfahrung beizusteuern, Deutungen anzubieten und die eigene Informiertheit erkennen zu lassen (Fuchs-Heinitz, 2009: 271). Diese Zugeständnisse entsprechen dem interaktiven Interviewprozess des »doing biography« und ich habe meine Empathie nicht verborgen. Gelegentlich konnte ich nach der Erzählung der Migrantin eigene Kenntnisse einbringen, bspw. zur politischen Situation in ihrem Herkunftsland oder zur Bilingualität von Migrantenkindern, Themen, die Teil der Forschungsfragen und des Kontextwissens sind. In solchen Phasen schienen einige Frauen die Interviewsituation zu vergessen und ihre Kommentare am Ende unserer Treffen ließen erkennen, wie erstaunt sie waren über das nachhaltige Interesse an ihrer Lebenserzählung. Die hundert Interviews mit den Migrantinnen über ihre Bildungs- und Erwerbsprozesse und ihr transnationales Leben waren für mich ein intensiver und nachhaltiger Lernprozess. Er führte auch dazu, dass ich Migrantinnen manchmal für ihre Bewältigungsstrategien Tipps weitergeben konnte, von denen ich von einer anderen Migrantin in ähnlicher Situation gerade gehört hatte.

3.4 A nmerkungen zur I ntervie wspr ache Die biographischen Interviews mit den Migrantinnen habe ich in deutscher Sprache geführt. Deutsch war in meiner multinationalen Zielgruppe die Brückensprache, die bei der Feldforschung ganz selbstverständlich war und von keiner Migrantin hinterfragt wurde. Fast alle interviewten Migrantinnen sprachen fließend Deutsch, einige mit gelegentlichen kleinen grammatikalischen Ungenauigkeiten und zwei russische Frauen brachten ein Taschenlexikon zu unserem Treffen mit, in dem wir zwei oder drei Begriffe während des Interviews nachgeschaut haben. Drei Arbeitsmigrantinnen sprachen fehlerhaft Deutsch, weil sie als Putzkräfte ausschließlich in ihrer Community arbeiten und kaum Gelegenheit hatten, Deutsch zu lernen und zu sprechen. Die Interviews dauerten deshalb etwas länger und zwei Migrantinnen nahmen die Hilfe einer befreundeten Landsfrau in Anspruch, um einige Formulierungen nachzufragen. Drei Migrantinnen, die erst kurze Zeit in Berlin lebten, schlugen Englisch für das Interview vor. Bei einer sprachübergreifenden Studie ist an einer der Relaisstationen zwischen den Aussagen der Beforschten und dem interpretierenden Text des Forschers immer eine Übersetzung notwendig. Diese Tatsache relativiert die Frage, ob Deutsch die forschungsethisch korrekte Sprache in dieser Migrationsstudie mit mehr als hundert Migrantinnen aus dreizehn Ländern war. Eine Alternative wäre es gewesen, mit Übersetzerinnen zu arbeiten, um es den

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Migrantinnen zu ermöglichen, in den Interviews ihre Muttersprache zu sprechen, was aber von keiner Migrantin bei unserer Verabredung oder während des Interviews thematisiert wurde, warum auch, sie sprachen ja fast alle sehr gut bis gut Deutsch und konnten nachfragen, wenn sich im Gespräch eine Ungenauigkeit im Verständnis oder bei einer Formulierung ergab. Welche Bedeutung hat es für eine Forschung, wenn die Erzählerin ihre Lebensgeschichte nicht in ihrer Muttersprache produziert, sondern in der Sprache, die sie selbst erst seit ihrer Migration vor einigen Jahren gelernt hat? Zu dieser Frage gibt es – nach meiner Kenntnis – bislang noch keine Forschung. Kann man bei der eigenen »Übersetzung« der Migrantin davon ausgehen, dass eine Äquivalenz gegeben ist (vgl. Prunce, 2007: 110f)? Oder ist anzunehmen, dass sie ihre Lebensgeschichte in der Migrationssprache eher schlichter formuliert und möglicherweise ihre Emotionen und Reflexionen nicht adäquat ausdrücken kann? Nach meinem Eindruck hatten die Migrantinnen während der Interviews keine Probleme sich in der deutschen Sprache auszudrücken, »kommunikative Grenzen« (vgl. Karayakali, 2010: 100) konnte ich bei ihnen nur ganz selten beobachten, sie wurden durch eine Nachfrage und/oder eine Wiederholung ausgeräumt. Ist aber von einer Machtasymmetrie zugunsten der Forscherin auszugehen, in Anlehnung an Foucault (1978: 211), wenn die Migrantin ihr Leben in der Sprache der Forscherin erzählt, nicht zuletzt wegen einer möglichen Asymmetrie der Ausdrucksmöglichkeiten bei der interaktiven Datenproduktion (Palenga-Möllenbeck, 2009: 166)? Nach meiner Wahrnehmung war eine solche hypothetische Machtasymmetrie real nicht vorhanden. Andererseits ergaben sich während der Interviews durchaus Situationen, die eher als eine umgekehrte Machtbeziehung interpretiert werden können, wenn mir die Migrantin als Expertin faktische und kulturelle Hintergründe einzelner Lebensepisoden ausführlich erklärt hat, damit ich die Zusammenhänge verstehe.

3.5 E rz ählbarkeit und N ichterz ählbarkeit von L ebensereignissen Während der biographischen Erzählungen habe ich zuweilen die Erfahrung gemacht, dass einige Migrantinnen im Erzählprozess offenkundig kleine Veränderungen im Ablauf einzelner Lebensereignisse vornahmen, mutmaßlich mit dem Ziel, die soziale Wirkung einer lebensgeschichtlichen Sequenz bei mir als Interviewerin zu verbessern. In der Forschung mit lebensgeschichtlichen Narrationen und mit qualitativen Interviews sind solche Veränderungen bekannt: die Erzählerin oder der Erzähler kann einzelne Passagen der Biographie in einigen Details oder im Ablauf verändern, sie kulturell verträglicher darstellen oder sie auslassen und so die Erzählbarkeit oder die Nichterzähl-

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barkeit eines lebensgeschichtlichen Ereignisses dem Kontext der interaktiven Erzählsituation anpassen (Fuchs-Heinitz, 2009: 66f). Gerade unter den sich nachhaltig wandelnden Lebensbedingungen in einem Migrationsprozess sind Veränderungen und kulturelle Anpassungen in der biografischen Erzählung zu erwarten. Bestimmte Passagen der Lebensgeschichte werden bei einer Behörde im Migrationsland anders erzählt als im Gespräch mit der Schulfreundin im Herkunftsland und wieder anders in einem Interview für eine Forschung über Migrantinnen aus Mittelosteuropa in Berlin. Soweit ich vorgenommene Veränderungen beim Interview bemerkt habe, bezogen sie sich auf das aktuelle Selbstbild der Migrantin und/oder waren eine kulturelle Anpassung an vergleichbare Situationen im Migrationsland. Sensible Themenbereiche für eine »verbesserte« Darstellung waren vor allem (1) die erste Begegnung mit dem jetzigen Ehemann, (2) ein gelegentlicher Hinzuverdienst als Sexarbeiterin, (3) die Geburt eines Kindes in Berlin zur Aufenthaltssicherung und (4) belastende Gefühle über im Herkunftsland zurückgelassenen Kinder. Veränderungen in der Selbstdarstellung waren vor allem im Kontext der aktuellen Identität als glücklich verheiratete Ehefrau und engagierte Mutter bei Heiratsmigrantinnen wahrzunehmen. Die oft schwierige rechtliche und tatsächliche Ausgangssituation ihrer Migration und der manchmal jahrelang andauernde Prozess bis zur Erreichung der gegenwärtigen zufriedenstellenden Lebenssituation haben einige Migrantinnen offenkundig verkürzt und geglättet dargestellt, angepasst an ihre aktuelle Identität. Ein Beispiel, das in kleinen Variationen mehrmals vorkam, bezog sich auf das Kennenlernen und die erste Begegnung der Migrantin mit dem heutigen – meist deutschen – Ehemann. Die Differenz der Darstellung, ob die Migrantin einen Ehemann gesucht hat oder ob sie ihm zufällig begegnete, wird verständlich vor dem migrationsrechtlichen Hintergrund. Für Frauen aus Ländern Mittelosteuropas, die nicht in der EU sind bzw. zur Zeit der Migration noch nicht in der EU waren, ist eine Heirat oft die essenzielle Voraussetzung für ihre Migration nach oder ihren Verbleib in Berlin, entweder um ein Einreisevisum zu erhalten oder ihren Aufenthalt in Deutschland zu sichern, wenn die Gültigkeit des bisherigen Touristen- oder Studentenvisum ausgelaufen war. Die Begegnung mit dem zukünftigen Ehemann fand in Erzählungen der Migrantinnen häufig »im Freundeskreis« im Herkunftsland statt oder bei ihrem Besuch von Verwandten in Deutschland oder auch »zufällig am Busbahnhof« im Heimatort in Mittelosteuropa. Im Verlauf des Interviews ergab sich dann der Eindruck, dass diese Begegnung wohl tatsächlich eher über eine Partnervermittlung zustande gekommen war bzw. in jüngster Zeit vermehrt über das Internet. Nur zwei Heiratsmigrantinnen sprachen offen über ihre Suche nach einem Partner im Ausland, eine Frau mit Hilfe einer Zeitungsanzeige, die andere über das Internet. So erzählte eine Migrantin aus dem Baltikum, sie habe ihren

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Berliner Ehemann über eine Zeitungsannonce kennengelernt und nach dem Austausch erster Briefe und Fotos sei er für ein Wochenende ins Baltikum gekommen. Er hatte drei Adressen interessierter Frauen aus anderen Annoncen im Gepäck und war nacheinander mit ihnen verabredet. Nach dem Wochenende war die hübsche blonde Erzählerin als Favoritin aus diesem Wettbewerb hervorgegangen. Die beiden haben geheiratet und sind inzwischen Eltern von zwei Töchtern. Jahre später hat auch die Mutter der Migrantin während eines Besuches bei der Tochter in Berlin dem Zufall in gleicher Weise erfolgreich nachgeholfen und fand einen deutschen Lebenspartner, mit dem sie – ohne Trauschein – zusammenlebt, im Sommer im Baltikum und im Winter in Berlin. Eine Partnersuche über das Internet wird häufig von russischsprachigen Spät-/Aussiedlern und Migranten aus der ehemaligen Sowjetunion genutzt, um eine russischsprachige Ehefrau zu finden. Hierbei spielt das russischsprachige Kontaktnetz Odnoklassniki (übersetzt »Mitschüler«) seit einigen Jahren eine zentrale Rolle, auf dem sich ehemalige und gegenwärtige Mitschüler, Mitstudenten und Arbeitskollegen zur Kommunikation zusammen finden4. Eine junge russische Migrantin hat anschaulich von ihrer Kontaktknüpfung auf Odnoklassniki erzählt. Nach ihrer Beschreibung ist das Netzwerk für die junge Generation in Russland und in russischsprachigen Ländern eine einzigartige Möglichkeit neue Menschen mit ähnlichen Interessen kennenzulernen und sich ein soziales Netz zu schaffen. Denn bei dem harten Leben in Russland bleibe jungen Erwachsenen nach ihrer Arbeit, die in aller Regel länger als acht Stunden dauert und den meist langen Anfahrtswegen von der Wohnung zum Arbeitsplatz und zurück, am Abend keine Zeit, noch einmal von zu Hause aufzubrechen, um soziale Trefforte aufzusuchen. Der ideale Ausweg sei da ein abendlicher Besuch auf der Internetplattform Odnoklassniki. In der Erzählung dieser Migrantin haben beide Eheleute offenkundig ihren Traumpartner bei Odnoklassniki gefunden: sie ist eine hübsche zierliche Frau, akademisch gebildet und hatte eine interessante Arbeit in einer russischen Großstadt, der Ehemann ist ein junger Spät-/Aussiedler, der seit 1997 in Deutschland lebt, hier ein Ingenieurstudium absolviert hat und jetzt in einem gut bezahlten Job arbeitet. Für beide Partner ist es die zweite Ehe, in die die junge Frau ihren kleinen Sohn aus erster Ehe mitgebracht hat, der begeistert von seinem neuen Papa ist und im Kindergarten seine Lebenssituation pragmatisch beschrieben hat: »… früher hatte ich einen anderen Papa«. Einige Zeit

4 | Odnoklassniki wurde 2006 gegründet; nach eigenen Angaben hat es inzwischen 45 Millionen registrierte Nutzer (Stand März 2010). Seit 2009 ist die Mitgliedschaft kostenpflichtig, nachdem sich das Kontaktnetz anfangs über Werbung finanziert hat (www.Odnoklassniki.ru).

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nach unserem Interview hörte ich von einer anderen Migrantin, dass die Eheleute gerade ein gemeinsames Wunschkind, eine Tochter bekommen haben. In den Bereichen von Partnerschaft und Sexualität waren in einigen Lebensgeschichten ebenfalls kleine Veränderungen und Anpassungen erkennbar. Bei einer Heiratsmigrantin, deren zweite Ehe gerade vor der Scheidung stand, erfuhr ich durch Zufall im Gespräch mit ihrer zu Besuch weilenden Mutter, dass es nicht die zweite, sondern die dritte gescheiterte Ehe der Tochter ist. Im Interview hatte die Migrantin ihre erste Ehe, die noch im Herkunftsland geschlossen worden war, nicht erwähnt und so die Zahl ihrer geschiedenen Ehen etwas reduziert. Bei einer anderen Migrantin ließ sich vermuten, dass sie zumindest zeitweise das vorübergehende Familienbudget aus Hartz IV für sich und ihre zwei Kinder mit sexuellen Dienstleistungen aufgebessert hat, was sich u.a. in ihrem Lebensstil und ihrem Mittelklassewagen vor der Haustür manifestierte, in ihrer Lebenserzählung aber ausgespart blieb. Dagegen sprach eine andere Frau offen von ihrer Arbeit in einem Berliner Bordell, zu der sie von ihrem Ehemann, einem Spät-/Aussiedler aus Zentralasien »angehalten« worden war, um Geld zu verdienen. Nach ihrem Bekunden hat sie diese Tätigkeit nur drei Monate durchgehalten; inzwischen ist sie geschieden. Ein anderes Thema war die Geburt eines Kindes in Berlin, die wohl im Zusammenhang mit der Aufenthaltssicherung der Migrantin stand, denn zur Ausübung der Personensorge für ein minderjähriges deutsches Kind erhält eine ausländische Mutter eine Aufenthaltserlaubnis (§ 28 Abs.1 Satz 3 AufenthG). Das Thema wurde nie angesprochen, es war offenkundig tabuisiert. Es hat einige Zeit und Interviews lang gedauert, bis ich diesen Zusammenhang verstanden habe und feststellte, dass es einige Kinder betraf, vor allem von Müttern aus den vier mittelosteuropäischen Nicht-EU-Ländern, die keine Freizügigkeit haben. Der Kontext der Mutterschaft war in der Regel aus dem Migrationsverlauf zu erschließen, in der biographischen Erzählung wurde er verschwiegen und auf direkte Nachfragen habe ich verzichtet. Nach meinem Eindruck sind solche Anpassungen einzelner Sequenzen in der Erzählung der retrospektiven Lebensgeschichte wohl ad hoc von den Migrantinnen während unserer kommunikativen Datenproduktion konstruiert worden, um diese Sequenz ihres Lebens kulturell verträglicher und einem besseren sozialen Kontext darzustellen. Derartige Änderungen sind normale Bestandteile der Selbstdarstellung, wie sie in jedem lebensgeschichtlichen Gespräch und jeder Autobiographie vorgenommen werden. Als Datenmaterial für die vorliegende Migrationsstudie haben die beschriebenen Anpassungen keine Relevanz für die zentralen Themen der Untersuchung. Etwas problematischer sind Veränderungen der Lebenserzählung, wenn sie ein Untersuchungsthema tangieren, wie bspw. die längerfristige Versorgung eines zurückgelassenen Kindes durch Verwandte im Herkunftsland, während die Migrantin in Berlin

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studierte, Arbeit suchte oder zunächst ihre Partnerschaft festigen wollte (vgl. Kapitel 8.2). So waren beim Thema der im Herkunftsland zurückgelassenen Kinder in den Lebensgeschichten betroffener Migrantinnen gelegentlich Lücken und Unklarheiten erkennbar. Da das Thema Forschungsfragen dieser Studie berührt, habe ich mit vorsichtigen Nachfragen versucht, aus der lebensgeschichtlichen Erinnerung der Mutter mehr Details »hervorzulocken« – wie Schütze es formulierte (1976) – und weitere Erzählungen zu generieren, die sie eigentlich nicht erzählen wollte. Aus den Reaktionen der Frauen – bspw. kaum verständliche Formulierungen, unklare chronologische Abläufe und Erinnerungslücken – wurde deutlich, dass es für sie emotional belastend war, wenn sie ihr Kind über längere Zeit bei der Großmutter zurückgelassen hatten und diese Gefühle wurden während ihrer Erzählung wieder lebendig. Auch passte der tatsächliche Verlauf dieser Sequenz ihres Lebens offenkundig nicht zu ihrem aktuellen Selbstbild als Mutter. Besonders schmerzhaft war das lebensgeschichtliche Ereignis des zurückgelassenen Kindes und seine Erzählung in den Fällen, in denen es der Migrantin letztendlich nicht gelungen war, ihr Kind nach Deutschland nachzuholen, weil sie die ausländerrechtlichen Auflagen nicht erfüllen konnte, die aus den Ländern, die nicht zur EU gehören, notwendig sind. Beispiele sind der Sohn einer Bildungsmigrantin, dessen Familiennachzug aus Russland nicht genehmigt wurde, weil er inzwischen 16 Jahre alt war sowie zwei Kinder einer moldawischen Heiratsmigrantin aus erster Ehe, für deren Versorgung das derzeitige Familieneinkommen der Migrantin und ihres Partners in Berlin nach den gesetzlichen Vorgaben nicht ausreichte. Für diese Migrantinnen war der missglückte Kindesnachzug auch deshalb mit Schuldgefühlen verbunden, weil beide in Berlin zwei weitere Kinder mit ihrem jetzigen Partner hatten, für die sie tatsächlich – und in Übereinstimmung mit ihrem Selbstbild – eine gute Mutter sind. Gleichzeitig wird bei diesen lebensgeschichtlichen Sequenzen das rechtlich sehr begrenzte Handlungsvermögen von Migrantinnen im Rahmen des deutschen Ausländerrechtes deutlich und der prägende Einfluss der Außenstrukturen, in denen eine migrantische Lebensgeschichte verläuft.

3.6 R esümee : A utobiogr aphische E rz ählungen als F orschungsdaten Die Begegnungen mit den Migrantinnen und die Teilhabe an ihren Lebensgeschichten haben einen einzigartigen Zugang zu ihrer Lebenswirklichkeit und ihren Erfahrungen im Migrationsprozess eröffnet. Die Fülle und die Vielfalt der lebensgeschichtlichen Informationen waren nur mit biographisch-narrativen Interviews zu generieren, die zugleich methodisch die Möglichkeit bieten,

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die reflexive Sicht der Protagonistinnen auf ihr Leben und ihr Handlungsvermögen im Prozess der Migration zu erfahren. Ihre Lebensgeschichten zeigen, dass die Migration eine Erweiterung des Lebensweges mit sich bringt, neue Lebenswelten und Perspektiven eröffnet. Aber das Leben in einem anderem Land, in einem neuen sozialen Kontext und in einer anderen Kultur ist für jede Migrantin auch mit hohen Anforderungen verbunden, dem Erlernen der neuen Sprache, der Erarbeitung (neuer) beruflicher Qualifikationen, der Gestaltung ihres Lebens mit Partner und Kindern im Migrationsland und der Pflege ihrer familiären und sozialen Beziehungen im Herkunftsland. Die Migration erfordert für die Migrantinnen eine Umorientierung und Neuorganisation in vielen Lebensbereichen und die Entwicklung neuer Handlungsoptionen und Bewältigungsstrategien. Jede Biographie ist eine ganz eigene Konfiguration aus Erlebnissen, Erfahrungen, Reflexionen und konkreten Kontextbedingungen. Die biographischen Interviews mit den Migrantinnen haben auch gezeigt, dass es in jeder Lebensgeschichte gendertypische Ähnlichkeiten zu anderen Lebensgeschichten gibt, sozial und kulturell ähnliche Erfahrungen, vergleichbare Erfolge und Schwierigkeiten bei der Lebensgestaltung vor und nach der Migration in zwei sprachlichen, familiären und gesellschaftlichen Kontexten. Biographische Interviews mit Migrantinnen vermitteln Einblicke in die gesellschaftlichen Lebensbedingungen in zwei Ländern und zeigen die Wechselwirkungen subjektiver Erfahrungen mit objektiv gegebenen Strukturen. Die doppelten Außenwelten mit ihren unterschiedlichen sozialen und kulturellen Gegebenheiten prägen kollektive Erfahrungen der Migrantinnen, beeinflussen ihre soziale Wirklichkeit und ihre Handlungsoptionen. Sowohl Gemeinsamkeiten als auch Unterschiede der Lebensgeschichten dienen in dieser Studie der Generierung von Informationen für das Verständnis der sozialen Wirklichkeit in der aktuellen innereuropäischen Ost-West-Migration von Frauen und ihrer Lebensrealität in Berlin. Als Resümee des doing biography lässt sich zur Bedeutung lebensgeschichtlicher Erzählungen als Daten für eine Migrationsforschung festhalten, dass sie einerseits einzigartige Einblicke in die emische Sicht der Migrantinnen und in die komplexe transnationale soziale Wirklichkeit ihres Lebens unter den Bedingungen der Migration geben, die sozialwissenschaftliche Erkenntnisse und eine Wissensproduktion erst ermöglichen. Andererseits sind (auto) biographische Erzählungen – und die Erinnerungen auf denen sie basieren – nicht immer Abbild der faktischen Ereignisse und keine unveränderte Wiedergabe des tatsächlich Erlebten. Die Erzählungen sind bewusst oder unbewusst veränderte und in der interaktiven Interviewsituation von der Erzählerin bisweilen sozial- und kulturverträglich angepasste Erinnerungen, die ihrem aktuellen Selbstbild entsprechen. Diese (un-)bewussten Veränderungen in biographi-

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schen Sequenzen spiegeln auch Entwicklungsprozesse im Lebensverlauf der Migrantin wider. Den Erfahrungen und Erkenntnissen aus dem doing biography mit den mittelosteuropäischen Migrantinnen stelle ich im nächsten Kapitel einen Überblick über die – überwiegend deutschsprachige – Biographieforschung gegenüber. Er zeigt die enorme Breite des Feldes biographischer Forschungen und die kontroversen Diskussionen über Verständnis und Interpretation von Erinnerungen und Lebensgeschichten in den Sozialwissenschaften, am Beipiel der drei gegenwärtig dominierenden Diskurse – der soziologischen Biographieforschung, der Oral History und der neurowissenschaftlichen Gedächtnis- und Erinnerungsforschung.

4. Erlebnis, Erinnerung, Erzählung – Verständnis und Interpretation von Lebensgeschichten: ein Forschungsüberblick

Als biographische Forschungen1 werden alle Forschungsansätze verstanden, die auto biographische Lebensgeschichten als Datengrundlage verwenden, Darstellungen der Lebensführung und der Lebenserfahrung aus dem Blickwinkel desjenigen, der sein Leben erzählt. Biographische Forschungen sind nicht einer Wissenschaft zurechenbar und nicht durch eine Methode eindeutig abgrenzbar, es sind Arbeitsbereiche in verschiedenen Wissenschaften, die sich durch eine große Vielfalt und ein breites Forschungsspektrum mit unterschiedlichen Methoden und theoretischen Rahmenkonzepten auszeichnen (Fuchs-Heinitz, 2009: 9; Griese, 2010). Arbeiten auf der Grundlage biographischer Interviews und Erzählungen haben sich in der deutschsprachigen Forschung in den letzten Jahrzehnten in allen sozial- und kulturwissenschaftlichen Fachgebieten zu expansiven Arbeitsbereichen entwickelt (Griese, 2010)2 . Hierzu gehören auch biographische Migrationsforschungen, deren Anzahl jedoch nicht so groß ist, wie es für ein de facto Einwanderungsland zu erwarten wäre (Kapitel 5). Biographieforschung als Zugang zu Lebenswelten und Handlungsorientierungen von Individuen in ihrer Verknüpfung mit sozio-strukturellen Lebensbedingungen erlangte in der Chicago School in den 1920er Jahren in den USA eine größere Bedeutung, interessanterweise mit einer Migrationsstudie 1 | Der Begriff »Biographie« setzt sich aus »bios« (griechisch: das Leben) und »graphein« (griechisch: (be)schreiben) zusammen und bedeutet im Wortsinne »Lebensbeschreibung« bzw. synonym »Lebensgeschichte«, »Lebenserzählung« (vgl. Dausien, 2010: 362f). 2 | Einen Überblick über die Themenvielfalt biographischer Forschungen gibt FuchsHeinritz (2009: 123-125).

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über polnische Migranten in Chicago (Thomas/Znanieki, 1927/1958). Biographische Forschungen wurden danach in den USA durch quantifizierende Forschungszugänge verdrängt und erlebten erst in den 1960er Jahren eine Renaissance. In den 1970er Jahren wiederholte sich in Westeuropa die Wiederentdeckung biographischer Forschungen, jedoch in einzelnen Ländern inhaltlich und methodisch auf unterschiedliche Weise (Bertaux/Kohli, 1984), wie Chanfrault-Duchet (1995: 209) es beschreibt: »Although the rediscovery of the biographical approach took place at the same time – the early 1970s – in several countries of Europe (England, France, Germany, the Netherlands, Italy, Spain), it did not spread on the same ground. In each nation, it matched the fields of interest and the sociological – or more broadly, the intellectual – traditions of its practitioners.«

Diese »nationalen« Forschungswege der Biographieforschung standen untereinander kaum in einem Austausch. So gilt die deutsche soziologische Biographieforschung als »German school« (Apitzsch/Inowlocki, 2000), die sich eine ganz eigene Methodik geschaffen hat (Kapitel 4.1), während sich in den Sozialwissenschaften in anderen Ländern ein breit gefächerter Arbeitsbereich mit Biographieforschungen entwickelt hat (Chamberlayne et al., 2000; 2002; Harrison, 2009; Pape, 2009). Auch im Alltag der Menschen ist die Konstruktion und Nutzung autobiographischer Formate wichtig geworden bspw. in den Medien, der Literatur, im Beruf und der Arbeitswelt. Sie dienen der »individuellen Standortsicherung im globalen Alltag« (Bukow et al., 2006), angesichts der immer schwieriger werdenden Herausforderungen in der Lebenswelt. Sie sind hilfreich für die persönliche Verarbeitung sozialer und politischer Veränderungen, bspw. im Geschlechter- und Generationenverhältnis und traumatischer Erlebnisse, bspw. während des Krieges und auf der Flucht, über die Zeitzeugen in Erzählcafés, in Schulen und in Medien berichten (Schenk, 2009; Heinze/Hornung, 2013). »Das Private wird politisch« kommentiert Heinze (2011) das autobiographische Schreiben in Zeitgeschichte und Erinnerungskulturen. Welche methodischen Verfahren werden der Komplexität und Vielschichtigkeit jeder einzelnen Lebensgeschichte und ihrer (vergleichenden) Analyse am besten gerecht? Die Handbücher zur sozialwissenschaftlichen und zur biographischen Forschung enthalten eine Fülle von Informationen, erwähnen aber Migrationsstudien mit (fast) keinem Wort (vgl. Jüttemann/Thomae, 1998; Fuchs-Heinritz, 2009; Flick et al., 2010). Das verdeutlicht, im Einwanderungsland Deutschland hat sich keine eigenständige empirische Migrationsforschung etabliert und für biographische Migrationsforschungen ist keine fachspezifische Methode entwickelt worden. Qualitative Migrationsstudien werden ganz allgemein unter den Sozialwissenschaften subsumiert und in

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unterschiedlichen Fachbereichen erarbeitet. Zur Auswertung und Interpretation biographischer Interviews finden sich einige Beschreibungen, aber auch die Feststellung: »Eindeutige Regeln für die Auswertung und Interpretation biographischer Interviewtexte gibt es nicht« (Fuchs-Heinritz, 2009: 298)3. Verständnis und Interpretation lebensgeschichtlicher Erinnerungen und Erzählungen sind in der deutschsprachigen Forschung unterschiedlich. Drei Fachdiszipline dominieren mit ihren Sichtweisen und Traditionen den Diskurs: die soziologische Biographieforschung, die Oral History und die neurowissenschaftliche Gedächtnis- und Erinnerungsforschung. Alle drei bieten Ansätze zum Verständnis erzählter Lebensgeschichten, auf deren Methoden und Inhalte ich kurz eingehe, verbunden mit der Frage, inwieweit aus ihrer jeweiligen fachspezifischen Perspektive die biographischen Erzählungen der mittelosteuropäischen Migrantinnen als objektive Daten zeitgeschichtlicher Ereignisse taugen.

4.1 D ie S icht der B iogr aphieforschung – re trospektive R ekonstruktion Für die Biographieforschung, wie sie in der deutschen Soziologie ab den 1970er Jahren des letzten Jhs. entwickelt wurde, ist der Forschungsgegenstand die individuelle Lebensgeschichte eines Menschen in den wechselseitigen Beziehungen zwischen seiner inneren psychischen Entwicklung und seinem äußeren Lebensablauf, im Kontext der historischen und gesellschaftlichen Bedingungen und Ereignisse (Alheit/Dausien, 1990). In der lebensgeschichtlichen Erzählung thematisiert sich der Erzähler selbst und setzt sich mit dem eigenen Leben auseinander, objektiviert die Lebensereignisse, bringt sie in einen sinnvollen Zusammenhang und rekonstruiert sein Handeln und seine Erfahrungen im Rahmen der gesellschaftlichen Wirklichkeit, in der er lebt. Das Produkt dieser Erzählung ist die erinnerte, (re-)konstruierte und reflektierte Darstellung der Ereignisse des gelebten Lebens. Sie ist eine Selbstpräsentation des Erzählers, die ihm zur gegenwärtigen und zukünftigen Orientierung dient (Rosenthal, 1995). Die subjektzentrierte Biographieforschung hat sich als »deutsche Schule« (Apitzsch/Inowlocki, 2000) von der internationalen Sozialforschung abgekoppelt, »leading its own life« (Chanfrault-Duchet, 1995: 219). 3 | Vergleichbare empirische Studien haben ganz unterschiedliche Auswertungsmethoden für biographischer Interviews benutzt: Jureit (1999) nahm grundsätzliche Überlegungen zur Bedeutung und geeigneten Analysemethodik ihrer fünfzig Interviews mit Holocaust-Überlebenden vor, Metz-Göckel/Senganata Münst/Kalwa verwendeten das Software-Programm Atlas.TI zur Kodierung ihrer einundvierzig Interviews mit polnischen Pendelmigrantinnen (2010: 209, Anm. 29).

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Gleichzeitig hat sie biographische Forschungen anderer deutschsprachiger Fachdiszipline beeinflusst und die biographische Migrationsforschung auf dem zweiten Forschungspfad geprägt (Kapitel 5). Die soziologische Biographieforschung definierte ihre Inhalte im zeitgenössischen Originalton: »Wir verstehen Biographie als sozialweltliches Orientierungsmuster. Nicht das Individuum ist Thema der soziologischen Biographieforschung, sondern das soziale Konstrukt ›Biographie‹ (Fischer-Rosenthal/ Kohli, 1987: 26). Bei der Erforschung der »Selbstrepräsentation und Selbstbeschreibung von Gesellschaftsmitgliedern« geht es auch »um die Genese und Aufrechterhaltung einer historisch konkreten sozialen Ordnung, für die biographische (Selbst-)Beschreibungen konstitutiv sind« (Fischer-Rosenthal/ Rosenthal, 1997: 405). Die Methodik der soziologischen Biographieforschung wurde mit ausgefeilten theoretischen Überlegungen zum sozialen Konstrukt »Biographie« weiterentwickelt. Im Mittelpunkt stehen das autobiographische »narrative Interview« bzw. die »autobiographische Stegreiferzählung« und die »kognitiven Figuren des autobiographischen Erzählens«, mit denen der Biograph seine lebensgeschichtliche Erfahrungsaufschichtung ordnet und darstellt (Schütze, 1983; 1984). Diese Biographieforschung nimmt immer die ganze Lebensgeschichte des Erzählers in den Blick, sowohl in ihrer Genese als auch in ihrer Konstruktion der Vergangenheit aus der gegenwärtigen Sicht des Erzählers. Erleben, Erinnern und Erzählen stehen in einer dialektischen Beziehung: in der erweiterten Narrationsanalyse4 (Schütze, 1983; Fischer-Rosenthal/Rosenthal,1997) wird aus dem Zusammenhang der Lebensgeschichte rekonstruiert welche Ereignisse und Erfahrungen für den Erzähler biographisch relevant sind, wie er diese Erlebnisse damals und heute deutet und wie er versucht, Ereignisse und Erfahrungen in einen Sinnzusammenhang einzubetten und in das Konstrukt seiner Biographie zu integrieren (Rosenthal, 1995: 27-98). Die unterschiedlichen Ebenen des Erlebens, des Erinnerns und des Erzählens entsprechen den drei Realitätsversionen des Erzählers und sind drei unterschiedliche Bezugsebenen der sozialwissenschaftlichen Erkenntnis: (1) die objektive Verlaufsebene der biographischen Ereignisse und Phänomene, (2) die subjektive Erlebnisebene und die erinnerte Erfahrungsaufschichtung und 4 | Die sechs aufeinander folgenden Auswertungsschritte sind: (1) Analyse der biographischen Daten (Ereignisdaten), (2) Analyse der Textsegmente – Selbstpräsentation (erzähltes Leben), (3) Rekonstruktion der Fallgeschichte (erlebtes Leben), (4) Feinanalyse einzelner Textstellen, (5) Kontrastierung der erzählten mit der erlebten Lebensgeschichte und (6) Typenbildung (Fischer-Rosenthal/Rosenthal, 1997).

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(3) deren Aktualisierungsebene zur Zeit der Erzählung, die die Gegenwartsperspektive des Erzählers darstellt5 (Rosenthal, 1995). Die anschließende biographische Fallrekonstruktion erschließt die Zusammenhänge erlebter und erzählter Lebensgeschichte nach ihrer Sequenzialität und Kontrastierung, angelehnt an die objektive Hermeneutik (Rosenthal, 1995: 208-226). Die subjektzentrierte biographische Forschung ist darauf gerichtet, die Innensicht des Biographen zu erforschen und aus seiner lebensgeschichtlichen Erzählung zu erfahren, wie er die soziale Wirklichkeit erlebt und wie er an deren Herstellung beteiligt ist. Die Doppelperspektive, die in jeder Biographie auch die Einblicke in die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen der Lebensgeschichte vermittelt, wurde bei der Fallrekonstruktion der subjektzentrierten Biographieforschung jedoch vernachlässigt 6. Lebensgeschichtliche Erzählungen werden als biographische Selbstpräsentationen definiert, die in einer kommunikativen Situation vom Erzähler rekonstruiert werden. Sie werden nicht als empirische Ereignissequenzen verstanden, sondern als konstruierte Produkte des Erzählers, in der er die soziale Wirklichkeit nicht bloß reaktiv verarbeitet, sondern eigenständig in einer biographischen Sinnkonstruktion die Herstellung von Wirklichkeit betreibt. In der Erzählung enthaltene Motive, Erklärungen und Begründungen sind auf eine Weise integriert, die eine Folgerichtigkeit, einen Sinn für den Lebensverlauf ergeben. Lebensgeschichten sind »nicht das Sammelsurium dessen, was ein einzelner objektiv durchlebt hat, sondern sie sind strukturierte Selbstbilder« (Fischer, 1978: 319). Gegen die soziologische Biographieforschung sind fundamentale Kritiken vorgebracht worden. Bourdieu bezeichnete die Lebensgeschichte als eine »biographische Illusion« und stellte ihre Sicht auf das Leben »als artifizielle Kreation von Sinn« infrage. Der Erzähler werde zum »Ideologen seines eigenen Lebens«, unterstützt durch die »natürliche Komplizenschaft« des Forschers und dessen Bemühen zur »Konstruktion des perfekten sozialen Artefakts« beizutragen (Bourdieu, 1986/1990: 76; 80). Nassehi hält es prinzipiell für unmöglich, mit dem narrativen Interview zu dem vorzudringen »wie es wirklich war« (1994: 49; 59). Gegenstand der biographischen Forschung sind – Nassehi zufolge – nicht Lebensverläufe, sondern eine biographische Kommunikation, während das tatsächliche Geschehen die »dunkle Seite der Biographie« bleibt, 5 | Kritisch hierzu: Jureit, 1999: 63-64 und 330-331. 6 | Die subjektzentrierte Biographieforschung öfnnet sich bzgl. der Doppelperspektive der Lebensgeschichten: interessanterweise an einem Beispiel der Migrationsforschung plädiert Rosenthal (2005) bei der Interpretation für die konsequente Einbettung der Lebensgeschichte in ihren sozialen und historischen Kontext, nach gründlicher Quellenkritik, eigenen Recherchen und dem Studium der Fachliteratur.

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die der Kommunikation nicht zugänglich ist (Nassehi, 1994: 54). Griese beklagt »Unübersichtlichkeiten« in der Biographieforschung (2010) und Heinze fordert eine kritische Überprüfung der Ziele und Paradigmen der soziologischen Biographieforschung und gegebenenfalls die Reformulierung und Neuinterpretation einzelner methodischer Ansätze, um aus »der blickverengenden methodologischen Falle« der bisherigen Forschung heraus zu kommen (2010: 227). Die soziologische Biographieforschung hat, ungeachtet der Kritik herausgearbeitet, dass autobiographische Erzählungen und lebensgeschichtliche Interviews eine subjektive Wirklichkeit wiedergeben und nicht die objektive Realität. Sie sind die – zum Zeitpunkt der Erzählung – vom Erzähler erinnerte, (re) konstruierte und reflektierte Darstellung der Ereignisse und Erfahrungen seines Lebens, die eine doppelte Zeitperspektive enthalten, die Vergangenheit aus gegenwärtiger Sicht (Fuchs-Heinritz, 2009: 162f; Lucius-Hoene/Deppermann; 2004: 24). Und sie sind »biographische Selbstdarstellungen im Dienste der aktuellen Identitätsherstellung und Selbstvergewisserung« (Lucius-Hoene/Deppermann; 2004: 10). Die erzählte Lebensgeschichte wird deshalb in jeder kommunikativen Situation unterschiedlich ausfallen. Es gibt keine immerwährende Wahrheit, es gibt (mehrere) subjektive Positionen im Konstrukt jeder Biographie.

4.2 A nsätze der O ral H istory – subjektive E rfahrungsgeschichte Wenn Lebensgeschichten keine objektive Wahrheit über historische Ereignisse und Prozesse vermitteln, sondern nur subjektive Erinnerungen, ist das eine schwierige Quellenlage für die Oral History und ihre Zeitzeugenforschung, eine Erkenntnis, die von der Personal Narrative Group (1989: 261, 197) plakativ formuliert wurde: »When talking about their lives, people lie sometimes, forget a little, exaggerate become confused, get things wrong. Yet they are revealing truths. These truths don’t reveal the past ›as it actually was‹, aspiring to a standard of objectivity. They give us instead the truths of our experiences«. […]»The guiding principle could be that all autobiographical memory is true; it is up to the interpreter to discover in which sense, where, for which purpose.«

Gleichwohl dienen biographische Interviews in der Oral History als Grundlage für die Beschreibung und Analyse zeitgeschichtlicher Zusammenhänge und die Frage ist, wie sie methodisch mit ihren Quellen umgeht. Zunächst zu den inhaltlichen Entwicklungen in der Oral History, die in den USA begründet

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wurde (Thompson, 2000). In Deutschland begannen Forschungen der Oral History in den 1970/1980er Jahren, mit dem Ziel, eine »Geschichte von unten« zu schaffen, bspw. »das Leben unserer Mütter« aufzuzeichnen, um die bis dahin unsichtbare Frauengeschichte zu dokumentieren (Weibliche Biographien, 1982; Kuhn, 1985; Zinken, 2007). Das Interesse richtete sich zunächst auf die Rekonstruktion faktischer Abläufe und Prozesse, die in schriftlichen Quellen nicht enthalten waren, auf alltagsgeschichtliche Zusammenhänge und die Lebenswelt der »kleinen Leute«, auf lokale und regionale Geschichten, wie sie von der Berliner Geschichtswerkstatt betrieben wird (1994) und auf die Geschichte der Arbeiter, bspw. im Ruhrgebiet. Erwartungen, dass Zeitzeugen über Fakten berichten, die einen direkten Zugang zu der vergangenen Wirklichkeit vermitteln, erwiesen sich jedoch als trügerisch (Breckner, 1994: 199-201). Nach den positivistischen Anfängen hat die Oral History eine reflexive und interpretative Arbeitsweise entwickelt. Sie konzentriert sich auf Geschichten von Zeitzeugen mit Hilfe narrativer Interviews, die meist ihren Fokus auf Teile der Lebensgeschichte haben und nicht auf die gesamte Biographie ausgerichtet sind. Ihrem Erkenntnisziel entsprechend wird den Erinnerungen und Lebensgeschichten von Zeitzeugen eine tendenziell größere Objektivität eingeräumt und in der Textanalyse geht die Oral History methodisch einen eigenen Weg: »Die Analyse biographischer Daten dient dazu, die außerhalb 7 des Textes liegende vergangene Wirklichkeit, auf die sich der Text bezieht, im Kontext zeithistorischer Ereignisse und Hintergründe als in der historischen Zeit gelebte Lebensgeschichte annäherungsweise zu rekonstruieren. Da die vergangene Wirklichkeit nicht mehr unverändert reproduziert oder »abgebildet« werden kann, sind wir auf hypothetische Annäherungen an die sequentiell strukturierten Handlungsverkettungen angewiesen.« (Breckner, 1994: 213)

Inzwischen versteht sich die Oral History als Erfahrungsgeschichte, die mit subjektiven Erinnerungen, persönlichen Verarbeitungen des Erlebtem, mit individuellem Verhalten und persönlicher Verantwortung in historischen Prozessen und deren Deutung arbeitet. Subjektive Erinnerungen sind auch Quellen für die oft pralle Geschichte im kleinen, für die es wenig andere Quellen gibt, wie Familienbeziehungen, Geschlechterrollen und Erziehungsstile, die auch zur Rekonstruktion und zum Verständnis (kultur-)historischer Prozesse beitragen. Mit der Erfahrungsgeschichte geht es der Oral History auch um einen Perspektivwechsel in der Historiographie, nämlich Subjektivität und Erfahrungen von Menschen forschungs- und überlieferungswürdig zu machen. Viele Themen der Oral History gehören zu den »deutschen Wunden« (von Plato, 2009: 67): der Nationalsozialismus, der Holocaust, Kriegs- und Nach7 | Hervorhebung von mir.

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kriegstraumata, Entwurzelung durch Flucht und Vertreibung, seit 1990 die Erforschung des Alltags in der DDR und Folgen der Wende für die Menschen in Ostdeutschland. Bei der Grundfrage nach der Verwendung lebensgeschichtlicher Erzählungen als Quellen für realgeschichtliche Prozesse geht man in der Oral History davon aus, dass sich Zeitzeugen – bewusst oder unbewusst – falsch erinnern können, dass der Forscher aber mit Hilfe aufmerksamer Rückfragen nach dem Interview und mit den Mitteln der Multimethodik bei der Auswertung falsche Erinnerungen herausarbeiten kann. Das methodische Bewusstsein und Instrumentarium haben sich mit wachsender Forschungserfahrung geschärft, die Erhebung lebensgeschichtlicher Daten hat sich mit halboffenen narrativen Interviews verbessert, die Quellenkritik ist intensiver geworden und bei der Interpretation werden vielfältige ergänzende Quellen eingesetzt. Gleichwohl wird den Erzählungen von Zeitzeugen eine »Unschärferelation« eingeräumt, verbunden mit der Frage, ob eine Reduzierung der Forschung auf schriftliche Quellen – etwa auf Akten – tatsächlich eine Verbesserung der Datenlage bedeuten würde (von Plato, 2000: 25f). Bei jeder Lebensgeschichte, bei jedem zeitgeschichtlichen Ereignis muss deshalb der »objektive« Gehalt evaluiert und geklärt werden. Mit den Worten der Personal Narrative Group: »Unlike the Truth of the scientific ideal, the truths of personal narratives are neither open to proof nor self-evident. We come to understand them only through interpretation, paying careful attention to the contexts that shape their creation and to the world views that inform them.« (1989: 261)

4.3 E rkenntnisse der neurowissenschaftlichen G edächtnisforschung – soziale (R e -)K onstruktion im autobiogr aphischen G edächtnis Die neurowissenschaftliche Gedächtnis- und Erinnerungsforschung hat unser Wissen über das Erinnern erweitert, nicht zuletzt aufgrund bildgebender Verfahren, mit denen die Aktivitäten des Gehirns sichtbar werden (Welzer, 2005; Markowitsch/Welzer, 2005; Gudehus et al. 2010). Gedächtnis und Erinnerungen sind interdisziplinäre Forschungsgegenstände, denn alle hirnorganisch angeregten Entwicklungsschritte des menschlichen Gedächtnisses finden unter kulturellen Formatierungen statt (Welzer, 2010). Auf bewahrungsort aller Erinnerungen des Menschen ist sein Gedächtnis bzw. das Gehirn. Und das menschliche Gehirn ist ein biokulturelles Organ, dessen neuronale Strukturen nutzungs- und erfahrungsabhängig ein multiples Gedächtnissystem herausbilden mit fünf funktionellen Subsystemen, zu denen das autobiographische Gedächtnis gehört, das ab dem dritten Lebensjahr entsteht (Fivush, 2010; Mar-

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kowitsch, 2000). Bis zur Adoleszenz entwickeln sich in ihm die Fähigkeiten zum autobiographischen Erinnern und zum Erzählen der Lebensgeschichte und beide sind die am längsten reifenden und zuletzt erreichten Kompetenzen des Gedächtnisses (Markowitsch/Welzer: 2005). Das autobiographische Gedächtnis ist das temporal organisierte Selbstkonzept des Menschen, ein auf das eigene Leben bezogenes Gedächtnis und Bewusstsein, dessen Entwicklung sich über sprachliche und nichtsprachliche Kommunikation, über soziale und kulturelle Erfahrungen nutzungsabhängig vollzieht. Das autobiographische Gedächtnis hat somit einen eminent sozialen und kulturellen Charakter (Piefke/Markowitsch, 2010; Welzer 2005: Welzer, 2010). Es macht den Menschen zum Menschen, es gibt ihm die Fähigkeit »Ich« zu sein – eine einzigartige Person mit einer eigenen Lebensgeschichte – und seine persönliche Existenz in einem Raum-Zeit-Kontinuum zu situieren, die eine Vergangenheit, eine bewusste Gegenwart und eine erwartbare Zukunft hat. Für diese Orientierungsleistung weist das autobiographische Gedächtnis drei weitere Merkmale auf: autobiographische Erinnerungen haben einen IchBezug, sie sind mit Gefühlen verknüpft und sie sind »autonoetisch«, das heißt, wir erinnern uns nicht nur, sondern wir sind uns auch bewusst, dass wir uns erinnern (Markowitsch/Welzer, 2005: 11). Das autobiographische Gedächtnis arbeitet wie eine synthetisierende Funktionseinheit, die sich in jeder kommunikativen Situation neu realisiert und die Kohärenz des Ichs aufrecht erhält, indem es verschiedene Varianten der Autobiographie situationsangemessen entwickelt und erzählt (Welzer, 2005: 217f). Im »kommunikativen Unbewussten« jenseits der Bewusstseinsschwelle des Erzählers verändert das autobiographische Gedächtnis die lebensgeschichtlichen Erinnerungen über die Zeit. Das Erinnern geht immer einher mit neuronalen Neu-Einschreib­ungen: bei der Vergegenwärtigung vergangener Ereignisse werden diese konsolidiert, aber auch modifiziert, so dass nach wiederholtem Erinnern die neuronale Gedächtnisspur nicht mehr identisch ist mit derjenigen, die vom ersten Lernprozess hinterlassen wurde (Piefke/Markowitsch, 2010). Neben das Engramm der neuronalen Einschreibung einer Gedächtnisspur, tritt das Exogramm, eine externe Gedächtnisspur, die Gedächtnisinhalte verschiedenster Art enthält, die vom Menschen zur Bewältigung gegenwärtiger Anforderungen und zur Entwicklung zukünftiger Handlungsoptionen verwendet werden. Sie können schriftlicher, mündlicher, symbolischer und musikalischer Art sein und aus Filmen, Büchern, Erzählungen und der Kommunikation stammen. Autobiographische Gedächtnisinhalte haben deshalb zugleich einen en- und einen exogrammatischen Charakter, denn Erinnerungen können auch aus externen Quellen stammen, obwohl die erinnernde Person überzeugt ist, sich an Selbsterlebtes zu erinnern (Welzer, 2010). Die Modifizierungen der Erinnerungen vollziehen sich überwiegend im »kommunikativen Unbewussten« des autobiographischen Gedächtnisses, wer-

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den aber auch bewusst vorgenommen, um sie dem aktuellen Selbstbild anzupassen oder sie bei einer Selbstdarstellung sozial und kulturell verträglich zu präsentieren. Während im Alltag Vergessen und Verwechselungen als Dysfunktionen des Gedächtnisses negativ besetzt sind, sind sie ihrer Ursache nach funktionale und adaptive Fähigkeiten, die konstitutiv für das Erinnern sind, denn sonst könnte sich der Mensch im Strom der Ereignisse nicht orientieren, um Entscheidungen zu treffen bzgl. gegenwärtiger und zukünftiger Situationen in seinem Leben (Markowitsch/Welzer, 2005). Erinnern ist die soziale (Re-)Konstruktion der Vergangenheit, die sich in drei Zeiträumen vollzieht: in der Vergangenheit, über die erzählt wird, in der Gegenwart, von der auf die Vergangenheit geschaut wird und in der Zukunft, auf die die Kohärenz des Ich oder einer Erinnerungsgemeinschaft ausgerichtet ist, so dass Erinnern auch der Orientierung auf zukünftiges Handeln dient. Autobiographische Erinnerungen können zeitlich und räumlich zugeordnet werden und sie werden von Emotionen begleitet, die beim Abruf der Erinnerung wieder aktiv werden und so ein gewisses Wieder-Erleben (re-experiencing) des vergangenen Geschehens ermöglichen. Neben der Emotionalität ist die bildhafte Vorstellung das wichtigste Merkmal der Erinnerungen Das autobiographische Gedächtnis ist die Instanz in der Persönlichkeit des Menschen, die ihm hilft, sich selbst über lebensgeschichtliche Brüche und Veränderungen hinweg als kontinuierliches Ich zu erleben. Und das autobiographische Erinnern hat eine soziale Kompetenz, die einem selbst und anderen die Gewissheit bietet, dass man es über Zeiten und Räume hinweg immer mit ein und demselben Ich zu hat, das auch in Zukunft noch dasselbe sein wird (Markowitsch/ Welzer, 2005; Welzer: 2005).

4.4 W ahre L ebensgeschichten ? Z um Q uellenverständnis dieser S tudie Die Biographieforschung, die Oral History und die neurowissenschaftliche Gedächtnisforschung kommen auf ihren spezifischen Forschungswegen zu unterschiedlichen Ergebnissen, aber letztendlich alle zu der Einsicht: es gibt keine wahren lebensgeschichtlichen Erinnerungen, die Abbildungen der tatsächlichen Ereignisse der Vergangenheit sind. In der Biographieforschung erinnert und gestaltet das Ich die Lebenserzählung aktiv, der Erzähler erzählt die subjektive Wirklichkeit, seine Sicht der Geschehnisse aus aktueller Perspektive. Die Oral History räumt der lebensgeschichtlichen Erzählung dagegen eine größere Objektivität ein, die sie mit einer umsichtigen Quellensorgfalt abstützt, um ihr Forschungsziel zu erreichen, zeitgeschichtliche Erlebnisse und Ereignisse von Beteiligten zu erfahren und zu dokumentieren. Für die neurowissenschaftliche Gedächtnisforschung sind lebensgeschichtliche Erinnerun-

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gen und Erzählungen Produkte biokultureller Prozesse im autobiographischen Gedächtnis, die dort kreativ modifiziert und mit exogen gewonnenen Bildern und Informationen angereichert werden. Angesichts dieser sich voneinander abgrenzenden Diskurse formuliert Leh aus der Sicht der Oral History einen forschungsethischen Kompromiss: einerseits sind Forschungen, die auf Lebenserinnerungen basieren, in hohem Maße mit den Untiefen des Gedächtnisses und den Fallstricken des Erinnerns konfrontiert 8. Andererseits sind die extrem skeptischen Aussagen der Neurowissenschaft aber weit von dem entfernt, was sich in der Praxis biographischer Forschung vollzieht, wo Erinnern bei allen Einschränkungen doch erstaunlich gut funktioniert und es durchaus möglich ist, mit hinreichender Genauigkeit und Verlässlichkeit vergangene Ereignisse zu erinnern und zu erzählen (Leh, 2010: 310). Erinnern sich Zeitzeugen zuweilen aber falsch, vertraut die Oral History darauf, dies mit multimethodischen Mitteln korrigieren zu können (von Plato, 2000). Diesem Kompromiss schließe ich mich für diese Migrationsstudie an. Mit dem Quellenverständnis der biographischen Interviews folge ich zunächst der soziologischen Biographieforschung, in der eine lebensgeschichtliche Erzählung als Selbstpräsentation der Erzählerin verstanden wird, die auf reflektierten Erinnerungen vergangener Ereignisse aus gegenwärtiger Sicht basieren und eine subjektive Wirklichkeit zum Ausdruck bringen (Rosenthal, 1995). In Anlehnung an die Oral History, verstehe ich die erzählten lebensgeschichtlichen Ereignisse der Migrantinnen und ihre Darstellungen der beiden strukturellen Außenwelten in Mittelosteuropa und in Berlin als Schilderungen der objektiven Wirklichkeit, wenn auch zuweilen mit einer »Unschärferelation« (von Plato, 2000: 25; Breckner, 1994: 213). Ich knüpfe damit an Erkenntnisse während meines doing biography mit den Migrantinnen an, als ich zuweilen miterlebt habe, dass bei einem sensiblen Thema die autobiographische Erzählung bewusst oder unbewusst in der interaktiven Interviewsituation von der Migrantin sozial- und kulturverträglich angepasst wurde, um sie mit ihrem aktuellen Selbstbild in Einklang zu bringen (vgl. Kapitel 3.5). Eine Auseinandersetzung mit den Erkenntnissen der neurowissenschaftlichen Erinnerungsforschung vernachlässige ich – wie andere sozialwissenschaftliche Studien (bisher) auch – denen zufolge Erinnerungen die Produkte kreativer biokultureller Prozesse des autobiographischen Gedächtnisses sind, die mit endogenen und exogenen Anreicherungen jenseits der Bewusstseinsschwelle des Erzählers modifiziert wurden (Gudehus et al., 2010). Hierzu habe ich mich von dem Gedächtnisforscher Markowitsch ermutigen lassen, der 8 | Schacter (2001) benannte sieben Sünden des menschlichen Gedächtnisses: the Sin of Transcience, Absentmindedness, Blocking, Misattribution, Suggestibility, Bias und Persistence.

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trotz der kritischen Sicht seiner neurowissenschaftlichen Zunft die Ansicht vertritt, dass Befragungen von Zeitzeugen nicht aufgegeben werden müssen »solange sich der Forscher der Bedingungen bewusst bleibt, die während des (erstmaligen) Erlebens, nachfolgender Reproduktionen und beim aktuellen Abruf herrschten« (2000: 47). Als Fazit dieser drei unterschiedlichen Diskurse sehe ich einen erheblichen interdisziplinären Diskussionsbedarf, unter Einschluss weiterer Forschungen. Jedoch zeigten Gedächtnisforscher bislang wenig Bereitschaft zum Dialog und es gibt kaum Reaktionen von Biographieforschern anderer Fachrichtungen auf die Erkenntnisse der neurowissenschaftlichen Gedächtnis- und Erinnerungsforschung. Einen Anfang hat Heinze gemacht, er kritisiert die soziologische Biographieforschung, weil sie sich aus der Debatte um den Erkenntniswert von Autobiographien und aus der Diskussion der Befunde der Gedächtnisforschung heraushält (2010: 227).

4.5 E xkurs : biogr aphisches E rz ählen im postsozialistischen M ittelosteuropa Eine Forschung mit biographischen Interviews von Migrantinnen aus Mittelosteuropa berührt auch die Frage nach lebensgeschichtlichen Erzählungen und ihrer Erforschung in den Herkunftsländern. Nach dem Ende des Sozialismus haben in allen mittelosteuropäischen Ländern Zeitzeugenforschungen mit Lebenserzählungen einen schnellen Aufschwung genommen. Autobiographische Erinnerungen an den sozialistischen Alltag und Erfahrungen mit der postsozialistischen Transformation bilden seither ein großes Themenreservoir (Obertreis/Stephan, 2009a). In Polen existiert bereits eine fast hundertjährige autobiographische Erzähltradition, die Znaniecki 1920 initiiert hat, als er nach seiner Studie über polnische Migranten in den USA nach Polen zurückkehrte und Soziologieprofessor in Posen wurde. Nach seiner Idee sind in den folgenden Jahren in ganz Polen im Rahmen öffentlicher Wettbewerbe autobiographische Lebenserinnerungen – pamietniki – gesammelt worden, für die unterschiedliche Themen vorgegeben wurden, bspw. »Leben als junger Bauer« oder »Erfahrungen mit Arbeitslosigkeit«. So kamen hunderte Autobiographien zusammen, die besten wurden in Buchform publiziert und einige ihrer Autoren stiegen zu Kulturheroen der polnischen Intelligenz auf (Lubas-Bartoszynska, 1994). Die Tradition der Memoirenwettbewerbe wurde in Polen nach dem Krieg 1945 wieder belebt. Gesammelt wurden Erinnerungen aus unterschiedlichen Berufsgruppen und Milieus u.a. von Lehrern, die in nationalsozialistischen Konzentrationslagern und Gefängnissen waren. 1961 erbrachte ein Wettbewerb für junge Bauern 5500 autobiographische Einsendungen, die in sieben Bänden

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mit dem Titel »Die junge Bauerngeneration in der Volksrepublik Polen« veröffentlicht wurden, gefördert von der kommunistischen Führung. Die Streiks an der Leninwerft in Danzig 1980, der Kampf der Solidarnosc gegen das herrschende Regime und dessen Zusammenbruch 1989/90 hatten viele lebensgeschichtliche Aufzeichnungen zur Folge, die in Wettbewerben gesammelt und veröffentlicht wurden. Auch gegenwärtig werden in Polen autobiographische Wettbewerbe veranstaltet und die Zeitzeugenforschung bearbeitet an mehreren Universitäten ein breites Themenfeld, bspw. »Euroidentitäten« und die Migration von Polen nach England (Lubas-Bartoszynska, 1994; Kazmierska, 2010). In anderen Ländern Mittelosteuropas begann die biographische Zeitzeugenforschung nach dem Zusammenbruch des kommunistischen Systems, ihre Anfänge reichen aber in die Zeit vor 1989/91 zurück, als sich in den Oppositionsbewegungen eine dissidente Geschichtsschreibung entwickelte. Die autobiographischen Erzählungen von überlebenden Lagerhäftlingen in der ehemaligen Sowjetunion, insbesondere von Solzenicyn9 und Ginzburg10 waren der Anfang, sie wurden, wie andere Zeitzeugendokumente auch, mit Schreibmaschine abgetippt und über die Samisdat (russ.: Selbstverlegtes) unzensiert in der Dissidentenszene verbreitet. Diese Samisdats gab es zuerst in der Sowjetunion, später auch in Polen, Ungarn, der Tschechoslowakei und in der DDR. Nach den massiven politischen Umbrüchen in Mittelosteuropa während des letzten Jahrhunderts, den Bevölkerungsumsiedlungen und der Shoah sind lebensgeschichtliche Erzählungen von Zeitzeugen und ihre Bewahrung als eine Geschichtsschreibung »von unten« zu einer Tradition geworden (Obertreis/ Stephan, 2009b). In Mittelosteuropa sind zahlreiche universitäre und außeruniversitäre Forschungszentren für Oral History entstanden u.a. in Prag (Tschechien), in Cluj (Rumänien), in Charkow (Ukraine) und in Petrozavodsk (Russland). Hinzu kommt eine rege Beteiligung regionaler und überregionaler Initiativen, Museen und Gedenkstätten11. In mehreren Ländern werden Erzählwettbewerbe veranstaltet, bspw. in der Slowakei in sieben Städten gleichzeitig Wettbewerbe über Familiengeschichten »einfacher Leute« über drei Generationen (Kusa, 2003). Erzählwettbewerbe gibt es auch in der Ukraine, in Lettland und beson9 | Seine Erzählung »Archipel Gulag« wurde 1974 in deutscher Sprache veröffentlicht. 10 | 1980 erschien ihre Lebenserzählung »Gratwanderung« in deutscher Übersetzung. 11 | Eine Liste mit Adressen von Oral History Zentren in Mittelosteuropa ist im Anhang von Obertreis/Stephan (2009a: 397-401) zusammengestellt. Im World Bibliographical Information System (WBIS Online) werden gegenwärtig 53 Archive digital aufbewahrt, darunter vier Polnische Archive, Biographische Archive aus dem Baltikum, aus Tschechien, der Slowakei, Ungarn, der Sowjetunion, Russland und drei Jüdische Biographische Archive.

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ders häufig in Russland, wo sie 1989 von der Akademie der Wissenschaften in St. Petersburg begonnen wurden (Golofast, 2003: 54) und inzwischen auch von anderen Forschungsinstituten durchgeführt werden. Zeitgeschichtliche Themen sind u.a. »Die Belagerung im Leben und in den Erinnerungen von Leningradern« (St. Petersburg), »60. Jahrestag des Sieges« (Stavropol) und »Erinnerungen an den Großen Vaterländischen Krieg« (Krasnodar). Gearbeitet wird mit Methoden der westlichen Oral History, die über Kooperationsprojekte mit europäischen und amerikanischen Universitäten vermittelt werden und mit einem Reader, der 2003 mit westlichen Forschungsdokumenten veröffentlicht wurde (Rebrova, 2009). Vor allem in Russland haben die Menschen ein großes Bedürfnis, ihr Selbstverständnis und ihre Selbstpräsentation aufzuarbeiten, nach dem Trauma des Zusammenbruchs der Sowjetunion und den Auswirkungen der dreifachen Transformationen, dem Auf bau eines Nationalstaates, der Entstehung demokratischer Institutionen und der kapitalistischen Marktwirtschaft (Temkina/Zdravomyslova, 2004: 75). Den schwierigen Umgang mit den historischen Brüchen verdeutlicht ein Beipiel aus dem öffentlichen Leben in Russland, die Textvarianten der russischen Hymne: 1943 begann die Hymne »Und Stalin erzog uns zur Treue dem Volke«; nach Stalins Entthronung wurde sie jahrelang ohne Text gespielt, rühmte ab 2000 »die Partei«, die einige Jahre später durch »Gott« ersetzt wurde (Ulitzkaja, 2014). Diese nachhaltigen politischen und sozialen Umstrukturierungen führten bei vielen Russen zu einer Identitätskrise. Als Bewältigungsstrategie hat nach 1991 ein biographischer Boom eingesetzt mit einer Flut autobiographischer Veröffentlichungen aus unterschiedlichen Milieus, mit TV-Talk-Shows, mit der Suche tausender Bürger nach ihrer genealogischen Herkunftsfamilie und deren Ursprungsort im Prozess ihrer neuen russischen Identitätskonstruktion. Die wissenschaftliche Forschung mit Lebensgeschichten ist nur ein kleiner Teil dieses Stromes (Zdravomyslova, 2000: 59; Golofast, 2003)12 .

12 | Das sowjetische Erbe übt einen schwerwiegenden Einfluss auf die Biographieforschung aus. Einerseits hat das Sowjetsystem jede biographische Arbeit blockiert und viele Erinnerungen mussten aus dem Gedächtnis hinausgesäubert werden. Die Menschen haben bestimmte Erfahrungen lieber vergessen, tradierten sie nicht in der Familie, suchten nicht nach ihren Wurzeln, sondern wechselten den Familiennamen, um nicht als Jude oder Deutscher identifiziert zu werden. Andererseits mussten sie hunderte Male in ihrem Leben amtliche biographische Formulare ausfüllen, am Arbeitsplatz, in Bildungseinrichtungen, im Gesundheitssystem, die extrem detailliert waren und vielfältige Aspekte ihres Lebens, ihrer Verwandten, Kinder und Vorfahren erfassten. Als Folge dessen konstruierten sich Sowjetbürger politisch korrekte Biographien, die den Anforderungen der Ideologie Genüge taten (Temkina/Zdravomyslova, 2004: 85).

4. Erlebnis, Erinnerung, Erzählung – ein Forschungsüberblick

Im Kontext dieser Forschung über Migrantinnen aus Mittelosteuropa sind biographische Arbeiten von Frauen interessant, über ihr Selbstverständnis, ihre Erfahrungen und Handlungsmöglichkeiten und über Gender-Beziehungen während des Sozialismus und in der Transformation. Um den eklatanten Mangel an schriftlichen Quellen in der seit den 1970er Jahren betriebenen Frauenforschung und in der aktuellen Gender-Forschung zu beheben, wurde in einigen international geförderten Projekten die Generierung biographischer Erzählungen von Frauen vorangetrieben, so mit dem Projekt »Frauengedächtnis« (www.womensmemory.net), das biographische Gespräche mit tschechischen, serbischen und kroatischen Frauen vorgelegt hat und mit dem Interviewprojekt »To look at Life through Women’s Eyes« in Ländern der ehemaligen Sowjetunion (Open Society Institute, 2002). Diese Quellenproduktion erinnert an die Anfänge der Oral History in westlichen Gesellschaften, als in den 1970/1980er Jahren die Frauenforschung begann, die Geschichte der Frauen zu dokumentieren (Weibliche Biographien,1982; Personal Narratives Group,1989). Bei den Frauenbiographien ist die Themenvielfalt beeindruckend, die die Facetten weiblicher Erfahrungen in der spannungsreichen jüngeren Geschichte der mittelosteuropäischen Länder widerspiegeln. Beispiele sind biographische Arbeiten über ehemalige ungarische Akkordarbeiterinnen in einer Strumpffabrik in Budapest (Toth, 2004), über unterschiedliche soziale Rollen bulgarischer Industriearbeiterinnen 1945 und 1989 in einer Kleinstadt im Nordosten Bulgariens (Ivanova, 2009) und veränderte Reproduktionskarrieren slowakischer Frauen vor und nach der Wende (Potancokova, 2009). Biographische Arbeiten widmen sich den Erfahrungen russischer Frauen im Dissidentenmilieu (Tchuoikina, 1996), den ersten russischen Feministinnen nach 1991 (Zdravomyslova, 2000; Godel, 2002), sowie den neuen Problemen von Nur-Hausfrauen (Zdravomyslova, 1996). Mit den Gender-Studien erweiterten sich in Mittelosteuropa die Diskurse von der Frauenforschung zu den Geschlechterverhältnissen. Als eine zentrale Frage wird diskutiert, inwieweit mit dem radikalen gesellschaftlichen und politischen Erneuerungsanspruch während der Transformation auch ein Wandel der Gender-Beziehungen verbunden ist. Die ehemals »von oben« staatlich geförderte »Befreiung der Frauen durch den Sozialismus« stand oft im Kontrast zu traditionellen Vorstellungen, bspw. in der Familie. Für die Untersuchung der Veränderungen zwischen offiziell propagierten Geschlechterrollen und tatsächlichen Lebensstilen sind autobiographische Erzählungen wertvolle Quellen, um die Selbstbilder von Frauen und Männern zu erforschen (Temkina/Zdravomyslova, 2004).

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5. Migrationsforschung auf zwei biographischen Pfaden

In der deutschsprachigen biographischen Migrationsforschung haben sich zwei biographische Pfade etabliert, die sich in ihren inhaltlichen Zielen und im methodischen Vorgehen unterscheiden: • der erste Forschungspfad mit biographischen Methoden basiert auf Lebensgeschichten oder biographischen Interviews mehrerer Erzähler, deren Inhalte als Grundlage dienen, für die Untersuchung von Fragen und Themen zur gesellschaftlichen und sozialen Wirklichkeit, • während die biographische Migrationsforschung auf dem zweiten Pfad in der Regel nur eine autobiographische Narration zugrunde legt, manchmal auch zwei oder drei, um sie detailliert zu analysieren, indem sie methodisch wie die subjektzentrierte soziologische Biographieforschung vorgeht. Der erste Forschungspfad knüpft methodisch an die Studie von Thomas und Znaniecki an, denn eine größere Anzahl Lebensgeschichten bilden die Quellen für die Beschreibung und Analyse der Lebenswelt der Migranten. Die Dokumentation subjektiver Erfahrungen einzelner Migranten ist nicht das alleinige Forschungsziel, sondern die Aussagen aus mehreren Lebensgeschichten und ihr Vergleich sind die Grundlage für die Beantwortung der Forschungsfrage(n). Aus den Biographien und ihren Doppelperspektiven ergeben sich Daten für das Verständnis der historischen und gesellschaftlichen Zusammenhänge und die Prozesse transnationaler Migrationen. Auf diesem ersten Forschungspfad entsteht auch diese Arbeit über Migrantinnen aus mittelosteuropäischen Ländern in Berlin. Aus den Aussagen der hundert biographischen Interviews und ihren Vergleichen ergibt sich die Beschreibung und Analyse des Handlungsvermögens der Migrantinnen während des Migrantionsprozesses und in ihrem Alttagsleben in Berlin. Die Nutzung des Biographischen in der Migrationsforschung begann mit der empirischen Studie über die Lebenswege polnischer Migranten in den USA (Thomas/Znaniecki, 1927/1958). Diese frühe Studie auf der Grundlage

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biographischer Methoden gilt als Klassiker der Migrationsforschung, obgleich die Autoren keine biographischen Interviews sondern personal documents verwendet haben, denn sie bezogen Briefe aus Migrantenfamilien, Behördenakten über polnische Migranten sowie die schriftliche Autobiographie von Wladek W. in die Untersuchung mit ein (ebd., II: 1915-2226). Thomas und Znaniecki waren überzeugt, dass persönliche Lebensberichte den »perfekten Typ« soziologischer Quellen darstellen, um das Leben einer sozialen Gruppe zu untersuchen, wofür nach ihrer Ansicht aber eine Vielzahl persönlicher Materialen notwendig war und ein »enormer Arbeitsaufwand für deren adäquate Analyse« (ebd., II: 1832f). Ihre Studie war ein wesentlicher Schritt zu einer empirischen und qualitativen Orientierung in der Soziologie und die Autoren entwerfen mit ihr eine Sozialwissenschaft, die ausdrücklich objektive und subjektive Elemente des sozialen Lebens berücksichtigt: »The cause of a social and individual phenomenon is […] always a combination of a social and an individual phenomenon.« (Ebd., I: 44)

Thomas und Znanieki haben bereits den Zusammenhang der individuellen Lebensgeschichte mit dem strukturellen gesellschaftlichen Rahmen erkannt, die als »Doppelperspektive« in der deutschsprachigen Migrationsforschung thematisiert wird (Gültekin, 2003; Rosenthal, 2005; Bukow/Spindler, 2006). Mit dem biographischen Forschungsansatz wollten die Autoren die Lebensund Erfahrungswelt polnischer Migranten in Chicago verstehen und beschreiben, was Kelle als die besondere »ethnologische« Orientierung der Chicagoer Schule bezeichnet (1994: 30). Dieser Ansatz wurde in der amerikanischen Soziologie wegen seiner mangelnden methodischen Strukturiertheit und der Gefahr subjektiver Verzerrungen durch den Forscher kritisiert und bald zugunsten quantitativer Forschungen aufgegeben, von denen man sich aufgrund ihrer Standardisierung bei der Datenerhebung und -auswertung zuverlässigere Ergebnisse versprach. Erst in den 1960er Jahren wurde die biographische Migrationsforschung in den USA wiederbelebt und international wird seither fast ausschließlich mit dieser Methode – dem ersten Forschungspfad – gearbeitet, bspw. bei Levitt (2003) für die Erforschung transnationaler Lebensformen bei sechs Migrantengruppen der ersten und zweiten Generation in Boston/ USA (vgl. Kapitel 11.1). Der zweite biographische Forschungspfad in Migrationsstudien folgt methodisch der deutschen soziologischen Biographieforschung (Schütze, 1983; Rosenthal, 1995; Kapitel 4.1), denn es werden eine, zwei oder drei Lebensgeschichte(n) zugrunde gelegt, um ihre Narration(en) subjektzentriert zu analysieren. Die Analyse kann sich auf den Lebensweg der Erzählerin konzentrieren, z.B. auf die Erfahrungen zweier bosnischer Flüchtlingsfrauen bei ihrer Vertreibung aus Banja Luka (Rosenthal, 2005) oder auf eine Forschungsfrage

5. Migrationsforschung auf zwei biographischen Pfaden

im Kontext ihrer Lebensgeschichte, z.B. die Identitätsentwicklung bei drei französischen Heiratsmigrantinnen (Ricker, 2000). Mit der biographischen Methode auf dem zweiten Forschungspfad wird das individuelle Wissen der Akteurin, ihr Handlungsvermögen, Motive, Selbstdeutungen und Erklärungsweisen auf der Grundlage ihrer lebensgeschichtlichen Erzählung rekonstruiert, um aus der Innensicht der Migrantin herauszuarbeiten, wie sie die soziale Wirklichkeit erlebt und wie sie an derer Herstellung beteiligt ist. Bei Migrationsstudien auf dem zweiten Forschungspfad finden sich in der Methodendiskussion keine erkenntnistheoretischen Erörterungen über lebensgeschichtliche Erzählungen als objektive Forschungsdaten. Die erzählte subjektive Wirklichkeit wird als Beschreibung der objektiven Wirklichkeit verstanden. Seit einiger Zeit wird aber eine kritische Überprüfung der subjektzentrierten, auf das Individuum fokussierten Untersuchungsweise angemahnt, um die komplexen Zusammenhänge der Lebensverläufe von Migranten besser erfassen zu können. Damit verbunden ist die Forderung nach einer Erweiterung der Forschungsmethoden auf diesem zweiten Pfad, mit der an die multimethodische Untersuchung von Thomas/Znaniecki angeknüpft werden soll (Rosenthal, 2005). Begründung ist, dass eine Vielfalt der Methoden und eine Offenheit bei ihrer Auswahl und Kombination den Forschungsanforderungen in biographischen Migrationsstudien am besten gerecht werden, um die Lebenswelt der Migranten und ihre transnationalen Lebensweisen untersuchen zu können (Bukow/Spindler, 2006).

5.1 B eispiele deutschspr achiger biogr aphischer M igr ationssforschungen Die empirische Erforschung von Migrationsphänomenen in Deutschland begann mit türkischen Zuwanderern auf dem ersten biographischen Pfad (Maurenbrecher, 1985; Schiffauer, 1991). Mit diesen Arbeiten hat sich langsam ein Perspektivwechsel vollzogen, von Untersuchungen aus der Sicht des Migrationslandes und der Mehrheitsgesellschaft, die eine Außensicht ist, zu einer Analyse der Innenperspektive, der Sicht der Migranten, mit der die soziale Wirklichkeit aus der Perspektive der handelnden Akteure erfasst wird. Die Doppelperspektive vermittelt in jeder Lebensgeschichte auch die Konstitution der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, die bei Migranten wiederum eine doppelte ist, denn ihre Biographien sind eingebettet in den sozialen Rahmen des Herkunftslandes und des Migrationslandes. Die Vielfalt und das Ausmaß der Zuwanderung nach Deutschland seit den 1970er Jahren lässt eine große Zahl qualitativer Migrationsstudien erwarten. Aber die Arbeiten auf dem ersten biographischen Forschungspfad sind durchaus überschaubar. Ein Grund ist möglicherweise, dass diese Methode,

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insbesondere bei der Auswertung, als besonders arbeitsintensiv gilt (vgl. Thomas/Znaniecki, 1927/1958, II: 1832f). Der folgende Überblick ist auf Beispiele biographischer Studien zu drei Themenbereichen der Ost-West-Migration beschränkt, die im Kontext dieser Arbeit relevant sind: (1) Arbeiten über Migrantinnen, die in der sekundären Reproduktion tätig sind, (2) erste Forschungen zu transnationalen Lebensformen und (3) die beginnende Forschung über Bildungsmigrantinnen und hochqualifizierte Zuwanderinnen. Im Kontext der weltweiten Feminisierung der Arbeitsmigration stehen Studien über Migrantinnen, die – oft illegal und pendelnd – in Privathaushalten putzen, betreuen und pflegen. So untersuchte Lutz (2008a) die »neuen Dienstmädchen« aus Osteuropa und Lateinamerika auf der Basis von Interviews mit siebenundzwanzig Migrantinnen und neunzehn Arbeitgeberinnen in drei deutschen Großstädten. Dem Thema »care workers« widmete sich auch Karakayali (2010), die vierzehn osteuropäische Migrantinnen in Frankfurt a.M. und Umgebung interviewt hat, von denen die Hälfte legal, die andere illegal in der Pflege beschäftigt war. Ihr Sample war multinational, die Frauen kamen aus Bulgarien (1), Litauen (4), Polen (3), Ungarn (5) und Rumänien (1). Karakayali hat ihre Interviews subjektzentriert ausgewertet.1 Pendelnde Migranten und transnationale ost-westeuropäische Lebensformen und Alltagspraktiken, die sich bei den beiden größten Mi­grantenpopulationen, den polnisch- und den russischsprachigen Migranten herausgebildet haben, sind ein neues Thema in der Forschung. Erste Ergebnisse zeigen vier Varianten transnationaler Lebensformen, die alle auf dem ersten Forschungspfad für biographische Migrationsstudien erarbeitet wurden: (1) Glorius (2007) beschreibt transnationale Lebensformen polnischer Zuwanderer, die in Leipzig ansässig sind, (2) die Pendelmigration polnischer Hausarbeiterinnen haben Cyrus (2008) in Berlin und Metz-Göckel et al. (2006; 2007; 2008; 2010) im Ruhrgebiet untersucht und die Strategien der Migrantinnen analysiert, ihr transnationales Leben zu organisieren2, (3) Palenga-Möllenbeck (2014) hat die Pendelmigration aus Oberschlesien zur Erwerbstätigkeit in Deutschland beschrieben, aus der historischen Grenzregion, die nach dem EU-Beitritt Polens ein transnationaler Raum geworden ist. Bei jungen russischsprachigen bildungserfolgreichen Spät-/Aussiedlern, die einem Studium oder einer Erwerbstätigkeit in einem Nachfolgestaat der ehemaligen Sowjetunion nachgehen, hat Schmitz (2013) die Gestaltung transnationaler Lebensentwürfe zwischen Deutschland und Russland bzw. Kasachstan nachgezeichnet (Kapitel 11.2). 1 | Apitzsch und Schmidbauer (2010) haben das Thema »Care und Migration« mit kritischen Beiträgen zur »Ent-Sorgung menschlicher Reproduktionsarbeit entlang von Geschlechter und Armutsgrenzen« erweitert. 2 | Ein Teil der pendelnden Arbeitsmigrantinnen sind transnationale Mütter; auf dieses Thema gehe ich in Kapitel 8.3 ein.

5. Migrationsforschung auf zwei biographischen Pfaden

Bildungsmigrantinnen und hochqualifizierte Zuwanderinnen aus postsozialistischen Ländern und ihr Zugang zum deutschen Arbeitsmarkt sind erst seit kurzem in den Fokus der Migrationsforschung gekommen (Nohl, et al., 2010a; Jungwirth et al., 2012; Kapitel 9). Die Datenlage zu dieser Thematik wird als prekär bezeichnet (Heß, 2012). Eine erste Statistik zeigte 2011 interessanterweise eine Feminisierung der Bildungsmigration in den Bereichen Naturwissenschaften und Technik aus Mittelosteuropa, insbesondere aus russischsprachigen Ländern, denn der Anteil der hochqualifizierten Migrantinnen war doppelt so hoch, wie die der Männer (Heß, 2012; Kapitel 9.4). »Frauen beforschen Frauen« könnte das Motto des zweiten migrationsbiographischen Forschungspfades lauten, denn alle deutschsprachigen Studien auf diesem Pfad wurden von Sozialwissenschaftlerinnen erarbeitet und bei allen wurden Migrantinnen erforscht. Die biographische Migrationsforschung war um die Jahrtausendwende bei den Migrantinnen angekommen, ziemlich spät, denn Frauen sind bereits seit den 1960er Jahren zugewandert. Ihre Thematisierung in der Biographieforschung wurde ausgerufen, um »situiertes relationales Wissen zu erzeugen« (Apitzsch/Jansen, 2003: 9; Dausien, 2000; 2010) ohne den kompensatorischen Ansatz früherer Jahre, vor allem gegenüber türkischen Migrantinnen (z.B. Rosen, 1986). Die biographischen Migrationsforschungen spiegeln nun einen offeneren Diskurs über Migrantinnen in der Mehrheitsgesellschaft wider, der sich langsam durchsetzte im Kontext der veränderten Zuwanderungspolitik. Die Migrantin steht als handelndes Subjekt im Zentrum der biographischen Forschung und die Beschreibung und Analyse der bisher ausgeblendeten Erfahrungen der Frauen ergeben neue Einsichten. Themen biographischer Migrationsstudien sind bspw. Bildungserfolge und Aufstiegsmotivation junger türkischer Frauen (Gültekin, 2003) und kreative Potentiale griechischer Migrantinnen bei ihrem Schritt in die unternehmerische Selbstständigkeit (Kontos, 2003)3. Bei älteren Migrantinnen der Gastarbeitergeneration aus Italien und Spanien steht die Gestaltung ihres Lebens im Rentenalter im Mittelpunkt mit der Frage »Rückkehr oder bleiben?« vor dem Hintergrund, dass ihre Kinder und Enkel in Deutschland leben (Philipper, 1997; Jiminez Laux, 2001). Bei jüngeren Migrantinnen sind ihre Bildungsbiographien häufig das Forschungsthema, in denen die Motivation, die Erfolge und Schwierigkeiten auf dem Bildungsweg der Frauen sichtbar werden (Gültekin, 2003; Farrokhzad, 2007; Hummerich, 2009). Die Studien konzentrieren sich auf die Innensicht der Migrantinnen, zeigen genderspezifische Erfahrungen im Migrationsprozess und verdeutlichen, dass Migrantinnen immer Akteurinnen in ihrem Leben sind. Sie verfügen im 3 | Ich gehe nur auf Arbeiten über Migrantinnen ein, die selbst zugewandert sind und zur ersten Generation gehören – wie die interviewten Migrantinnen in meiner Studie.

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Migrationsprozess über ein Handlungsvermögen und wissen es zu nutzen, um biographische Diskontinuitäten und Brüche zu überwinden. Andere biographische Forschungen zeigen die schmerzhaften Erfahrungen von Frauen, die als Flüchtlinge zugewandert sind: bspw. eine Roma-Frau aus Rumänien mit ihren beiden Kindern (Lehmann, 2004), zwei bosnische Flüchtlingsfrauen, Mutter und Tochter, die bei der »ethnischen Säuberung« ihre Heimat verlassen mussten (Rosenthal, 2005), zwei bosnische Schwestern und ihre Erfahrungen mit der ausländerrechtlichen »Duldung« (Mitric, 2009) und die schwierige Lebenssituation von zwei jungen Flüchtlingsfrauen aus Syrien und Afghanistan (Hummerich, 2009). Einige Autorinnen sind selbst Migrantinnen (Agha, 1997; Gültekin, 2003) oder haben einen bikulturellen Migrationshintergrund (Jiminez Laux, 2001; Farrokhzad, 2007). Bis auf Farrokhzad haben sie sich bei ihrer Forschung auf Migrantinnen aus der eigenen Community konzentriert, was erhebliche Vorteile für die Forscherin mit sich bringt: einen leichteren Zugang zu den Migrantinnen, eine größere Nähe zu ihnen aufgrund der gleichen Sprache und Kultur und ein besseres Kontextwissen (Agha, 1997: 77f; Breckner, 2005: 157). Andererseits gab es auch Schwierigkeiten, wenn bspw. die Befragten bei der Forscherin als ebenfalls »Betroffene« gleiche Erfahrungen vorausgesetzt haben und mit dem Hinweis »Du weißt schon…« auf die ausführliche Schilderung eigener Erfahrungen verzichten wollten (Agha, 1997: 81). In diesen Arbeiten auf dem zweiten biographischen Pfad der Migrationsforschung wird mit kleinen Fallzahlen subjektzentriert die Sicht der Migrantinnen erforscht und so Wissen generiert. Als Ergebnis der Fallanalysen wird oft eine Typenbildung der Migrantinnen vorgenommen, auf der Grundlage ihrer Erfahrungsprozesse, ihrer kulturellen Einstellungen und Handlungspotentiale (vgl. Agha, 1997; Philipper, 1997; Gültekin, 2003; Farrokhzad, 2007). Die meisten Autorinnen haben mononational über Migrantinnen aus einem Herkunftsland geforscht; Ausnahmen sind die Bildungsbiographien von Hummerich (2009) und die Studie über Akademikerinnen von Farrokhzad (2007).

5.2 Z ur I ntervie wspr ache in spr achübergreifenden M igr ationsstudien Eine biographische Arbeit mit Migranten ist eine sprachübergreifende Forschung, in der zwei Sprachen gesprochen werden können, die Muttersprache des Migranten und die Sprache des Forschers, in der auch die Ergebnisse getextet werden. Welche Sprache ist für die Interviews mit Migranten forschungsethisch die korrekte Sprache? Und in welcher der beiden Sprachen wird in der Praxis überwiegend gearbeitet? Ist es sinnvoll einen Übersetzer hinzuzuziehen? Diese Fragen habe ich bereits im Kontext meines doing biogra-

5. Migrationsforschung auf zwei biographischen Pfaden

phy mit den Migrantinnen angesprochen (Kapitel 3.4), in der sprachübergreifenden empirischen Sozialforschung sind sie aber weitgehend blinde Flecken geblieben (Palenga-Möllenbeck, 2009: 158). Diese Feststellung trifft auch für biographische Migrationsforschungen zu. Das ist problematisch, denn biographische Erzählungen sind sensible Texte, die die subjektive Sichtweise und die Selbstpräsentation des Erzählenden wiedergeben, die eventuell übersetzt werden müssen (Tuider, 2009). Mehrdeutigkeiten können in dem komplexen Prozess des »doing biography« hinzukommen, in dem die Lebenserzählung interaktiv von dem Migranten und dem Forschenden oder einem Übersetzer produziert wird. In den Beispielen biographischer Migrationsstudien des zweiten Pfades wurde(n) die Forschungssprache(n) nicht explizit offengelegt, höchstens im Text versteckt erwähnt (z.B. Agha, 1997), obwohl für transnationale Forschungen gefordert wird, die im Interview verwendete(n) Sprache(n) und eventuell vorgenommene Übersetzungen immer als empirische Methode(n) zu nennen, um eine größere Transparenz zu schaffen (Temple/Edwards, 2002). Verschiedene Sprachen sind denkbar bei einer Migrationsstudie, deren Quellen biographische Interviews sind: die Migranten werden in ihrer Muttersprache interviewt oder die Interviews finden in der Sprache des Migrationslandes statt, die auch Sprache des Forschers ist. Bei den ersten Varianten müsste der Forscher bilingual sein oder die erzählte Lebensgeschichte müsste von einem Dritten übersetzt werden, was im Prozess des doing biography Einschränkungen mit sich bringen kann. Bilinguale Forscher sind bspw. Ethnologen, denn in diesem Fach ist es guter Standard, dass der Forscher die soziale Wirklichkeit in der Sprache der Beforschten erkundet und deren Sprache lernt, wenn er ins Feld geht. So haben die Ethnologen Maurenbrecher (1985) und Schiffauer (1991) die Interviews für ihre Studien mit türkischen Migranten in türkischer Sprache durchgeführt. Für die Verschriftlichung der erforschten sozialen Wirklichkeit ist später dennoch eine »Übersetzung zwischen den Kulturen« in die Sprache des Forschers notwendig, um den gesellschaftlichen und kulturellen Gehalt der Aussagen der Beforschten und implizite Bedeutungen ihres Diskurses zu verstehen und in der Textproduktion wiederzugeben (Asad, 1993: 326f). Ideal ist es, den Migranten eine Wahlmöglichkeit zu geben, sie selbst entscheiden zu lassen, ob sie in ihrer Muttersprache oder in der Sprache des Migrationslandes interviewt werden wollen. Hierzu zwei Beispiele aus empirischen Arbeiten mit polnischen Pendelmigrantinnen, die diese Wahlmöglichkeit hatten: Cyrus interviewte 2001 sieben polnische Pendelmigrantinnen, die illegal in Berliner Haushalten beschäftigt waren, vier Frauen wählten Polnisch für das Interview, drei bevorzugten Deutsch (2006:182). Bei der Studie von Metz-Göckel, Senganata Münst und Kalwa (2010) war Polnisch als Interviewsprache vorgesehen, um die spätere Auswertung der im Ruhrgebiet und in Polen durchgeführten Interviews einheitlich zu gestalten. Drei Polinnen im

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Ruhrgebiet wollten das Interview aber in deutscher Sprache machen. Die Beispiele zeigen, dass bei einem Teil der Migrantinnen das täglich bei der Arbeit gesprochene Deutsch nach einiger Zeit eine dominante Rolle einnimmt, zumindest bzgl. ihres Lebens im Migrationsland. Interessant ist, dass es in beiden Arbeiten Pendelmigrantinnen waren, die lieber in deutscher Sprache kommunizieren wollten, also Frauen, die ihren Lebensmittelpunkt und ihre Familie in Polen haben und dort regelmäßig ihre Muttersprache sprechen. Bei anderen biographischen Migrationsstudien sind die Autorinnen selbst Migrantinnen, die über Migrantinnen der eigenen Community forschen. Forscherin und Beforschte sind bilingual und ein switching zwischen beiden Sprachen ist naheliegend und wird praktiziert, je nachdem in welcher Sprache sich die Migrantin situationsbezogen besser ausdrücken konnte, wie aus den Texten zu erschließen ist. Bei einigen Studien wurde überwiegend in der Muttersprache gearbeitet, so in Spanisch (Jiminez Laux, 2001: 74f) und in Iranisch (Agha, 1997: 77f), was in beiden nicht angegeben wird, sondern nur rekonstruierbar ist, bei Agha aufgrund der Erwähnung der »typischen persischen Erzählform« der Migrantin. Andere bilinguale Migrationsforscherinnen wechselten im Interview in die Muttersprache, wenn Verständigungsschwierigkeiten zu überbrücken waren: so hat Gültekin (2003: 51) mit einer ihrer drei Interviewpartnerinnen Türkisch gesprochen und Philipper praktizierte ein switching zwischen den Sprachen Deutsch und Italienisch, wenn es die Verständigung erforderte (1997: 48)4. In den meisten anderen biographischen Migrationsstudien war Deutsch die Interviewsprache, z.B. Lehmann (2004), Rosenthal (2005), Bukow et al. (2006), Lutz (2008: 56), Hummerich (2009) und Karayakali (2010: 100). Mit Ausnahme von Lehmann und Rosenthal ist mit multinationalen Samples gearbeitet worden und Deutsch war die Brückensprache für alle Interviews. In zwei Arbeiten wurden die guten Deutschkenntnisse osteuropäischer Migrantinnen hervorgehoben (Lutz, 2008; Karayakali, 2010), die auch mich bei meiner Forschung beeindruckt haben (Kapitel 3.4) Die Beispiele zeigen, dass biographische Interviews mit Migranten sprachlich in verschiedenen Formen durchgeführt werden können, um eine gute Kommunikation und ein intensives doing biography zu erreichen.

4 | Keine Autorin erwähnt, dass muttersprachlich aufgenomme Interviews für die Anwendung der Methoden der erweiterten Narrationsanalyse auf dem zweiten Forschungspfad (Schütze, 1983; Fischer-Rosenthal/Rosenthal, 1997) und der Fallrekonstruktion (Rosenthal, 1995: 208-226) übersetzt werden mussten.

6. Migrationsmotive, Handlungsvermögen, Statuspassagen mittelosteuropäischer Migrantinnen

Motive und Hintergründe einer Migration sind vielfältig und komplex und ergeben bei jeder Migrantin ein eigenes persönliches Muster, wie aus den biographischen Interviews mit den Frauen aus Mittelosteuropa hervorgeht. Noch vielfältiger und facettenreicher ist dann der Verlauf ihrer Migration, sind die weiteren Entwicklungen im Leben der Migrantin, sowohl privat als auch beruflich. Die Entwicklungen sind eng verknüpft mit ihrer Ausbildung im Herkunftsland, der beruflichen Weiterbildung und ihrer Erwerbstätigkeit in Berlin, mit ihrer Lebenssituation, ihren Kindern und dem Partner und auch mit dem täglichen Umgang der Migrantin in zwei Sprachen und Kulturen, bei einigen Frauen auch in drei Sprachen und Kulturen, wenn der Partner Migrant aus einem anderen Land ist. Vielförmig verknüpft ist ihr Migrationsprozess auch mit ihrer Familie und Freunden im Herkunftsland und mit der aktuellen politischen und wirtschaftlichen Situation dort. Ihr facettenreiches Leben haben die hundert Migrantinnen in den biographischen Interviews und in ihren Erzählungen mit eigener Stimme und aus emischer Sicht beschrieben. Ihre Darstellungen bilden die Daten für die Wissensproduktion zu den Themen der Auswertung.

6.1 G endert ypische M otivbündel in der postsozialistischen Tr ansformation In den biographischen Erzählungen der Migrantinnen wird deutlich, dass ihre Migration in der Regel ein Hauptmotiv hatte, das der konkrete Anlass für die Migration war und ihre Form bestimmte. Das Hauptmotiv war während der längeren Phase der Vorüberlegungen und Abwägungen eingebettet in ein Motivbündel, bestehend aus objektiven exogenen und subjektiv erlebten oder empfundenen Push-Pull Faktoren (vgl. Verwiebe, 2004: 121f; Lee, 1966). In den

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Motivbündeln der Migrantinnen waren die charakteristischen Geschehnisse und Entwicklungen der Transformation vom sozialistischen System zu einem neoliberalen Gesellschaftsmodell in den mittelosteuropäischen Ländern nach 1989/1990 und ihre Folgen enthalten. Einige der Veränderungen beeinflussten die Lebenssituation der Frauen in besonderer, negativ empfundener Weise und bildeten die gendertypischen Motivbündel. In den biographischen Erzählungen der Migrantinnen wurden sie meist nur kurz erwähnt, waren aber gut erkennbar als Tableau im Hintergrund der Entstehung ihres persönlichen Hauptmotivs und ihrer Migrationsentscheidung.1 In den Motivbündeln der frühen 1990er Jahre war es die Öffnung der Grenzen in Mittelosteuropa nach den Jahrzehnten der Abschottung, die als eine Rückkehr nach Europa erlebt wurde, vor allem in Baltischen Ländern. Und es war die neue Freiheit, die eine bislang unbekannte Handlungsmöglichkeit – die Migration – in ein westeuropäisches Land eröffnete und gleichzeitig die Option einer Rückkehr offenhielt, anders als während des Kalten Krieges. In den folgenden Jahren der Transformation war die Migration meist eine Bewältigungsstrategie der zunehmend problematischen wirtschaftlichen Situation, als Folge des Zusammenbruches des sozialistischen Systems und seiner Institutionen, des Abbaus von Frauenberufen (Textilmaschinenführerin, Schneiderin), der Schließung wissenschaftlicher Institute, des Mangels an Studienplätzen und an bezahlter Arbeit sowie der Verschlechterung der Lebensbedingungen, denen Frauen zu entkommen versuchten. Hinzu kam eine ausgeprägte Neugier auf das Leben in Westeuropa im Motivbündel von migrierenden Frauen. Nach dem Einzug der Marktwirtschaft und der fortschreitenden Kapitalisierung der Gesellschaft wollten zahlreiche Frauen ab Mitte der 1990er Jahre als Akteurinnen mit ihrer Migration neues kulturelles Kapital akkumulieren, vor allem Sprachkenntnisse und Bildungsabschlüsse, um den Umbruchsprozessen mit neuen Qualifikationen begegnen zu können und sich alternative Handlungsmöglichkeiten zu erschließen. Migrierende Frauen wollten in den gesellschaftlichen Transformationsprozessen nicht zu Opfern werden, aufgrund des Verlustes ihrer relativen Gleichstellung und des sicheren Einkommens, die sie in den vormals sozialistischen Arbeitsgesellschaften hatten (Uspenskaya/Borodin, 2004: 238f; Watson, 1996). Schließlich hatten Migrantinnen auch den Wunsch nach Teilhabe an westlicher Lebensqualität und an den Konsumangeboten, wollten vielleicht einen Partner im Migrationsland 1 | Mein Text gibt Aussagen der biographischen Erzählungen der Migrantinnen wieder; zu den angesprochenen Theme gibt es eine umfangreiche Literatur u.a.: Funk/Müller, 1993; Lemke et al., 1996; Watson, 1996; Buckley, 1997; Titkow, 1999; Gal/Klingman, 2000a; Jähnert, et al., 2001; Verdery, 2001; Robila, 2004a; Ritter, 2007; Nickel, 2009; Binder, 2011.

6. Migrationsmotive, Handlungsvermögen, Statuspassagen

finden oder migrierten als Heiratsmigrantin zu ihrem zukünftigen Ehemann, um auf diese Weise ihre Vorstellungen von einem besseren Leben zu verwirklichen. Die genderspezifischen Transformationsprozesse vollzogen sich in Mittelosteuropa im Verlauf der Jahre in unterschiedlichen nationalen Ausprägungen (vgl. Gal/Klingman, 2000a; 2000b; Jähnert et al., 2001) mit denen sie die Zusammensetzung der Motivbündel beeinflussten. Mit der neoliberalen Umstrukturierung der Wirtschaft und der damit einhergehenden geschlechtsspezifischen Umgestaltung der Arbeitswelt (Steinhilber, 2001) verlief die gesellschaftliche Transformation in den meisten Ländern »überraschenderweise zu Ungunsten von Frauen«, wie Choluj für Polen feststellt (2011: 114). Für Frauen verringerten sich die Verdienst- und Karrieremöglichkeiten, ebenso die Möglichkeiten Familie und Beruf zu vereinbaren, denn die Infrastruktur der staatlichen und betrieblichen Einrichtungen zur Kinderbetreuung war zusammengebrochen, z.B. in Russland (Hinterhuber/Strasser-Camagni, 2011:153f; Uspenskaya/Borodin, 2004; Rotkirch/Haavio-Mannila, 1996). Im Kontext der gesellschaftlichen Diskurse änderten sich auch die ideologischen Sinnsprüche, so wurde in Litauen der sozialistische Slogan »a woman worker in production« in der Transformationszeit zu »a woman mother in the family« (Juozeliuniene/Kuzmicekaite, 2004: 217). In Polen kulminierte diese Entwicklung in der Abtreibungsdebatte, denn konservative Kräfte wollten an die katholische Vorkriegstradition anknüpfen, in der die Frau in der Familie verortet war (Choluj, 2011: 115; Zielinska, 2000). Kontroverse Diskussionen um die Reproduktionspolitik waren auch in anderen Ländern Mittelosteuropas mit der Transformation verbunden (Gal/Kligman, 2000a: 15f; 2000b). Gleichzeitig unterzogen Frauen in Mittelosteuropa im universitären Bereich und in den neuen NGOs die westlichen Gender-Theorien einer kritischen Rezeption, die in zwei Phasen verlief. Sie begann 1995 nach der UNWeltfrauenkonferenz in Beijing und in den darauf folgenden Begegnungen von Frauen aus Ost- und Westeuropa (Molyneux, 1996). Ab 2000 setzte sie sich fort mit der nachdrücklichen Einflussnahme der Europäischen Union auf genderspezifische Transformationsprozesse in den zukünftigen EU-Beitrittsländern Mittelosteuropas, für die die EU eine »Roadmap for equality between women and men« zwischen 2006 und 2010 proklamierte (Krizsan, 2011)2 . Der Transfer von Genderwissen von West- nach Mittelosteuropa führte zu komplexen Wechselbeziehungen zwischen den vormals sozialistischen und älteren traditionellen Rollenbildern, nach denen die Frau in Heim und Familie ihren Platz hatte, sowie dem Geschlechtergleichstellungsrecht der EU, das seit den 2 | Die über die Jahre geschaffenen institutionellen Mechanismen für Gender-Gleichheit in den einzelnen mittelosteuropäischen EU-Ländern beschreibt Krizsan detailliert (2011: 82-90).

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Mittelosteuropäische Migrantinnen in Berlin

1990er Jahren als Querschnittsaufgabe in den EU-Verträgen verankert ist (Prechal/Burri, 2009). Unterschiedliche Diskurse und Veränderungen in lokalen und regionalen Kontexten spiegeln die Komplexität der Gendertransformation, den die Gesellschaften der mittelosteuropäischen Länder durchlaufen haben und die noch nicht abgeschlossen ist (Binder, 2011: 13f; Klein, 2010).

6.2 H aup tmotive und F ormen der M igr ation Aus dem Motivbündel ergaben sich für jede Migrantin ganz persönliche Push- und Pull-Faktoren für das Hauptmotiv, den Anlass für ihre Migration. Push-Faktoren waren Arbeitslosigkeit, knappe Studienplätze, die oft nur gegen Bestechung vergeben wurden, schlechte Job­aussichten, auch nach einem Studium, ungenügende Bezahlung, die zum Leben nicht ausreichen würde und bei einigen Frauen auch ein Gefühl der Einsamkeit »alle Freunde aus der Studienzeit waren schon im Ausland«, wie eine Migrantin aus Litauen sagte. PullFaktoren waren »ein besseres Leben« in Westeuropa, Erzählungen anderer Migrantinnen über Berlin, die Möglichkeit zu studieren und einen Arbeitsplatz mit einem auskömmlichen Verdienst zu finden, vor allem in IT-Berufen. PullFaktor war auch die relative Nähe Berlins zu den mittelosteuropäischen Herkunftsländern, »wir fahren jedes zweite Wochenende nach Posen« und »Flüge nach Russland sind jetzt billiger, da kann ich mit den Kindern jede Schulferien hinfliegen«. Sieben Migrantinnen erwähnten auch ihre positiven Erfahrungen bei einem früheren Aufenthalt in Deutschland, die ihre Migration beeinflusst haben: drei Migrantinnen hatten bereits an einem Schüler- oder Studentenaustausch teilgenommen, zwei Frauen hatten einen Erholungsurlaub als Tschernobyl-Kind in Deutschland verbracht und zwei Migrantinnen hatten die frühere Stationierung ihrer Familie bei der Westgruppe der Sowjetischen Streitkräfte in der DDR in guter Erinnerung. In der zweiten Dekade der Ost-West-Migration haben sich die länderspezifischen Push- und Pull-Faktoren im Motivbündel etwas verändert. Zu den genderspezifischen Push-Faktoren im Verlauf der Transformation kam bei den Pull-Faktoren die Freizügigkeit hinzu, die seit 2004 und 2007 eine rechtlich unkomplizierte Möglichkeit der Migration aus den Ländern Mittelosteuropas bietet, die der EU beigetreten sind. Und für Bildungsmigrantinnen aus NichtEU-Ländern Mittelosteuropas ermöglicht das deutsche Zuwanderungsgesetz seit 2005 ein verbessertes Aufenthaltsrecht, das bis zu zehn Jahren verlängert werden kann (§§ 16-20 AufenthG; Kapitel 9). Im Motivbündel der Push-Faktoren war oft auch ein diffuses Gefühl der Unzufriedenheit enthalten, das gespeist wurde aus den schwierigen Lebensumständen in der Transformationszeit und den mangelnder Perspektiven für substantielle Verbesserungen in naher Zukunft. So gab es in den biogra-

6. Migrationsmotive, Handlungsvermögen, Statuspassagen

phischen Erzählungen der Migrantinnen aus verschiedenen Ländern und zu unterschiedlichen Zeiten eine verblüffende Gemeinsamkeit für ihren Entschluss bspw. im Jahr 1997 als Bildungsmigrantin die Halbinsel Krim in der Ukraine zu verlassen, 2001 aus Kaunas in Litauen als Au-pair in die Migration zu gehen, 2003 aus Novosibirsk in Russland als Bildungsmigrantin oder 2007 als Arbeitsmigrantin aus einem Dorf in Ost-Rumänien aufzubrechen, um in Berlin einen neuen Lebensabschnitt zu beginnen. Diese vier Migrantinnen – wie auch andere – fügten nach der Beschreibung ihres Hauptmotivs für die Migration fast wortgleich hinzu »… ich wollte einfach nur weg«. Das Hauptmotiv bestimmte die formale Umsetzung in vier Migrationsformen: • • • •

Migration im Kontext der Familie, (temporäre) Arbeitsmigration, Bildungsmigration und Au-pair-Aufenthalt, Heiratsmigration zur Familienbildung.

Diese vier Migrationsformen sind die aktuellen mittelosteuropäischen Varianten der gegenwärtigen weltweiten Frauenmigration und die Relation der Zahlen im Sample ist in etwa vergleichbar mit der offiziellen Zuwanderungsstatistik in Deutschland. Von hundert Migrantinnen im Sample hatten vierzehn Frauen ein familiäres Hauptmotiv für ihre Migration: neun Frauen waren gemeinsam mit dem Ehemann und ihren kleinen Kindern zugewandert und fünf junge Migrantinnen wurden als Töchter der Familie in die Migration »mitgenommen«. Migrationen im Familienkontext als Ehefrauen und Töchter waren meist als permanente Zuwanderung geplant (Kapitel 7). Ein ökonomisch geprägtes Hauptmotiv hatten zwölf Migrantinnen bei ihrem Entschluss nach Deutschland zu migrieren, um Arbeit und ein besseres Auskommen zu finden, einige von ihnen auch, um die Versorgung ihres (zurückgelassenen) Kindes oder ihrer Kinder und der sie betreuenden Verwandten im Herkunftsland zu sichern. Die meisten Arbeitsmigrantinnen verstanden ihre Zuwanderung anfangs als temporären Arbeitsaufenthalt. Elf von ihnen wanderten aus EU-Ländern zu, die meisten aus Polen (5) und Lettland (3), und je eine Frau aus Litauen, Ungarn und Rumänien. Eine Arbeitsmigrantin kam aus der Ukraine, sie war die einzige aus einem der russischsprachigen Länder, die nicht zur EU gehören. Sie hat jahrelang illegal in Berlin gelebt und »schwarz« gearbeitet, bis sie über eine Heirat mit einem aus Russland stammenden eingebürgerten Deutschen eine Aufenthaltserlaubnis erhielt (Kapitel 8). Bei einem Drittel der Frauen (33) im Sample war das Hauptmotiv ihrer Migration der Wunsch nach weiterer Bildung, sie kamen als Au-pairs (10), als Bildungsmigrantinnen (21) und Sprachschülerinnen in beiden Dekaden der Ost-West-Migration aus EU- und aus Nicht-EU-Ländern. Während diese Mig-

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rationsformen üblicherweise als temporäre Aufenthalte geplant werden, hatten die meisten Frauen, vor allem aus den Nicht-EU-Ländern, das Ziel, ihre Bildungsmigration für eine permanente Zuwanderung zu nutzen. Diesen Plan haben sie erfolgreich umgesetzt, nach dem Studium sind sie in Berlin geblieben, fast alle haben sich als hochqualifizierte Fachkräfte beruflich etabliert, alle haben geheiratet und eine Familie gegründet (Kapitel 9). Den größten Anteil der Migrantinnen meines Samples bilden einundvierzig Frauen, die mit dem Motiv »Liebe und Ehe« zur Familienbildung als Heiratsmigrantinnen zu ihrem – gerade angetrauten oder zukünftigen – Ehemann, meist einem Deutschen, nach Berlin zugewandert sind. Heiratsmigrantinnen kamen mit dem Ziel dauerhaft in Deutschland zu bleiben (Kapitel 10). Einige Migrantinnen berichteten in ihren biographischen Erzählungen auch von politischen Gründen, die sich in ihrem Herkunftsland im Verlaufe der Transformationsprozesse entwickelten und zu ihrem Migrationsmotiv wurden. Das ist zum Beispiel die Zugehörigkeit zu einer Minderheit, wie zu den ungarischen Szeklern in Rumänien (Hermann, 2009; Pal-Antal, 2009). Aus der Szekler-Minderheit stammen eine Bildungsmigrantin und eine zugewanderte Ehefrau im Sample. Die Zugehörigkeit zur neuen russischsprachigen Minderheit in Lettland (Rupp, 2007) war für drei Arbeitsmigrantinnen das Hauptmotiv für ihre Migration. Nach der Unabhängigkeit Lettlands und in der wirtschaftlich schwierigen Transformationszeit dort und in Rumänien fühlten sie sich auf dem Arbeitsmarkt stark benachteiligt, so dass sie im Herkunftsland »keine Perspektive mehr gesehen haben«. Auch die aktuelle innenpolitische Entwicklung, der Neo-Nationalismus in Ungarn (Haynes, 1995; Frank, 1995; Niedermüller, 2001) und die Kulturpolitik in der Slowakei (Blehova/ Bachmaier, 2004) machte es zwei Künstlerpaaren unmöglich, dort weiterhin an ihren künstlerischen Projekten zu arbeiten und bewog sie zur Migration. Zeitgeschichtliche Ereignisse in Mittelosteuropa, insbesondere Zwangsumsiedlungen, wie der »Bevölkerungsaustausch« in der Stalin-Ära zwischen 1945 und 1950, mit dem das Gebiet der ehemaligen Sowjetunion vergrößert wurde, beeinflussten die Migration einiger Frauen aus betroffenen Familien, denn sie waren als tradierte Narrative der Familie im Migrationsbündel enthalten. Im Verlauf der »Polnischen Westverschiebung« (Sienkiewicz, 2009; Ciesielski, 2006) waren die Familien von zwei Arbeits- und einer Bildungsmigrantin aus dem früheren Ostpolen an der (alten) russischen und ukrainischen Grenze nach Westpolen umgesiedelt worden. Eine ukrainische Migrantin stammt aus einer alten ostslawischen Minderheit, den Bojken und sie erzählte vom Trauma ihrer Familie aufgrund der Umsiedlung und von ihrer eigenen lebenslangen Suche nach Spuren ihrer Herkunft und nach der eigenen Identität. Die Bojken haben bis 1947 in Südostpolen gesiedelt, wie auch die Lemken, zwei ruthenische Völker griechisch-orthodoxen Glaubens. Aus Vergeltung für ihre Unterstützung der ukrainische Partisanen im zweiten Weltkrieg, wurden

6. Migrationsmotive, Handlungsvermögen, Statuspassagen

die Bojken 1947 in der polnischen »Aktion Weichsel« zwangsumgesiedelt, ein Teil in die heutige Ukraine, ein Teil in andere Regionen Polens (Sienkiewicz, 2009: 212f; Snyder, 2010: 333f). Ihre Häuser wurden niedergebrannt und ihr intensiv genutztes Siedlungsgebiet in Polen ist heute menschenleer. Die Familie der Migrantin wurde einige Jahre nach ihrer Umsiedlung aus Polen ein zweites Mal innerhalb der Ukraine umgesiedelt. Die Beispiele zeigen anschaulich, dass differenzierte und komplexe Migrationsgründe im Motivbündel enthalten sein können, neben dem für die formale Umsetzung der Migration angegebenen Hauptmotiv. Insbesondere gilt das bei Zuwanderungen von Frauen in Familienkontexten, den häufigsten Migrationsmotiven von Frauen, auch in meinem Sample mit fünfundfünfzig Migrantinnen. Das Motiv »Familie« sagt wenig aus über die persönliche Mischung im Motivbündel der Migrantin, wie biographische Interviews zeigten. Das plakative Beispiel hierfür ist: alle Migrantinnen in familiären Kontexten wollten in Berlin selbstverständlich erwerbstätig sein bzw. sich fortbilden oder ein Studium aufnehmen, um danach erwerbstätig zu werden (Kapitel 7 und 10).

6.3 D as (ide ale) M igr ationsalter Das Alter der interviewten Migrantinnen erstreckt sich über fünf Jahrzehnte, die Frauen waren zur Zeit ihrer Migration zwischen 8 und 53 Jahren alt. Die jüngste Migrantin im Sample wanderte als kleine Tochter mit ihrer Familie aus Polen zu, die auf ein besseres Leben hoffte, aber viele Schwierigkeiten hatte, die Eltern in ihren Berufen und ihre beiden Kinder in der Schule; schließlich konnte die Tochter nach einigen Rückschlägen eine Ausbildung zur Heilpraktikerin in Berlin abschließen und mit anderen Heilpraktikerinnen eine Gemeinschaftspraxis eröffnen. Die älteste Migrantin kam als geschiedene Frau nach ihrer Familienphase, um in Berlin mit Putzarbeiten Geld zu verdienen und aufgrund des Umrechnungskurses von Euro in Zloty einen besseren Verdienst zu erzielen, als es zu Hause in Polen möglich wäre. Sie will damit ihre Schulden aus der Familienphase zurückzahlen und das Studium ihrer Kinder in Warschau unterstützen. Diese Migrantin verfügte bereits über Erfahrungen in Berlin, denn sie hatte als junge Frau vor der Ehe einige Jahre in der Stadt gearbeitet. Offenkundig gibt es ein »ideales« Alter für eine Migration, es lag bei den Frauen meines multinationalen Samples zwischen 20 und 30 Jahren, denn mehr als zwei Drittel der Frauen (72) waren zum Zeitpunkt ihrer Migration in diesem Alter, davon etwa die Hälfte (37) zwischen 20 und 25 Jahren und die andere Hälfte (35) zwischen 25 und 30 Jahren. Dieses Alter ist ideal für den Beginn grenzüberschreitender (Weiter-)Bildungen, Berufsverläufe und Erwerbstätigkeiten, ebenso für die biologische Reproduktion. 15 Frauen sind im Alter

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zwischen 30 und 40 Jahren zugewandert, die beiden ältesten waren 45 und 53 Jahre alt und beide kamen als Arbeitsmigrantinnen. Jünger als 20 Jahre waren elf Frauen bei ihrer Migration, sie sind entweder als Kinder mit der Familie nach Berlin gekommen oder unmittelbar nach der Schule migriert, bspw. um als Au-pair Deutsch zu lernen. Zwei Tendenzen sind beim Migrationsalter der Frauen erkennbar: Migrantinnen aus den Nicht-EU-Ländern waren in beiden Dekaden bei ihrer Migration in der Tendenz jünger, von ihnen kamen die meisten (24) zwischen ihrem zwanzigsten und fünfundzwanzigsten Lebensjahr, unter ihnen zahlreiche Bildungsmigrantinnen, während Frauen aus den EU-Ländern in der Tendenz etwas älter zuwanderten, die meisten (25) im Alter zwischen fünfundzwanzig und dreißig Jahren und elf Frauen zwischen dreißig und vierzig Jahren.

6.4 H andlungsvermögen der M igr antinnen Jede Migration erfordert Handlungsvermögen, Entscheidungsfähigkeit und Kreativität der Migrantin in jeder der vier klassischen Formen der Frauenmigration, wie aus den biographischen Erzählungen hervorgeht. »Handlungsvermögen« (agency) wird von Ahearn als »die soziokulturell vermittelte Fähigkeit zu Handeln« definiert (2001: 112)3. Frauen, die es in mittelosteuropäischen Ländern aufgrund ihrer Sozialisation in der Zeit des Sozialismus gewohnt sind, über ein gleichberechtigtes Handlungsvermögen zu verfügen, nutzen es als Migrantinnen zunächst im Herkunftsland bei der Entscheidung, Abklärung und Vorbereitung ihrer Migration. Nach der Migration müssen sie ihr Handlungsvermögen in soziokulturell angepasster Form im sprachlich und kulturell neuen Berliner Lebensumfeld einsetzen, um selbstbestimmt handeln zu können und Entscheidungen zu treffen. Eingeschränkt wird ihr Handlungsvermögen durch Barrieren in beiden Außenwelten, im Herkunfts- und vor allem im Migrationsland, wo Rechtsvorschriften, anfängliche Sprachschwierigkeiten und eine mögliche Exklusion als Ausländerin, bspw. weil Zeugnisse aus dem Herkunftsland nicht anerkannt werden, das Handeln der Migrantin (zunächst) begrenzen können (vgl. Williams, 2010: 34f; Kapitel 9). Die meisten Barrieren können aber mit nachhaltigem Handeln im Laufe der Zeit überwunden werden, zumindest teilweise – wie die biographischen Erzählungen zeigen. Migrantinnen in meinem Sample haben ihre Handlungsfähigkeit in allen Lebensbereichen unter Beweis gestellt, als Ehefrauen 3 | Wichtige Autorinnen in der Diskussion von agency sind Strathern (1987), die agency bei Frauen im kulturellen Kontext Melanesiens erforschte, Canning (1993/94), die das Konzept aus feministischer Perspektive vertiefte und Ortner, die es zu empowerment erweiterte (1999: 146f).

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in Migrantenpaaren bei der dauerhaften Verlegung des gemeinsamen Lebensmittelpunktes der Familie nach Berlin und als mitmigrierte Töchter bei der Überwindung anfänglicher schulischer Schwierigkeiten und später mit dem erfolgreichen Abschluss ihrer Ausbildung oder ihres Studiums. Ein nachhaltiges Handlungsvermögen ist für Arbeitsmigrantinnen die Voraussetzung für Arbeitssuche und Erwerbstätigkeit in Berlin. Bildungsmigrantinnen stellen ihr Handlungsvermögen bei ihrem weiteren Studium in deutscher Sprache an einer Berliner Universität unter Beweis und anschließend bei der Umsetzung ihres mitgebrachten und in Berlin erweiterten kulturellen (Bildungs-)Kapitals auf dem Arbeitsmarkt in eine angemessene Berufstätigkeit ihrer Wahl mit einem guten Verdienst (Kapitel 7 bis 9). Heiratsmigrantinnen haben sich bei Migration zur Familienbildung zu einer tiefgreifenden Veränderung ihres Lebensentwurfs und meist zur Gründung einer binationalen Partnerschaft entschlossen, die zukünftig die bilinguale Erziehung der gemeinsamen Kinder zur Folge haben wird. Das erfordert Mut, Energie und Handlungsvermögen, zumal die berufliche Statuspassage der meisten Heiratsmigrantinnen in Berlin zunächst ungeklärt und später oft schwierig war. Ein Grund war, dass die Frauen sich in den ersten Jahren nach ihrer Zuwanderung auf den Auf bau ihrer Partnerschaft und Familie konzentriert haben. Ihr Aufenthaltsrecht ist in den ersten drei Jahren nach der Zuwanderung an den Bestand der Ehe gebunden4, sofern sie aus einem Land kommen, das nicht zur EU gehört; erst danach können sie ein eigenständiges, von der Ehe unabhängiges Aufenthaltsrecht erhalten; Heiratsmigrantinnen aus EU-Ländern haben seit 2004 bzw. 2007 Freizügigkeit (Kapitel 10).

6.5 S tatuspassagen : grenzüberschreitende B ildungs -, B erufs - und E rwerbsprozesse Die Erwerbstätigkeit der Frauen war in den mittelosteuropäischen Ländern während des Sozialismus selbstverständlich, auch in den wirtschaftlich problematischen Zeiten der Transformation, in denen es schwieriger geworden war, Arbeit zu finden. Alle Migrantinnen im Sample sind davon ausgegangen, eine Erwerbstätigkeit in Berlin aufzunehmen und alle berichteten von ihrer intensiven Jobsuche, die bei einem Teil der Heiratsmigrantinnen erfolglos verlief. Das meist nachdrückliche Bemühen der Migrantinnen um den Erwerb weiterer Bildung in Berlin und um eine angemessene Erwerbsarbeit nahm breiten Raum in den Interviews und in ihren Erzählungen ein. Die Frauen wollten anknüpfen an ihre in den Herkunfsländern geprägten Selbstbilder als erwerbs4 | In Härtefällen, wie häuslicher Gewalt oder Tod des Ehemannes kann die eigenständige Aufenthaltserlaubnis nach einem kürzeren Bestand der Ehe erteilt werden.

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tätige Frauen. Die berufliche Tätigkeit bzw. einer Weiterbildung in Berlin, um dieses Ziel zu erreichen, rückten häufig in den Mittelpunkt der Interviews, ebenso die Zufriedenheit der Migrantin, wenn sie es geschafft hatte, wie es bei den Bildungsmigrantinnen der Fall war, bzw. ihre Unzufriedenheit, wenn es bei der Suche nach einer Arbeit, die ihrer Ausbildung und ihren Interessen entsprach, Schwierigkeiten gab. Für die mittelosteuropäischen Migrantinnen waren ihre (grenzüberschreitenden) Bildungs-, Berufs- und Erwerbsprozesse ein substantieller Teil ihrer Lebensrealität und damit ein wichtiger Bereich in dieser Forschung. In der neueren deutschsprachigen Migrationsforschung wird für die Analyse dieses Übergangs das Konzept der »Statuspassage« verwendet (Nohl et al., 2010b: 10-16), das ursprünglich von Glaser/Strauss (1971) zur Untersuchung von Integrationsprozessen geprägt wurde. Für Migranten ist der Wechsel vom Herkunftsland in das Migrationsland eine besonders kritische Übergangsphase. Er ist häufig mit Erwerbsunterbrechungen und/oder einem – zumindest vorübergehenden – beruflichen Abstieg verbunden (Verwiebe, 2008: 191f; Kofman et al., 2000; Ackers, 1998). Mit dem Konzept der Statuspassage werden Veränderungsprozesse von Statuspositionen im Lebenslauf und deren Kontextbedingungen als Folge der Migration untersucht, um zu zeigen, wie Zugewanderte von einem beruflichen Status in einen anderen übergehen und welche Schwierigkeiten sie dabei haben, bspw. um als Bildungsmigrantin in den Status einer IT-Spezialistin oder einer Ingenieurin zu gelangen. Gleichzeitig kann mit dem Konzept analysiert werden, wie sich die Migration auf den weiteren Bildungs-, Berufs- und Erwerbsprozess auswirkt (Nohl et al., 2010b; Jungwirth, 2011a). Für den Kontext von Migrationen ist das Konzept zu »mehrdimensionalen Statuspassagen« erweitert worden (Nohl et al., 2010b: 11), um zu verdeutlichen, dass bei Migranten sowohl der Übergang zwischen Bildung und Arbeitsmarkt im lebensgeschichtlichen Verlauf betrachtet werden muss, als auch der Übergang zwischen den beiden Nationalstaaten. Untersuchungen der Statuspassagen hochqualifizierter Zuwanderer zeigten außerdem, dass auch eine dritte Dimension der Statuspassage, die partnerschaftliche und familienbezogene Lebensführung zu berücksichtigen ist, die ebenfalls den Übergang in den Arbeitsmarkt beeinflussen kann (Ackers/Gill, 2008: 232f). Die drei Dimensionen der Statuspassage überlappen sich, unterliegen wechselseitigen Modifizierungen und manifestieren sich in den grenzüberschreitenden Bildungs-, Berufs- und Erwerbsprozessen von Migrantinnen und Migranten (Nohl et al. 2010b: 10f; Jungwirth, 2011a). Die grenzüberschreitenden Bildungs-, Berufs- und Erwerbsprozesse sind bei Migrantinnen aus den postsozialistischen Ländern besonders interessant, weil zahlreiche Frauen bereits in der Transformationszeit im Herkunftsland erhebliche Veränderungen in ihrer Lebenssituation zu verkraften hatten und

6. Migrationsmotive, Handlungsvermögen, Statuspassagen

anschließend bei ihrer Migration komplexe Statuspassagen durchlebt haben. In dieser Forschung sind Migrantinnen aus allen vier Formvarianten der Frauenmigration enthalten, so dass ihre Bildungs-, Berufs- und Erwerbsprozesse in den verschiedenen Migrationszusammenhängen verglichen werden können (Tabellen 9 bis 12). Alle Migrantinnen im untersuchten Sample haben schließlich in Berlin die mehrdimensionale Statuspassage gut oder zumindest zufriedenstellend bewältigt. Die Auswertung ihrer grenzüberschreitenden Bildungs-, Berufs- und Erwerbsprozesse zeigte aber, dass die Dauer dieser Statuspassage sehr unterschiedlich war, wobei auch das Hauptmotiv und die Migrationsform eine Rolle gespielt haben. Die Dauer der grenzüberschreitenden Bildungs-, Berufs- und Erwerbsprozesse ist in der Migrationsforschung bislang kaum beachtet worden. Insbesondere bei den eindrucksvollen Statuspassagen der Bildungsmigrantinnen in meinem Sample wird deutlich, wie viel Zeit und Durchhaltevermögen die Frauen für einen erfolgreichen Abschluss investiert haben. Die fünfzehn Bildungsmigrantinnen mit Zweistudium in Deutschland und die sieben Aupairs, die ihr erstes Studium hier absolvierten, benötigten wenigstens acht Jahre, bei familiären Problemen bis zu vierzehn Jahren. Allerdings waren sie alle Werkstudentinnen, das heißt, sie haben ihren Lebensunterhalt »nebenbei« verdient, als Teilzeitmitarbeiterin an ihrem Uni-Institut oder in der Industrie, als Kellnerin, im Catering oder mit anderen Jobs (Kapitel 9; Tabelle 11). Bei Migrantinnen, die im familiären Kontext zugewandert sind steht zunächst das familienbezogene Handeln im Mittelpunkt ihres Überganges zwischen den Nationalstaaten. Die Statuspassage in ihrem Berufs- und Erwerbsprozess wird meist erst später angestrebt, was in der Regel mit Erwerbsunterbrechungen und beruflicher Disqualifikation im Migrationsland einhergeht (Williams, 2010; Kapitel 7 und 10). Die vorwiegende Übernahme der Familienaufgaben und der Kinderversorgung durch Frauen ist bei allen Migrantinnen eine relevante Dimension ihrer Statuspassage, die Unterbrechungen im Studium und bei der Erwerbsarbeit zur Folge hat sowie Reduzierungen der Arbeitszeiten und Benachteiligungen im Berufs- und Erwerbsprozess nach sich ziehen kann (vgl. Ackers, 1998; Verwiebe, 2004; 2008).

6.6 G ender als S trukturprinzip von M igr ation In dieser Forschung wird deutlich, dass Gender das zentrale Strukturprinzip der Migration von Frauen ist, das ihren gesamten Migrationsprozess bereits im Herkunftsland und dann im Migrationsland beeinflusst. Beginnend mit dem Bündel der Migrationsmotive von Frauen in den mittelosteuropäischen Herkunftsländern und den Hauptmotiven ihrer Migration, prägt Gender die grenzüberschreitende Bildungs-, Berufs- und Erwerbsprozesse der Migran-

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Mittelosteuropäische Migrantinnen in Berlin

tinnen und die Verwertung des erworbenen Bildungskapitals als Ressource bei der Inklusion in den lokalen Arbeitsmarkt. Gender wirkt sich gleichfalls strukturierend auf das Leben der Migrantinnen als Ehefrauen, Partnerinnen und Mütter in Berlin aus. Der Begriff gender ist von Oakley (1972/1993) in die sozialwissenschaftlichen Literatur eingeführt worden. Er bezeichnet das soziale Geschlecht, das auf soziokulturellen Wertungen beider Geschlechter basiert und zurückgeht auf historische Prozesse der geschlechtlichen Rollenverteilung, die sich durch die gesellschaftliche Praxis reproduzieren. Der Begriff geht auf feministische Diskurse zurück, die sich gegen die androzentrische Forschung in den Sozialwissenschaften wandten. Diese Kritik hat zur Wahrnehmung der Migrantin als eigenständig handelnde Akteurin geführt und weibliche Migrationen fanden Eingang in migrationswissenschaftliche Analysen (Kofman et al., 2000; Pessar/Mahler, 2003; Boyd/Greco, 2003; Morokvasic et al., 2003a, 2003b; Donato et al., 2006). Migrationsstudien haben außerdem gezeigt, wie sich wirtschaftliche, gesellschaftliche und rechtliche Rahmenbedingungen in den Herkunfts- und in den Migrationsländern auf die Migration von Frauen und Männern unterschiedlich auswirken und ihre Handlungsoptionen in unterschiedlicher Weise beeinflussen (Pedraza, 1991: 321; Aufhauser, 2000: 113). Im Kontext der gegenwärtigen Feminisierung der (Arbeits-)Migrationen ist Gender »the key dimension« zum Verständnis von Migrationen (Kofman et al., 2000: 194; Lutz, 2010). Vor dem Hintergrund dieser Forschungsergebnisse ist es offenkundig veraltet, wenn noch in der jüngeren deutschsprachigen migrationssoziologischen Literatur eine Aufteilung der Frauenmigration in abhängige und unabhängige Formen vorgenommen wird (Han, 2003: 26f; Oswald, 2007: 38f). Nach dieser Aufteilung gelten die Migrationen von Frauen im Familienkontext und zur Familienbildung als abhängige Migrationen, während es unabhängige Migrationen sind, wenn Frauen ohne Familie migrieren, um im Ausland zu arbeiten oder als Bildungsmigrantinnen ein Studium bzw. eine Ausbildung zu absolvieren (Han, 2003: 26). Jedoch zeigt sich in meinem Sample, dass zahlreiche allein zugewanderte Arbeitsmigrantinnen ihre Kinder im Herkunftsland zurückgelassen haben und sie mit ihren Betreuerinnen von ihrem Verdienst versorgen. Das wird in Studien aus anderen Migrationgebieten bestätigt (Hondagneu-Sotelo/Avila, 1997; Parrenas, 2001b; 2005). Das bedeutet, die Unabhängigkeit der Arbeitsmigrantinnen ist de facto sehr relativ. Hinzu kommt, dass die Migrantinnen in meinem Sample ihr Kind oder ihre Kinder nach Berlin nachholen wollten, sobald das rechtlich und/oder organisatorisch möglich ist (Kapitel 8.2). Widerspruch ist auch notwendig bei der Beschreibung der »abhängigen« Migration von Frauen: sie sind – so Han (2003: 26f). – die traditionellen Formen der Frauenmigration, jedoch sind es bloß »sekundäre Migrationen«, bei der die Ehefrau dem Ehemann folgt, der bereits im Migrationsland lebt. Die

6. Migrationsmotive, Handlungsvermögen, Statuspassagen

nachfolgende Frauenmigration stellt aber »keinen Selbstzweck« dar, sondern dient nur der Familienzusammenführung Bei dieser Etikettierung wird die Migrantin nicht als entscheidungs- und handlungsfähiges Individuum gesehen, sondern ausschließlich über die Familie definiert, als Abhängige ihres Ehemannes. Im Kontext der empirischen Daten meines Samples ist das nicht nachvollziehbar. Das Bild der abhängigen Migrantin basiert auf dem älteren Rollenmodell des Ehemannes als Pioniermigranten (zuletzt Poire, 1979; kritisch Morokvasic, 1984; Kofman, 1999; Hahn, 2000), das heutzutage und bei der relativen Gleichberechtigung der Geschlechter in Mittelosteuropa nicht zutreffend ist. Familienmigrationen in ihren aktuellen mittelosteuropäischen Varianten des späten 20./frühen 21. Jhs. sind von den Ehepartnern gemeinsam geplante und durchgeführte Migrationen (Kapitel 7.1 und 7.2).

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7. Migrantinnen in familiären Kontexten

Familiäre Hauptmotive waren in beiden Dekaden der Zuwanderung aus allen Herkunftsländern Mittelosteuropas der häufigste Anlass für die Migration der Frauen, den mehr als die Hälfte der interviewten Migrantinnen nannten. Familiäre Motive haben unterschiedliche Facetten: (1) die Migrantin wanderte gemeinsam mit ihrem Ehemann zu bzw. sie kam mit den Kindern nach Berlin, nachdem der Ehemann die Zuwanderung der Familie organisatorisch und/oder rechtlich vorbereitet hatte und aus diesem Grund in Berlin bereits eine Arbeit aufgenommen und eine Wohnung gesucht hat (Kapitel 7.1), (2) die Migrantin migrierte als Kind, wurde als Tochter von ihren Eltern oder ihrer alleinerziehenden Mutter in die Migration »mitgenommen«, wie fünf der interviewten Migrantinnen (Kapitel 7.3), (3) die Migrantin kam als Heiratsmigrantin zu ihrem (zukünftigen) Ehemann, denn auch die familienbildende Frauenmigration wird bei den Rechtsgrundlagen und in Statistiken unter familiären Migrationen subsumiert (Kapitel 10).

7.1 Z uwanderung von M igr antenpa aren Ein familiäres Migrationsmotiv hatten neun Migrantinnen, die mit ihrem Ehemann und den gemeinsamen kleinen Kindern in Berlin zuwanderten. Wandern Migrantinnen in einem familiären Kontext zu, sind sie nicht ganz auf sich allein gestellt bei ihrem Schritt in die neue, unbekannte Lebenssituation, anders als Arbeits- und Bildungsmigrantinnen. Der nationale Übergang vollzieht sich in der vertrauten Umgebung ihrer Familie und familiäre Belange stehen zunächst im Mittelpunkt ihres Lebens in Berlin, Einkäufe im Supermarkt zur Versorgung der Familie, die Suche nach einem Kitaplatz und die Schulanmeldung der Kinder. Erst nach einigen Monaten, manchmal auch Jahre später, besucht die Migrantin einen Deutschkurs und beginnt so die Status-

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Mittelosteuropäische Migrantinnen in Berlin

passage ihres grenzübergreifenden Bildungs-, Berufs- und Erwerbsverlaufes, die in der Regel langsamer verläuft, als bspw. bei Arbeitsmigrantinnen. In ihren biographischen Erzählungen berichten die Migrantinnen über die Planung und den Verlauf der Zuwanderung. Unmittelbar nach der Grenzöffnung migrierte ein polnisches Paar nach Berlin, weil der Mann sich an einer Universität in seiner Fachrichtung spezialisieren wollte. Nachdem er einen Job an der Universität gefunden hatte, kam auch die Migrantin mit ihrem ersten Kind nach Berlin. Sie fand nach ihrem Polonistik-Studium und ihrer Mitarbeit in einem polnischen Verlag keine passende Arbeit in der Stadt. Als es in der Ehe zu kriseln begann, hat sie eine Ausbildung zur Altenpflegerin absolviert, arbeitet seither in diesem Beruf und kann so ihre Kinder nach der Scheidung versorgen. Bei einem anderen polnischen Migrantenpaar der ersten Dekade hat der Ehemann in Berlin einen kleinen Betrieb in der Baubranche eröffnet, »eine GmbH«, wie die Migrantin im Interview betonte, um seine Firma abzugrenzen zu den inzwischen häufigen Ein-Mann-Firmen von Migranten mit Gewerbeschein. Der wirtschaftliche Erfolg der Firma ist aber nur mäßig, weil ihm als polnischer Anbieter »immer die Preise gedrückt werden«. Seitdem ihre Kinder in der Schule und im Hort gut aufgehoben sind, betreibt die Migrantin einen kleinen Laden in der ethnischen Ökonomie. Vor der Migration hatte sie Management an einer Fachhochschule studiert und anschließend in der IT-Branche gearbeitet. Im Interview kündigte sie an, demnächst Informatik studieren zu wollen, um danach einen krisenfesteren Job zu finden, als es ihr Lädchen ist. Eine russische Migrantin ist als ausgebildete Erzieherin gemeinsam mit ihrem Ehemann, einem Spät-/Aussiedler und mit ihren Kindern aus Russland zugewandert. Sie fand nach mehreren Deutschkursen und einem Pädagogik Studium an der FU in Berlin schnell eine Beschäftigung als Betreuerin an einer bilingualen russischsprachigen Schule. Ihr Ehemann macht Karriere im IT-Bereich einer Berliner Universität. Beispiele für die in jüngerer Zeit vermehrte Zuwanderung von qualifizierten Fachkräften aus mittelosteuropäischen Ländern sind ein tschechisches und ein polnisches Migrantenpaar. Beide Ehemänner sind Computerspezialisten und arbeiten seit einigen Jahren bei internationalen Firmen in Berlin, einer von ihnen als »game designer«. Beide Paare führten einige Zeit lang Wochenendehen, trafen sich mal in Tschechien bzw. Polen, mal in Berlin, während die Ehefrauen zu Hause ihr Studium abgeschlossen haben, erste berufliche Erfahrungen sammelten und ihr erstes Kind bekamen. Die Frauen migrierten mit den Kindern erst, als diese schulpflichtig wurden, damit sie in Berlin die Grundschule beginnen konnten. Beide Migrantinnen haben eine zufriedenstellende berufliche Tätigkeit in Berlin, mit der sie an ihre Ausbildung und an frühere Jobs im Herkunftsland anknüpfen: eine Migrantin arbeitet für eine

7. Migrantinnen in familiären Kontexten

deutsch-polnische Firma in der Touristikbranche an der Entwicklung neuer Projekte, ähnlich wie zuvor in Polen, die andere schreibt freiberuflich für tschechische Medien, wie schon vor ihrer Migration. 2010 kamen mehrere Migrantenpaare aus Lettland, der Slowakei, aus Ungarn und aus der ungarischen Minderheit Rumäniens, weil sie aufgrund der innenpolitischen Entwicklung in ihren Herkunftsländern für sich dort keine Zukunft mehr gesehen haben. Bei dem lettischen Migrantenpaar hatte der junge Ehemann aufgrund seiner Zugehörigkeit zur russischsprachigen Minderheit große Schwierigkeiten Arbeit zu finden. In Berlin hat er sich als Bauarbeiter mit einem Gewerbeschein selbstständig gemacht und hat hier genügend Aufträge, allerdings drücken seine meist russischen Auftraggeber gern die Preise und zahlen nicht pünktlich. Die junge Migrantin hatte zur Zeit des Interviews den Integrationskurs begonnen, ging aber nicht davon aus, dass sie anschließend in Berlin eine Beschäftigung in der Tourismusbranche finden wird, in der sie in Riga tätig war, sagte aber voller Motivation »I am prepared to do any job«. Bei dem Migrantenpaar aus der ungarischen Szekler-Minderheit in Rumänien konnte der Ehemann nach Abschluss seines naturwissenschaftlichen Studiums bei den wenigen Jobs, die es in Rumänien in diesem Bereich gibt, als Szekler keine Arbeit finden. Nachdem er weltweit Bewerbungen verschickt hatte, fand er an einem renommierten Forschungsinstitut in Berlin eine Arbeitsstelle, die seinen Vorstellungen entspricht. Die Migrantin absolvierte zur Zeit unseres Interviews den Integrationskurs, in dem auch ihr Baby betreut wurde. In Rumänien war sie Englischlehrerin, hat längere Zeit im englischsprachigen Ausland gearbeitet und möchte später in Berlin Unterricht in Business Englisch anbieten. Das Paar war gerade dabei auch die ungarische Staatsangehörigkeit als Doppelstaatler zu erwerben, was seit 2010 für »Auslandsungarn« möglich ist. Sie erhalten dann einen Pass als Ungarn, als die sie sich immer schon fühlten. Politische Gründe waren für zwei Künstlerpaare aus Ungarn und der Slowakei der Anlass nach Berlin zu kommen. In Ungarn ist seit 2010 keine freie künstlerische Arbeit mehr möglich, nachdem die rechtskonservative Regierung ein Mediengesetz und eine staatliche Kontrollbehörde eingeführt hat. Das junge Migrantenpaar war in Budapest für Projekte in Medien und in der Werbung tätig, in Berlin haben sie immer mal wieder kleinere Aufträge, sehen aber für ihre (wirtschaftliche) Zukunft noch viele Fragezeichen. Beide sind begeistert von der kreativen Atmosphäre in der Stadt »Berlin is the best place to live now« sagten die Migrantin bei meinem Besuch. Auch in der Slowakei hat sich in den letzten Jahren das Umfeld für kulturelle und künstlerische Tätigkeiten verschlechtert, so wurde bspw. die Förderung von Film-Projekten eingestellt. Für ein junges Migrantenpaar, bei dem der Ehemann deutsche Wurzeln hat, gab das den Ausschlag, einen künstle-

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Mittelosteuropäische Migrantinnen in Berlin

rischen Neuanfang in Berlin zu suchen. Die Migrantin ist ausgebildete Erzieherin, ein derzeit ein Berlin gesuchter Beruf, jedoch wird ihre Ausbildung hier nicht anerkannt. Nach längerer Suche fand sie schließlich eine Beschäftigung als Erziehungshelferin in einer Grundschule, die jedoch schlechter als die einer Erzieherin bezahlt wird.

7.2 G ründe der nachfolgenden M igr ation von E hefr auen Die neun Familienmigrationen im Sample sind von beiden Ehepartnern gemeinsam geplant und zusammen verwirklicht worden. Gleichwohl zeigt der Verlauf ihrer Zuwanderung Gemeinsamkeiten, die zur Verwechslung führen könnten mit der in der Forschung lange Zeit dominierenden Sicht auf Migrationen: der Mann als Pionier der Migration und Ernährer der Familie, dem die Ehefrau später mit den Kindern als »abhängige« Migrantin nachfolgt (Piore, 1979; Han, 2003: 26f; vgl. Kapitel 6.6). Tatsächlich sind alle neun Migrantinnen im familiären Kontext mit ihrem ersten Kind oder ihren Kindern erst nach ihren Ehemännern in Berlin zugewandert. Für diesen Migrationsverlauf nannten die Migrantinnen rechtliche und organisatorische Gründe oder die eigene Lebensplanung. Es ist interessant, die Gründe für ihre spätere Zuwanderung genauer anzusehen. Die beiden polnischen Migrantenpaare, die vor dem EU-Beitritt Polens 2004 in Berlin zuwandert sind, mussten aufgrund der damals gültigen rechtlicher Vorschriften nachweisen, dass einer von ihnen mit einer Erwerbstätigkeit ein ausreichend hohes Einkommen erzielt und über eine Wohnung für die Familie verfügt. Beide Ehemänner sind deshalb zuerst nach Berlin gekommen, um die aufenthaltsrechtlichen Voraussetzungen für die Migration ihrer Ehefrau und Kinder zu schaffen. Diese Vorschriften gelten gegenwärtig weiterhin für Migrantenpaare aus den Drittstaaten Mittelosteuropas, die nicht in der Europäischen Union sind (§§ 27-36 AufenthG). Von dieser Regelung nicht betroffen war das Migrantenpaar aus Russland, das als einziges tatsächlich gemeinsam mit den Kindern migriert ist, weil der Ehemann als Spät-/Aussiedler rechtlich geregelt mit der ganzen Familie zuwandern konnte. Sechs Migrantenpaare kamen nach 2004 bzw. 2007 aus Ländern Mittelosteuropas, die inzwischen zur EU gehören. Als EU-Bürger haben Familienmitglieder ein abgeleitetes Freizügigkeitsrecht und eine Familie kann zusammen zuwandern, unter der Voraussetzung der eigenständigen Existenzsicherung und einer ausreichenden Krankenversicherung (§ 4 FreizügigkeitsG; Kayser, 2011). Gleichwohl führten ein polnisches und ein tschechisches Paar über einige Jahre eine Wochenendehe zwischen Berlin und Polen bzw. Tschechien, wegen der Lebensplanung der beiden Ehefrauen. Sie wollten vor der Migration im Herkunftsland ihre Ausbildung abschließen, erste berufliche Erfahrun-

7. Migrantinnen in familiären Kontexten

gen sammeln und auch ihre Kinder im vertrauten heimatlichen Ambiente zur Welt bringen. Beide Migrantinnen kamen erst nach Berlin als ihr ältestes Kind schulpflichtig wurde, damit es in Berlin die Grundschule besuchen konnte. Die übrigen vier Migrantinnen migrierten erst mit ihren Kindern, nachdem die Ehemänner ihr Einkommen abgesichert und eine Wohnung für die Familie angemietet hatten. Das ist zwar für die Migration der Familienangehörigen von EU-Bürgern rechtlich nicht notwendig, für das Familienleben war diese organisatorische Vorbereitung aber vernünftig. Drei Migrantinnen haben in Berlin relativ bald eine Erwerbstätigkeit aufgenommen, als Tourismusentwicklerin in einer deutsch-polnischen Firma, als Erziehungshelferin an einer Grundschule und bei Medien im Herkunftsland (Tabelle 9). Bei zwei Dritteln der Migrantenpaare, in sechs Familien, ernährte der Ehemann und Familienvater in den ersten Jahren mit seinem Einkommen die Familie, bis die Kinder in den Kindergarten oder in die Schule gingen und die Ehefrauen ihre berufliche Statuspassage mit Deutschkursen, einer Weiterbildung oder einem Studium beginnen konnten. Es gibt aber auch die andere Variante der Migration von Ehepaaren, denn in meinem Sample sind vier Frauen als »Pionierinnen« zuerst in die Migration gegangen, deren Partner erst nach einigen Jahren der Fernbeziehung nachfolgten oder aufgrund aufenthaltsrechtlicher Vorschriften nachfolgen konnten. Zwei Migrantinnen kamen aus Moldawien, einem Drittstaat, der nicht Mitglied der Europäischen Union ist. Deshalb mussten beide Migrantinnen nachweisen, dass sie mit einer Erwerbstätigkeit ein ausreichend hohes Einkommen haben und über eine genügend große Wohnung für die Familie verfügen (§§ 27-36 AufenthG). Eine Migrantin heiratete ihre Jugendliebe in Moldawien während ihrer ersten Semesterferien an der Universität in Berlin. Danach musste der Ehemann in Moldawien bleiben. Die Migrantin hat ihr Informatikstudium in Berlin abgeschlossen und eine Arbeit in der IT-Branche aufgenommen. Damit hatte sie rechtlich und finanziell die Voraussetzung für die Migration ihres Ehemannes als Familiennachzug geschaffen und er migrierte ebenfalls nach Berlin. Inzwischen hat er sich mit einem eigenen Laden auch selbst eine Existenz aufgebaut. Die andere Migrantin aus Moldawien hat sich bei ihrer zweiten Eheschließung mit einem Landsmann dagegen ohne Erfolg bemüht, den Nachzug ihres Ehemannes der auch Vater ihres zweiten Kindes ist, bei der Ausländerbehörde genehmigt zu bekommen, so wie beide es geplant hatten. Ihr Einsatz für dieses Ziel war hoch, er dauerte fast drei Jahre und in dieser Zeit hat sie in zwei Jobs gearbeitet, kam auf mehr als 60 Arbeitsstunden in der Woche. So wollte sie genügend Geld für das aufenthaltsrechtlich geforderte Einkommen verdienen und in eine größere Wohnung umzuziehen. Sie engagierte einen Rechtsanwalt, der ihre Anträge bei der Ausländerbehörde »richtig« gestellt hat. Während des Antragsverfahrens wurden die finanziellen Voraussetzungen für

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Mittelosteuropäische Migrantinnen in Berlin

den Nachzug von Ehepartnern aus Drittstaaten gesetzlich angehoben. Weil im Lohn der antragsstellenden Migrantin nun aber 34 Euro für den jetzt erforderlichen neuen Betrag fehlten, wurde ihr Antrag schließlich abgelehnt. Die beiden anderen Migrantinnen im Sample, die zuerst zuwanderten, kamen aus den EU-Staaten Litauen und Polen und ihre Ehemänner konnten nach 2004 mit ihrer Freizügigkeit problemlos nach Berlin nachkommen. Die junge Litauerin war als Au-pair nach Berlin gekommen und hat danach als Werkstudentin ein Medizinstudium aufgenommen. Ihre Jugendliebe folgte ihr einige Jahre später als Student der Politikwissenschaft, das er in Berlin, ebenfalls als Werkstudent, mit einem Diplom abgeschlossen hat, während sich die Migrantin zur Fachärztin spezialisierte. Inzwischen hat das Paar ein Kind, das in Berlin geboren ist. Das vierte Migrantenpaar aus Polen war schon länger verheiratet, als die Ehefrau mit ihrem Kind nach Berlin kam, um sich eine Arbeit zu suchen, da die gemeinsame Firma in Polen insolvent zu werden drohte. Nachdem der Ehemann die Firma abgewickelt hatte, folgte er seiner Frau nach Berlin und baute hier eine kleinen Betrieb für Objektschutz auf. Nach dem zweiten Kind und nachdem die neue Firma den Lebensunterhalt der Familie sicherte, studierte die Ehefrau von Berlin aus als Pendlerin in Posen Tourismus, um sich beruflich weiter zu entwickeln und später entweder in Deutschland oder in Polen im Hotelgewerbe eine Beschäftigung aufnehmen zu können. Der Migrationsprozess dieser vier Paare zeigt, dass das Pionier- bzw. Ernährer-Modell auch in umgekehrter Form gelebt wird – zumindest im späten 20. und frühen 21. Jh. zwischen Mittelosteuropa und Berlin: zuerst wandert die Migrantin zu und baut sich eine Existenz auf, der Partner kommt später nach, nachdem die Rechtsvorschriften des Zuwanderungsgesetzes von der erwerbstätigen Ehefrau erfüllt werden können oder der Ehemann die eigene Migration mit seiner Lebensplanung abgestimmt hat. Nach meiner Kenntnis werden nachfolgend migrierende Ehemänner in der Migrationsliteratur nicht als »abhängige Migranten« bezeichnet, deren Zuwanderung kein Selbstzweck, sondern nur eine sekundäre Migration ist, wie es Han für nachfolgende Ehefrauen formuliert hat (2003: 26f; vgl. Kapitel 6.6).

7.3 T öchter werden » mitgenommen « in die M igr ation Zur Migration im familiären Kontext gehören auch fünf Migrantinnen, die als Töchter zugewandert sind. In den frühen 1990er Jahren kamen zwei Migrantinnen im Alter von 13 bzw. 18 Jahren mit ihren Familien aus der ehemaligen Sowjetunion nach Berlin, einige Jahre später waren ihre Herkunftsländer Russland und Moldawien. Die russische Familie gehörte zur Westgruppe der Sowjetischen Streitkräfte in der DDR und bei deren Abzug im Sommer 1994

7. Migrantinnen in familiären Kontexten

entschied sie sich in Berlin zu bleiben, denn der Vater war hier in einer Sprachschule als Lehrer tätig. Es folgten ein jahrelanges Leben aus Koffern und ein hartnäckiger Kampf der Familie um ein Aufenthaltsrecht in Berlin, das sie schließlich erhalten hat, nachdem die Mutter als Betreuerin in einem Projekt für Migranten tätig war. Die Tochter studierte nach dem Abitur Psychologie und jobbte »nebenher« in der Gastronomie, als Putzfrau und im Empfang von Arztpraxen. Nach einigen Semestern in Berlin begann sie zusätzlich Psychologie im Fernstudium an einer russischen Universität zu studieren, um später in beiden Ländern arbeiten zu können. Nach Jahren harter Arbeit hat sie mit zwei Abschlüssen ihre beruflichen Ziele erreicht, ist als Psychologin auf Kinder und Jugendliche spezialisiert, berät russischsprachige Familien jeweils halbtags in einem Sozialzentrum und in der Praxis eines russischen Psychiaters. Sie liebt ihre Arbeit, »aber abends falle ich spätestens um 20 Uhr ins Bett«. Sie ist alleinerziehende Mutter eines kleinen Sohnes und hat seit kurzem einen russischen Lebenspartner. Die Tochter einer moldawischen Familie ist mit Eltern und Großeltern als jüdische Kontingentflüchtlinge nach Deutschland zugewandert. In Moldawien leben keine Verwandten mehr. Die Tochter wollte wegen ihres Freundes Moldawien nicht verlassen und hat darauf bestanden, dort das Abitur zu machen. Kurz nach dem Abitur »wurde ich nach Deutschland mitgenommen«, wie sie im Interview sagte. In Deutschland wurde (damals) das gerade bestandene moldawische Abitur nur als Realschulabschluss anerkannt, so dass sie zunächst ein technisches Fachabitur machen musste, um danach in Berlin ihr Wunschfach Informatik studieren zu können. In ihren ersten Semesterferien hat sie in Moldawien ihre Jugendliebe geheiratet, der aber erst Jahre später zuziehen konnte, nachdem sie ihr Studium abgeschlossen hatte und im ITBereich einer internationalen Firma zu arbeiten begann. Sie hat zwei Kinder und arbeitet derzeit 30 Stunden. Zur Zeit des Interviews hatte sie die deutsche Staatsbürgerschaft angenommen und kommentierte das »ich bin jetzt Deutsche, wie meine Töchter« (Kapitel 11.4.4) Drei junge Migrantinnen im Sample, die als minderjährige Töchter »mitgenommen« wurden oder später ihren alleinerziehenden Müttern nach Berlin folgten, hatten erhebliche Schwierigkeiten ihr Leben hier zu gestalten, während doch anzunehmen wäre, dass sie aufgrund ihrer frühen Migration und des Schulbesuchs in Deutschland gute Startbedingungen gehabt hätten. Aber für sie war es immens schwierig als Kind mit ihrer neuen Lebenssituation in Berlin zu Recht zu kommen. Die deutsche Sprache fiel ihnen schwer, sie fanden keine neuen Freundinnen, revoltierten gegen die schulischen Anforderungen und schafften erst nach mehreren Schulwechseln im zweiten oder dritten Anlauf einen Schulabschluss. Die Berufsfindung, ihre Ausbildung und das Beziehungsleben waren ebenfalls mit Problemen verbunden. Eine junge Polin hat schließlich mit Anlaufschwierigkeiten eine Ausbildung zur Heilpraktike-

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Mittelosteuropäische Migrantinnen in Berlin

rin absolviert und versucht sich beruflich zu etablieren, eine junge Lettin lebt alleinerziehend mit ihrem Baby derzeit von Hartz IV und will später das Abitur und eine Ausbildung nachholen und eine andere junge Lettin hat den Realschulabschluss geschafft und eine Ausbildung zur Kita-Erzieherin begonnen, obwohl das nicht ihr Berufswunsch war; später möchte sie etwas mit Kunst machen. Die Schwierigkeiten dieser jungen Frauen haben wohl ihren Ursprung in der Tatsache, dass sie nicht aus eigenem Entschluss in die Migration gegangen sind, um sich ein neues Leben aufzubauen. Sie haben aber auch mit der Forschungserkenntnis zu tun, nach der sich bei der Migration eines jungen Menschen in der Adoleszenzphase, etwa im Alter zwischen 13 und 19 Jahren, die für dieses Entwicklungsstadium typischen Transformationen mit den migrationsbedingten Veränderungsprozessen vermischen. Das hat für jugendliche Migranten eine schwer zu bewältigende »verdoppelte Transformationsanforderung« zur Folge (King, 2005).

7.4 B ildungs -, B erufs - und E rwerbsprozesse Die Migrantinnen, die als Töchter nach Berlin zuwanderten, sind alle Bildungsinländerinnen, die ihren Schulabschluss und ihr Studium in Deutschland absolviert haben; eine von ihnen musste dafür noch einmal das Abitur machen, weil das aus ihrem Herkunftsland damals nicht anerkannt wurde. Ihre Bildungs- und Berufsprozesse sind deshalb nicht grenzüberschreitend, bis auf einige Schuljahre, die sie im Herkunftsland verbracht hatten. Zwei Töchter haben einen beeindruckenden Bildungs- und Erwerbsprozess durchlaufen, eine ist Kinderpsychologin mit deutschem und russischem Diplom, die andere Informatikerin – und beide haben einen ausbildungsadäquaten Arbeitsplatz. Eine junge Heilpraktikerin ist auf einem guten Weg, sie baut sich in einem Team eine Praxis in Berlin auf, bei dessen Ausstattung sie Unterstützung vom Jobcenter erhalten hat. Eine Kindergärtnerin war noch in der Ausbildung, sie wird nach ihrem Abschluss ohne Mühe eine Stelle finden. Einen längeren Weg hat dagegen die junge alleinerziehende Mutter mit ihrer Ausbildung und Berufsfindung noch vor sich. Alle neun Migrantinnen, die mit Ehemann und Kindern zugewandert sind, hatten aus dem Herkunftsland schon Berufs- und Arbeitserfahrungen und ihr Aufenthaltstitel aus familiären Gründen berechtigte sie sofort zur Arbeitsaufnahme (§ 27 Abs. 5 AufenthaltsG). Sechs Migrantinnen haben die grenzüberschreitende beruflichen Statuspassage – nach eigener Aussage – zufriedenstellend geschafft, zwei von ihnen haben dafür in Berlin noch einmal ein Studium bzw. eine Ausbildung absolviert (Pädagogikstudium, Altenpflege), vier arbeiten in Berufen, die ihrer Ausbildung im Herkunftsland entsprechen

7. Migrantinnen in familiären Kontexten

(deutsch-polnische Projektentwicklung für Tourismus, Erziehungshelferin, künstlerische Projekte, journalistische Mitarbeit bei tschechischen Medien). Eine Migrantin betreibt ein Lädchen in der ethnischen Ökonomie, will aber nun in Berlin Informatik studieren. Zwei Migrantinnen waren beim Interview noch im Integrationskurs, weil sie erst vor kurzer Zeit nach Berlin zugewandert sind. Auch sie haben im Herkunftsland bereits Berufserfahrungen gesammelt und zeigten sich im Interview entschlossen und motiviert, hatten Ideen und Handlungsvermögen, um nach dem Integrationskurs den beruflichen Einstieg in den Arbeitsmarkt zu schaffen. Sie profitieren dabei von der neuen »Willkommenskultur« für Zuwanderer in Deutschland, denn sie können zeitnah nach ihrer Migration einen Integrationskurs mit Deutschunterricht besuchen, der auch Kinderbetreuung anbietet und erhalten anschließend Unterstützung bei der Jobsuche auf dem Berliner Arbeitsmarkt – als Service eines Einwanderungslandes für seine Neu-Bürger. Tabelle 9: Grenzüberschreitende Bildungs-, Berufs- und Erwerbsprozesse der Migrantinnen, die mit Ehemann und Kindern zugewandert sind Migration Alter im Herkunftsland

in Berlin bzw. Deutschland

1989

28 J.

Sprachstudium, Verlagsarbeit

Ausbildung und Arbeit als Altenpflegerin

1998

26 J.

Gärtnerin-Ausbildung, Studium für Management, Arbeit in IT-Firma

Laden in ethnischer Ökonomie, Informatikstudium?

1998

24 J.

Ausbildung und Arbeit als Erzieherin

Päd. Studium, Erzieherin in bilingualer Schule

2008

33 J.

Kunst-Studium, freiberufl. Projektarbeiten in Medien

journalistische Mitarbeit bei tschechische Medien

2009

28 J.

Studium Tourismus-Hotelgewerbe, Arbeit in Touristikfirma

Projektentwicklung in deutsch-polnische Tourismusfirma

2009

32 J.

Päd. Studium, Erzieherin

Erziehungshelferin in Grundschule

2010

31 J.

Studium, Arbeit in Touristik

Integrationskurs, Arbeit in Touristik?

2010

27 J.

Studium, Englischlehrerin

Integrationskurs, Unterricht in Business Englisch?

2010

32 J.

Studium, künstlerische Arbeit in Medien und Werbung

gelegentliche künstlerische Aufträge

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Mittelosteuropäische Migrantinnen in Berlin

7.5 R esümee : nachfolgende M igr ation in familiären K onte x ten Migrationen in familiären Kontexten bilden weltweit einen großen Anteil der Zuwanderungen (Han, 2010: 89, Tab.3), vor allem in den klassischen Einwanderungsländern, aber auch in der Europäischen Union (Kofman, 2004: 243) und in Deutschland. Bei Frauen sind sie die häufigste Form der Migration, die auch viele Heiratsmigrantinnen einschließt (Williams, 2010: 8; Aybek et al., 2013; Kapitel 10). Bei Migrationen in familiären Kontexten liegt in der Regel eine längerfristige bzw. dauerhafte Bleibeabsicht auszugehen. Anders als bei der hohen Zahl dieser Migrationform zu erwarten wäre, ist ihre Erforschung vernachlässigt worden, empirisch, methodisch und rechtlich, vor allem in Europa und der Europäischen Union (Kofman, 2004). Im Fokus des Forschungsinteresses steht die Arbeitsmigration, in den letzten Jahren auch die Bildungsmigration, seitdem der Gewinn von Fachkräften durch Zuwanderung ein wirtschaftliches Anliegen in vielen Ländern geworden ist, in Deutschland bspw. gefördert mit einer Fachkräfte-Offensive (www. fachkräfte-offensive.de). Die Familien der Migranten werden dabei eher als soziales Beiwerk der erwünschten – und monetär messbaren – Zuwanderung von Bildungs- und von qualifizierten Arbeitsmigranten verstanden. Das findet seinen Niederschlag auch in den Rechtsgrundlagen. Einerseits wird der Familiennachzug der Kernfamilie aufgrund von Art.6 Abs.1 des Grundgesetzes zum Schutze von Ehe und Familie gewährt (§ 27 Abs.1 AufenthG). Andererseits wird er für Migranten aus Drittstaaten an eine Reihe von Bedingungen geknüpft, die dazu führen können, dass ein Nachzug für Ehefrau und Kinder nicht möglich ist: der Migrant muss eine Aufenthaltserlaubnis und ein gesichertes Einkommen haben, sowie über ausreichenden Wohnraum für die Familie verfügen. Seit 2007 muss der nachziehende Ehepartner die deutsche Sprache für eine einfache Verständigung beherrschen und hierfür einen Nachweis erbringen. Positiv ist, dass nachziehende Ehepartner sofort zur Arbeitsaufnahme berechtigt sind (§ 27 Abs. 5 AufenthG), sofern sie eine adäquate Beschäftigung finden. Migranten aus EU-Ländern haben ein abgeleitetes Freizügigkeitsrecht von einem Verwandten, der über eine eigenständige Existenzsicherung und eine Krankenversicherung verfügt. Die Familiendefinition für EU-Bürger schließt Enkel und Großeltern mit ein (Kayser, 2011: 12). Ausnahmen zu diesen beiden unterschiedlichen rechtlichen Regelungen sind Spät-/Aussiedler und Jüdische Kontingentflüchtlinge aus Mittelosteuropa, bei denen die Zuwanderung der ganzen Familie über drei Generationen politisch gewollt und rechtlich geregelt ist. Auch für den Nachzug der (zurückgelassenen) Kinder in familiären Migrationskontexten finden diese beiden rechtlichen Regelungen Anwendung, hin-

7. Migrantinnen in familiären Kontexten

zu kommt die unterschiedliche Altergrenze: EU-Bürger können ihre Kinder bis zum 21. Lebensjahr nachholen, Migranten aus Nicht-EU-Ländern nur bis zum 16. Lebensjahr. Neben diesen Rechtsvorschriften liegen der Entscheidung zum Nachzug der Kinder auch organisatorische Gründe, die eigene Lebensplanung und Überlegungen zum Kindeswohl zugrunde, insbesondere die Fragen, ob die familiäre Migration dauerhaft sein wird und welche Entscheidung günstiger für die Schullauf bahn des Kindes ist (Kapitel 8.2).

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8. Arbeitsmigrantinnen – von der temporären Ressource zur permanenten Zuwanderung

Als klassische Arbeitsmigrantinnen gelten die Frauen, die wegen der wirtschaftlichen schlechten Situation im Herkunftsland aus ökonomischen Gründen migrieren, um sich Arbeit und Verdienst in einem anderen Land zu suchen. Sie migrieren allein – wie Bildungsmigrantinnen auch – und vollziehen den Schritt in die neue, unbekannte Lebenssituation, indem sie ihr Handlungsvermögen ausschöpfen. Arbeitsmigrantinnen gelten als die Protagonistinnen der Feminisierung der Migration. Aufgrund der großen Nachfrage in den Zielländern sind viele von ihnen in der sekundären Reproduktion, in Reinigungs- und Pflegejobs tätig und finden seit der Jahrtausendwende in Forschung und Literatur große Beachtung (Kapitel 1.4.3). Zwölf Frauen im Sample migrierten aus ökonomischen Gründen nach Berlin, elf von ihnen aus Herkunftsländern, die seit 2004/2007 zur EU gehören und eine Migrantin aus der Ukraine. Sie hat mehrere Jahre illegal in der Stadt gelebt und gearbeitet, bevor sie ihren Aufenthalt mit der Heirat eines eingebürgerten Migranten legalisieren konnte. Sie ist die einzige Arbeitsmigrantin unter den einundvierzig Frauen aus den russischsprachigen Ländern Mittelosteuropas, die übrigen sind Bildungs- oder Heiratsmigrantinnen. In der ersten Dekade der »neuen« Migration kamen fünf Frauen auf der Suche nach Arbeit nach Deutschland, eine Ungarin und vier Frauen aus Polen. In der zweiten Dekade migrierten sieben Arbeitsmigrantinnen aus wirtschaftlichen Gründen, drei aus Lettland, von denen zwei zur russischsprachigen Minderheit gehören, und je eine aus Litauen, Polen, Rumänien und die Migrantin aus Ukraine. Das Alter der zwölf Arbeitsmigrantinnen variierte bei ihrer Zuwanderung beträchtlich, es lag zwischen 18 und 53 Jahren.

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Mittelosteuropäische Migrantinnen in Berlin

8.1 A rbeitsmigr ation in biogr aphischen E rz ählungen Die beiden ältesten Migrantinnen migrierten nach ihrer Familienphase und sie wollen – so ihre derzeitigen Überlegungen – nicht dauerhaft in Berlin bleiben, sondern mit Beginn ihres Rentenalter nach Hause zurückkehren: die Litauerin Ona, 45 Jahre alt, lebt seit 2010 in der Stadt und die Polin Anita1, 53 Jahre alt, die 2009 zum zweiten Mal zum Arbeiten nach Berlin kam. Sie hatte als junge Frau vor der Ehe schon mehrere Jahre hier gearbeitet und konnte jetzt die Arbeitsstellen einer anderen Polin übernehmen. Beide Frauen sind alleinstehend bzw. geschieden, sie kamen, um mit Putzarbeiten ihren Lebensunterhalt zu verdienen und ihre Kinder zu Hause zu versorgen. Die Litauerin hat ihren Sohn bei ihrer Mutter zurückgelassen und unterhält beide, die Polin unterstützt ihre studierende Tochter und zahlt die Schulden zurück, die sich während der Familienphase in Polen aufgrund ihrer Arbeitslosigkeit angehäuft hatten. Einen ganz anderen Verlauf nahm die Migration von Zsofia, sie verließ schon 1991 mit 18 Jahren ihren kleinen Herkunftsort im südlichen Ungarn, weil sie nach ihrem Fachabitur für Bekleidungstechnik keine Arbeit in Ungarn gefunden hatte und auch um »andere Chancen kennenzulernen«. Sie hatte 1986 während eines Schüleraustauschs einige Monate in Teltow/Brandenburg am Rande Ost-Berlins gelebt und dort in einer Gärtnerei gearbeitet. Das Leben in Berlin empfand sie damals als »bunt« »mit vielen Geschäften und mit Straßenmusikanten«, was ihr gut gefallen hat. Ihre Migration begann sie ohne Deutschkenntnisse in Reutlingen als Näherin in einem kleinen Betrieb. Danach fand sie Arbeit in München in einem Restaurant, zunächst in der Küche, später als Kellnerin. Bei der Jobberei lernte sie Studenten aus anderen Ländern kennen und hörte von ihnen zu ihrer Überraschung »wie einfach man in Deutschland studieren kann«, das heißt, wie einfach es für ausländische Studierende ist, einen Studienplatz zu bekommen. Daraufhin erwarb Zsofia 1993/94 an einem Studienkolleg in Sachsen-Anhalt die Hochschulreife, jobbte in den Ferien in München und studierte anschließend an einer Fachhochschule in Berlin die Fächer Technik und Wirtschaft. Für ihren Abschluss als Diplom-Ingenieurin für Bekleidungstechnik im Jahr 2000 brauchte sie wegen der Jobberei sechs statt vier Jahre. Nach dem Studium arbeitete Zsofia in der Qualitätssicherung bei zwei bekannten Modefirmen in München und Düsseldorf. Seit der Geburt ihrer Töchter ist sie in Elternzeit. Sie würde gerne wieder in ihrem Beruf arbeiten, schätzt aber die Möglichkeiten in dieser Branche in Berlin nicht gut ein. Sie hatte gerade einen Mini-Job begonnen zur sozialen Betreuung von Migranteneltern in dem Moabiter Kiez, in dem sie wohnt, »zumindest wieder ein Anfang« wie sie sagt. 1 | Die Namen sind geändert, wie in dieser Arbeit bei allen Migrantinnen.

8. Arbeitsmigrantinnen

Mit ihrem Lebenspartner und Vater ihrer Kinder, einem Migranten aus Nordafrika, führt sie eine Wochenendehe, denn er arbeitet als Diplomingenieur in Norddeutschland. Zsofias Migrationsverlauf ist beeindruckend, sie migrierte aus ökonomischen Gründen für einen Job als Näherin, war dann Bildungsmigrantin und hat mit einem Werkstudium ihre Ausbildung zielstrebig im gleichen Fach fortgesetzt, in dem sie in Ungarn das Abitur gemacht hatte und hat in Berlin als Dipl.-Ing. (FH) abgeschlossen. Aus einem kleinen Ort in der Nähe von Stettin stammt Danuta, wohin ihre Familie nach dem Zweiten Weltkrieg aus Ostpolen umgesiedelt wurde. Mitte der 1990er Jahre verließ sie Polen mit 18 Jahren und sie ist die einzige Migrantin in ihrer großen Familie. Danuta hat nach der Grundschule an einer privaten Schule das Schneiderhandwerk gelernt und danach in einer kleinen Modefirma gearbeitet, die ihre Waren an Händler auf deutschen Märkten lieferte. Als die Händler Verkäuferinnen für Märkte in Ostdeutschland suchten, entschied sich Danuta für diesen Job und migrierte ohne Deutschkennnisse. Später ging sie nach Berlin, arbeitete wieder als Verkäuferin und lernte nebenher drei Jahre an einer polnischen Fernschule für ihren Mittelschulabschluss, den sie 2001 bestand. Weitere Jobs als Verkäuferin folgten in Berlin, bis sie bei ihrer Arbeit in einer türkischen Bäckerei ihren heutigen Ehemann als Kunden kennenlernte. Er betreibt einen Internethandel und sie ist seit der Geburt ihres Sohnes Hausfrau, später wollen sie zusammen ein Ladengeschäft in Berlin eröffnen. Barbara wuchs in einer Bauernfamilie in Zentralpolen auf und hat schon in ihrem Heimatdorf als Verkäuferin gearbeitet, weil es für ihren Beruf als Textilmaschinenführerin in den Transformationsjahren keine Arbeit mehr gab. Mit 22 Jahren ging sie Mitte der 1990er Jahre nach Berlin, denn sie hatte gehört, der Verdienst sei dort besser als in Polen. Als ersten Anlauf hatte sie eine Adresse von Bekannten dabei, die ihr aber nur Putzarbeiten in Privathaushalten auf Stundenbasis vermitteln konnten, womit sie auf Dauer nicht zufrieden war. 1998 hat sie in Berlin einen Spät-/Aussiedler aus Polen geheiratet, der als Elektriker in einem Kabelwerk tätig war. Zur Zeit des Interviews waren beide Eheleute arbeitslos, er absolvierte eine Weiterbildung als Betreuer in einer Kindertagesstätte, sie eine Umschulung zur ambulanten Altenpflegerin, arrangiert über das Jobcenter, das beiden nach ihren Abschlüssen Arbeitsplätze in den neuen Berufen vermitteln wird. Barbara ist auch eine Weiterbildung als Verkäuferin angeboten worden, in dem Beruf, in dem sie schon in Polen gearbeitet hat, sie entschied sich aber für die Tätigkeit als Altenpflegerin, der ihr krisenfester erschien. Auch Sylwia kommt aus einer großen Familie, die nach 1945 aus Ostpolen in die Nähe von Stettin umgesiedelt wurde. Gleich nach ihrem Abitur wurde sie mit achtzehn Jahren Mutter. Nach der Hochzeit blieb sie vier Jahre mit dem Kind zu Hause, ihr Mann war Automechaniker, verfiel aber immer mehr

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dem Alkohol. Sylwia eröffnete eine Boutique für Kinderkleidung und Kosmetik, musste sie aber bald wegen Insolvenz wieder schließen; später arbeitete als Verkäuferin in einem Warenhaus. 1999 ließ sie sich scheiden »das ging, wir waren nicht kirchlich verheiratet« und kam nach Deutschland, denn sie hatte über eine Partnervermittlung einen Spät-/Aussiedler aus Polen kennengelernt, in dessen kleiner Firma sie auch einen Job bekam. Ihren elf Jahre alten Sohn betreute fortan ihre Mutter in Polen. Heute studiert er Ökonomie und Marketing, spricht gut Englisch, aber kein Deutsch. Bei ihrer Migration sprach Sylwia kein Deutsch, sie lernte es aus dem Fernsehen und mit einem Wörterbuch. Als die Firma ihres Partners Pleite ging, versuchten sie zusammen einen Neuanfang in Polen, handelten u.a. mit gebrauchten Autos aus Deutschland, aber ohne großen wirtschaftlichen Erfolg. Nachdem sie sich getrennt hatten, migrierte Sylwia 2002 erneut, dieses Mal ins Ruhrgebiet, denn sie hatte in einer polnischen Zeitung eine Anzeige für einen Job als Kellnerin in einem türkischen Café gefunden. Der Betreiber »wollte aber heiraten«, wie sie sagte, deshalb suchte sie sich bald Putzarbeiten in Haushalten, die überdies mit 10 Euro pro Stunde auch besser bezahlt waren. 2006 siedelte sie mithilfe polnischer Kontakte, vermittelt von ihrem Bruder, nach Berlin um und arbeitete als Haushälterin mit einem Gewerbeschein drei Jahre lang in der Villa einer »reichen Familie«. Von Berlin aus konnte sie alle drei Wochen die Familie in Polen besuchen und von ihrem Verdienst die Eltern beim Unterhalt ihres Sohnes unterstützen. 2009 erhielt sie eine Arbeitserlaubnis »und ich ging in Hartz IV«; sie machte ein Kommunikationstraining über das Jobcenter und »lernte dabei viel« bspw. wie man Bewerbungen und einen Lebenslauf schreibt. Es folgte ein Praktikum in einem Seniorenheim »aber die Arbeit war zu hart«, dann ein neunmonatiges Praktikum in einem bilingualen polnischsprachigen Kindergarten, wo man sie jedoch anschließend nicht übernehmen konnte. Die Arbeit mit Kindern hat ihr gut gefallen und sie überlegt seitdem, ob sie eine Umschulung zur Kita-Betreuerin machen soll, wie ihr das das Jobcenter angeboten hat. Zunächst wurde sie wieder als Haushälterin in einen Villenhaushalt vermittelt, wo sie 30 Stunden in der Woche für 1040 Euro brutto im Monat arbeitet. Um mehr zu verdienen, würde sie lieber acht Stunden täglich arbeiten, »aber solche Jobs gibt es in Haushalten nicht«, deshalb putzt Sylwia an den Freitagnachmittagen mit anderen zusammen noch in einem Büro. Als freizügigkeitsberechtigte EU-Bürgerin migrierte Joana 2010 aus der Woiwodschaft Niederschlesien im südwestlichen Polen nach Berlin, um sich hier nach ihrer Scheidung eine neue Existenz aufzubauen. Sie war 34 Jahre und sprach etwas Deutsch. Joana brachte ihre fünfjährige Tochter mit, die einen bilingualen polnischsprachigen Kindergarten besucht und ließ ihren zwölfjährigen Sohn bei der Großmutter in Polen, damit er weiter in eine polnische Schule gehen kann. Ein Schulwechsel nach Berlin wäre für den Jungen

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problematisch gewesen, weil er nur wenig Deutsch spricht, aber auch, weil Joana noch nicht einschätzen konnte, ob ihre Migration temporär oder dauerhaft sein wird, was vom wirtschaftlichen Erfolg des kleinen Unternehmens in der ethnischen Ökonomie abhängt, an dem sie beteiligt ist. Mit ihrem Einkommen unterhält sie auch ihre Mutter und ihren Sohn, die sie einmal im Monat mit ihrer Tochter in Polen besucht. Die drei lettischen Arbeitsmigrantinnen berichteten im Interview und ihren biographischen Erzählungen über ihre Migration auf der Suche nach Arbeit. Inga wanderte alleinerziehend mit ihren drei Kindern (7, 9 und 10 Jahre) aus Lettland nach Berlin zu. Sie war 32 Jahre alt und hatte sich gerade von ihrem Mann getrennt. Die Migration der Familie nach Berlin hatte sie im Vorjahr ohne die Kinder vorbereitet, weil sie für sich keine berufliche Zukunft in Lettland sah. Inga sprach zunächst kein Deutsch und mit mehreren Jobs (Putzen, Klavier- und Akkordeonunterricht, Kinderbetreuung) versorgte sie ihre Kinder und begann eine Ausbildung zur Musiktherapeutin an einem anthroposophischen Institut. Ihre Kinder gingen in Berlin in eine Waldorfschule, hatten aber große schulische Schwierigkeiten, insbesondere mit der deutschen Sprache, deshalb kehrten die beiden älteren nach Lettland zur Großmutter zurück. Nach ihrer Schulzeit kamen sie wieder nach Berlin und suchten sich hier Jobs. Ingas Studium der Musiktherapie zog sich über Jahre hin, nicht zuletzt aufgrund der zahlreichen Jobs zur Existenzsicherung ihrer Familie, aber einen Studienabschluss hat sie nicht geschafft. Zur Zeit des Interviews bezog sie Hartz IV und begann gerade als »Hilfe im Haushalt« bei einem älteren Mann im Berliner Umland zu arbeiten und kann eine zwei-Zimmer-Wohnung im Souterrain seines Hauses bewohnen. Anja kam 2002 mit 28 Jahren aus den Nordosten Lettlands, wo es wegen ihrer Zugehörigkeit zur russischsprachigen Minderheit besonders schwer war, Arbeit zu finden. In Berlin hat sie jahrelang illegal gelebt und mit Putzarbeiten in der russischsprachigen Community »schwarz« ihr Geld verdient, um ihre Mutter und ihren kleinen nichtehelichen Sohn zu unterhalten, den sie bei ihrer Mutter zurückgelassen hatte. Anja sprach bei ihrer Ankunft kein Deutsch und auch Jahre später beherrschte sie es beim Interview noch immer ziemlich schlecht. 2006 heiratete sie einen Spät-/Aussiedler aus Russland, den sie in der Community kennengelernt hatte. Sie haben einen gemeinsamen Sohn und Anja konnte ihren ersten Sohn aus Lettland in die Familie nachholen, der aber sehr große Schwierigkeiten in der Schule hat. Anja war zur Zeit des Interviews Hausfrau. Rita war 27 Jahren alt, als sie 2006 aus Riga nach Berlin kam, um Arbeit und vielleicht auch einen Mann zum Heiraten zu finden. Auch sie gehört zur russischsprachigen Minderheit, ist bei ihren Großeltern im Nordosten Lettlands auf dem Dorf aufgewachsen, wo nur Russen leben und spricht fließend Russisch. Deutsch hat sie erst in Berlin gelernt, vor allem aus dem Fernsehen.

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Rita hat in verschiedenen Jobs gearbeitet u.a. als Zimmermädchen im Hotel Adlon und als Verkäuferin bei Edeka. 2008 heiratete sie einen Spät-/Aussiedler aus Tadschikistan, der seit 16 Jahren mit seinen Eltern und Geschwistern in Berlin lebt. Die Ehe scheiterte nach zwei Jahren und zur Zeit des Interviews stand der Scheidungstermin unmittelbar bevor. Rita hatte ihre kleine Tochter aus einer früheren dreijährigen Beziehung mit einem Russen bei ihrer Großmutter zurückgelassen und konnte sie erst nach ihrer Heirat nach Berlin holen. Die Tochter musste wegen massiver Sprachprobleme in logopädische Behandlung und besucht eine Sprachförderschule »alles von der Krankenkasse bezahlt«, wie Rita betont. Sie will in Deutschland bleiben, ihr Bruder ist jetzt auch in Berlin, er macht gerade einen Integrationskurs und ihre Eltern wollen bald nachkommen. Rita bezieht Hartz IV, will nach der Scheidung in einem Integrationskurs ihr Deutsch verbessern und eine gut bezahlte Arbeit finden, bei der sie ihre vier Sprachen – Lettisch, Russisch, Englisch und Deutsch – anwenden kann, vielleicht als Hausdame oder an einer Hotelrezeption. Aus einem Dorf im Nordosten Rumäniens migrierte Tanja 2007 mit 20 Jahren mit ihrer Freizügigkeit als EU-Bürgerin nach Berlin. Sie hat acht Jahre die Schule im Dorf besucht, danach drei Jahre Schneiderin in einer Schule in der nächsten Stadt gelernt und anschließend zwei Jahre lang den Eltern auf ihrem kleinen Hof geholfen. Dann ist sie von ihrer Cousine, die in Berlin mit einem Rumänen verheiratet ist, am Telefon überredet worden, nach Berlin zu kommen, denn »hier gibt es Arbeit und du kannst Geld verdienen«. Tanja konnte kein Deutsch und die von der Cousine vermittelten Arbeiten erwiesen sich als kleine Putzjobs für Bekannte, die sie »schwarz« gemacht hat. Zur Zeit des Interviews war sie hochschwanger und lebte mit dem Kindesvater, einem Serben zusammen, den sie bei der Cousine kennengelernt hatte. Er ist rumänischer Abstammung, spricht auch Rumänisch und kam 1978 als Kind mit seinen Eltern als jugoslawische Gastarbeiter in die Stadt. In der Beziehung des Paares ist noch vieles ungeklärt. Er denkt daran, auf die Kanarischen Inseln auszuwandern. Aber Tanja will mit ihrem Kind auf jeden Fall in Berlin bleiben, eine Rückkehr nach Rumänien ist für sie keine Option »weil es in Rumänien keine Arbeit, nur Armut gibt«. Die einzige Arbeitsmigrantin aus einem russischsprachigen Land in meinem Sample ist Galyna aus der Ukraine. Sie hat vier lange Jahre illegal in Berlin gelebt, bevor sie ihren Aufenthalt durch die Ehe mit einem eingebürgerten Migranten aus Russland legalisieren konnte. Ich habe Galyna in der Spätphase meiner Interviews zufällig über das Schneeballsystem bei einer russischsprachigen Migrantin getroffen und nur durch deren intensive Vermittlung war sie schließlich zu einem Interview bereit. Galina war 28 Jahre alt, als sie 2001 mit einem Touristenvisum aus der Westukraine nach Berlin kam, nachdem sie zwei Jahre zuvor Witwe geworden war, als ihr Mann an den Folgen eines Autounfalls starb. Frühere Nachbarn ihrer Eltern, die jetzt in Berlin leben, hatten

8. Arbeitsmigrantinnen

ihr angeboten, in ihrem Haus halbtags als Haushälterin zu arbeiten. Illegal, mit einem mäßigen Lohn, aber mit der Möglichkeit im Souterrain ein kleines Zimmer zu bewohnen »warm, mit Heizung«, wie Galyna sagte. Das Angebot war verlockend, weil sie auf der Arbeitsstelle Ukrainisch sprechen konnte und im Haus eine kostenfreie Unterkunft hatte. Allerdings musste sie zusätzlich Geld mit weiteren Putzjobs in der russischen Community an den Nachmittagen verdienen, denn sie hatte zu Hause ihre zehnjährigen Zwillingssöhne in der Obhut ihrer Schwester zurückgelassen und mit ihrem Verdienst in Berlin unterhielt sie den vierköpfigen Haushalt der Schwester, des Schwagers und ihrer Zwillinge, da beide Erwachsenen keine Arbeit haben. Galyna hatte nach der Sekundarschule eine Ausbildung zur Buchhalterin gemacht und danach in der Buchhaltung einer kleinen Firma gearbeitet, auch nach der Geburt ihrer Zwillinge. Dann musste die Firma schließen und Galyna konnte keine andere Arbeit finden, auch nicht in Lwiw, der benachbarten größten Stadt der Westukraine. In Berlin empfand sie ihre Illegalität als belastend und ging nur wegen ihrer Putzarbeiten aus dem Haus. In der Community lernte sie dann Igor kennen und 2005 heirateten die beiden, weil sie schwanger war und auch weil »es ein bisschen Liebe« war. Sie hatte nun endlich einen legalen Aufenthalt und die Hoffnung, bald ihre Zwillinge nach Berlin nachholen zu können. Aber dafür reichte das Einkommen des Ehepaares nicht. Sie hatten deswegen viel Streit, bis Galyna 2007 herausfand, dass die Kinder – nach der Regelung des deutschen Ausländergesetzes – mit 16 Jahren zu alt für einen Familiennachzug waren. Sie ist nun für die Zwillinge auf Dauer eine transnationale Mutter. Zur Zeit des Interviews lebte Galyna alleinerziehend mit ihrer kleinen Tochter in Berlin, ihre Scheidung von Igor stand bevor und sie arbeitete weiterhin in mehreren Putzjobs in der russischsprachigen Community.

8.2 Tr ansnationale M ütter und ihre K inder Zwei Drittel der Arbeitsmigrantinnen – acht von zwölf Frauen – haben ihre Kinder im Herkunftsland in der Betreuung von Verwandten zurückgelassen, als sie auf der Suche nach Arbeit in die Migration gegangen sind. Unter den Arbeitsmigrantinnen sind damit die meisten transnationalen Mütter im untersuchten Sample, in dem zwölf Migrantinnen transnationale Mütter mit sechzehn Kindern sind: die acht Arbeitsmigrantinnen mit elf Kindern, zwei Bildungsmigrantinnen aus Russland und Moldawien mit je einem Kind und eine Heiratsmigrantinnen aus Moldawien mit zwei Kindern und eine aus Lettland mit einem Kind. Alle transnationalen Mütter waren bei ihrer Migration alleinerziehend, geschieden oder verwitwet; von den acht Arbeitsmigrantinnen mit Kind oder Kindern waren beim Interview sieben weiterhin oder erneut alleinerziehend.

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Bei allen alleinerziehenden Arbeitsmigrantinnen war das Hauptmotiv ihrer Migrationsentscheidung, Geld für den eigenen Unterhalt und den des Kindes oder der Kinder zu verdienen. Außerdem mussten die Migrantinnen auch die finanzielle Versorgung der betreuenden Verwandten von ihrem Verdienst in Berlin sicherstellen. Die Entscheidung der Mütter, das Kind bzw. die Kinder zurückzulassen, war hauptsächlich der unbekannten zukünftigen Lebenssituation in Berlin geschuldet und drei Mütter waren überdies der Ansicht, dass ein Schulwechsel nach Berlin für das Kind zu schwierig wäre. Bei den Müttern aus Nicht-EU-Ländern kam zu diesen Überlegungen die Rechtslage hinzu, die Überlegungen nicht zuließen, das Kind mitzunehmen. Bei der Migration gingen die Mütter davon aus, dass die Trennung von ihrem Kind nur vorübergehend sein wird, weil sie entweder nur für einige Zeit in Berlin arbeiten wollten oder weil sie das Kind nachholen würden. Tatsächlich erwies sich der Kindernachzug dann oft als schwierig und langwierig, gleichwohl haben die meisten Mütter diesen Wunsch über Jahre verfolgt und versucht ihn umsetzen, sobald ihre tatsächliche und ihre aufenthaltsrechtliche Lebenssituation es zugelassen haben. Letztendlich haben sechs der zwölf transnationalen Mütter ihre Kinder nach Berlin nachgeholt: sechs Kinder von drei Arbeitsmigrantinnen, sowie zwei Kinder einer Bildungs- und einer Heiratsmigrantin, insgesamt acht Kinder, die Hälfte der ursprünglich sechzehn zurückgelassenen Kinder. Sechs Migrantinnen sind transnationale Mütter geblieben. Drei Arbeitsmigrantinnen haben ihre Entscheidung transnationale Mütter zu bleiben wegen des Kindeswohls getroffen, sie erachteten einen Schulwechsel nach Deutschland als zu problematisch für die Kinder. Eine Litauerin versteht ihre Arbeit im Haushalt einer Migrantin nur als vorübergehende Tätigkeit, deshalb lebt ihr Sohn bei der Großmutter in Litauen, um dort weiter zur Schule gehen zu können. Ähnlich waren die Überlegungen bei zwei polnischen Jungen: eine Migrantin konnte nach mehreren Umzügen erst relativ spät eine eigene kleine Wohnung in Berlin mieten, deshalb war es sinnvoller, ihren Sohn in der polnischen Schule und gut versorgt bei den Großeltern zu lassen. Auch der Sohn der Polin, die als Gewerbetreibende mit ihrer kleinen Tochter zuwanderte, ist wegen des weiteren Schulbesuches in Polen bei der Großmutter geblieben. Alle drei Arbeitsmigrantinnen kommen aus EU-Ländern, deshalb haben sie rechtlich weiterhin die Möglichkeit, ihre Kinder nach deren Schulabschluss bis zum 21. Lebensjahr nach Berlin zu holen. Ganz anders war dagegen die Situation der anderen drei Migrantinnen, die dauerhaft transnationale Mütter geblieben sind. Sie kommen aus Ländern, die nicht zur EU gehören und haben die notwendigen rechtlichen Voraussetzungen für den Nachzug der Kinder bis zu deren 16. Lebensjahr nicht geschafft. Es sind die Arbeitsmigrantin Galyna aus der Ukraine mit ihren Zwillingen, eine

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Bildungsmigrantin aus Russland mit ihrem Sohn und eine Heiratsmigrantin aus Moldawien mit ihren beiden Töchtern. Auch die Nachzüge der Kinder zu ihren nach Berlin migrierten Müttern im Sample sind Beispiele für nachfolgende Migrationen in familiären Kontexten, wie es die biographischen Erzählungen über die Zuwanderungen von Migrantinnen und Migranten in familiären Kontexten bereits gezeigt haben (Kapitel 7.5). Die fünf nachgezogenen Kinder der Arbeitsmigrantinnen kommen alle Lettland, die als EU-Bürger mit der Freizügigkeit ihren Müttern nach Berlin folgen konnten. Gleichwohl mussten auch diese drei transnationalen Mütter einige Jahre verstreichen lassen, bevor ihre Lebenssituation den Nachzug des Kindes erlaubt hat. Alle nachgezogenen Kinder hatten anschließend in Berlin erhebliche sprachliche und schulische Probleme, sowohl drei Kinder im Grundschulalter als auch zwei Jugendliche. Bei den beiden Jugendlichen waren die Schwierigkeiten so groß, dass sie nach Lettland zur Großmutter zurückkehrten, um dort ihre Schulpflicht wahrzunehmen; erst als junge Erwachsene kamen sie wieder nach Berlin. Schulische Probleme sind bei mitmigrierenden und nachfolgenden Kindern in der Migration aus mittelosteuropäischen Ländern keine Einzelfälle, die pädagogische Forschung hat sie erst kürzlich in den Blick genommen (Rakhkochkine, 2010). So hatte auch die nachgezogene fünfzehnjährige Tochter einer lettischen Heiratsmigrantin große Schwierigkeiten in der Schule. Die Mutter wollte zunächst ihre junge Ehe stabilisieren, bevor sie ihre Tochter nach Berlin holt. Aber das bei der Oma zurückgelassene Mädchen hatte traumatische Verlassenheitsgefühle, so dass die Mutter und der Stiefvater sie zu sich holten. Ihr weiterer Schulbesuch in Berlin gestaltete sich problematisch, nach einem Schulwechsel schaffte sie schließlich den Realschulabschluss, nicht zuletzt dank des Einsatzes des Stiefvaters, der jeden Abend nach der Arbeit mit dem Mädchen den Schulstoff durchgearbeitet hat. Die Tochter macht jetzt eine Ausbildung zur Erzieherin. In den Jahren ihrer transnationalen Mutterschaft haben alle Migrantinnen mit ihren Kindern intensiven Kontakt gehalten, meist per Telefon, einige Mütter riefen täglich an, andere mindestens einmal die Woche, andere nutzten das Internet und Skype. Ihren Urlaub verbrachten die Mütter mit den Kindern »zu Hause« und wenn möglich auch die Festtage zu Weihnachten und über Ostern. Wenn die Lebenssituation der Mutter in Berlin es zuließ, konnte das Kind sie während der Schulferien in Berlin besuchen. Schnelle und billige Kommunikationstechnologien ermöglichten den regelmäßigen Austausch und die Aufrechterhaltung enger emotionaler und sozialer Beziehungen und mit erschwinglichen Transportmitteln zwischen Berlin und den mittelosteuropäischen Ländern waren auch Besuche öfter realisierbar. So konnten die transnationalen Mütter im Sample trotz großer geographischer Distanzen ihre Mutter-Kind-Bindungen transnational pflegen und weiterhin eine emotionale

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Bezugsperson für ihr Kind bzw. ihre Kinder bleiben, sich an der Erziehung und an den Entscheidungen im transnationalen Familienhaushalt beteiligen. In der neuen innereuropäischen Ost-West-Migration hat das transnationale Muttersein keine Tradition. Der Sozialismus hat zwar bei den Frauen in Mittelosteu­ropa eine hohe Motivation zur Erwerbstätigkeit geschaffen, die auch in der Gegenwart ihre Migrationsbereitschaft fördert, aber es bestand immer ein weitgehend traditionelles Mutterbild, das in der post-sozialistischen Transformation eher noch gestärkt wurde (Chuluj, 2011; Hinterhuber/Strasser-Camagni, 2011). Von diesem Mutterbild ausgehend, verstanden sich die interviewten Migrantinnen lediglich als temporäre transnationale Mütter und glaubten nur an eine vorübergehende Trennung von ihrem Kind, was nicht immer realistisch war. Die mittelosteuropäischen transnationalen Mütter im Sample haben bei ihrer Migration ihr Kind in der Regel ihrer eigenen Mutter, der Großmutter des Kindes anvertraut. Sie war meist die einzige weibliche Verwandte am Herkunftsort, die die Betreuung und Versorgung des zurückgelassenen Kindes übernehmen konnte, denn die Familien in Mittelosteuropa sind relativ klein, mit einem oder zwei Kindern, wie aus den biographischen Erzählungen der Migrantinnen hervorgeht (vgl. Robila, 2004a). Und das heißt, auch die weiter im Herkunftsland lebenden transnationalen Familien sind in Mittelosteuropa relativ klein (Kapitel 11.3.3). Bislang gibt es keine empirische Studien über transnationale Migrantinnenmütter in mittelosteuropäischen Ländern und ihre zurückgelassenen Kinder. Seit einigen Jahren berichten Medien in einigen Herkunftsländern und auch in Deutschland gelegentlich über »Eurowaisen« in Polen, Rumänien und in der Ukraine, deren Eltern in Westeuropa arbeiten und die von der Oma oder in einem Heim notdürftig versorgt werden oder auf sich allein gestellt sind und deren Zahlen sich seit 2004 mit der Zugehörigkeit zur Europäischen Union und mit Einführung der Freizügigkeit erhöht haben2 . In den Herkunftsländern werden sie als ein ernstes Problem diskutiert, wie zwei deutschsprachige Publikationen von dort zeigen: »Kindheit ohne Eltern« über polnische und rumänische Kinder und ihre im »Westen« arbeitenden Mütter (Capatana Juller/ Nowak, 2012) und »Skype Mama« über ukrainische Migrantinnen und ihre zurückgelassenen Kinder (Brunner et al., 2013). Erste sozialwissenschaftliche Arbeiten haben das Thema aufgegriffen: Orlowska (2010) gibt einen Überblick 2 | Es gibt keine verlässlichen Zahlen über Eurowaisen, oft werden hohe Zahlen genannt, ohne zu differenzieren, ob beide Elternteile im Ausland arbeiten oder nur der Vater oder die Mutter, ob ihre Arbeitsmigration dauerhaft oder temporär ist und wie alt die Kinder sind. In Polen reichen Schätzungen von 15.000 bis zu 110.000 Kindern und Jugendlichen (Rakhkochkine, 2010: 237), in Rumänien wurden 35.000 Volleurowaisen unter den 10-14 jährigen Schülern gezählt (Robila, 2011: 327).

8. Arbeitsmigrantinnen

über polnische Publikationen zu »Eurowaisen« als »neue sozialpolitische Erscheinung« in Polen und Robila (2011) beschäftigt sich mit der Migration von Eltern und zurückgelassenen Kindern in Rumänien. Genderspezifische Ungleichheiten der Elternmigration und ihre Auswirkungen in der polnischen Gesellschaft zeigt Walczak (2011), denn obwohl landesweit wohl nur 20-30 % der Migranten transnationale Mütter sind, stehen sie im Mittelpunkt behördlicher und medialer Berichte und der gesellschaftlichen Diskussionen, die immer in der »Sprache der Entbehrung« geäußert werden (2011: 165). Die Migration von Müttern passt nicht in das traditionelle polnische Rollenmodell für Mütter, so Walczak. Genderspezifische Ungleichheiten zeigen sich ebenfalls deutlich bei den zurückgelassenen Kindern: der in der Migration arbeitende Vater wird eher idealisiert, die Beziehungen zur abwesenden Mutter beginnen nach etwa einem Jahr abzukühlen und werden dann zunehmend kritisch gesehen (2011: 168)3. Die Migration von Frauen aus ökonomischen Gründen wird in der migrationssoziologischen Literatur als »nachfrageorientierte, grenzüberschreitende und unabhängige Arbeitsmigration der Frauen« bezeichnet (Han, 2003: S. 41f) und aus akteurspezifischer Perspektive als »Solo-Migration« (Anthias, 2000: 20; Hess, 2005: 134) bzw. als unabhängige Migration (Han, 2003: 26f). Als unabhängige Migration kann sie aber bei den transnationalen Müttern meines Samples nur sehr eingeschränkt gelten. Die Frauen sind zwar alleine in die Migration gegangen, aber als Mütter sind sie auch aus der Distanz eingebunden in die Lebenszusammenhänge der transnationalen Familie im Herkunftsland und stehen in regelmäßigen Kontakt mit ihrem Kind oder ihren Kindern. Überdies haben alle transnationalen Mütter die volle Verantwortung für die finanzielle Versorgung ihres Kindes und der sie betreuenden Verwandten. Transnationale Mütter sind vor allem aus Mexiko (Hondagneu-Sotelo/Avila, 1997), aus der Karibik (Chamberlain, 1997) und den Philippinen (Parrenas, 2001b; 2005) bekannt4. Ohne auf Ergebnisse der Forschungen detailliert eingehen zu können, fallen kulturvergleichend einige Unterschiede zu der innereuropäischen Ost-West-Migration aus mittelosteuropäischen Ländern auf, die das Verständnis transnationaler Mutterschaft beeinflussen. In den drei genannten Regionen ist die reziproke Unterstützung im verwandtschaftlichen Netzwerk ein überkommener Wert, vor allem bei den reproduktiven Aufgaben der Kinderbetreuung und der Altenversorgung durch weibliche Verwandte in der Großfamilie. Die Tradition der gesicherten Kinderbetreuung in den üblicherweise großen Familien fördert die Mobilitätsbereitschaft der Mütter und 3 | Vergleichbare Befunde werden auch in den Philippinen beschrieben (Parrenas, 2005). 4 | Zum Thema Mutterschaft im interkulturellen Vergleich: Phoenix, 1994 und HerwatzEmden, 1995.

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die seit Jahrzehnten gewachsene transnationale Migrationsrealität ist in den Familien zur Normalität geworden. Deshalb akzeptieren Migrantinnen und ihre Kinder eher die Vorstellung einer langfristigen Transnationalität ihrer Mutter-Kind-Beziehungen. Die Studien über transnationale Mütter aus Mexiko und den Philippinen verdeutlichen aber auch, dass das transnationale Muttersein eine große Herausforderung ist und schmerzhafte genderspezifische Entbehrungen mit sich bringt. Es erfordert transnationale Verläufe von Liebe, Zuneigung, Sorge und Verantwortung für die zurückgelassenen Kinder und zeigt genderspezifische Auswirkungen der Arbeitsmigration, denn gerade Mütter erleben leidvoll den Prozess der räumlichen und zeitlichen Trennung von ihren Kindern, »I am here, but I am there« wie es eine mexikanische Mutter ausdrückte (Hondagneu-Sotelo, Avila, 1997). Transnationale Mütter erweitern ihre Definition von Fürsorge mit ihrer finanziellen Sorge für die Kinder, die eben eine langfristige Trennung erfordere und betonen die Qualität ihrer Beziehungen zu den Kindern, anstelle der Quantität der mit ihnen verbrachten Zeit. In den Interviews dieser Studien fällt auf, dass die materielle Versorgung einen großen Stellenwert für Mütter und Kinder hat und dass gleichzeitig Emotionen unterdrückt und nicht ausgesprochen werden (Hondagneu-Sotelo, Avila, 1997; Parrenas, 2001b).

8.3 I nformelle tr ansnationale N e tz werke als soziales K apital polnischer A rbeitsmigr antinnen Der Anteil von zwölf Arbeitsmigrantinnen unter den hundert interviewten Migrantinnen aus Mittelosteuropa in Berlin ist relativ gering, ganz im Gegensatz zu der Rolle, die Arbeitsmigrantinnen in der Forschung und Literatur auch hierzulande zugemessen wird, wenn sie als Putz- und Pflegekräfte tätig sind (vgl. Lutz, 2008a; Metz-Göckel et al., 2007; 2008; 2010; Apitzsch/Schmidbaur, 2010; Karakayali, 2010). Wie diese Studien zeigen, kann die Arbeitsmigration in verschiedenen Formen stattfinden, als permanente, als temporäre, zirkuläre oder als Pendel-Migration. Eine Pendelmigration ist bei keiner der interviewten Arbeitsmigrantinnen eine Option gewesen. Sie sind damit möglicherweise eine Minderheit unter den Arbeitsmigrantinnen, insbesondere unter denen aus Polen, denn die Literatur vermittelt den Eindruck, dass polnische Frauen die Arbeitsmigration vor allem pendelnd als Ressource nutzen, wie Cyrus (2008) es in Berlin und Metz-Göckel et al. (2006; 2008; 2010) es im Ruhrgebiet beschrieben haben. Pendelnde polnische Arbeitsmigrantinnen sind in Berlin weitgehend unsichtbar und lassen sich ungern interviewen (vgl. Kapitel 3.1), obwohl allgemein bekannt ist, dass es sie in großer Zahl in der Stadt gibt und sie in den Haus- und Pflegebereichen wertvolle Arbeit leisten.

8. Arbeitsmigrantinnen

Die Migrationsverläufe der fünf polnischen Arbeitsmigrantinnen im Sample verdeutlichen die drei Charakteristika polnischer Arbeitsmigranten, die für die besonderen Migrationsbeziehungen zwischen Polen und Deutschland typisch sind. Das ist vor allem die direkte Nachbarschaft des Herkunftsund des Migrationslandes, die zu der langen Tradition der Zuwanderung und zu den hohen Migrantenzahlen beitragen. Weitere Charakteristika sind das von polnischen Arbeitsmigrantinnen und -migranten in informellen Netzwerken akkumulierte transnationale soziale Kapital und seine Nutzung sowie die häufige zirkuläre Temporalität ihrer grenzüberschreitenden Mobilität, die sie in der Ost-West-Migration seit 1989 entwickelt haben. Die unmittelbare Nachbarschaft Polens zu Berlin bzw. zu Deutschland, nicht nur die relative Nähe, wie bei anderen mittelosteuropäischen Ländern, hat für polnische Arbeitsmigranten eine besondere Bedeutung, die sie bei den Zuwanderungen im späten 19. Jh. auch schon hatte: sucht eine Polin/ein Pole Arbeit und findet diese nicht in Polen, versucht sie/er es wenige Kilometer weiter westlich in Berlin oder im Ruhrgebiet, den beiden Regionen in denen sich seit Jahrzehnten enge Migrationsverflechtungen entwickelt haben. Auf diese Weise verliefen auch die Migrationen der interviewten polnischen Arbeitsmigrantinnen, die aus West- und Zentralpolen nach Berlin kamen. Das hat zur Folge, dass polnische Migranten die größte Migrantenpopulation aus den mittelosteuropäischen Ländern sind, sowohl in Berlin mit fast 45.000 bspw. im Jahr 2011 gemeldeten polnischen Staatsbürgern (43.984, vgl. Tabelle 6.2), als auch in Deutschland mit knapp einer halben Mio. (468.481) im gleichen Jahr. Die Arbeitssuche polnischer Migranten erfolgt in der Regel mithilfe informeller Netzwerke, die polnische Arbeitsmigranten pflegen und die überall in Polen, in Berlin und im Ruhrgebiet zugänglich sind. Über diese Netzwerke vermitteln sich polnische Arbeitsmigranten gegenseitig seit über zwei Jahrzehnten transnational Arbeitsstellen. In den Netzwerken wird soziales Kapital auf der Mikro-Ebene als Ressource für berufliche Mobilität in der Migration akkumuliert und weitergegeben (Haug, 2007; Bourdieu, 1983/1992). Soziales Kapital sind Ressourcen, die auf der »Zugehörigkeit zu einer Gruppe beruhen« (Bourdieu, 1983/1992: 63), denn polnische Arbeitsmigranten verfügen über transnational relevante Kenntnisse, Erfahrungen und Adressen, die zielortspezifisch von anderen polnischen Arbeitsmigranten bei der Suche nach Arbeit in Deutschland abgerufen werden können. Zur Akkumulation des transnationalen sozialen Kapitals in den informellen Netzwerken trägt jede polnische Arbeitsmigrantin und jeder Arbeitsmigrant bei, indem sie Kontakte, Informationen und Tipps für die Suche nach einer passenden Arbeitsstelle in Berlin oder anderenorts in Deutschland an arbeitsuchende Landsleute weitergeben. Senganata Münst (2007) und Metz-Göckel et al. (2010: 220-262) beschreiben die wichtige Rolle der informellen Netzwerke im Migrationsprozess pendelnder polnischer Haushaltsarbeiterinnen im Ruhrgebiet.

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Alle polnischen Arbeitsmigrantinnen meines Samples haben das polnische Sozialkapital des Netzwerkes für ihre Migration nach Deutschland genutzt: Anita übernahm in Lodz die Putzarbeiten in Berliner Haushalten von einer polnischen Migrantin, die ihre Lebensarbeitszeit beendete, Danuta nutzte Kontakte zu polnischen Händlern, um als Verkäuferin auf ostdeutschen Märkten zu arbeiten, Barbara bekam im Heimatdorf eine Anlaufadresse für Putzarbeiten in Berlin, Sylwia siedelte vom Ruhrgebiet nach Berlin um wegen einer Stelle als Haushälterin, von der sie über ihren Bruder in Stettin erfahren hatte und Joana beteiligt sich an einem kleinen Handelsunternehmen der ethnischen Ökonomie, das die polnische Betreiberin vor einigen Jahren eröffnet hatte. Die Temporalität ist ein weiteres Charakteristikum der Mobilität polnischer Arbeitsmigranten, die sich seit 1989 herausgebildet hat, seitdem eine Rückkehr nach Polen jederzeit möglich ist, anders als in den Jahren des Kalten Krieges (Morokvasic, 1994; Cyrus, 2006: 26; Kaczmarczyk, 2007: 99). Die temporäre Arbeitsmigration ins benachbarte Deutschland ist für polnische Frauen und Männer eine beliebte Ressource, auf die sie bei Bedarf zurückgreifen können. Arbeitsmigration kann einmalig sein, saisonal, zirkulär bzw. pendelnd erfolgen und sie ist aufgrund des Umtauschkurses vom Euro zum Zloty auch »äußerst profitabel« (Cyrus, 2006: 37). Pendeln Arbeitsmigranten über lange Zeiträume, praktizieren sie eine transnationale Lebensform, in der Arbeit und Leben in geographisch weit entfernten, national getrennten Räumen stattfinden, wie bei Pendlern aus Oberschlesien (Palenga-Möllenbeck, 2014). So ist es für polnische Arbeitsmigranten möglich, im gewohnten sozialen und familiären Umfeld zu bleiben und gleichzeitig die ökonomische Situation mit einer temporären Arbeitsmigration zu verbessern, mit der auch Migrantinnen ihr Muttersein und die Familie in Einklang bringen können5. Überdies sind auch temporäre Beschäftigungen seit 2011 für polnische Migranten mit der Einführung der Arbeitnehmerfreizügigkeit in EU-Ländern rechtlich unproblematisch. Und für polnische Migranten gibt es offenkundig genug Arbeit6, vor allem für Migrantinnen, denn sie gelten als »flexibel« und sind

5 | Die Temporalität der Migration liegt auch bei den polnischen Saisonarbeitern zugrunde, von denen seit 1991 jährlich zwischen 200.000 und 300.000 über bilaterale Verträge beider Länder nach Deutschland kommen, um hier bis zu drei Monaten in der Landwirtschaft zu arbeiten (BAMF, 2005). 6 | Im Jahr 2003 waren bspw. 64,6 % der polnischen Migranten in Deutschland im tertiären Sektor (43.253) beschäftigt, 23,8 % um sekundären Sektor (15.933) und 11,6 % im primären Sektor (7.756) (Dietz, 2007: 40; nach Angaben der Bundesanstalt für Arbeit). Bedauerlich ist, dass diese Angaben geschlechtsneutral erhoben wurden und keine Aufteilung in Frauen und Männer enthalten, ebenso bei Kaczmarczyk, 2007.

8. Arbeitsmigrantinnen

bereit, Jobs in der sekundären Reproduktion und im Servicebereich zu übernehmen, die in Deutschland zu den krisenfesten Jobangeboten zählen7. Von den fünf polnischen Arbeitsmigrantinnen ist die Migration von Anita temporär bzw. zirkulär, sie hat vor ihrer Familienphase schon einige Zeit in Berlin gearbeitet und will bei Erreichen der Altersgrenze nach Polen zurückkehren. Vier Polinnen haben ihre zunächst als temporär gedachte Migration zu einer dauerhaften Zuwanderung umgestaltet, aufgrund des in Berlin ansässigen Ehemannes oder Partners und der hier geborenen gemeinsamen Kinder, sowie der Arbeitsmöglichkeiten und der vom Jobcenter angebotenen Umschulung. In den biographischen Erzählungen hat bei der Entscheidung für eine permanente Zuwanderung auch das Polski Berlin mit bilingualen Kindergärten und Schulen, mit Kirchen und Läden eine Rolle gespielt (vgl. Kapitel 2.7.1), ebenso die Nachbarschaft zu Polen, denn polnische Migrantinnen können nach einer Fahrt von einer bis maximal sechs Stunden an jedem Ort in Polen sein, um Verwandte und Freunde zu besuchen, einzukaufen usw. Polnische Migrantinnen können so ihr Leben in Berlin mit transnationalen Lebensformen verbinden (vgl. Glorius, 2007; Kapitel 11.3).

8.4 B ildungs -, B erufs - und E rwerbsprozesse Die grenzüberschreitenden Bildungs-, Berufs- und Erwerbsprozesse der Arbeitsmigrantinnen verdeutlichen ihre ökonomischen Migrationsmotive. Aufgrund der schlechten wirtschaftlichen Situation in ihren Herkunftsländern Polen, Lettland, Litauen, Ungarn, Rumänien und der Ukraine, waren alle vor ihrer Migration arbeitslos. Sie haben zu Hause entweder keine Ausbildung machen können oder absolvierten eine Berufsausbildung, die nach der Transformation am Arbeitsmarkt veraltet war, wie Schneiderin, Bekleidungstechnikerin und Textilmaschinenführerin. Die Statuspassage der Arbeitsmigrantinnen in die Erwerbstätigkeit in Berlin erfolgte sofort nach ihrer Migration, sie mussten schnell Geld verdienen zur Sicherung ihrer Existenz, transnationale Mütter außerdem die ihres Kindes und der betreuenden Verwandten. Die Arbeiten, die die Migrantinnen anfangs in Berlin fanden, waren alle am unteren Ende des tertiären Sektors angesiedelt, oft in prekären Beschäftigungsverhältnissen und mit niedrigem Lohn – als Serviererin, Verkäuferin und als Putzfrau auf Stundenbasis in privaten Haushalten.

7 | Auch Arbeitsmigrantinnen aus anderen Ländern, die in der sekundären Reproduktion tätig sind, gehen bevorzugt temporär in die Nachbarländer, so Ukrainerinnen nach Polen (Kindler, 2008) und Österreich (Haidinger, 2008) und Albanerinnen nach Griechenland (Hantzaroula, 2008).

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Mittelosteuropäische Migrantinnen in Berlin

Tabelle 10: Grenzüberschreitende Bildungs-, Berufs- und Erwerbsprozesse der Arbeitsmigrantinnen Migration

Alter im Herkunftsland

in Berlin bzw. Deutschland

1991

18 J.

Fachabitur Bekleidungstechnik arbeitslos

Näherin, Kellnerin, Dipl. Ing. Bekleidungstechnik (FH), Qualitätssicherung für Mode, z. Z. Mini-Job Beraterin für Migranten

1995

18 J.

Schneiderin-Ausbildung, Arbeit in Modefirma, poln. Mittelschulabschluss im Fernstudium aus Deutschland

Textilverkäuferin auf Märkten, Verkäuferin in Berlin, z. Z. Hausfrau

1996

22 J.

Textilmaschinenführern, Verkäuferin, arbeitslos

Putzarbeiten, z. Z. Hartz IV/ Umschulung zur Altenpflegerin

1999

29 J. Abitur, Boutique Kinderkleidung, Verkäuferin Warenhaus, arbeitslos

Serviererin, Putzarbeiten, Haushälterin, Umschulung Kita-Erz.?

2001

28 J. Ausbildung und Arbeit als Buchhalterin, arbeitslos

Putzarbeiten, russ. Community

2002

28 J. arbeitslos

Putzarbeiten, russ. Community, z. Z. Hausfrau

2004

32 J.

arbeitslos

Betreuungs- und Putzarbeiten, Studium Musiktherapeutin ohne Abschluss, Haushälterin

2006

27 J.

Abitur, Mitarbeit in Geschäft der Eltern

Zimmermädchen, Verkäuferin, z. Z. Hartz IV, Integrationskurs, Arbeit an Hotelrezeption?

2007

20 J. Schneiderin-Ausbildung, arbeitslos

Putzarbeiten, z. Z. Hartz IV wg. Schwangerschaft

2009

53 J.

arbeitslos

Putzarbeiten, wie schon vor der Ehe in Berlin

2010

34 J.

Sekundarschule, arbeitslos, Hausfrau

Kl. Handelsunternehmen in ethn. Ökonomie

2010

45 J.

arbeitslos

Haushälterin bei Migrantin

Eine berufliche Weiterbildung haben in Deutschland nur zwei Frauen geschafft, um so die Erwerbsarbeiten in der sekundären Reproduktion hinter sich lassen zu können: eine Diplom-Ingenieurin für Textilverarbeitung, die aber in Berlin kaum Jobaussichten hat und gerade einen Mini-Job als Beraterin

8. Arbeitsmigrantinnen

für Migranten-Eltern in ihrem Kiez übernommen hat und eine Umschülerin zur ambulanten Altenpflegerin, deren Beruf am Berliner Arbeitsmarkt stark nachgefragt ist. Eine Migrantin hat ihre Ausbildung zur Musiktherapeutin nicht beenden können, eine andere überlegt noch, ob sie eine Umschulung zur Kita-Erzieherin machen will. Zur Zeit des Interviews waren sieben der zwölf Migrantinnen erwerbstätig: in einem Mini-Job als Beraterin, Teilhaberin an einem kleinen Handelsunternehmen der ethnischen Ökonomie, drei arbeiteten als Haushälterin und zwei machten weiterhin Putzarbeiten in Privathaushalten auf Stundenbasis. Eine Migrantin war Umschülerin, zwei bezogen Hartz IV wegen ihrer Teilnahme am Integrationskurs bzw. ihrer Schwangerschaft und zwei waren Hausfrauen.

8.5 R esümee : B erliner O p tionen – E he , K inder , A rbeit und W eiterbildung Alle Arbeitsmigrantinnen im Sample sind aus EU-Ländern Mittelosteuropas zugewandert, nur eine kam aus der Ukraine. In den frühen Jahren der Ost-West-Migration haben die Frauen zunächst an einen vorübergehenden Arbeitsaufenthalt gedacht, in der zweiten Dekade kamen sie eher, um in Berlin zu bleiben. Zehn Migrantinnen leben inzwischen dauerhaft in Berlin und betrachten die Stadt als ihren Lebensmittelpunkt. Nur die beiden älteren Frauen aus Litauen und Polen wollen temporär in Berlin arbeiten, höchstens bis zum Ende ihrer Lebensarbeitszeit und dann zurückkehren. Ehe, Kinder, Arbeit und Weiterbildung (Deutschkurs, Studium, Umschulung) waren die Optionen, die sich den Frauen boten, um in Berlin ihr weiteres Leben zu gestalten. Diese Aufzählung stellt keine Rangliste dar, denn jede Migrantin hat ihren persönlichen Mix aus den sich bietenden Möglichkeiten entwickelt. Einige Frauen sagten auch explizit, ein Grund zum Bleiben sei, dass es für die Zukunft ihrer Kinder in Deutschland bessere Perspektiven gibt. Auch das großstädtische Leben hat bei dem Wunsch auf Dauer in Berlin zu leben eine nicht unerhebliche Rolle es gespielt; fast alle Arbeitsmigrantinnen kommen aus Dörfern in ländlichen Regionen des Herkunftslandes und sagten im Interview, dass sie sich ein Leben dort nicht mehr vorstellen können, höchstens »mal im Urlaub oder zu Besuch«. Die Betrachtung des weiteren Erwerbsverlaufes der Migrantinnen, die anfangs mit Haus- und Putzarbeiten oder als Verkäuferin tätig waren verdeutlicht, dass nur wenige Mi­grantinnen bei längerer Migrationsdauer bzw. permanenter Zuwanderung bei diesen Arbeiten bleiben wollten. Allerdings zeigte sich auch, dass ein beruflicher Aufstieg aus den anfänglich übernommenen Tätigkeiten ohne eine für den Arbeitsmarkt relevante Ausbildung bzw. Umschulung kaum zu bewerkstelligen ist. Einen eher klassischen Ausstieg aus

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Mittelosteuropäische Migrantinnen in Berlin

ihren früheren Tätigkeiten in die Ehe und Mutterschaft haben drei Frauen vollzogen, zumindest temporär, sie waren beim Interview Hausfrauen. Zwei Frauen sind als Haushälterinnen beschäftigt, sie haben auf diese Weise ihre beruflichen Status und ihre Arbeit in privaten Haushalten verbessert, denn zuvor haben sie als Putzkräfte gearbeitet, eine der beiden will sich vielleicht zur Kita-Erzieherin umschulen lassen. Drei Migrantinnen erledigen weiterhin Putzarbeiten mit Gewerbeschein, hoffen aber in Zukunft anspruchsvollere Tätigkeiten zu finden. Eine substantielle Verbesserung ihrer zukünftigen Berufs- und Erwerbstätigkeit hat die Umschülerin zur ambulanten Altenpflege begonnen, eine andere Migrantin hat einen Mini-Job als Beraterin für Migranteneltern angenommen, weil es in Berlin keine Arbeit für sie als Diplom-Ingenieurin für Bekleidungstechnik gibt. Eine Migrantin betreibt einen kleinen Handel in der ethnischen Ökonomie und eine andere will nach dem Integrationskurs mit den vier Sprachen, die sie spricht, eine Beschäftigung im Hotel- oder Tourismus suchen.

9. Bildungsmigrantinnen und Au-pairs – mitgebrachtes und erweitertes kulturelles Kapital

Bildungsmigrantinnen sind im Kontext der Feminisierung der Migration eine besonders interessante, aber bislang kaum erforschte Migrantinnengruppe. Sie haben eine »Solo-Migration« (Anthias, 2000: 20) angestrebt und erfolgreich bewältigt, sie sind Protagonistinnen der Frauen, die selbstständig und allein migrieren, wie Arbeitsmigrantinnen auch. Bildungsmigrantinnen haben schon im Herkunftsland begonnen, institutionelles kulturelles Kapital zu akkumulieren, zertifizierte Schulabschlüsse und Diplome, und sie gehen in die Migration, um es substantiell zu erweitern und anschließend ihr Wissen und Können auf dem Arbeitsmarkt für eine angemessene Erwerbstätigkeit zu verwerten, ihr Bildungskapital in ökonomisches Kapital zu konvertieren (Bourdieu 1983/1992: 61; Nohl et al. 2010b: 12). Für dreiunddreißig Migrantinnen im Sample war ihre weitere Bildung das Hauptmotiv ihrer Migration, das sie in verschiedenen Varianten umgesetzt haben: einundzwanzig Frauen mit einem Studium und/oder mit einer Promotion, zehn Frauen anfangs mit einer Au-pair-Stelle und zwei Frauen mit einem Sprachkurs. Die Anzahl der Bildungsmigrantinnen aus den russischsprachigen Ländern nahm in meinem Sample um die Jahrtausendwende zu, insbesondere in den MINT-Fächern1, während sie aus den neuen EU-Ländern seit deren Beitritt 2004/2007 abgenommen hat. Ihre grenzübergreifenden Bildungs-, Berufs- und Erwerbsprozesse sind beeindruckend. Die meisten haben ihre Bildungsmigration mit einem Au-pair-Vertrag oder mit einem (kurzen) DAAD-Stipendium begonnen und sie anschließend als Werkstudentin weiter finanziert, mit Jobs, in denen sie »nebenbei« und in den Semesterferien gearbeitet haben, die besonders Erfolgreichen hatten eine Halbtagsbeschäf-

1 | MINT ist die zusammenfassende Bezeichnung der Studienfächer bzw. Berufe aus Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik.

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Mittelosteuropäische Migrantinnen in Berlin

tigung an ihrer Universität oder waren schon nach einem Praktikum in der Firma weiter beschäftigt worden. Eine einheitliche Definition für Bildungsmigranten gibt es nicht (Han, 2010: 107f; Kofman/Raghuram, 2009: S. 7, Anm. 2). In dieser Arbeit benutze den Begriff der Bildungsmigrantin für junge Frauen, die mit einer im Herkunftsland abgeschlossenen Sekundarschulbildung (Abitur) und einem an einer Hochschule begonnenen oder abgeschlossenen Studium ins Ausland migrieren, um dort einige Studiensemester, ein Zusatzstudium oder eine Promotion zu absolvieren. Sie sind klassische Bildungsmigrantinnen. In der erweiterten Fassung des Begriffes beziehe ich auch die jungen Au-pair-Frauen als Bildungsmigrantinnen mit ein, ebenso zwei Frauen, die als Sprachschülerinnen migriert sind, denn ihr Kernmotiv für die Migration war das Erlernen der deutschen Sprache bzw. die Verbesserung ihrer Deutschkenntnisse aus der Schule und alle hatten eine 12-jährige Sekundarschulbildung im Herkunftsland absolviert. Außerdem haben alle Au-pairs im Sample auch studiert, einige im Herkunftsland vor ihrem Au-pair-Aufenthalt, andere in Deutschland im Anschluss an die Au-pair-Zeit. Die jungen Frauen, deren Hauptmotiv für die Migration ihre weitere Bildung war, begegneten mir bei der Feldforschung in Berlin als selbstbewusste und selbstbestimmte Migrantinnen, die ihr Handlungsvermögen ausgeschöpft und sich allein auf den Weg in einen neuen Lebensabschnitt ins Ausland begeben haben. In den Interviews und ihren biographischen Erzählungen wurde deutlich, dass sie in ihren mittelosteuropä­ischen Herkunftsländern zur beruflichen Selbstständigkeit sozialisiert worden sind, sie hatten deshalb und aufgrund ihrer Ausbildung dort das Handlungsvermögen für eine selbstständige Migration. Sie wollten die (temporäre) Migration zum Auf- und Ausbau ihrer Bildungsressourcen nutzen, zur Vermehrung ihres Wissens und Könnens. Ihre individuellen Ziele reichten von der Verbesserung ihrer deutschen Sprachkenntnisse oder einigen Studiensemestern bis zu einem Studienabschluss und/oder einer Promotion, das heißt, sie wollten in Deutschland einen Bildungstitel erwerben, als institutionalisierte Fassung ihres hier erweiterten kulturellen Kapitals. Eng verbunden mit dem Streben nach weiterer Bildung war bei den jungen Frauen auch der Wunsch, das Leben im westlichen Europa zu erkunden und der oft kargen Lebenssituation in den Jahren der Transformation im Herkunftsland zu entkommen (Kapitel 6.1). Die meisten Bildungsmigrantinnen gingen davon aus, dass sich aus diesem Schritt eine dauerhafte Zuwanderung entwickeln würde, andere verstanden ihre Au-pair-Stelle oder ihre Auslandssemester als eine Strategie für eine spätere Migration, wieder andere dachten bei ihrem Auf bruch zunächst nicht an eine permanente Migration. Bei fünf Bildungsmigrantinnen war die Entscheidung zu ihrer Migration im Motivbündel beeinflusst von einem früheren Aufenthalt in Deutschland. Zwei Bil-

9. Bildungsmigrantinnen und Au-pairs

dungsmigrantinnen aus Russland hatten zuvor an einen Studienaufenthalt teilgenommen, zwei hatten als Tschernobyl-Kinder aus der Ukraine einen Erholungsurlaub in Deutschland verbracht und eine Migrantin aus Weißrussland hatte mit ihrer Familie, die bis 1994 bei der Westgruppe der Sowjetischen Streitkräfte stationiert war, in der DDR gelebt. Über Bildungsmigrantinnen und hochqualifizierte Zuwanderinnen ist die Datenlage »prekär« (Heß, 2012: 18), bis vor wenigen Jahren gab es keine Forschungsarbeiten über sie, weder weltweit noch in Deutschland (Kofman/Raghuram, 2009: 3; Liversage, 2009: 121; Jungwirth et al., 2012: 3), anders als über Arbeitsmigrantinnen, die in der Literatur bislang ausschließlich mit der Feminisierung der Migration verbunden werden (u.a. Han, 2003: 57-77; vgl. Kapitel 1.4.3). Die Migrationsforschung hat erst seit kurzem begonnen, Bildungsmigranten und hochqualifizierten Zuwanderern in der Europäischen Union und in Deutschland wahrzunehmen (Ackers/Gill, 2008; Nohl et al., 2010a; Mayer et al., 2012; Heß, 2009; 2012). Erste Studien von Nohl zur Arbeitsmarktintegration von hochqualifizierten Bildungsinländern der zweiten Migrantengeneration und von Bildungsausländern (Nohl et al., 2010a) sowie von Jungwirth über hochqualifizierte Bildungsausländerinnen (2011a; Jungwirth et al., 2012) haben neue Impulse zur Forschung beigetragen. Bei der Rezeption der deutschsprachigen Literatur sind einige Definitionen zu beachten: hochqualifizierte Migranten haben eine abgeschlossene tertiäre Bildung an einer Hoch- oder Fachhochschule erworben (Han, 2010: 34)2 . Haben sie ihr Diplom im Herkunftsland bzw. im Ausland erhalten, gelten sie in Deutschland als Bildungsausländer. Haben hochqualifizierte Migranten und Bildungsmigranten einen (weiteren) Bildungstitel in Deutschland erworben, sind sie danach Bildungsinländer, so die Definition von Nohl et al. (2010b: 14 und Anm. 5), die ich übernehme; sie unterscheidet sich von der sonst in Deutschland gebräuchlichen, nach der Bildungsinländer in Deutschland ihren Hochschulzugang – das Abitur – erworben haben. Der große Unterschied zwischen Bildungsinländerinnen und Bildungsausländerinnen zeigt sich im Sample deutlich bei der Inklusion auf dem Berliner Arbeitsmarkt und bei dem erfolgreichen Verlauf der Statuspassage. Bildungsmigrantinnen, die in Deutschland einen (zusätzlichen) Bildungstitel erwarben – und das sind fast alle – haben bei ihrem grenzübergreifenden Bildungsprozess formal einen weiteren Statuswechsel vollzogen, sie sind nun Bildungsinländerinnen. Sie haben einen gleichrangigen Arbeitsmarktzugang und verfügen überdies über transnationales Bildungskapital, damit sind ihre 2 | Im Aufenthaltsgesetz werden sie aber über ihre Tätigkeit bzw. Funktion definiert: hochqualifizierte Migranten sind hier Wissenschaftler mit besonderen fachlichen Kenntnissen sowie Lehrpersonen und wissenschaftliche Mitarbeiter mit herausgehobener Funktion (§19 AufenthG).

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Mittelosteuropäische Migrantinnen in Berlin

Voraussetzungen für eine adäquate Erwerbstätigkeit auf dem Berliner Arbeitsmarkt sehr gut (Tabelle 11). Ausgehend von der These Bourdieus, der Wert des kulturellen Kapitals sei nicht objektiv gegeben, sondern gesellschaftlich ausgehandelt (Bourdieu 1983/1992: 52f), ergibt sich für Nohl ein relationales Verständnis der Arbeitsmarktinklusion. Die Leitfrage der Forschungsbeiträge in seiner Studie war deshalb, wie es hochqualifizierten Migranten (Bildungsinländern der zweiten Migrantengeneration und Bildungsausländern) gelingt, ihr Wissen und Können auf dem Arbeitsmarkt des Aufnahmelandes zu erweitern und zu verwerten, so dass es als kulturelle Kapital anerkannt wird (Nohl et al., 2010b: 10f). Die Frage umfasst den Erwerb von Bildungskapital in der Schule, an der Universität und während der Arbeitsmarktintegration im Migrationsland, eine Statuspassage, die auch bei innereuropäischen Migrationen meist eine kritische Phase im Bildungs- und Berufsverlauf ist (Verwiebe, 2004: 144; 2008: 191f). Nohl weist auch darauf hin, dass Migranten eine dreidimensionalen Statuspassage durchlaufen (Nohl et al., 2010b: 11), zum Übergang von der Schulund Berufsausbildung in den Beruf und Arbeitsmarkt, kommt der Übergang zwischen den beiden Nationalstaaten hinzu, sowie die dritte Dimension, die partnerschaftlich und familienbezogene Lebensführung (Ackers/Gill, 2008: 232f; vgl. Kapitel 6.5).

9.1 A u - pair als S chnupperkurs für eine M igr ation Als Au-pair ins Ausland zu gehen ist eine gendertypisch überwiegend von jungen Frauen genutzte Migrationsform3. Sie wird von den vermittelnden Agenturen als kulturelle Begegnung in der Familie und im Gastland beworben, bei der die Bewerberin die Kinder betreut und etwas Hausarbeit erledigt4. Eine Aupair-Stelle ist für eine junge Frau mit knappen Ressourcen unmittelbar nach der Schule oft eine willkommene und eine aufenthaltsrechtlich relativ leicht umsetzbare Möglichkeit, erste Erfahrungen über Lebenszusammenhänge im Ausland zu sammeln, so war der Tenor der biographischen Erzählungen der Migrantinnen, die als Au-pair ihre Migration begonnen hatten. Einige junge 3 | Das Alter von Au-pair-Beschäftigten war in Deutschland auf 18 bis 25 Jahre festgelegt, 2013 wurde bis 27 Jahre erweitert. 4 | In den Medien und in der Literatur finden sich Berichte von Au-pairs, die darüber klagen, dass sie zu viele Stunden Hausarbeit leisten mussten und als billige Arbeitskraft ausgenutzt wurden (vgl. Hess, 2005). Die von mir interviewten (früheren) Au-pairs haben solche Klagen nicht geäußert, jedoch hatte eine Migrantin die Gastfamilie nach einigen Monaten gewechselt und eine andere gab ihre Au-pair-Stelle wenige Tage nach ihrer Ankunft auf.

9. Bildungsmigrantinnen und Au-pairs

Frauen beabsichtigten eine Art Schnupperkurs für Migration machen, andere wollten vor allem Deutsch lernen bzw. ihre Sprachkenntnisse aus der Schulzeit zu verbessern. Der konkrete Anlass für ihre Bewerbung auf eine Au-pair-Stelle war bei sieben der zehn Frauen die Wartezeit auf einen Studienplatz im Herkunftsland, die sie sinnvoll überbrücken wollten. In mittelosteuropäischen Ländern sind in der Transformationszeit die Studienplätze in der Regel knapp und die Bewerberinnen müssen vor einer Zulassung eine Aufnahmeprüfung ablegen, die nach Darstellung einiger Frauen schwieriger ist, als das Abitur. Häufig erhielten sie eine Ablehnung in ihrem Wunsch-Fach an der Wunsch-Universität, einige Bewerberinnen wurden mehrmals abgelehnt. An einigen Universitäten hatte die schlechte wirtschaftliche Situation in der Transformation auch korrupte Praktiken bei der Vergabe der Studienplätze zur Folge, der Erhalt eines Studienplatzes war von einer finanziellen Zuwendung der Bewerberin an den Bearbeiter abhängig und wer sie nicht zahlen wollte oder konnte, ging leer aus. Zehn Migrantinnen im Sample sind aus sieben Ländern – Estland (1), Litauen (2), Polen (1), der Ukraine (2), Ungarn (1), Moldawien (2) und Bulgarien (1) – zwischen 1995 und 2008 über eine Au-pair-Stelle nach Deutschland zugewandert 5; nach Berlin kamen die meisten erst in einem zweiten Schritt im Anschluss an ihre Au-pair-Zeit an einem anderen Ort in Deutschland. Vier Frauen sind nach Ende ihres Au-pair-Vertrages zunächst in ihre Herkunftsländer zurückgekehrt, um dort ihr Studium zu beenden oder eine Ausbildung zu machen, für die sie inzwischen zugelassen worden waren und um zu heiraten. Einige Jahre später migrierten sie mit ihrem (deutschen, französischen oder russischen) Ehemann dauerhaft nach Berlin. Die Migrationverläufe der Au-pair-Beschäftigten in biographischen Skizzen: aus den drei Baltischen Ländern begann die Zuwanderung über eine Aupair Stelle Mitte der 1990er Jahre, wie bei Tiina, die mit 17 Jahren aus Estland nach München ging, weil ihre Bewerbung für ihr Wunschstudium Germanistik in Tartu zunächst abgelehnt wurde. Sie hatte Deutsch in der Schule ab der 4. Klasse gelernt, mochte die Sprache und wollte während der Wartezeit auf einen Studienplatz ihr Deutsch verbessern. Nach Estland zurückgekehrt, erhielt sie kurz hintereinander eine Studienzulassung für Tartu und eine für München, wo sie sich während ihres Aufenthaltes ebenfalls beworben hatte. Sie entschied sich für München, ein Bekannter der Familie übernahm die 5 | Nach der Osterweiterung der EU 2004 nahmen Au-pair-Bewerbungen aus Polen, dem Baltikum, Tschechien, der Slowakei und Ungarn deutlich ab, denn die Freizügigkeit eröffnet andere Wege für sprachliche und kulturelle Begegnungen (Walter, 2006). Seit 2006 kommen Au-pair-Beschäftigte in Deutschland vor allem aus der Ukraine (jährlich knapp 2000) und aus der Russischen Föderation (jährlich knapp unter 1000; Migrationsbeicht 2014:59 und Tabelle 3-8).

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Mittelosteuropäische Migrantinnen in Berlin

Bürgschaft und sie verdiente als Werkstudentin mit verschiedenen Jobs ihren Unterhalt, studierte aber nicht Germanistik, sondern eine Fächerkombination, mit der sie sich auf interkulturelle Kommunikation spezialisiert hat, womit sie nun als Trainerin freiberuflich tätig ist. Nach Berlin kam sie später wegen des Berufes ihres deutschen Ehemannes. Die Migration von Ruta aus Litauen ist eine Erfolgsgeschichte. Sie kam 1997 im Alter von 19 Jahren als Au-pair nach Berlin zu einem Arztehepaar mit drei kleinen Kindern, während ihre Bewerbung für ein Literaturstudium in Kaunas in der Warteschleife war. Sie blieb drei Jahre in der Familie und viele abendliche Gespräche mit ihren Gasteltern, auch über medizinische Themen, haben sie bewogen, sich an der Charité um einen Studienplatz für Medizin zu bewerben. Auch bei Ruta kamen die Zusagen für einen Studienplatz aus Kaunas und Berlin gleichzeitig, sie entschied sich für Medizin und für Berlin, die Gasteltern bürgten für sie und Ruta verdiente ihren Lebensunterhalt über Jahre bei einer Cateringfirma. Beim Interview war sie frisch approbierte Ärztin, verheiratet mit ihrer Jugendliebe aus Kaunas und Mutter eines gemeinsamen Kindes. Ihr Ehemann schloss zur Zeit des Interviews sein politikwissenschaftliches Studium an einer Berliner Universität ab und Ruta spezialisierte sich zur Fachärztin. Ihre Eltern sind inzwischen in die USA ausgewandert, denn sie hatten eine green card in der Lotterie gewonnen. Jolita verließ Litauen erst nach ihrem Studium für Deutsch und Litauisch im Jahr 2000 über eine Au-pair-Stelle, als schon viele junge Litauer ins Ausland gegangen waren. Im Interview beschrieb sie ihre Motive: sie habe gleichzeitig die Freiheit gesucht, aber auch der Einsamkeit in Litauen entfliehen wollen, denn sie war von tiefer Traurigkeit erfüllt, weil während ihres fünfjährigen Studiums alle ihre Freundinnen und Freunde Litauen verlassen hatten. Ihre besten Freundinnen leben heute in New York und in Sao Paulo. Als Jolita ihr Abschlusszeugnis von der Universität abholte, hing an der Hauswand gegenüber ein Werbeplakat mit dem Au-pair-Mädchen für Deutschland gesucht wurden. Jolita fasste spontan ihren Entschluss, ging zu der Agentur und bewarb sich auf eine Au-pair-Stelle in Mecklenburg-Vorpommern, die sie aber nach elf Tagen abbrach, denn »die diese Arbeit war nichts für mich«. Sie zog nach Berlin »wegen der Nähe zu Litauen«, hat hier ihren deutschen Lebenspartner getroffen und blieb in der Stadt. Die berufliche Dimension ihrer Statuspassage gelang weniger zufriedenstellend, ihre Bewerbung um einen GermanistikStudienplatz für das Lehramt an einer Berliner Universität wurde abgelehnt. Nach der Geburt ihrer beiden Kinder hat sie die litauische Samstagsschule in Berlin mit aufgebaut und unterrichtet dort ehrenamtlich Litauisch. Seit einigen Jahren arbeitet sie bei einem Arzt als Hörtherapeutin mit Kindern, es ist aber nur ein Mini-Job und zur Zeit des Interviews überlegte sie, eine Umschulung zur Kita-Erzieherin zu machen.

9. Bildungsmigrantinnen und Au-pairs

Lena kommt aus einem kleinen Ort in der Nähe von Slubice im Westen Polens, wohin ihre Großeltern 1947 in der Aktion Weichsel aus der Ukraine zwangsungesiedelt worden waren. Sie hatte an der TH in Zielona Gora ein Studium zur Diplom-Soziologin abgeschlossen, bevor sie 2001 als Au-pair nach Stuttgart ging, um ihr Deutsch zu verbessern. Sie wollte nur ein Jahr bleiben, nicht zuletzt weil ihre Eltern gegen den Au-pair-Aufenthalt waren. In Stuttgart lernte Lena ihren späteren Ehemann kennen, einen Ingenieur aus Frankreich mit polnischen Wurzeln, der bei Daimler arbeitete. Sie verlängerte ihren Aufenthalt zunächst mit einem sozialen Jahr, dann mit Praktika bei Daimler um weitere eineinhalb Jahre. 2004 heiratete das Paar und 2007 konnte der Ehemann beruflich nach Berlin wechseln, vor allem »wegen der Nähe zu Slubice« im grenznahen Polen. Sie haben einen Sohn und Lena arbeitet in der Personalabteilung einer großen Firma. Ihr nächstes Ziel war »ein zweites Kind«. In den Migrationsverläufen von Zsuzsanna aus Ungarn und Oxana aus der Ukraine spiegelt sich die volle Ausschöpfung ihres Handlungsvermögens bei der Gestaltung ihres Lebens nach ihren Vorstellungen, mit jahrelangem Einsatz und trotz vielfach widriger Umstände. Zsuzsanna kam 2001 als Aupair nach Berlin, nachdem sie sich in Ungarn vier Mal vergeblich an mehreren Universitäten um einen Studienplatz beworben hatte. Sie war 19 Jahre alt und nutzte die Au-pair-Stelle als Strategie, um sich für ein Studium in Berlin zu bewerben. Sie hatte Deutsch in der Schule ab der 5. Klasse gelernt, machte in Berlin ein deutsches Sprachdiplom und zwei Jahre später erhielt sie einen Studienplatz für Deutsch und Sport für das Lehramt. Für ihren Lebensunterhalt jobbte sie jahrelang in einem Fitnesscenter. In Berlin traf sie ihren südamerikanischen Partner, den Vater ihrer Tochter, ist aber inzwischen getrennt und alleinerziehend. Zur Zeit des Interviews war sie in der Prüfungsphase für ihren Studienabschluss. Zsuzsanna gab einen Einblick in ihren aktuellen monatlichen Etat: sie erhält 300 Euro Bildungskredit von einer Bank, verdient 360 Euro in ihrem Job im Fitnesscenter, bekommt 240 Euro Hartz IV ergänzend für ihre Tochter und für die Miete, dazu 129 Euro Erziehungsgeld, 184 Euro Kindergeld und 200 Euro Unterhalt vom Kindesvater. Sie hat insgesamt 1413 Euro für sich und ihr Kind zu Verfügung, davon zahlt sie 444 Euro Miete und kommt mit dem Rest finanziell gut hin, wie sie sagte. Einen vergleichbar schwierigen Lebensweg ist Oxana gegangen. Sie kam 2007 als Au-pair aus der westlichen Ukraine nach Berlin, zur Zeit des Interviews lebte sie alleinerziehend mit ihrem zehn Monate alten Sohn und hatte gerade – nach der Überwindung ihres Schockes aufgrund der Trennung des deutschen Kindesvaters – ein einjähriges Zusatzstudium für Sonderpädagogik für das Lehramt begonnen, während ihr Kind stundenweise von einer Tagesmutter betreut wird. Oxana hat in der Ukraine ein Musikgymnasium besucht »es war Drill«, danach fünf Jahre Musik studiert und nach drei Jahren gleichzeitig als Musiklehrerin gearbeitet. Auf Wunsch ihrer Mutter hatte sie

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Mittelosteuropäische Migrantinnen in Berlin

mit einer Promotion begonnen, gab das Projekt aber nach einem halben Jahr auf, weil es ihr nicht zusagte und ging als Au-pair nach Berlin, es war »eine Flucht vor meiner Mutter«. Einerseits plante Oxana keinen längeren Aufenthalt, »vielleicht ein Jahr« um ihr Deutsch zu verbessern, andererseits hatte sie vorher »fast 20 Jahre lang« über eine Migration nachgedacht, seit sie im Alter von sieben Jahren einen Erholungsurlaub als »Tschernobyl-Kind« in Deutschland verbracht hatte. Es folgten weitere Erholungsaufenthalte und als sie bei einer Rundreise Berlin besucht hat, dachte sie damals spontan »hier könnte ich leben«. Ihre jetzige Lebensphase hat sie mit Beratung und Unterstützung einer Wohlfahrtsorganisation bewältigt, »Deutschland hat die Verantwortung des Vaters übernommen«, lautete Oxanas Kommentar. Eine Abtreibung, wie vom Kindesvater gewünscht, war für sie nicht infrage gekommen und auch nicht die Rückkehr in die Ukraine mit einem nichtehelichen Kind. Zur Zeit des Interviews hatte ihr monatlicher Etat als feste Größen 133 Euro Unterhalt für das Kind, bezahlt von der Mutter des Kindesvaters und 184 Euro Kindergeld. Ergänzend erhält sie die halbe Miete für das Kind und für sich Hartz IV bis zum Beginn des Studiums. Ein Bafög-Antrag war abgelehnt worden, weil sie schon in der Ukraine studiert hat, deshalb hatte sie ein Darlehen über 359 Euro monatlich für das Jahr ihres Zusatzstudiums beantragt. Olgas Lebensweg führte aus der Ostukraine als Au-pair in die Migration. Nachdem sie in Charkow einige Semester Pädagogik studiert hatte, wollte sie vor ihrer Arbeit als Lehrerin noch Erfahrungen in Deutschland sammeln und ging im Jahr 2000 als Au-pair nach Dresden. An eine Migration hat sie zunächst nicht gedacht, aber auch sie kannte Deutschland von mehreren Ferienaufenthalten als »Tschernobyl-Kind« und auch sie hatte Berlin von einem damaligen Besuch in guter Erinnerung. Die Gastmutter überredete sie zu einem Studiengang für Dolmetscher in Berlin nach der Au-pair-Zeit, übernahm die Bürgschaft und Olga verdiente ihren Lebensunterhalt als Kellnerin. Ihren Ehemann, damals Student, heute Informatiker, lernte sie an der Universität kennen. Olga würde gern wieder arbeiten, aber bislang konnte sie noch keinen Job suchen, weil ihr Kind häufig sehr krank ist. Eine Spätfolge von Tschernobyl? Für zwei junge Frauen aus Bulgarien und Moldawien war der Au-pairAufenthalt in Deutschland essentieller Teil ihrer Strategie für eine Migration. Gründe hierfür waren ihre schlechten Berufsaussichten und Verdienstmöglichkeiten, die sie nach ihrem Studium zu Hause gehabt hätten. So kam Iliana 1998 aus Bulgarien über eine Au-pair-Stelle nach Berlin, »im Hinterkopf hatte ich schon die Migration«, wie sie sagte, aufgrund der Schilderungen ihrer Cousine, die hier verheiratet ist und ihr die Au-pair-Stelle bei einem Rechtsanwalt besorgt hatte. Iliana blieb drei Jahre in der Familie, begann dann ein Studium der Kulturwissenschaften und arbeitete »nebenher« über Jahre in einem Restaurant, um ihren Unterhalt zu verdienen. Sie lebt in einer Partnerschaft und

9. Bildungsmigrantinnen und Au-pairs

hat ein Kind. Zur Zeit des Interviews war sie in der Abschlussphase ihres Studiums. Als Tanja im Jahr 2003 Moldawien verließ, hatte sie dort ein Studium in Englisch und Deutsch für das Lehramt abgeschlossen, »weil es nichts anderes gab«, wie sie sagte. Aber mit einem Gehalt von 30 Euro im Monat, den sie als Lehrerin in Moldawien verdienen würde, hätte sie nicht leben können. Wie andere Frauen ihrer Studiengruppe auch, ging sie mithilfe einer Au-pair-Stelle ihren ersten Schritt in die Migration. In Berlin studierte sie zusätzlich Italienisch und Spanisch, um als Übersetzerin leichter Arbeit zu finden. Sie spricht nun sechs Sprachen: die Muttersprachen Russisch und Moldawisch, Deutsch und Englisch nach dem Studium in Moldawien, Italienisch und Spanisch nach ihrem Studium in Berlin. Zur Zeit unseres Interviews hatte sie sich bei einem großen Übersetzungsbüro beworben. Tanja ist mit einem Ukrainer verheiratet. den sie in Berlin kennenlernte und das Paar hat ein Kind. Mit einem Sprachkurs haben zwei Migrantinnen strategisch ihre Zuwanderung nach Berlin begonnen, eine Moldawierin und eine Frau aus der Russischen Föderation. Zwei Frauen unter den hundert interviewten Migrantinnen bedeutet, ein Sprachkurs als Vorbereitung einer Migration wird eher selten gewählt. Beide Frauen haben in Berlin einen EU-Bürger kennengelernt und ihn geheiratet, so dass ihr weiterer Aufenthalt nach Abschluss des Sprachkurses rechtlich gesichert war. Beide Migrantinnen haben sich nach einer Zusatzausbildung in Berlin in ihrem vor der Migration erlernten Beruf mit einem Gewerbeschein selbstständig gemacht, eine arbeitet als Finanzbuchhalterin für kleine Firmen und Handwerksbetriebe, die andere hatte zu Hause Sprachen für das Lehramt studiert und arbeitet jetzt als Russischlehrerin an einer Sprachschule.

9.2 S tudium und P romotion als M igr ationsstr ategie – mehrdimensionale S tatuspassagen in biogr aphischen E rz ählungen Bei den einundzwanzig Frauen, die als klassische Bildungsmigrantinnen nach Berlin kamen, war die Vielfalt bei ihren Studienfächern groß, die sich von Germanistik, Sprachen und Sprachwissenschaft, Musik und Kulturwissenschaft, über Informatik, Wirtschaftswissenschaften bis zu Maschinenbau erstreckten. Auch die Finanzierung ihres Studiums in Berlin war variantenreich. Anfangs hatten die meisten Bildungsmigrantinnen für kurze Zeit ein Stipendium. Während ihres Studiums arbeiteten alle als Werkstudentinnen in zahlreichen Jobs u.a. als Kellnerin, an einer Tankstelle oder als Teilzeit-Mitarbeiterin an der Universität bzw. einem wissenschaftlichen Institut. Einige Migrantinnen in MINT-Fächern wurden nach ihrem Praktikum in der Firma

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weiterbeschäftigt. Bildungsmigrantinnen waren bei ihrer Zuwanderung meist Anfang bis Mitte zwanzig und aufgrund ihrer Studien zu Hause schon erfahren in der Einschätzung von Arbeitsbedingungen, Verdienstmöglichkeiten und beruflicher Aufstiegschancen im Herkunftsland und in Berlin. In meinem multinationalen Sample kamen die Bildungsmigrantinnen vor allem in der ersten Dekade aus den späteren EU-Ländern, aus Polen, Lettland, Ungarn und auch aus Russland. Sie studierten geisteswissenschaftliche Fächer und wollten »den Westen« kennenlernen. Nachdem sich in den späten 1990er Jahren das politische und wirtschaftliche Leben in den zukünftigen EU-Ländern Mittelosteuropas zu stabilisiert hatte, kamen nur noch wenige Migrantinnen von dort nach Berlin. Ab Ende der 1990er Jahre wanderten Bildungsmigrantinnen vor allem aus den russischsprachigen Ländern Mittelosteuropas zu und viele von ihnen haben mit dem Wechsel an eine deutsche Universität strategisch ihre Zuwanderung nach Deutschland vorbereitet. So erzählte eine Migrantin, die ursprünglich aus Transnistrien stammt, dem von Moldawien abgespaltenen russisch geprägten Landesteil und die mit einem DAAD-Stipendium aus Moldawien nach Berlin kam: »ich hatte alle Papiere dabei, ich wollte in Deutschland bleiben«. Und eine Migrantin aus Novosibirsk, die sich mit ihrem naturwissenschaftlichen Diplom für eine Doktorantenstelle beworben hatte, sagte im Interview »in Russland war bekannt, dass man mit einem Promotionsthema ein Visum für Deutschland und eine Stelle am Institut bekommt«. Bei der strategischen Migrationsplanung der russischsprachigen Bildungsmigrantinnen ist es erstaunlich, dass die meisten Frauen bei ihrer Zuwanderung keine Deutschkenntnisse hatten. Sie begründeten das im Interview mit mangelnder Zeit aufgrund der Studienanforderungen und mit mangelndem Deutschkursen an ihren Studienorten. Als Folge dessen mussten sie in Berlin während der ersten ein- bis eineinhalb Jahre zunächst Deutsch lernen, bevor sie hier erneut studieren konnten. Offenkundig war das keine große Hürde, wie angesichts ihres weiteren Bildungsverlaufes deutlich wird und sich auch in ihrer Eloquenz während der Interviews zeigte. Ausnahmen waren einige Moldawierinnen, die Deutsch sprachen, weil sie zu Hause ein Germanistikstudium für das Lehramt absolviert hatten, denn das war einer die wenigen angebotenen Studiengänge. Die biographischen Erzählungen der Bildungsmigrantinnen über ihre Migrationsmotive und über ihre grenzübergreifenden Bildungs-, Berufs- und Erwerbsverläufe vermitteln Einblicke in ihr Handlungsvermögen im Kontext ihrer zuweilen schwierigen, aber eindrucksvollen Bildungskarrieren unter den Bedingungen der Migration. Und die Erzählungen verdeutlichen wie die Migrantinnen ihr Wissen und ihr Können im Migrationsland erweitert und verwertet haben. Ein Beipiel ist Dana, die 1992 mit 22 Jahren im Rahmen ihres Germanistikstudiums in Warschau mit einem einjährigen polnischen Stipendium nach

9. Bildungsmigrantinnen und Au-pairs

Berlin gekommen ist. Hier hat sie sich in einen Deutschen verliebt, der Maschinenbau studierte und im gleichen Wohnheim lebte. Die Beiden wollten zusammenbleiben, deshalb kehrte Dana nach Ablauf ihres Stipendiums nicht nach Polen zurück. Um sich in Berlin eine Existenz aufzubauen und auch um ihr Aufenthaltsrecht zu sichern, begann sie ein fünfjähriges Studium für Germanistische Linguistik, das sie als Werkstudentin finanzierte mit Aushilfsjobs auf einer Baustelle, als Kassiererin an einer Tankstelle und als Bürohilfe in einer Transportfirma. Nach ihrem Diplom begann sie als Übersetzerin zu arbeiten und seit einigen Jahren ist sie Projektleiterin in einem großen internationalen Übersetzungsbüro. Sie ist glücklich verheiratet, wie sie sagte, aber zufrieden mit ihrem Leben ist sie erst, »wenn es mir halbwegs gelingt, Kinder und Arbeit unter einen Hut zu bringen«. Ines arbeitet heute als Kantorin in einer Berliner Kirche »unbefristet« wie sie betont. Sie hat drei Studien abgeschlossen und dann promoviert, sie ist unter den erfolgreichen Bildungsmigrantinnen eine besonders erfolgreiche. Ines kam Mitte der 1990er Jahre aus Lettland, war 34 Jahre alt und hatte Musikpädagogik und danach Alte Musik studiert und in Riga einige Jahre als Musiklehrerin gearbeitet. Sie wollte sich in Kirchenmusik spezialisieren und erhielt dafür ein Stipendium von der Nord-Elbischen-Kirche, kehrte nach dessen Ablauf aber nicht nach Lettland zurück, sondern heiratete in Bremen. Um ihre beruflichen Aussichten in Deutschland zu verbessern, begann sie hier ein drittes Studium, es war das zweite für Alte Musik und sie stellte dabei fest, dass sie ihre lettischen Zeugnisse in Deutschland anerkennen lassen konnte, um für bessere Stellen qualifiziert zu sein. Es folgte ein Jahr in Südamerika, wo ihr Ehemann in der Entwicklungshilfe tätig war. Anschließend begann sie ihre Arbeit als Kantorin in Berlin und nach der Geburt ihrer Kinder schrieb sie ihre Dissertation über ein musikwissenschaftliches Thema anhand von Archivmaterial in der Staatsbibliothek in Berlin und promovierte in Riga. Die Studienverläufe anderer Bildungsmigrantinnen waren langwieriger oder sie führten (noch) nicht zu dem erwünschten Beruf bzw. einer adäquaten Erwerbstätigkeit. Agnes kam 1996 gleich nach dem Abitur aus Ungarn, um zu studieren und machte ein Diplom in Sozialpädagogik. Danach hat sie einige Zeit in Budapest in der Erwachsenenbildung gearbeitet, was ihr aber nicht zusagte. Sie hat dann in Budapest Deutsch als Fremdsprache studiert und abgeschlossen. Der Liebe wegen kam sie nach Berlin und studierte hier Kulturanthropologie als drittes Studium, auch um ihren Aufenthalt rechtlich zu sichern. Nach dem Magister arbeitete sie einige Zeit als Koordinatorin in einem Berliner Stadtteilprojekt für Mütter und zur Zeit des Interviews hatte sie ein Promotionsstipendium für ein empirisches Thema über Bildungswege junger Migrantinnen. Ihr Berufsziel ist es, als Dozentin an einer Fachhochschule zu lehren. Nach ihrer Heirat begleitete sie mit ihren drei Kindern ihren Ehemann auf einem mehrjährigen beruflichen Auslandsaufenthalt.

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Mittelosteuropäische Migrantinnen in Berlin

Polina hatte ein Musikstudium absolviert und in Moskau als Klavierlehrerin gearbeitet, als sie mit 24 Jahren Mitte der 1990er Jahre nach Berlin kam, um Deutsche Philologie zu studieren. Ihr Motiv war Neugier auf das westliche Ausland, die bei ihr nach der Perestroika-Öffnung Russlands6 entstanden war. Sie ließ in Moskau ihren sechsjährigen Sohn bei ihren Eltern zurück, von dessen Vater sie sich gerade getrennt hatte. In Berlin lebte sie von StudentenJobs, pendelte oft per Bus in 33 Stunden nach Moskau zu ihrer Familie und ihrem Kind. 2001 beendete sie ihr Studium in Berlin mit einem Diplom und wollte nach Russland zurückkehren. Die Koffer waren schon gepackt und die Wohnung gekündigt, da traf sie ihre große Liebe in einer Disko. Polina pendelte fortan über Jahre zwischen Berlin und Moskau und als ihre Aufenthaltserlaubnis zu einem Problem wurde, belegte sie Zusatzstudien, bis sich ihre große Liebe zur Heirat entschlossen hatte. Polina »gestaltet das Glück«, wie sie sagte und fügt zur hinzu »russische Frauen sind stark, aber nicht dominant«. Mit ihrer Bemerkung, das Glück zu gestalten, nimmt sie Bezug auf das im sowjetischen und postsowjetischen Russland gebräuchliche Denkmuster über die Aufgabe der Ehefrau und Mutter. Sie ist die Chasjaika, die – neben ihrer Erwerbstätigkeit – Gestalterin des privaten Lebensbereiches und Heimes der Familie ist und »Herrin des Hauses« (Ritter, 2007: 261). Polinas Ehemann ist Freiberufler und eine Zeit lang haben sie zusammen in Moskau seine beruflichen Möglichkeiten dort ausgelotet, aber es ist »eine harte Stadt« mit hohen Lebenshaltungskosten. Nach der Rückkehr »fühle ich mich in Berlin zu Hause«. Das Paar hat inzwischen zwei Kinder und die Familie lebt eine Mischung aus deutscher und russischer Kultur. Polina gibt freiberuflich Klavierstunden, wofür sie in ihrem ersten Studium in Russland ausgebildet wurde. Trauer empfindet sie, weil es ihr nicht gelungen ist, ihren Sohn aus erster Ehe nach Berlin zu holen, bevor er das 16. Lebensjahr erreicht hatte. Sie hofft, dass das gelingt, wenn ihr Sohn nach seinem Abitur demnächst ein Studium in Deutschland beginnen kann. Während ihres Philologie-Studiums für Deutsch und Englisch in Moskau verbrachte Alina einen einjährigen Studienaufenthalt in einer westdeutschen Großstadt – und war begeistert. Nach dem Studium arbeitete sie in Russland einige Zeit als Lehrerin und bei einem Besuch in Berlin 1998 hat sie sich entschlossen zu bleiben, wollte aber wegen ihrer beruflichen Arbeit zwischen beiden Ländern pendeln. Alina ist als Selbst ständige mit Modeprojekten und Modelscouting tätig, sie ist damit ihrer Mutter gefolgt, mit deren Firma sie in Russland zusammenarbeitet. Sie pendelt deshalb häufig für vierwöchige Projekte nach Russland. Nach der Geburt ihrer Tochter wurde das Pendeln 6 | Perestroika (russ.: Umgestaltung) bezeichnet wie Glasnost (russ.: Offenheit) den ab 1986 von Michael Gorbatschow eingeleiteten Prozess des demokratischen Umbaus der Sowjetunion.

9. Bildungsmigrantinnen und Au-pairs

schwieriger. Als Alina das Kind öfter mal einige Wochen bei der Oma in Russland ließ, hatte die Kleine anschließend in ihrer Kita-Gruppe in Berlin Probleme und die Erzieherinnen rieten von weiterem Pendeln ab. Alinas Lebenspartner geriet in geschäftliche Turbulenzen und orientiert sich nun beruflich neu in Südeuropa und dort will die Familie auch bald zusammen leben. Alina ist voller Tatkraft im Hinblick auf den Neubeginn, befürchtet aber auch Schwierigkeiten für sich und ihre Tochter mit der neuen dritten Sprache und auch für ihre berufliche Arbeit in der Mode-Branche. Zur Zeit des Interviews war »alles im Fluss«. Nach unserem Interview kommentierte sie ihr Leben mit den Worten »Die Migration hat mich entwickelt«. Auch Daria hatte den Wunsch, das Leben im Westen kennenzulernen und sie wollte studieren, um sich eine Existenz aufzubauen und dauerhaft in Berlin bleiben zu können, denn in Weißrussland sah sie für sich keine Perspektive. In Minsk hatte sie Wirtschaftswissenschaften studiert, ohne einen Abschluss zu machen. Sie kam 1997 mit 21 Jahren und einem Touristenvisum nach Berlin, lebte in Kreuzberg in einer russischsprachigen WG und fand heraus, dass sie als Jüdin Anspruch auf den Status eines Kontingentflüchtlings hat, mit gesichertem Aufenthalt und einer Arbeitserlaubnis. Nach zweieinhalb Jahre Bürokratie erhielt sie beides. Aber zunächst folgten Jobs auf einer Baustelle »Tapeten runter, Fenster raus, neue einsetzen, putzen«, eine Ehe, die schnell scheiterte, ein BWL-Studium, dass sie mit Putzjobs und Babysitten aus Anzeigen in Berliner Morgenpost finanzierte und später »wegen des Fachchinesisch« abbrach. Schließlich heiratete sie einen Landsmann aus Minsk, der seit den frühen 1990er Jahren in Berlin lebt, hier studiert hat und als Informatiker tätig ist. Als ihre gemeinsame Tochter ein Jahr alt war und in die Kita ging, studierte Daria Wirtschaftsmathematik an der Hochschule für Technik und Wirtschaft (HTW), ein Studium von sechs Jahren, wofür sie acht Jahre brauchte, wegen der Versorgung ihres Kindes und auch wegen ihres interessanten Jobs bei einer Event-Agentur, die in Berlin Veranstaltungen für Ministerien und Banken ausrichtet. Nach ihrem Diplom war sie zur Zeit des Interviews auf der Suche nach einer passenden Arbeit. Eine herausragende Bildungskarriere hat Yulia durchlaufen, die in eine Promotion und eine Stelle als akademische Mitarbeiterin an einem Institut für Osteuropa-Studien einmündete. Dafür hat sie über Jahre hart gearbeitet und ist mit Zusatzstudien einige Umwege gegangen. Sie migrierte Ende der 1990er Jahre aus der Ukraine mit einem Diplom für Russische Philologie und einem halbjährigen Stipendium: »ich wollte einfach weg«. Sie war 22 Jahre alt. Deutsch hat sie erst nach ihrer Ankunft gelernt, danach Kulturwissenschaften studiert und eine Zusatzqualifikation für Russisch als Fremdsprache erworben, »weil das in Deutschland nützlich sein könnte«. Anschließend hat sie einige Zeit als Dozentin für Russisch gearbeitet. Mit einem Stipendium für Begabtenförderung studierte sie dann Wirtschaftswissenschaften mit einem

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Mittelosteuropäische Migrantinnen in Berlin

Master-Abschluss. Sie bewarb sich erfolgreich an einem Institut für Osteuropa-Studien als wissenschaftliche Mitarbeiterin mit halber Stelle und promovierte mit einem kulturwissenschaftlichen Thema. Sie war zehn Jahre mit einem russischen Ingenieur verheiratet, dem Vater ihres Sohnes, jetzt ist sie geschieden. Yulia hat vor kurzem die deutsche Staatsbürgerschaft für sich und das Kind beantragt. Die biographischen Erzählungen zeigen auch, wie Migrantinnen ihre ursprünglichen Studienziele bei auftretenden Schwierigkeiten modifizieren und pragmatisch neue Ideen entwickeln. Das war auch für Lilia und Aina notwendig, nachdem beide ihre anfänglichen Studienziele nicht erreicht hatten. Lilia kam 1997 aus Moldawien mit einem sechsmonatigen DAAD-Stipendium nach Berlin, aber mit dem festen Entschluss zu einer dauerhaften Migration. Sie war 21 Jahre alt, hatte in Moldawien ein Studium für Übersetzungen aus ihrer russischen Muttersprache in Deutsch und Englisch begonnen und es in Berlin im Fernstudium abgeschlossen. In Berlin studierte sie Literatur- und Theaterwissenschaften, ohne Abschluss und führte gleichzeitig ein »chaotisches Privatleben«, mit zwei gescheiterten Ehen. Inzwischen hat sich ihr Leben stabilisiert, sie ist in dritter Ehe mit einem Migranten aus Südamerika verheiratet, hat zwei Kinder und ist »angekommen«, wie sie sagte. Zur Zeit unseres Interviews hatte sie gerade eine vierjährige Ausbildung zur Heilpraktikerin abgeschlossen und begonnen tageweise in der Praxis eines Kollegen zu praktizierten. Aina hatte in Riga ein Master-Diplom für Bibliothekswesen abgeschlossen und ist 2001 im Alter von 24 Jahren mit einem kurzen DAAD-Stipendium und einem Promotionsthema über Kooperationsmöglichkeiten deutscher und mittelosteuropäischer Bibliotheken nach Berlin gekommen, allerdings fast ohne Deutschkenntnisse. Sie hat zunächst Deutsch gelernt, nach dem Auslaufen ihres Stipendiums viel gejobbt, unter anderem in einem Pflegeheim für alte Menschen. Im Studentenheim hat sie sich in einen Studenten aus Westafrika verliebt, wurde schwanger und musste nach der Geburt die Promotion abbrechen, weil ihr Sohn ständig krank war, mit Lebensmittelallergien, Fruktoseintoleranz, Asthma und einer Lungenentzündung. Hinzu kamen massive Geldsorgen, weil sie wegen ihres kranken Kindes keine Arbeiten annehmen konnte. 2005 ging sie nach Lettland zurück, hat dort bei ihrer Schwester gelebt und gejobbt, aber die Betreuung des Kindes während ihrer Arbeitszeiten war schwierig, sie hatte wieder finanzielle Probleme und begann unter Depressionen zu leiden. Drei Jahre später kehrte sie nach Berlin zurück, auf den Rat ihres afrikanischen Ex-Freundes, dem Vater ihres Kindes. Er nahm die beiden anfangs bei sich und seiner neuen Frau auf. Ihr Sohn hat inzwischen in der Kita gut Deutsch gelernt, geht in die erste Klasse und ist in psychologischer Behandlung. Aina hat sich erfolglos in Berlin um Jobs in Bibliotheken beworben, sie erhält jetzt Hartz IV und will eine Umschulung zur Altenpflegerin zu machen.

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Nach der Jahrtausendwende wanderten Bildungsmigrantinnen vor allem aus russischsprachigen Ländern Mittelosteuropas in Berlin zu. Sie kamen nun weniger aus Neugier auf das »Leben im Westen« wie in den ersten Jahren der Ost-West-Migration, sondern hatten meist konkrete Berufsvorstellungen und dachten an eine dauerhafte Migration. Sie gingen in aller Regel ihre Migration hochmotiviert an, studierten voller Energie, machten ihren Abschluss und fanden aufgrund ihrer Studienfächer schnell Arbeit, oft wurden sie schon im Anschluss an ein Praktikum von der Firma übernommen. Russischsprachige Migrantinnen im Sample haben zu Hause meist ein Diplom in mathematischnaturwissenschaftlichen oder in ökonomischen Studienfächern gemacht, die in Deutschland höchstens als Grundstudium anerkannt werden. In Berlin studierten sie in der Regel eines der MINT-Fächer oder Wirtschaftswissenschaften, das heißt, die westlich-kapitalistische Variante ihres ursprünglichen Studienfaches. Sie sind als hochqualifizierte Fachkräfte auf dem Berliner Arbeitsmarkt begehrt und finden in IT-Berufen schnell Arbeit, bspw. bei Versicherungen und bei großen internationalen Firmen als System- oder Finanzanalystin. Sehr erfolgreich war Anna mit ihrer Statuspassage. Sie war im Herbst 2000 aus dem Norden Russlands nach Berlin gekommen, mit dem Vorsatz »ich wollte studieren, nichts anderes«. Sie stammt aus einer finno-ugrischen Minderheit, war 22 Jahre alt, hatte schon in St. Petersburg Wirtschaftswissenschaften für Holzverarbeitung studiert und war Diplom-Ingenieurin für Ökonomie. Das Diplom wurde in Berlin nicht anerkannt, aber sie konnte es als Zugang zu allen Studienfächern an der TU nutzen. Anna sprach bei ihrer Ankunft kein Deutsch und lernte die ersten eineinhalb Jahre die Sprache, studierte dann Wirtschaftswissenschaften und Maschinenbau und schloss das Studium als Diplom-Ingenieur für Maschinenbau im Sommer 2008 ab. Maschinenbau hat sie gewählt, weil es als breit angelegtes Studium später für viele Jobs verwendbar ist, wie sie mir erklärte. Anna war ihrer Jugendliebe aus Russland gefolgt, der zwei Jahre zuvor seiner Mutter gefolgt war, die in zweiter Ehe mit einem Deutschen verheiratet ist. Die Jugendliebe ist ihr Lebenspartner und Vater des gemeinsamen Sohnes. Während des Studiums hat Anna ein Praktikum bei einem internationalen Spitzentechnologiekonzern bei Berlin absolviert, wurde dort als Werkstudentin bis zum Studienende weiterbeschäftigt und nach ihrem Diplom unbefristet übernommen. Sie arbeitete zur Zeit des Interviews als Projektleiterin in der Fertigung von Flugzeugtriebwerken. Seit kurzem hat sie die deutsche Staatsbürgerschaft und kommentierte das pragmatisch »vieles ist jetzt leichter, vor allem die Bürokratie«. Vergleichbar erfolgreich im Studium und auf dem Arbeitsmarkt waren auch drei weitere Bildungsmigrantinnen, zwei mit wirtschaftswissenschaftlichen Studienfächern aus Weißrussland und Russland, die dritte mit einem Biologie-Diplom aus Russland. Irina kam mit 23 Jahren mit ihrem Diplom in

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Mittelosteuropäische Migrantinnen in Berlin

Ökonomie von der Universität Minsk, um in Berlin zu studieren. Das wollte sie schon als kleines Mädchen, denn sie hat bis 1994 mit ihren Eltern in Potsdam gelebt, als der Vater der Westgruppe der Sowjetischen Streitkräfte angehörte. An der TU studiert sie Wirtschaftsingenieurwesen, hat am Institut einen Job zur Finanzierung ihres Studiums und absolvierte zur Zeit des Interviews ihr letztes Praktikum bei einer Firma »die Softwarelösungen entwickelt und komplette Systeme für Energieversorger, Industrie und Infrastrukturbetreiber erarbeitet« wie die Homepage informiert. Die Firma hat ihr bereits ein Jobangebot unterbreitet, für die Zeit nach dem Diplom. Irina denkt manchmal an eine Rückkehr, damit ihr Kind, das sie allein erzieht, in der Nähe der Großeltern aufwachsen kann. Jedoch würde in Weißrussland ihr Diplom aus Deutschland nicht anerkannt werden, aber sie ist sicher, dass sie problemlos Arbeit in einer privaten Firma finden könnte. Jekaterina hat in St. Petersburg an der Staatlichen Universität fünf Jahre Ökonomische Kybernetik studiert, das schon auf westliche Inhalte umgestellt war, wie sie sagte. Nach ihrem Diplom hat sie ein Jahr erfolglos einen Job gesucht. In der Zwischenzeit verdiente sie mit russisch-englischen Übersetzungen auf internationalen Konferenzen ihren Lebensunterhalt. Begegnungen mit deutschen Wissenschaftlern auf diesen Konferenzen verstärkten ihren Wunsch in Deutschland weiter zu studieren. Sie war 23 Jahre alt, als sie an der HU in Berlin für ein englischsprachiges Master-Programm »Economics and Management Science« angenommen wurde, das auf zwei Jahre ausgelegt war, für das sie aber drei Jahre brauchte, weil sie sehr viel lesen musste und es anfangs schwierig für sie war, mit der akademischen Freiheit umzugehen. Außerdem musste sie zunächst Deutsch lernen. Ihre Mutter hat ihr für die ersten sechs Monate Geld gegeben, dann bekam sie für ein Semester ein DAAD Stipendium, danach hat sie als Tutorin gearbeitet und später hatte sie einen Job beim Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung. Nach ihrem MasterDiplom mit der Note »gut« hat sie einen deutschen Informatiker geheiratet, den sie schon in St. Petersburg kennengelernt hatte, dann ihr Kind bekommen und seit 2007 ist sie als internationale IT-Analystin bei einer weltweit tätigen Unternehmensberatung tätig, was aber sehr stressig ist, deswegen würde sie sich gern beruflich verändern. Mit einem Diplom in Biologie migrierte Larissa 2002 mit 23 Jahren aus Nowosibirsk, um in Deutschland zu promovieren. »Um dem Traum ins Ausland zu kommen« zu verwirklichen, hatte sie während ihres Studiums an einem einjährigem Studentenprogramm in Deutschland teilgenommen, dabei »ein bisschen Land und Leute kennengelernt« und einen Deutschkurs bis Mittelstufe B2 absolviert. Nach ihrem Diplom in Russland wurde ihre Bewerbung um eine Promotionsstelle an einer süddeutschen Universität angenommen. Gleichzeit lernte sie über das Internet einen deutschen Informatiker – ihren jetzigen Ehemann – kennen, der zwei Semester in Russland studiert hatte und

9. Bildungsmigrantinnen und Au-pairs

nun seine Freunde dort besuchen wollte. Sie trafen und verliebten sich und nach einer Zeit der Pendelbeziehung wechselte Larissa an eine Berliner Universität und begann eine neue Dissertation über »Entwicklung neuer Medikamente für Immunreaktionen bei Transplantation«, aber nach zwei Jahren war die private Forschungsfirma insolvent und damit ihr Dissertationsprojekt beendet. »Ohne Trauer«, wie sie sagte, denn mit ihren Fachkenntnissen aus dieser Forschung fand sie schnell Arbeit in einer kleinen Biotechnologie-Firma zur Entwicklung neuer Medikamente gegen Krebs auf DNA-Basis, wo sie seither in der Forschung mit klinischen Studien beschäftigt ist. Vor einigen Jahren haben sie und ihr Partner geheiratet und sind inzwischen Eltern von zwei Kindern. Zum Abschluss der Beispiele über Statuspassagen von Bildungsmigrantinnen noch drei besonders erfreuliche grenzübergreifende Bildungsbiographien von Migrantinnen aus Russland, aus der ungarischen Minderheit in Rumänien und aus Moldawien, die sie alle drei ihre Studien in Deutschland mit einer Promotion abgerundet haben, zwei in Wirtschaftswissenschaften und in eine Germanistik. So kam Mascha im Jahr 2000 nach Berlin, sie war 22 Jahre alt, wollte sich beruflich weiter entwickeln und promovieren. Sie stammt aus einem Ort in der Nähe von Moskau, hat nach der Grundschule drei Jahre eine Fachschule für BWL besucht, dann an der Technischen Universität in Moskau sechs Jahre Wirtschaftswissenschaften studiert und mit einem Diplom als Wirt­schaftsingenieurin abgeschlossen. Sie bekam ein Stipendium für zwei Semester an der TU in Berlin und der TU in München, kehrte anschließend nach Berlin zurück, um in Wirtschaftswissenschaften zu promovieren. Ab 2002 hatte sie eine Halbtagsstelle an der TU in Berlin. 2005 hat sie geheiratet, ihr Mann ist Physiker und in der Forschung tätig. 2007 hat sie promoviert und ist seit 2006 für eine große IT-Beratungsfirma tätig, bei der sie nach der Geburt ihrer Tochter halbtags beschäftigt ist, zur Zeit des Interviews von zu Hause aus online im Team mit Kollegen für ein Banken-Projekt in einem Emirat am Persischen Golf. Emece kam 2002 mit 24 Jahren nach Deutschland, um mit einem Promotionsstipendium über ein wirtschaftswissenschaftliches Thema in Bonn zu promovieren. Sie kommt aus dem Kreis Covasna in Rumänien, der als Szeklerland bezeichnet wird, weil dort die große ungarische Minderheit des Landes lebt, zu der Emese gehört 7. Sie hatte zuvor Wirtschaftswissenschaften und Internationale Transaktionen in Rumänien studiert, danach den Master in Wirtschaftswissenschaften in Budapest an der privaten Central European University mit einem Stipendium der Soros-Stiftung gemacht und ist dann zu ihrer Promotion im Rahmen eines agrarwissenschaftlichen Projektes der 7 | 2012 gehörten von den 21 Mio. Rumänen 1,2 Mio. zur ungarischen Minderheit, etwa 6 %.

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Universität Bonn eingeladen worden. Seit 2005 lebt sie in Berlin und hat 2006 ihren deutschen Partner geheiratet, den sie in Bonn kennengelernt hatte, auch, um eine Arbeitserlaubnis zu erhalten, weil sie ohne diese vorher keinen adäquaten Job gefunden hatte. Seitdem arbeitet sie »überqualifiziert« als Consultant mit drei Sprachen (ungarisch/rumänisch/englisch) bei einer Firma, die Geschäftspartner in Osteuropa zu deren wirtschaftlichen und finanziellen Hintergründen überprüft u.a. bzgl. Wirtschaftskriminalität und Korruption. Dort kann sie ihre wirtschaftswissenschaftlichen Kenntnisse nicht verwenden und denkt deshalb an einen Wechsel, »aber erst nach dem zweiten Kind«. Emese wurde im Alter von 23 Jahren Waise, weil die Eltern an Krebs starben. Danach fühlte sie sich »wurzellos«, das Elternhaus wurde verkauft und ihre Schwester migrierte mit ihrer Familie nach Ungarn, arbeitet jetzt aber als Zimmermädchen und Pendelmigrantin in Österreich. Aus diesen Gründen schätzt Emese die Geborgenheit ganz besonders, die sie in der Berliner Familie ihres Mannes gefunden hat. Laura ist ab ihrem elften Lebensjahr in einem Kinderheim in Moldawien aufgewachsen, nachdem ihre Mutter auf einer Reise nach Russland verschollen war. Nach dem Abitur studierte sie in Chisenau Germanistik, machte ihr Diplom als Übersetzerin für Deutsch und Englisch mit Lehramtsbefugnis. Ihre Zukunftsperspektive in Moldawien war, als Lehrerin für 30 Euro im Monat zu unterrichten, wie es andere moldawische Bildungsmigrantinnen auch beschrieben haben. Laura arbeitete in Chisenau ehrenamtlich für eine Waisenorganisation und sie kam über diese Kontakte zu einem Besuch nach Berlin, blieb hier und hat sich ab Herbst 2000 für Germanistik eingeschrieben, um zu promovieren. Sie war 22 Jahre, bewarb sich erfolgreich um ein Promotionsstipendium mit einem sprachwissenschaftlichen deutschrussischen Thema, wurde Mutter von Zwillingen von ihrem russischen Ex-Partner und schloss ihre Dissertation 2008 »summa cum laude« ab. Sie ist jetzt mit einem Deutschen verheiratet, er hat beide Kinder adoptiert und sie haben eine gemeinsame Tochter. Laura arbeitet mit einem Mini-Job als Übersetzerin in einer russischen Firma und hat sich zur Zeit des Interviews – aussichtsreich, aber überqualifiziert – für eine Stelle im Öffentlichen Dienst beworben, der aufgrund des Berliner Partizipationsgesetzes seit 2012 für Migranten zugänglich ist (vgl. Kapitel 2.1).

9. Bildungsmigrantinnen und Au-pairs

9.3 R esümee : C hancengleiche Teilhabe als hochqualifizierte F achkr äfte am B erliner A rbeitsmarkt Die einundzwanzig klassischen Bildungsmigrantinnen aus den mittelosteuropäischen Ländern haben die kritische dreidimensionale Statuspassage ihrer Migration gut bewältigt. Zwei Drittel von ihnen – vierzehn Frauen – waren herausragend erfolgreich mit der konsequenten Vermehrung ihres mitgebrachten kulturellen Bildungskapitals mit einem erneuten Studium in Berlin und seiner ökonomischen Konvertierung auf den Berliner Arbeitsmarkt (Tabelle 11). Die übrigen sieben Bildungsmigrantinnen mussten in ihren grenzübergreifenden Bildungs- und Erwerbsprozessen einige Schwierigkeiten überwinden und schließlich damit zurechtzukommen, dass sie ihre ursprünglichen Studien- und Berufsziele nicht erreicht haben und realistisch andere Möglichkeiten auf dem Arbeitsmarkt nutzen. In ihren biographischen Erzählungen vermittelten alle früheren Bildungsmigrantinnen ihre Zufriedenheit mit ihrer Erwerbstätigkeit und ihrer gesellschaftlichen Teilhabe in Berlin, alle sind verheiratet oder leben in einer Partnerschaft und haben ein Kinder oder Kinder. Fünfzehn Bildungsmigrantinnen haben in ihrem grenzübergreifenden Bildungsprozess ihr ursprüngliches Studienziel erreicht, davon vierzehn mit einem erneuten Studium in Deutschland, d.h. nach jahrelanger harter Arbeit und zahlreichen Jobs zur Sicherung ihres Lebensunterhalts. Sie sind in Berlin als hochqualifizierte Fachkräfte in Berufen tätig, der ihrem deutschen Studienabschluss und ihrem transnational erworbenen Wissen und Können entsprechen: als Diplomingenieurin, IT-Spezialistinnen und Wirtschaftswissenschaftlerinnen, als wissenschaftlichen Mitarbeiterin einer Universität, als Kantorin, als Projektleiterin eines internationalen Übersetzungsbüros und eine frühere Au-pair als Ärztin8. Eine Biologin, die ursprünglich in Deutschland promovieren wollte, ist mit ihrem russischen Diplom in der biomedizinischen Forschung beschäftigt, ohne ein erneutes Studium in Deutschland, als einzige der erfolgreichen Bildungsmigrantinnen9. Sie konnte aber die praktischen Erfahrungen ihrer Promotionsforschung einbringen, die sie aufgrund 8 | Alle genannten Berufe bzw. Tätigkeiten gehören nach Internationaler Standardklassifikation zur Gruppe ISCO 2, die Akademiker und Wissenschaftler umfasst (www2. warwick.ac.uk/fac/soc/ier/research/isco88). Zum Vergleich: in Deutschland haben im Jahr 2011 zwei Drittel (66,6 %) der hochqualifizierten Zuwanderer aus Drittstaaten in Berufen gearbeitet, die als ISCO 2 klassifiziert sind (Heß, 2012: 66). 9 | Im Sample sind zwei weitere Akademikerinnen, die mit ihrem russischen Diplom berufstätig sind, eine Mathematikerin bei einer Rentenkasse und eine Migrantin mit Sprachdiplom als Projekteiterin in einer Sprachschule – beide sind als Heiratsmigrantinnen zugewandert (Kapitel 10).

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der Firmeninsolvenz nicht abgeschlossen hat. Sieben Bildungsmigrantinnen haben zusätzlich promoviert – zwei in Wirtschaftswissenschaften und je eine in Germanistik, in Musikwissenschaft, in kulturwissenschaftlicher Osteuropaforschung und in Medizin; eine sozialwissenschaftliche Dissertation war zur Zeit des Interviews noch in Arbeit. Vier Migrantinnen haben hierfür in Deutschland ein Promotionsstipendium erhalten. Eine grundlegende Erkenntnis ergibt sich aus den grenzüberschreitenden Bildungs-, Berufs- und Erwerbsprozessen der erfolgreich in den in Berliner Arbeitsmarkt integrierten ehemaligen Bildungsmigrantinnen: alle die in Deutschland ein (zusätzliches) Studium absolvierten und/oder promovierten, haben ihr mitgebrachtes kulturelles Kapital von Grund auf erweitert, um es optimal kompatibel mit deutschen Referenzberufen und den Anforderungen des Arbeitsmarkts zu machen. Ihre anschließend schnell erreichte Erwerbstätigkeit und ihre gute berufliche Stellung waren entscheidend davon bestimmt, dass sie jetzt Bildungsinländerinnen sind und ihre Qualifikationen voll anerkannt werden. Jeder potentielle Arbeitgeber weiß, sie haben gute Deutschkenntnisse, auch auf fachlichem Niveau, gute Kenntnisse über die Arbeitswelt in Deutschland sowie Zugang zu professionellen Netzwerken, die sie in der Studienzeit knüpfen konnten. Die Migrantinnen haben damit als hochqualifizierte Fachkräfte ihre Chancengleichheit am Arbeitsmarkt und ihre volle gesellschaftliche Teilhabe abgesichert. Alle waren mit ihrer gegenwärtigen beruflichen Arbeit zufrieden oder sehr zufrieden. Einige Frauen dachten über kleinere berufliche Veränderungen nach, so fühlte sich eine promovierte Wirtschaftswissenschaftlerin für ihre jetzige Tätigkeit überqualifiziert und eine IT-Analystin meinte »die täglichen Datenanalyse kann doch beruflich nicht alles sein« und beide Frauen wollten sich demnächst nach einer anspruchsvolleren Beschäftigung umsehen, die sie mehr fordert. Beide erwähnten aber die gute kollegiale Atmosphäre in ihrer Firma, die ihnen einen Wechsel schwer macht. Eine andere IT-Analystin in einer internationalen Unternehmensberatung war zufrieden mit ihrer Arbeit, klagte aber über den täglichen Stress und dachte ebenfalls über eine Veränderung nach. Etwas anders war die berufliche Situation der promovierten Sprachwissenschaftlerin, zur Zeit des Interviews arbeitete sie noch in einem Minijob aus ihrer Studentenzeit als Übersetzerin für Deutsch und Russisch und hatte sich gerade für eine interkulturelle Tätigkeit beim Berliner Senat beworben.

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Tabelle 11: Erfolgreiche grenzüberschreitende Bildungs-, Berufs- und Erwerbsprozesse der Bildungsmigrantinnen Migration Alter im Herkunftsland

in Berlin bzw. Deutschland

1992

22 J.

Germanistikstudium

Studium/Diplom Germanistische Linguistik, Projektleiterin in internat. Übersetzungsbüro

1995

33 J.

Diplom Musikpädagogik, Lehrerin, Diplom Alte Musik, Promotion

Diplom Alte Musik, Kantorin an Berliner Kirche

1996

20 J. Abitur, Studium Germanis- Diplom Sozialpädagogik, Studium/M. tik (2000-2004) A. Kulturanthrop., Koordinatorin in soz. Stadtteilprojekt, Dissertation in Arbeit

1996

24 J.

Diplom Musikpädagogik, Klavierlehrerin

Studium/Diplom Deutsche Philologie, freiberufl. Klavierlehrerin

1998

23 J.

Diplom Deutsche Philol., Lehrerin, Mitarbeit in Modefirma d. Mutter

Selbständig mit Modeprojekten, Koop. mit Firma in Russland

1997

22 J.

Diplom Russ. Philologie

MA Kulturwissenschaft, Russ. Dozentin, MA Wirtschaftswiss., Wiss. Mitarbeiterin Ost-Europa Inst., Promotion

1997

21 J.

Studium Wirtschaftswiss., ohne Abschluss

versch. Jobs, Diplom Wirtschaftsmathematik, Jobsuche

1997

21 J.

Diplom für russ. Übersetzungen,

Ausbildung zur Heilpraktikerin, Teilhaberin in Heilpraxis

2000

22 J.

Dipl.-Ing. Wirtschaftswiss.

Dipl. Ing. Maschinenbau, Triebwerksfertigung für Luftfahrt

2000

22 J.

Diplom Deutsch-Englisch für Lehramt u. Übersetzungen

Promotion Vergleichende Sprachwiss., Öffentl. Dienst

2000

22 J.

Diplom Wirtschaftsingenieurin

Promotion Wirtschaftswissenschaft, ITBeratungsfirma

2001

24 J.

Diplom in Bibliothekswesen, 2005-2008 Rückkehr, versch. Jobs

Promotionsstipendium, Abbruch, versch. Jobs u.a. im Pflegeheim Umschulung zu Altenpflegerin

2001

23 J.

Diplom in Ökonomie

Diplom Wirtschaftswissenschaft, Arbeit in Softwareentwicklung

2002

23 J.

Diplom in Biologie

unvollendete Dissertation, Forschung Krebsmedikamente auf DNA Basis in Biotech-Firma

2002

23 J.

Diplom Ökon. Kybernetik

Diplom Wirtschaftswissenschaft, IT-Analystin in Unternehmensberatung

2002

24 J.

Diplom Wirtschaftswiss., Masters Wirtschaftswissenschaft

Promotion Wirtschaftswissenschaft, Consultant in Firma für Osteuropawirtschaft

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In Anbetracht dieser beachtlichen und nachdrücklich erarbeiteten Bildungs-, Berufs und Erwerbsprozesse muss auch die Dauer der erfolgreichen Statuspassagen von Bildungsmigrantinnen und Au-pairs thematisiert werden. Vierzehn Bildungsmigrantinnen mit Zweitstudium in Deutschland und sieben Au-pairs, die ihr erstes Studium hier absolvierten, benötigten für ihr Diplom mindestens acht Jahre, in der Regel aber länger. Wenn in der Statuspassage partnerschaftliche und familiäre Probleme hinzukamen, waren es bis zu vierzehn Jahren. Hierbei addierten sich die Deutschkurse oder der Au-pair-Aufenthalt von etwa zwei Jahren vor Beginn des Studiums mit der Notwendigkeit während des Studiums ihren Lebensunterhalt mit eigenem Verdienst zu finanzieren, indem sie als Werkstudentinnen gejobbt haben10. Aus diesem Grund hat sich bei allen Bildungsmigrantinnen die Dauer ihres zweiten Studiums in Berlin über die Regelzeit hinaus um zwei bis drei Jahre verlängert. Jedoch haben sich in der Kosten-Nutzen-Analyse der Bildungsmigrantinnen ihre Investitionen von Zeit und intensiver Arbeit amortisiert, nicht zuletzt, weil sie mit dem deutschen Diplom gleichzeitig einen Statuswechsel zur Bildungsinländerin vollzogen haben. Die Bildungs-, Berufs- und Erwerbsprozesse der sieben übrigen Bildungsmigrantinnen im Sample waren nicht so gradlinig. Das hatte unterschiedliche Gründe: die Frauen hatten Probleme und Verzögerungen bei ihren Studien und/oder die partnerschaftlich-familiäre Dimension hatte sich in den Mittelpunkt ihrer Statuspassage geschoben. Bei einigen Bildungsmigrantinnen haben sich die Schwierigkeiten wohl auch aus ihren Studienfächern ergeben, denn offenkundig sind Sprachstudien allein nicht so leicht in einen Beruf umzusetzen, wie ein Diplom in einem der MINT-Fächer und das gleiche gilt auch für ein Musikstudium. Ein Sprachstudium führt häufig zu einer (freiberuflichen) Mitarbeit in einem Übersetzungsbüro oder auch zu Überlegungen, selbst ein Sprachmittlerbüro zu eröffnen und ein Musikstudium läuft oft auf die Erteilung von Musikstunden für Kinder hinaus. Zwei Bildungsmigrantinnen war in Berlin ein Studienabschluss nicht gelungen. Eine Migrantin musste ihr häufig krankes Kind allein versorgen und hatte zudem große finanzielle Schwierigkeiten, die andere hatte »ein chaotisches Privatleben«, mit zwei gescheiterten Ehen. Beide haben sich nach einer Übergangsphase und der Um- und Neubewertung ihrer Wünsche und Fähigkeiten beruflich in Berlin neu orientiert, pragmatisch ausgerichtet am lokalen Arbeitsmarkt und mit Hilfe des Jobcenters, denn während ihrer Ausbildung zur Heilpraktikerin und zur Altenpflegerin erhielten beide Hartz IV für ihren Lebensunterhalt.

10 | Eine Statistik zeigt zum Vergleich, dass mehr als die Hälfte aller Studierenden aus Drittstaaten in Deutschland Werkstudenten sind (HIS 18, 2008: 4).

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Zu den Gründen des schwierigen Verlaufs der Statuspassagen der übrigen fünf Bildungsmigrantinnen einige biographische Einblicke: • Dora kam nach Berlin, um Pharmazie zu studieren, weil sie in Rumänien keinen Studienplatz bekommen hatte, trotz mehrerer Versuche. Bei Beginn des Studiums traf sie ihre »Liebe auf den ersten Blick« und heutigen Ehemann; als sie im dritten Semester schwanger war, durfte sie nicht mehr im Labor arbeiten und musste das Studium aufgeben. Das schmerzt sie noch heute »wie eine offene Wunde«. Sie ist jetzt Hausfrau, als einzige der dreiunddreißig Bildungsmigrantinnen im Sample. • Ewa studierte erst Musik in Polen, dann in Deutschland Orgel und Kirchenmusik. Ihr Studienabschluss fiel zusammen mit dem Scheitern ihrer Ehe und bei ihren Bewerbungen als Organistin stellte sie fest, dass sie als »Geschiedene« im Kirchendienst keine Chancen hat. Sie gibt jetzt freiberuflich einige Musikstunden, würde aber gerne an einer Musikschule arbeiten, »aber der Unterricht ist nur nachmittags«, wenn sie ihre Kinder zu Hause betreut. • Mariska setzte ihr in Ungarn begonnenes Violinstudium in Deutschland fort, fühlte sich aber nach einigen Semestern überfordert mit dem Studium, den Jobs (Kellnerin, Babysitten, Putzen) und Konzertauftritten, sie beendete das Studium ohne Abschluss. Jetzt unterrichtet sie an einer Musikschule und kommentierte das »Kinder sind schwierig«. • Uliya besuchte eine Management-Fortbildung in Deutschland, nachdem sie in Kiew ein Sprachstudium absolviert hatte und dort mehrere Jahre als Dolmetscherin und Assistenz der Geschäftsleitung bei deutschen Firmen tätig war. Bei der Fortbildung verliebte sie sich, wurde schwanger, heiratete und blieb in Deutschland. Beim Interview war sie geschieden, alleinerziehend und suchte Arbeit. Inzwischen ist als kaufmännische Angestellte in der Pharmaindustrie beschäftigt. • Elena hatte in Moldawien ein Dolmetscher-Diplom für Deutsch und Englisch erworben, war als Dolmetscherin bei einer Reiseagentur und danach in einer Schuhfabrik beschäftigt. Bei Kundenbesuchen in Deutschland entstand ihr Wunsch, hier zu studieren. Sie fand einen Studienplatz für Skandinavistik und Linguistik in Berlin, die nicht ihre Wunschfächer waren, aber ihr Aufenthaltsrecht sicherten. Nach ihrem Diplom 2010 überlegt sie, ob sie sich mit einer Agentur für Sprachmittlung selbstständig machen will. Sie ist mit einem russischen Staatsbürger verheiratet und hat zwei Kinder. Auch die meisten ehemaligen Au-pairs sind beruflich angekommen und üben Tätigkeiten aus, die ihren in Deutschland erworbenen Qualifikationen entsprechen. Eine Migrantin ist Ärztin, zwei absolvieren ein Referendariat zur

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Grundschul- und zur Sonderschullehrerin, eine Migrantin ist freiberuflich als Dozentin für Interkulturelle Kommunikation tätig und eine arbeitet in der Personalabteilung einer großen Firma. Eine Migrantin arbeitet als Hörtherapeutin mit Kindern, denkt aber an eine Umschulung zur Kita-Erzieherin, eine Migrantin arbeitet als Übersetzerin und eine ist Geschäftsführerin im Gastronomiebetrieb ihres Ehemannes. Zwei Frauen, eine Übersetzerin und eine Personalmanagerin, nahmen zur Zeit des Interviews vorübergehend eine berufliche Auszeit wegen ihrer Kinder. Die beiden Sprachschülerinnen im Sample arbeiten selbständig mit Gewerbeschein als Buchhalterin und als Sprachlehrerin. Nach gängiger Vorstellung gehen Bildungsmigranten und Au-pair-Beschäftigte für die Dauer eines Studiums bzw. eines Au-pair-Aufenthaltes ins Ausland und kehren danach zurück in ihr Herkunftsland (Han, 2010: 107f). Dagegen haben zahlreiche Bildungsmigrantinnen und Au-pairs in meinem multinationalen Sample schon bei ihrer Migration eine permanente Zuwanderung angestrebt, vor allem diejenigen, die ab Ende der 1990er Jahre aus den vier russischsprachigen Ländern Mittelosteuropas migriert sind. Als Push-Faktoren im Motivbündel nannten sie unsichere bis schlechte berufliche Perspektiven und unzureichende Verdienstmöglichkeiten, die zum Leben nicht ausreichen. Als Pull-Faktoren bezeichneten sie die Aussicht auf einen angemessenen Job mit guter Entlohnung in Deutschland, den »westlichen« Lebensstil, auch das praktizierte Gender-Verhältnis, eine saubere Umwelt und Zugang zu gesunden Lebensmitteln, vor allem für ihre Kinder, sowie die tatsächliche und die kulturelle Nähe zu ihrem Herkunftsland. Bezüglich ihres Aufenthaltsrechts hatten die interviewten Bildungsmigrantinnen keine Probleme, denn mit der Zulassung zum Studium an einer Hochschule wurde ihnen eine Aufenthaltserlaubnis für die Dauer ihres Studiums erteilt. Diese Regelung hatte bei einigen Bildungsmigrantinnen zur Folge, dass sie mehrere Studiengänge absolviert haben, um nach einem Studienabschluss in Deutschland bleiben zu können, bevor sie andere aufenthaltsrechtlich relevante Gründe geltend machen konnten, wie eine Erwerbstätigkeit oder eine Heirat. Seit 2004 bzw. 2007 haben Bildungsmigrantinnen aus EU-Ländern Mittelosteuropas Freizügigkeit und sind deutschen Studierenden weitgehend gleichgestellt. Kommen Bildungsmigrantinnen aus einem mittelosteuropä­ischen Land, das nicht zur EU gehört, erhalten sie seit 2005 als Drittstaatenangehörige mit der Studienzulassung eine Aufenthaltserlaubnis für maximal 10 Jahre bis zum Studienabschluss, einschließlich einer Promotion und weitere 18 Monate für die anschließende Suche nach einer ausbildungsadäquaten Berufstätigkeit (§16 AufenthG; Mayer et al., 2012).

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9.4 F eminisierung der B ildungsmigr ation aus mittelosteuropäischen L ändern Der relativ hohe Anteil der Bildungsmigrantinnen aus mittelosteuropäischen Ländern, wie sie in dieser Forschung für Berlin dokumentiert ist, deutet auf einen stetigen Feminisierungsprozess bei der Zuwanderung von Bildungsmigranten in der postsozialistischen Ost-West-Migration in Europa hin, obgleich mein Sample nicht repräsentativ erhoben wurde. Die Feminisierung der Bildungsmigration steht in Berlin im Kontext der hohen Frauenanteile bei den Migranten aus Mittelosteuropa, die 2011 bspw. 53 % aller gemeldeten Migranten betrug, davon 51 % aus den neun EU-Ländern und 61 % aus den vier NichtEU-Ländern, die in dieser Forschung untersucht werden (Tabelle 5). Differenzierte statistische Angaben über den Anteil der Frauen bei der Zuwanderung von Bildungsmigranten und hochqualifizierter Migranten aus Mittelosteuropa nach Deutschland liegen weder für die EU-Länder noch für die Länder vor, die nicht zur EU gehören. Qualitative Forschungen zu Bildungsmigrantinnen aus mittelosteuropäischen Ländern an deutschen Hochschulen, die nach ihrem Studienabschluss in Deutschland als Bildungsinländerinnen entsprechend ihren Qualifikationen erwerbstätig sind, gibt es bislang nicht, so dass keine vergleichende Diskussion der Befunden meiner Forschung möglich ist. Zu hochqualifizierten Migrantinnen und zu Bildungsmigrantinnen fehlen weltweit Daten, denn es fehlt an der Wahrnehmung dieses wachsenden Phänomens und es fehlt an Forschungsinteresse, wie Kofman/Raghuram nach Durchsicht der Literatur feststellten (2009:3). Offenkundig inspiriert vom Diskurs über den Fachkräftemangel hat die qualitative Migrationsforschung in Deutschland seit kurzem begonnen, sich mit hochqualifizierten Zuwandern zu beschäftigen: in einer Studie über hochqualifizierte Bildungsinländer der zweiten Generation und über Bildungsausländer auf dem deutschen Arbeitsmarkt (Nohl et al., 2010a) und in einem Forschungsprojekt über hochqualifizierte Bildungsausländerinnen und ihre Arbeitsmarktintegration (Jungwirth et al., 2012; Jungwirth, 2011a). Jungwirth hat darin die grenzübergreifenden Berufsverläufe von hochqualifizierten Frauen in Naturwissenschaften und Technik aus postsozialistischen Ländern untersucht, weil sie zu einer zahlenmäßig wichtigen Migrantinnengruppe aus Mittelosteuropa in Deutschland gehören (Jungwirth et al., 2012: 4). Die Ergebnisse des Projekts verdeutlichen die erhebliche Schwierigkeiten, denen hochqualifizierte Migrantinnen begegnen, wenn sie als Bildungsausländerin eine qualifikationsadäquate Erwerbstätigkeit suchen, denn häufig wird ihre Qualifikation als Ingenieurin oder Naturwissenschaftlerin auf dem Arbeitsmarkt in Frage gestellt, weil sie im Ausland erworben wurde. Bildungsausländerinnen fehlen zunächst auch deutsche Sprachkenntnisse auf hohem

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fachlichen Niveau und Informationen über international unterschiedliche technische Standards und Anwendungen. Die Folge ist eine längere Abwesenheit vom Arbeitsmarkt oder eine Erwerbstätigkeit bzw. ein Berufswechsel auf niedrigerem Niveau (Jungwirth et al., 2012: 42f; vgl. Nohl et al., 2010c; von Hausen, 2010). Diese Erfahrung wurde auch von den interviewten Bildungsmigrantinnen im Sample bestätigt und war für die meisten der Anlass, mit einem erneuten Studium eines vergleichbaren Faches in Deutschland als Bildungsinländerin einen weitaus besseren Zugang zum Arbeitsmarkt zu erreichen. Die Möglichkeiten einer – zunächst temporären – Zuwanderung waren für Bildungsmigranten schon vor dem Zuwanderungsgesetz von 2005 einladend, obwohl damals in Deutschland keine migrantenfreundliche Politik betrieben wurde, und diese Möglichkeiten waren bei Interessierten in Mittelosteuropa durchaus bekannt, wie aus den biographischen Erzählungen hervorging. Einige Migrantinnen konnten sich ein Kurzzeitstipendium sichern, das sie als Einstieg für die Migration nutzen, andere gingen den üblichen Weg einer Bewerbung um einen Studienplatz. So entwickelt sich seit Mitte der 1990er Jahre eine bedeutsame weibliche Bildungsmigration aus Mittelosteuropa, seit Ende der 1990er Jahre vor allem aus russischsprachigen Ländern, mit der »wertvolles Humankapital transferiert« wird, wie es die Migrationssoziologie formuliert (Han, 2010: 115). Bestätigt wird der Feminisierungsprozess bei der Zuwanderung von hochqualifizierten Migranten aus mittelosteuropäischen Drittstaaten in Deutschland auch in einer statistischen Auswertung der Arbeitsmarktzuwanderung für das Jahr 2011. Sie zeigt, dass die Zuwanderung Hochqualifizierter aus Drittstaaten stark durch mittelosteuro­päische Frauen geprägt ist, denn 22,7 % der insgesamt zugewanderten qualifizierten Fachkräfte sind Frauen aus der Russischen Föderation, Weißrussland und der Ukraine, im Vergleich zu nur 11,9 % hochqualifizierter Männer (Heß, 2012: 34f). Damit war 2011 der Anteil hochqualifizierter Migrantinnen aus russischsprachigen Ländern fast doppelt so hoch wie die der Männer (vgl. Jungwirth et al., 2012). Die Feminisierung der Migration Hochqualifizierter aus Russland wird auch deutlich in zwei Internetbefragungen, in der 500 hochqualifizierte russische Transmigranten11 nach ihren Motiven befragt wurden, nach Deutschland zu migrieren (Siegert, 2008). Alle Befragten hatten sich zwischen 2000 und 2006 mit Stipendien deutscher Wissenschaftsorganisationen in Deutschland aufgehalten. Frauen bildeten 65,9 % bzw. 63,7 % der befragten Transmigran11 | Hochqualifizierte Transmigranten sind nach Siegerts Definition russische Akademiker, die zeitweise oder dauerhaft in Deutschland leben, zwischen Deutschland und Russland häufig pendeln, in beiden Ländern arbeiten und intensive wissenschaftliche Kontakte in beiden Ländern pflegen (Siegert, 2008: 47f).

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ten, Männer 34,1 bzw. 36,3 % (Siegert, 2008: 137, Abb. 27). Die hochqualifizierten russischen Migrantinnen waren im Durchschnitt bei ihrem Aufenthalt in Deutschland drei Jahre jünger als die Männer (23,25 zu 26,28 Jahren), und 41,6 % der Frauen hatte ein bereits Diplom, während Männer höhere Abschlüsse bei längeren Studienzeiten erreichten (z.B. 14,2 % männliche zu 1,3 % weiblichen Professorinnen; ebd.: 152f). In der Zusammenfassung gibt Siegert an, dass hochqualifizierte russische Frauen bei ihrem Aufenthalt in Deutschland persönliche Kontakte besonders schätzten und die räumliche und kulturelle Nähe beider Länder positiv erlebten. Wichtig waren ihnen auch ihre Sprachkompetenz, Aspekte der Karriereplanung, eine saubere Umwelt und eine gute Lebensqualität. Für hochqualifizierte Männer waren die Vermeidung von Diskriminierung, ein besseres Einkommen und günstige Arbeitsbedingungen die Kriterien für ihre Entscheidung nach Deutschland zu gehen (Siegert, 2008: 157f).

9.5 Z uwanderung gegen den F achkr äftemangel : B ildungsmigr anten an deutschen H ochschulen Mobilität und Migration von Hochqualifizierten wird seit den 1990er Jahren weltweit immer bedeutsamer, denn Wissen ist das zentrale Gut in den postindustriellen Gesellschaften und für die fortlaufende Weiterentwicklung dieses Gutes steigt die Nachfrage nach hochqualifizierten Fachkräften in allen Ländern der OECD. Aus diesem Grund hat ein Paradigmenwechsel in der Zuwanderungspolitik in Deutschland nach der Jahrtausendwende stattgefunden12 . Seitdem wird die dauerhafte Zuwanderung von ausländischen Studierenden bzw. Bildungsmigranten aufenthaltsrechtlich unterstützt, vom Arbeitsmarkt begrüßt und von den Hochschulen gefördert. Das Zuwanderungsgesetz von 2005 ermöglicht in seinem Kernstück, dem Aufenthaltsgesetz, den Zuzug studentischer Bildungsmigranten und hochqualifizierter Fachkräfte (§ 16 bis § 20 AufenthG)13. Mit der Förderung der Zuwanderung Hochqualifizierter beginnt sich das bisher geringe Qualifikationsniveau der Migranten positiv zu verändern, das Deutschland im Vergleich zu anderen OECD-Ländern hat, als Folge der Migrationspolitik der vergangenen Jahrzehnte, die sich kaum um qualifizierte Migranten bemüht hat (Heß, 2012: 18), was auch für Migranten 12 | Die sog. Green Card war im Jahr 2000 eine erste Maßnahme, mit ihr sollten 20.000 ausländische IT-Spezialisten befristet für fünf Jahre angeworben werden, es kamen aber nur knapp 15.000, unter ihnen fast 4000 aus mittelosteuro­p äischen Ländern (Hunger, 2003: 45). 13 | Seit Juli 2012 ist mit §19a AufenthG die Blaue Karte EU eingeführt worden, die Hochqualifizierten aus Drittstaaten die Zuwanderung in die EU erleichtert.

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aus den mittelosteuropäischen Ländern gilt, die jetzt zur EU gehören (Dietz, 2007: 39f). Der Wettbewerb um die besten Köpfe setzt bei ausländischen Studierenden an, denn bleiben diese nach Abschluss ihres Studiums in Deutschland, sind sie als Bildungsinländer bereits mit der Sprache, Kultur und meist auch der Arbeitswelt vertraut und leisten einen bedeutenden Beitrag zur Fachkräftesicherung (Mayer et al., 2012: 4). Für dieses Ziel stellen deutsche Hochschulen ausländischen Studierenden ein Zehntel ihrer Studienplätze bereit, denn aus Bildungsmigranten werden nach Studienabschluss hochqualifizierte Fachkräfte, von denen ein Teil in Deutschland bleiben wird. Die Hochschulen sind als Migrationsmagneten und Integrationsmotoren Akteure in der Zuwanderungspolitik für Hochqualifizierte (Sachverständigenrat, 2013: 19; 80). Ausländische Bewerber erhalten an einer deutschen Hochschule einen Studienplatz, wenn sie eine ausreichende Vorbildung aus Schule oder Studium nachweisen, analog eines Abiturs. Für die Aufenthaltserlaubnis müssen Studierende aus Drittländern glaubhaft machen, dass sie über die finanziellen Mittel für ihren Lebensunterhalt im ersten Studienjahr verfügen, bspw. mit einer Bürgschaft oder einem Kontoauszug, der eine ausreichende Auslandsüberweisung dokumentiert. Sie kann nach Vorlage auch zurück überwiesen werden, wie Bildungsmigrantinnen in meinem Sample erzählt haben. Ausländische Studierende können die – zumindest teilweise – Anerkennung ihrer bisherigen Studienleistungen aus dem Herkunftsland beantragen. Das Studium an staatlichen Hochschulen ist gebührenfrei. Mit dem Studienplatz erhalten sie eine Aufenthaltserlaubnis (§ 16 AufenthG) für maximal 10 Jahre die zur Arbeitsausübung für berechtigt und ein Werkstudium ermöglicht, wie bereits ausgeführt. Weitere 18 Monate können sie nach Studienabschluss einen Arbeitsplatz suchen (§ 16 Abs. 4 AufenthG), ist er gefunden, erhalten sie eine Aufenthaltserlaubnis (§ 18 AufenthG). Einige Publikationen geben einen ersten Überblick über ausländische Studierende an deutschen Hochschulen (HIS, 2008, 2011) und über Studierende aus Drittstaaten (Mayer et al., 2012), die auf statistischen Angaben und Sample-Befragungen basieren. Mit der gleichen Methode wurden zwei Arbeitspapiere erstellt, die erste Daten über die Zuwanderung hochqualifizierter Fachkräfte aus Drittstaaten ermitteln (Heß, 2009; 2012), zu denen die vier russischsprachigen Herkunftsländer dieser Studie gehören. In den drei letztgenannten Arbeiten sind Bildungsmigranten aus EU Ländern Mittelosteuropas nicht einbezogen, denn sie sind freizügigkeitsberechtigt, benötigen keine Arbeitserlaubnis und sind deutschen Staatsangehörigen weitgehend gleichgestellt (Heß, 2009: 21). Gleichwohl bleibt die Binnenmobilität von hochqualifizierten EU Bürgern auf einem relativ niedrigem Niveau (Sachverständigenrat, 2013: 18; 49f).

9. Bildungsmigrantinnen und Au-pairs

Bei ausländischen Studierenden an deutschen Hochschulen ist in den letzten 30 Jahren eine starke Zunahme zu beobachten. Sie machen die drittgrößte Gruppe aller Zuzüge von Ausländern aus, nach familiären Gründen und der Arbeitsaufnahme (Mayer et al., 2012: 4). 2009/2010 betrug der Anteil der ausländischen Studierenden 11,5 %, ihre absolute Zahl lag bei rund 245.000 Studierenden (HIS, 2011: 10). Der Frauenanteil überwiegt leicht mit 51,4 % (HIS, 2008: 11), ist aber bei den Herkunftsländern unterschiedlich. Knapp die Hälfte der Studierenden kommt aus europäischen Ländern (51  %), wobei mittelosteuropäische Länder große Zuwachsraten aufweisen. An Berliner Hochschulen studierten 8,4 % Bildungsmigranten (HIS 18, 2008: 8, 11). Interessant sind einige Befragungsergebnisse von ausländischen Studierenden im Vergleich zu Angaben der Bildungsmigrantinnen in meinem Sample: Ausländische Studierende kommen mehrheitlich (70 %) mit Studienerfahrungen nach Deutschland (HIS 18, 2008: 3), aber jeder vierte war unzufrieden mit der Anerkennung seiner Vorbildung und bisheriger Studienleistungen (HIS 19, 2011: 5)14. Als Schwierigkeiten während des Studiums in Deutschland nannten sie die Orientierung im Studiensystem, mangelnde Kontakte zu deutschen Kommilitonen und die Finanzierung des Studiums, denn mehr als die Hälfte (mindestens 55 % maximal 61 %) finanzierte ihren Lebensunterhalt mit eigenem Verdienst (HIS 18, 2008: 4). Jährlich machen zwischen 20.000 und 30.000 ausländische Studierende einen Studienabschluss in Deutschland, im Jahr 2010 waren es bspw. 28.208, davon belegten die Absolventen aus Russland (1.533), aus Polen (1.443), aus Bulgarien (1.489) und aus der Ukraine (1.039) nach denen aus China (4.437) die Plätze 2 bis 5 unter den Herkunftsländern (Mayer et al., 2012: 54).

14 | Mit dem Gesetz zur Anerkennung im Ausland erworbener Berufsqualifikationen (BQFG), in Kraft seit April 2012, sind hierfür Verbesserungen, eine größere Transparenz und ein schnelleres Verfahren geschaffen worden. Ein Vergleich der Aussagen in einer Befragung ausländischer Studierender aus dem Sommer 2012 zeigt, dass 75 % der im Ausland erworbenen Studienabschlüsse in Deutschland anerkannt wurden, während es 2009 nur 60 % waren (BMBF, 2014: I).

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10. Heiratsmigrantinnen – binationale Familienbildung und der schwierige Weg zu einer beruflichen Arbeit

Unter den hundert interviewten Migrantinnen aus mittelosteuropäischen Ländern sind einundvierzig Heiratsmigrantinnen, sie bilden die größte Gruppe und das bedeutet, die meisten Frauen hatten eine Eheschließung und Familienbildung als Hauptmotiv für ihre Migration nach Deutschland. Das entspricht der deutschen Statistik in der Zeit meiner Interviews, in der die Heiratsmigration von Frauen der mit Abstand häufigste Grund für die Zuwanderung von Drittstaatenangehörigen nach Deutschland war (Haug, 2010: 34f; Aybek et al., 2013; Migrationsbericht 2012: 91, Tab. 3-31). Die ost-westeuropäische binationale Heiratsmigration ist ein Phänomen, das sich seit 1989/1990 zahlreich entwickelt hat, wie auch mein Sample zeigt. Eine Heiratsmigration ist per se eine stark individualisierte Migrationsform. Insbesondere eine binationale Heiratsmigration und Familienbildung bringt für die Migrantin besondere Herausforderungen mit sich, denn sie macht mehrere Schritte gleichzeitig in völlig neue Lebenssituationen: den Schritt in eine Ehe und den Schritt in die Migration und in ein anderes kulturelles Lebensumfeld. Heiratsmigrantinnen müssen mit den neuen Lebensrealitäten in der Migration ohne Unterstützung ihrer Herkunftsfamilie zurechtkommen, ihre Ehe in der neuen soziokulturellen Umgebung leben, die deutsche (Familien-)Sprache lernen, die gemeinsamen Kinder (möglichst) bilingual erziehen und auch eine Erwerbstätigkeit finden, die ihrer Ausbildung und ihrer Neigung entspricht. Die Heiratsmigration gilt als traditionelle frauentypische Migrationsform (vgl. Han, 2003: 26). Diese Aussage relativiert sich für Deutschland etwas, denn Frauen sind in der Zuwanderungsstatistik zwar die Mehrheit der Heiratsmigranten, aber es gibt auch zahlreiche männliche Heiratsmigranten. So waren bspw. 2012 zwischen 10 bis 20 % der zugewanderten Heiratsmigranten

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aus der Russischen Föderation und aus der Ukraine Männer1. Auch in meinem Sample haben drei beruflich etablierte und erwerbstätige Migrantinnen ihre Ehemänner aus Litauen, Moldawien und Polen als Heiratsmigranten nachgeholt (Kapitel 7.2)2 . Heiratsmigrationen werden in der Literatur als eine »abhängige« Migration bezeichnet (Aufhauser, 2000: 98; Han, 2003: 26f; vgl. Kapitel 6.6), was sie rechtlich im deutschen Zuwanderungsgesetz auch sind; denn die Heiratsmigration ist eine Familienzusammenführung bzw. ein Familiennachzug zu einem erwerbstätigen Ehepartner (§§ 27-36 AufenthG). Die Familieneinheit ist im Grundgesetz garantiert (Art. 6 Abs. 1), ist aber beim Zuzug von Heiratsmigranten aus Drittstaaten an Auflagen gebunden: die Höhe des Einkommens des hier lebenden Erwerbstätigen, die Größe der Wohnung und seit 2007 an die Deutschkenntnisse des nachziehenden Ehepartners, die nachzuweisen sind. Außerdem ist das Aufenthaltsrecht des zuwandernden ausländischen Ehepartners für zwei Jahre an den Bestand der Ehe gebunden, er ist aber sofort berechtigt, eine Erwerbstätigkeit aufzunehmen und erhält Zugang zum Arbeitsmarkt (§ 27 Abs. 5 AufenthG).

10.1 M igr ationsmotiv : L iebe , E he und F amilienbildung Unter den Bedingungen der Migration gehören Liebe und Ehe aus rechtlichen Gründen zwangsläufig zusammen, denn ein dauerhaftes Aufenthaltsrecht für Deutschland erhalten potentielle Heiratsmigrantinnen aus Ländern, die nicht zur EU gehören, erst nach der Eheschließung. Eine Probezeit für die Beziehung ist theoretisch mit einem Touristenvisum möglich, das aber einigen der interviewten Migrantinnen, bspw. aus Russland, die heute glücklich verheiratet sind, damals verweigert wurde. Mit der europarechtlichen Freizügigkeit hat sich seit 2004/2007 die Situation für potentielle Heiratsmigrantinnen aus den mittelosteuropäischen EU-Ländern grundlegend verbessert; sie haben 1 | Aus der Russischen Föderation kamen 2.031 Frauen zu deutschen Ehemännern und 327 Männer zu deutschen Ehefrauen, außerdem migrierten 426 Heiratsmigrantinnen zu ausländischen Partnern und 65 Heiratsmigranten zu ausländischen Partnerinnen. Aus der Ukraine waren es 997 Frauen, die zu ihrem deutschen Ehemann kamen und 100 ukrainische Männer zu einer deutschen Ehefrau, sowie 248 Heiratsmigrantinnen zu ausländischen Partnern und 48 Heiratsmigranten zu ausländischen Partnerinnen (BMI: Migrationsbericht 2012: 91, Tab. 3-31). 2 | Anzumerken ist, dass insgesamt der Nachzug von Ehegatten zu deutschen Partnern zwischen 1998 und 2002 kontinuierlich angestiegen war, in den Folgejahren aber geringer wurde, 2011 waren es 17.745 und 2012 dann 16.840 Heiratsmigranten (Migrationsbericht, 2012: 85; vgl. Kapitel 10.2).

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Freizügigkeit und können vor der Eheschließung ihre Beziehung zum Partner während längerer Aufenthalte testen. In den Anfangsjahren der Ost-West-Migration wanderten erste Migrantinnen im Sample frisch verheiratet aus mittelosteuropäischen Ländern zu. Ihre Ehemänner hatten schon in den späten 1980er Jahren ihr Herkunftsland verlassen, meist aus politischen Gründen, und suchten sich unmittelbar nach der Grenzöffnung ihre Ehefrau in der alten Heimat. So kamen zwischen 1989 und 1993 junge Migrantinnen aus Polen, Rumänien und Bulgarien nach Berlin zu ihren Ehemännern, die schon länger in der Stadt lebten. Ab 1993 haben dann aufgrund der offenen Grenzen und neuer Reisemöglichkeiten spätere Migrantinnen zu Hause in Polen und Rumänien einen deutschen Partner bei seinem Urlaub oder einem Verwandtenbesuch kennen- und lieben gelernt, was zu ersten ost-westeuropäischen binationalen Ehen führte. Im Sample migrierten fünfunddreißig Frauen aus allen dreizehn mittelosteuropäischen Ländern wegen ihrer binationalen Eheschließung nach Berlin – überwiegend zu einem deutschen Ehemann. Ab Mitte der 1990er Jahre entwickelte sich das binationale Hauptmotiv »Liebe, Ehe und Familienbildung« für die Zuwanderung von Frauen aus Mittelosteuropa auf vielfältige Weise. Sie spiegeln die zahlreichen sprachlichen und kulturellen Begegnungsmöglichkeiten wider, die nach den Jahrzehnten der Abschottung in Mittelosteuropa und in Deutschland entstanden sind. Junge Menschen trafen einander bei Sprachkursen, auf Tagungen, Konferenzen und bei Austauschprogrammen, bei Verwandtenbesuchen und auf touristischen Erkundungen. Zukünftige Paare begegneten sich an gemeinsamen Arbeitsorten in mittelosteuropäischen Ländern, bspw. an Deutschen Botschaften, an denen spätere Migrantinnen als ortsansässige Mitarbeiterinnen tätig waren sowie in den neuen Zweigniederlassungen deutscher Firmen und Handelsketten, wo junge akademisch gebildete Frauen als Dolmetscherinnen und »Assistenz der Geschäftsleitung« beschäftigt waren. In einigen biographischen Erzählungen klingt an, dass auch eine aktive Suche nach potentiellen Ehepartnern begann, sowohl bei Frauen in mittelosteuropäischen Ländern, als auch bei Männern in Berlin. Die ersten mutigen Frauen kamen aus Estland und Tschechien, aus Weißrussland, der Russischen Föderation und aus Moldawien zu ihren gerade angetrauten deutschen Ehemännern nach Berlin. In den folgenden Jahren nahm das Migrationsmotiv der binationalen Familienbildung im Sample zu, insbesondere bei Frauen aus Weißrussland, der Russischen Föderation und aus der Ukraine, aus Ländern, die nicht zur EU gehören. Und wer sind die begehrten deutschen Ehemänner der Migrantinnen? Die meisten sind akademisch gebildet und arbeiten in entsprechenden Berufen mit gutem Verdienst. Unter ihnen sind aber auch ein U-Bahn-Fahrer, ein KFZMechaniker und ein Kneipenbetreiber. Oft sind die Ehemänner älter als ihre

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Ehefrauen, meist 10 bis 15 Jahre, aber auch 20 Jahre und mehr. Häufig war es nach einer Scheidung ihr zweiter Versuch eine dauerhafte Partnerschaft zu begründen, mit der einige Männer auch einen ausdrücklichen Kinderwunsch verbunden haben und sie sind dann auch Väter geworden – wie alle Ehemänner der Migrantinnen im Sample. In der zweiten Dekade sind unter den Ehemännern junge Spät-/Aussiedler, die selbst als Jugendliche mit ihrer Familie aus Polen oder der ehemaligen Sowjetunion zugewandert sind und nun eine Ehefrau aus der früheren Heimat heiraten wollten, die das aus der Kindheit vertraute Polnisch oder Russisch spricht. Ehepartner sind auch einige Männer mit türkischem Migrationshintergrund, die ihrer zukünftige Ehefrau bspw. auf der Fahrt in die Türkei an einem Busbahnhof in Südosteuropa begegnet sind, oder sie in einer Berliner Kneipe trafen, als die Migrantin hier einen Job während ihrer Semesterferien hatte oder sie als Eigner des Dönerimbiss gegenüber der Sprachschule in Berlin kennenlernte, wo die Migrantin einen Deutschkurs besuchte.

10.2 B inationale E hen und Partnerschaften Im Sample unterscheiden sich binationale Ehen mit deutschen Männern als Migrationsmotiv der Heiratsmigrantinnen von der Vielfalt der binationalen Ehen und Partnerschaften anderer Migrantinnen, die ihren Partner erst nach ihrer Zuwanderung in Berlin kennengelernt haben. Die Herkunftsregionen sind nun weltweit erweitert, entsprechend der gelebten Vielfalt in der Einwanderungsstadt Berlin. Die (Ehe-)Partner der Migrantinnen kommen aus Ländern Mittelosteuropas (Russland, Ukraine, Serbien), aus Westeuropa (Frankreich, Italien, England), aus Südamerika (Kolumbien, Bolivien, Peru) und aus Afrika (Tunesien, Kamerun und Nigeria). Von den hundert Migrantinnen im Sample haben zur Zeit des Interviews fast drei Viertel der Frauen (71) in einer binationalen Ehe oder Partnerschaft gelebt. Die meisten binationalen Ehen (35) haben Heiratsmigrantinnen geschlossen, am häufigsten mit einem deutschen Partner3 und nur sechs waren mononational mit einem Mann aus ihrem Herkunftsland verheiratet. Alle Bildungsmigrantinnen im Sample waren bei ihrer Zuwanderung ledig und gingen erst nach ihrer Migration in Berlin eine Ehe ein. Achtundzwanzig frühere Bildungsmigrantinnen leben in einer binationalen Ehe oder Partnerschaft und fünf haben einen Ehemann oder Partner aus ihrem Herkunftsland. Unter den Arbeitsmigrantinnen führten sechs Frauen eine binationale und zwei eine mononationale Ehe, vier Frauen waren ledig, verwitwet oder geschieden. Die 3 | Die Herkunft der Ehemänner und Väter der gemeinsamen Kinder ist auch im Kontext der Familiensprache relevant (Kapitel 12).

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gemeinsam zugewanderten neun Migrantenpaare waren alle mit Partnern aus dem Herkunftsland verheiratet und von den mitmigrierten Töchtern lebten zur Zeit des Interviews drei in einer mono- und zwei in einer binationalen Ehe oder Partnerschaft. Die binationalen Ehen der Migrantinnen im Sample gehören in Berlin statistisch zu dem knappen Viertel der binationalen Ehen, die es 2004 in der Stadt gab (Kresta, 2006: 10). Binationale Ehen haben eine rückläufige Tendenz, denn fünf Jahre später, im Jahr 2011, sind nur noch ein gutes Fünftel der Ehen in Berlin binationale Eheschließungen (Amt für Statistik Berlin-Brandenburg, 2013). Berlin liegt damit an der Spitze der Statistik, denn 2011 sind in Deutschland insgesamt nur 11,5 % der Ehen binational (Statistisches Bundesamt, 2012). Tatsächlich ist ihre Anzahl aber höher, denn die angeführten Statistiken enthalten nicht die Ehen, die im Herkunftsland des ausländischen Partners oder vor einer Religionsgemeinschaft eingegangen wurden. In Deutschland hatten binationale Eheschließungen im Jahr 2002 mit über 60.000 Ehen den höchsten Stand und gehen seither deutlich zurück. Auffallend ist aber der weiterhin hohe Anteil der binationalen Ehen zwischen deutschen Ehemännern und Frauen aus mittelosteuropäischen Ländern. Auf der Top-10-Liste der ost-westeuro­päischer Ehen des Statistischen Bundesamtes standen 2011 an erster Stelle polnische Ehefrauen (2.660), an dritter und vierter Stelle Partnerinnen aus Russland (2.122) und der Ukraine (1.237) und an siebenter Stelle Frauen aus Rumänien (945). Dagegen enthielt die Top-10-Liste der binationalen Ehen deutscher Frauen keine Ehemänner aus mittelosteuropäischen Ländern (Statistisches Bundesamt, 2012). Binationale ost-westeuropäische Ehen sind nach meiner Beobachtung offenkundig recht erfolgreich. Allerdings stand das Thema nicht im Fokus meiner Recherche, ich gebe hier meine Eindrücke während der Feldforschung und den Interviews wieder. Eine Sample-interne Statistik unter den Migrantinnen ergibt, dass zur Zeit der Interviews zwei binationale Ehen von Heiratsmigrantinnen geschieden waren, eine Heiratsmigrantin lebte in Trennung und eine war Witwe. Bei den Arbeitsmigrantinnen war eine binationale Ehe geschieden und bei den Bildungsmigrantinnen war eine Ehe geschieden und eine andere stand vor der Trennung. Von den einundsiebzig binationalen Ehen waren sechs Ehen geschieden oder lebten getrennt. Man kann wohl davon ausgehen, dass sich die Erwartungen der allermeisten ost-westeuropäischen Partner an ihre binationale Beziehung und an das gemeinsame Leben in Berlin erfüllt haben und die Verbindung sich als nachhaltig erwiesen hat – zumindest bis zur Zeit der Interviews. Über ost-westeuropäische binationale Ehen gibt es noch keine Studie. Insgesamt sind sowohl Heiratsmigrationen als auch binationale Ehen in der deutschsprachigen Forschung bislang eher vernachlässigt worden. Drei kleinere empirische Arbeiten haben binationale Ehen in Berlin erkundet, also in

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Mittelosteuropäische Migrantinnen in Berlin

der Stadt Deutschlands mit dem höchsten Anteil binationaler Ehen. Die Arbeiten sind ein Spiegel der jeweils gerade aktuellen Zuwanderung zum Zeitpunkt der Forschung (vgl. Wießmeier, 1993; Kresta, 2006). Interessant im Kontext meiner Arbeit ist der Aufsatz aus den frühen Jahren der ost-westeuropäischen Migration von Beetz/Darieva (1997) über Heiratsmigrantinnen aus der ehemaligen Sowjetunion. In ihm wird die gute Bildung der Migrantinnen beschrieben, denn ein Großteil hatte einen Hochschulabschluss (1997: 387) und es wird der Wunsch der Frauen thematisiert, neben ihrer Familie in Berlin auch einer beruflichen Tätigkeit nachzugehen (1997: 397). Dies gelang den Heiratsmigrantinnen damals aber nur selten, mit der Folge, dass nach der Migration ein deutlicher Bruch in ihren Berufsbiographien entstand. Auch gegenwärtig gibt es vergleichbare bildungsbiographische Konstellationen und schwierige berufliche Statuspassagen bei den Heiratsmigrantinnen aus mittelosteuropäischen Ländern, wie die Auswertung der Interviews zeigt und nachdrückliche Bemühungen der Frauen eine ausbildungsadäquate Erwerbstätigkeit auf dem Berliner Arbeitsmarkt zu finden (Tabelle 12; Kapitel 10.4 und 10.5). Eine historische Erforschung binationaler Ehen in Deutschland hat 2008 begonnen anhand von Mikrozensusdaten über die binationale Partnerwahl der ersten und der zweiten Generation italienischer, spanischer, griechischer, türkischer und ex-jugoslawischer »Gastarbeiter« der 1960/1970er Jahre und über Trends ihrer sozialen Assimilation (Schroedter/Kalter, 2008). Dagegen ist in den klassischen Einwanderungsländern, vor allem in den USA, die Forschung zu interethnischen Ehen reichhaltig und hat eine lange Tradition (Schroedter/ Kalter, 2008: 350) und auch in Ostasien nehmen binationale Ehen und sozialwissenschaftliche Arbeiten zu dem Thema zu (Williams, 2010: 120f). Eine binationale Ehe mit einem Partner aus dem Migrationsland gilt als »einer der härtesten Indikatoren der Integration von Zuwanderern und ihrer Nachkommen«, wie aus der US-amerikanischen Forschungsliteratur hervorgeht (Schroedter/Kalter, 2008: 351), denn sie bedeutet die dauerhafte soziale Interaktionen über ethnische Gruppengrenzen hinweg und sie verstärkt so die Integration in vielen Lebensbereichen. Das Ergebnis aus den USA lässt sich nach meinem Eindruck durchaus auf die binationalen Ehen mittelosteuropäischer Migrantinnen mit deutschen Partnern in meiner Studie übertragen, allerdings mit Ausnahme der ausbildungsadäquaten Integration in den Arbeitsmarkt, denn bei einem großen Teil der Heiratsmigrantinnen im Sample war dieser Teil der Statuspassage und des Migrationsprozesses mit erheblichen Problemen verbunden.

10. Heiratsmigrantinnen

10.3 H eir atsmigr ationen aus M ittelosteuropa : biogr aphische V ielfalt Bespiele aus den biographischen Erzählungen der Heiratsmigrantinnen vermitteln Einblicke in die Begegnung mit dem zukünftigen Partner, in unterschiedliche Migrationsverläufe und in vielfältige (binationale) Lebensweisen in Berlin. Und sie vermitteln Einblicke in die Suche der Heiratsmigrantinnen nach einer ihrer Ausbildung angemessenen Erwerbstätigkeit auf dem Berliner Arbeitsmarkt und ihre teilweise langwierigen Bemühungen beim Auf bau einer beruflichen Existenz. Dieses Thema war für viele Migrantinnen sehr wichtig in ihren Erzählungen während der Interviews, in denen immer wieder deutlich wurde, dass es essenziell für das Selbstverständnis von Frauen aus mittelosteuropäischen Ländern ist, einer Erwerbstätigkeit nachzugehen bzw. einen Beruf auszuüben. Die praktische Umsetzung dieses Ziels in Berlin war aber für einige Heiratsmigrantinnen schwierig, stand doch bei ihrer Migration und Statuspassage zunächst die Ehe und Familienbildung im Fokus und nicht ihre weitere Bildung oder eine Erwerbstätigkeit, wie bei Bildungs- und Arbeitsmigrantinnen. Heiratsmigrationen sind individuelle und an den Partner gebundene Migrationen, so dass die Frauen keinen Zugang zu Netzwerken haben, wie sie sich bspw. für Bildungsmigrantinnen an den Universitäten ergaben und bei Arbeitsmigrantinnen auch transnational, wie unter den polnischen Zuwanderern und im russischsprachigen Berlin. Hinzu kommt, dass Heiratsmigrantinnen aus unterschiedlichen sozialen Schichten kommen und zu Hause ganz verschiedene Ausbildungen durchlaufen und Tätigkeiten ausgeübt haben. Als Ergebnis dieser Prozesse arbeiten Heiratsmigrantinnen in Berlin in einer Vielzahl von Berufen und Jobs, von der Ärztin, der Apothekerin über die Altenpflegerin bis zur Verkäuferin und zur Reinigungskraft. Unter ihnen sind auch zwei Empfängerinnen von Hartz IV, arbeitsuchende Migrantinnen, Studierende und Hausfrauen. Die folgenden fünfzehn biographischen Beispiele zeigen das Kennenlernen, den Migrationsverlauf und Probleme bei der Statuspassage in den Arbeitsmarkt von Heiratsmigrantinnen aus Mittelosteuropa, eines guten Drittels der einundvierzig Heiratsmigrantinnen im Sample. Bei der Auswahl für eine verkürzte biographische Darstellung habe ich mich von der Chronologie ihrer Zuwanderung und den Orten der Begegnung mit dem späteren Ehemann leiten lassen. Ein Beispiel für die Suche nach einer Ehefrau im Herkunftsland unmittelbar nach Grenzöffnung ist Tania aus Rumänien. Sie hat sich mit 22 Jahren in ihren späteren Ehemann verliebt, der mit einem künstlerischen Beruf schon einige Jahre in Ost-Berlin lebte und nun bei einem Besuch in Rumänien nach einer Ehefrau Ausschau hielt. Tania migrierte 1990 nach Berlin, mit dem ersten rumänischen Reisepass, der nach dem Ende des Ceausescu-Regimes

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Mittelosteuropäische Migrantinnen in Berlin

ausgestellt wurde. Sie hatte in Bukarest ein Wirtschaftsstudium abgeschlossen, sprach zunächst kaum Deutsch und litt anfangs ohne ihre Familie unter großem Heimweh. 1993 begann sie in einer Hotelkette eine dreijährige Ausbildung, vom Zimmermädchen aufwärts »durch alle Abteilungen«, wurde danach fest angestellt und ist seit 2000 Leiterin des Empfangs eines großen Hotels im Zentrum Berlins. Ihr Ehemann ist auch in das Hotelmanagement gewechselt und sie haben eine Tochter, die das Gymnasium besucht. Eine Urlaubsbekanntschaft in Bulgarien war Lucia, die 1993 mit 25 Jahren zu ihrem zukünftigen Ehemann kam, der bei den Berliner Verkehrsbetrieben arbeitet. Lucia hatte in Bulgarien nach dem Besuch der Sekundarschule mehrere Jahre angelernt als Verkäuferin gearbeitet. In Berlin bekam sie zwei Kinder und nach einigen Jahren der Kinderbetreuung und des Deutschlernens zu Hause, arbeitete Lucia seit 1998 als Reinigungskraft bei mehreren Büroreinigungsfirmen und hat sich 2009 zur Schichtleiterin des Reinigungsdienstes an einem Berliner Flughafen hochgearbeitet, das heißt, sie hat in ihrem Arbeitsbereich Karriere gemacht. Olga stammt aus Sotschi und besuchte ihre Cousine in Berlin, als sie ihren späteren Ehemann kennenlernte. Verliebt haben sie sich aber erst im Laufe der folgenden Monate bei ihrem Briefwechsel. Olga hatte in St. Petersburg ein Studium als Diplom-Mathematikerin abgeschlossen und in Russland als Lehrerin gearbeitet. Sie kam 1994 im Alter von 29 Jahren zur Eheschließung nach Berlin. Nach einigen gesundheitlich schwierigen Jahren aufgrund der Geburt ihrer beiden Kinder, arbeitet Olga in ihrem erlernten Beruf als Mathematikerin und IT-Spezialistin bei einer Rentenkasse und ist inzwischen Alleinverdienerin der Familie, weil ihr Mann als älterer Bauarbeiter keine Arbeit mehr findet. Er versorgt jetzt ab Mittag ihre Kinder, die ein neusprachliches Gymnasium besuchen, in dem es keinen Unterricht in Russisch gibt, denn Olga erzieht ihre Kinder »für eine Zukunft in Deutschland« und »Russisch ist keine berufliche Ressource«, wie sie selbst bei ihrer Jobsuche in Berlin erfahren hat. Bei einem Seminar in Weißrussland traf Dima 1997 ihren zukünftigen Ehemann, an dem er als Mitarbeiter eines Bildungsträgers für Jugendarbeit teilnahm. Bei ihrer Migration nach Berlin ein Jahr später war sie 20 Jahre alt und hatte ihr gerade begonnenes Wirtschaftsstudium in Minsk abgebrochen. Dima ist inzwischen zweifache Mutter, hat in Berlin zwei weitere Studien begonnen, beide jedoch abgebrochen und betrieb einige Zeit lang einen Gebrauchtwagenhandel mit Weißrussland, bis die Einfuhr der Autos dort verboten wurde. Beim Interview war sie Hausfrau, suchte einen Job und überlegte, wieder einen Exporthandel aufzuziehen, vielleicht mit Einbauküchen. Gabriela begegnete ihren späteren Ehemann in Prag, als er die Stadt 1992 als Student und Tourist besuchte; sie verliebten sich und heirateten 1996. 1998 migrierte Gabriela nach Berlin, nachdem der Ehemann Diplom-Ingenieur war und sie ihr siebenjähriges Medizinstudium inklusive eines USA-Semesters ab-

10. Heiratsmigrantinnen

geschlossen hatte. In den 1990er Jahren wurde aber ihr medizinisches Examen aus Tschechien in Deutschland nicht anerkannt, sie musste zunächst ein Postgraduate-Studium mit einem praktischen Jahr an einer Klinik absolvieren, ihr Deutsch auf Universitätsniveau verbessern und dann das 3. Staatsexamen machen, bevor sie 2001 in Berlin endlich »Dr. med.« war. Seitdem arbeitet sie in der Charité, musste aber zwei Mal für ein Jahr pausieren wegen ihrer schwierigen Schwangerschaften und der Geburten ihrer beiden Kinder. »Es war so schwer« kommentierte Gabriela im Rückblick die ersten zehn Jahre in Berlin, in denen beide Eheleute beruflich auch an einem Burn-out litten. Zu ihrer Migration sagte sie »nie wieder würde ich das tun, rausgerissen aus der behütenden Familie, dem Freundeskreis, der Sprache«. Heute ist sie zufrieden mit ihrem Leben, ihrer stabilen Partnerschaft, dem Beruf und ihren beiden Kindern. Mit den Kindern fährt sie einmal im Monat nach Prag zu ihrer Familie, denn dort »fühle ich mich immer noch zu Hause«. Ein Besuch des späteren Ehemannes mit seinem Freund bei dessen Verwandten in der Westukraine 1999 brachte ihn mit Slawa zusammen. Sie war 21 Jahre alt und hat nach der Sekundarschule drei Jahre eine Ausbildung zur Kosmetikerin gemacht, fand aber in dem Beruf in der Transformationszeit keine Arbeit und jobbte gelegentlich als Kellnerin und als Verkäuferin. Die beiden begannen eine Pendelbeziehung, Slawa kam zwei Mal im Jahr für drei Monate mit einem Touristenvisum nach Berlin und der spätere Ehemann fuhr zwei Mal jährlich zum Urlaub in die Ukraine. 2001 haben sie geheiratet und Slawa migrierte nach Berlin. Hier half sie zunächst in der Kneipe des Ehemannes, später in seiner Hausverwaltung, fand dann eine Anstellung als Kosmetikerin in einem Schönheitssalon »mit einem jugoslawischen Chef«, wie sie betont; sie blieb dort vier Jahre bis zur Schließung des Salons. Slawa hat zu dieser Zeit ihren nichtehelichen Sohn aus der Ukraine nachgeholt, der sich mit dem Stiefvater bestens versteht, aber große Probleme in der Schule hatte. Slawa fand schließlich Arbeit als Teilzeit-Verkäuferin in der russischsprachigen ethnischen Ökonomie, wo sie zur Zeit des Interviews noch gearbeitet hat. Während eines Besuches ihrer Freundin in Berlin hat Marija aus dem Baltikum im Jahr 2000 ihren späteren Ehemann »am Brandenburger Tor getroffen«. Sie hatte nach der Schule Schneiderei gelernt, zwei Jahre in dem Beruf gearbeitet und ging dann für ein Jahr als Au-pair nach Süddeutschland. Nach ihrer Rückkehr ins Baltikum ist sie noch einmal zur Schule gegangen und hat mit 24 Jahren das Abitur nachgemacht. 2001 hat das Paar geheiratet und Marija migrierte mit 26 Jahren nach Berlin. Der Ehemann ist Freiberufler und sie haben zwei Kinder. Ab 2002 hat Marija Pharmazie studiert, beeinflusst von ihrem Mann, der sie auch bei Prüfungsvorbereitungen »gecoacht« hat, aber sie hätte lieber Erziehungswissenschaften studiert. Zur Zeit des Interviews stand sie kurz vor ihrem 3. Staatsexamen zur approbierten Apothekerin und vertraute darauf, anschließend eine der knappen Vollzeit-Stellen in einer Apotheke zu

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Mittelosteuropäische Migrantinnen in Berlin

finden. Marija lebt inzwischen getrennt von ihrem Mann und ihren Kindern und es gibt Streit um das Sorgerecht. Große Firmen und Handelsketten aus Deutschland haben in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre Zweigstellen in Mittelosteuropa eröffnet, in denen Mitarbeiter der mittleren Führungsebene die Geschäfte in der Region auf- und ausbauten. Einige trafen dabei ihre zukünftigen Ehefrauen. Ein Beispiele ist Nelli aus der Ostukraine. Sie hat in Posen Hotellerie studiert, nachdem sie zu Hause in der Ukraine ein Studium als Diplom-Ingenieurin für Chemietechnik abgeschlossen hatte, jedoch in diesem Beruf nicht arbeiten wollte. In der Ukraine sah sie in der Hotellerie gute Möglichkeiten nach ihrem Studium. Es kam aber anders, denn in Posen traf sie ihren späteren Ehemann, der für eine Supermarktkette den polnischen Markt evaluierte. Es folgten einige Jahre Fern- und Pendelbeziehung zwischen Posen und Berlin, in denen Nelli ihre Ausbildung machte und auch Deutsch lernte. Als sie 2001 nach Berlin migrierte war sie 26 Jahre alt und fand mit ihrem Diplom aus Posen schnell Arbeit am Empfang eines Hotels am Kurfürstendamm. Nach einer Babypause übernahm sie dort die Leitung einer Abteilung ohne Schichtdienst, um die Arbeit besser mit der Familie vereinbaren zu können. Zur Zeit des Interviews hatte sie ein berufsbegleitendes Fernstudium für hotelbezogene Betriebswirtschaft begonnen, »um meine Ausbildung auf deutsches Niveau zu bringen«, wie sie sagte. Barbara hat bei der Zweigstelle eines deutschen Autoherstellers in Westpolen fünf Jahre als kaufmännische Assistenz der Geschäftsleitung gearbeitet, nachdem sie ein Studium als Diplom-Betriebswirtin in Polen abgeschlossen und ein Jahr als Au-pair in Deutschland verbracht hatte. In der Firma lernte sie 2001 ihren späteren Ehemann kennen, der als Unternehmensberater ein Projekt im Betrieb leitete. Sie migrierte 2004 im Alter von 29 Jahren nach Dortmund, wo der Ehemann inzwischen beschäftigt war, fühlte sich aber dort nie wohl, »es war zu weit weg von Polen«. Sie hat im Ruhrgebiet ein Praktikum in einem großen Industriekonzern absolviert, aber seit der Geburt ihrer Kinder 2006 und 2009 ist sie Hausfrau, weil die Kinder häufig krank sind. Ein beruflicher Wiedereinstieg ist Barbaras sehnlichster Wunsch, um ihn besser umsetzten zu können, ist sie mit den Kinder nach Berlin gezogen. Sie führt nun eine Wochenendehe, kann aber jetzt zwei Mal im Monat ihre Familie in Polen besuchen. Mehrere Deutsche Botschaften in Mittelosteuropa waren Begegnungsorte zukünftiger binationaler Paare, dazu Beispiele aus der Ukraine und aus dem Baltikum. Daria hat ihren späteren Ehemann als Mitarbeiter der Botschaft in Kiew kennengelernt, wo sie nach ihrem Master-Abschluss in Finanzwirtschaft und Bankmanagement als »lokale Ortskraft« beschäftigt war. Sie migrierte 2000 mit 24 Jahren nach Berlin, hat hier noch einmal studiert und ein Diplom in Wirtschaftswissenschaften erworben, weil ihr Studium aus Kiew nicht anerkannt wurde. Schon in den letzten Studienjahren hat Daria in Berlin bei einem großen internationalen Versicherungskonzern gearbeitet, der sie nach

10. Heiratsmigrantinnen

dem Studium übernahm. Seit sechs Jahren ist sie in der IT-Abteilung als Business Analystin tätig, zuständig für in-house Projektberatungen und hat seit ihrer Babypause einen Tag home office pro Woche. Sie verdient gut, erwähnte aber im Interview, dass sie nach jahrelanger Arbeit mit Daten über einen beruflichen Wechsel nachdenke. Ein ähnliches Beispiel, aber mit einem anderen Verlauf der Statuspassage ist Natascha, deren Diplom in »Handel und Wirtschaft« aus Kiew in Berlin ebenfalls nicht anerkannt wurde. Auch sie hatte seit 1998 als »lokale Ortskraft« in der Botschaft in Kiew gearbeitet und dort ihren Mann kennengelernt. Nach ihrer Heirat 2002 verbrachten die Eheleute zwei Auslandsaufenthalte in anderen deutschen Botschaften und in dieser Zeit wurde ihre Tochter geboren. Die Familie kam 2008 für eine längere Zeit nach Deutschland zurück. Natascha ist beim Interview 33 Jahre alt und seit ihr Kind in die Kita geht, sucht sie in Berlin eine berufliche Tätigkeit. Aufgrund ihrer Sprachkenntnisse hatte sie sich vor einiger Zeit auf eine ausgeschriebene Stelle im Auswärtigen Amt beworben, wo sie auf 680 Mitbewerber traf und schließlich abgelehnt wurde. Sie will weiter suchen und/oder ein zweites Kind bekommen. Ewa hatte ein Diplom in Klassischen Sprachen abgeschlossen und anschließend ein Jahr die Schule für Diplomaten in ihrem Baltischen Herkunftsland besucht. Bei einem Praktikum in der Deutschen Botschaft traf sie ihren späteren Ehemann und sie lebten schon im Baltikum mehrere Jahre zusammen, während Eva in gehobener Position in der Universitätsverwaltung der Hauptstadt beschäftigt war. Nach ihrer Migration 2004 im Alter von 27 Jahren hat sie in Berlin ein Zusatzstudium für Interkulturelle Pädagogik absolviert, zwei Kinder bekommen und sucht seither nach einer angemessenen Tätigkeit, bislang ohne Erfolg. Auch für Dora aus Tschechien ist es in Berlin sehr schwierig eine berufliche Perspektive zu entwickeln. Das Problem ist auch bei ihr die Anerkennung ihres Diploms. Sie hatte an der Karls-Universität in Prag ein Lehramtsstudium für Deutsch und Englisch absolviert und lernte ihren späteren Ehemann Ende der 1990er Jahre bei einem Urlaub in Dänemark über den deutschen Verlobten einer Freundin kennen. Das Paar lebte über Jahre in einer Pendelbeziehung zwischen Berlin und Prag, wo Dora nach ihrem Diplom als Lehrerin tätig war. Als sie 2004 schwanger wurde, migrierte sie im Alter von 26 Jahren zur Familiengründung nach Berlin. Inzwischen hat sie zwei Kinder, der Ehemann ist Systemingenieur mit einer eigenen kleinen Firma und beruflich sehr eingespannt. Dora möchte unbedingt wieder als Lehrerin arbeiten, aber ihr Examen aus Tschechien wird für den Berliner Schuldienst nicht anerkannt. Zur Zeit des Interviews gab sie privat einige Stunden Englischunterricht und hatte sich bei einer Privatschule beworben, in der Hoffnung, dass ihr Diplom dort akzeptiert wird.

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Mittelosteuropäische Migrantinnen in Berlin

Eszter hatte Budapest ein Diplom für Kommunikationswissenschaft und Journalistik erworben, anschließend mehrere Jahre als Redaktionsassistentin bei einer Wochenzeitung gearbeitet. Bei einem Besuch ihrer Freundin in Berlin hat sie 2006 in einer Disko ihren späteren Ehemann kennengelernt. Er ist Straßenbau-Ingenieur und hatte immer schon ein Faible für Ungarn und spricht auch Ungarisch. Mit Eszter hat er seine Traumfrau gefunden. Es folgte eine Wochenend-Pendelbeziehung, alle zwei Wochen kam sie nach Berlin, alternierend flog er nach Budapest – alles mit Billigflügen, das Ticket für 70 bis 80 Euro. Um es beruflich etwas leichter zu haben, wechselte Eszter in eine Immobilienfirma. 2007 haben sie geheiratet und Eszter migrierte im Alter von 31 Jahren nach Berlin. Da sie keine Deutschkenntnisse hatte, absolvierte sie zunächst mehrere Sprachkurse an der VHS, begann dann erneut ein Studium der Kommunikationswissenschaft, um ihre Perspektiven auf dem Berliner Arbeitsmarkt zu verbessern und bekam ihre beiden Kinder. Eszter ist optimistisch, demnächst mit ihrem deutschen Diplom eine passende berufliche Tätigkeit in Berlin zu finden. Migration und Statuspassagen von Wlada aus Zentral-Russland sind vergleichsweise untypisch verlaufen. Sie migrierte 2007 mit 23 Jahren nach Berlin zu ihrem Ehemann, der als Spät-/Aussiedler selbst erst zwei Jahre zuvor mit der ganzen Familie – acht Personen aus drei Generationen – nach Berlin zugewandert war. Das Paar kennt sich seit neun Jahren, es war eine Schülerliebe, aber sie hatten sich getrennt, als die Migration seiner Familie nach Deutschland bevorstand, weil sie keine Fernbeziehung wollten. Wlada studierte in Russland einen interkulturellen Studiengang mit Deutsch und Englisch, um Lehrerin zu werden. Sie war im vierten Studienjahr, da traf sie ihre Schülerliebe auf der Straße wieder, als er zu Besuch bei seiner russischen Oma war. Nun beschlossen die Beiden zusammenzubleiben. In den folgenden Monaten kam Wlada zu Besuchen nach Berlin und zwei Wochen nach ihrem Diplom migrierte sie nach Deutschland. Geheiratet hat das Paar dann in Dänemark, weil es dort mit den Papieren einfacher ist, jedoch ohne Familie und ohne weißes Kleid »wir wollten es so«, wie sie sagte. Bei der Anmeldung in der Berliner Ausländerbehörde brachte Wlada vor Nervosität keinen ganzen Satz zustande, woraufhin ihr der nette Sachbearbeiter einen sechsmonatigen Integrationskurs anbot. Als sie sich nach zwei Monaten im Kurs zu langweilen begann, bot ihr der Chef des Bildungsträgers eine unbefristete Stelle als Projektleiterin in der Sprachschule an. Wlada nahm das Angebot an. Inzwischen hat sie eine Tochter und mit ihrem guten Verdienst kann sie die kleine Familie ernähren. Der Ehemann machte zur Zeit des Interviews das deutsche Abitur nach und will anschließend studieren. Die Schwiegermutter betreut tagsüber ihre Tochter.

10. Heiratsmigrantinnen

10.4 R esümee : I ndividualisierte M igr ationsverl äufe und schwierige berufliche S tatuspassagen Die biographischen Beispiele haben die variantenreichen und individualisierten Migrationsverläufe und langwierige Statuspassagen der Heiratsmigrantinnen verdeutlicht. Die deskriptive Analyse zeigt, dass binationale Heiratsmigrationen multikausale Prozesse sind, bei denen eine Migration von der Migrantin möglicherweise erwünscht war, sich faktisch aber eher zufällig im Kontext der unterschiedlichen Rahmenbedingungen des Kennenlernens und der Lebenssituation der Partner ergeben hat. Diebiographische Erzählungen über den Begegnungsprozess waren in der Regel romantisierend: es war gegenseitige Liebe, der potentielle (deutsche) Partner hat nachdrücklich geworben, er war attraktiv, hatte eine gute Bildung und ein gutes Einkommen. Die eigenen Eltern oder die (alleinerziehende) Mutter haben die Migration der Tochter befürwortet, oft mit dem Hinweis auf die bessere Zukunft, die spätere Enkelkinder in Deutschland haben werden. Die Migrantinnen selbst sahen in der familienbildenden binationalen Migration nach Berlin die Chance für einen (beruflichen) Neubeginn, einige auch für einen sozialen Aufstieg, mindestens aber für mehr materielle Sicherheit und deutliche Verbesserungen ihres Lebensstandards, je nach ihrer persönlichen Situation und ihrer bisherigen beruflichen Tätigkeit im Herkunftsland. Die mehrdimensionalen Statuspassagen haben bei binationalen Heiratsmigrantinnen eine andere Gewichtung, als bei Arbeits- und Bildungsmigrantinnen. Bei ihnen ist die partnerschaftliche und familienbezogene Ebene die zentrale Dimension in der Statuspassage, sie steht im Mittelpunkt der Migration und der Lebensplanung. Das binationale Zusammenleben mit dem Ehepartner in Berlin muss aufgebaut werden und oft beginnt auch relativ bald die Familienbildung mit dem ersten gemeinsamen Kind. Die Bewältigung der zweiten, der nationalen Dimension der Statuspassage, des sprachlichen und kulturellen Übergangs vom Herkunftsland in das Migrationsland, ist eine Herausforderung, denn die familiäre und gesellschaftliche Kommunikation findet rund um die Uhr in deutscher Sprache statt, die die Migrantin gerade erst lernt. In der Statuspassage erhält eine Heiratsmigrantin aber auch nachhaltige Unterstützung und Beratung in allen Lebensbereichen von ihrem (deutschen) Ehepartner, sie wird von ihm »gecoacht« bei ihrem Übergang in die neue Berliner Lebensrealität und sie hat bei ihrer Eingewöhnung keinen Zeitdruck, denn in naher Zukunft muss sie keinen Job finden und kein Examen bestehen. Der dritten Dimension der Statuspassage, die berufliche Integration in den Arbeitsmarkt, wird anfangs meist keine große Aufmerksamkeit gewidmet. Die erwünschte Berufstätigkeit stellen die Heiratsmigrantinnen in der ersten Ehe- und Migrationsphase hinter die Familienbelange zurück. Gleichwohl machen die biographischen Erzählungen der Heiratsmigrantinnen aus Mittelost-

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Mittelosteuropäische Migrantinnen in Berlin

europa und ihre Statuspassagen deutlich, dass für sie eine berufliche Tätigkeit auf der Grundlage ihrer Ausbildung im Herkunftsland selbstverständlich für ihr Selbstverständnis und ihre Identität ist. Positiv ist, dass ihre Aufenthaltserlaubnis als nachgezogene Ehefrau sie sofort berechtigt eine Erwerbstätigkeit auszuüben (§ 27 Abs.5 AufenthG). Tatsächlich war es aber oft schwierig, eine angemessene berufliche Tätigkeit in Berlin zu finden, insbesondere wenn sie ihr im Herkunftsland akkumuliertes Bildungskapital, ihre Diplome, direkt am Arbeitsmarkt umsetzen wollten. Bei den fünfzehn ausgewerteten Beispielen der Bildungs-, Berufs- und Erwerbsprozesse der einundvierzig Heiratsmigrantinnen fällt auf, dass nur zwei Bildungsausländerinnen ihr Diplom aus dem Herkunftsland in Berlin für eine ausbildungsadäquate Berufstätigkeit verwerten konnten, beide kamen aus Russland: eine Diplom-Mathematikerin, die IT-Spezialistin bei einer Rentenkasse ist und eine Diplom-Sprachlehrerin, die als Projektleiterin in der Sprachschule eines Ausbildungsträgers arbeitet. Zwei andere Akademikerinnen, deren ausländische Diplome nicht anerkannt wurden, haben aus diesem Grund in Berlin erneut studiert, sie sind nun als Bildungsinländerinnen hochqualifizierte Fachkräfte mit guten Chancen auf dem Berliner Arbeitsmarkt: eine Ärztin hat ein Postgraduierten-Studium mit einem klinischen Jahr für die Anerkennung absolviert und eine Migrantin mit einem Diplom für Finanz- und Bankwirtschaft hat in Berlin noch einmal Wirtschaftswissenschaften studiert und abgeschlossen, sie arbeitet jetzt als IT-Analystin in einem internationalen Versicherungskonzern. Einen herausragenden Bildungs-, Berufs- und Erwerbsprozess hat eine Migrantin absolviert, die als Schneiderin mit nachgeholtem Abitur migrierte, in Berlin Pharmazie studiert hat und jetzt approbierte Apothekerin ist. Negative Erfahrungen mit der Anerkennung ihres Diploms aus dem Herkunftsland bei ihrer Suche nach einer ausbildungsadäquaten Tätigkeit haben vier Bildungsausländerinnen unter den Heiratsmigrantinnen gemacht: mit einem Diplom für Klassische Sprachen und einer Diplomatenausbildung, einem Diplom für Deutsch und Englisch für das Lehramt an der Sekundarschule, einem Diplom für Wirtschaftswissenschaften und einem Diplom für Betriebswirtschaft. Diese vier Migrantinnen waren als Bildungsausländerinnen in Berlin nun arbeitsuchende Hausfrauen, zumindest zur Zeit des Interviews (Tabelle 12). Das bestätigt, dass sich nach einem zusätzlich erworbenen Diplom in Deutschland als Bildungsinländerin die Perspektiven auf dem Arbeitsmarkt substantiell verbessern, so wie es auch bei den beruflich erfolgreichen Bildungsmigrantinnen war Aus diesem Grund studierte eine Kommunikationswissenschaftlerin das gleiche Fach in Berlin erneut, weil sie sich mit einem deutschen Diplom bessere Chancen am Arbeitsmarkt ausrechnete. Zwei andere diplomierte Heiratsmigrantinnen haben sich nach ihrer Migration in Ber-

10. Heiratsmigrantinnen

lin beruflich ganz neu orientiert: eine Wirtschaftswissenschaftlerin und eine Diplom Ingenieurin für Chemietechnik sind heute in leitenden Stellungen in großen Berliner Hotels beschäftigt, denn sie haben für ihren jetzigen Beruf erneut eine dreijährige Ausbildung absolviert. Zwei Heiratsmigrantinnen arbeiten in Tätigkeiten, für die keine besonderen Qualifikationen notwendig sind: eine als Verkäuferin im russischsprachigen Lebensmittelhandel, nachdem sie zu Hause Kosmetikerin gelernt hatte und die andere, die zu Hause angelernt als Verkäuferin gejobbt hatte, ist über Putzarbeiten Schichtleiterin des Reinigungsdienstes eines Berliner Flughafens geworden. Fünf Heiratsmigrantinnen, das heißt ein Drittel der ausgewerteten Fallbeispiele, waren zur Zeit des Interviews Hausfrau und alle suchten dringend eine angemessene Erwerbstätigkeit, unter ihnen vier Bildungsausländerinnen. Tabelle 12: Beispiele der Bildungs-, Berufs- und Erwerbsprozesse von Heiratsmigrantinnen Migration Alter

im Herkunftsland

in Berlin bzw. Deutschland

1990

22 J.

Abitur, Wirtschaftsdiplom

ab 1993 drei Jahre Hotellehre, seit 2000 Empfangschefin im großen Hotel in Stadtmitte

1993

23 J.

Realschulabschluss

1998 Putzarbeiten bei Reinigungsfirmen, seit 2009 Schichtleiterin des Reinigungsdienstes am Berliner Flughafen.

1994

29 J.

Dipl.-Math., Lehrerin

IT Spezialistin bei Rentenkasse.

1997

20 J.

Wirtschaftsstudium abgebrochen

zwei Studien begonnen u. abgebrochen, Autohandel mit Weißrussland, z. Z. Hausfrau, arbeitsuchend im Exporthandel

1998

27 J.

Abgeschlossenes Medizinstudium

in Berlin nicht anerkannt, nach Postgrad. Stud., prakt. Klinikjahr + 3. Staatsex. seit 2001 appr. Ärztin

2000

24 J.

Master Finanzwirtschaft u. Bankmanagement, lokale Ortskraft in Deutscher Botschaft

Studium u. Diplom Wirtschaftswiss., IT-Analystin in intern. Versicherungskonzern

2001

23 J.

3 Jahre Ausbildung z. Kosmetikerin, Jobs als Kellnerin, Verkäuferin

4 Jahre Arbeit als Kosmetikerin, Verkäuferin in russischsprachiger ethn. Ökonomie

2001

26 J.

3 Jahre Ausbildung z. ab 2002 Pharmazie-Studium, inzw. Schneiderin, Au-pair in approbierte Apothekerin Deutschland, Abitur mit 24 J. nachgemacht

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Mittelosteuropäische Migrantinnen in Berlin Migration Alter

im Herkunftsland

in Berlin bzw. Deutschland

2001

26 J.

Dipl.-Ing., HotellerieStudium

Arbeit am Empfang eines gr. Hotels in Stadtmitte, Leitung d. Event-Büros, Studium Betriebswirtschaft berufsbegleitend

2004

29 J.

Diplom Betriebswirtschaft, langjährige Arbeit in Niederlassung großen dt. Autoherstellers

Praktikum bei gr. Konzern, nach Geburt d. Kinder Hausfrau, sucht dringend berufl. Wiedereinstieg.

2004

27 J.

Diplom für Klassische Sprachen, ein Jahr Diplomatenschule, Arbeit in Universitätsverwaltung

Zusatzstudium Interkulturelle Pädagogik, sucht berufl. Tätigkeit

2004

26 J.

Diplom für Deutsch u. Englisch, Arbeit als Lehrerin in Schule

Diplom für Berliner Schuldienst nicht anerkannt, Bewerbung bei Privatschule

2008

33 J.

Wirtschaftsdipl., lokale Diplom wird nicht anerkannt, sucht Ortskraft in Deutscher Bot- berufliche Tätigkeit schaft, mehrere Auslandsaufenthalte mit Ehemann

2007

31 J.

Diplom Kommunikationswiss., Redaktionsassistentin bei Wochen Zeitung

erneutes Studium der Kommunikationswissenschaft, um berufl. Perspektiven zu verbessern

2007

23 J.

Diplom Sprachlehrerin

Projektleiterin in Sprachschule eines Bildungsträgers

Als Fazit ergibt sich, dass es die meisten Heiratsmigrantinnen, neun der ausgewerteten fünfzehn Beispiele, nach einer verlängerten und komplexen Statuspassage mit einer angemessenen Erwerbstätigkeit in Berlin den Zugang zum lokalen Arbeitsmarkt geschafft haben: zwei Frauen als Bildungsausländerinnen, fünf Frauen mit einem erneuten Studium bzw. einer Berufsausbildung und zwei Frauen, die sich pragmatisch an den Angeboten am Arbeitsmarkt orientiert haben und als Schichtleiterin im Reinigungsdienst und als Verkäuferin in der ethnischen Ökonomie arbeiten. Diese Heiratsmigrantinnen haben die Probleme während der Statuspassage nicht nur als Einschränkungen erlebt, sondern sie haben sich neue Handlungsalternativen und eine neue berufliche Perspektive erschlossen. Sie haben einen Neubeginn gewagt und erreicht, den sie bei ihrer Migration meist auch antizipiert hatten, wenn auch mit teilweise diffusen Vorstellungen. Fünf Heiratsmigrantinnen gelang es dagegen nicht, die Schwierigkeiten der beruflichen Statuspassage zu überwinden und in Berlin eine adäquate Erwerbstätigkeit zu finden. Für sie ist die Migration mit einem Bruch in ihrer Berufsbiographie verbunden, möglicherweise sogar mit deren Ende.

10. Heiratsmigrantinnen

Gründe für die schwierigen Statuspassagen der Heiratsmigrantinnen in den Arbeitsmarkt sind teilweise strukturell vorgegeben, teilweise auch familienbedingt. Familienbedingte Gründe ergaben sich aus dem Migrationsmotiv »Liebe und Ehe«, denn bei den Heiratsmigrantinnen stand zunächst die binationale Familienbildung im Mittelpunkt ihrer Lebensgestaltung in Berlin. Die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit war für sie im Prinzip selbstverständlich, es fehlten aber der Zeitdruck und die wirtschaftliche Notwendigkeit, denn das Einkommen der meisten Ehemänner erlaubt ein komfortables Leben. So haben einige Paare ein Wochenendhäuschen im Berliner Umland, andere unternehmen häufig Reisen, die die Migrantinnen früher entbehrt hatten. Hinzu kommt, dass fast alle Heiratsmigrantinnen bald nach ihrer Zuwanderung kleine Kinder zu versorgen hatten, so dass mögliche Arbeitszeiten mit den Betreuungszeiten der Kita, dem Hort oder der Schule vereinbar sein müssen. Strukturelle Gründe verursachten jedoch die größeren Probleme bei der Arbeitssuche, allen voran die Situation auf dem Berliner Arbeitsmarkt, wo meist nur Arbeiten in MINT-Berufen, in der Altenpflege, der Kita-Erziehung und bei Reinigungsfirmen angeboten werden. Wenn eine Migrantin in dieser beschränkten Auswahl nichts Passendes findet, bietet das Jobcenter ihr in der Regel eine Umschulung an, die auf den Bedarf des lokalen Arbeitsmarktes abgestimmt ist. Und das heißt, auch bei den Umschulungen ist das berufliches Spektrum beschränkt: im Sample waren es Umschulungen zur Altenpflegerin und zur Kita-Erzieherin, zur Export- und zur Immobilienkauffrau. Ein gravierender struktureller Grund bei der vergeblichen Arbeitssuche war bislang die mangelnde Anerkennung der Diplome und Zeugnisse der Migrantinnen, die sie im Herkunftsland erworben hatten. Sie werden in der Regel nur als Hochschulzugang oder als Teilleistung für das Grundstudium akzeptiert, wie es Beispiele bei den Bildungsmigrantinnen gezeigt haben. Hiervon sind auch nichtakademische Ausbildungsberufe betroffen, so kann eine in der Slowakei ausgebildete Erzieherin in Berlin nicht als Erzieherin arbeiten, sondern nur als Erziehungshelferin (Kapitel 7.4). Gleichzeitig wird der Mangel an Fachkräften beklagt, auch bei Erzieherinnen, die für die neu geschaffenen Kita-Plätze im Zusammenhang mit dem Rechtsanspruch für Kinder ab dem ersten Lebensjahr seit 2013 dringend gesucht werden. Mit dem »Gesetz zur Verbesserung der Feststellung und Anerkennung im Ausland erworbener Berufsqualifikationen« (BQFG) vom Dezember 2011 haben Migranten nun einen Rechtsanspruch auf Überprüfung der Gleichwertigkeit ihrer ausländischen Berufsabschlüsse mit deutschen Referenzberufen, um eine bessere und schnellere Anerkennung ausländischer Qualifikationen auf dem deutschen Arbeitsmarkt zu ermöglichen. Diese Maßnahmen sind wertvolle Hilfen, aber keine Allheilmittel für alle Schwierigkeiten, denen arbeitsuchende Migrantinnen begegnen. Hinzu kommt, dass einige Heiratsmigrantinnen zu Hause Ausbildungen absolviert und in Berufen gearbeitet

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Mittelosteuropäische Migrantinnen in Berlin

haben, die kaum kompatibel sind mit »deutschen Referenzberufen« und den Anforderungen des lokalen Arbeitsmarktes, bspw. ein Diplom für Verpackungsdesign oder ein Zertifikat als Tour-Guide in einem Nationalpark. Deshalb sollten neben Beratungsangeboten auch Fördermaßnahmen und Anpassungsqualifizierungen für arbeitsuchende Migranten angeboten werden, damit sie sich weiter qualifizieren und ihren Wunsch nach einer Erwerbstätigkeit umsetzen können.

10.5 A rbeitssuche und E rwerbstätigkeit in B erlin Eine zusammenfassende Auswertung der beruflichen Tätigkeiten und der Arbeitssuche der einundvierzig Heiratsmigrantinnen ergibt ein gemischtes Bild. Ein gutes Drittel der Frauen (16) ist ihrer Ausbildung oder ihrem Studium entsprechend erwerbstätig, ein knappes Viertel (10) ist in Jobs und Arbeitsverhältnissen beschäftigt, die sie nur als bedingt zufriedenstellend ansahen oder sie hatten in Berlin erneut ein Studium aufgenommen. Ein knappes Drittel der Heiratsmigrantinnen (15) war zur Zeit des Interviews Hausfrau und die meisten von ihnen suchten dringend eine passende Tätigkeit auf dem Berliner Arbeitsmarkt. In ausbildungsadäquaten und zufriedenstellenden Erwerbstätigkeiten arbeiteten zur Zeit des Interviews 16 Frauen. Zu ihnen gehören die einzigen beiden Heiratsmigrantinnen, die aufgrund ihres Diploms aus dem Herkunftsland in Berlin tätig sind: eine Mathematikerin als IT-Spezialistin und eine Projektleiterin in einer Sprachschule. Eine Migrantin, die zu Hause ein Diplom in Slawischer Philologie erworben hatte, arbeitet als Geschäftsführerin einer Modeboutique. Mit zusätzlichen Studien oder erneuten Ausbildungen in Deutschland haben sich Migrantinnen für jetzigen Berufe qualifiziert: eine approbierte Internistin, eine IT Spezialistin, eine approbierte Apothekerin, eine bilinguale Erzieherin, eine Empfangschefin und eine Leiterin des Eventbüros in zwei großen Hotels. In Tätigkeiten auf Grundlage einer in Berlin absolvierten Umschulung arbeiten: zwei Altenpflegerinnen, eine Immobilienkauffrau und eine Im- und Exportkauffrau und in Anlernberufen sind eine Behördenmitarbeiterin, eine Schichtleiterin einer Reinigungsfirma und eine Verkäuferin in der ethnischer Ökonomie beschäftigt. Unter den zehn Migrantinnen, die mit ihrer derzeitigen Beschäftigung und dem erzielten Einkommen nur bedingt zufrieden waren und längerfristig eine Verbesserung ihrer berufliche Situation anstreben sind drei freischaffende Künstlerinnen, die sich an Ausstellungen beteiligen und ihre Bilder zwar gelegentlich verkaufen, aber der Erlös würde zum Leben nicht ausreichen. Eine Migrantin arbeitet auf Honorarbasis als Deutschlehrerin in einem Integrationskurs, eine andere gibt privat Englischunterricht und eine Migrantin beschäftigt sich als Bloggerin für ihre Community. Vier Frauen studieren in

10. Heiratsmigrantinnen

Berlin erneut, nachdem sie zu Hause schon ein Studium abgeschlossen haben, ihre Studienfächer sind Psychologie und Kommunikationswissenschaft. Zwei Heiratsmigrantinnen bezogen zur Zeit des Interviews Hartz IV, beide leben seit Mitte der 1990er Jahre in Berlin, beide sind heute alleinerziehende Mütter, eine ist geschieden, die andere verwitwet, beide haben im Herkunftsland studiert, aber ihre Fachrichtungen – Skandinavistik und Veterinärmedizin – haben sich auf dem Berliner Arbeitsmarkt als nicht verwertbar erwiesen. Eine der beiden will nach der nichtehelichen Verwirklichung ihres Kinderwunsches eine Umschulung zur Altenpflegerin machen, wenn ihr jüngstes Kind drei Jahre alt ist; alternativ hat ihr das Jobcenter auch einen Lehrgang zur Kita-Erzieherin angeboten »aber das kann ich nervlich nach zwei eigenen Kindern nicht mehr« wie sie sagte. Die andere Migrantin hat nach ihrer Heirat in Berlin eine Ausbildung zur Physiotherapeutin gemacht und längere Zeit in dem Beruf gearbeitet, bis das Institut insolvent wurde, nachdem die Krankenkassen als Folge einer Gesundheitsreform die Kostenübernahmen reduziert hatten. Sie hat dann Pharmazie studiert, das Studium aber nach einigen Semestern aufgegeben, weil die Prüfungen immer mit Gebühren verbunden waren und weil nach ihrer Meinung keine Aussicht auf eine regulär bezahlte Anstellung als Apothekerin bestand, sondern nur schlecht bezahlte Praktika und Aushilfsjobs angeboten werden. Inzwischen ist sie Witwe, bezieht Hartz IV und arbeitet in einem Mini-Job in einer Fabrik für Elektrogeräte. Von ihrem Lohn bleiben ihr nach den Abzügen des Jobcenters 165 Euro, das bedeutet, sie arbeitet praktisch für einen Stundenlohn von 1,50 Euro. Bei unserem Interview war sie desillusioniert über ihre berufliche Zukunft und sah im Alter von erst 38 Jahren für sich auf dem Arbeitsmarkt keine Perspektive mehr. Dabei ging es ihr nicht unbedingt um ein höheres Einkommen, denn sie beschrieb ihren Haushaltsetat von insgesamt 1.319 Euro4 für sich und ihre Tochter als einigermaßen ausreichend, sondern sie wollte mit einer sinnvollen Tätigkeit ihr Geld zu verdienen und an der Arbeitswelt teilzuhaben.5 4 | Bestehend aus 873 Euro Hartz IV + 164 Euro Kindergeld + 117 Euro Halbwaisenrente + 165 Euro Mini-Job. 5 | Diese beiden Heiratsmigrantinnen gehören zu den insgesamt sieben Frauen im Sample, die – zumindest vorübergehend – von Transferleistungen leben (müssen) und von denen vier alleinerziehend waren. Drei sind Arbeitsmigrantinnen, eine von ihnen macht eine Umschulung zur ambulanten Altenpflegerin, die zweite hatte einen Mini-Job für Migrantenberatung und die dritte besuchte einen Integrationskurs, um ihr Deutsch zu verbessern für einen erhofften Job im Empfang eines Hotels (Kapitel 8). Zwei Frauen waren als Bildungsmigrantinnen zugewandert, hatten ihr Studium aber nicht abgeschlossen, eine plant eine Umschulung zur Altenpflegerin, die andere arbeitet in einem Mini-Job im medizinischen Bereich (Kapitel 9).

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Die übrigen 15 Heiratsmigrantinnen haben sich als Hausfrauen bezeichnet; einige von ihnen suchten intensiv nach einer beruflichen Arbeit, einige andere überlegten, ob sie in Berlin (noch einmal) studieren sollten, um ihre Jobaussichten zu verbessern und einige Frauen engagierten sich ehrenamtlich in der Samstagsschule ihrer Community. Keine der Frauen schöpfte damit nur annähernd ihr Potential aus und alle hofften doch noch eine passende berufliche Arbeit zu finden. Sie würden gerne mit der Anerkennung ihrer Ausbildung oder ihres Studiums im Herkunftsland und mit einer Weiterbildung, einer Fördermaßnahme oder einer Anpassungsqualifizierung doch noch einen Zugang zum Berliner Arbeitsmarkt erreichen, um sich eine eigene Existenz und auch eine Alterssicherung aufzubauen. Migrantinnen aus Mittelosteuropa wollen sich in Berlin nicht arbeitslos in einer Situation wiederfinden, die im Herkunftsland zu den Motiven ihrer Migration beigetragen hatte. Eine angemessene berufliche Arbeit bedeutet auch für sich persönlich das Versprechen der Chancengleichheit für Migranten einzulösen und die eigene gesellschaftliche Teilhabe zu intensivieren. Beides würde das Selbstbild der Migrantinnen wieder komplettieren und die Kontinuität ihrer beruflichen Biographie und ihrer Identität wieder herstellen. In ihren biographischen Erzählungen drückten arbeitslose Heiratsmigrantinnen häufig ihre Enttäuschung darüber aus, dass sich ihre Erwartung an die Migration bislang im beruflichen Bereich nicht erfüllt hat. Einige der Frauen litten erkennbar unter ihrer gegenwärtigen Situation, die sie als einen biographischen Bruch erlebten, vor allem diejenigen, die sich im Herkunftsland sehr um ihre Ausbildung bemüht hatten. Ergebnis der Forschung ist: strukturelle Hürden und ein eingeschränktes berufliches Spektrum der angebotenen Tätigkeiten und Umschulungen erschweren es vielen Migrantinnen, eine angemessene Arbeit zu finden, die an ihre Ausbildung anknüpft und ihnen den Zugang zum Berliner Arbeitsmarkt ermöglicht. Die wenig aussichtsreiche Situation für arbeitsuchende Migrantinnen spiegelt sich auch in der Statistik des Mikrozensus für Deutschland wider. Sie zeigt, dass die Arbeitssuche für die Frauen aus den beiden größten Migrantenpopulationen Mittelosteuropas schwierig ist, so betrug bspw. im Jahr 2009 die Erwerbstätigenquote der 15- bis 65-jährigen polnischen Migrantinnen 58,2 % und die der Migrantinnen aus der Russischen Föderation 51,7 %, im Vergleich zu 68,4 % bei deutschen erwerbstätigen Frauen im gleichen Alter (Seebaß/Siegert, 2011: 27, Abb. 6). Die vergeblich arbeitsuchenden Heiratsmigrantinnen im Sample gehören damit unfreiwillig zu der doppelt so hohen Arbeitslosenquote der Migranten im Vergleich zu deutschen Arbeitssuchenden. In Berlin betrug die Arbeitslosenquote zur Zeit der Interviews im Jahr 2011 insgesamt 11,9 %, aber bei ausländischen Arbeitslosen 21,6 % (Bundes­agentur für Arbeit, 2013: 3; vgl. Kapitel 2.5.1). In diesem Kontext ist anzumerken, dass in der (internationalen) Migra-

10. Heiratsmigrantinnen

tionsforschung zu Heiratsmigrantinnen deren Erwerbstätigkeit ein vernachlässigtes Thema ist, denn diese Frauen werden in ihrer privaten, familiären Rolle als Ehefrauen und Mütter wahrgenommen und nicht in einer öffentlichen, am Arbeitsmarkt partizipierenden Rolle (vgl. Han, 2003: 20; Williams, 2010).

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11. Transnationale Lebensformen und Alltagspraktiken mittelosteuropäischer Migrantinnen in Berlin

Seit Beginn der »neuen« Migration aus Mittelosteuropa 1989, haben sich die Migranten in Berlin zahlreiche Vereine und Netzwerke geschaffen, die ihnen ihre transnationalen Lebensformen ermöglichen und diese unterstützen. Über die polnischsprachigen transnationalen sozioökonomischen Räume in der Stadt und ihre informellen Netzwerke zur Arbeitsvermittlung hat die Migrationsforschung zuerst berichtet (Stach, 2002; Cyrus, 2001; Miera, 2007; Kapitel 2.7.1) und bald folgte auch die Beschreibung der sich entwickelnden transnationalen Einrichtungen und Räume des russischsprachigen Berlin (Darieva, 2002; Schlögel, 2007; Kapitel 2.7.2). Vor der Auswertung der Aussagen der in Berlin interviewten mittelosteuropäischen Migrantinnen zu ihren alltagsweltlichen transnationalen Lebensformen und zu ihren sozialen Beziehungen zu Verwandten und Freunden im Herkunftsland zunächst ein kurzer Überblick über Ergebnisse einiger empirischer Forschungen zu transnationalen Lebensformen von Migranten, die das Thema in die Migrationsliteratur eingeführt haben, sowie zum Diskurs über transnationale soziale Räume und Transnationalismus als theoretisches Modell, der sich seither entwickelt hat.

11.1 Tr ansnationale migr antische R äume – empirische F orschungen und theore tische M odelle im Ü berblick Der zentrale Inhalt der Theorie der transnationalen Migration geht davon aus, dass Migranten mit ihrer Migration nicht einen einmaligen und vollständigen Wechsel zwischen ihrer Herkunftsgesellschaft und der ihres Migrationslandes vollziehen. Vielmehr pflegen und erhalten transnationale Migranten sprachliche und kulturelle Bezüge und soziale Beziehungen gleichermaßen mit ihrer

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Herkunftsgesellschaft und mit der des Migrationslandes. Der transnationale Ansatz in der Migrationsforschung begann Anfang der 1990er Jahre mit den empirischen Studien von Glick Schiller, Basch und Szanton-Blanc (1992a; 1992b) das Interesse auf sich zu ziehen, in denen die Autorinnen die Migrationsbewegungen zwischen der Karibik und den USA erforscht hatten. Von den Ergebnissen ihrer Forschung ausgehend, haben sie für »transnationale Migranten« die Definition vorgeschlagen: »Transmigrants develop and maintain multiple relations – familial, economic, social, organisational, religious and political – that span borders. Transmigrants take actions, make decisions and feel concerns, and develop identities within social networks that connect them to two or more societies simultaneously.« (Glick Schiller et al., 1992a: 1)

Entscheidend ist bei dieser Definition, dass die transnationalen Beziehungen nicht als Übergangsphänomene verstanden werden, nicht als ein Zwischenstadium vor der Integration in die Gesellschaft des Migrationslandes, wie dort in der Regel normativ gefordert und wie auch in der traditionellen Migrationsforschung angenommen wird: »Our earlier conception of immigrant and migrant no longer suffice. The word immigrant evokes images of permanent rupture, of the uprooted, the abandonment of old pattern and the painful learning of a new language and culture. Now, a new kind of migrant population is emerging, composed of those whose networks, activities and pattern of life encompass both their host and home societies. Their lives cut across national boundaries and bring two societies into a single field.« (Glick Schiller et al., 1992a: 1)

Vielfältige transnationale Lebensformen wurden seither bei Migranten beschrieben und transnationale soziale Räume, die lokal, regional und national auf der Mikro-Ebene, »from below« mit Alltagspraktiken geschaffen werden (Smith/Guarnizo, 1998; Portes et al., 1999a). Transnationale migrantische Lebensweisen sind vor allem in drei großen Migrationsregionen erforscht worden: zwischen Mexiko und den USA (Hondagneu-Sotelo, 1994; Hondagneu-Sotelo, Avila, 1997), zwischen der Karibik und den USA (Chamberlain, 1997; Fog Olwig, 1999) und auf den Philippinen (Parrenas, 2001a, b, 2005). Im Fokus der Forschungen standen drei Themen: pendelnde Arbeitsmigranten, transnationale Familien und die Versorgung zurückgelassener Kinder. In allen drei Regionen hat die gemeinsame Erziehung der Kinder in der Großfamilie eine lange Tradition, in die seit einigen Jahrzehnten auch die Kinder von Arbeitsmigrantinnen mit einbezogen sind. Studien zur Migration zwischen Mexiko und den USA (Pries, 1998; 1999) haben gezeigt, dass Migranten dauerhafte transnationale Bezüge und Beziehungen auf bauen können, mit denen neue transnationale alltagsweltliche So-

11. Transnationale Lebensformen

zialräume über politische Grenzen hinweg, »jenseits von Nationalgesellschaften« entstehen (Pries, 2008: 253), in denen Mensche ihr Leben an zwei oder mehr Orten als »plurilokale Lebensführung« gestalten (Pries, 2002: 264). Vor allem ökonomische Gründe haben zur Folge, dass in Migrantenfamilien eine transnationale Lebensweise generationsübergreifend die »Norm« wird, wie Levitt und Glick Schiller in einer Studie zeigen (2004: 1017f). Ein plakatives Beispiel ist die transnationale Großfamilie von Donna Rosa, die in Puebla/Mexiko und im Großraum New York/USA lebt (Herrera Lima, 2001; Pries, 2008: 51f). Der Prozess ihrer Transnationalisierung begann in den 1960er Jahren eher zufällig, als ein Arbeitsmigrant aus dem Nachbardorf zu Besuch aus New York in Puebla war. Er hielt um die Hand der dreizehnjährigen Tochter Donna Rosas an, die er am Marktstand ihrer Mutter gesehen hatte, wo sie beim Verkauf half. Donna Rosa willigte ein, unter der Bedingung, dass ihr ältester Sohn seine Schwester in die USA begleitet und bei dem Paar lebt. Inzwischen umfasst die transnationale Familie vier Generationen: Donna Rosa und ihre Halb-Brüder und Halb-Schwestern, deren Kinder, Enkel und Urenkel. Mit harter Arbeit und eisernem Sparen haben Familienmitglieder in den USA und in Mexiko Restaurants und Hotels eröffnet, in denen sie transnational zusammen oder abwechselnd arbeiten und leben. Auch Donna Rosa hilft transnational bei der Betreuung der Enkel und Urenkel, die in Mexiko und in den USA geboren werden und – wie die meisten Familienmitglieder – beide Staatsbürgerschaften haben1. Transnationale soziale Räume in Europa hat Faist (1999) zuerst bei türkischen Zuwanderern in Deutschland beschrieben und danach begann sich die Migrationsliteratur mit transnationalen polnischen Arbeitsmigranten in Deutschland zu beschäftigen (Faist, 2000; Nowicka, 2007). Seither haben empirische Studien vier transnationale Lebensformen mittelosteuropäischer Migranten untersucht, die sich in Deutschland seit 1989 entwickelt haben: bei polnischen Migranten (Glorius, 2007; Metz-Göckel et al., 2006, 2007, 2008, 2010; Palenga-Möllenbeck, 2014) und bei jungen hochqualifizierten russischsprachigen Spät-/Aussiedlern (Schmitz, 2013; Kapitel 11.2). Parallel zu der empirischen Erforschung transnationaler Lebensformen bei Migranten wurden intensive Diskurse zum Transnationalismus als theoretischem Modell und zu transnationalen sozialen Räumen geführt, insbesondere in der deutschsprachigen Literatur. Pries definiert »transnationale soziale Räume« als »neue, soziale Verflechtungszusammenhänge, die geographischräumlich diffus bzw. ›de-lokalisiert‹ sind«. Entscheidend ist bei dem sozial konstruierten Raum die Dauerhaftigkeit der Verflechtungen die zugleich »die alltagsweltlichen Lebenspraxis, (erwerbs-)biographische Projekte und Identi1 | Pries schränkt jedoch ein, dass diese Erfolgsgeschichte nicht typisch für alle mexikanischen Arbeitsmigranten in den USA ist (2008: 55).

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täten der Menschen« bestimmt und die »über den Sozialzusammenhang von Nationalgesellschaften hinausweisen« (Pries, 1998: 74f). Pries unterscheidet in seinem mehrdimensionalen Modell des Transnationalismus zwischen Sozialräumen auf der Mikroebene, bspw. den Alltagswelten von Migranten, solchen auf der Mesoebene bei Organisationen und weiteren auf der Makroebene, z.B. bei Regierungsinstitutionen. Diese Sozialräume werden lokal, regional, national, global, ›glokal‹, diasporisch und transnational geschaffen (Pries, 2008: 236). In den Diskursen spielt die Frage eine Rolle, wie eng oder weit der Begriff »Transnationalismus« am besten zu definieren sei, weil die Gefahr bestehe, dass er zu einem Modewort und Sammelbecken für Phänomene wie Globalisierung und Internationalisierung werden kann (Smith/Guarnizo, 1998: 4; Portes et al., 1999b: 219; Pries, 2008: 46). So spricht sich Pries dafür aus, zwischen einem weiteren und einem engeren Konzept des Transnationalismus zu unterscheiden (2002: 264). Das weiter gefasste Konzept bezieht sich auf grenzüberschreitende Zugehörigkeitsgefühle, kulturreelle Gemeinsamkeiten, Kommunikationsverflechtungen, Arbeitszusammenhänge und alltägliche Lebenspraktiken, während im engeren Konzept des Transnationalismus »dichte, dauerhafte, plurilokale und grenzüberschreitende Interaktionsverflechtungen« vorhanden sein müssen, die aus sozialen Praktiken, Symbolsystemen und Artefakten bestehen (Pries, 2002: 264; 2008: 99). Ein anderes grundlegendes Thema bei transnational lebenden Migranten ist ihre Integration in der Migrationsgesellschaft. In der Literatur wurde der Transnationalismus zunächst nur als ein vorübergehendes Phänomen angesehen, denn man ging davon aus, dass Migranten sich »in their own interests« an die neue Gesellschaft anpassen werden (Esser, 2004: 1154). Als Folge der empirischen und theoretischen Studien von Glick Schiller et al. (1992a, b) und Pries (1998; 1999) hat sich in der Migrationsforschung jedoch das Grundverständnis verbreitet, dass eine Integration in die Migrationsgesellschaft und Bindungen zur Herkunftsgesellschaft keine Gegensätze sind. In diesem Diskurs bezeichnet Bommes (2003) in der deutschsprachigen Literatur den transnationalen Raum zunächst als Mythos, bestätigt aber nach einer Analyse klassischer Migrationskonzepte, dass kulturelle Pluralisierungsprozesse und Transnationalisierungen als Folge internationaler Migrationen empirisch belegbare Phänomene sind. Gleichzeitig betont er, dass »jede Migration mit Assimilationsprozessen verbunden« ist. Er nennt dafür u.a. die Angleichung, die sich »in den durch die Lebensführung relevanten Organisationen … der modernen Gesellschaft … wie Unternehmen, Krankenhäusern, Hochschulen, Verwaltungen« vollzieht und folgert, dass sich alle Migranten, wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß assimilieren und sich an den von diesen Institutionen erwarteten »Bündeln von Verhaltenserwartungen aus-

11. Transnationale Lebensformen

richten«, denn der Migrant muss wissen, wie er sich als Arbeitnehmer, als Patient, Klient, Schüler oder Student verhalten sollte (Bommes, 2003: 93-95). Migranten »are keeping feet in both worlds« formuliert Levitt (2003) es prägnant als Ergebnis ihrer empirischen Forschung, denn sie kombinieren transnationale und integrative Strategien im Verlauf der Migration miteinander und nutzen sie simultan (Levitt/Glick Schiller, 2004). Levitts Aussage basiert auf einem großangelegten Untersuchungsprojekt über dominikanische, irische, indische, brasilianische, libanesische und israelische Migranten der ersten und zweiten Generation in Boston/USA und Umgebung, das auf der Grundlage von 240 Interviews mit Migranten und 76 mit Schlüsselinformanten aus religiösen, politischen und sozialen Organisationen durchgeführt und mit Befragungen von Familienmitgliedern in Irland, Brasilien und Indien ergänzt wurde (Levitt, 2003: Anm. 2, S. 193). Das Mischungsverhältnis transnationaler und integrativer Faktoren in der Lebensführung von Migranten ist individuell unterschiedlich und von verschiedenen Gegebenheiten abhängig. Die transnationale Lebensführung der Migranten ist für Levitt kein »fest geschnürtes Paket«, das ein Leben lang gleich bleibt. Transnationale Praktiken variieren in ihren Zielen und in ihrem Ausmaß und sie variieren im Lebenszyklus der Migranten (Levitt, 2003: 181-184), denn »there are many ways to be a transnational actor« (ebd.:192). Leider ist Levitt in ihrer Forschung nicht der Frage nachgegangen, ob Variationen bei den transnationalen Praktiken zwischen Frauen und Männern erkennbar waren.

11.2 S tudien über tr ansnational pendelnde M igr anten z wischen P olen und R ussl and nach D eutschl and Integrative und transnationale Indikatoren zeigen sich auch bei den ost-west­ europäischen transnationalen Lebensformen von mittelosteuropäischen Migranten, die sich seit 1989 entstanden sind, wie erste Studien zeigen. So stellt Nowicka fest, dass Migranten aus Polen, insbesondere Pendelmigranten, sich sowohl ihrer Herkunfts-, als auch der Migrationsgesellschaft verbunden fühlen und aus beiden Ländern »das Beste« schöpfen (2007b: 20). Und Palenga-Möllenbeck zeigt in ihrer Forschung über transnationale Pendler aus dem polnischen Oberschlesien in Deutschland, dass die Migranten in ihrer Selbstdarstellung und Identität Eigenschaften aus beiden Gesellschaften verknüpfen. Sie betonen gerne ihren »deutschen Arbeitsstil« und fühlen sich gleichzeitig als fantasievolle »polnische Alleskönner« (Palenga-Möllenbeck, 2007: 239). Transnationale migrantische Lebensformen sind mit den individuellen Ressourcen und Erfahrungen der Migranten verbunden und mit den strukturellen Rahmenbedingungen ihrer Migration. Günstige Rahmenbedingungen für transnationale Lebensformen ergeben sich durch die geographische Nähe

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zwischen Herkunfts- und Migrationsland, wie bei den zahlreichen polnischen Pendlern in Berlin und Deutschland. Und transnationale Lebensformen werden gestärkt, wenn eine größere Anzahl von Landsleuten im Migrationsland lebt, die eine Community bilden und eine soziokulturelle Infrastruktur schaffen und nutzen. Transnationale Lebensformen werden erleichtert mit den modernen elektronischen Kommunikationsmitteln und mit schnellen und günstigen Reisemöglichkeiten. Forschungsergebnisse liegen über vier Varianten transnationaler Lebensformen vor, die in der innereuropäischen Ost-West-Migration zwischen Deutschland und Polen sowie Russland seit 1989 entstanden sind. Bei ihrer Beschreibung der transnationalen Lebensweisen polnischer Migranten in Leipzig, weist Glorius (2007) darauf hin, dass die Stadt in unmittelbarer Nähe zur polnischen Grenze liegt. Die Zuwanderung aus Polen nach Leipzig hatte bereits in der DDR mit knapp 10.000 Vertragsarbeitern, Studierenden und Heiratsmigrantinnen begonnen und setzte sich nach 1989 vor allem mit temporären Arbeitsmigranten fort. Zur Zeit der Untersuchung 2003 lebten 2.365 polnische Migranten unter den 500.000 Einwohnern der Stadt, die sich aus drei Gruppen zusammensetzten: (1) männliche Facharbeiter im Baugewerbe (90 % mit temporären Verträgen) und Hochqualifizierte in Leitungsfunktionen in verschiedenen Branchen, (2) Heiratsmigrantinnen, die meistens in den 1970/1980er Jahren zugewandert sind, sowie (3) polnische Studierende, die ihre akademische Ausbildung ganz oder teilweise an Leipziger Hochschulen absolvieren und sich ihre zukünftige Berufstätigkeit in beiden Ländern vorstellen können. Transnationale Merkmale in migrantischen Lebensweisen hat Glorius nach den drei Kriterien Mobilität, Alltagskultur und Identität erfragt. Sie stellt unterschiedliche Ausprägungen der drei Kriterien in den transnationalen Lebensformen fest, die dauerhaft zugewanderte Heiratsmigrantinnen oder temporäre Bildungs- und Arbeitsmigranten praktizieren. Gründe für transnationale Mobilität waren Aufenthalte am Zweitwohnsitz in Polen, Besuche bei Verwandten und Freunden, Urlaubsaufenthalte, Geschäftsreisen und Behördengänge. Die häufigsten und längsten Polen-Aufenthalte fanden am Zweitwohnsitz statt, den zwei Drittel der Befragten besitzen. Zum Indikatorenbündel der transnationalen Alltagskultur zählt Glorius die polnisch-deutsche Zweisprachigkeit, insbesondere die Verwendung der polnischen Sprache im häuslichen Bereich und in der Kindererziehung, sowie die Nutzung der polnischen Infrastruktur und der sozialen Netzwerke in Leipzig, wie Besuche polnischer Gottesdienste und Veranstaltungen der Polonia-Vereine. Die Ergebnisse zur Identität der polnischen Migranten in Leipzig zeigen, dass für fast die Hälfte von ihnen der Herkunftsort in Polen (45 %) und das Land Polen (40 %) nach wie vor »Heimat« bedeuten. Fast zwei Drittel der Befragten fühlen auch mit Leipzig eng oder sehr engverbunden, das heißt, die

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meisten Migranten haben multiple räumliche Bindungen entwickelt: auf der Ebene des lokalen Lebensumfeldes, in dem man sich Hause fühlt und auf der Ebene der nationalen Zugehörigkeit und Identität; letzteres führt dazu, dass jeder zweite Migrant die Annahme der deutschen Staatsbürgerschaft ablehnt und nur 18 % sie befürworten (Glorius, 2007: 146-159). Anders gestalten sich transnationale Lebensformen polnischer Pendelmigrantinnen im Ruhrgebiet, die mit illegalen Putz- und Pflegearbeiten in deutschen Privathaushalten tätig sind und ihrem Lebensmittelpunkt weiterhin bei der Familie in Polen haben. Die Pendelmigrantinnen kamen aus allen Regionen Polens, die Dauer ihrer Migration lag zwischen 15 Jahren und zwei Monaten und die Phasen ihrer Arbeit im Ruhrgebiet variierten erheblich. Sechsundzwanzig der einundvierzig Pendlerinnen hatten Kinder in Polen, von denen einige volljährig waren. Das Bildungskapital der Pendlerinnen war hoch2, das bedeutet, die Mehrheit der Pendlerinnen war im Ruhrgebiet weit unter ihrem Bildungsniveau erwerbstätig (Metz-Göckel et al., 2010: 39f). Die Arbeitsmigration war für einen Teil der Frauen ein Ausweg, weil sie keine ausbildungsadäquate Tätigkeit in Polen fanden, andere ließen sich von einer ihrer Qualifikation entsprechenden Beschäftigung in Polen beurlauben, um in Deutschland ein höheres Einkommen zu erzielen, wozu auch der Umtauschkurs von Euro in Zloty beiträgt. Alle Pendlerinnen waren weiterhin Mitglied der polnischen Gesundheitsversorgung, die sie bei Krankheiten in Anspruch nahmen (MetzGöckel et al., 2010: 199). Transnationale Lebensformen der Pendlerinnen werden erleichtert durch die vorhandene polnischsprachige Infrastruktur im Ruhrgebiet, das ein historisches Zielgebiet polnischer Migranten ist. Zu ihr gehören kulturelle, religiöse und politische Organisationen der »deutschen Polonia«, deren Veranstaltungen sie besuchen können, obgleich die Interessenskongruenz der dauerhaft in Deutschland lebenden Menschen polnischer Herkunft und der Pendlerinnen relativ niedrig ist (Metz-Göckel/Münst/Kalwa, 2010: 214f). Die religiöse polnischsprachige Infrastruktur ist im Ruhrgebiet gut ausgebaut, sie liegt in der Obhut der Polnischen Katholischen Mission, wie auch in Berlin, und sie feiert in mehr als 25 Städten polnischsprachige Messen. Große Bedeutung für Informationen, die für das transnationale Leben der pendelnden Arbeitsmigrantinnen relevant sind, haben zwei polnischsprachige Wochenzeitungen »Fakty« und »info&tipps«. In ihnen finden sie nützliche Anzeigen und Arbeitsangebote und können selbst Kleinanzeigen zur Arbeitssuche aufgeben. So können sie sich einen neuen oder einen zusätzlichen Job vor Ort suchen, nachdem alle Migrantinnen, bis auf eine, bereits in Polen über 2 | Sechzehn Frauen hatten eine Hochschul- oder Fachhochschulreife, drei einen Studienabschluss, zehn hatten ohne Abschluss studiert und zehn verfügten über eine abgeschlossene Berufsausbildung; nur vier Frauen hatten keine Ausbildung.

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transnationale informelle Netzwerke ihren ersten Arbeitsplatz im Ruhrgebiet gefunden hatten, der die Voraussetzung für ihre Entscheidung zur Migration gewesen ist (Metz-Göckel et al., 2010: 220-262; vgl. Kapitel 8.3). Über ihre Erwerbstätigkeit hinaus sind die transnationalen Bezüge polnischer Pendlerinnen im Ruhrgebiet nicht besonders ausgeprägt. Eine weitere Variante transnationaler Lebensweisen praktizieren pendelnde Arbeitsmigranten aus dem polnischen Oberschlesien. Sie knüpfen seit 1989 und vermehrt seit 2004 mit ihren transnationalen Lebensformen an die lange Migrationstradition zwischen der früheren Grenzregion Oberschlesien und Deutschland an. Die Pendler gehen relativ gut bezahlten Arbeiten in Deutschland nach und belassen ihren Lebensmittelpunkt am angestammten Wohnsitz der Familie in Polen, bspw. im eigenen Haus in ländlicher Umgebung, vor allem in den strukturschwachen Regionen Oppeln und Kattowitz. Unterstützt werden ihre transnationalen Lebensformen durch die deutsche Staatsbürgerschaft, die viele Oberschlesier unter bestimmten Voraussetzungen zusätzlich zu ihrer polnischen erhalten können. Die doppelte Staatsbürgerschaft ist eine Institutionalisierung der Migration (vgl. Portes, 1999b: 222), die dem Migranten eine größere Freiheit gibt, sein Leben transnational in zwei Gesellschaften zu gestalten und sie trägt wesentlich zur Herausbildung der hoch formalisierten Migrationsindustrie in Oberschlesien bei (Palenga-Möllenbeck, 2014: 28f; 354)3. Polnische Arbeitsmigranten aus Oberschlesische gestalten ihre transnationalen Erwerbstätigkeit unterschiedlich: sie arbeiten entweder dauerhaft in Deutschland und pendeln jedes Wochenende nach Hause zu ihrer Familie oder sie sind nur temporär beschäftigt, bspw. als Bau- oder Erntearbeiter, ein Teil von ihnen ihr ganzes Leben in der gewählten Erwerbsform. Viele Pendler arbeiten hauptberuflich in Deutschland, andere nur nebenberuflich, weil sie eine Beschäftigung in Polen haben oder sie gehen nur gelegentlich nach Deutschland, um für ein bestimmtes Vorhaben, z.B. einen Hausbau, zusätzlich Geld zu verdienen. Gleichzeitig äußerten alle Interviewten den Wunsch, lieber in Polen arbeiten und leben zu können, um die Mühen des Pendelns und die Trennung der Familie zu vermeiden (Palenga-Möllenbeck, 2014: 219f; 284f). Interessant ist, dass die genderspezifische Rollenverteilung die Migrationsmuster von Frauen und Männer bei den oberschlesischen Pendlern bestimmt oder zumindest stark beeinflusst. Pendlerinnen üben in der Regel saisonale Tätigkeiten aus und bevorzugen wegen ihrer familiären Verpflichtungen zyklische und kurze Aufenthalte am Migrationsort, während pendelnde Männer bei ihrer meist vollbeschäftigten Erwerbsmigration eher transnationale Bindungen zwischen Migrations- und Herkunftsland pflegen (Palenga-Möl3 | Die Zahl der Doppelstaatler betrug 2002 in den beiden von Palenga-Möllenbeck untersuchten Regionen Oppeln und Oberschlesien 234.064 deutsch-polnische Doppelstaatler (2014: 37).

11. Transnationale Lebensformen

lenbeck, 2014: 288f)4. Soziale Orte der Identität und Zugehörigkeit sind öffentliche Räume, der Arbeitsplatz, das berufliche Selbstbild, Mediennutzung, Kirche und Politik, private soziale Räume, Familie, Freundschaften und das soziale Umfeld (ebd.: 324-345). Unter den oberschlesischen Migranten verorten sich vor allem die Männer oft plurilokal, wobei dieser Prozess nicht Hand in Hand mit den tatsächlichen transnationalen Alltagspraktiken gehen muss, denn es gibt in der untersuchten Stichprobe auch Migranten, die im Alltag ein transnationales Leben führen, sich aber mental monolokal im Herkunftskontext verorten und umgekehrt auch Migranten, die nach Polen zurückgekehrt sind, jedoch kognitiv und emotional in einem transnationalen Raum verbleiben (Palenga-Möllenbeck, 2014: 347). Eine andere Form der transnationalen Lebensweise beschreibt Schmitz (2013) bei bildungserfolgreichen jungen russischsprachigen Spät-/Aussiedlern, die sie befragt hat. Der wirtschaftliche Boom um die Jahrtausendwende in Russland und Kasachstan haben ihr zirkuläres Migrationsverhalten begünstigt und aufgrund ihrer Zweisprachigkeit, ihrer Berufsqualifikation und dem kulturellen Wissen über ihr Herkunftsgebiet haben junge Spät-/Aussiedler leichten Zugang zu den dortigen Arbeitsmärkten. Die befragten neun Frauen und elf Männer waren zwischen 20-35 Jahre alt, unter ihnen ein selbstständiger Unternehmer, ein promovierter Wissenschaftler, zwei Angestellte, ein Auszubildender und 15 Studenten, die ihre Auslandaufenthalt mit Stipendien (DAAD, Erasmus) finanziert haben (Schmitz, 2013: 119, Abb.18). Alle haben ihre primäre Sozialisation in der ehemaligen Sowjetunion erfahren, wurden als Kinder von den Eltern nach Deutschland »mitgenommen« und gehören zur »Generation 1.5«. Spät-/Aussiedler aus Russland sind meist Doppelstaatler mit deutschem und russischem Pass, ihr transnationales Pendeln wird so erleichtert (Schmitz, 2013: 11-18). Schmitz weist darauf hin, dass die Rückwanderungen aus Deutschland in die Russische Föderation seit Beginn der Jahrtausendwende deutlich angestiegen sind. 2008 kehrten bspw. 16.399 Personen zurück, 2009 waren es 15.455, während die Zuwanderung von dort nach Deutschland drastisch gesunken sind; ein ähnliches Bild ergibt sich auch für Kasachstan (Schmitz, 2013: 79f, Abb. 9, 10; vgl. Schmid, 2009). Es könne aber nicht von einer »Massenrückkehr« die Rede sein und es sei auch nicht klar, inwieweit es sich bei der Rückwanderung dieser »besonderen Migrantengruppe« um eine endgültige 4 | In der Region Oppeln haben nach dem EU-Beitritt 42,7 % (61.300) der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter im Ausland gearbeitet, ein deutlicher Anstieg zu den 33,9 % in den Jahren zuvor; bei der erwerbstätigen Bevölkerung stieg er von 43,7 % auf 56 %. 2001 betrug der Anteil der Männer 70,8 %, er verringerte sich 2004 auf 65,5 %, während sich der Anteil der Frauen im gleichen Zeitraum von 29,2 % auf 34,5 % erhöhte (Palenga-Möllenbeck, 2014: 38-41).

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Remigration handelt (Schmitz, 2013: 88). Dies wird deutlich angesichts der Tatsache, dass sechzehn der zwanzig Befragten erst am Anfang eines möglichen Auf baus eines (transnationalen) Erwerbslebens standen, denn sie waren bei den Interviews noch Studenten (Schmitz, 2013: 119, Abb.18). Die Identitätsbildung der jungen Spät-/Aussiedler nimmt in der Studie breiten Raum ein. Während sie in den Herkunftsländern in der Fremdzuschreibung als Deutsche galten, wurden sie in Deutschland zu Russen umcodiert und so als Fremde exkludiert. Ihre Identitätsbildung war vor allem in der Anfangsphase in Deutschland von dem Gefühl geprägt »nicht zu wissen, wo man richtig hingehört« (Schmitz, 2013: 144). In ihrer Selbstwahrnehmung fühlten sich junge Spät-/Aussiedler vor ihrer Migration mit übergeordneter Identität als »Sowjetmenschen«. Sie hatten zwar eine deutsche Herkunft und in der Familie wurden deutsche Kulturtraditionen gepflegt, im Alltag waren sie aber durch die Sprache einer zunehmenden Russifizierung ausgesetzt. Nach der Migration stellte sich die Frage nach der Identität täglich neu. Vor allem acht Jugendlichen aus binationalen Familien hatten Probleme, sie sind vorwiegend mit russischen Werten erzogen worden, müssen sich aber in Deutschland den neuen deutschen Werten anpassen, ihr Deutschsein in den Vordergrund stellen, woraus bei ihnen eine »brüchige Zugehörigkeit« entstanden ist (Schmitz, 2013: 149-153). Es sind meist auch junge bildungserfolgreiche Spät-/Aussiedler aus binationalen Familien, die auf Herkunfts- und Identitätssuche sind, wenn sie temporär nach Russland zurückkehren, für beruflich bedingte, wiederholte, mindestens einwöchige Aufenthalte oder für einjährige Austauschstudien und Freiwilligendienste (Schmitz, 2013: 121f). Die Wahl des temporären Rückkehrortes erfolgt nach Kriterien besserer Berufs- und Studienmöglichkeiten, meist in die Metropolen Moskau, St. Petersburg oder Nowosibirsk. Eine kurze Rückkehr in den Geburtsort wird eher als Verwandtenbesuch gestaltet, meist mit der gesamten Familie. Im Kontext einer transnationalen Lebensform ist die Häufigkeit des Pendelns wichtig – so Schmitz (ebd.: 122): sechs der jungen Spät-/Aussiedler waren vier bis sechs Mal im Herkunftsland, anfangs als Schulkinder in den Sommerferien, weitere sechs sind zwei bis drei Mal gependelt. Ein Ergebnis der Studie ist, dass die jungen transnational lebenden Spät-/ Aussiedler ihre sich herausbildende multiple Identität und Zugehörigkeit als individuelle Bewältigungsstrategie in ihrem Lebensentwurf nutzen, die eine Beheimatung in beiden Gesellschaften und den Umgang mit zwei kulturellen Kontexten ermöglicht. Sie fühlen sich sowohl »hier« als auch »dort« »zu Hause«. Die transnationale Lebensweise ermöglicht es ihnen, ihre Teilidentitäten in Einklang zu bringen, ihr Anderssein als einen Normalzustand zu betrachten und gegenüber wechselnden Umwelten flexibel zu reagieren (Schmitz, 2013: 165f). Den Begriff »Heimat« verbinden sie häufig mit familiären Nahbeziehungen, Kindheitserinnerungen und emotionalen Bindungen, nicht mit einem geographischen Ort (Schmitz, 2013: 263).

11. Transnationale Lebensformen

Bei einem Vergleich der vier Varianten der ost-westeuropäischem transnationalen Lebensweisen nehmen die polnischen Pendelmigranten aus Oberschlesien und die russischsprachigen Spät-/Aussiedler aufgrund der besonderen historischen Entwicklung ihrer transnationalen Migrationsformen privilegierte Positionen ein. Insbesondere wenn sie Doppelstaatler sind, können beiden Gruppen institutionalisierte transnationale Lebensformen gestalten und transnationale Identitätskonstrukte entwickeln. Dagegen praktizieren pendelnde polnische Migrantinnen nur eingeschränkte transnationale Lebensformen, wie es die Studien über Pendlerinnen im Ruhrgebiet und aus Oberschlesien beschreiben (Metz-Göckel et al., 2010; Palenga-Möllenbeck, 2014: 288f). Auch Pendlerinnen haben eine bilokale räumliche Zugehörigkeit, bauen jedoch nur wenige dauerhafte Bindungen zum Migrationsland auf. Die Gründe hierfür sahen die Autorinnen als Folge der genderspezifischen Rollenverteilung, in den Aufgaben der Frauen in ihren Familien und als Mütter, mit denen sie sich nachhaltig an ihren polnischen Lebensmittelpunkt gebunden fühlen. Polnische Pendlerinnen aus beiden Regionen verstehen ihren deutschen Migrationsort vor allem als Ort ihrer Erwerbstätigkeit, wo sie den notwendigen Unterhalt für sich und ihre Familie verdienen, um in relativ kurzen Abständen regelmäßig möglichst viel Zeit in Polen zu verbringen, wo sie ihren Lebensmittelpunkt verorten.

11.3 Tr ansnationale L ebensweisen und A lltagspr aktiken der mittelosteuropäischen M igr antinnen in B erlin und ihre I ndik atoren Die mittelosteuropäischen Migrantinnen in Berlin gestalten ihre transnationalen Lebensweisen und Alltagspraktiken in einer individuellen Mischung aus integrativen und transnationalen Faktoren, die Bestandteile ihrer Migrationsbiographie und der Erfordernisse ihres täglichen Lebens sind. In ihren biographischen Erzählungen sind • integrative Indikatoren für die gesellschaftliche Teilhabe in der Migrationsgesellschaft die Beherrschung der deutschen Sprache, eine (grenzüberschreitende) berufliche Ausbildung und eine ausbildungsadäquate Erwerbstätigkeit in Berlin sowie die integrative Ausrichtung der (schulischen) Erziehung ihrer Kinder, und • transnationale Indikatoren migrantischer Lebensweisen sind die Nutzung der Muttersprache und deren Weitergabe an die Kinder, transnationale familiäre Beziehungen, transnationale Mobilität und Gefühle transnationaler Zugehörigkeiten.

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Die Gestaltung der transnationalen Lebensweise und Alltagspraktiken verläuft als Prozess, in dem jede Migrantin ihre gesellschaftliche Teilhabe in Berlin mit ihren Bindungen zu der Herkunftsgesellschaft verknüpft. Unterschiedliche Rahmenbedingungen ihrer Migration und ihre persönlichen Ressourcen haben essenziellen Einfluss auf die Herausbildung ihrer transnationalen Lebensweise. Zu den Rahmenbedingungen zählen ihre Ehe oder Partnerschaft in Berlin, je nachdem, ob die Migrantin in einer binationalen oder einer mononationalen Verbindung lebt oder alleinerziehend ist. Und zu ihren persönlichen Ressourcen gehören das aus dem Herkunftsland mitgebrachte Bildungskapital, seine Erweiterung in Berlin und seine Umsetzung in eine adäquate Erwerbstätigkeit. Die individuellen Mischungen integrativer und transnationaler Faktoren werden unterschiedlich kombiniert und gestaltet und sie verändern sich im Migrationsprozess und im Lebensverlauf der Migrantinnen. Empirische Befunde und theoretische Diskurse zum Transnationalismus haben deutlich gemacht, dass transnationale Lebensformen von Migranten charakteristische Faktoren aufweisen: • gleichzeitige soziale Bezüge zur Migrations- und zur Herkunftsgesellschaft, • die familiär, kulturell, politisch und ökonomisch, also mehrdimensional sind, • auf der Mikro-, der Meso- und auf der Makroebene verankert sein können, • und (meist) einen langlebigen Charakter haben (Pries, 2002, 2008). Empirische Studien zeigen, dass Migranten ihre transnationale Lebensform als eine individuelle Mischung aus integrativen und transnationalen Bezügen und Aktivitäten gestalten, die in verschiedenen Lebens- und Migrationsphasen von den Akteuren in ihren inhaltlichen Schwerpunkten verändert werden (Levitt, 2003; Kapitel 11.1). In den Forschungen über Migranten aus Mittelosteuropa werden auch regionale und gruppenspezifische Ausprägungen transnationaler migrantischer Lebensformen deutlich, bspw. zwischen polnischen Zuwanderern, die sesshaft in Leipzig leben und einen Zweitwohnsitz im nahen Polen haben (Glorius, 2007) und jungen russischsprachigen Spät-/Aussiedlern aus Deutschland, die während ihres Studiums einige Semester in Russland studieren (Schmitz, 2013; Kapitel 11.2). Wieder andere Ausprägungen haben transnationale Lebensweisen und Alltagspraktiken der in Berlin lebenden mittelosteuropäischen Migrantinnen, von denen viele binational verheiratet sind und alle Kinder haben. Die charakteristischen Bestandteile der transnationalen Lebensweise und Alltagspraktiken der mittelosteuropäische Migrantinnen in meinem Sample sind:

11. Transnationale Lebensformen

(1) die Zweisprachigkeit, (2) ihr Bildungskapital, dessen Erweiterung und Umsetzung in eine Erwerbstätigkeit für eine chancengleiche Teilhabe am Arbeitsmarkt in Berlin, (3) transnationale familiäre Beziehungen, (4) transnationale Mobilität und Gefühle der Zugehörigkeit zum Herkunftsland und zum jetzigen Lebensmittelpunkt Berlin.

11.3.1 Zweisprachigkeit Die Sprache ist das wichtigste Instrument, sowohl bei den integrativen wie auch bei den transnationalen Faktoren und die fließende Zweisprachigkeit in ihrer mittelosteuropäischen Muttersprache und in der deutschen Sprache ist der essenzielle Bestandteil der transnationalen Lebensweise der interviewten Migrantinnen. Zweisprachigkeit war auch bei den besprochenen empirischen Studien über transnationale Lebensformen von Migranten der grundlegende Baustein (Kapitel 11.1, 11.2). Bei den Migrantinnen in Berlin hat sich ihre Zweisprachigkeit erst nach der Zuwanderung entwickelt, denn fast alle Frauen waren ohne Deutschkenntnisse zugewandert oder sie hatten nur einige Jahre Deutschunterricht in der Schule, wie die Au-pair-Beschäftigten. Zur Zeit des Interviews sprachen die Migrantinnen gut oder sehr gut Deutsch. Ausnahmen waren drei Frauen, die weder in ihrem Arbeitsalltag noch in ihrer Partnerschaft Deutsch benötigten, ihr Leben verlief in der russischsprachigen Community. Bei allen anderen Migrantinnen hat sich ihre fließende deutsche Sprachfähigkeit auf der Grundlage mehrerer Faktoren entwickelt, zu denen anfangs bei einigen Frauen schulische Vorkenntnisse gehörten. In Deutschland war für die Migrantinnen der Au-pair-Aufenthalt oder ein Sprachkurs der Grundstein für ihre Sprachkenntnisse. Danach war der tägliche Gebrauch der deutschen Sprache wichtig, im Studium und/oder am Arbeitsplatz, mit der Migrantinnen ihre Sprachkompetenz ausbauten. War Deutsch die Familiensprache, war das für die Kommunikationsfähigkeit sehr nützlich. Die Dauer ihres Aufenthaltes spielte ebenfalls eine große Rolle, je länger eine Migrantin in Berlin lebte, desto besser war ihre deutsche Sprachkompetenz. Die Muttersprache behält das ganze Leben über eine prägende Rolle für das Erleben und die Beschreibung von Gefühlen, für die Identität und das Zugehörigkeitsgefühl der Migrantinnen, auch wenn im weiteren Lebens- und Migrationsverlauf die zweite Sprache breiten Raum einnimmt und große Bedeutung erhält. Die Muttersprache ist auch die Grundlage für die Aufrechterhaltung der transnationalen familiären und sozialen Beziehungen. Sobald die Migrantin Kinder hat, erfährt ihre Muttersprache einen weiteren Bedeutungsschub, denn in ihr spricht sie mit ihrem Baby und Kleinkind. Später entsteht der Wunsch, ihre Muttersprache an das Kind weiterzugeben, nicht zuletzt, damit

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es an den transnationalen Familienbeziehungen teilnehmen kann und – wie Migrantinnen häufig sagten – »mit der Oma telefonieren kann«. Der Gebrauch der Muttersprache war bei den meisten mittelosteuropäischen Migrantinnen vor allem in der Kommunikation mit ihrem Kind bzw. ihren Kinder intensiv, auch in binationalen Familien, in denen Deutsch die gemeinsame Familiensprache war. In diesem Kontext ist anzumerken, dass nur ganz wenige der deutschen Partner die Muttersprache der Migrantinnen sprachen. Einige Ehemänner beherrschten Russisch vor der Begegnung mit ihrer Partnerin, bspw. von einer Studienzeit in Russland und die Sprache hatte in der Regel auch zur Entstehung der Beziehung beigetragen. Nur ein Ehemann hat die Muttersprache seiner Frau – Litauisch – auf ihren Wunsch und als Voraussetzung für die Ehe gelernt und sprach es fließend. Von einigen anderen Ehemännern erzählten Migrantinnen, er habe zwar einige Sprachkenntnisse, die aber gerade ausreichten »um im Urlaub im Restaurant etwas zu bestellen« In außerfamiliären Bereichen ist die Nutzung der mittelosteuropäischen Mutter- sprachen für die Migrantinnen in Berlin begrenzt. Die Frauen haben meist eine oder zwei Freundinnen aus dem Herkunftsland, mit denen sie in der Muttersprache kommunizieren. Sie können auch soziale Orte der transnationalen Infrastruktur in der Stadt für Gespräche in ihrer Muttersprache nutzen. Insbesondere in den beiden größten mittelosteuropäischen Communities, der polnisch- und der russischsprachigen, gibt es in Berlin zahlreiche transnationale soziale Räume: Cafés, Geschäfte und Kirchengemeinden (Kapitel 2.7.1, 2.7.2). Bei ihrer beruflichen Tätigkeit haben nur wenige Migrantinnen die Möglichkeit ihre Muttersprache zu verwenden, bspw. Polnisch und Russisch in der ethnischen Ökonomie, als Erzieherin in einer bilingualen Kita oder Schule und als Sprachlehrerin, das heißt, in Jobs, in denen ihre Muttersprache die Grundlage für den Umgang mit Kunden und Klienten aus den beiden Communities ist. Das gilt auch für die drei Arbeitsmigrantinnen, die als Putzfrauen in russischsprachigen Haushalten arbeiten. Zwei Migrantinnen sind aufgrund ihrer Muttersprache in Firmen mit transnationalen Projekten erwerbstätig, mit Polnisch in der Tourismusentwicklung, mit Ungarisch und Rumänisch bei einer Firma, die sich auf Hintergrundrecherchen über Geschäftspartner in Mittelosteuropa spezialisiert hat.

11.3.2 Bildungskapital und Er werbstätigkeit Die Ergebnisse dieser Forschung zu den grenzübergreifenden Bildungs-, Berufs- und Erwerbsprozessen der mittelosteuropäischen Migrantinnen und ihrer Teilhabe an der Arbeitswelt zeigen, dass ein gutes Drittel der Frauen zusätzlich integratives Bildungskapital für ihre berufliche Tätigkeit in Berlin erworben hat. Ein weiteres Drittel ist aufgrund des mitgebrachten Bildungskapitals erwerbstätig, ohne es im Migrationsland erweitert zu haben. Das letzte Drittel – über-

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wiegend Heiratsmigrantinnen – war auf der Suche nach passender Arbeit. Sie waren entweder unzufrieden mit dem derzeitigen Job oder hatten bislang keine angemessene Beschäftigung gefunden. Einige studierten, andere überlegten, ob sie mit einem Studium und dem Erwerb integrativer Bildung ihre Perspektiven am lokalen Arbeitsmarkt substanziell verbessern sollen. In den akademischen Berufen haben fast alle beruflich erfolgreichen früheren Bildungsmigrantinnen ihr kulturelles Kapital transnational aufgebaut, zunächst mit einem Diplom im Herkunftsland und mit der substanziellen Addition integrativer institutioneller Bildung in Deutschland – einem weiteren Diplom. Sie arbeiten als hochqualifizierte Fachkräfte: (1) zwei zugewanderte Töchter sind Psychologin und Informatikerin, (2) eine frühere Arbeitsmigrantin ist Dipl. Ing. für Bekleidungstechnik, (3) eine ehemalige Au-pair-Beschäftigte ist approbierte Ärztin, (4) fünfzehn Bildungsmigrantinnen sind als Informatikerinnen, IT-Spezialistinnen, Wirtschaftswissenschaftlerinnen, Diplom-Ing. für Maschinenbau, wissenschaftliche Mitarbeiterin an einem Osteuropa-Institut, Sprachwissenschaftlerin, Kantorin und Projektleiterin eines Übersetzungsbüros tätig. Eine Biologien hatte mit einer Promotionsforschung ihr integratives Bildungskapital erweitert, wegen Insolvenz der Firma ohne Abschluss, sie fand aber aufgrund ihrer erworbenen Kenntnisse und Erfahrungen schnell Arbeit in einer privaten Forschungsfirma, (5) drei Heiratsmigrantinnen sind Ärztin, Wirtschaftswissenschaftlerin und Apothekerin nach einem integrativem Erst- oder Zweit-Studium in Berlin5: Auch andere Migrantinnen, die über mitgebrachtes Bildungskapital verfügten, haben sich in Berlin für eine neue, andere Ausbildung entschieden. Sie haben ihre Bildungs- und Berufsprozesse mit integrativen Faktoren aktualisiert, erweitert oder völlig neu gestaltet. So zwei Lehrkräfte im Primarbereich – eine Sonderschullehrerin, die im Herkunftsland ein Musikstudium abgeschlossen hatte und eine Grundschullehrerin, die dort keinen Studienplatz erhalten hatte. Eine Erzieherin in einer bilingualen Europaschule hat ihr russisches Diplom mit einem Pädagogikstudium in Berlin integrativ aktualisiert. Auch zwei Heilpraktikerinnen haben eine neue Ausbildung absolviert, eine hat ein Diplom für russische Übersetzungen, die andere ist als Kind mit ihrer Familie zugewandert. Erfolgreiche neue Berufausbildung haben auch zwei Migrantinnen in leitenden Positionen in der Hotelbranche durchlaufen, eine mit einem Wirtschaftsdiplom, die andere als Diplom-Ingenieurin für Chemietechnik. Eine Migrantin mit einem Sprachdiplom hat sich mit einer Ausbildung zur Al5 | Nach der internationalen Standardklassifikation sind sie alle Akademiker und Wissenschaftler (ISCO 2). www2.warwick.ac.uk/fac/soc/ier/research/isco88).

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tenpflegerin, finanziert mit EU-Fördermitteln, ein krisenfestes Tätigkeitsfeld gesucht, ebenso wie zwei weitere Frauen, eine Diplom-Bibliothekarin und eine Migrantin, die als Putzkraft gearbeitet hat, sie absolvierten eine Umschulung zur mobilen Altenpflegerin. Das zweite Drittel der Migrantinnen ist erwerbstätig, ohne ihr mitgebrachte Bildungskapital integrativ erweitert zu haben. Zwei Frauen arbeiten ausbildsadäquat aufgrund ihrer Diplome aus dem Herkunftsland als IT-Spezialistin in einer Rentenkasse und als Projektleiterin einer Sprachschule. Weitere Beispiele sind die Geschäftsführerin einer Modeboutique, die ein Diplom in Slawischer Philologie hat, eine Kosmetikerin, die als Verkäuferin in einem Lebensmittelgeschäft der ethnischen Ökonomie arbeitet und eine Erzieherin, die ohne eine Zusatzausbildung in Deutschland nur als Erziehungshelferin tätig werden kann. Andere Migrantinnen konnten auf der Grundlage ihres im Herkunftsland erworbenen Bildungskapitals, insbesondere ihrer Muttersprache, in Berlin eine Erwerbstätigkeit aufnehmen, meist im Kontext ihrer Community oder in einem transnationalen Projekt. Zwei Migrantinnen arbeiten in Berlin in der Tourismusbranche mit polnischen Partnern und in einer Firma, die in Mittelosteuropa Geschäftspartnern deutscher Firmen überprüft. Auch als selbstständige Unternehmerin haben sich einige Frauen transnational etabliert: zwei Migrantinnen betreiben einen Laden bzw. eine kleine Handelsfirma mit Produkten aus Polen und eine Migrantin hat ein Mode-Projekt in Zusammenarbeit mit ihrer Mutter in Russland aufgebaut, die dort die Textilien in ihrer Werkstatt fertigen lässt. Eine Migrantin arbeitet freiberuflich für Medien in Tschechien, wie bereits vor ihrer Migration. Zwei Migrantinnen mit einer musikalischen Ausbildung unterrichten in einer privaten Musikschule bzw. geben freiberuflich Klavierstunden. Zu den Migrantinnen, die ohne eine integrative Weiterbildung in Berlin eine Erwerbstätigkeit nachgehen sind auch die Arbeitsmigrantinnen zu zählen, die mit einer veralteten Berufsausbildung (Textilmaschinenführerin, Schneiderin) oder ungelernt nach Berlin kamen und in unqualifizierten Tätigkeiten als Putzkraft, Verkäuferin oder Kellnerin arbeiten. Unqualifizierte Arbeiten müssen nicht das Ende der beruflichen Entwicklung bedeuten, wie die Beispiele von drei früheren Putzfrauen zeigen: eine hat sich zur Schichtleiterin im Reinigungsdienst eines Berliner Flughafen hoch gearbeitet, eine andere macht eine Umschulung zur mobilen Altenpflegerin, eine dritte war inzwischen Haushälterin und überlegte, ob sie sich zur Kita-Erzieherin umschulen lässt. Das letzte Drittel sind vor allem Heiratsmigrantinnen, die entweder mit ihren Erwerbstätigkeiten nicht zufrieden sind und auf der Suche nach einer passenden Arbeit waren oder Hausfrauen sind und noch gar keine Erwerbstätigkeit aufgenommen hatten. Einige Frauen überlegten, ob sie in Berlin mit einem (erneuten) Studium ihr Bildungskapital aufstocken könnten, andere

11. Transnationale Lebensformen

sahen das als zu schwierig an, weil ihre Studienabschlüsse am deutschen Arbeitsmarkt nicht nachgefragt sind, bspw. ein Diplom für Klassische Sprachen aus einem Baltischen Land, ein Lehramtsdiplom für Deutsch und Englisch und ein Diplom für Verpackungsdesign aus Tschechien oder der Beruf einer Naturkunde-Führerin in einem Nationalpark in Lettland.

11.3.3 Die transnationale Familie: doing family auf der digitalen Brücke Alle Migrantinnen haben einen intensiven und regelmäßigen Austausch mit ihrer Familie im Herkunftsland, bis auf zwei Frauen, die in Kinderheimen in Moldawien und der Ukraine aufgewachsen sind und eine Migrantin aus der ungarischen Minderheit in Rumänien, die als junge Erwachsene Vollwaise geworden ist. Die Kernfamilien, aus denen die Migrantinnen stammen, sind in mittelosteuropäischen Ländern in der Regel relativ klein, es sind die Eltern oder die Mutter mit einem, manchmal zwei, selten drei Kindern (vgl. Robila, 2004 a). Zahlreiche Migrantinnen im Sample sind Einzelkinder. Das bedeutet, dass auch die transnationalen Familien in Mittelosteuropa relativ klein sind. Die häufigsten familiären Kontakte und die engsten transnationalen Beziehungen haben die Migrantinnen mit ihrer Mutter, die entweder alleinerziehend war, geschieden oder verwitwet ist oder mit dem Vater bzw. Stiefvater der Migrantin verheiratet ist. Hinzu kommen transnationale familiäre Beziehungen zu einer Schwester oder einem Bruder im Herkunftsland oder einem Migrationsland. Die aktive soziale Einheit der transnationalen Familie bilden die Migrantin und ihre Kinder in Berlin mit ihrer Kernfamilie in Mittelosteuropa, insbesondere mit ihrer Mutter, der Großmutter der Kinder. Einige wenige Eltern sind inzwischen selbst migriert: ein Elternpaar ist aus Litauen nach Chicago ausgewandert, eine Mutter aus Moldawien lebt bei ihrem Sohn in Moskau und versorgt dort ihr Enkelkind und eine Mutter aus Polen arbeitet in Italien als Altenpflegerin. Auch zu entfernteren Verwandten bspw. Tanten, Onkel, Cousinen und Cousins im Herkunftsland gibt es gelegentlich Kontakte. Zur transnationalen Familie gehört auch die Familie des Ehemannes oder Partners, die meist in Deutschland lebt oder in Ländern Mittelosteuropas, Südamerikas oder Afrikas; mit ihnen ist der transnationale Austausch nicht so häufig und weniger intensiv. Transnationale Familien bilden grenzüberschreitende »Sozialräume jenseits von Nationalgesellschaften« auf der Mikroebene mit plurilokal verorteten Familienteilen und multiplen Beziehungen (Pries, 2008). Transnationale Familien werden von Migranten gebildet, die über weite Entfernungen und über nationalstaatliche Grenzen physisch voneinander getrennt leben, sich jedoch als Familiensystem zusammengehörig fühlen, in einer »familyhood« leben (Bryceson/Vuorela, 2002: 3). Transnationale Familien gibt es, seit es Migrationen

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gibt, in Europa seit mindesten vierhundert Jahren, seit der Kolonialzeit und den Auswanderungen in die USA (Bryceson/Vuorela, 2002: 12). Damals wurde der familiäre Austausch mit Briefen aufrechterhalten, die wochen- oder monatelang unterwegs waren6. Seit Beginn des 21. Jhs. hat »die neue Qualität der Fernkommunikation« (Pries, 2008: 49) qualitativ vollkommen neue Formen der Kopräsenz von Menschen über weite Distanzen ermöglicht. Zunächst waren es billige Telefonate, dann folgten das internetbasierte Telefonieren und Emails für einen häufigeren und kostenlosen Informationsaustausch, schließlich Skype für virtuelle Familientreffen über große Entfernungen und nationale Grenzen hinweg. Diese digitalen Brücken ermöglichen emotionale Nähe und einen intensiven familiären Austausch, das doing family über große geographische Distanzen hinweg 7, die von den transnationalen Familien zwischen Berlin und den mittelosteuropäischen Ländern mindestens einmal in der Woche, in einigen Familien auch täglich genutzt werden – ohne das Kosten entstehen. Die Gespräche werden meist über das alltägliche Leben geführt: »wir reden über alles«, bspw. »ist dein Husten wieder besser?« oder »was kochst du heute?« usw. Gegenseitige Anteilnahme am Alltag, an den kleinen Freuden und Schwierigkeiten, virtuelle Unterstützung und guter Rat aus eigener Erfahrung – generations- und länderübergreifend erteilt – erhalten und stärken den transnationalen familiären Zusammenhalt. Im Mittelpunkt der Kommunikation stehen vor allem zwei Themenbereiche: die Enkel in Berlin und die Sorge über gesundheitliche Probleme der älter werdenden Eltern oder der alleinstehenden Mutter im Herkunftsland und deren ärztliche Versorgung, das »caring at a distance« (Ackers, 1998: 271f). Bei einer akuten Verschlechterung der Krankheit ihres Vaters hat bspw. eine russische Migrantin die notwendige Operation in der Berliner Charité durchführen lassen, was aber nur möglich war, weil sie und ihr Ehemann gut bezahlte Tätigkeiten ausüben und die Kosten der Operation sowie die Bürgschaft für den Vater übernehmen konnten. Erzählungen aus dem Leben und über die Erziehung der Enkelkinder sind ein unerschöpfliches Thema und für Großeltern immer interessant. Telefonate zwischen Oma und Enkelkindern sind bei beiden beliebt, denn die Kinder in Berlin sind an der transnationalen Kommunikation der Familie in ihrer Muttersprache beteiligt, jedenfalls die weitaus meisten, die die Sprache fließend 6 | Thomas und Znaniecki (1927/1958) haben Briefe aus transnationalen Familien, die zur Zeit ihrer Forschung noch nicht als solche bezeichnet wurden, von polnischen Migranten in Chicago als Quellen für ihre Studie verwendet. 7 | Als »doing family« werden vergleichbare Prozesse auch bei anderen Familientypen bezeichnet, denn »in Zeiten der Entgrenzung« ist »Familie eine Herstellungsleistung«, wie der Siebte Familienbericht der Bundesregierung feststellt (BMFSFJ, 2006).

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beherrschen. Bei einer längeren Krankheit der Enkel können Großmütter mit einem Besuch in Berlin wertvolle Hilfe bei der Betreuung leisten, sofern die Reise mit den Visa-Bestimmungen für die Länder in Einklang zu bringen ist, die nicht in der EU sind. Bei der Mutter einer Migrantin aus Weißrussland habe ich die sorgfältige Einteilung und Planung ihrer Besuche und des Visums miterlebt, das höchstens für drei Monate im Jahr erteilt wird. Die Mutter hatte ihrer Tochter während der letzten gesundheitlich schwierigen Zeit der Schwangerschaft in Berlin beigestanden und war einige Monate nach der Geburt wieder gekommen, um als Großmutter die Versorgung des Babys zu übernehmen – für die restliche Zeit, die das Visum gültig war. Die Handlungsmöglichkeiten in transnationalen mittelosteuropäischen Familien sind in Nicht-EU-Ländern durch die Migrationsgesetze erheblich eingeschränkt, wie das Beispiel zeigt. Die Einschränkungen erfordern intensive Planungen, die nicht immer gelingen. Grundlagen der Kommunikation und des Handelns in transnationalen Familien sind Gefühle der Zusammengehörigkeit, familiäre Solidarität und gegenseitige Hilfsbereitschaft. Gelegentlich sind auch transnationale Aushandlungsprozesse nötig, wenn sich Auseinandersetzungen oder Konflikte zwischen Familienmitgliedern entwickeln, zwischen den Generationen oder Geschlechtern. Mein Eindruck war aber, dass Streitigkeiten bei Nutzung der digitalen Brücken vermieden werden, »es ist eine vorsichtige Kommunikation« wie eine Migrantin es ausdrückte. Die gemeinsam am Telefon oder bei Skype verbrachte Zeit wird der gegenseitigen Anteilnahme und der Sorge fürein­ander gewidmet. Einige Migrantinnen sagten, die Beziehung zu ihrer Mutter sei in der Distanz heute spannungsfrei und besser, als früher während des Zusammenlebens, aber die Vertrautheit bleibe trotz der geographischen Entfernung erhalten. Bei einem Vergleich der innereuropäischen transnationalen Familien dieser Studie mit den erforschten transnationalen Familien in anderen großen Migrationsregionen, insbesondere zwischen Mexiko und den USA, zeigen sich einige grundlegende Unterschiede, wie sie Pries in der Geschichte von Donna Rosa und ihrer transnationalen Familie anschaulich beschrieben hat (Pries, 2008: 51f; vgl. Kapitel 11.1). Unterschiede bei den transnationalen mittelosteuropäischen Familien sind: (1) Sesshaftigkeit der Familienmitglieder, (2) keine Mehrfach-Migrationen oder Re-Migrationen zwischen Berlin und Mittelosteuropa, (3) nur wenige transnationale Mütter8, 8 | Auf die transnationalen Mütter und ihre zurückgelassenen Kinder im Sample bin ich im Kontext der Arbeitmigrantinnen eingegangen, weil unter ihnen die meisten transnationalen Mütter waren (Kapitel 8.2).

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(4) keine grenzübergreifenden geschäftliche Unternehmen, (5) keine regelmäßigen Geldüberweisungen der Migrantinnen zur Unterstützung von Angehörigen im Herkunftsland, außer von transnationalen Müttern für den Unterhalt ihrer Kinder und betreuender Verwandten. Finanzielle Hilfen waren nur bei besonderen Anlässen üblich, bspw. für das Ticket zum nächsten Besuch der Mutter in Berlin oder ein Heizkostenzuschuss im Winter. Die Sesshaftigkeit des transnationalen Familienteils in Berlin zeigt sich auch in dem Forschungsergebnis, dass alle mittelosteuropäischen Migrantinnen ihren Lebensmittelpunkt mit Partner und Kindern dauerhaft in Berlin sahen, bis auf drei oder vier Ausnahmen (s.u.). Die Sesshaftigkeit war oft bereits in ihren Migrationsmotiven begründet, denn die Erfahrungen in der Zeit der Transformation motivierten die meisten Frauen zu einem auf Dauer angelegten Neuanfang. Form und Kontext ihrer Migration bedeutete für die beabsichtigte Dauerhaftigkeit der Zuwanderung keinen Unterschied. In Berlin kamen familiäre, berufliche und wirtschaftliche Gründe hinzu, die erlebte Rechtssicherheit und die Lebensqualität. Bei Arbeits- und bei Bildungsmigrantinnen waren es außerdem die beruflichen Perspektiven, die die meisten Frauen mit dem Erwerb zusätzlichen Bildungskapitals in Berlin erreicht haben. Für Heiratsmigrantinnen war die Migration mit der Familienbildung begründet und ihre Sesshaftwerdung vorgegeben, ebenso für Migrantinnen, die mit Ehemann und Kindern zugewandert sind. Die bessere Zukunft ihrer Kinder in Deutschland war bei allen Migrantinnen ein wichtiges und oft erwähntes Thema und ein wesentlicher Grund, ihre Migration als dauerhaft zu verstehen, worin sie von der transnationalen Familie im Herkunftsland bestärkt wurden. Eine Re-Migrationen war für die Migrantinnen im untersuchten Sample keine Option, jedenfalls nicht in überschaubarer Zukunft, »vielleicht im Alter mal, wenn ich das Haus erbe«. Ausnahmen sind zwei alleinstehende Arbeitsmigrantinnen aus Litauen und Polen, die ihren Aufenthalt in Berlin nur temporär geplant haben und mit Beginn ihres Rentenalters zurückkehren wollen. Eine polnische Migrantin mit einem kleinen Handelsunternehmen für polnische Produkte, gab an, zurückkehren zu wollen, wenn ihre Firma wirtschaftlich nicht erfolgreich ist. Eine alleinerziehende Bildungsmigrantin aus Weißrussland wünschte sich für ihr Kind einen intensiveren Kontakt zu seinen Großeltern und dachte deshalb gelegentlich an eine Rückkehr. In den mittelosteuropäischen Ländern stellte der transnationale Familienteil seine Sesshaftigkeit nicht in Frage (vgl. Sachverständigenrat, 2013: 50). Die Tochter ist »in ein besseres Leben« migriert, die Eltern oder die alleinstehende Mutter haben ihr Auskommen mit ihrer Erwerbstätigkeit oder einer Rente. Obgleich das nicht üppig ist, war für sie in ihrem Alter eine Arbeitsmigration nach Deutschland kein relevantes Thema, außerdem wäre sie aus Nicht-EU-

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Ländern aufgrund der rechtlichen Vorschriften nicht realisierbar. Es gibt aber zwei Ausnahmen: bei einer Migrantin aus der russischsprachigen Minderheit in Lettland ist der Bruder bereits nachgekommen. Geplant war auch die Migration der Eltern, die in Riga eine kleine Firma für landestypische Produkte haben, die sie in Berlin weiter betreiben wollen. Und bei einer Migrantin aus Moldawien erfolgte über eine längere Zeit die Zuwanderung transnationaler Familienteile aus Irland und Moldawien nach Berlin, mit der Ausschöpfung aller hierfür möglichen Rechtsgrundlagen (Kapitel 11.4). Mit der Sesshaftigkeit, den Restriktionen der Migrationsgesetze und den relativ kleinen mittelosteuropäischen Familien gleichermaßen hängt die aufkommende Sorge einiger Migrantinnen zusammen, über die zunehmende Hilfsbedürftigkeit alleinstehender älter werdender Mütter oder Väter im Herkunftsland. Sie wollen bzw. können nicht nach Deutschland umsiedeln und ein verwandtschaftliches Netz der Großfamilie für ihre (spätere) Versorgung gibt es in den Herkunftsländern nicht. Das Problem beginnt meist damit, dass die Mutter oder der Vater sich nicht mehr in der Lage sehen, zu Besuch nach Berlin zu kommen, weil die stundenlange Fahrt mit dem Bus oder der Flug mit einem oft langen Weg zum Flughafen zu beschwerlich geworden sind. Zunächst wird diese Situation mit zusätzlichen Besuchen der Familie aus Berlin ausgeglichen. Aber für Migranten und insbesondere für Migrantinnen, ist die Sorge für die älter werdenden, gebrechlichen oder kranken Eltern über Grenzen hinweg und ihre transnationale Pflege ein grundsätzliches und in der Regel schwer zu lösendes Problem (Ackers, 1998; Baldassar et al., 2007). Einige Migrantinnen waren sehr besorgt, wie langfristig eine Lösung aussehen könnte, wenn sich der Gesundheitszustand der alleinlebenden Mutter oder des Vaters verschlechtert. Überlegungen reichten von der Unterbringung in einem Alten- oder Pflegeheim im Herkunftsland, von denen es aber nur wenige gibt, bis zur Aufnahme des Elternteils in die Familie in Berlin. Letzteres wäre aus einem Land der EU bei günstigen Rahmenbedingungen (Einkommen, Wohnungsgröße der Familie) realisierbar, aber aussichtslos aus Ländern, die nicht zur EU gehören. Da die meisten interviewten Migrantinnen noch relativ jung sind, war eine Lösung dieser Frage aktuell noch nicht dringend. Nur eine Migrantin, die verwitwet war und mit zwei Jobs das Familieneinkommen verdiente, hatte ihre alte Mutter aus Rumänien bei sich aufgenommen, der auch ihre Rente von 200 Euro monatlich nach Berlin überwiesen wird. Das aktuelle Familienleben wurde von der Migrantin im Beisein ihrer beiden Töchter lachend kommentiert »jetzt werden wir alle drei erzogen«.

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11.3.4 Mobilität und Gefühle transnationaler Zugehörigkeiten Mobilität und gegenseitige Besuche werden in der transnationalen Familie von einigen strukturellen Rahmenbedingungen beeinflusst und eingeschränkt, in Berlin vor allem durch den Schulbesuch der Kinder und in Mittelosteuropa von den Visa-Bestimmungen für Nicht-EU-Länder, als deren Folge Besuche in Deutschland nur für maximal drei Monate im Jahr möglich sind. Hinzu kommt in Berlin für erwerbstätige Mütter und Väter die Möglichkeit am Arbeitsplatz Urlaub zu nehmen. Bei der Familie im Herkunftsland gehören zu den Voraussetzungen für einen Besuch in Berlin eine gesundheitlich gute Verfassung der Mutter und des Vaters, die eine anstrengende Reise zulässt, sowie akzeptable Beförderungsmöglichkeiten. Gibt es bspw. keinen Direktflug nach Berlin, kann eine Reise mit Umstieg in Moskau oder Stockholm zu beschwerlich sein, wie Migrantinnen es erzählten. Für Verwandtenbesuche in der transnationalen Familie gilt, je näher die Wohnorte geographisch liegen, desto öfter trifft man sich. Besuche bei der Familie in Zielona Góra oder Stettin im benachbarten Polen können jedes zweites Wochenende stattfinden, lebt die transnationale Familie etwas weiter entfernt, bspw. in Lodz in Zentralpolen oder in Prag in Tschechien, kann die Berliner Familie einmal im Monat dorthin fahren. Dagegen ist ein Besuch der Eltern aus Charkow in der Ostukraine nur einmal, höchstens zweimal im Jahr möglich, nachdem sie zuvor mit dem Nachtzug von Charkow nach Kiew fahren müssen, um persönlich bei der Deutschen Botschaft das Visum zu beantragen. Die Mutter, die jetzt in Kasachstan lebt, wird auch nur ein oder zwei Mal im Jahr besucht, die Migrantin und ihre Töchter behalten aber hierfür ihre russischen Pässe, um jederzeit kurzfristig reisen zu können, ohne als deutsche Staatsbürger ein Visum beantragen zu müssen. Transnationale Familien besuchen sich in der Regel mindestens zwei Mal im Jahr gegenseitig, im Sommer fährt die Familie aus Berlin nach Mittelosteuropa, im Winter kommt die Mutter nach Berlin, um Weihnachten bzw. Sylvester zu feiern, das in russischsprachigen Ländern das wichtigste Jahresfest ist. Die Sommerferien der Schule in Berlin ist die bevorzugte Zeit für den Besuch bei der Familie im Herkunftsland. Dann sind mehrere Urlaubswochen möglich, die die Migrantin mit ihren Kindern bleiben kann, während der (deutsche) Ehemann und Familienvater in vielen Familien nur für eine Woche mitoder nachkommt. In dieser Jahreszeit können die Kinder viel Zeit draußen in der Natur verbringen, denn die Wohnungen in den Städten sind oft klein und beengt. Einige Großeltern besitzen eine Datscha am Stadtrand oder ein kleines Strandhäuschen am Meer, wo sich die Kinder austoben können. Fast alle Migrantinnen erzählten von ihren widersprüchlichen Gefühlen, die sie bei diesen Besuchen haben. Für Menschen und Dinge in ihrer unmittelbaren emotionalen Nähe sind die Empfindungen durchweg sehr positiv: »Es ist

11. Transnationale Lebensformen

Freude, die Familie und Freunde wiederzusehen«, insbesondere »die Mutter«, »die Eltern«, »meine Oma, sie ist schon 86 Jahre alt« und »meine beste Freundin«. Migrantinnen aus Baltischen Ländern erzählten »alles ist so vertraut«, das Haus der Eltern, der Garten »ich komme nach Hause«, »es ist wie ein Zeitsprung, Nachbarn und Verwandte sind jetzt so viel älter«. Das Wiedersehen mit dem Meer und der Landschaft des Baltikums wecken schöne Erinnerungen, es sind die vertrauten Orte ihrer Kindheit, an denen die Frauen intensive emotionale Momente erlebt haben. Auch typische mittelosteuropäischen Gerichte sind in guter Erinnerung, die Suppen Soljanka und Borretsch »wenn es kalt ist«, auch Piroggen und Pelmeni, Teigtaschen der polnischen und russischen Küche und »das billigste Eis, das bekam ich immer als Kind«. Diese Gerichte sind mit Gefühlen in der Kindheit und mit »zu Hause« verbunden. Wenn aber vom Kochen in Berlin die Rede war, dann stand immer gesundes Essen, mit Gemüse und Salaten im Mittelpunkt, »italienische Gerichte«, »die Kinder lieben Nudeln« und weniger die Küche des Herkunftslandes: »die russische Küche ist viel zu fett«, »Borretsch macht zu viel Arbeit«, »die kann ich gar nicht kochen«. Bei den Aufenthalten im Herkunftsland kommen zunehmend auch Gefühle der Fremdheit und der Ungeduld auf, die bspw. Migrantinnen aus dem Baltikum deutlich formuliert haben: »nach drei bis vier Tagen will ich zurück« und »kurz vor dem letzten Besuch habe ich das Ticket von geplanten zwei Wochen auf eine Woche verkürzt«. Überwiegend negativ beurteilt werden die Veränderungen der Menschen und der Gesellschaft als Folge der Transformation: »die Gesellschaft ist kalt«, »die Menschen sind unfähig Empathie zu empfinden« »es herrscht nur Leistungs- und Statusdenken«, »eine Rückkehr würde als Versagen beurteilt« und »dort kann ich nicht mehr leben«. Das Gefühl der nationalen Zugehörigkeit scheint offenkundig von dieser Kritik an den aktuellen Entwicklungen unberührt zu bleiben, denn dieselben Migrantinnen sagten später im Interview im Kontext ihrer Staatsbürgerschaft: »ich fühle mich als Estin, besonders wenn jemand etwas Positives oder Negatives über das Land sagt« und »ich bin Lettin, werde immer Lettin bleiben«. Migrantinnen aus Polen beschrieben ihre Besuche eher rational, sie äußerten keine großen Emotionen, was sicherlich auch an ihren häufigeren Reisen nach Polen liegt: »ich habe heimatliche Gefühle, wegen der Lebensart und der Sprache«, »es ist eine Freude, alle wiederzusehen«, »es ist Entspannung, Urlaub, der Alltag ist in Berlin«, »ich fahre gern, bin aber auch froh, wenn ich wieder zurück bin« und eine Heiratsmigrantin sagte »ich habe keine Gefühle, das Leben ist jetzt in Berlin«. Andere Migrantinnen beschrieben unterschiedliche Empfindungen »ich tanke meine Wurzeln, fühle Geborgenheit«, aber auch »ich fühle mich zunehmend fremd, leider entgleitet mir das Polnische, die Kultur, die Literatur«, »ich fühle mich nicht als Polin, eher wie eine Brücke«. oder »dort bin ich Deutsche, hier Polin«. Zur Entwicklung Polens als EU-Land

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gab es auch Kommentare: »das Land verändert sich stark in Richtung EU«, »die Generation jetzt hat es viel besser, als wir damals« und »es ist gut was im Land passiert, ich empfinde aber Trauer, wegen die Solidarität von früher, die jetzt fehlt«. Migrantinnen aus Russland thematisierten ihre widersprüchlichen Gefühle ausführlich. Eine Frau aus einer Minderheit im Nordosten Russlands beschrieb sie so »vor Abfahrt und Ankunft fühle ich Euphorie, als ob mir Flügel wachsen« und »wichtig sind meine Mutter und die Beziehungen zu meinen Freundinnen«, »der schlechte Zustand der Straßen und der Öffentliche Verkehr sind da keine Kriterien; aber die Bürokratie macht mich sauer, sie ist langsam und schwerfällig«. Und zwei Migrantinnen aus Krasnojarsk in Sibirien äußerten sich ähnlich: »ich bin froh mit den Eltern und der Familie zu sein, die Familie ist für mich immer noch dort, nicht hier, beim Rückflug fließen viele Tränen, aber ich bin dann auch froh zurück in Berlin zu sein, die Leute sind hier freundlicher«. Und die andere erzählte »wir machen immer eine Rundreise zu den Verwandten, es ist oft ein komisches Gefühl, ich kenne die Mentalität, aber vieles Vertraute wird anders, ist jetzt fremder«, »das Leben in Berlin beeinflusst mich, Russland ist hart, Deutschland hat mehr Orientierung am Menschen, an Gesundheit, an Zukunft«. Und vom anderen Ende des Landes, aus Sotschi am Schwarzen Meer beschrieb eine Migrantin ähnliche Eindrücke »Sotschi wird mir jedes Mal fremder und fremder, ich habe mich von der Mentalität entfremdet«, die Leute sind nur am Geld orientiert, wenig an Leistung« und lachend fügte sie hinzu »es fehlt Ordnung und Pünktlichkeit«. Migrantinnen aus den beiden größten Städten Russlands – Moskau und St. Petersburg – waren sich in ihrer Sicht ziemlich einig: »Moskau ist eine harte Stadt« und »St. Petersburg ist eine schöne, die schönste Stadt«. »Ich fahre immer mit Freude«, »es ist eine wunderbare Stadt, ich fühle mich dort wohl, das Leben ist heiter, auch lauter«, »Petersburg ist immer noch mein Zuhause, nach dem ich in Berlin Sehnsucht habe, aber es hat sich viel geändert, langsam wird es mir etwas fremd«. Und von ihren Besuchen in Moskau berichten Migrantinnen: »ich habe dort gute Freunde, auch meine beste Freundin, ich lebe im vertrauten Haus meiner Eltern, aber Moskau erkenne ich kaum noch wieder«. Eine andere sagte: »ich fühle mich mit Moskau verbunden, aber leben möchte ich dort nicht mehr, die Stadt ist zu hart und auch wegen der schlechten Luft. Das wäre nicht gut für das Kind, jetzt ist mir Gesundheit sehr wichtig«. Eine Migrantin aus Nowosibirsk erzählte im Interview: »letzte Woche war ich beruflich in Moskau, ich freue mich, Russisch zu sprechen und russische Bücher und DVDs zukaufen, auch für die Kinder, aber es ist eine harte Stadt, es gibt viele Staus, meine Familie ist hier in Berlin, meine Heimat zwar nicht, aber mein Lebensmittelpunkt, mein Zuhause«.

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Zu den transnational erlebten Gefühlen noch einige Stimmen aus der Ukraine, zunächst aus Kiew: »es ist schön alle wiederzusehen, auch meine Freundinnen und wegen der Sprachen, Ukrainisch und Russisch sind beide meine Muttersprachen; ich möchte dort meine Wurzeln besser verstehen, meine Gefühle sind eher suchend, zu Hause fühle ich mich nicht mehr«. Auch andere Migrantinnen beschreiben unter schiedliche Empfindungen: »einerseits freue ich mich, die Eltern zu sehen, aber die Ukraine ist nicht mehr das Land, das es früher war, die Transformation ist so dynamisch, Kiew sind die Kindheitserinnerungen, aber heute ist das Leben sehr verändert«. »In Kiew habe ich unterschiedliche Gefühle, schade, was im Land jetzt passiert (das Interview war 2011), schade dass die Leute so unfreundlich sind, so aggressiv, aber es ist eine große Freude die Eltern zu sehen, und auch meine Schulfreundinnen.« Die beiden Migrantinnen aus Charkow, im Osten der Ukraine, sind seit ihrer Migration nicht mehr dort gewesen, eine begründete das mit ihrem Kind, das häufig krank ist, außerdem kommen ihre Eltern einmal im Jahr nach Berlin. Die andere sagte »ich war schon zehn Jahre nicht mehr dort, aber in den Herbstferien will ich hinfahren, mit meiner Tochter, damit sie Oma kennenlernt, nicht nur am Telefon« und fügte hinzu »Heimat ist da, wo Familie, Job und Freunde sind, und das ist alles in Berlin«. Von der Krim berichtet eine Migrantin über ihre ambivalenten Empfindungen »ich habe gespaltenen Gefühle, einerseits bin ich der Heimat verbunden, andererseits hat sich viel verändert, es ist sehr touristisch und kommerziell geworden, auch die Menschen haben sich verändert, sind heute rücksichtslos, oft prollig, es stört mich aber nicht, weil ich mein Leben hier in Berlin habe«. Und zwei Stimmen aus der Westukraine, aus Luzk und aus Lviv/Lemberg: »ich empfinde dort Freude, es ist meine Heimat, es hat sich einiges geändert, die junge Generation ist freundlich, auch der Lebensstil hat sich verändert, die Leute trinken immer noch, aber jetzt erst nach der Arbeit, auch die wirtschaftliche Situation hat sich verbessert seit den 1990er Jahren« und »die Familie und das Netzwerk der Verwandten sind gut, aber ich fühle mich in der Ukraine nicht zu Hause, in Deutschland auch nicht«. Die bei Besuchen im Herkunftsland erlebten Gefühle verdeutlichen enge emotionale Bindungen und intensive Erinnerungen an Erlebnisse in der Familie, mit Freunden, im Haus und Garten der Eltern. Baltische Migrantinnen haben diese Erinnerungen auch an das Meer und die Landschaft und Frauen aus St. Petersburg an die einzigartige Schönheit der Stadt. Es sind Menschen und Orte, die sich in der Kindheit mit sinnlichen Konnotationen verbunden im Gedächtnis eingeprägt haben. Zu ihnen empfinden Migrantinnen eine Verbundenheit, die mit Erfahrungen in ihrem früheren Lebensumfeld verknüpft sind und mit der eigenen Biographie verschmolzen wurden. Zur Kindheit und zur Biographie gehört auch die Muttersprache, in ihr wurden Gefühle verbal gefasst und im Gedächtnis gespeichert.

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Anders als bei den emotionalen Bindungen verläuft die Wahrnehmung in Bereichen, die weiter entfernt zur eigenen Biographie sind – gegenwärtige Lebensabläufe in der Herkunftsgesellschaft nach den Jahren der Transformation. Ihre Beobachtungen und Gefühle spiegeln sich bei den Migrantinnen in dem Empfinden wider, das vereinfacht so beschrieben werden kann: »früher war vieles besser, jetzt wird es mir immer fremder«. Bei jedem Besuch in ihrem früheren Lebensumfeld vollziehen die Frauen einen weiteren kleinen Schritt in einem langsamen Abschiedsprozess. Jetzt ist ihr Leben, sind ihre intensiven Emotionen für ihre Kinder, für den Partner und meist auch für ihre berufliche Tätigkeit, mit anderen Orten verbunden, zu denen sie neu entstandene Zugehörigkeiten empfinden. Ein Zugehörigkeitsgefühl zu Berlin hat sich bei fast allen Frauen entwickelt und – emotional distanzierter – auch zu Deutschland. Im Migrationsland nehmen sie die Freundlichkeit der Menschen im sozialen Umgang positiv wahr und die überwiegende Verlässlichkeit der gesellschaftlichen Abläufe, auch die »Ordnung und Pünktlichkeit«. Berlin ist für die Migrantinnen ihr Lebensmittelpunkt, in dieser Stadt leben sie gern, in der urbanen Vielfalt können sie transnationale soziale und kulturelle Räume in ihrer Community schaffen und nutzen und ihre Alltagspraktiken und ihr soziales Umfeld mit heimatlichen Elementen anreichern. Gefühle der Zugehörigkeit zu Berlin äußerte fast jede Migrantin: »Berlin ermöglicht ein tolles Leben, mit vielen Möglichkeiten«, »wenn ich von einer Reise in die Stadt zurückkehre, fühle mich als Berlinerin«, »ich fühle mich wie eine Berlinerin aus Russland«. Berlin ermöglicht eine positive Verortung, die Stadt ist, wie andere Metropolen, ein »Ort der Vielfalt« (Bukow et al., 2011a), in der Migranten eine gleichberechtigte gesellschaftliche Teilhabe erreichen können, wie es das Berliner Integrationskonzept »Vielfalt fördern – Zusammenhalt stärken« zum Ziel hat (Beauftragter des Berliner Senats für Integration und Migration, 2007a: 6; Kapitel 2.1). Berlin bietet Migranten die Möglichkeit einer großstädtischen Identifikation als Teil ihrer multiplen Zugehörigkeiten (Schiffauer, 2008: 91f; Pfaff-Czarnecka, 2012; Röttger-Rössler, 2016). In ihrer biographischen Navigation können Migrantinnen Berliner Bestandteile ihrer Identitätskonstrukte und Zugehörigkeitsgefühle gut mit anderen Zugehörigkeitsgefühlen, insbesondere mit denen zu ihrem Herkunftsland zu plurilokalen Verortungen und Interaktionsverflechtungen verknüpfen (Pries, 2002: 264; 2008: 99). Schwieriger ist der Umgang mit ihrer nationalen Zugehörigkeit, die die Migrantinnen in unterschiedliche Facetten diskutiert und entschieden haben. Ihre Überlegungen zur nationalen Zugehörigkeit und zur Staatsangehörigkeit9 9 | Voraussetzungen für eine Anspruchseinbürgerung in Deutschland (§ 10 Abs.1 StAG) sind acht Jahre rechtmäßiger und gewöhnlicher Aufenthalt, eigenständige Sicherung des Lebensunterhalts, bestandener Einbürgerungstest, ausreichende Deutschkennt-

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lassen sich vier unterschiedlichen Handlungsweisen zuordnen. Viele Migrantinnen empfinden eine tiefe emotionale Verbundenheit zum Herkunftsland, wie die zitierte Estin und Lettin. Frauen aus Russland sagten im Interview: »ich bin Russin, bis in die Fingerspitzen« und »zur Aufgabe der russischen Staatsbürgerschaft bin ich nicht bereit, obwohl die gesparten Visa-Gebühren dafür sprechen«. Das sind Aussagen von Migrantinnen, die mit ihrem Leben in Berlin durchaus zufrieden sind. Andere Migrantinnen behalten ihre ursprüngliche Staatsbürgerschaft auf Grund einer Mischung aus emotionalen und praktischen Überlegungen bei, insbesondere aus Ländern, die nicht in der EU sind. Sie möchten jederzeit visafrei ins Herkunftsland reisen, »um meine Mutter immer besuchen zu können«. Vor allem russische Migrantinnen wollen ihren Pass behalten, weil sie bei einer Einbürgerung in Deutschland ihre russische Staatsbürgerschaft aufzugeben müssten. »Das zeitlich unbefristete Niederlassungsrecht reicht mir, ich kann doch alles machen, außer wählen« und »ich würde nur einen deutschen Pass beantragen, wenn ich die russische Staatsangehörigkeit behalten könnte«. Ebenso sehen viele Migrantinnen aus EU-Ländern eine Einbürgerung in Deutschland als unnötig an, aufgrund der Freizügigkeit, die sie als Unionsbürger haben: »ich brauche keinen deutschen Ausweis«, »ein deutscher Pass ist nicht nötig«, »höchstens als Doppelpass«. Eine rationale Entscheidung für die deutsche Staatsbürgerschaft war relativ häufig, sie wurde meist mit einheitlichen Pässen in der Familie begründet, die bei Reisen sinnvoll oder notwendig sind, um die aufwendige und kostenpflichtige Beschaffung von Visa zu vermeiden. Aber auch aus beruflichen Gründen haben sich Migrantinnen für den deutschen Pass entschieden: »mein Mann arbeitet im Auswärtigen Amt, für unsere Auslandaufenthalte ist das besser«, »die Bürokratie ist jetzt einfacher«, »ich bin mobiler mit deutschem Pass, bleibe aber trotzdem Russin«, »beruflich ist es ein Vorteil, aber ich fühle mich weiter als Russin«. Ihren Pass konnten die Migrantinnen austauschen, emotional waren sie weiterhin in ihrem Herkunftsland verankert, ein Gefühl der Zugehörigkeit zu Deutschland stellte sich nur sehr zögerlich und verhalten ein. Aus emotionalen Gründen haben zwei Frauen für die deutsche Staatsbürgerschaft entschieden. Eine Migrantin aus Moldawien, die mit ihren Eltern als Kontingentflüchtling zugewandert ist, begründete diesen Schritt mit ihren in Deutschland geborenen Kindern: »ich bin jetzt Deutsche, wie meine Töchter«; ihr Ehemann hatte noch seine ursprüngliche Staatsangehörigkeit. Und eine Heiratsmigrantin aus der Ostukraine erläuterte ihre Entscheidung ausführlich: »mein Antrag läuft, ich will den deutschen Pass, ich fühle mich sehr wohl nisse, Straffreiheit, Aufgabe der alten Staatsbürgerschaft. Hinzu kommen Gebühren für die Einbürgerung von 255 Euro in Deutschland, sowie für die Entlassung aus der alten Staatsbürgerschaft, z.B. 250 Euro in der Ukraine oder 600 Euro in Moldawien.

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hier, habe mich gefunden, ich fühle mich verbunden, möchte dazu gehören, es ist auch ein Stück ›danke‹ für das, was ich hier bekommen habe; Nebeneffekt ist Reisevereinfachung und Bürokratieabbau, auch bei Bewerbungen«.

11.4 E xkurs : W iedervereinigung einer tr ansnationalen F amilie in B erlin Eine absolute Ausnahme unter den hundert interviewten Migrantinnen aus dreizehn Ländern Mittelosteuropas ist die Wiedervereinigung der transnationalen Familie einer moldawischen Migrantin in Berlin. Die Familienmitglieder haben sie in einem zwanzigjährigen Prozess mit optimaler Nutzung legaler Mittel vollzogen, um jetzt ganz altmodisch wieder in unmittelbarer geographischer Nähe in der Stadt zusammenzuleben. Die Migrationsprozesse der Familie wurden durch wirtschaftliche Probleme ausgelöst, zunächst nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 als Moldawien das ärmste Land Europas wurde und dann 2008 nach der Finanzkrise in Irland. In Moldawien kam in den letzten Jahren die zunehmende politische Instabilität hinzu, denn die Politik des Landes schwankt zwischen der Annäherung an die EU und einer engeren Bindung an Russland. Vor diesem Hintergrund entwickelte sich der transnationale Migrationsprozess der Familie in fünf Folgen zwischen Moldawien, Irland und Berlin. Die Familie hat in der Sowjetrepublik Moldawien gelebt, wo die Eltern in leitenden Positionen in einem staatlichen Agrarbetrieb arbeiteten, der seine Produkte in andere sozialistische Sowjetrepubliken exportierte, dem damaligen wirtschaftspolitischen Leitspruches folgend »Moldawien ist der Garten der Sowjetunion«. Die drei Kinder haben nach ihrem Schulabschluss eine Ausbildung gemacht, die sie teilweise – wie damals üblich – in anderen Sowjetrepubliken absolvierten. Als Moldawien 1991 seine Unabhängigkeit erklärte, musste der Agrarbetrieb, in dem die Eltern arbeiteten, bald schließen, weil der Export in die ehemalige Sowjetunion zusammenbrach. Die Eltern hatten keine Arbeit und kein Einkommen mehr, und die erwachsenen Kinder konnten keine Arbeit finden. Die Familie lebte kärglich von den Erträgen ihrer Parzellen. Die Migration war für die junge Generation die einzige Lösung. Als erster ging der Sohn als Bildungsmigrant nach Irland, wo er im Anschluss einen Job in der Informationstechnologie fand und daraufhin mit seiner frisch angetrauten Ehefrau nach Irland migrierte. Das Ehepaar begründete die transnationale Familie und vergrößerte diese bald mit zwei Kindern. In der zweiten Folge des familiären Migrationsprozesses lernte eine der beiden Töchter am Busbahnhof in Chisenau einen türkischen Migranten aus Berlin kennen, der mit Bussen seines kleinen Transportunternehmens die Balkanroute befuhr. Nach einiger Zeit heiratete das Paar und die junge Frau kam als Heiratsmigrantin

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nach Berlin. In den folgenden Jahren wurde sie Mutter von zwei Kindern. Als ihr Mann unerwartet früh starb, arbeitete sie in verschiedenen Jobs, machte später eine kaufmännische Weiterbildung und fand aufgrund ihrer fließenden russischen Sprachkenntnisse einen Job in einem kleinen russisch-deutschen Unternehmen in Berlin. Unterdessen war in der dritten Folge des familiären Migrationsprozesses die jüngere Schwester in Berlin zugewandert. Sie hatte zunächst ihre Schwester in Berlin besucht. Ihre Ehe in Moldawien kriselte und nach der Scheidung kam sie als Bildungsmigrantin erneut nach Berlin, um an einen Sprachkurs teilzunehmen. Für diese Zeit ließ sie ihr kleines Kind bei ihrer Mutter in Chisenau. In Berlin lernte sie einen türkischen Migranten kennen und lieben. Sie blieb in Berlin, absolvierte eine Weiterbildung für Buchhaltung, dem Beruf, den sie in Moldawien erlernt hatte. Seitdem arbeitet sie mit Gewerbeschein auf Projekt- oder Stundenbasis für kleine Handwerksbetriebe und Firmen. Nach ihrer Heirat in Berlin und nachdem ihr Einkommen die gesetzlichen Voraussetzungen erfüllte, konnte sie ihren kleinen Sohn aus erster Ehe nachholen. Die Mutter der Migrantinnen war inzwischen Witwe geworden und lebte allein im Haus der Familie in Chisenau. Ihre kleine Rente reichte im Winter nicht aus, um die Heizkosten für das Haus zu finanzieren, deshalb verbrachte sie jeden Winter drei Monate in Berlin, solange es das Visum ermöglichte. Sie lebte wochenweise abwechselnd bei ihren Töchtern und deren Familie. Bei diesen Besuchen beklagte sie sich häufig, dass ihre drei Enkel in Berlin nicht gut genug Moldawisch sprechen. Soweit die ganz normale Migrationsgeschichte einer transnationalen Familie. Sie geht aber spannend weiter. In Irland hatte sich das moldawische Migrantenpaar mittlerweile einbürgern lassen und als irische Staatsbürger haben sie nun Freizügigkeit in den Ländern der Europäischen Union. Mit der weltweiten Finanzkrise 2008 hatte sich in Irland die wirtschaftliche Situation verschlechtert und der Ehemann war arbeitslos geworden. Seine Frau hatte nur einen Teilzeitjob und das Budget der vierköpfigen Familie war knapp bemessen. Bei einem Besuch der Familie in Berlin reifte der Entschluss hier einen Neuanfang zu versuchen. Als EU-Bürger fand der Ehemann Arbeit in der Stadt und 2012 migrierte die Familie nach Berlin, als vierte Folge der Migrationsgeschichte der transnationalen Familie. Die Kinder besuchen hier die englischsprachige Staatliche Europaschule und so wird ihr Schulwechsel erleichtert. Für die Mutter in Chisenau eröffnete sich im gleichen Jahr unerwartet eine neue Perspektive, denn die Regierung Rumäniens hatte eine Verordnung erlassen, der zufolge Staatsbürger Moldawiens einen rumänischen Pass erhalten können, wenn sie ihre (historische) Zugehörigkeit zur rumänischen Volksgruppe nachweisen. Die Mutter erbrachte den Nachweis und stellte den Antrag für einen rumänischen Pass. Mit dem neuen Pass ist sie nun EU-Bürgerin mit Freizügigkeit und kann zu ihren drei Kindern und fünf Enkelkindern nach

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Berlin migrieren. Mit dieser fünften Folge ist der transnationale familiäre Migrationsprozess abgeschlossen. Für ihre Wiedervereinigung in Berlin hat die Familie fantasievoll und ganz legal die sich bietenden rechtlichen Möglichkeiten in drei EU-Ländern ausgeschöpft.

11.5 R esümee : Tr ansnationale B eziehungen mittelosteuropäischer M igr antinnen – familiengebunden und gendert ypisch Die innereuropäischen transnationalen sozialen Beziehungen der mittelosteuropä­ischen Migrantinnen in Berlin sind vorwiegend familiäre Beziehungen zu den engsten Verwandten ihrer Kernfamilie im Herkunftsland – Eltern und Geschwistern – in deren Zentrum das intensive Verhältnis zur Mutter steht. Die gendertypische Mutter-Tochter Beziehung dominiert die transnationalen sozialen Aktivitäten der Migrantinnen, sie ist von emotionaler Nähe geprägt und die Kommunikation zwischen beiden vollzieht sich in einem kontinuierlichen Austausch über alle Belange des Lebens, der regelmäßig über die digitale Brücke zwischen Berlin und dem Herkunftsland stattfindet, mindestens einmal wöchentlich, in einigen Familien täglich. Für die Mutter der Migrantin, die oft allein lebt, steht die transnationale Beziehung zu ihrer Tochter im Mittelpunkt ihrer sozialen Aktivitäten. Gendertypisch ist auch das Bemühen beider Frauen, der Tochter und ihrer Mutter, die nachhaltige emotionale Bindung trotz großer geographischer Distanz zu erhalten und das transnationale Netz aufzubauen, es mit regelmäßigen Kontakten und mindestens zwei gegenseitigen Besuchen im Jahr mit Leben zu füllen (vgl. Williams, 2010: 67f). In diese transnationalen Aktivitäten sind auch die Kinder der Migrantinnen bzw. die Enkelkinder der Großmütter eingebunden, sie werden an den muttersprachlichen Telefonaten und den Treffen auf Skype beteiligt. Das bedeutet, transnationale Familien in Berlin und Mittelosteuropa umfassen drei Generationen. Die Teilnahme der Kinder am transnationalen Familienleben ist auch von Bedeutung, weil es von ihnen und ihrer Generation abhängen wird, ob die sozialen, sprachlichen und kulturellen transnationalen Verbindungen zwischen Berlin und den mittelosteuropäischen Ländern über das derzeitige Familienleben hinaus zukünftig aufrechterhalten werden oder abbrechen. Die Zuwanderung der Migrantinnen nach Berlin ist im Verständnis der Familie im Herkunftsland der Lebensentwurf der Tochter, der vollzogen wurde auf der Suche nach Arbeit, zum Erwerb zusätzlichen Bildungskapitals und wegen günstiger beruflicher Perspektiven bei Akademikerinnen und bei Heiratsmigrantinnen aus Liebe zum (zukünftigen) Ehepartner und zur (binationalen) Familienbildung. Die transnationalen sozialen Beziehungen der Migrantinnen entsprechen dem üblichen verwandtschaftlichen Austausch zwischen

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Migranten und ihrer Familie im Herkunftsland, wie es sie immer gab. Der Unterschied besteht heute vor allem darin, dass die familiären Kontakte nicht in Briefen, sondern über die digitale Brücke aufrecht erhalten werden, deshalb beschleunigt und verdichtet sind, wesentlich häufiger stattfinden und intensiver gestaltet werden können (vgl. Vertovec, 2009: 13f). Es ist ein gemäßigter Transnationalismus, der sich als Folge der Zuwanderung der Migrantinnen zwischen Berlin und den mittelosteuropäischen Ländern entwickelt hat. Das wird auch am Beispiel der Mobilität der Mitglieder der transnationalen Familien deutlich, die sich auf gegenseitige Besuche beschränkt. Kein Familienmitglied ist der Migrantin nach Berlin gefolgt, um hier zu arbeiten, ein Geschäft oder Restaurant zu eröffnen, bis auf zwei Familien aus Lettland und Moldawien. Dieser familiengebundene Transnationalismus zwischen Berlin und Mittelosteuropa entspricht dem weiter gefassten transnationalen Konzept von Pries, das grenzüberschreitende Zugehörigkeitsgefühle, kulturelle Gemeinsamkeiten, Kommunikationsverflechtungen und alltägliche Lebenspraktiken beinhaltet, aber keine Arbeitszusammenhänge und keine dichten, dauerhaften Interaktionsnetze aus sozialen Praktiken, Symbolsystemen und Artefakten, wie das engere transnationale Konzept (Pries, 2002: 264; 2008: 99). Vergleiche der in Berlin gemäßigt praktizierten transnationalen Lebensformen mittelosteuropäischen Migrantinnen und den vier in der Literatur dokumentierten transnationalen Lebensformen mittelosteuropäischer Migranten in Deutschland sind am ehesten möglich mit Lebensweisen der in Leipzig ansässigen polnischen Zuwanderer (Glorius, 2007; Kapitel 11.2). Die gemäßigten transnationalen Beziehungen sind die Folge typischer innereuropäischer Migrationen, bei denen die Familie der Migranten weiter sesshaft im Herkunftsland verbleibt (Sachverständigenrat, 2013: 50). Zumindest im transnationalen Raum der Europäischen Union wären aufgrund der Freizügigkeit intensivere transnationale Beziehungen sowie wirtschaftliche und kulturelle Interaktionen der Migrantinnen und ihrer Familien möglich, die im Sample aber nicht entstanden sind. Der gemäßigte Transnationalismus ist eher verständlich bei Migrantinnen mit Familien aus den Ländern, die nicht zur Europäischen Union gehören denn ihre Mobilität ist durch Migrationsgesetze erheblich eingeschränkt. Ein grundlegender Unterschied der transnationalen Aktivitäten zwischen Migrantinnen der beiden rechtlich unterschiedlichen Herkunftsgebiete im Sample ist aber nicht erkennbar. Alle mittelosteuro­päischen Migrantinnen in Berlin leben gemäßigte, familiengebundene und gendertypische transnationale Beziehungen.

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12. Mütterliche Strategien zur Zukunft ihrer Kinder

»Providing the child with the best education possible is a major preoccupation« lautet die Feststellung von Robila (2004b: 8) in einer der wenigen Arbeiten, die sich mit der Familie in mittelosteuropäischen Ländern und mit den Kindern und ihrer Erziehung beschäftigen. Genau diesen Eindruck hatte ich bei meinen Interviews. Robilas Feststellung beschreibt das Leitmotiv der mittelosteuropäischen Migrantinnen und ihrer Familien in Berlin, das den mütterlichen Strategien für die Zukunft ihrer Kinder zugrunde liegt. Eine gute Bildung für ihre Kinder, Mädchen wie Jungen, wird in Mittelosteuropa hoch bewertet, sie sichert soziales Ansehen und Prestige und einen gleichberechtigten Zugang zum Arbeitsmarkt und zu Erwerbstätigkeiten, auch für Frauen, das brachten Migrantinnen in den biographischen Interviews immer wieder zum Ausdruck. Für ihre eigene Bildung haben fast alle Migrantinnen im Herkunftsland große Anstrengungen unternommen und die meisten wurden von den Eltern dabei nach Kräften unterstützt, wofür diese in den Zeiten der Transformation wirtschaftliche Entbehrungen auf sich genommen haben, um ihren Töchtern eine möglichst gute Bildung für ihren Lebensweg zu ermöglichen. Das mittelosteuropäische Leitmotiv für Bildung, das die eigene Bildung und deren grenzüberschreitende Erweiterung nach der Migration geprägt hat, geben die Migrantinnen nun an ihre Kinder weiter. Im Kontext ihrer Migration und ihrer jetzigen transnationalen Lebensweise in Berlin gehören zu den Bildungszielen der Mütter für ihre Kinder auch stabile sprachliche und kulturelle Beziehungen zu ihren mittelosteuropäischen Herkunftsländern. Während der ersten Lebensjahre des Kindes, steht seine Zweisprachigkeit im Mittelpunkt der mütterlichen Erziehung, die Weitergabe ihrer mittelosteuropäischen Muttersprache und die Bilingualität in Deutsch. Mit der Einschulung ist eine gute und gymnasiale Schulbildung des Kindes das Ziel der mütterlichen Strategie, dem sich nach Möglichkeit ein Studium anschließen soll. Um diese Bildungsziele für ihre Kinder zu erreichen, hat ein Teil der Mütter Angebote zur Unterstützung und Förderung des frühkindlichen, schulischen und

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Mittelosteuropäische Migrantinnen in Berlin

außerschulischen bilingualen Spracherwerbs in Berlin für ihr Kind oder ihre Kinder genutzt. Bilingualität ist die fließende und kompetente Beherrschung von zwei Sprachen, der Erst- und Muttersprache und einer weiteren, gleichzeitig oder später erlernten Zweitsprache. Der frühe bilinguale Spracherwerb kann bei Kindern simultan oder additiv verlaufen. Bilingualität wird bei Migranten als besonders wünschenswert für ihre Kindern angesehen, denn die gleichzeitige Kompetenz in zwei Sprachen stellt ein beträchtliches kulturelles Kapital dar, das die volle soziale Teilhabe sowohl in der Migrations- als auch in der Herkunftsgesellschaft ermöglicht (Esser, 2008: 202; Leyendecker/De Houwer, 2011). Die Kinder der mittelosteuropäischen Migrantinnen haben sehr gute Voraussetzungen in zwei Sprachen aufzuwachsen, früh in ihrem Leben eine sichere Bilingualität zu erwerben und damit einen guten Start für ihren Bildungsweg zu erhalten, ganz im Sinne des mittelosteuropäischen Leitmotivs für die Erziehung von Kindern und der Erfahrungen ihrer Mütter mit dem eigenen (grenzübergreifenden) Bildungserwerb.

12.1 D ie K inder der M igr antinnen und ihre F amilien In Berlin leben hunderteinundfünfzig Kinder der Migrantinnen im Alter zwischen 6 Monaten und 21 Jahren. Hundertdreiundzwanzig sind in Berlin geborenen und sie erlebten ihren bilingualen Spracherwerb simultan, während achtundzwanzig zugewanderten oder nachgeholte Kinder Deutsch als Zweitsprache additiv erst nach ihrer Migration in unterschiedlichem Alter erlernten. Über die Herkunft ihrer Mütter haben acht­undachtzig Kinder ihren sprachlichen Migrationshintergrund in einem mittelosteuropäischen EU-Land und dreiundsechzig Kinder haben ihn in einem der vier Länder, die nicht zur EU gehören. Das bedeutet, Russisch ist für die meisten Kinder die Muttersprache, deren Mutter aus Russland oder Weißrussland stammt, ebenso bei einigen Migrantinnen aus Moldawien und der Ukraine, deren Muttersprache Russisch ist. Für den bilingualen Spracherwerb der zweiten Sprache Deutsch ist die Zusammensetzung der Familie in Berlin relevant, vor allem die Herkunft und Sprache des Vaters. Ist der Vater Deutscher, ist die Familiensprache Deutsch, ist er aus einem dritten Land zugewandert, entscheidet sich die Familie in aller Regel auch für Deutsch als Familiensprache, die gleichzeitig die Umgebungssprache ist. Kommt der Vater aus demselben mittelosteuropäischen Land wie die Mutter, wird die gemeinsame Sprache der Eltern als Familiensprache gesprochen, die Familie ist monolingual und das Kind lernt die Zweitsprache Deutsch außerhalb der Familie in einem (bilingualen) Kindergarten, auf dem Spielplatz und später in der Grundschule.

12. Mütterliche Strategien zur Zukunf t ihrer Kinder

Knapp drei Viertel (71) der mittelosteuropäischen Migrantinnen lebt in Berlin in einer bilingualen Familie, die meisten mit einem deutschen Ehemann und Vater, bei ihnen ist Deutsch die Familiensprache. Ein Viertel (25) der Migrantinnen lebt in einer monolingualen Familie, unter ihnen die neun Frauen, die mit ihrem Ehemann gemeinsam zugewandert sind. Monolinguale Familien sind im Sample vor allem polnisch-, russisch- und rumänischsprachig. Vier Migrantinnen waren zur Zeit des Interviews alleinerziehend, ihre Kinder wuchsen ebenfalls monolingual auf.

12.2 S ozialisationsziel : B ilingualität in der M utterspr ache und in D eutsch Das erste und wichtigste Sozialisationsziel aller Migrantinnen war die Bilingualität ihrer Kinder in ihrer Muttersprache und in Deutsch, der Sprache des Migrationslandes und in den meisten Familien auch die des Kindesvaters. Der frühe bilinguale Spracherwerb der Kinder verläuft entweder simultan in ihrer bilingualen Familie oder er beginnt erst nach dem Erwerb der mittelosteuropäischen Erst- und Muttersprache in einer monolingualen Migrantenfamilie oder im Herkunftsland, dem dann in Berlin additiv der Zweitspracherwerb Deutsch in einer (bilingualen) Vorschuleinrichtung oder erst in der Grundschule folgt. Die Unterschiede des simultanen und des nacheinander erfolgenden Spracherwerb bei Kindern sind beträchtlich, was auch in ihren Bezeichnungen deutlich wird, als »mehrsprachiger Erstsprachenerwerb« in den ersten Lebensjahren und als »Zweitsprachenerwerb« nach dem dritten oder sechsten Lebensjahr (Montanari, 2003: 188, Anm. 4). Die Migrantinnen in dieser Studie sprechen dreizehn mittelosteuropäische Muttersprachen, die sich linguistisch und in ihrem kulturhistorischen Kontexts teilweise erheblich unterscheiden, ebenso mit ihrer Sprecherzahl. Die meisten der dreizehn mittelosteuropäischen Sprachen gehören zur indoeuropäischen Sprachfamilie, die am weitesten verbreitet ist und zu der auch Deutsch gehört. In dieser Sprachfamilie bilden die slawischen Sprachen die größte Untergruppe. Westslawische Sprachen sind das Polnisch (50 Mio. Sprecher), Slowakisch (6 Mio.) und Tschechisch (12 Mio.), ostslawische Sprachen sind Russisch (145 Mio.), Ukrainisch (47 Mio.) und Weißrussisch (8-10 Mio.). Zu den südslawischen Sprachen gehört das Bulgarisch (9 Mio. Sprecher). Kleinere indoeuropäische Sprachen sind die beiden Baltischen Sprachen Lettisch (2,2 Mio.) und Litauisch (3,2 Mio.). Die einzige romanische Muttersprache ist Rumänisch, das in Rumänien und Moldawien gesprochen wird (33 Mio.). Zwei Muttersprachen der Migrantinnen gehören zur finnougrischen Sprachfamilie, das Estnisch im Baltikum (1,1 Mio.) und das Ungarisch im Südosten Mittelosteuropas (13,5 Mio. Sprecher) (Okuba, 2002).

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Mittelosteuropäische Migrantinnen in Berlin

Die Sprachen in Mittelosteuropa haben seit 1989 eine große Bedeutung für die nationale Identität ihrer Bürger beim (Wieder-)Auf bau der nationalen Staaten und bei ihrer politischen Neuausrichtung nach dem Zerfall der Sowjetunion. Die intensive Verknüpfung der sprachlichen mit der nationalen Identität setzt sich bei den mittelosteuropäischen Migrantinnen in Berlin fort und hat Auswirkungen auf die Anzahl und Art der muttersprachlichen Einrichtungen für Kinder und auf deren Unterstützung durch die Herkunftsländer bzw. deren Botschaften und nationaler Organisationen. Insgesamt gibt es in der Stadt für acht der dreizehn mittelosteuropäischen Sprachen unterschiedliche Möglichkeiten zur Förderung des muttersprachlichen Spracherwerbs für Kinder: für Polnisch und für Russisch, den Sprachen der beiden größten Migranten-Communities, für die Baltischen Sprachen Estnisch und Litauisch, sowie für Tschechisch, Ungarisch, Rumänisch und Bulgarisch (Kapitel 12.5). Die Identifizierung der Migrantinnen mit der Sprache ihres Herkunftslandes ist in Berlin besonders gut bei der russischen Sprache zu beobachten, als Sprache der früher mächtigen Sowjetunion und ihres Nachfolgestaates, der Russischen Föderation. Bei der sprachlichen Identifizierung kommt die Bedeutung des Russischen als Weltsprache hinzu, was russischsprachige Migrantinnen im Interview immer mal wieder erwähnten. Überdies stellen russischsprachige Migranten die drittgrößte Migranten-Community in der Stadt und Russisch gilt in Deutschland aufgrund der hohen Sprecherzahl als sehr vital (Achterberg, 2005). Ebenfalls im historischen Kontext der Auflösung der Sowjetunion, aber aus ganz anderen Gründen, ist die nachdrückliche Identifizierung der Migrantinnen mit den beiden kleineren Baltischen Sprachen, dem Estnisch und dem Litauisch ausgeprägt, denn ihre Herkunftsländer haben erst 1990 die nationale Unabhängigkeit wieder erlangt. Auch tschechische, polnische und ungarische Migrantinnen, deren Herkunftsländer im 20. Jh. mehrere Teilungen und Besetzungen durchlitten haben, wertschätzen ihre nationale Zugehörigkeit und ihre Muttersprache als deren Manifestation in besonderer Weise. Diese historischen und politischen Hintergründe tragen erheblich zur Motivation der mittelosteuropäischen Migrantinnen bei, ihre Muttersprache als wichtigen Teil ihrer eigenen kulturellen Identität und Zugehörigkeit an ihre Kinder weiterzugeben und sie nach Möglichkeit auch in außerfamiliären muttersprachlichen Projekten zu fördern. Andererseits spiegelt das Fehlen von muttersprachlichen Projekten für Kinder in fünf mittelosteuropäische Sprachen – in Lettisch, Slowakisch, Weißrussisch, Ukrainisch und Moldawisch – ungelöste innenpolitische und sprachliche Probleme in den Herkunftsländern wider. Hinzu kommt, dass in Berlin zahlreiche Zuwanderer aus Lettland, Weißrussland, der Ukraine und Moldawien zu den großen Minderheiten der Russisch-Sprecher in diesen Ländern gehören, wie auch einige der interviewten Migrantinnen.

12. Mütterliche Strategien zur Zukunf t ihrer Kinder

Die Weitergabe der Muttersprache ist einerseits essentieller Teil der Bildungsstrategie der Migrantinnen für ihre Kinder, andererseits verläuft der frühe Erwerb der Muttersprache bei Babys und Kleinkindern ganz natürlich und ist in die Mutter-Kind-Beziehung eingebettet. Sowohl in bilingualen als auch in monolingualen Familien steht die Sprache der Mutter im Mittelpunkt des emotionalen und kommunikativen Austausches der Migrantin mit ihrem Baby und Kleinkind. Sein Spracherwerb beginnt mit den ersten Koseworten, die die Mutter an ihr Kind richtet, sie tut es in ihrer Muttersprache und nicht in ihrer Zweitsprache Deutsch, die sie selbst gerade erst gelernt hat oder noch lernt. Die Motivation der Migrantin zur muttersprachlichen Kommunikation verstärkt sich in den folgenden Monaten und Jahren, insbesondere in bilingualen Familien, denn die Mutter will ihrem Kind die Teilnahme am transnationalen Familienleben ermöglichen, vor allem Telefonate mit der Großmutter und den familiären Austausch auf Skype. Spätesten ab dem Grundschulalter erfolgt die Weitergabe der Muttersprache auch als Bildungsressource für das zukünftige (Erwerbs-)Leben des Kindes. »Russisch ist eine Weltsprache« sagte bspw. eine ukrainische Migrantin, die sich entschieden hatte, Russisch mit ihrer Tochter zu sprechen, als Muttersprache und als Bildungsressource, ebenso eine weitere ukrainische Migrantin, die die außerfamiliären Möglichkeiten zur Förderung der russischen Sprache in Berlin als Grund nannte, die ihr Sohn dann nutzen könne. Die Bilingualität als wichtigstes Sozialisationsziel der mütterlichen Strategien für die Zukunft ihrer Kinder, erfordert auch den möglichst frühen Erwerb der deutschen Sprache, der Umgebungssprache im Migrationsland und bei zahlreichen Kindern auch die Sprache des Kindesvaters und damit die Familiensprache. Die deutsche Sprache hat aber auch im Leben der Migrantinnen seit ihrer Migration eine wesentliche Bedeutung erlangt, als Sprache des hiesigen Teils ihrer transnationalen Familie, als wichtige Sprache in ihrem grenzübergreifenden Bildungsprozess und ihrer Erwerbstätigkeit in Berlin. Bei den meisten Migrantinnen treffen alle diese Gründe zu und mit ihnen verbunden ist auch die Vorstellung ihrer eigenen Zukunft, die von einem dauerhaften Bleiben in Deutschland ausgeht. Das trifft in den mütterlichen Strategien der Migrantinnen auch für die Zukunft ihrer Kinder zu, soweit das zur Zeit des Interviews vorhersehbar war. »Ich erziehe meine Kinder für eine Zukunft in Deutschland« formulierte eine binational verheiratete russische Heiratsmigrantin mit zwei fließend bilingualen Kindern ihr Sozialisationsziel. »Eine bessere Zukunft der Kinder in Deutschland« war in der Regel auch die Vorstellung der Großeltern in Mittelosteuropa, wie in den Interviews öfter erwähnt wurde. Vor diesem Hintergrund ist der Erwerb der deutschen Zweitsprache für die Kinder in einen positiven emotionalen Rahmen eingebettet, wie es auch die Erst- und Muttersprache in der Mutter-Kind-Beziehung ist.

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Mittelosteuropäische Migrantinnen in Berlin

Der bilinguale Spracherwerb ist ein besonders dynamischer Weg, der bei jedem Kind etwas anders verläuft. Mehrsprachige Kinder entwickeln in ihren Sprachen unterschiedliche Stärken (Montanari, 2003: 123; Leyendecker/De Houwer, 2011). In bilingualen Familien wird der frühe simultane bilinguale Spracherwerb des Kindes zusätzlich zu dem Lernprozess in der Muttersprache und in der (deutschen) Familiensprache von weiteren Faktoren der soziokulturellen Umwelt beeinflusst, bspw. von den Spielfreunden im Wohnviertel und der Häufigkeit der Verwandtenbesuche im Herkunftsland der Mutter. Bei der Entscheidung bilingualer Eltern, ob das Kind ab dem zweiten oder dritten Lebensjahr auf seinem Weg des bilingualen Spracherwerbs eine deutschsprachige oder eine bilinguale Peer-Einrichtung besuchen soll, zeigt sich dann oft, dass Eltern in der dominanten deutschsprachigen Lebensumgebung des Kindes eine Unterstützung der Muttersprache für sinnvoll halten, soweit es dafür ein passendes Angebot in Berlin gibt (Kapitel 12.5). Beginnt der Erwerb der zweiten Sprache erst in der Schule, dann unterscheidet er sich deutlich vom simultanen Erwerb zweier Sprachen in den ersten drei Lebensjahren in der Familie. Er erfolgt dann zeitlich und räumlich getrennt, sowie in einem differenten sozialen Kontext vom Erstsprachenerwerb (Esser, 2008: 203). Das trifft bei Kindern von Migrantinnen zu, die in ihrer Familie in Berlin monolingual aufwuchsen und auch bei den Kindern, die im Herkunftsland ihre mittelosteuropäische Erst- und Muttersprache erlernt haben und dann mit der Mutter zusammen migriert sind oder nachkamen. Diese Kinder besuchen in Berlin oft die gleichen muttersprachlichen bzw. bilinguale Einrichtungen für Vorschul- und für Schulkinder, jedoch mit einer anderen Zielvorstellung, denn bei ihnen steht nun das notwendige Erlernen der deutschen Zweitsprache im Vordergrund ihres Spracherwerbs, nicht zuletzt, damit sie in der Schule der Mehrheitsgesellschaft erfolgreich sind. Ein Überblick über die Sprachkompetenz der Kinder der Migrantinnen nach Aussage ihrer Mütter ergibt, dass fast alle durch ihren Spracherwerb in ihrer bilingualen Familie oder spätestens nach dem Besuch eines deutschsprachigen oder eines bilingualen Kindergartens fließend bilingual waren, in ihrer mittelosteuropäischen Erst- und Muttersprache und in Deutsch, ihrer Zweitund Familiensprache. Eine gelegentliche Unsicherheit bei einer Formulierung und kleinere Fehler der Kinder in beiden Sprachen sind in dieser Aussage berücksichtigt, wie sie bspw. auch eine erste sprachwissenschaftliche Untersuchung des Russischen als Familiensprache bilingualer Kinder in Deutschland zeigte (Anstatt, 2009). Einige Kinder in bilingualen bzw. bikulturellen Familien waren sogar trilingual, bspw. in Französisch, Türkisch und Spanisch, wenn ihr Vater mit ihnen in seiner eigenen Muttersprache kommunizierte. Einige Kinder hatten aber Schwierigkeiten beim bilingualen Spracherwerb. Kinder, die überwiegend oder ausschließlich monolingual aufgewachsen sind, vor allem in polnisch- und in russischsprachigen Familien, zeigten in

12. Mütterliche Strategien zur Zukunf t ihrer Kinder

der Grundschule Unsicherheiten im Gebrauch der deutschen Sprache. Bei drei russischsprachig aufgewachsenen Kindern waren die Probleme so gravierend, dass sie logopädische Hilfe in Anspruch nehmen mussten; zwei der Kinder wurden in der Familie in Berlin monolingual erzogen und das dritte war im Vorschulalter russischsprachig nach Berlin nachgeholt worden. Im Grundschulalter hatte eine Reihe der Kinder mit dem Erlernen der Schriftform der Muttersprache Schwierigkeiten, insbesondere in den Sprachen, die in kyrillischer Schrift geschrieben werden, Russisch und Bulgarisch.

12.3 S imultaner bilingualer S pr acherwerb Die Bilingualität bzw. der Erwerb von zwei Sprachen hat sich bei den allermeisten der in Berlin geborenen Kinder der Migrantinnen simultan in der frühen Kindheit in ihrer bilingualen Familie entwickelt: die Mutter spricht mit dem Kind ihre mittelosteuropäische Muttersprache, der Vater spricht Deutsch mit ihm und Deutsch ist gleichzeitig die gemeinsame Familiensprache und die Sprache der Umgebung. Deutsch ist dabei entweder die Muttersprache des Vaters oder die Familie hat sich für Deutsch als gemeinsame Sprache entschieden, wenn der Vater Migrant aus einem dritten Land ist. Dieser frühe bilinguale Spracherwerb verläuft in der Familie ganz natürlich und wesentlich einfacher, als es der Fall ist, wenn die beiden Sprachen nacheinander – räumlich, zeitlich und sozial getrennt – erlernt werden (Esser, 2008: 203), wie bei den achtundzwanzig Kindern der Migrantinnen, die mit ihren Müttern zusammen migriert sind oder nachgeholt wurden. Der simultane Erwerb der deutschen Zweitsprache, der in binationalen Familien als der gemeinsamen Familiensprache erfolgt, wird durch die soziale Umgebung massiv unterstützt. Verwandte des Vaters und Freunde der Eltern sprechen Deutsch, ebenso die Nachbarin, die meisten Kinder auf dem Spielplatz usw., so dass das bilinguale Kind in einem überwiegend deutschsprachigen Umfeld aufwächst. Und das Umfeld wird verstärkt ab dem Zeitpunkt, an dem das Kind einen deutschsprachigen Kindergarten besucht, der ausgewählt wurde, weil er in der Nachbarschaft gut erreichbar ist und später mit dem Besuch der Grundschule. Das Deutsche als Sprache der Schule und Gesellschaft nimmt nun eine zentrale Rolle ein. Der deutschsprachigen Lebensumgebung des Kindes steht die Mutter meist als einzige Quelle für die Übung und den Ausbau der Muttersprache gegenüber. Die Weitergabe ihrer Muttersprache war für alle Migrantinnen in bilingualen Familien emotional und mental in ihrem migrantischen und transnationalen Lebenskontext eine Selbstverständlichkeit, die von keiner Mutter hinterfragt oder gar in Zweifel gezogen worden ist. Die Entschlossenheit der mittelosteuropäischen Migrantinnen zur muttersprachlichen und bilingualen

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Sozialisation ihrer Kinder unterscheidet sich offenkundig von Überlegungen und Zweifeln anderer bilingualer Elternpaare, wie sie in der Literatur (Tracy, 2008: 100f; Leyendecker/De Houwer, 2011: 210) und in Ratgebern zur zweisprachigen Erziehung beschrieben werden (Montanari, 2003: 25f; Leist-Villis, 2010). Die Väter in den binationalen mittelosteuropäisch-deutschen Familien, von denen die allermeisten zur Bildungsmittelschicht gehören, haben die Bilingualität und den simultanen Erwerb der mittelosteuropäischen Muttersprache ihrer Kinder in der Regel nachdrücklich unterstützt. Mehrmals habe ich miterlebt, wie ein Vater die intensive muttersprachliche Kommunikation seiner Ehefrau mit dem Kind bzw. den Kindern bestärkte oder anmahnte, bspw. »sprich nur Litauisch mit ihnen«. Im Alltag besteht bei bilingualen Kindern die Tendenz nach dem Besuch eines deutschsprachigen Kindergartens oder der Grundschule den Rest des Tages »weiter« Deutsch zu sprechen, die so dominante Umweltsprache. In diesen Situationen muss die Mutter mit ihrer muttersprachlichen Kommunikation gegensteuern, um mit dem ständigen Gebrauch der Erst- und Muttersprache den simultanen Erwerb beider Sprachen des Kindes in der deutschsprachigen Umgebung zu gewährleisten.

12.4 E rwerb der deutschen Z weitspr ache bei monolingual aufge wachsenen K indern Der Erwerb der Zweitsprache Deutsch und die Bilingualität haben bei monolingualen Kinder unterschiedliche Ausgangssituationen: das Kind ist entweder in der Familie in Berlin monolingual mit seiner mittelosteuropäischen Mutter- und Elternsprache aufgewachsen oder hat seine Muttersprache im Herkunftsland erworben, ist dann mit der Mutter gemeinsam zugewandert oder wurde von ihr später nachgeholt. Der bilinguale Spracherwerb nimmt bei diesen Kindern einen vollkommen anderen Verlauf. Sie erlernen ihre deutsche Zweitsprache in der Regel nicht in der Familie, sondern im Kindergarten oder in der Grundschule, ihr Zweitsprachenerwerb verläuft räumlich und zeitlich getrennt vom Erstsprachenerwerb und in einem anderen sozialen Kontext (Esser, 2008: 203). Die großen Unterschiede sind vor allem die zeitliche Trennung zum Erstsprachenerwerb und das Alter der Kinder bei ihrem Zweitsprachenerwerb. Das Alter ist eng verbunden mit dem Erfolg in diesem Lernprozess, als Faustregel gilt »je jünger, desto besser und schneller«. Bei Kindern, die erst mit sechs Jahren bei ihrer Einschulung Deutsch zu lernen beginnen, wirkt sich der späte Zweitsprachenerwerb ungünstig auf den Lernprozess in den gleichzeitig beginnenden Schulfächern aus. Zunächst zu den Kindern, die in Berlin in einer monolingualen Familie aufgewachsen sind, in der die Eltern aus demselben Herkunftsland kommen und

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die Muttersprache des Kindes dieselbe ist wie die Familiensprache. Das war in einer Reihe von Migrantenfamilien mit polnischen, russischen und rumänischen Wurzeln der Fall und auch in einer litauischen, einer tschechischen, einer bulgarischen und einer ukrainischen Familie. Hinzu kamen einige binationale mittelosteuropäische Familien, in denen Russisch die Familiensprache ist, bspw. eine moldawisch-russische und eine moldawisch-ukrainische Familie. Diese Eltern haben ihre monolingualen Kinder in einem deutschen Kindergarten »um die Ecke« betreuen lassen, weil sie bei ihrer monolingualen familiären Situation die Stärkung der deutschen Sprachkompetenz des Kindes als wichtig und notwendig ansahen. Diese Kinder erlernten Deutsch als Zweitsprache ab einem Alter von zwei bis drei Jahren ganztags in einer deutschsprachigen Umgebung mit deutschen Spielfreunden und sprachen es meist nach wenigen Monaten fließend. Andere monolinguale Migrantenfamilien setzen andere Prioritäten. Bspw. entschied sich ein russischsprachiges Elternpaar ihre dreijährige Tochter, die kein Deutsch sprach, in einen bilingualen russisch-deutschsprachigen Kindergarten zu geben, um sie langsam an den Zweitsprachenerwerb heranzuführen und das Kind nicht sprachlos einer deutschsprachigen Betreuung im nahegelegenen Kindergarten auszusetzen. Die Familie zog deswegen in eine Wohnung in der Nachbarschaft des bilingualen Kindergartens. Negative Beispiele für den Verlauf des frühen Zweitsprachenerwerbs sind zwei in Berlin russischsprachig aufgewachsenen Jungen, die ab ihrem dritten Lebensjahr einen deutschsprachigen Kindergarten besucht haben. Dort erlernten sie aber ihre Zweitsprache Deutsch nur schlecht, so dass beide im ersten Grundschuljahr eine logopädische Therapie begonnen haben, die zur Zeit des Interviews andauerten. Zwei monolinguale Migrantenfamilien, eine rumänisch- und eine bulgarischsprachige, gingen kreativ mit ihrer Familiensprache um. Nachdem ihre hier geborenen Kinder älter waren, sehr gut Deutsch sprachen und Gymnasien besuchten, wechselten sie zu Deutsch als Familiensprache, nicht zuletzt, weil auch die elterliche Sprachkompetenz in Deutsch im Kontext ihrer Erwerbstätigkeit inzwischen fließend geworden war. Für diese Kinder und Eltern ist Deutsch in Schule und Beruf die dominante Sprache geworden, deswegen wird sie nun auch in der Familie gesprochen. Wenn Kinder bis zu ihrem dritten Lebensjahr mit ihren Eltern zusammen nach Berlin migriert sind oder von der Mutter als Kleinkinder nachgeholt werden konnten, verläuft ihr Zweitsprachenerwerb in einem deutschsprachigen Kindergarten und ihre Bilingualität in der Regel problemlos. Zwei Jungen, auf die das zutrifft, habe ich kurz vor ihrem Abitur kennengelernt: ein Jugendlicher mit polnischer Muttersprache, der als Kleinkind mit den Eltern nach Berlin kam und ein nachgeholtes Kind mit moldawischer und mit russischer Muttersprache, beide besuchten in Berlin ein Gymnasium. Es gibt aber auch

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nachgeholte Kinder, die in jungem Alter einen problematischen Zweitsprachenerwerb durchlaufen, wie ein russischsprachiges Mädchen, das bei der Großmutter im Norden Lettlands gelebt hatte, wo Russisch gesprochen wird. Als die Mutter ihre Tochter im Alter von vier Jahren nach Berlin holte, sprach sie kein Lettisch und lernte in der deutschsprachigen Kita nur wenig Deutsch. Seit sie schulpflichtig ist, besucht sie eine Grundschule mit logopädischem Förderschwerpunkt. Sind Kinder erst im Grundschulalter nach Berlin gekommen, verläuft ihr Zweitsprachenerwerb oft unbefriedigend und schlecht. Sie gelten dann als so genannte Seiteneinsteiger in der Schule, wo sie ohne oder mit geringen Deutschkenntnissen unvermittelt auf die schulischen Ansprüche der deutschen Mehrheitsgesellschaft treffen, denn Vorbereitungsklassen für Deutsch gibt es bei weitem nicht an allen Schulen. Vielmehr wird von den Migrantenkindern in der Schule nun erwartet, dass sie während des Fachunterrichts ihre Zweitsprache Deutsch quasi »nebenbei« lernen, was immer schwieriger wird, je älter die Kinder sind und je komplizierter der Unterrichtsstoff dann ist, wobei der Mathematikunterricht für Jungen eine Ausnahme sein kann, weil sie ihm trotz schlechter Deutschkenntnisse gut folgen können, wie mir eine Migrantin von ihrem Sohn erzählte. Eine Geschwistergruppe aus Lettland ist ein plakatives Beispiel für die erheblichen sprachlichen und schulischen Schwierigkeiten, die ältere Kinder bei ihrer Zuwanderung haben können. Ihre Mutter hatte sie für ein Jahr bei ihren Großmüttern in Lettland zurückgelassen, um sich in Berlin einige Jobs zu suchen (Putzen, Klavier- und Akkordeonunterricht, Kinderbetreuung), damit sie mit ihrem Lohn ihre Kinder ernähren konnte. Als sie diese nachholte, waren der ältere Sohn 13 Jahre, die Tochter 11 und der jüngere Sohn 10 Jahre alt. Sie besuchten in Berlin eine Waldorfschule, zu der die Mutter den Kontakt aufgebaut hatte, um den Kindern mit der Waldorf-Pädagogik den schulischen Übergang und den Erwerb der Zweitsprache Deutsch zu erleichtern. Das gelang aber bei den beiden Älteren nicht, ihre sprachlichen und schulischen Schwierigkeiten waren so groß, dass beide nach einem Jahr nach Lettland zur Großmutter zurückkehrten, um dort ihrer Schulpflicht nachzukommen. Die schulischen Probleme dieser beiden älteren Geschwister entsprechen den Ergebnissen der Forschung von King (2005), nach denen die Zuwanderung von jungen Menschen während der Adoleszenzphase zusammenfällt mit migrationsbedingten Veränderungsprozessen und zu verdoppelten Transformationsanforderungen führt, die nur schwer zu bewältigen sind. Als die beiden jungen Migranten nach ihrer Schulpflicht aus Lettland wieder nach Berlin zurückkamen, hatte ihr Schul­abbruch und der schlechte Bildungsverlauf bei ihrer Arbeitssuche in Berlin negative Folgen, sie fanden nur Gelegenheitsjobs. Der jüngere Bruder hatte in Berlin den Schulabschluss mit einiger Mühe ge-

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schafft, nachdem er einige Zeit in der Familie eines deutschen Freundes aus seiner Klasse gelebt hat. Diese beiden negativen Beispiele des Bildungsverlaufs verdeutlichen einmal mehr die Schwierigkeiten, die Migrantenkinder in Deutschland haben können (vgl. Kapitel 2.5.1). Die Beispiele sind auch eine Kritik am Einwanderungsland Deutschland, in dem zwar neuerdings eine vorschulische Sprachstandsdiagnostik durchgeführt wird1, aber Migrantenkinder in den folgenden Schuljahren für ihre Zweitsprache Deutsch konzeptionell und tatsächlich zu wenig Unterstützung in der Schule erhalten (Rösch, 2012). In den Bundesländern und Schulen unterschiedlich erhalten sie meist pro Woche in der Grundschule ein oder zwei Förderstunden für Deutsch und in der Sekundarstufe können sie an Deutschprojekten teilnehmen.

12.5 A usserfamiliäre R essourcen zur F örderung mittelosteuropäischer M utterspr achen : K indergärten , S amstagsschulen , S chulen In Berlin stehen Migranten und ihre Familien aus den Ländern, für die es muttersprachliche Kindergärten und Schulprojekte gibt, drei Mal während des Bildungsverlaufes ihrer bilingualen Kinder vor der Entscheidung, ob das Kind eine Förderung seiner mittelosteuropäischen Erst- und Muttersprache erhalten soll oder ob sie den deutschen Spracherwerb des Kindes außerhalb der Familie unterstützen wollen. Die erste Weichenstellung für den weiteren bilingualen Spracherwerb des Kindes erfolgt mit dem Eintritt des Kindes in die soziale Welt seiner Peers in Kindergärten und Kindertagesstätten, die zweite bei der Einschulung und die dritte beim Übergang in eine weiterführende Schule. Für das Kleinkind stehen drei Varianten zur Auswahl: Es besucht einen gut erreichbaren deutschsprachigen Kindergarten im Wohngebiet oder eine Einrichtung mit einem besonderen pädagogischen Konzept, bspw. eines kirchlichen Trägers. Für den Erhalt und den weiteren Erwerb der mittelosteuropäischen Muttersprache dieser Kinder vertrauen Eltern in bilingualen Familien dann darauf, dass die mütterliche Kommunikation mit dem Kind hierfür ausreicht. Monolinguale Familien schicken ihr Kind in den deutschsprachigen Kindergarten in Wohnungsnähe, damit es dort Deutsch als Zweitsprache im Vorschulalter lernt. Um die Muttersprache machen sie sich keine Sorgen, weil das Kind sie in der Familie täglich spricht. 1 | Die vorschulische Sprachstandsdiagnostik für Deutsch hat sich in allen Bundesländern inzwischen etabliert. In Berlin wird sie bei allen Fünfjährigen, die Sprachdefizite haben mit der Pflicht verbunden, vor Schuleintritt an Sprachfördermaßnahmen teilzunehmen (vgl. Kapitel 2.5.1).

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Bei der zweiten Variante besuchen Kinder aus bilingualen und aus monolingualen Familien einen muttersprachlich-bilingualen Kindergarten, die es in Berlin vor allem für Russisch gibt, außerdem zwei für Polnisch und einen für Tschechisch. Bei der Wahl dieser Variante erfolgte in bilingualen Familien die Entscheidung zugunsten des Ausbaus der Erst- und Muttersprache bei gleichzeitigem Erhalt der deutschen Sprachkompetenz des Kindes. In monolingualen Familien wollen die Eltern ihrem Kind dagegen in einem bilingualen Kindergarten eine langsame Gewöhnung an seine zukünftige Zweitsprache Deutsch ermöglichen und gleichzeitig sicherstellen, dass sich das Kind anfangs in seiner Muttersprache Russisch oder Polnisch verständigen kann. Die bilingualen Einrichtungen liegen in der Regel nicht in unmittelbarer Nachbarschaft der Wohnung und Eltern nehmen erhebliche Anfahrtswege auf sich, um ihrem Kind dort den täglichen Besuch und das muttersprachliche und deutsche Sprachtraining zu ermöglichen. Für diese zweite Variante wird eine muttersprachliche Ganztagsbetreuung in Russisch in zwölf bilingualen Einrichtungen angeboten, davon in sechs Mitra-Kindergärten, die über das Stadtgebiet verteilt sind. Mitra-Kindergärten sind relativ groß, insgesamt haben sie in Berlin 685 Plätze für Kinder von 0 bis 6 Jahren und in zwei Krippen können 30 Babys und Kleinstkinder betreut werden. Die Mitra-Kindergärten waren bei den meisten russischsprachigen Migrantinnen beliebt und pädagogisch angesehen. Eine russischsprachige Familie war kurz vor dem Interview in eine Wohnung in der Nähe des Mitra-Kindergartens umgezogen, in dem ihre Tochter einen Platz erhalten hatte. Einige Migrantinnen kritisierten aber die Mitra-Kindergärten wegen ihrer »sowjetischen Pädagogik« und eine Mutter fügte hinzu »da würde ich mein Kind nie hinschicken«. Für eine muttersprachliche Betreuung in polnischer Sprache im Vorschulalter gibt es in Berlin zwei bilinguale Kindergärten, das Maluch im Tiergarten, das Ende der 1980er Jahre als Elterninitiative gegründet wurde und das Kajtek in Wilmersdorf, das 1997 eröffnet hat. Zur Zeit der Feldforschung waren die Kindergruppen im Maluch gemischt, weil nicht mehr genügend polnischsprachige Kinder angemeldet wurden, während das Kajtek nur von muttersprachlich-polnischen Kindern besucht wurde. Ausgehend vom Platzangebot der russisch- und polnischsprachigen Kindergärten und den Migrantenzahlen dieser beiden großen Communities in Berlin, ergibt sich der Eindruck, dass relativ wenige Eltern diese bilingualen vorschulischen Angebote nutzen, das gilt vor allem für polnischsprachige Eltern. Ein vergleichbarer Eindruck ergab sich bei dem einzigen bilingualen tschechischen Kindergarten, den »Frechen Fledermäusen« in Pankow mit 22 Plätzen, den zur Zeit meiner Feldforschung nur ein Kind mit tschechischer Muttersprache besuchte. Bei der dritten Variante des außerfamiliären bilingualen Spracherwerbs im Vorschulalter kommt zusätzlich zum Besuch des deutschsprachigen Kin-

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dergartens in Wohnungsnähe eine Förderung der Muttersprache in einer kleinen muttersprachlichen Samstagschule für Vorschulkinder hinzu, die für Estnisch, Litauisch und Ungarisch in Berlin mit der Unterstützung der jeweiligen Botschaft von Eltern gegründet wurden. Sie werden entweder von Müttern selbst mit viel Engagement gestaltet, wie die Litauische Samstagschule oder von einer muttersprachlichen pädagogischen Fachkraft, wie die ungarische Samstagsschule. In diesen Einrichtungen können die Kinder in ihrer Muttersprache mit Gleichaltrigen spielen und sprechen, gemeinsam muttersprachliche Kinderbücher lesen und Kinderlieder lernen. Sie erhalten kindgerechte Sprachunterweisungen in der Muttersprache, verbunden mit einem spielerischen Unterricht in Landeskunde. Während der Samstagsschule werden die Kinder von den Betreuerinnen angehalten, nur in ihrer Muttersprache zu sprechen Einige Mütter erzählten aber, dass sich die Kinder miteinander in Deutsch unterhalten, nicht in der Muttersprache. Andererseits sahen eine ganze Reihe der Eltern den Besuch einer muttersprachlichen Samstagsschule zusätzlich zum Besuch eines Kindergartens oder später der Grundschule als zu stressig für das Familienleben und als eine Belastung der Kinder an und zogen es vor, den Samstag gemeinsam in der Familie mit bilingualer Kommunikation zu verbringen. Bei der Einschulung erfolgt die zweite Weichenstellung für den weiteren Spracherwerb des bilingualen Kindes. Eltern stehen bei der Suche nach der besten Lösung für ihr Kind zwischen zwei gegensätzlichen Positionen, einerseits ist es ihr Wunsch, dass das Kind seine muttersprachliche Kompetenz mit dem Erlernen der Schriftsprache vertieft und erweitert. Andererseits erfährt die deutsche Sprache mit der Einschulung als Sprache der Mehrheitsgesellschaft einen großen Bedeutungszuwachs für das bilinguale Kind, sie wirkt sich auf das Verhältnis zur Familie und zur Familiensprache aus und hat Einfluss auf die Zusammensetzung des Freundeskreises (Leyendecker/De Houwer, 2011: 207). Das bilinguale Kind mit Migrationshintergrund begegnet mit der Schulpflicht und dem Besuch der Grundschule täglich der deutschen Mehrheitsgesellschaft und ihren Anforderungen an seine Integration in diese Gesellschaft. Aus Sicht der Migrantinnen bzw. der Eltern sind Bilingualität und Schulbildung beides sehr wichtige Grundsteine für einen erfolgreichen Verlauf des weiteren Bildungsweges ihres Kindes und seines zukünftigen (Erwerbs-)Lebens, das sich auch in einem transnationalen Kontext entwickeln könnte. Für eine weitere außerfamiliäre Förderung der Muttersprache haben Eltern zwei Möglichkeiten. Das Kind geht in die normale Grundschule, hat seine Freunde in Wohnungsnähe und besucht für einen ergänzenden muttersprachlichen Unterricht, der auch in Schriftform gegeben wird, eine Samstagsschule, die es derzeit in Berlin für Grundschüler mit polnischer, russischer, tschechischer, rumänischer und bulgarischer Muttersprache gibt. Für polnisch- und

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für russischsprachige Kinder wäre der Besuch einer bilingualen Grundschule möglich, der für beide Sprachen später mit dem Besuch einer weiterführenden bilingualen Schule fortgesetzt werden kann. Nachteile bei dieser Entscheidung sind, dass der Schulweg quer durch Berlin führen kann, dass Schulfreunde über die ganze Stadt verteilt leben und Eltern ständig Fahrdienste leisten müssen. Es gibt aber auch Familien, die sich zu einem Umzug in die Nähe der ausgewählten Schule mit bilingualen Curriculum entscheiden, um den Schulweg des Kindes fußläufig zu ermöglichen, was einige russischsprachige Eltern getan haben. Der bilinguale Schulbesuch kann aber auch zu einer Überforderung des Kindes führen. So hatte bspw. ein Junge im russisch-deutschen Unterricht an der Leo-Tolstoi-Grundschule unerwartet Schwierigkeiten, so dass die Lehrer zu einem Wechsel in eine deutschsprachige Regelklasse an derselben Schule geraten haben. Zu den verschiedenen Modellen der muttersprachlichen Förderung gehören in Berlin die Angebote des Polnischen Schulvereins OSWIATA, die eine lange Tradition in Stadt haben. OSWIATA veranstaltet seit Mitte der 1980er Jahre muttersprachlich-polnischen Unterricht für Grund- und Sekundarschüler, der nachmittags an zwei Werktagen stattfindet, zusätzlich zum Besuch der deutschen Regelschulen an den Vormittagen. Zur Zeit meiner Feldforschung hatte OSWIATA zehn Standorte im Berliner Stadtgebiet, das heißt, die Unterrichtsorte waren gut erreichbar für zahlreiche polnischsprachige Schüler. In Berlin gibt es drei russischsprachige Samstagsschulen für Grundschulkinder. Der älteste und traditionsreichste Träger ist der Club Dialog e.V., der 1988 in Ost-Berlin als Selbsthilfegruppe von russischsprachigen Migranten gegründet worden ist. Im Laufe der Jahre hat er zahlreiche Arbeitsbereiche aufgebaut und hat heute an mehreren Standorten ein breites Spektrum russischsprachiger Angebote u.a. eine Berufs- und Ausbildungsberatung, Deutsch- und Computerkurse und das interkulturelle Jugendzentrum Schalasch. In seiner Samstagsschule wird Kindern im Vorschul- und im Grundschulalter Unterricht in ihrer russischen Muttersprache und in kyrillischer Schrift erteilt, angelehnt an die Curricula für russische Kindergärten und Schulen. Eine weitere russischsprachige Samstagsschule wird seit 2002 von dem gemeinnützigen Träger ›Berliner Gesellschaft für Förderung interkultureller Bildung und Erziehung‹ (BGFF e.V.) in einer Schule im Wedding betrieben. An ihrem muttersprachlichen Unterricht nahmen 2010 altersgemäß nach Grundschulklassen aufgeteilt 220 russischsprachige Kinder teil. Außerdem bietet seit 2011 die private Internationale Schule Villa Amalienhof im Westen der Stadt eine weitere Samstagsschule für russischsprachige Kinder ab drei Jahren an. Eine Samstagsschule für muttersprachlichen tschechischen Unterricht für Grundschulkinder ist die Materidouska, die Tschechische Schule ohne Grenzen. Sie entstand 2003 mit einer kleinen Spielgruppe, gegründet von einer Mutter für tschechisch-muttersprachliche Kinder und hat sich seither kontinu-

12. Mütterliche Strategien zur Zukunf t ihrer Kinder

ierlich zu einer Samstagsschule entwickelt. Seit 2007 wird sie von der Tschechischen Botschaft, dem Tschechischen Zentrum und weiteren Organisationen in Berlin gefördert. In den Grundschulklassen 1 bis 5 werden die Fächer Tschechisch, Literatur, Sach- und Gemeinschaftskunde unterrichtet, die die Qualitätsstandards der Schulpflicht in der Tschechischen Republik erfüllen. Zur spielerischen Eingewöhnung ist eine Vorklasse für tschechischsprachige Kinder ab fünf Jahren eingerichtet worden. Für Schulkinder mit rumänischer und mit bulgarischer Muttersprache gibt es in Berlin die Rumänische Schule Berlin Brandenburg e.V. und die Bulgarische Schule Berlin e.V., die mit ihrem muttersprachlichen Unterricht und ihrem Bildungsangebot den Samstagsschulen entsprechen. Die Rumänische Schule ist ein gemeinnütziger Verein, der von der Rumänischen Botschaft und dem Deutsch-Rumänischen Forum unterstützt wird. Seit 2009 bietet die Schule für rumänischsprachige Schulkinder Unterricht in Rumänisch als Muttersprache an, der sich an Lehrplänen in Rumänien orientiert. Allerdings war das Interesse rumänischer Migranten an diesem Angebot zur Zeit der Feldforschung nur gering. Die Schule organisiert auch Deutschkurse für rumänische Kinder und Erwachsene und Rumänischkurse für deutsche Kinder und führt einen Schüleraustausch zwischen Rumänien und Deutschland durch. Die Bulgarische Schule ist eine staatlich anerkannte Ergänzungsschule. Ihre Zielgruppe sind vor allem Kinder von temporär in der Botschaft und in nationalen bulgarischen Organisationen beschäftigten Eltern, aber auch Kinder von Migranten werden aufgenommen. Unterrichtet wird nach aktuellen Lehrplänen der Republik Bulgarien. Die Schule hat an die hundert Schüler von der 1. bis zur 12. Klasse, die je Klassenstufe einmal in der Woche nachmittags Unterricht in bulgarische Sprache und Literatur, in Geschichte und Landeskunde haben. Hinzu kommt eine Vorschulgruppe für Kinder ab fünf Jahren mit bulgarischer Muttersprache. Mit Beginn des Besuches weiterführender Schulen kann für Schüler mit polnischer und russischer Muttersprache eine erneute Weichenstellung für die Vertiefung der Bilingualität erfolgen. Die Entscheidung bei dieser Weichenstellung war in der Regel rational orientiert, strategisch auf die Neigungen und Begabungen des Kindes ausgerichtet und auf mögliche Perspektiven für das zukünftige Erwerbsleben. Polnisch- und russischsprachige Eltern haben zwei Möglichkeiten, sie können sich für den Besuch einer weiterführenden Schule mit den üblichen Fremdsprachen (Englisch, Französisch) entscheiden, ohne Bezug zu einer mittelosteuropäischen Sprache. So haben bspw. die fünf polnisch- und russischsprachigen Jugendlichen im Sample, die schon auf das Abitur zugingen, alle Schulen ohne muttersprachliche Angebote besucht. Die Gründe für diese Entscheidung kann die Erreichbarkeit der Schule sein, aber auch eine Strategie für die Zukunft der Kinder, um ihnen eine bestmögliche

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deutschsprachige Schulbildung für ihre berufliche Zukunft in diesem Land mitzugeben. Diese Entscheidung bedeutet nicht die Aufgabe der Muttersprache, die in der Familie bzw. mit der Mutter weiter gesprochen wird. So erklärte mir eine russische Migrantin, deren Kinder fließend bilingual sind und die früher einen bilingualen Kindergarten besucht haben, sie habe sich für ein gut beleumdetes deutsches Gymnasium entschieden mit Englisch und Französisch als Fremdsprachen »weil bei meiner Suche nach Arbeit in Berlin, mein Russisch gar keine Rolle gespielt hat«. Die zweite Variante ist der Besuch einer bilingualen Schule, die es für Polnisch und Russisch an mehreren Staatlichen Europaschulen in Berlin (SESB) gibt 2 . An drei Schulen wird Polnisch unterrichtet als eine wählbare Fremdsprache: an der Katharina-Heinroth-Grundschule, die seit dem Schuljahr 2008/9 Staatliche Europaschule ist und seit dem Schuljahr 2005/6 an der Robert-Jungk-Gesamtschule, beide in Charlottenburg-Wilmers­dorf, sowie an der Gabriele-von-Bülow-Oberschule in Reineckendorf, die seit 2001 europäische Begegnungsschule mit Polen ist und zwei polnische Partnerschulen in Warschau und Breslau hat. Außerdem gibt es in Berlin die Staatliche Schule der Volksrepublik Polen in Friedrichshain, deren Zielgruppe vor allem Kinder der temporär in der Polnischen Botschaft und nationalen Organisationen tätigen Eltern sind. Die Polnische Schule wurde auch von einigen Töchtern der interviewten Migrantinnen besucht, die dort (zusätzlich) ein polnisches Abitur ablegen wollten. Für die schulische bilinguale Erziehung in russischer Sprache gibt es seit 1992/93 in Berlin drei Staatliche Europa Schulen, zwei Grundschulen, die Leo-Tolstoi-Schule in Karlshorst und die Grundschule am Brandenburger Tor im Bezirk Mitte. Der bilinguale russisch-deutsche Unterricht kann ab der 7. Klasse an der Mildred-Harnack-Schule fortgesetzt werden, einer Sekundarschule mit gymnasialer Oberstufe in Lichtenberg. Die private deutsch-russische Lomonossow-Grundschule bietet seit 2015 auch eine Sekundarstufe bis zum Abitur an zwei Standorten an, in Tiergarten und in Marzahn. Außerdem wird in zwölf Gymnasien in Berlin Russisch unterrichtet und kann als zweite Fremdsprache gewählt werden; acht der Schulen liegen in östlichen, vier in westlichen Stadtteilen.

2 | Die Staatlichen Europaschulen bieten sieben weitere Sprachkombinationen an: Englisch, Französisch, Italienisch, Neugriechisch, Portugiesisch, Spanisch und Türkisch. Ihre Besonderheiten sind: jede Klasse setzt sich aus zwei muttersprachlichen Gruppen zusammen, eine davon ist immer deutsch, die Lehrer sprechen mindesten eine der beiden Sprachen als Muttersprache und der Unterricht wird gleichmäßig auf beide Sprachen aufgeteilt (Schründer-Lenzen, 2012:168). Im Schuljahr 2011/12 besuchten insgesamt 6000 Schüler die zweisprachigen Europaschulen in Berlin.

12. Mütterliche Strategien zur Zukunf t ihrer Kinder

12.6 R esümee : D ie B ilingualität der K inder – ein tr ansnationales kulturelles K apital im mehrspr achigen E uropa Die Bilingualität ihrer Kinder war für alle in Berlin interviewten Migrantinnen aus mittelosteuropäischen Ländern ihr erstes und wichtigstes Sozialisationsziel im Kontext ihrer mütterlichen Strategien, ihren Kindern eine gute Bildung zu vermitteln. Das Ziel haben die Mütter erreicht, fast alle der hunderteinundfünfzig in Berlin lebenden Kinder sprachen bei der Einschulung ihre mittelosteuropäische Erst- und Muttersprache und ihre Zweitsprache Deutsch fließend. Drei russischsprachige Kinder hatten jedoch Schwierigkeiten mit der Zweitsprache Deutsch, zwei sind seit der Einschulung in logopädischer Behandlung, das dritte Kind besucht eine Förderschule. Die Beschreibung der Bilingualität der in Berlin lebenden Kinder des Sample hat gezeigt, dass der frühe bilinguale Spracherwerb ein dynamischer Prozess ist, der bei jedem Kind etwas anders verläuft und deutlich wurde auch, dass sprachliche und soziokulturelle Faktoren im Lebensumfeld der Kinder großen Einfluss auf ihren bilingualen Lernprozess haben (vgl. Leyendecker/De Houwer, 180). Allen Kindern gemeinsam war, dass sie ihre mittelosteuropäische Erst- und Muttersprache von ihrer Mutter gelernt haben; die Unterschiede lagen in den Muttersprachen, in den individuellen Migrationskontexten und in der Zusammensetzung der Familien, in denen die Kinder aufwachsen und sprachlich sozialisiert werden. Drei Settings beim Erwerb der Bilingualität lassen sich unterscheiden: (1) Fast alle 123 Kinder, die in Berlin geboren sind, haben simultan in der bilingualen Familie die mittelosteuropäische Erst- und Muttersprache und ihre Zweitsprache Deutsch erlernt, letztere in der Regel als Familiensprache und meist als Sprache des Vaters. (2) Einige in Berlin geborenen Kinder sind monolingual mit der mittelosteuropäischen Sprache ihrer Familie aufgewachsen, wenn beide Eltern aus demselben Land zugewandert sind. Sie haben in der Regel die deutsche Sprache ohne allzu große Schwierigkeiten ab dem Alter von etwa zwei Jahren in einem deutschsprachigen oder bilingualen Kindergarten erlernt, in zeitlichem Zusammenhang mit dem Erwerb der Erst- und Muttersprache, aber in einer Peer-Gruppe. (3) Die 28 Kinder, die mit ihren Müttern zusammen zugewandert sind oder nachgeholt wurden, erwarben ihre bilinguale Sprachkompetenz zeitlich und räumlich getrennt: die Erst- und Muttersprache im Herkunftsland und die Zweitsprache Deutsch nach der Migration in Berlin, je nach Alter auf verschiedene, oft kombinierte Weise, in der (bilingualen) Familie, in einer Vorschuleinrichtung und in der Grundschule.

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Mittelosteuropäische Migrantinnen in Berlin

In Berlin kommen außerfamiliäre Fördermöglichkeiten für Kinder in acht mittelosteuropäische Muttersprachen hinzu, um die Bilingualität weiterzuentwickeln. Die Angebote richten sich an unterschiedliche Altersstufen und Sprachkompetenzen, an Vorschul- und Grundschulkinder, sowie an bilinguale polnisch- und russischsprachige Jugendliche auf weiterführenden Schulen. Ihre Nutzung bringt zusätzliche Herausforderungen für Kinder und Familien mit sich, wie den Samstag als zusätzlichen Schultag oder Unterricht an Nachmittagen, längere Fahrten zum Unterrichtsort oder einen Umzug in die Nähe einer bilingualen Kita oder Schule. Über den frühen bilingualen Spracherwerb von Migrantenkindern liegen keine wissenschaftlich gesicherten und belastbaren Studien vor, die empirisch die wichtigen individuellen und sozialen Einflussfaktoren im Lebensumfeld und im Migrationsprozess der Kinder auf seinen bilingualen Spracherwerb untersucht haben (Esser, 2008: 227; Leyendecker/De Houwer, 2011: 181). Lange Zeit war sogar die vielfältig gelebte Zweisprachigkeit der Migrantenkinder umstritten (vgl. Gogolin, 2009; Osler, 2008). Neuere sprachpsychologische Forschungen belegen aber, dass ein früher bilingualer Spracherwerb bei Kindern bis zu einem Alter von sechs Jahren nahezu mühelos möglich ist, wenn er in einem günstigen, möglichst bilingualen familiären und soziokulturellen Umfeld verläuft (Tracy, 2008: 100f; Leyendecker/De Houwer, 2011: 179). Kindern bietet »Migration die Chance, mit zwei Sprachen aufzuwachsen«, so Leyendecker/De Houwer (2011: 203f). Verbale Kommunikation ist das Fundament für die soziale und kognitive Entwicklung von Kindern und ihr Aufwachsen mit zwei Sprachen und zwei Kulturen stellt eine Chance dar, bilinguale und bikulturelle Kompetenzen zu erlernen, die in einer zunehmend globalisierten Welt gefragt sind, was in der Forschung und der öffentlicher Diskussion noch zu wenig Beachtung findet, wie die beiden Sprachwissenschaftlerinnen feststellen (2011: 209). Für die Europäische Union hat das EU-Parlament bereits 2006 empfohlen, jeder EU-Bürger solle neben seiner Muttersprache mindestens zwei weitere Sprachen beherrschen (Europäisches Parlament, 2006). Bei den Kindern der Migranten konzentrieren sich Empfehlungen jedoch in der Regel auf die Sprache des Migrationslandes. So sieht der Nationale Integrationsplan vor, dass »von Anfang an die deutsche Sprache zu fördern« ist (2007) und die PISA-Studie stellte fest, dass die Sprachkompetenz die entscheidende Hürde in der Bildungskarriere zugewanderter Kinder ist (OECD, 2001: 379). Die Bilingualität der Migrantenkinder blieb in beiden Empfehlungen unerwähnt. Das Resümee dieses Kapitels ist: Die frühe Bilingualität der Kinder der mittelosteuropäischen Migrantinnen in Berlin ist ein transnationales kulturelles Kapital im mehrsprachigen Europa und eine wertvolle Ressource in ihrem Bildungsprozess und für ihr zukünftiges Erwerbsleben.

13. Schlussbetrachtung

Die Ergebnisse dieser Studie basieren auf den biographischen Interviews und Erzählungen von hundert Migrantinnen aus dreizehn Ländern in Mittelosteuropa, die mit eigener Stimme und aus emischen Sicht ihren Migrationsprozess und ihre Lebensrealität in Berlin beschrieben haben. Die Migrantinnen haben so die Generierung von situiertem Wissen ermöglicht über gendertypische Motive und Motivbündel der Migration während der Transformationszeit, über ihre grenzübergreifenden Bildungs-, Berufs- und Erwerbsprozesse und die Indikatoren ihrer transnationalen Lebensformen sowie über ihre mütterlichen Strategien für den bilingualen Spracherwerb und eine gute Schulbildung ihrer Kinder. Mit ihren biographischen Aussagen haben sie auch ihren differenzierten Umgang mit der Staatsbürgerschaft zwischen Emotionen und rationalen Gründen beschrieben, ihre narrativen Identitätskonstrukte und die Gefühle ihrer multiplen Zugehörigkeiten zu ihrem Herkunftsland und zu Berlin, ihrem Lebensmittelpunkt (Yuval-Davis, 2006; Schiffauer, 2008; PfaffCzarnecka, 2012; Röttger-Rössler, 2016). Die plurilokale Verortung und ihre Mehrfachzugehörigkeiten hat eine Migrantin aus Russland prägnant formuliert: »zuerst bin ich berufstätige Mutter, dann Frau und dann Russin, die in Berlin lebt«. In ihrer biographischen Navigation hat die Migrantin die bedeutsamen Parameter ihrer Zugehörigkeiten miteinander in Übereinstimmung gebracht und unterschiedliche soziale und geographische Variablen benannt, die bei ihrer emotionalen Verortung hier und jetzt zusammenwirken (Pfaff-Czarnecka, 2012: 11). Ihre Aussage ist typisch für die multiplen Zugehörigkeiten und das transnationale Lebensgefühl mittelosteuropäischer Migrantinnen in Berlin. Die Forschung hat verdeutlicht, dass Gender ein zentrales Strukturprinzip zum Verständnis von Migrationen ist. Gender hat den Migrationsprozess der mittelosteuropäischen Migrantinnen nachhaltig geprägt, beginnend mit dem Motiv und dem Motivbündel ihrer Migration, den grenzübergreifenden Bildungs- und Berufsverläufen und der meist langen Statuspassage zu einer adäquaten Erwerbstätigkeit in Berlin. Gender wirkte sich in besonderer Weise strukturierend auf die dreidimensionalen Statuspassagen der Migrantinnen

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Mittelosteuropäische Migrantinnen in Berlin

aus, die im familiären Kontext und als Heiratsmigrantin migriert sind. Aufgrund ihrer Aufgaben in der Familie waren ihre beruflichen Statuspassagen zeitverzögert und meist schwierig (Kapitel 7 und 10; Kofman et al., 2000; Ackers/Gill, 2008; Lutz, 2009; 2010; Williams, 2010). Gender beeinflusste auch die transnationale Lebensweise der Migrantinnen und ihre Beziehung zur Familie im Herkunftsland, in deren Mittelpunkt gendertypisch die Tochter-Mutter Beziehung steht (Kapitel 11.3.3). Die vier Migrationsformen der Frauen wurden vom Hauptmotiv ihrer Zuwanderung bestimmt. Von den hundert Migrantinnen sind ein Drittel Bildungsmigrantinnen, denn dreiunddreißig Frauen migrierten, um ihr Bildungskapital zu erweitern. Zwölf Arbeitsmigrantinnen kamen auf der Suche nach Arbeit und Verdienst, vierzehn Migrantinnen wanderten zusammen mit ihrer Familie als Ehefrauen oder Töchter zu und einundvierzig Heiratsmigrantinnen migrierten zu ihrem (zukünftigen) Ehemann, um eine – meist binationale – Familie zu gründen. Die meisten Migrantinnen haben bereits vor ihrer Migration eine dauerhafte Zuwanderung nach Deutschland beabsichtigt, insbesondere die fünfundfünfzig Migrantinnen, die im familiären Kontext und als Heiratsmigrantinnen migriert sind, ebenso die meisten Bildungsmigrantinnen, vor allem die aus den vier Nicht-EU- Ländern – Weißrussland, Russland, der Ukraine und Moldawien. In Berlin knüpfte die »neue« innereuropäische Ost-West-Migration nach 1989/1990 (Koser/Lutz, 1998) an die fast 350-jährige Tradition der Zuwanderung aus Mittelosteuropa an. Sie verlief, nach anfänglich hohen Zahlen, moderat und kontinuierlich, mit leichten Anstiegen 2004 und 2007 im Kontext der beiden Osterweiterungen der Europäischen Union. Nach gut zwei Jahrzehnten betrug zur Zeit der Interviews 2011 das Saldo der Zuwanderung in Berlin gut hunderttausend Migranten (101.650; Tabelle 4) aus den dreizehn Ländern Mittelosteuropas, aus denen die Migrantinnen dieser Studie kommen. In Berlin haben sich mittelosteuropäische Migranten zahlreiche transnationale Räume geschaffen (Kapitel 2.7) und sie sind Teil der migrantischen Vielfalt in der Stadt, in der jeder vierte der 3,6 Mio. Berliner Migrant ist oder einen Migrationshintergrund hat (Beauftragter des Senats für Integration und Migration, 2007a; Kleff/Seidel, 2009). Charakteristisch für die »neue« Migration aus Mittelosteuropa in Berlin ist der relativ hohe Frauenanteil. Er betrug bspw. 2011 aus sechs Ländern zwischen 60 % und 70 % und aus drei weiteren Ländern mehr als 50 % (Tabelle 5). Damit zeichnet sich eine Feminisierung der mittelosteuropäischen Migration ab, die auch bei den Bildungsmigrantinnen im Sample deutlich wird (Kapitel 9.4). Die »prekäre« Datenlage (Heß, 2012: 18) zu Bildungsmigrantinnen und hochqualifizierten Zuwanderinnen in Deutschland und weltweit (Kofman/ Raghuram, 2009: 3; Liversage, 2009: 121; 3) macht jedoch eine vergleichende Diskussion dieses Befundes unmöglich. Die Migrationsforschung hat erst be-

13. Schlussbetrachtung

gonnen hochqualifizierten Migrantinnen wahrzunehmen (Ackers/Gill, 2008; Nohl et al., 2010a; Mayer et al., 2012; Heß, 2012; Jungwirth et al., 2012). Weitaus besser ist der Kenntnisstand über Arbeitsmigrantinnen, die bislang ausschließlich mit der Feminisierung der Migration in Verbindung gebracht worden sind (Kapitel 1.4.3). Alle Migrantinnen im Sample sahen eine angemessene Erwerbstätigkeit als selbstverständlich in ihrem Lebensentwurf an. Dieses Ziel war Teil ihrer Sozialisation und während des Sozialismus gelebte Praxis in ihren Herkunftsländern. Die meisten Frauen zeigten außerdem eine große Bereitschaft zusätzliche Bildung in Berlin zu erwerben. Sie wollten ihr mitgebrachtes kulturelles Kapital erweitern, ihre beruflichen Perspektiven auf dem Berliner Arbeitsmarkt substanziell zu verbessern, um anschließend ihr grenzübergreifend erworbenes Wissen und Können in ökonomisches Kapital zu konvertieren (Bourdieu, 1983/1992: 61; Nohl et al., 2010b: 12). Das waren auch die Gründe, dass die Bildungs-, Berufs- und Erwerbsprozesse der Migrantinnen ein zentrales Thema dieser Forschung wurden. Bildungsmigrantinnen waren in diesem Prozess beeindruckend zielstrebig und erfolgreich. Fast alle haben mit einem weiteren Studium in Berlin das aus dem Herkunftsland mitgebrachte kulturelle Kapital erweitert. Die Dauer dieser erweiterten Bildungspassagen ist in der Migrationsforschung bislang kaum beachtet worden. Sie betrug bei den Bildungsmigrantinnen im Sample mindestens 8 Jahre, bei Schwierigkeiten im partnerschaftlich-familiären Bereich bis zu 14 Jahren. Die lange Dauer hatte mehrere Gründe. Die Diplome aus dem Herkunftsland wurden an deutschen Universitäten höchstens als Teilleistung für das Grundstudium anerkannt. Die meisten Bildungsmigrantinnen kamen ohne Deutschkenntnisse, vor allem aus den russischsprachigen Ländern, sie mussten zunächst eineinhalb Jahre Deutsch lernen, bevor sie ein (erneutes) Studium aufnehmen konnten. Alle Migrantinnen haben als Werkstudentinnen ihren Unterhalt »nebenbei« mit diversen Jobs verdient und aus diesem Grund haben sie für ihren Studienabschluss in Deutschland rund zwei Jahre länger als die Regelzeit gebraucht. Mit dem Diplom und/oder ihrer Promotion an einer deutschen Universität haben Migrantinnen den Statuswechsel zur Bildungsinländerin vollzogen. Sie haben auf diese Weise die Konvertierung ihres erweiterten Bildungskapitals in eine adäquate Erwerbstätigkeit auf dem Arbeitsmarkt abgesichert und danach problemlos angemessene Arbeiten gefunden. Als hochqualifizierte Fachkräfte haben ehemaligen Bildungsmigrantinnen die volle chancengleiche Teilhabe in der Gesellschaft und der Arbeitswelt erreicht. In ihrer Kosten-Nutzen Rechnung haben sich damit ihre hohen Investitionen von Arbeit und Zeit amortisiert (Kapitel 9; Tabelle 11). Dagegen erwies es sich schwierig, mit dem Diplom aus dem Herkunftsland als hochqualifizierte Migrantin ohne ein erneutes Studium in Deutschland

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Mittelosteuropäische Migrantinnen in Berlin

eine ausbildungsadäquate Beschäftigung zu finden. Nur drei Migrantinnen im Sample haben das mit ihrem russischen Diplom geschafft: eine Mathematikerin als IT-Spezialistin bei einer Rentenkasse, eine Sprachlehrerin als Projektleiterin einer Sprachschule und eine Biologin in der biomedizinischen Forschung. Andere akademisch gebildete Migrantinnen haben erst nach Umwegen eine Erwerbstätigkeit aufgenommen und dafür erfolgreich ganz neue Tätigkeitsbereiche für sich erschlossen. Beispiele sind eine Migrantin mit einem Wirtschaftsdiplom aus Rumänien und eine Diplom-Ingenieurin für Chemietechnik aus der Ukraine, die heute beide in leitender Stellung in großen Berliner Hotels arbeiten, nachdem sie eine Ausbildung in der Hotellerie absolviert haben. Beispiele sind auch drei ehemalige Au-pairs, eine Ärztin aus Litauen, eine Grundschul- und eine Sonderschullehrerin aus Ungarn und der Ukraine, ebenso zwei Heilpraktikerinnen aus Moldawien und Polen. Sie haben sich alle in Berlin mit einem (erneuten) Studium eine nachhaltige berufliche Perspektive geschaffen. Einen anderen Weg hat eine Slawistin aus Weißrussland eingeschlagen, sie arbeitet als Geschäftsführerin in einer stadtbekannten Mode-Boutique. Die Migrantinnen des Sample haben ein hohes Bildungsniveau: siebenunddreißig Frauen hatten zur Zeit des Interviews ein akademisches Diplom und haben in adäquaten Berufen in Berlin gearbeitet. Fünfzehn Bildungsmigrantinnen und zwölf Heiratsmigrantinnen hatten ihr Diplom bereits im Herkunftsland erworben, von denen siebzehn in Berlin erneut ein Studium absolvierten, um für deutsche Referenzberufe optimal ausgebildet zu sein. Weitere zehn Migrantinnen haben ein erstes Studium in Berlin abgeschlossen. Andere Migrantinnen studierten zur Zeit Interviews noch u.a. Psychologie und Kommunikationswissenschaft, und einige Heiratsmigrantinnen überlegten, ob sie (erneut) ein Studium aufnehmen sollten. Verzögerungen bei ihren Bildungs-, Beruf- und Erwerbsprozessen haben sich bei Migrantinnen ergeben, die gemeinsam mit Ehemann und Kindern oder als Heiratsmigrantin zugewandert sind. Aufgrund der familienbezogene Inhalte, die zunächst im Mittelpunkt ihrer Statuspassage standen, haben sie viel Zeit verloren, manche Frauen auch die Motivation, um ihre berufliche Qualifikation mit dem Erwerb weiterer Bildung zu verbessern für ihre Suche nach einer zufriedenstellenden Erwerbstätigkeit (Kapitel 10.4; Tabelle 12). Zur Zeit des Interviews waren siebzehn Migrantinnen im Sample Hausfrauen, von denen fünfzehn eine passende Arbeit suchten – und alle waren Heiratsmigrantinnen. Daraus ergibt sich die Schlussfolgerung, dass eine familiengebundene Migration für Frauen die erhebliche Gefahr mit sich bringt, einen biographischen Bruch bei ihrem grenzüberschreitenden Bildungs-, Berufsund Erwerbsprozess zu erleiden, beruflich abzusteigen bzw. überhaupt keine passende Arbeit zu finden. Das Ergebnis dieser Forschung wird in anderen Studien bestätigt (Ackers, 1998; Williams, 2010). Einige Heiratsmigrantinnen

13. Schlussbetrachtung

hatten ein (erneutes) Studium absolviert und gingen einer ausbildungsadäquaten Tätigkeit nach. Beispiele sind eine Internistin, eine IT-Spezialistin und eine Apothekerin. Haus- und Putzarbeiten gibt es dagegen in Berlin in großer Auswahl. Sie werden von Arbeitsmigrantinnen ohne oder mit veralteter beruflicher Qualifikation anfangs gerne übernommen. Wollen sie sich nach einigen Jahren beruflich verbessern, bieten Job-Center ihnen Umschulungen an, ebenso den Migrantinnen, die in Berlin keinen Studienabschluss erreicht haben und/oder deren familiäre Situation nach einer Scheidung als alleinerziehende Mutter es erforderte, sich beruflich neu zu orientieren. Das Angebot der Jobcenter für Umschulungen ist begrenzt und orientiert am Bedarf des Arbeitsmarkts. In Berlin waren es Umschulungen zur Altenpflegerin, zur Kita-Erzieherin und zur Kauffrau für Import/Export oder für Immobilien. Hat eine Migrantin als Putzkraft gearbeitet, bedeutet die Umschulung einen beruflichen Aufstieg, war sie im Herkunftsland Lektorin oder wollte in Bibliothekswissenschaften promovieren, ist es ein Abstieg. Die betroffenen Migrantinnen haben nach einiger Zeit des Abwägens der Umschulung zugestimmt, um die eigene Zukunft und die ihrer Kinder mit einem krisenfesten Beruf abzusichern. Die Umschulung zur Altenpflegerin war am beliebtesten. Sechs Migrantinnen im Sample arbeiten entweder als Altenpflegerin, absolvieren die Umschulung oder planen sie. Alle mittelosteuropäischen Migrantinnen praktizieren transnationale Lebensweisen und Alltagspraktiken, die sich aus integrativen und transnationalen Faktoren zusammensetzen – ihrer Zweisprachigkeit, ihrem Bildungskapital und der beruflichen Tätigkeit, ihrer transnationalen Familie und den Gefühlen ihrer multipler Zugehörigkeiten. Jede Migrantin vermischt diese Faktoren zu ihrer individuellen transnationalen Lebensweise und die Gewichtung der einzelnen Faktoren kann sich im Verlauf ihres Lebens verändern (Kapitel 11.3). Im Mittelpunkt der transnationalen Lebensweise steht die transnationale Familie, die aus der Familie der Migrantin in Berlin und aus ihrer, meist kleinen Kernfamilie im Herkunftsland besteht. Zentrum des transnationalen doing family, der familiären Kommunikation, ist gendertypisch die Mutter-Tochter Beziehung zwischen der Migrantin und ihrer Mutter. Mit ihrem doing family auf der digitalen Brücke können beide ihre emotionale Nähe über die geographische Distanz von hunderten, oft tausenden Kilometern Distanz bewahren. Die transnationalen Lebensformen der mittelosteuropäischen Migrantinnen in Berlin sind gemäßigte transnationale Lebensweisen, sie sind familienbezogen und beinhalten keine transnationalen politischen, sozialen, geschäftlichen oder religiösen Aktivitäten (vgl. Pries, 2002: 264; 2008). Die transnationalen Familienbeziehungen werden in wöchentlichen oder täglichen Telefonaten gelebt, mit Familientreffen auf Skype und mit gegenseitigen

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Mittelosteuropäische Migrantinnen in Berlin

Besuchen, in der Regel zwei Mal im Jahr, bei transnationalen Familien im grenznahen Westpolen auch jedes zweite Wochenende. In den transnationalen Familien des untersuchten Samples ist die Migration weiterer Familienmitglieder nach Berlin nicht zur Norm geworden. Ausnahmen sind eine lettische Familie aus der russischsprachigen Minderheit und eine moldawische Familie, die beide in ihren Herkunftsländern keine Perspektive mehr gesehen haben (Kapitel 11.4). Der gemäßigte Transnationalismus der mittelosteuropäischen Migrantinnen und ihrer Familien, wie er sich in dieser Forschung empirisch gezeigt hat, ist verständlich bei transnationalen Familien in den vier Ländern, die nicht zur EU gehören – Weißrussland, Russland, die Ukraine und Moldawien. Rechtliche Beschränkungen bei der Visa-Vergabe führen bei ihnen zu einer geringeren transnationalen Mobilität. Hingegen wären im transnationalen Raum der Europäischen Union, bei Migrantinnen und ihren Familien in den neun mittelosteuropäischen EU-Ländern, aufgrund der Freizügigkeit häufigere Besuche und andere gemeinsame Aktivitäten möglich. In dieser Forschung wird die geringe Binnenmobilität der Bürger in der EU und ihr gemäßigter Transnationalismus deutlich, denn »Sesshaftigkeit ist in Europa die dominante Lebensform« (Sachverständigenrat, 2013: 50). Die Kinder der Migrantinnen sind die zweite Generation der transnationalen Familie. In Berlin leben 151 Kinder überwiegend in binationalen Familien und alle wachsen zweisprachig auf. Sie werden, der Strategie der Mütter folgend, mit einer guten Schulbildung für ein Leben in Deutschland mit stabilen familiären, sprachlichen und kulturellen Beziehungen zur Familie und zum Herkunftsland der Mutter in Mittelosteuropa sozialisiert. Ein Teil der Kinder besucht zum Erhalt und zum Ausbau ihrer muttersprachlichen Kompetenz bilinguale Kindergärten, Samstagsschulen und Schulen in Berlin. Die Beherrschung der mittelosteuropäischen Sprache ist essenziell für die Teilnahme der Kinder am transnationalen doing family und für ihre emotionalen und kulturellen Beziehungen zum Herkunftsland ihrer Mutter. Von den Kindern wird es abhängen, wie intensiv in der nächsten Generation transnationale familiäre, soziale und kulturelle Beziehungen zu mittelosteuropäischen Ländern gelebt werden. Die Migrantinnen des Samples gehören überwiegend zur Bildungsmittelschicht, in den Herkunftsländern und in Berlin. Die Zugehörigkeit zur Mittelschicht – untersucht im Rahmen des Nationalstaates – wird gewöhnlich mit höherer Bildung, der beruflichen Position und dem Einkommens definiert (Erikson/Goldthorpe, 1993: 35f). Bei Migranten ist die Definition einer grenzübergreifenden Mittelschicht schwierig, bspw. die vergleichende Erfassung von Erwerbstätigkeit und des Einkommens in absoluten Zahlen (Verwiebe, 2008: 191f). Das gilt insbesondere für die Zeit der wirtschaftlichen Transformation in Mittelosteuropa. Eine weitere Schwierigkeit ergibt sich bei Migrantinnen, die

13. Schlussbetrachtung

in familiären Kontexten zugewandert sind und das ist die Hälfte des Samples, denn aufgrund ihrer familiären Aufgaben fallen sie am Beginn der Statuspassage über Jahre, einige Frauen dauerhaft, aus einer Definition heraus, die den Fokus auf Erwerbstätigkeit legt (vgl. Ackers, 1998; Verwiebe, 2004: 169f; Williams, 2010). Für diese Forschung konzentriere ich die Definition der grenzübergreifenden Zugehörigkeit zur Mittelschicht auf drei Kriterien: Bildung, Bildungsbereitschaft und Erwerbsorientierung. Alle drei sind empirische Ergebnisse für die Zugehörigkeit zu einer transnationalen Mittelschicht, die sich aus den Verläufen der Statuspassagen ergeben und die auch die Migrantinnen immer wieder in den biographischen Interviews zum Ausdruck gebracht haben. Fast alle Migrantinnen haben erhebliches Bildungskapital aus dem Herkunftsland mitgebracht, nicht zuletzt, weil die bestmögliche Bildung der Kinder das wichtigste Ziel mittelosteuropäischer Familien ist (Robila (2004b: 8). Die Bildungsbereitschaft als soziales Kapital ist essenziell für die Migrantinnen, um im Migrationsland zusätzliches Bildungskapital zu akkumulieren auf ihrem erklärten Weg zu einer adäquaten Erwerbstätigkeit mit angemessenen Einkommen, wie es typisch für Angehörige der Mittelschicht ist (vgl. Bourdieu, 1983/1992; Nohl et al., 2010b; Verwiebe, 2008: 191, Tab. 1). Die meisten Migrantinnen im Sample sind aufgrund ihrer Bildungsbereitschaft beruflich in der Mittelschicht Berlins angekommen, andere sind mit Umschulungen oder Studien noch auf dem Weg dahin. Die Bildungs-, Berufsund Erwerbsprozesse der Migrantinnen in dieser Forschung verdeutlichen, dass die innereuropäische Ost-West-Migration vorwiegend ein Mittelschichtsphänomen ist. Typisch für die Mittelschicht sind auch die mütterlichen Strategien ihren Kindern in Berlin eine gute Schulbildung zu vermitteln, beginnend mit einer frühen Bilingualität.

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Verzeichnis der Tabellen

Tabelle 1 Tabelle 2 Tabelle 3 Tabelle 4 Tabelle 5

Tabelle 6.1 Tabelle 6.2 Tabelle 7

Tabelle 8 Tabelle 9

Tabelle 10 Tabelle 11 Tabelle 12

Überblick über prozentuale Anteile der Migrantinnen | 21 Zuwanderung nach West-Berlin von 1964 bis 1989 in abgerundeten Zahlen | 40 Stand der Zuwanderung 1991 aus mittelosteuropäischen Herkunftsländern im West- und im Ostteil des wiedervereinigten Berlin | 50 Zuwanderungssaldo aus den mittelosteuropäischen Herkunftsländern in Berlin von 1991 bis 2011 | 51 Anteil der Frauen bei den mittelosteuropäischen Migranten in Berlin – am Beispiel melderechtlicher Statistiken der Jahre 2000 und 2011 | 53 In Berlin gemeldete Migranten und Migrantinnen aus den mittelosteuropäischen Herkunftsländern 1991 bis 2000 | 66 In Berlin gemeldete Migranten und Migrantinnen aus den mittelosteuropäischen Herkunftsländern 2001 bis 2011 | 68 Einbürgerungen von Migranten und Migrantinnen aus den mittelosteuropäischen Herkunftsländern in Berlin zwischen 1991 bis 2011 | 70 Das multinationale Sample der interviewten Migrantinnen und die Zeit ihrer Migration | 77 Grenzüberschreitende Bildungs-, Berufs- und Erwerbsprozesse der Migrantinnen, die mit Ehemann und Kindern zugewandert sind | 137 Grenzüberschreitende Bildungs-, Berufs- und Erwerbsprozesse der Arbeitsmigrantinnen | 156 Erfolgreiche grenzüberschreitende Bildungs-, Berufs- und Erwerbsprozesse der Bildungsmigrantinnen | 179 Beispiele der Bildungs-, Berufs- und Erwerbsprozesse von Heiratsmigrantinnen | 203

Literaturverzeichnis

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Gabriele Winker

Care Revolution Schritte in eine solidarische Gesellschaft 2015, 208 S., kart. 11,99 E (DE), 978-3-8376-3040-4 E-Book PDF: 10,99 E (DE), ISBN 978-3-8394-3040-8 EPUB: 10,99 E (DE), ISBN 978-3-7328-3040-4

Andrea Baier, Tom Hansing, Christa Müller, Karin Werner (Hg.)

Die Welt reparieren Open Source und Selbermachen als postkapitalistische Praxis 2016, 352 S., kart., zahlr. farb. Abb. 19,99 E (DE), 978-3-8376-3377-1 E-Book: kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation ISBN 978-3-8394-3377-5

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Soziologie Carlo Bordoni

Interregnum Beyond Liquid Modernity 2016, 136 p., pb. 19,99 E (DE), 978-3-8376-3515-7 E-Book PDF: 17,99 E (DE), ISBN 978-3-8394-3515-1 EPUB: 17,99 E (DE), ISBN 978-3-7328-3515-7

Sybille Bauriedl (Hg.)

Wörterbuch Klimadebatte 2015, 332 S., kart. 29,99 E (DE), 978-3-8376-3238-5 E-Book PDF: 26,99 E (DE), ISBN 978-3-8394-3238-9

Mathias Fiedler, Fabian Georgi, Lee Hielscher, Philipp Ratfisch, Lisa Riedner, Veit Schwab, Simon Sontowski (Hg.)

movements. Journal für kritische Migrations- und Grenzregimeforschung Jg. 3, Heft 1/2017: Umkämpfte Bewegungen nach und durch EUropa April 2017, 236 S., kart. 24,99 E (DE), 978-3-8376-3571-3

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